Ethik der Ästhetik 9783050069654, 9783050024622

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Ethik der Ästhetik
 9783050069654, 9783050024622

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Ästhetisierung der Welt
Ästhet/hik
Die Geburt der Kunst
Das Artifizielle
Jenseits von Neo-Klassizismus und Primitivismus
II. Dekonstruktion der Vernunft
Abweichung oder Distinktion
Die Einheit von Ethik und Ästhetik im Ritual
Soziale Mimesis
Ethisch-ästhetische Aspekte einer Philosophie des Spiels
Ethik und Ästhetik des Grotesken
Das Nicht-Hermeneutische
III. Wahrnehmung des Außen
Wahrnehmungskontrolle und die Ästhetik der Dunkelkammer
Realismus und Macht in ästhetischen Darstellungen
Schönheitslinien nach dem Schweigen der Ideen
Kunst und Natur: ökologische Ästhetik
Technologie und Imagination
IV. Verantwortung des Anderen
Die Materie und ihre Passion
Künstlerisches Denken und Erfahrung der Andersheit
Die Schönheit des Bösen
Unter dem Schatten des Körpers
Anhang
Autorenverzeichnis
Namenverzeichnis

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Ethik der Ästhetik

Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie

Ethik der Ästhetik Herausgegeben von Christoph Wulf, Dietmar Kamper und Hans Ulrich Gumbrecht

Akademie Verlag

Übersetzung der englischen und französischen Texte von Bernhard Dieckmann Titelbild: Ausschnitt aus Caravaggios .Medusa' (leinwandbezogener konvexer Holzschild, 1600/01), Galleria degli Uffizi, Firenze

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ethik der Ästhetik / hrsg. von Christoph Wulf ... [Übers.: Bernhard Dieckmann]. - Berlin : Akad. Verl., 1994 (Acta humaniora) ISBN 3-05-002462-3 NE: Wulf, Christoph [Hrsg.]

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1994 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO T C 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Lektorat: Peter Heyl Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei D. Mikolai, Berlin Einbandgest-altung: Ralf Michaelis, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Ästhetisierung der Welt Wolfgang Welsch: Ästhet/hik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik David Wellbery: Die Geburt der Kunst. Zur ästhetischen Affirmation Sergio Givone: Das Artifizielle Mario Perniola: Jenseits von Neo-Klassizismus und Primitivismus

II. Dekonstruktion der Vernunft Jürgen Trabant: Abweichung oder Distinktion Rene Girard: Die Einheit von Ethik und Ästhetik im Ritual Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Soziale Mimesis Konstantin Sigov: Ethisch-ästhetische Aspekte einer Philosophie des Spiels . Dominique Jehl: Ethik und Ästhetik des Grotesken Hans Ulrich Gumbrecht: Das Nicht-Hermeneutische

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III. Wahrnehmung des Außen Stephan Sting: Wahrnehmungskontrolle und die Ästhetik der Dunkelkammer Richard H . B r o w n : Realismus und Macht in ästhetischen Darstellungen . .

. .

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Inhaltsverzeichnis

Gert Mattenklott: Schönheitslinien nach dem Schweigen der Ideen. Botho Strauß, Peter Handke und Friederike Mayröcker Derrick de Kerckhove: Kunst und Natur: ökologische Ästhetik Marie-Anne Berr: Technologie und Imagination. Zur Rematerialisierung des Immateriellen

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IV Verantwortung des Anderen Vivian Sobchak: Die Materie und ihre Passion. Prolegomena zu einer Phänomenologie der Interobjektivität Marc Le Bot: Künstlerisches Denken und Erfahrung der Andersheit Rene Scherer: Die Schönheit des Bösen Dietmar Kamper: Unter dem Schatten des Körpers

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Anhang Autorenverzeichnis Namenverzeichnis

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Einleitung

Das Verhältnis von Ethik und Ästhetik wird unterschiedlich bestimmt. Manchmal wird die Unterordnung von Kunst und Literatur unter die Normen der Ethik gefordert. Dann wieder wird im Namen künstlerischer Freiheit Einspruch gegen die Kontrolle von Kunst und Literatur durch die Ethik erhoben. Meistens werden konfligierende Zielsetzungen zwischen Ästhetik und Ethik konstatiert. Ziel unserer Untersuchung ist der Versuch, eine der menschlichen Wahrnehmung und Empfindung genuine Ethik aufzuspüren. Nachgegangen wird der Annahme, daß die menschliche Wahrnehmung, die Aisthesis, eine mit ihrer Konstitution und ihrer gesellschaftlichen Ausprägung verbundene Ethik enthält. Diese der Wahrnehmung inhärente Ethik unterscheidet sich von Versuchen der Vervollkommnung des Menschen mit Hilfe ästhetischer Bildung, in denen Aisthesis und Ästhetik ethischen Zielsetzungen untergeordnet werden. Größer sind die Berührungspunkte zwischen einer mit der Aisthesis verbundenen Ethik und der sich in der Ästhetik artikulierenden Formkraft mit ihren Auswirkungen auf die Rezipieriten von Werken der Kunst und Literatur. Was zunächst wie der Versuch aussehen könnte, eine nachträgliche Ordnung für die künstlerische Unordnung zu schaffen, erscheint bei näherem Hinsehen als Bemühung, eine in der menschlichen Wahrnehmung und in der ästhetischen Erfahrung enthaltene Ethik aufzudecken. Bisher scheint diese Ethik den Versuchen zu widerstehen, sie mit Hilfe der zunehmenden Ästhetisierung der Welt, des Lebens und der Wissenschaft aufzulösen. Die Gründe für den Erfolg ihres Widerstands liegen in ihrem Eingebundensein in der Körperlichkeit von Aisthesis und Ästhetik. Sie wurzeln in der Verletzlichkeit und Endlichkeit des Körpers, dessen Materialität den Prozessen der Abstraktion widersteht und der die Verbindung zu anderen Mencchen, zu den Dingen und der Welt sichert. Die Wahrnehmung des Körpers bildet Brücken nach außen; im Vergleich zu Handlung und Aktivität überwiegen in der Aisthesis Rezeptivität und Passivität. Die körperlichen Wahrnehmungen und Empfindungen bilden eine Gegenmacht gegen Prozesse der Vergeistigung, der Rationalisierung und Abstraktion. Daher sind die beiden ersten Kapitel

VIII

Einleitung

dieses Bandes den Widerständen der „Theorie" gewidmet, die bei der Suche nach einer in der Aisthesis und in der Ästhetik enthaltenen Ethik auftreten. Die Ästbetisierung der Welt ist ein überraschender Effekt der Immaterialisierung, die sich als ein Ergebnis der Strategien menschlicher Durchsetzung und Bewältigung begreifen läßt, und die dazu führen kann, den Schein der „Realität" vorzuziehen und der Simulation Tür und Tor zu öffnen. Dieser Wille zur Durchsetzung und Bewältigung läßt sich sogar in traditionellen Ästhetiken entdecken, deren antisinnlicher Charakter eher zu einer Kontrolle als zu einer Entfaltung der primären Sinnlichkeit beiträgt. Aus dieser Sicht erscheinen die Darstellung des Laokoon und seine Interpretation durch Lessing als Ausdruck einer normierenden Ästhetik, deren Normativität durch Nietzsche erschüttert und später, beispielsweise in der Ästhetik Francis Bacons, überwunden wird. Unterscheiden lassen sich diese Ästhetiken auch nach dem Ausmaß künstlerischer Freiheit, in dem sie die Zwänge der Welt und des Lebens überschreiten. Seit den ästhetischen Revolutionen Nietzsches und Baudelaires spielt daher das Künstliche als Ankündigung der Ästhetisierung der Welt eine entscheidende Rolle. Gegen diese Prozesse wird sogar im Bereich der Kunst verschiedentlich Einspruch erhoben. So lassen sich der Neo-Klassizismus und der Primitivismus, die neo-ethnische und die neo-antike Bewegung als Widerstandsversuche gegen diese Entwicklung begreifen. Inwieweit sie jedoch diese Prozesse der Ästhetisierung, Pluralisierung und Komplexitätssteigerung aufhalten können, bleibt offen. Die Suche nach einer genuinen Ethik von Aisthesis und Ästhetik führt zu einem veränderten Verhältnis von Wahrnehmung und Vernunft. Es bedarf daher einer Reihe von Beiträgen zur Dekonstruktion der Vernunft. In diesen geht es nicht um ihre Destruktion oder Rekonstruktion, sondern um ihr Angewiesensein auf die in der Aisthesis und in der Ästhetik enthaltenen Potentiale. Auch Sprache, Sprechen und Denken sind auf Aisthesis angewiesen. Wie die Wahrnehmung enthalten sie eine in der Sprachphilosophie nur selten thematisierte ethische Dimension, die häufig nur als Anspruch auf die Einhaltung von Sprachnormen in Erscheinung tritt. Wird in Übereinstimmung mit dieser Auffassung poetische Sprache lediglich als Abweichung von Sprachnormen verstanden, so verfehlt der formale Charakter dieser Bestimmung das Spezifische poetischer Sprache. Auch die Betrachtung der poetischen Rede vom Standpunkt der alltäglichen Rede hilft kaum weiter. Alle Sprachnormen stellen Reduktionen der sprachlichen Möglichkeiten dar. Eher schon ergibt der Blick von der poetischen Rede auf die Alltagsrede neue Perspektiven für das Verständnis der Komplexität menschlicher Sprache und die in ihr enthaltene Ethik. Besonders greifbar wird die Einheit von Ethik und Ästhetik in Ritualen und in Prozessen sozialer Mimesis, in denen Werte und Normen in Szene gesetzt werden. In jeder neuen Inszenierung traditioneller Rituale werden die an ihnen beteiligten Menschen zu ihrer Nachgestaltung und zur Übernahme der in ihnen enthaltenen Werte und Normen gebracht. Dieser Prozeß vollzieht sich mimetisch. Indem die Rituale nachvollzogen und nachgeschaffen werden, sichern sie den Bestand der Gemeinschaft. Wenn in Krisensituationen die Gemeinschaft stiftende Kraft der Rituale zerbricht und die in der Gesellschaft enthaltene Gewalt zum Ausbruch gelangt, müssen Sündenböcke gefunden werden,

Einleitung

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durch deren Opferung sich die Gemeinschaft wieder zusammenschließen kann. Das Schicksal des Sündenbocks bzw. des „Helden" in der griechischen Tragödie soll als abschreckendes Beispiel gelten. Umstritten ist, inwieweit der sich über Mimesis vollziehende Einfluß von Vorbildern und Modellen bleibende Prägungen hinterläßt oder im nachhinein korrigiert werden kann. Die Institutionen, Gemeinschaften und Individuen prägende Macht der Mimesis hat einen Grund darin, daß mimetische Prozesse, die sich aisthetisch vollziehen, stets ethische Implikationen haben. Einerseits ist der Vollzug mimetischer Prozesse davon unabhängig, wie bestimmte ihnen zugrunde liegende Vorbilder eingeschätzt werden. Selbst negativ bewertete Modelle werden mimetisch aufgenommen und verarbeitet. Andererseits enthält die sinnlich-mimetische Bewegung zur Welt und zum anderen Menschen eine ihr genuine Ethik, die auf die Erweiterung des Sich-mimetisch-Verhaltenden, auf seine Anähnlichung an die Welt und den Anderen zielt. Die mimetischen Fähigkeiten gehören zu den anthropologischen Voraussetzungen des Spiels, in dem sich Möglichkeiten menschlicher Freiheit gegenüber den Zwängen der Notwendigkeit ausdrücken. Im Spiel gelingt menschliche Selbstüberschreitung. Schon das Kind erfährt im Spielen seine Unabhängigkeit gegenüber seinen Instinkten und Gefühlen. Indem jemand einem anderen etwas vorspielt, kann Spiel zur Heuchelei werden. Dies ist jedoch nur eine Seite des Spiels; eine andere besteht darin, mit seiner Hilfe Werte und Normen zu lernen und diese in der Ausgestaltung von Handlungsspielräumen auf neue Situationen zu übertragen. Im spielerisch-ästhetischen Umgang mit der Welt werden neue Möglichkeiten und Grenzen ethischen Handelns erprobt. Auch das Groteske enthält ein Moment des Spielerischen. Durch die Fülle des Lebens und die Betonung von Körperlichkeit und Sinnlichkeit wird im Grotesken eine phantastische Spielwelt erzeugt, in der Widersprüchliches so aufeinander stößt, daß sich die Spannung in Lachen und Gelächter entlädt. Dabei werden sichere und vertraute Momente der Vernunft, der Ästhetik und der Ethik in ihr Gegenteil verkehrt und dekonstruiert. So leisten Poesie, Ritual, Mimesis, Spiel und Groteske ihren jeweiligen Beitrag zur Dekonstruktion der Vernunft und eröffnen neue Perspektiven für das Verständnis von Ethik und Ästhetik. In die gleiche Richtung weist eine Kritik an der Hermeneutik und ihrem Anspruch auf die richtige Interpretation. Im Namen des „rhetorischen Lesens" de Mans, der Diskursanalyse Foucaults, des Verstehensbegriffs Luhmanns und der Dimension des Anderen im Denken Derridas wird die Bedeutung des „Nicht-Hermeneutischen" für die Dekonstruktion interpretativer Vernunft herausgestellt. Für Aisthesis und Ästhetik sind die Wahrnehmung des Außen und des Anderen konstitutiv. Mit der Aufklärung setzt sich eine spezifische Form der Wahrnehmungskontrolle, eine Ethik des Blicks durch. Ethik und Ästhetik konvergieren in einem sozial bestimmten Arrangement der Weltbetrachtung. Es entwickelt sich eine besondere Form der Distanzierung der Welt und der Beziehung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Das durch Hell und Dunkel gestaltete Foto wird zur Metapher für Bildungsprozesse, in denen die Gestaltung des Verhältnisses von Innen und Außen ins Zentrum rückt. Wie diese Relation bestimmt wird, ist eng mit den Fragen der Macht verbunden. Dies zeigt sich nicht

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Einleitung

nur in Bildungsprozessen, sondern auch in der Ästhetik und der Literatur. So wird der Begriff „Realismus" zu einem Begriff der Kontrolle, mit dessen Hilfe bestimmte Formen der Wirklichkeitsauffassung und die mit ihnen verbundenen Normen und Werte durchgesetzt werden. „Realismus" ist eine Konstruktion, die sich in verschiedene Paradigmata differenziert und deren Ergebnis in Übereinstimmung mit der jeweiligen historischen Situation und den gegebenen Konstitutionsbedingungen unterschiedlich ist. Somit unterscheidet sich, was im 19. Jahrhundert als „Realismus" gilt, erheblich von dem, was heute als realistisch angesehen wird. Dabei gehen in das jeweilige Realismus-Verständnis die Interessen und Definitionsansprüche der Eliten ein. In der Wahrnehmung des Außen konvergieren heute eine ästhestische und eine ökologische Sensibilität. Diese Konvergenz hat eine lange Geschichte, in deren Verlauf das Aufkommen des Naturbegriffs, die Entstehung der Perspektive und die Verbreitung der Buchdruckerkunst eine wichtige Rolle spielen. Besonders wirkt sich die Herausbildung des alphabetischen Kodes auf die Wahrnehmung des Außen aus. Mit Hilfe dieser und anderer technologischer Entwicklungen kommt es zur Erweiterung des menschlichen Körpers nach außen und zur Entstehung eines ökologischen Bewußtseins. Infolge des Ubergangs zur elektronischen Kodierung der Welt erscheint die Erde heute als Bild des Körpers, verdichten sich der irdische Raum und die irdische Zeit. Neue ästhetische und ökologische Wahrnehmungsformen entstehen, deren Auswirkungen auf das Bewußtsein, das Imaginäre und die Umwelt sich noch kaum abschätzen lassen. In diesen Prozessen spielen Formalisierung und Immaterialisierung eine wichtige Rolle. Die Negation des Körpers und des Außen durch die Transformation des Menschen und der Maschine in ein abstraktes Symbolsystem führen dazu, daß nichts jenseits einer formalisierten Sprache existiert. Die Negation der Subjektivität, des Körpers in der menschlichen Selbstreferenz, die Ausgrenzung der Natur und des Außen, die Beschränkung von Mensch und Welt auf ein abstraktes formales Symbolsystem, die Immaterialisierung von Sprache und Zeichen sind die Folge. In der Autopoiesis wird alles zur Sprache; die Unvereinbarkeit zwischen materialen und symbolischen Welten wird nicht akzeptiert. Mit dem Maschinen-Modell, das dem Konzept der Autopoiesis zugrunde liegt, wird die Welt als kognitives Netz, als bloße Sprachstruktur entworfen. Erkenntnis, Wahrnehmung und Beobachtung werden als immaterialisierte soziale Kommunikation begriffen. Ohne eine Rematerialisierung des Immateriellen erscheint der Verlust des Außen unaufhaltbar. Gegen diese Entwicklung erheben Aisthesis und Ästhetik Einspruch. Ihr Widerstand gipfelt in der Verantwortung des Anderen. In ihr wird der Anspruch auf eine der Aisthesis und der Ästhetik inhärente Ethik besonders deutlich. In der über seine Materialität und Passivität gegebenen Verschränkung des Körpers mit der Welt liegt der genuine Charakter der Ethik begründet. An der Grenze zwischen Körper und Welt, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem wird er erfahrbar. Hier artikulieren sich Objekt- und Subjekt-Sein des Körpers. Beide werden zur Voraussetzung der Erfahrung des Anderen, für die Kunst, Literatur, Musik die äußerste Möglichkeit bieten, die Rene Char so beschreibt: „Die Worte, die aufsteigen wollen, wissen von uns, was wir an ihnen ignorieren." Allen Künsten widerfährt diese Begegnung mit dem Rätsel. In der Erfahrung der

Einleitung

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Rätselhaftigkeit des Ästhetischen wird der aus Macht- und Durchsetzungsansprüchen konstituierte Sinn alltäglichen Handelns erschüttert. Dadurch leistet die ästhetische Erfahrung einen Beitrag zur Offenheit für das Fremde und zur Sorge für das Andere und damit zu einer Ethik der menschlichen Existenz. Die Ethik der Ästhetik liegt nicht in der moralischen Kontrolle von Kunst und Literatur, sondern in der Möglichkeit des Ästhetischen, für die Rätselhaftigkeit der Welt und des Anderen zu sensibilisieren. Der Widerstand von Kunst und Literatur gegen Versuche, das Geheimnis des Anderen abzuschaffen, und ihr Eintreten für das Unsagbare und Undurchschaubare sind Ausdruck einer genuinen Ethik der Ästhetik. Ästhetik besteht darauf, daß die Menschheit eines konkreten Außen, eines körperlichen und zeitlichen Nicht-Identischen bedürftig ist, wenn sie nicht in einer „Selbstbefriedigung des Geistes" (Hegel) enden will. Wir danken der Sorbonne, Universite de Paris, und dem Goethe-Institut Paris für die Unterstützung einer „Journee d'etudes" mit dem Thema „Ethique de l'Esthetique" im Herbst 1988. Ferner danken wir dem Department of Comparative Literature, den European Studies, dem Institute of International Studies, der School of Humanities and Sciences der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien, sowie dem Forschungszentrum für Historische Anthropologie, dem Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften, dem Universitäts-Außenamt der Freien Universität Berlin, dem Goethe-Institut, dem Istituto Italiano di Cultura und der Alliance Fra^aise in San Francisco für die Förderung des internationalen transdisziplinären Kolloquiums „The Ethics of Aesthetics" im Herbst 1992. Danken möchten wir auch Dr. Bernhard Dieckmann für die Ubersetzung der englischen und französischen Texte ins Deutsche sowie Rita Beetz, Regina Bornmann und Claudia Bartholomeyczik für die Hilfe bei der technischen Erstellung der Manuskripte.

Christoph Wulf

Dietmar Kamper

Hans Ulrich Gumbrecht

I. Ästhetisierung der Welt

Wolfgang Welsch

Ästhet/hik Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik

Aesthetics is the mother of ethics. Joseph Brodsky

Z u m Verhältnis von Ä s t h e t i k und E t h i k und z u m K o n z e p t einer , Ä s t h e t / h i k ' Zwei Teildisziplinen der Philosophie haben in den letzten Jahren einen beträchtlichen Aufschwung genommen: die Ethik und die Ästhetik. Bei der Ethik ist der Grund naheliegend. Neue und täglich größere Probleme der Industriegesellschaft - Nord-Süd-Gefälle, Ökologie, Gentechnologie - erhöhen laufend den Bedarf an Ethik. Die Gründe für die Konjunktur der Ästhetik jedoch sind anders gelagert. Sie verdankt ihren Aufschwung nicht externen Folgen, sondern einem internen Faktor des Rationalisierungsprozesses: in seinem Verlauf erwies sich Wahrheit, die Hauptkategorie der Wissenschaft, zunehmend als ästhetisch bestimmt. Deshalb rückt die Ästhetik zu einer Art Fundamentaldisziplin auf. 1 Auch im Verhältnis der Disziplinen Ethik und Ästhetik ist in den letzten Jahren eine Veränderung eingetreten. Waren sie traditionell und modern einander entgegengesetzt, so treten aktuell Verbindungen in den Vordergrund. Piaton hatte die Exponenten des Ästhetischen, die Künstler (einschließlich Homers), aus ethischen Gründen aus dem Staat verwiesen. Das Ästhetische galt als gefährlich; man glaubte, ihm ethische Schranken auferlegen zu müssen. Noch in der Neuzeit stand im christlichen Abendland die Ästhetik unter der Knute der Ethik. Die Moderne hat den Gegensatz der beiden Disziplinen anders, nämlich als den von gleichgewichtigen Sphären konstruiert, die es durch Trennung auf Distanz zu halten gelte. Autonomie, das moderne Leitwort der Ästhetik, bedeutete im Ursprung gerade die Freihaltung des Ästhetischen von moralischen Vorgaben. Umgekehrt sollten ästhetische Gesichtspunkte für die moderne Ethik seit Kant keine Rolle mehr spielen.

1 Vgl. Wolfgang Welsch, „Das Ästhetische -

eine Schlüsselkategorie unserer Z e i t ? " , in: Die

Aktualität des Ästhetischen, hrsg. von Wolfgang Welsch, München 1993, 1 3 - 4 7 .

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Wolfgang Welsch

Sowohl jenes traditionelle Modell einer ethischen Majorisierung des Ästhetischen wie dieses moderne Modell einer autonomistischen Neutralität zwischen den beiden Sphären ist in den letzten Jahren durch eine neue Aufmerksamkeit gegenüber Verflechtungen des Ethischen mit dem Ästhetischen abgelöst worden. Neoaristotelische und poststrukturalistische Ethiken (Nussbaum, Foucault) weisen der Ästhetik eine Schlüsselrolle für die Ethik zu, und soziologische und ökologische Ästhetiken (Bourdieu, Böhme) machen ethische Aspekte als Grundgesichtspunkte des Ästhetischen geltend. 2 Generell erkennen wir heute, daß die verschiedenen Bereiche und Disziplinen - anders als das moderne Ausdifferenzierungstheorem und Trennungsgebot sich dies vorstellte durch essentielle Verflechtungen bestimmt sind. Das gebietet den Ubergang von einem Trennungs- zu einem Verflechtungsdenken. Disziplinenpurismus und -Separatismus sind obsolete Strategien geworden. An ihre Stelle treten transdisziplinäre und transversale Analysen. 3 Aus einer solchen Perspektive will ich im folgenden fragen, wieweit der Ästhetik als solcher schon ethische Bestimmungen inhärent sind und welche ethischen Folgerungen sich daraus ergeben. Die Wortprägung ,Ästhet/hik' - gebildet durch Zusammenziehung von ,Ästhetik' und ,Ethik' - soll diejenigen Teile der Ästhetik bezeichnen, die von sich aus ethische Momente enthalten. 4 Die Frage nach einer solchen Ästhet/hik - die hier, weil sie neu ist, auch nur in der Weise eines ersten Entwurfs behandelt werden kann - ist sogleich gegen ein Mißverständnis abzusichern. Die Möglichkeiten einer solchen Ästhet/hik auszuloten, bedeutet nicht, die Ethik durch Ästhetik ersetzen zu wollen. Wenn ich ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik aufweise, so will ich damit keineswegs behaupten, daß dadurch eine Ethik sui generis überflüssig würde. Jedoch könnte eine solche Ästhet/hik die übliche Ethik ergänzen oder ihr eine Hilfe sein - sie könnte Begründungslücken schließen, Argumentationen verbessern, Ziele klären und an Problemstellen weiterhelfen. Ich will über zwei Versionen einer solchen Ästhet/hik sprechen. Erstens über eine altvertraute Einbindung eines ethischen Imperativs ins Ästhetische (Abschnitte 1 und 2), und zweitens über eine neuere Option, die in Opposition dagegen nötig wurde (Abschnitte 3 und 4). In der ersten Perspektive geht es um den Imperativ zur Uberschrei-

2 Vgl. Martha C. Nussbaum, '"Finely Aware and Richly Responsible': Moral Attention and the Moral Täsk of Language", in: The Journal of Philosophy, L X X X I I , 1985, 5 1 6 - 5 2 9 ; Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt/M. 1986, sowie ders.. Die Sorge um sich, Frankfurt/M. 1986; Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1970; Gemot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt/M. 1989. 3 Vgl. Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transzendentalen Vernunft, Frankfurt/M. 1994. 4 Da sich der Terminus „Ästhet/hik" im Deutschen (im Unterschied beispielsweise zum Englischen) nicht differenzierend aussprechen läßt, wird man in Redesituationen zu einem Notbehelf greifen müssen, beispielsweise zu „Ästhetiko-ethik".

Ästhet/hik

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tung des Unmittelbar-Sinnlichen auf ein Höher-Sinnliches, in der zweiten Perspektive um die Maxime, unterschiedlichen sinnlichen Ansprüchen - beispielsweise solchen des Unmittelbar-Sinnlichen und des Höher-Sinnlichen - gerecht zu werden. In beiden Fällen handelt es sich - wie ich zeigen zu können hoffe - um Versionen einer Ästhet/hik.

1. Eine dem ästhetischen Bereich inhärente Ethik Elementarästhetik Der erste, traditionelle Typ einer Ästhet/hik erwächst schon inmitten der elementaren Ästhetik. Unter „elementarer Ästhetik" verstehe ich - im Unterschied zur kunstbezogenen Ästhetik, auf die man den Ausdruck .Ästhetik* meist zu schnell und allzu ausschließlich beschränkt - eine auf aisthesis, auf Wahrnehmung bezogene Ästhetik. Von aisthesis leitet sich ja auch der Name ,Ästhetik* her. Aisthesis hat bekanntlich doppelte Bedeutung. Aisthesis meint einerseits Wahrnehmung, andererseits Empfindung. Dieser Doppelsinn war schon im Griechischen vorhanden und bestätigt sich in den meisten anderen Sprachen. Er gehört zum Phänomen. Die Wahrnehmungskomponente der aisthesis richtet sich auf genuine Sinnesqualitäten wie Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche. Die Wahrnehmung dient deren Erkenntnis. Die Empfindungskomponente der aisthesis hingegen ist gefühlshaft ausgerichtet. Die Empfindung bewertet das Sinnenhafte im Horizont von Lust und Unlust. Zwischen diesen beiden Ausrichtungen besteht offenbar ein Stufenunterschied. Unsere Lust ist primär Sinnenlust und von vitalen Interessen bestimmt. Die Wahrnehmung hingegen muß um des Erkennens willen von solch unmittelbarer Empfindung absehen, muß sich von ihr distanzieren und sich über sie erheben, um reine Wahrnehmung zu sein. Sie soll ja unabhängig von sinnlichem Wohlgefallen oder Mißfallen die sinnlichen Prädikate möglichst .objektiv' feststellen. Die Wahrnehmung operiert also eine Stufe höher als die Empfindung. Durch diese Verpflichtung zum reinen Wahrnehmen kommt es dann aber auch auf der Empfindungsseite zur Konstitution eines zweiten, höheren Akttypus. Auch er folgt zwar noch Gesichtspunkten der Lust — aber nicht mehr im Sinn der primär-vitalen Interessen, sondern das Gebäude der Lust wird gleichsam aufgestockt, und die Lust des neuen Obergeschosses - des piano nobile - ist die Lust eines reflexiven Wohlgefallens oder Mißfallens.5 Wir haben es hier mit der Geburtsstätte des spezifisch ästhetischen Sinns zu tun: des Geschmacks. Dieser beurteilt seine Gegenstände nicht, wie die primäre Empfindung es tat, nach Vitalkriterien, also etwa als aufreizend oder wohlschmeckend oder

5 Äußerst feinteilig hat diese Verhältnisse schon Aristoteles analysiert. Vgl. Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987.

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Wolfgang Welsch

ekelerregend, sondern er beurteilt sie nach Reflexionskriterien, also beispielsweise als schön, wohlgefällig und harmonisch oder als abstoßend, häßlich und gestört. Die Architektur der Lust umfaßt von nun an zwei Niveaus: das Erdgeschoß des SinnenGeschmacks und das Obergeschoß des Reflexions-Geschmacks - so hat Kant diesen Unterschied benannt. 6

Der ästhetische oder elevatorische Imperativ Inwiefern liegt in dieser Architektur - wie ich behaupten will - der Ansatz einer aisthesisimmanenten Ethik? Offenbar liegt hier ein ästhetischer Imperativ vor, der zugleich die Bedeutung eines ästhet/hischen Imperativs hat: er gibt an, welcher Umgang mit der Sinnlichkeit geboten ist. Zunächst betrifft dieser Imperativ die Wahrnehmungsseite der aisthesis und besagt: Halte dich wahrnehmend von der sinnlichen Empfindung frei, sieh von ihr ab, erhebe dich über sie! Dann tritt dieser Imperativ aber auch auf der Empfindungsseite auf, und hier besagt er: Folge nicht nur der primär-vitalen Lust, sondern praktiziere auch die höhere, die eigentümlich ästhetische Lust eines reflexiven Wohlgefallens! In beiden Versionen verlangt dieser ästhet/hische Imperativ von uns, daß wir die primär-sinnliche Bestimmtheit übersteigen. Man kann ihn daher auch als elevatorischen Imperativ bezeichnen.

Der vitale Imperativ An diesem Punkt muß ich das Tableau erweitern und präzisieren. Der geschilderte elevatorische Imperativ ist in Wahrheit nicht der erste Imperativ in der ästhetischen Sphäre. Ihm geht vielmehr ein vitaler Imperativ voraus, der seinerseits die Wahrnehmung und die Empfindung gleichermaßen betrifft. Diesen vitalen Imperativ habe ich bislang zu einseitig nur auf selten der Empfindung erwähnt. In Wahrheit aber dient die aisthesis anfänglich zur Gänze vitalen Interessen. Anders gesagt: Sie dient dem Leben, dem Sich-am-LebenErhalten und Uberleben - noch nicht dem guten Leben. Die Empfindung zeigt uns durch Lust oder Unlust die Nützlichkeit oder Schädlichkeit von Gegenständen an und ist ein Mittel, die entsprechenden, lebensdienlichen Akte des Aufsuchens oder Vermeidens auszulösen. Ebenso dient die Wahrnehmung der Erkenntnis des Nützlichen oder Schädlichen, Zuträglichen oder Abträglichen und der Auslösung eines entsprechenden Verhaltens - und zwar schon auf Distanz. Die Empfindungs- wie die Wahrnehmungsseite der aisthesis sind also primär vital ausgerichtet, die aisthesis ist zunächst ein Lebens-Mittel. In dieser vitalen Perspektive liegt offenbar bereits eine erste und elementare Verbindung von Ästhetik und Ethik vor. Ästhetische Akte dienen unmittelbar einem zumindest

6 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Β 22.

Ästhet/hik

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rudimentär ethischen Ziel: der Führung eines gelingenden Lebens. Der Vitalimperativ ist der erste ästhet/hische Imperativ.

Die anthropologische Differenz Aufschlußreich ist nun aber folgendes: Üblicherweise betrachten wir die zuletzt geschilderte Primärverfassung der aisthesis als kennzeichnend für tierisches, nicht für menschliches Leben. Dieses soll sich vielmehr gerade durch die Ubersteigung dieser Seinsweise auszeichnen. So hat es beispielsweise Aristoteles beschrieben: Die Tiere kennen nur das Nützliche und Schädliche, und dafür sind Lust und Schmerz ausreichende und verläßliche Indikatoren. Die Menschen aber kennen auch höhere Prädikate wie gut und schlecht, recht und unrecht, und diese erfordern mehr als sinnliche Gewißheit, sie verlangen Reflexion. 7 Der elevatorische Imperativ - die Aufforderung zur Ubersteigung der unmittelbarsinnlichen Bestimmtheit zugunsten eines reinen Wahrnehmens auf der einen und eines höheren Wohlgefallens auf der anderen Seite - hängt also direkt mit der anthropologischen Differenz, mit der Konstitution des Menschen als Menschen zusammen. Sofern wir Lebewesen sind, ist der vitale Imperativ auch unser erster ästhet/hischer Imperativ und der elevatorische Imperativ erst der zweite. Aber sofern wir Menschen sind, ist der elevatorische Imperativ unser konstitutiver und ausschlaggebender Imperativ. Er ist menschlich der kategorische Imperativ par excellence. Ich konzentriere mich im folgenden auf den zweiten, den elevatorischen Imperativ. Er ist es, der in der philosophischen Disziplin namens Ästhetik zur Geltung kommen wird. Eines will ich zuvor noch festhalten: Dieser elevatorische Imperativ ist ein genuin auf dem Terrain des Ästhetischen erwachsender ethischer Imperativ, also im präzisen Sinn ein ästhet/hischer Imperativ. Nicht dringt hier ein ethisches Gebot von außen in den Bereich des Ästhetischen ein, sondern es erwächst innerhalb der ästhetischen Sphäre selbst. Wir haben es mit dem Ansatzpunkt einer Ethik inmitten der Ästhetik zu tun.

2. Die traditionelle Ästhetik und ihre Tendenz zur Verabsolutierung des ästhetischen Imperativs In diesem Abschnitt will ich zeigen, wie die traditionelle Ästhetik zu einer kulturellen Ausführungsinstanz dieses elevatorischen Imperativs wurde. Zusätzlich möchte ich auf einen hochproblematischen und geradezu paradoxen Zug dieser Ästhetik hinweisen: auf ihre Tendenz zur Sinnenfeindlichkeit.

7 Vgl. Aristoteles, Politik, I 2, 1253 a 1 0 - 1 8 .

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B a u m g a r t e n , Meier Die Ästhetiker des 18. Jahrhunderts mußten, um ihrem neuen Projekt Chancen kultureller Akzeptanz zu eröffnen, zunächst darlegen, daß ihr Vorhaben den ethischen Standardforderungen der etablierten Kultur nicht etwa widerstreitet, sondern voll entspricht, ja daß es gerade geeignet ist, diesen Forderungen in der widerspenstigen Sphäre des Sinnlichen Geltung zu verschaffen. In diesem Sinn antwortet Baumgarten, der Gründungsvater der Ästhetik, auf den Einwand, seine Ästhetik laufe doch wohl auf eine Stärkung der Sinnlichkeit hinaus, während diese weit eher bekämpft als gestärkt werden müsse, mit der Versicherung, die Ästhetik werde uns zur erwünschten Herrschaft über die Sinne verhelfen. 8 Noch stärker paßt sich sein Schüler Meier dem kulturell etablierten Gebot einer Beherrschung der Sinnlichkeit an. 9 Er unterstreicht, daß man sich „bei der ganzen Ausbesserung der untern Begehrungskraft [...] wohl in Acht nehmen" müsse, „daß sie nicht gar zu stark werde. Sonst fallen wir in den viehischen Zustand, und in die moralische Sklaverei". 1 0 Meier bezeichnet „die sinnlichen Erkenntniskräfte" - die doch eigentlich das Kapital der Ästhetik darstellen - als den „Pöbel der Seele", 1 1 und er dekretiert: „Die Sinne müssen, von Rechts wegen, Sklaven der Vernunft sein." 1 2 - Man versteht, daß die Ästhetik von solchen Prämissen aus zu einem Unternehmen der Disziplinierung der Sinne werden konnte. 1 3 Bei Baumgarten waren solche Äußerungen zwar weithin strategische Erklärungen - in Wirklichkeit hat er Eigenansprüche des Sinnlichen in starkem Maße zur Geltung gebracht - , aber nachfolgende und sehr prominente Ästhetikkonzepte haben bei aller scheinbaren Sinnenfreundlichkeit in Wahrheit ausgesprochen anti-sinnlich gedacht und argumentiert. Mein Beispiel ist Schiller.

8 Vgl. AJexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, Frankfurt/Oder 1750, § 12. 9 Vgl. Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle/Saale 1748 (Teil I), 1749 (Teil II), 1750 (Teil III), Nachdruck: 3 B d e . , Hildesheim 1976, hier B d . 1, § 22, S. 36. 10 E b e n d a , B d . 2, § 540, S. 654. 11 E b e n d a , B d . 1, § 219, S. 516. 12 E b e n d a , Bd. 2, § 341, S. 176. 13 Noch Kants „Apologie für die Sinnlichkeit" ist durch die Paradoxie gekennzeichnet, daß die Sinnlichkeit in diesem Passus, der doch ihrer Verteidigung dienen soll, als „ P ö b e l " bezeichnet wird, und zwar „weil sie nicht denkt" (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 8, A 31). Die Verteidigung beschränkt sich darauf, die Unverzichtbarkeit der Sinnlichkeit als Materialbeschaffungsinstanz fürs Erkenntnisgeschäft anzuerkennen.

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Schiller Schiller erhofft sich in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" alles Heil von der ästhetischen Erziehung des Menschen, näherhin: von der „Ausbildung unseres Empfindungsvermögens".14 Am Ende dieser Briefe aber fordert er, daß „die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen" werde.15 Die Sinnlichkeit gilt ihm jetzt als „furchtbarer Feind", gegen den es zu „fechten" gelte; man müsse „den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen". 16 „Das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters" soll gerade darin bestehen, „ d a ß er den Stoff durch die Form vertilgt".17 In solcher Kriegführung und Ausmerzung des Originär-Sinnlichen sieht Schiller die primäre Aufgabe „ästhetischer Kultur". 18 - Wie ist diese Verkehrung einer sinnenfreundlichen Intention - wie man sie der Ästhetik generell zuspricht und wie man sie auch bei Schiller zunächst formuliert findet - in ein sinnenfeindliches Programm, in eine Kriegsstrategie gegen die Sinne zu erklären? Die ursprüngliche Intention Schillers zielt auf eine Gleichgewichtigkeit und Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernünftigkeit. Es soll darum gehen, die „Gesetze der Vernunft [...] mit dem Interesse der Sinne [zu] versöhnen". 19 Die Diskrepanz zwischen dieser sinnenfreundlichen Intention und der sinnenfeindlichen Durchführung des Projekts aber ergibt sich daraus, daß Schiller abstrichslos dem elevatorischen Imperativ folgt und diesem dabei eine absolutistische Form gibt. Schiller setzt, wie gesagt, auf eine „Ausbildung des Empfindungsvermögens".20 Er nennt dies „Veredelung".21 Aber da er die Ausbildung des Empfindungsvermögens nach Maßgabe eines verabsolutierten ästhetischen Imperativs denkt, der die völlige Verabschiedung des Unmittelbar-Sinnlichen verlangt, wird aus diesem Kultivierungsvorhaben ein martialischer Gedanke. Schiller fordert nicht weniger als „eine totale Revolution" unserer „ganzen Empfindungsweise".22 Wir sollen uns von der primären Sinnlichkeit in toto verabschieden, sollen uns in allem Sinnlichen künftig nicht mehr sinnlich, sondern allein ästhetisch verhalten. Wir sollen den „physischen Zustande" nicht bloß hie und da übersteigen, sondern insgesamt „zu dem ästhetischen [Zustande]" übergehen.23 Der pri-

14 Vgl. Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen", in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5. hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 6 1980, 5 7 0 - 6 6 9 , hier 8. Brief, 592. 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Ebenda, 23. Brief, 642. Ebenda, 645. Ebenda, 22. Brief, 639. Ebenda, 23. Brief, 645. Ebenda, 14. Brief, 614. Ebenda, 8. Brief, 592. Vgl. ebenda, 4. Brief, 577 u. 23. Brief, 642. Ebenda, 27. Brief, 662. Ebenda, 23. Brief, 642.

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märsinnliche und der höhersinnliche Zustand sollen nicht neben- oder übereinanderstehen, sondern der erste soll zugunsten des zweiten völlig beseitigt werden. - Der holde Schiller ist ein rigoroser Exekutor des ästhetischen Imperativs. E r verlangt dessen totalisierte Befolgung. So irritierend und beinahe unglaublich es ist: Die Ausmerzung des Primärsinnlichen bildet für Schiller die Grundaufgabe ästhetischer Erziehung. Dies tritt anläßlich diverser Überlegungen immer wieder zutage. So lobt Schiller beispielsweise den mechanischen wie den schönen Künstler dafür, daß sie „kein Bedenken" tragen, der Materie „Gewalt anzutun". 2 4 Die Tilgung des Primärsinnlichen wird zur Heerstraße der Ästhetik. Das ist keineswegs nur Schillers Auffassung - den ich hier denn auch in exemplarischer und nicht in mäkelnder Absicht anführe - , sondern es ist die Auffassung der traditionellen Ästhetik insgesamt, sofern sie dem elevatorischen Imperativ folgt. Schiller bringt ein Grundaxiom der traditionellen Ästhetik auf den Begriff. Entsprechend wird beispielsweise Hegel sagen, „daß das Sinnliche im Kunstwerk freilich vorhanden sein müsse, aber nur als Oberfläche und Schein des Sinnlichen erscheinen dürfe". 2 5 Die Kunst bringe „von seiten des Sinnlichen her absichtlich nur eine Schattenwelt von Gestalten, Tönen und Anschauungen hervor". 2 6

Drei Absolutismen Den Ästhetiken dieses Typs - also den meisten traditionellen Ästhetiken - ist ein antisinnlicher Absolutismus eingebaut. Er ist eine Folge der rigorosen und absolutistischen Auslegung des ästhetischen Imperativs. Eigentlich besagt dieser ja nur, daß man nicht bloß sinnlich, sondern auch ästhetisch verfahren solle. Daraus wird aber gemacht, daß man nirgendwo sinnlich, sondern allenthalben nur ästhetisch verfahren solle. Dadurch wird die Ästhetik - statt zu einem Erweiterungs- und Entfaltungsunternehmen - zu einem Disziplinierungsunternehmen der Sinnlichkeit. Während man gemeinhin glaubt, die Ästhetik bringe die Rechte des Sinnlichen zur Geltung, ist sie in Wahrheit von ihrer grundlegenden Denkform her gegen das Sinnliche gekehrt, hat den „Krieg gegen die Materie" zu ihrer Maxime. — Dies wird sich, soll die Ästhetik einmal wirklich eine Ästhetik werden, ändern müssen. Zu diesem ersten, dem sinnlichkeitsvernichtenden Absolutismus kommt ein zweiter, ein weltvernichtender Absolutismus hinzu. Wieder sind Schillers Ausführungen signifikant. Ästhetik wird bei ihm zu einem Spiel des Subjekts bei geschlossenen Türen. Schiller

24 Ebenda, 4. Brief, 578. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, 2Bde., Frankfurt/M. o.J., 148. 26 Ebenda, 49.

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fordert, man solle „alles Äußere formefn]", 2 7 also nichts hinnehmen, wie es ist, sondern alles durch Formarbeit in einen humanen Bestand verwandeln und dadurch aneignen. Man soll, „anstatt sich an die Welt zu verlieren", 2 8 „alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist" 2 9 . Damit wird die Ästhetik zu einer Vollzugsform absoluter Subjektivität. 3 0 Keine Vorgegebenheit, keine Exteriorität, keine Widerständigkeit, keine Andersheit wird anerkannt, geachtet, gewahrt. Für Ästhetiken dieses Typs ist von ihrem Ansatz her dergleichen wie Mimesis, Hingabe an das Material, Erfahrung eines Verändertwerdens, Aufbrechung des Panzers der Subjektivität ausgeschlossen. 31 - Auch diese Hypothek wird eine moderne Ästhetik ablegen müssen. Eliminiert der erste Absolutismus innerästhetisch das Primärsinnliche, so entfernt dieser zweite Absolutismus weltbezogen alles wirklich Andere, Fremde, Entgegenstehende - im Grunde also geradezu die Möglichkeit ästhetischer Erfahrung. Es bleiben nur die ästhetische Produktivität und das vom Subjekt selbst hervorgebrachte Ästhetische übrig. Schließlich kommt es zu einem dritten Absolutismus. Die Ästhetik beansprucht, die einzige veritable Orientierungsinstanz zu sein. Die modern mit ihr konkurrierenden Instanzen - Wissenschaft und Moral - werden von ihr systematisch degradiert. So weist Schiller die Orientierungsansprüche von Aufklärung und Wissenschaft unter Hinweis auf deren Einseitigkeit und Ungenügen a b ; 3 2 zudem behauptet er, allein die Ästhetik könne die Aufgabe der „Lebenskunst" sowie das „politische Problem" lösen, an dem die Französische Revolution gescheitert war. 3 3 Die eine These beansprucht also die ästhetische Uberbietung der kognitiven, die andere die ästhetische Usurpation der moralischen Orientierung. - Seinen grandiosesten Auftritt hat dieses ästhetische Uberbietungsprogramm dann bekanntlich im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus", das mit dem Projekt einer Ethik beginnt, um mit der ästhetischen Absorption des Ethischen wie des Kognitiven zu enden. 3 4

27 Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen". a . a . O . , 11. Brief, 603. 28 Ebenda, 13. Brief, 608. 29 E b e n d a , 11. Brief, 603. 30 Fichte bzw. Schillers Fichte-Lektüre steht im Hintergrund. 31 Auch dieses Resultat ist unmittelbar widersprüchlich zur genuinen Intention Schillers. Denn eigentlich ist seine Idee, daß man als ästhetischer Mensch allem Welthaften so begegnen solle, wie wenn es eine Erscheinung von Freiheit wäre. Aber im Rahmen seines ausgeführten Konzepts soll dies nur durch Umformung des Gegebenen möglich sein — und nicht etwa durch Anerkennung einer Freiheit, die dem Welthaften schon immanent wäre. 32 Vgl. Friedrich Schiller, „ Ü b e r die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen", a . a . O . , 8. Brief, 592. 33 E b e n d a , 15. Brief, 618 bzw. 2. Brief, 573. 3 4 „Wahrheit und Güte" sollen „nur in der Schönheit verschwistert", der „höchste Akt der Vernunft" soll ein „ästhetischer A k t " und „die Philosophie des Geistes" eine „ästhetische Philosophie" sein (Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deut-

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Insgesamt führt der ästhetische Imperativ also in seiner - hier an Schiller abgelesenen, aber der traditionellen Ästhetik im ganzen tief eingeschriebenen - Verabsolutierung statt zu ästhetischer Versöhnung zu einem dreifachen ästhetischen Absolutismus: gegenüber der primären Sinnlichkeit, gegenüber der Welt und gegenüber konkurrierenden Orientierungsweisen. Darin liegt die dreifache Malaise der traditionellen Ästhetik. Der zugrundeliegende systematische Fehler besteht, wie gesagt, im Mißverständnis des ästhetischen Imperativs. Man nimmt das Gebot zur Überschreitung des UnmittelbarSinnlichen als Aufforderung zu dessen Negation und Extinktion. Deshalb entwickeln Ästhetiken dieses Typs Strategien nicht der Anerkennung und Emanzipation des Sinnlichen, sondern Strategien zu seiner Beherrschung, Bannung und Disziplinierung. Das ist die innerste Paradoxie der traditionellen Ästhetik. Sofern die Ästhetik ursprünglich als Unternehmen einer Rehabilitierung der Sinne gemeint war, kommt diese Verschiebung geradezu einer Perversion des Projekts gleich.

3. Moderne Ästhetik: „Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen" (Adorno) Anhand von Adorno möchte ich nun zeigen, wie sich dieser erste Typus von Ästhetik zwar auch noch im 20. Jahrhundert findet, wie man aber auch seinen Widerspruch bemerken und von da aus zu einem ganz anderen Konzept von Ästhetik gelangen konnte.

Wiederkehr traditioneller Topoi Adornos Grundthese hinsichtlich des Verhältnisses von Ästhetik und Ethik lautet bekanntlich: Direkt, auf der Ebene der Gehalte und Aussagen, hat das Kunstwerk keiner lei moralische, ethische oder soziale Relevanz - und soll es eine solche auch nicht haben wollen.35 Hingegen kommt ihm durch seine Formarbeit - indirekt, analog - höchste moralische Relevanz zu. Je mehr das Werk immanent durchgebildet ist, um so mehr erhebt es ipso facto Einspruch gegen eine Gesellschaft, in der nichts Wert für sich, sondern alles nur für anderes Wert hat. - Wie ist das gemeint?

sehen Idealismus", hrsg. von Christoph Jamme und Helmut Schneider, Frankfurt/M. 1984,

12). 35 „Radikale Moderne wahrt die Immanenz der Kunst, bei Strafe ihrer Selbstaufhebung [ . . . ] . Nichts Gesellschaftliches in der Kunst ist es unmittelbar, auch nicht wo sie es ambitioniert." (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 336.) „In jeder noch möglichen [Kunst] muß soziale Kritik zur Form erhoben werden, zur Abblendung jeglichen manifesten sozialen Inhalts." (Ebenda, 371.)

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Kunst vollzieht laut Adorno durch ihre Formarbeit den Schritt von roher Sinnlichkeit zu geistiger Selbstbestimmung. „Das Rohe, subjektiver Kern des Bösen, wird von Kunst, der das Ideal des Durchgeformten unabdingbar ist, a priori negiert [.. , ] . " 3 6 Darin wiederholt Adorno offenbar das alte Schema der Ästhetik: Das Rohe ist das Böse; dem setzt Kunst die Form entgegen. Das Hochästhetische besiegt das Niedrigästhetische wie Gabriel den Luzifer. Von dieser Uberwindung des Rohsinnlichen durch die Formarbeit sagt Adorno nun weiter: „[...] das, nicht die Verkündigung moralischer Thesen oder die Erzielung moralischer Wirkung ist ihre [sc. der Kunst] Teilhabe an der Moral und verbindet sie einer menschenwürdigeren Gesellschaft." 3 7 Der Kristallcharakter des Kunstwerks soll also gleichbedeutend mit seinem Einspruch gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse sein; das in sich durchgeformte Kunstwerk soll der Entfremdungs- und Tauschgesellschaft den Spiegel eines Besseren vorhalten. „Nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz Durchgebildetes, das nicht wortlos Kritik übte, die Erniedrigung durch einen Zustand denunzierte, der auf die totale Tauschgesellschaft sich hinbewegt: in ihr ist alles nur für anderes. Das Asoziale der Kunst ist bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft." 3 8 Der gesellschaftlichen Nützlichkeit, in der ein jedes nur für anderes ist, tritt die Freiheit des Kunstwerks gegenüber, in dem alles es selbst ist. Kurzum: Die Autonomie des künstlerischen Werks kritisiert die Heteronomie der Gesellschaft. Manches in Adornos Bestimmungen mag spektakulär klingen, aber im Grunde handelt es sich bis hierher um eine Wiederkehr klassischer Topoi der Ästhetik. Die erste Bestimmung, der Schritt vom Rohen zum Durchgeformten, entspricht dem traditionellen ästhetischen Imperativ, dem Gebot einer Ubersteigung des Grobsinnlichen zugunsten des Reflexivsinnlichen. Auch die zweite Bestimmung, die Verbindung dieses Uberstiegs mit Freiheitsprädikaten, ist altvertraut. Schon traditionell galt der Schritt von kruder Sinnlichkeit zu sublimer Ästhetik als Aufstieg aus dem Reich der Nützlichkeit und Heteronomie in die Sphäre der Freiheit und Autonomie. - Adorno artikuliert den klassischen ästhetischen Imperativ in zeitgenössischer Wendung. 39

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Ebenda, 344. Ebenda. Ebenda, 335. Ein früher und energischer Kritiker des klassischen Konzepts war Nietzsche. E r opponierte im Namen des Primärsinnlichen gegen den ästhetischen Imperativ und forderte gerade umgekehrt, das Primärsinnliche zum Beurteilungskriterium des Höhersinnlichen zu machen. Nietzsche hatte durchschaut, daß die Ästhetik „unablöslich an [ . . . ] biologische Voraussetzungen gebunden" ist (Friedrich Nietzsche, „ D e r Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem", in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, B d . 6, 9 - 5 3 , hier 50), ja daß Ästhetik in Wahrheit „nichts als eine angewandte Physiologie" ist (Friedrich Nietzsche, „Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen", a . a . O . , 413—445, hier 418). Daher sind all seine „Einwände gegen die Musik Wagner's [ . . . ] physiologische Einwände" (ebenda). Nietzsche stellt

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Innere Widersprüche und Verkehrungseffekte Das bedeutet allerdings, daß Adornos G e b o t einer künstlerischen Negation des Rohen ebenso dubios ist wie das traditionelle. Erstens wahrt es - das war schon der Einwand gegen Schiller - die ästhetische Differenz nicht, sondern tilgt sie durch Elimination des Entgegenstehenden, des Primär-Sinnlichen, das von Adorno pauschal als Rohes diskriminiert wird. Zweitens verliert dadurch auch die vermeintliche Heilsidee namens A u t o nomie - gegenläufig zu ihrer Inanspruchnahme durch Adorno - ihre Unschuld. Autonomie soll Freiheit verkörpern. Sie soll, im Unterschied zum gesellschaftlichen Zustand, in dem „alles nur für anderes" ist, die Möglichkeit des Selbstseins vor Augen führen. A b e r das tut sie unter der Formprämisse gerade nicht. Vielmehr treten die Momente des Werks keineswegs von sich aus zu dessen Ganzheit zusammen, sondern sie müssen durch die Formarbeit zu solcher Einheit zusammengezwungen werden - ganz ähnlich wie die Individuen in der Gesellschaft. 4 0 Autonomie gilt allenfalls für das Werk, nicht aber für seine Momente. Sie haben Wert nur durch ihren Beitrag zum Ganzen, und daraufhin werden sie zugerichtet. Negation des Unmittelbar-Sinnlichen und F o r m als Zwang, das sind die beiden Schattenseiten des traditionellen Ansatzes - unabhängig davon, ob er im 18. oder im 20. Jahrhundert auftaucht. 4 1 Adorno hat sich, wie gesagt, erstaunlich weit solch traditioneller Vorstellungen bedient. Wo Schiller von „Veredelung" sprach, da redet Adorno, gleichermaßen euphemistisch, von „Vergeistigung". - In Wahrheit käme es jedoch längst darauf an, den Zwangscharakter solcher Formarbeit zu decouvrieren.

Kritik am Formprimat Andererseits hat natürlich gerade Adorno das Dubiose und Herrschaftliche der kristallinen Formarbeit erkannt. Prägnant notiert er: „Pointiert gegen das sensuelle Moment, kehrt Vergeistigung sich vielfach blind gegen dessen eigene Differenzierung, ein selber

das traditionelle ästhetische Schema vom Kopf auf die Füße: „Meine .Thatsache', mein ,petit fait vrai' ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen sie böse wird und revoltirt: er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch - nach Wagner's Kaisermarsch kann nicht einmal der junge deutsche Kaiser marschieren er verlangt von der Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem Gehn, Schreiten, Tanzen liegen. Protestirt aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht auch mein Eingeweide? [...] Wagner macht krank." (Ebenda, 418f.) 40 Schiller hatte diesen Zwangscharakter der künstlerischen Formarbeit immerhin offengelegt, als er von der Gewalt sprach, die der Künstler der Materie antut. 41 Die beiden Seiten hängen natürlich untereinander zusammen, denn die prinzipielle Diskreditierung des Primärsinnlichen legitimiert die Zurichtung durch die Form.

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Geistiges [..·]." 4 2 Damit diagnostiziert Adorno erstens den anti-sinnlichen Affekt der Formarbeit und wendet zweitens ein, daß das Sinnliche dabei verkannt werde. Die Differenzierungstendenz des Sinnlichen nämlich — traditionell als dessen Mannigfaltigkeitscharakter verbucht, den es durch die synthetische Tätigkeit der Form oder des Geistes zu überwinden gelte 43 - sei in Wahrheit selber als Geistiges zu erkennen und zu würdigen. Der objektive Widerspruch der klassischen Ästhetik lag darin, daß sie dem Sinnlichen Gewalt antat, weil sie seine Ansprüche als roh verkannte, anstatt die sinnliche Diversität als selber geistartig zu erfassen und zu achten.

„Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen" Das zeichnet zugleich den künftig einzuschlagenden Weg vor: Man müßte die Momente im Werk nicht zu einem Ganzen zusammenzwingen, sondern sich auf ihre Eigenart einlassen. Man müßte die divergierenden Impulse des Materials so aufnehmen, daß die Gestaltung „ihnen dorthin folgt, wohin sie von sich aus wollen",44 Ästhetische Arbeit müßte, statt Herrschaft auszuüben, den „einzelnen Impulse[n]" folgen und versuchen, ihnen gerecht zu w e r d e n . S i e hätte ein Ideal nicht der Einheit durch Formarbeit, sondern der Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen zu verfolgen. In diesem Sinn sagt Adorno: „Ästhetische Einheit" - und jetzt meint er wahre ästhetische Einheit - „empfängt ihre Dignität durchs Mannigfaltige selbst. Sie läßt dem Heterogenen Gerechtigkeit widerfahren." 46 Dieser Wandel der ästhetischen Leitidee von engagierter Formarbeit, welche das Mannigfaltige zusammenzwingt, zum Ideal der Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen scheint mir hochbedeutsam zu sein. 47 Die neue Leitidee befreit von den traditionellen

42 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a . a . O . , 143. 43 Diese Terminologie durchzieht beispielsweise Schillers Ausführungen. 44 Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie, a . a . O . , 180 (Hervorhebung W. W.). 45 Ebenda. 46 Ebenda, 285. -

In dem 1968 entstandenen II. Teil des Berg-Aufsatzes „Erfahrungen an

Lulu" heißt es: „Lulu [ . . . ] holt das Verdrängte herauf, sieht ihm ins Auge, macht es bewußt, und läßt ihm Gerechtigkeit widerfahren, indem sie ihm sich gleichmacht; höhere Instanz, vor der die Revision des zivilisatorischen Prozesses stattfindet." (Theodor W. Adorno, „Erfahrungen an Lulu", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 13, Frankfurt/M. 1971, 4 7 1 - 4 9 0 , hier 486). 47 Der Wandel bestimmt Adornos eigene Entwicklung. Man kann das an seinen Äußerungen zur Musik - von der er in der „Ästhetischen Theorie" sagte, daß sie aus der Schule aller Kunst plaudert ( a . a . O . , 3 3 6 ) - ablesen. In der 1949 publizierten „Philosophie der neuen Musik" plädierte Adorno für die souveräne Intervention des komponierenden Subjekts in die musikalische Materie. E r lobte an Schönberg, daß dieser - im Unterschied zu Webern - mit den Zwölftonreihen „,komponiert'", daß er überlegen mit ihnen schaltet (Theodor W. Adorno,

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Fehlern: von der Negation des Primärsinnlichen und von der Unfähigkeit, sich auf das Sinnliche überhaupt einzulassen und somit wirklich ästhetisch zu verfahren. Anerkennung und Gerechtigkeit treten an die Stelle von Herrschaft und Unterdrückung, mimetischer Umgang wird möglich, wo bislang nur instrumenteller propagiert worden war. 48

Asthet/hische Konsequenzen Auch diese Ästhetik - die Ästhetik im Sinn der Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen - hat die Struktur einer Ästhet/hik. Auch eine Kunst, die dem neuen Ideal folgt, wird ethisch-moralische Strahlkraft besitzen können. N u r wird sie eine Ethik nicht mehr der Unterwerfung, sondern der Gerechtigkeit vertreten. Man kann bei Adorno zwei Aspekte finden, unter denen er die ethische Relevanz dieser neuen ästhetischen Konzeption ausgeführt hat. Erstens besitzt das neue ästhetische Ideal Vorbildcharakter f ü r einen fälligen neuen Typus des Subjekts. Diesen hat Adorno so charakterisiert, daß dieses Subjekt sein Glück nicht mehr im Imperialismus gegenüber dem Anderen hätte, sondern darin fände, daß das Fremde „in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Hetero-

Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt/M. 1975, 106). Die spezifische Gefahr der Zwölftontechnik sah Adorno hingegen darin, daß dieses „System der Naturbeherrschung in Musik" „virtuell das Subjekt" und seine kompositorische Phantasie auslöscht (ebenda, 65 bzw. 70). In der Kranichsteiner Vorlesung „Vers une musique informelle" von 1961 aber kritisierte Adorno dann dieses kompositorische Verfahren eines sich autonom gebärdenden Subjekts - Schönbergs Komponieren mit den Tönen - als selber herrschaftlich (vgl. Theodor W Adorno, „Vers une musique informelle", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt/M. 1978, 493-540, hier 507). Wenn er jetzt von Schönberg sagt: „Alles in ihm wehrte sich dagegen, daß die Töne von sich aus komponieren könnten" (ebenda), so ist das höchst kritisch gemeint. Das komponierende Subjekt sollte Adorno zufolge vielmehr fähig werden, die Bewegungen der Töne mitzuvollziehen. Jetzt wird auf einmal sogar Cage - mit aller Vorsicht - zu einer diskutablen, ja sogar wichtigen Figur erklärt: „In einem jedenfalls nähert sich der Impuls Cages dem einer informellen Musik: als Protest gegen die sture Komplizität von Musik mit Naturbeherrschung." („Vers une musique informelle", a.a.O., 534.) Adornos dortige Überlegungen, an deren Anfang das Bekenntnis stand, selber vom „Desiderat musikalischer Befreiung" gelockt zu sein (ebenda, 495), münden schließlich in die Aussage, daß es heute „die Gestalt aller künstlerischen Utopie" sei, „Dinge [zu] machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind" (ebenda, 540). 48 Im Bereich der bildenden Kunst kann das Informel als Exempel der neuen Tendenzen gelten. Künstler wie Wols oder Dubuffet machen sich daran, den Eigentendenzen des Materials nachzuspüren, sie zur Entfaltung zu bringen. Nicht von ungefähr hat sich Adorno für seine Vorstellung von einer künftigen Musik — einer „musique informelle" - von der Malerei des Informel abregen lassen.

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genen wie des Eigenen". 4 9 Solche Subjekte würden - und darin kehrt der Sache nach die neue ästhetische Herzformel als neue Subjektsmaxime wieder - den „Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft" realisieren, „in dem das Unterschiedene teilhat aneinander". 50 Zweitens impliziert das Konzept ästhetischer Gerechtigkeit eine scharfe Kritik an der politisch-rechtlichen Version von Gerechtigkeit. Adorno vertritt die Auffassung, daß man überhaupt nur in der Ästhetik, nicht in der Politik von einer Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit sprechen könne. Die politische Gerechtigkeit basiere auf dem „formalen Äquivalenzprinzip". 5 1 Sie bringe daher die Differenzen zum Verschwinden, 5 2 übe ihnen gegenüber „reale Gewalt a u s " . 5 3 Ästhetische Gerechtigkeit hingegen erkennt die Differenzen an. Daher verhält sich ästhetische Gerechtigkeit - als „Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen" - zu politischer Gerechtigkeit - als „Gleichheit, in der die Differenzen untergehen" - wie Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit. Während die politische Gerechtigkeit der Herrschaftsmaschinerie verhaftet bleibt, der auch die konventionell-ästhetische Leitidee der Formarbeit undurchschaut zugehörte, vermag einzig ästhetische Gerechtigkeit aus ihr herauszuführen.

4. Ethische Implikationen und Konsequenzen aktuellen ästhetischen Bewußtseins Abschließend will ich skizzieren, wie dieses Konzept einer Ästhetik der Gerechtigkeit unter gegenwärtigen Bedingungen weiterzuentwickeln wäre.

49 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, B d . 6, Frankfurt/M. 3 1984, 192. 50 Theodor W. Adorno, ,,Zu Subjekt und Objekt", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt/M. 1977, 7 4 1 - 7 5 8 , hier 743. 51 „Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alles schlägt es über denselben Leisten." (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a . a . O . , 3 0 4 . ) 52 E s handelt sich um eine „Gleichheit, in der die Differenzen untergehen" (ebenda). 53 „Die Rechtsnormen schneiden das nicht Gedeckte, jede nicht präformierte Erfahrung des Spezifischen um bruchloser Systematik willen ab und erheben dann die instrumentale Rationalität zu einer zweiten Wirklichkeit sui generis. [ . . . ] Dies Gehege, ideologisch an sich selbst, übt durch die Sanktionen des Rechts als gesellschaftlicher Kontrollinstanz, vollends in der verwalteten Welt, reale Gewalt aus." ( E b e n d a . )

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E s bedarf eines weiteren Schritts: über die werkinterne Heterogenität, die Adorno Augen stand, hinaus zur werkexternen Heterogenität, also zur Anerkennung nicht der unterschiedlichen Materialtendenzen in einem einzelnen Werk, sondern auch Divergenz von künstlerischen Paradigmen zwischen verschiedenen Werken und in Sphäre der Kunst insgesamt.

vor nur der der

Im G r u n d e ist eine solche Anerkennung von Heterogenität ohnehin Bestandteil der Kunstsphäre. Sie ist ihr jedenfalls mehr als anderen Sphären eingebaut. Schon antik galt der G r u n d b e f u n d , daß es keinen einheitlichen Kanon für die diversen Gattungen gibt. So sagte Cicero: „ [ . . . ] wenn es beinahe unzählige Redegattungen und -stile gibt, alle in ihrer Eigenart verschieden, als Gattung aber lobenswert, dann können, weil sie voneinander abweichen, nicht mehr dieselben Regeln und nur ein System gelehrt w e r d e n . " 5 4 Zumal seit die Moderne eine unübersehbare Vielfalt von Werkformen und Anschauungsweisen hervorgebracht hat, ist Pluralität z u m G r u n d b e f u n d geworden. E s geht dabei nicht um Unterschiede auf gemeinsamer Basis, sondern um Basisunterschiede. D i e Werke erzeugen oder vertreten unterschiedliche Paradigmen und verlangen dementsprechend auch unterschiedliche Kriteriensätze. Sie lassen sich nicht mehr über einen einzigen Leisten schlagen. D e r Betrachter k o m m t - wenn er nicht völlig unsensibel oder ein engagierter Beckmesser ist — nicht mehr mit einem einzigen Modell von K u n s t durch. Was man als Widerständigkeit, Rätselcharakter oder Schwerverständlichkeit der modernen Werke diagnostiziert, ist Indiz dessen, daß sie nicht einem generellen Kanon folgen, sondern ihren eigenen entwickeln; erst wenn man diesem auf die Spur k o m m t , enthüllen sich die Werke. Zugleich locken sie, diesen ihren K o d e zu suchen und zu finden. Daher ist für ästhetisches Bewußtsein auf dem Stand der Moderne zweierlei selbstverständlich: daß man am einzelnen Werk dessen Idiolekt herausfinden muß; und daß man sich hinsichtlich der Kunst im ganzen der grundsätzlichen Pluralität der Paradigmen bewußt sein muß.

Ästhetik und Anästhetik Z u diesem ersten ästhetischen Elementargebot - Pluralität - kommt ein zweites hinzu. Es läßt sich durch die Doppelfigur von Ästhetik und Anästhetik bezeichnen. Alles Wahrnehmen ist spezifisch. D a s meint nicht den trivialen Befund, daß man, einen Gegenstand wahrnehmend, nicht gleichzeitig einen anderen wahrnehmen kann, sondern den U m s t a n d , daß jedes Wahrnehmen eine bestimmte Typik aufweist und daß diese Typik zwar manches wahrnehmbar macht, anderes aber konstitutiv ausschließt. Etwas

54 Cicero, Vom Redner, III 34.

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zu sehen, heißt stets auch, etwas anderes zu übersehen. Es gibt kein Sehen ohne blinden Fleck. Jede Wahrnehmungstypik hat transzendentale - eröffnende wie ausschließende Funktion. Das gilt offenbar schon auf der natürlichen Ebene, nämlich zwischen verschiedenen Sinnen: Was dem Sehen erschlossen ist, bleibt für das H ö r e n verborgen, und so fort durch die ganze Skala der Sinne. Die Bevorzugung einer bestimmten Wahrnehmungstypik oder einer künstlerischen Paradigmatik ist daher nicht bloß eine ästhetische, sondern zugleich eine anästhetische Entscheidung: Sie drängt andere Wahrnehmungsmöglichkeiten ins Abseits. Gerade wo sich die Wahrnehmungsformen - wie heute - kulturell pluralisieren, gilt es, sich dieser Koppelung und Dialektik von Ästhetik und Anästhetik bewußt zu sein. Reflektierte Ästhetik sensibilisiert nicht nur für die Spezifität ästhetischer Paradigmen, sondern zugleich für ihre jeweilige Blindheit. 5 5

K o d e x ästhetischen B e w u ß t s e i n s Die Pluralität einerseits und die Dialektik von Ästhetik und Anästhetik andererseits stellen Elementaraxiome modernen ästhetischen Bewußtseins dar. Im Ausgang von ihnen läßt sich geradezu ein Kodex dieses Bewußtseins skizzieren. - Ich liste, vorläufig und unvollständig, auf: 1. Spezifitätsbewußtsein: Es gilt, die Spezifität eines jeden ästhetischen Ansatzes zu beachten. Man muß ihm auf die Spur kommen, seine Logik erfassen und ihr folgen. 2. Partialitätsbewußtsein: Man darf das jeweilige Paradigma nicht zum einzig möglichen oder allein seligmachenden erklären. Das verstieße konkret gegen seine faktische Spezifität und generell gegen die Pluralität. 3. Wachsamkeit: Man muß nicht nur bedenken, daß jedes Paradigma spezifisch ist und daß deshalb legitimer- und geradezu notwendigerweise andere Paradigmen neben ihm existieren, sondern man muß auch für die unvermeidlichen Ausschlüsse eines jeden Paradigmas und für die Gegenwendigkeit der Paradigmen sensibel sein. Prinzipiell ist mit Andersheit zu rechnen. 4. Aufmerksamkeit: Eine für Ausschlußverhältnisse sensibilisierte Ästhetik mahnt uns zur Aufmerksamkeit - gerade dort, wo wir nichts wahrnehmen und nichts vermuten oder wo wir nur Unwürdiges und Indiskutables vor uns zu haben glauben. Man kann nie sicher sein, ob ein solcher Eindruck nicht bloß auf Borniertheit beruht, o b die vermeintlichen Schlacken nicht in anderer Perspektive den Glanz von Edelmetall zeigen könnten. Moderne Kunst hat sich vielfach gerade dem gesellschaftlich Abgewerteten zugewandt.

55 Näher habe ich dies ausgeführt in „Ästhetik und Anästhetik", in: Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 9 - 4 0 .

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Entdeckungen sind am ehesten dort zu machen, wo ,nichts* ist. Von John Cage gibt es einen wundervollen „Vortrag über nichts". 5 6 5. Anerkennungstendenz: Wahrnehmung tendiert immer zu Zuwendung und zu mehr: zu Anerkennung - des Übersehenen, Überhörten, Unerhörten. - Überhaupt, das „Unerhörte": Im alltäglichen Sprachgebrauch gilt .unerhört' beinahe selbstverständlich als synonym mit .unverschämt'. In ästhetischer Perspektive aber muß man sagen: Unerhörtes ist erstens solches, was noch nicht gehört worden ist, aber gehört werden sollte (Unerhörtes im Sinn von Ungehörtem); zweitens, was noch nicht erhört, was in seinem Anspruch - beinahe seinem Flehen - noch nicht vernommen wurde (Unerhörtes im Sinn von Unerlöstem); drittens, was das übliche Maß übersteigt und sich außerhalb der gewohnten Ordnung befindet (Unerhörtes im Sinn von Außerordentlichem). Jedesmal handelt es sich um Latentes; und jedesmal ist damit eine Wahrnehmungsaufgabe bezeichnet. Nur solange die entsprechenden Wahrnehmungsanstrengungen nicht unternommen und die Barrieren nicht übersprungen werden, wird das Unerhörte weiterhin wie selbstverständlich als Ungehöriges oder Unverschämtes abqualifiziert. - Man sollte nicht immer nur vom Hegeischen dreifachen Aufheben reden, sondern auch einmal auf diesen drei- oder vierfachen Sinn des ,Unerhörten' achten. Er artikuliert die Kehrseite der Aufhebungseuphorie. 6. Gerechtigkeitstendenz: All diese Punkte weisen darauf hin, wie die Ästhetik sich einer Perspektive der Gerechtigkeit verpflichtet fühlen und ihr gemäß operieren könnte. Vielfach arbeitet die heutige Kunst nicht am Etablierten, sondern am Übersehenen oder Unerhörten. Sie will diesem zu Sprache, Ausdruck, Anerkennung verhelfen. Ihr wohnt ein Impuls zu Gerechtigkeit inne.

Kultur des blinden Flecks In ihrer Zielperspektive führen diese Aspekte zur Idee einer Kultur des blinden Flecks. Das wäre eine Kultur, die prinzipiell für Ausschlüsse, Verwerfungen, Andersheiten sensibel wäre. Sie verschriebe sich nicht einem Kult des Sichtbaren, Evidenten, Glänzenden, Prangenden - nicht also dem gegenwärtigen Asthetisierungstrubel - , sondern dem Verdrängten, den Leerzonen, den Zwischenräumen, der Alterität. Dem würde sie ihre Aufmerksamkeit nicht nur in ästhetischen, sondern ebenso in lebensweltlichen, sozialen, politischen Kontexten zuwenden.

56 Vgl. John Cage, „Vortrag über nichts", in: ders., Silence, übers, von Ernst Jandl, Frankfurt/M. 1987, 6 - 3 5 .

Ästhet/hik

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Ästhetik und Lebensformen Aber gehe ich mit der Rede von einer „Kultur des blinden Flecks" nicht zu weit? Gehe ich nicht ungerechtfertigt über das Ästhetische hinaus? Und andererseits: Habe ich mich inzwischen nicht zu sehr von meinem eigentlichen Thema, der Ästhet/hik, entfernt? Ich schien zuletzt vornehmlich von Ästhetik und von Kunst zu sprechen. Das war gerade nicht der Fall. Denn das genannte ästhetische Bewußtsein macht an der Grenze der Kunstsphäre nicht Halt. Es überträgt sich vielmehr - analog - auch auf Lebensverhältnisse, auf soziale und lebensweltliche Konstellationen. Und es tut das konsequent und legitim. Anders gesagt: Auch die hier zuletzt skizzierte Ästhetik ist eine Ästhet/hik. Ebenso wie für ästhetische Konstellationen ist sie für lebensweltliche Verhältnisse einschlägig. Nur: Ist diese Übertragung auf Lebensverhältnisse auch wirklich legitim? Ja, denn die Verhältnisse zwischen Lebensformen sind strukturell den Verhältnissen zwischen ästhetischen Komplexen gleich. Hier gelten dieselben Aspekte der Pluralität, der Spezifität und Partialität und der tendenziellen Blindheit der Perspektiven füreinander, und auch hier sind Anerkennung und Gerechtigkeit geboten. Daher vermag ein ästhetisch reflektiertes Bewußtsein auch in Fragen der Lebenswelt erhellend, klärend und helfend zu wirken. Gerade hier können seine ästhet/bischen Valenzen zum Tragen kommen. Wünschenswert ist solcher Beistand zudem, weil die fraglichen Strukturen in den lebensweltlichen Verflechtungen aus vielerlei Gründen opak, in der ästhetischen Sphäre hingegen transparenter sind und daher dort früher erfaßt wurden und nun wie ein Modell beliehen werden können. Ästhetische Erfahrung der skizzierten Art sensibilisiert für Grundunterschiede und für die Eigenheit und Irreduzibilität von Lebensformen. Zugleich fördert sie die Bereitschaft wahrzunehmen, wo Überherrschung geschieht, wo Verstöße vorliegen, wo es für das Recht des Unterdrückten einzutreten gilt. Insofern vermag ästhetische Kultur auch zur politischen Kultur beizutragen.57 Wie grundsätzlich politische Kultur auf ästhetische Kultur angewiesen ist, kann man am Beispiel der Toleranz erkennen. Toleranz ohne Sensibilität wäre bloß ein leeres Prinzip. Man stelle sich nur einmal einen Menschen vor, der sich die Maxime der Toleranz perfekt zu eigen gemacht hätte, dem aber die Sensibilität fehlte, um im täglichen Leben überhaupt zu bemerken, daß er es bei den Anschauungen eines anderen Menschen mit einer prinzipiellen Differenz und nicht bloß mit einer beliebigen Abweichung zu tun hat, daß also nicht ein Defizit, sondern ein kultureller Unterschied vorliegt. Ein solcher Mensch käme niemals in die Verlegenheit, von seiner schönen Maxime der Toleranz überhaupt Gebrauch zu machen, er würde vielmehr andauernd seine Imperialismen und Unterdrückungen praktizieren - aber besten Gewissens und im sicheren Glauben, ein

57 Ihr Beitrag bezieht sich gerade auf jene Dimensionen von Gerechtigkeit, von denen Adorno gesagt hatte, daß sie im Recht als solchem nicht zur Geltung kommen.

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toleranter Mensch zu sein. Sensibilität für Differenzen ist eine Realbedingung von Toleranz. - Vermutlich leben wir in einer Gesellschaft, die zu viel von Toleranz redet und zu wenig Sensibilität besitzt.

Ausblick Der versuchte Nachweis ästhet/hischer Valenzen in der Struktur des Ästhetischen und im aktuellen ästhetischen Bewußtsein führt zu einer Forderung an die Ästhetik. Die Damen und Herren Ästhetiker - und man möchte, wie Jean Paul schon 1804, auch heute sagen: „Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Aesthetikern" 58 - dürften die ästhetische Reflexion nicht - in allzu konventioneller Manier - aufs bloß Ästhetische zurückstutzen, sondern sollten sich daran machen, gerade auch die ästhet/hische Dimension des Ästhetischen zu erkennen und zu entfalten. Solange sie dies nicht tun, arbeiten sie gewollt oder ungewollt - der Tendenz zu, diese ästhet/hischen Potenzen brachliegen zu lassen, anstatt sie als Ferment der Kultur zur Geltung zu bringen. In diesem Fall diente die Ästhetik im kulturellen Haushalt tatsächlich bloß der Kompensation und nicht auch der Korrektur.

58 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (1804), München 1963, 22.

David Wellbery

Die Geburt der Kunst Zur ästhetischen Affirmation Man lasse ihn schreien, und sehe. 1 Gotthold Ephraim Lessing I did hope one day to make the best painting of the human cry. 2 Francis Bacon

Der Hoffnung, „to paint the mouth like Monet painted a sunset", 3 bleibt der Künstler sein Leben lang treu: von „Head I" (1948) über die berühmte „Study after Velazquez's Portrait of Innocent Χ" (1953) bis hin zu dem großartigen Triptychon „Studies of the Human Body" (1979)4 durchzieht das Motiv des im Schrei aufgerissenen Mundes das malerische „oeuvre" Francis Bacons. So wird bei diesem bedeutenden Nachfolger Cezannes und Picassos 5 der Satz, mit dem Lessing den Schrei aus der Malerei verbannen wollte, zum ästhetischen Programm. Wie ist das zu verstehen? Wie verhält sich die ästhetische Moderne zum aufklärerischen Klassizismus, dessen Normen - wie die Gegenüberstellung Lessing/Bacon illustriert - sie umzukehren scheint? Im folgenden handelt es sich um den Versuch, eine mögliche Antwort auf diese Frage zu umreißen.

1 Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, hrsg. Wilfried Barner u . a . , Frankfurt/M. 1985ff., Bd. V/2: Werke 1766-69, 29 (Laokoon, Kap. II). 2 David Sylvester, Interviews with Francis Bacon, London 1975, 34. 3 Ebenda, 50. 4 Reproduktionen der genannten Werke in: Michel Leiris, Francis Bacon. Full Face and in Profile, New York 1983, 5, 11, 123. 5 D a ß Bacon in einer Traditionslinie mit Picasso steht betont Michel Leiris in seinem oben zitierten Essay (Anm. 4). Der Bezug zu Cezanne steht im Zentrum der brillanten Arbeit von Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logique de la sensation, Paris 1981.

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1. Zunächst gilt es, den Motivationskomplex freizulegen, der Lessings Satz zugrunde liegt. 6 E r ist der Argumentation entnommen, die Lessing im „ L a o k o o n " gegen Winckelmanns Behauptung führt, die ruhige Fassung der Statue sei auf psychologische Qualitäten der Griechen - deren edle Einfalt und stille G r ö ß e - zurückzuführen. F ü r Lessing ist die Struktur des künstlerischen Gebildes nicht durch seelische Eigenschaften der Griechen, die das Kunstwerk abbildete, zu erklären, sondern durch das mediumspezifische Gesetz, welches die Milderung drastischer Expressivität, selbst in Fällen, in denen das Sujet Extremismus des Ausdrucks nahelegt, zugunsten der physischen Schönheit fordert. D i e ses der Malerei (worunter Lessing die bildenden Künste überhaupt versteht) eigene „Gesetz der Schönheit" hat also mit dem ethisch-anthropologischen Ideal Winckelmanns nichts zu tun. Es ist vielmehr eine pragmatische Maßnahme, die die Verträglichkeit des künstlerischen „Mediums" mit den Bedingungen von Moralität garantiert. Das will Lessing mit dem Denkexperiment zeigen, in dem er sich auf die Evidenz des Schreis beruft: „ D e n n man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den M u n d auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann. D i e bloße weite Ö f f n u n g des Mundes, - bei Seite gesetzt, wie gewaltsam und Ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden, - ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt t u t . " 7 D e r Schlüsselbegriff des zitierten Passus ist der des Mitleids. Mitleid bedeutet in Lessings Denken das unmittelbare Bewußtwerden meiner Solidarität mit anderen Menschen, ja mit der Menschheit schlechthin; es ist Zugang zum Menschsein als dem Bewußtsein gattungsmäßiger Zugehörigkeit und Verbundenheit. In den bildenden Künsten stößt nun das Mitleid, Grund der Moral und Bedingung der Möglichkeit einer ethischen Gemeinschaft, auf ein Element, das dessen Wirksamkeit blockiert. U n d dieses Element ist kein anderes als die Sinnlichkeit, die dort - nicht aber in der Poesie - das primäre D a t u m der Rezeption abgibt. A u f Grund meiner Sinnlichkeit und der Automatizität meiner Reaktion auf bestimmte sinnliche Daten vermag ich nicht meine Solidarität mit dem dargestellten Gegenstand - dem leidenden Menschen - gefühlsmäßig zu realisieren; ich wende

6 Eine ausführlichere Fassung dieses ersten Abschnitts, erweitert um eine Diskussion von Lessings Fabeltheorie, erscheint demnächst in dem von Christian Hart-Nibbrig herausgegebenen Sammelband: Was ist Darstellung?, Frankfurt/M. 1994. Zur hier vorausgesetzten Analyse der Semiotik Lessings vgl. David Wellbery, Lessing's 'Laocoon': Aesthetics and Semiotics in the Age of Reason, Cambridge 1984. 7 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, a.a.O., 29.

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mich von ihm ab. Die Sinnlichkeit ist, zumindest potentiell, desolidarisierend, atomisierend, zerstreuend. Sie wirft mich als Rezipienten auf mich selbst zurück und verhindert, daß ich den Akt sympathischer Identifikation, zu dem ich als Mensch verpflichtet bin und der mein Zugang zum Menschsein ist, vollziehe. Unterwarfen die Griechen die bildenden Künste dem Gesetz der Schönheit, dann deswegen, weil die Schönheit eine Formierung des Sinnlichen ist, die eine Distanznahme von der Sinnlichkeit ermöglicht, deren Mechanismus neutralisiert, kurz: die uns von der Amoralität unserer natürlichen Verstrickung befreit. Von der Amoralität unseres Geboren-Seins. Um Lessings Grundanliegen zu profilieren, sei hier an die Funktion eines der negativ besetzten Terme der Demonstration in seinem ästhetischen Denken überhaupt erinnert. Das Ekelhafte ist unaufhebbare Sinnlichkeit. Aus diesem Grunde sind Gegenstände, die die Reaktion des Ekels hervorrufen, mit schönen Vorstellungen inkompatibel, denn die Schönheit ist, wie wir gesehen haben, die Aufhebung der Sinnlichkeit in der Sinnlichkeit, Neutralisierung sinnlicher Flagranz, Erhebung des Sinnlichen auf die Ebene eines QuasiBegriffs. So lassen sich ekelhafte Gegenstände nach Lessing nicht nachahmen. Unnachahmbar sind sie, nicht weil die Repräsentation sie nicht zu erfassen vermag, sondern weil sie die Distanz, die ein wesentliches Strukturmoment der nachahmenden Vorstellung ist, unterlaufen und sich in ihrer flagranten Hyperrealität behaupten. In der Erfahrung des Ekelhaften wird das Subjekt immer durch ein Anderes und Reales affiziert, das die Struktur der Repräsentation erschüttert. Und da diese Erfahrung meine mitleidende Identifikation mit dem anderen Menschen und daher auch meine Identifikation mit dem eigenen Menschsein verhindert, markiert der Ekel - unaufhebbare Sinnlichkeit - den Lokus meiner Nicht-Identität als menschliches Subjekt. Erfaßt oder berührt vom Ekelhaften vermag ich nicht mich als Gattungswesen zu intendieren. Im Ekel kündigt sich ein primordiales Pathos, ein Außer-Sich-Sein, an, das die Struktur sowohl der Repräsentation als auch der Subjektivität subvertiert. Fragen wir nun nach dem Ort - dem leiblichen Lokus - , von dem die Reaktion des Ekels ausgeht. Die minimale Instanz des Ekelhaften, auf die Lessing verweist, ist „die bloße weite Öffnung des Mundes", das Gähnen eines Lochs, das Aufreißen eines oralen Hohlraums. Nicht die Sinnlichkeit schlechthin bewirkt die Reaktion des Ekels, sondern deren primitivste, deren animalischste Form: die Sinnlichkeit des Mundes, der mich an die Mutter bindet, aber auch des mütterlichen Mundes, aus dem ich geboren bin. Flagrante Sinnlichkeit ist das Mal und das Erbe des von der Mutter geborenen Seins. Das, was sich nicht assimilieren läßt, was nicht aufhebbar und letzten Endes nicht humanisierbar ist, was mich einer primordialen Verwundbarkeit, einem Pathos, aussetzt, ist das Faktum meiner natürlich-maternalen Geburt. Ekel als diejenige Wirkung, die das Mitleid verhindert und damit den Zugang zum Status des menschlichen Gattungswesens blokkiert, ist Horror gegenüber der natürlichen Geburt. In einem Gemälde, schreibt Lessing, wäre die ekelhafte Öffnung des Mundes ein „Fleck". Ε contrario impliziert diese Behauptung, daß die schöne Repräsentation des Laokoon, die Repräsentation, die den schreienden Mund schließt, unbefleckt ist; daß die Geburt des Schönen, des menschlichen Subjekts aus einer reinen Konzeption hervorgeht,

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einer unbefleckten Empfängnis. In einer Statue, schreibt Lessing, wäre die ekelhafte Öffnung des Mundes eine „Vertiefung". Ε contrario deutet diese Behauptung an, daß das schöne Subjekt, das menschliche Subjekt, gemäß einem Körperschema gebildet ist, das keine Einkerbung, keine Invagination auf das Innere aufweist, kurz: nach einem Körperschema, das die Morphologie männlicher Integrität verwirklicht. So verweist sich das Schöne als diejenige Form, die der Vater direkt, ohne daß der weiblich-maternale Mangel dazwischenkommt, auf seine Söhne überträgt. Der Vater und seine Söhne, sich der Verstrickung im Material-Sinnlichen, im Ekelhaften und Giftigen, entwindend, um sich als Figuren schöner Subjektivität und als Repräsentanten einer Humanität, die im Mitleid ihren Grund hat, zu etablieren: - damit ist das Drama umrissen, das Lessings Beschreibung der Laokoonstatue inszeniert. Die Schlange ist die Nabelschnur, die mich an die Mutter bindet, ist die Mutter selber, die, indem sie mich gebärt, mich zu erdrosseln und zu ersticken droht.8 Und „die bloße weite Öffnung des Mundes" ist der Schrei - der Mutter Schrei, des Infans Schrei - der natürlichen Geburt. Lessings Antipathie gegenüber den bildenden Künsten ist eine im Wortsinn: Pathos gegen das Pathos, das im Geboren-Sein des (noch nicht zum Menschen gewordenen) Menschen wurzelt. Als materiell-sinnliche Künste tragen Malerei und Skulptur Spuren dieses Faktums der Geburt in sich und drohen daher an dieses Faktum im Modus des Ekels zu erinnern. Diese Antipathie ist keine Idiosynkrasie Lessings, sondern das Pathos der Repräsentationstheorie selber. Die Geburt ist das Unvorstellbare, Unaufhebbare, Untheoretisierbare; sie ist unvordenkliche Öffnung des Subjekts auf ein Anderes, und daher die unvordenkliche Alterität des Subjekts zu sich selber. Also ist es die Geburt (mit allen Ramifikationen, die ich hier dem Terminus zu geben versucht habe), welche die Repräsentationsästhetik ausschließen, eingrenzen, auslöschen muß. Aus diesem Grunde privilegiert diese Ästhetik die Poesie, die als sprachliche Kunst die Sinnlichkeit immer schon aufgehoben hat. Aus dem gleichen Grunde beruft sich diese Ästhetik auf die Autorität des Gesetzes, das für die malerische Repräsentation die Schönheit als obersten Wert statuiert. Wem diese Lektüre exorbitant scheint, der möge bedenken, daß der Passus, an dem sie sich entfaltet, dem zweiten Kapitel des „Laokoon" entnommen wurde, in dem es Lessing nicht bloß um das Gesetz der Schönheit als formal-ästhetisches geht, sondern um positive Statuen gewisser griechischer Städte. Die Weisheit der Griechen sah Lessing darin, daß sie die gesetzliche Autorität genau auf die Stelle anwandten, an der die bildenden Künste die gesellschaftliche Ordnung zu zersetzen drohten. Das heißt, auf die Verknotung der Malerei mit der Konzeption und der Geburt: „Die bildenden Künste insbesondere, außer dem unfehlbaren Einflüsse, den sie auf den Charakter der Nation haben, sind einer Wirkung fähig, welche die nähere Aufsicht des

8 Die Assoziationskette Giftschlange - Mutter - weibliches Geschlecht, die ich hier dem Text zuschreibe, ließe sich an der Figur der Marwood in „Miß Sara Sampson" in aller Deutlichkeit nachweisen. Man vergleiche insbesondere ihren obszönen Witz von der weiblichen „Schlinge" in der großen Konfrontationsszene mit Sara.

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Gesetzes heischet. Erzeugten schöne Menschen schöne Bildsäulen, so wirkten diese hinwiederum auf jene zurück, und der Staat hatte schönen Bildsäulen schöne Menschen zu verdanken. Bei uns scheinet sich die zarte Einbildungskraft der Mütter nur in Ungeheuern zu ä u ß e r n . " 9 Das Gesetz der Schönheit begrenzt und steuert die mütterliche Einbildungskraft, richtet sie auf Bilder hin, die diesem Gesetz konform sind, und gewährleistet dadurch sowohl die Reproduktion des Gesetzes als auch die Gesetzmäßigkeit der Reproduktion. Anders formuliert, das Gesetz der Schönheit garantiert, daß die mütterliche Imagination - dieser mit der Sinnlichkeit verwobene Behälter, aus dem Gestalten geboren werden -

keine

formlosen Monstrositäten produziert, daß sie vielmehr den reinen Samen eines Bildes in sich aufnimmt, das kein anderes ist als das Bild des Vaters. Das Gesetz der Schönheit ist ein Gesetz der Paternität, das in der Autorität des Vater-Gottes begründet ist. Ein solches Gesetz läßt sich nur durch eine unbefleckte Empfängnis übertragen, durch einen Zeugungsakt, der die Schlange der mütterlich-natürlichen Geburt auf den Status einer bloßen Nebenfunktion der väterlich-geistigen Präsenz reduziert. Lessing fährt fort: „Aus diesem Gesichtspunkte glaube ich in gewissen alten Erzählungen, die man geradezu als Lügen verwirft, etwas Wahres zu erblicken. Den Müttern des Aristomenes, des Aristodamus, Alexanders des G r o ß e n , des Scipio, des Augustus, des Galerius, träumte in ihrer Schwangerschaft allen, als o b sie mit einer Schlange zu tun hätten. D i e Schlange war ein Zeichen der Gottheit; und die schönen Bildsäulen und Gemälde eines Bacchus, eines Apollo, eines Merkurius, eines Herkules, waren selten ohne eine Schlange. Die ehrlichen Weiber hatten des Tages ihre Augen an dem G o t t e geweidet, und der verwirrende Traum erweckte das Bild des Tieres. [ . . . ] D e n n eine Ursache mußte es wohl haben, warum die ehebrecherische Phantasie nur immer eine Schlange w a r . " 1 0 D i e geheime Wirksamkeit des Gesetzes der Schönheit besteht darin, daß es die „Schlange" - Nexus der mütterlichen Sinnlichkeit - zur Metonymie macht, sie als Zeichenfunktion aufhebt, und damit die Malerei dem Regime des schönen Vater-Gottes integriert. Das Mäandern der mütterlichen Sinnlichkeit erhält damit eine gesellschaftlich produktive Ausrichtung: D e r Staat reproduziert sich über die Reihe seiner Herrscher und weisen Berater, die ihrerseits das väterlich-göttliche Gesetz vertreten. D i e Theoretisierung der Künste - Installierung des Gesetzes der Schönheit - erweist sich als Institution der väterlichen Autorität innerhalb einer Domäne, dem maternal-materiellen Nexus der Sinnlichkeit, deren Anarchie und Disidentifikation diese Autorität zu zersetzen drohen. Die Szene der Repräsentation, die in der ästhetischen Theorie der Aufklärung produziert wird, ist auch eine der Zeugung und der Geburt. Schon in der Vorrede zu den Fabeln redet Lessing im Zusammenhang mit der künstlerischen Erfindung („inventio") von den „sich selbst belohnenden Wollüstefn] der Empfängnis"; in der künstlerischen Ausführung hingegen, die dem „ L a o k o o n " zufolge bei der Malerei die Hauptsache sei, erleide

9 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, a.a.O., 25. 10 Ebenda, 25f.

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der Fabeldichter „die Schmerzen der G e b u r t " . 1 1 U n d im „ L a o k o o n " läßt sich das sexuelle Schema unschwer erkennen, wo es um das Verhältnis zwischen den Malern, die ihre Sujets dem Epos des H o m e r entliehen, und dem Dichter selber geht: „Sie nährten sich [ . . . ] mit dem Geiste des Dichters; sie füllten ihre Einbildungskraft mit seinen erhabensten Zügen; das Feuer seines Enthusiasmus entflammte den ihrigen; sie sahen und empfanden wie er: und so wurden ihre Werke Abdrücke des Homerischen, nicht in dem Verhältnisse eines Porträts zu seinem Originale, sondern in dem Verhältnisse eines Sohnes zu seinem Vater; ähnlich aber verschieden." 1 2 Schöne, aus der Sicht der Repräsentationstheorie positiv zu bewertende Malerei entsteht dann, wenn die malerische Einbildungskraft, aufgrund ihrer sinnlichen Medialität eine mütterliche Instanz, den geistigen Samen des Vater-Dichters in sich aufnimmi und von diesem befruchtet wird. Das Produkt dieses ästhetischen Koitus heißt bekanntlich der prägnante

Augenblick; er gebiert eine bewegte Gestalt der Einbildungskraft, cLe die

materiellen Schranken der Malerei überflügelt und sich in der Idealität des sprachlichen Prozesses entfaltet. U n d die Insemination selber, daran läßt der zitierte Passus keinen Zweifel, mündet in eine unbefleckte Empfängnis, in der die erhabene Gottheit der Poesie sich rein in die Welt sinnlicher Erscheinungen überträgt und damit ihren Typus ( „ A b d r u c k " ) dieser Welt einprägt. Solche Einprägung ist die Institution des Gesetzes der Schönheit.13 Dieses G e s e t z , wie jedes andere auch, ist ein G e s e t z der Grenze; es limitiert die Malerei, umschreibt ihre D o m ä n e . D i e Malerei hat sich auf das Schöne zu beschränken, darf sich nicht auf das Gebiet des Häßlichen und Ekelhaften erstrecken. D e m das Entscheidende am Ekelhaften, wie oben erläutert wurde, ist, daß es, selbst in der

11 Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 1973, Bd. V 355. 12 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, a.a.O., 161. 13 Die These von der Zentralität des hier beschriebenen Komplexes in Lessings Denker ließe sich auch durch eine Lektüre von „Nathan der Weise", dem Drama geistiger Vaterschaft, erhärten. Es sei hier auf die Verschränkung ästhetischer Belange mit solchen der Paterntät in folgender Rede des Tempelherrn verwiesen: „Geschöpf? Und wessen? — Doch des Sklaven nicht, der auf Des Lebens öden Strand den Block geflößt. Und sich davon gemacht? Des Künstlers doch Wohl mehr, der in dem hingeworfnen Blocke Die göttliche Gestalt sich dachte, die Er dargestellt?"- Ach! Rechas wahrer Vater Bleibt, trotz dem Christen, der sie zeugte, - bleibt In Ewigkeit der Jude." (IV/3) Man erinnere sich, daß sich die hier angesprochene geistige Vaterschaft, den maiernalsinnlichen Bereich umgehend, durch eine unbefleckte Empfängnis überträgt. So tpricht Recha ihrerseits von dem „Samen der Vernunft,/ Den er so rein in meine Seele streut" (III/l).

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Nachahmung, unmittelbar affiziert, also immer wirklich, und daher unnachahmbar, ist. Mit anderen Worten, die Grenze, die Lessings Theorie der Malerei vorschreibt, schließt nicht bloß eine gegebene Menge möglicher Inhalte der Repräsentation aus; in der Malerei sind das Häßliche und das Ekelhafte keine Inhalte der Repräsentation, sondern ein Reales, das die Virtualität der Repräsentation durchbricht. Beim Gesetz der Schönheit handelt es sich um die Grenze zwischen der noematischen Domäne intelligibler Gegenständlichkeiten auf der einen Seite und der Domäne des Realen, des schlechthin Unvorstellbaren, auf der anderen,14 Das Reale - das, was niemals Gegenstand einer Vorstellung werden kann, das Unerkennbare, das mich nichtsdestoweniger mit einem Pathos affiziert, die schiere Kontingenz und Gewalt meiner G e b u r t - : dies kann die Malerei, auf Grund ihres maternal-materiellen Mediums, sein; dies darf sie, auf Grund des väterlichen Gesetzes, nicht sein. Die Grenze der Malerei, auf der Lessing insistiert, ist die Grenze des Begrenzbaren als des Bereichs vorstellbarer Gegenständlichkeit. Sobald die Malerei diese Grenze überschreitet, betritt sie das Feld des Unbegrenzten, wird selber grenzenlos, und hört auf - dies ist entscheidend - Repräsentation zu sein. Lessings Antipathie gegen die Malerei, das Pathos der Grenze, das schon der Untertitel zum „Laokoon" vermerkt, entspringt der für seine eigene Theorie fatalen Einsicht, daß sich an der Malerei als maternal-materieller Kunst etwas ankündigt, das der Begriff der Repräsentation nicht einzufangen vermag. Das, was verschwindet und unbegreiflich wird, sobald die durchs Gesetz der Schönheit vorgeschriebene Grenze überschritten wird, ist der Gegenstand selber als einer der Repräsentation: „Es gibt Leidenschaften und Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die häßlichsten Verzerrungen äußern, und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen setzen, daß alle die schönen Linien, die ihn in einem ruhigem Stande umschreiben, verlorengehen."15 Das Reale ist die Verzerrung und schließlich der Verlust des Objekts, das Grenzenlos-Werden des Objekts. Und weil das Objekt, um das es sich hier handelt, kein anderes ist als das menschliche Subjekt „qua" Vor-Bild - jenes Körperschema, mit dem ich mich im Mitleid zu identifizieren habe, um mich durch diesen Akt der Identifikation als menschliches Subjekt zu konstituieren - , ist der Verlust des Objektes auch als einer des Subjekts zu verstehen. Daher muß die Repräsentationstheorie dem Gesetz der Schönheit das Wort reden, denn das Subjekt, das bei der Übertretung dieses Gesetzes im Grenzenlosen zergeht, ist das Subjekt der Theorie selbst als dioptrischer Vorstellung. Es gibt kein Subjekt des Pathos, kein Ich, das sich gegen die Affizierung durch das Reale innerhalb der Grenzen der Form und des Gesetzes gesichert zu erhalten vermöchte. Das Pathos, gegen welches Lessings Theorie antipathetisch anschreibt, ist die Entgrenzung des Subjekts, Öffnung desselben (und des Selben) auf ein

14 Der hier eingeführte Begriff des „Realen" ist von dem Begriff „Realität", die die philosophische Tradition zumindest der Moderne als Funktion der Vorstellbarkeit versteht, zu unterscheiden. 15 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, a.a.O., 26.

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Anderes, das sich nicht als Gegenstand der Repräsentation gibt; es ist die das Verständnis übersteigende Erfahrung der Nicht-Identität, die im Geboren-Sein des Menschen wurzelt.

2. Zur Konfiguration klassischer Kunstphilosophie gehört - dies hat die vorhergehende Analyse gezeigt - , daß sie der dem Begrifflichen und überhaupt der Repräsentation vorgelagerten Evidenz der Kunst widersteht. Ihre wesentliche Einsicht, daß die Kunst dem Menschen als einem gebürtigen Sein eignet, kann sie nur im Modus der Verleugnung zur Sprache bringen. Damit aber ist der Ansatzpunkt der ästhetischen Moderne, der Ort ihrer Auseinandersetzung mit der klassischen Kunstphilosophie, genannt. Die Moderne entsteht als der Versuch, diese Abwehrhaltung praktisch und theoretisch zu überwinden. Sie ist Abbau des theoriekonstitutiven Widerstandes gegen die Verwurzelung der Kunst im Geboren-Sein des Menschen, Freilegung und Umwertung dieser Erfahrungszone; sie ist Entgrenzung der Kunst im Heraustreten aus der Repräsentation. Auf diesen Sachverhalt weist unmißverständlich der Titel eines der Gründungsdokumente der ästhetischen Moderne hin: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik". Daß dieses Werk (selbstredend: unter anderem) aus einer Kritik an der Grandeinstellung von Lessings Ästhetik hervorging, läßt ein Satz erkennen, den Nietzsche zur Zeit der Entstehung des Textes in einem Brief an Erwin Rohde aufzeichnete. Der Satz lautet: „Es gilt vor allem kräftig über den Lessingschen Laokoon hinauszuschreiten: was man kaum aussprechen darf, ohne innere Beängstigung und Scham." 1 6 Es liegt nahe, diese Anspielung auf Lessing in Zusammenhang mit der Frage nach den Grenzen der Künste zu verstehen. Während Lessing im „Laokoon" für eine scharfe Trennung zwischen den Künsten argumentierte, will Nietzsche die Vereinheitlichung der künstlerischen Medien im Gesamtkunstwerk, sei es attische Tragödie, sei es Wagnerisches Musikdrama, befürworten. Ein „Hinausschreiten" über Lessing also in Richtung auf eine artistische Gesamtsynthese, die in der Musik ihren Grund hat. Eine zweite Konstruktion des Satzes läßt sich über die Bedeutung gewinnen, die der endgültige Text der „Geburt der Tragödie" Lessing zuschreibt. Dieser verkörpert in Nietzsches Darstellung den „theoretischen Menschen", denjenigen Typus, dessen kulturelle Dominanz Sokrates inaugurierte.17 In diesem Sinn bedeutet das „Hinausschreiten" über Lessing ein solches über eine

16 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1986, Bd. III, 63 (Brief an Erwin Rohde vom 7. 10. 1869). 17 Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, Bd. I, 99, 80. Weitere Hinweise auf diese Ausgabe: KSA (mit Band- und Seitenzahl). Im aktuellen Fall also: KSA 1 , 9 9 , 80.

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bestimmte Einstellung zum Dasein, die sich kennzeichnen läßt als „Glauben" an dessen „Ergründlichkeit". 1 8 Die doppelte Aufgabe, die sich Nietzsche vornimmt, ist also erstens die Rückführung der Künste auf ihren Ursprung im musikalisch-tragischen Bereich und zweitens die Uberwindung der sokratisch-theoretischen Kultur. Daß die Arbeit an diesem Projekt von „Beängstigung und Scham" begleitet wird, hängt damit zusammen, daß sie in jene Erfahrungszone hineinführt, die die theoretische Korrektur des Daseins 1 9 verleugnet: die der Zeugung und der Geburt. Diesen Aspekt von Nietzsches Argument hat man allerdings fast gänzlich übersehen, den Titel seiner Tragödienschrift daher als bloß historiographische Metapher verstanden. 2 0 Bedenkt man allerdings, wie entschieden Nietzsche mit dem ersten Satz des Textes die geschlechtlich-genetische Semantik hervorkehrt, dann stellt sich die Frage, ob es sich bei der gängigen Nietzsche-Interpretation nicht um eine erneute sokratische Verleugnung und Weltkorrektur handelt. „Die Geburt der Tragödie" hebt nämlich mit dem Vergleich an: „Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, daß die Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität des ,Apollinischen' und des .Dionysischen' gebunden ist: in ähnlicher Weise wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt." 2 1 Der Fokus des Vergleichs ist die Hervortreibung der Erscheinung - des Kunstwerks bzw. des Lebewesens - aus der durch keine Begriffsbrücke zu vereinigenden Differenz. Am geschlechtlich-generativen Prozeß findet Nietzsche mit anderen Worten die Figur

18 KSA I, 100. 19 KSA I, 99. In diesem Zusammenhang ist auch eine Bemerkung über Sokrates' Kampf gegen die Sinnlichkeit aus der Basler Piaton-Vorlesung interessant: „Die Verachtung und der Hass des Sokrates gegen die Wirklichkeit war vor allem ein Kampf gegen die allernächste Wirklichkeit, die den Denker belästigt, gegen Fleisch und Blut, gegen Zorn, Leidenschaft, Wollust, Hass: nach dem Zeugnis des Zopyrus war er stark dazu disponirt und hatte hier gesiegt." Was oben im Hinblick auf Lessing als Pathos gegen das Pathos beschrieben wurde, wird hier von Nietzsche erfaßt als H a ß , der, unter anderem, auch den H a ß trifft. Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke, Musarion-Ausgabe, München 1 9 2 0 - 2 9 , Bd. IV 401. 2 0 Die einzige mir bekannte Ausnahme ist die vorzügliche Studie von Bernard Pautrat, Versions du soleil. Figures et systeme de Nietzsche, Paris 1971. Vgl. bes. den Abschnitt: „ L a tragidie de la naissance" (S. 144—155). Wenn ich im folgenden die einzelnen Stationen von Pautrats Lektüre nicht referiere, dann deswegen, weil ich sie als ganze voraussetze. Den Komplex der Geburt mit Freud zu lesen, wie Pautrat dies tut, ist unentbehrlich. Mir geht es aber hier darum, eine andere Schicht des gleichen Komplexes ans Licht zu bringen. Die Beziehungen zwischen Pautrats Interpretation und der hier skizzierten kann ich im Rahmen dieses Essays nicht entfalten. 2 1 K S A I, 25.

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einer sich der sokratischen Begründung entziehenden Kunst-, Natur- und Weltdynamik. So notiert er - zu einer Zeit, als er noch nicht zum endgültigen Titel und zur endgültigen Gestalt der Tragödienschrift gelangt war - mit evidenter Faszination, jedoch ohne Anschluß ans Ästhetische: „Kant sagt einmal, ihm sei jene Natureinrichtung, alle Fortpflanzung an die Duplicität des Geschlechts zu knüpfen, jederzeit als erstaunlich und wie ein Abgrund des Denkens für die menschliche Vernunft aufgefallen." 2 2 In einem Entwurf aus dem April 1871 wird der Gedanke dann auf die Tragödie übertragen: „Daß die Natur die Entstehung der Tragödie an jene zwei Grundtriebe des Apollinischen und des Dionysischen geknüpft hat, darf uns ebenso sehr als ein Abgrund der Vernunft gelten als die Vorrichtung derselben Natur, die Propagation an die Duplicität der Geschlechter zu knüpfen: was dem großen Kant jederzeit erstaunlich erschienen ist. Das gemeinsame Geheimniß ist nämlich, wie aus zwei einander feindlichen Principien etwas Neues entstehen könne [.. . ] . " 2 3 Die Geburt ist der Abgrund des Denkens und „als solcher" die Quelle der Tragödie; die Tragödie selber wird von der Geburt als dem rational unfaßbaren Abgrund geboren. Dies ist die leitende Erkenntnis von Nietzsches Tragödienschrift. Erworben wird diese Erkenntnis im „Hinausschreiten" über die Grenzen des durch die sokratisch-theoretische Weltkorrektur pazifizierten Bereichs. Daß dieser Bereich seine Grenzen hat und daß der theoretische Mensch notwendig an sie stößt, gehört zu den festen Uberzeugungen des jungen Nietzsche. Die Figur, die an dieser Peripherie erscheint, die Figur des Abgrunds, der sich nicht ergründen läßt, ist die Schlange: „Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis in ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst - da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, ,die tragische Erkenntniss', die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht." 2 4 Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt - „ouroboros", Ungeheuer, sich dadurch ernährend, daß es sich selber verschlingt, lebender Widerspruch, das Leben als Widerspruch - : diese Schlange ist auch eine Figur der Geburt. Das zeigt eine Notiz, die Nietzsche gegen Ende des Jahres 1870 aufzeichnete: „Die Welt ein ungeheuerer sich selbst gebärender und erhaltender Organismus [ . . . ] . " 2 5 Im darauffolgenden Frühjahr kehrt der

22 23 24 25

KSA KSA KSA KSA

VII, 149. VIII, 179. I, 101. VII, 111.

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gleiche G e d a n k e wieder, diesmal mit einem zeitlichen Index versehen, der ihn zum Gegenbegriff des neuzeitlichen Philosophems einer „creatio continua" macht: „Jede geborne Welt hat irgendwo ihre Spitze: in jedem Moment wird eine Welt geboren, eine Welt des Scheins mit ihrem Selbstgenuß im G e n i u s . " 2 6 Kein G o t t mehr hält die Welt in ihrer Existenz, sondern eine Mutter - eine Gebärende und eine Geburt

die das jedem

Werden vorgelagerte Sein ist. Sein nicht im Sinne eines Bestands gedacht, sondern gleichsam als Geburtswehe. „Der ,Schmerz', der .Widerspruch' ist das wahrhafte .Sein*. D i e ,Lust', die .Harmonie' ist der . S c h e i n ' . " 2 7 Aus dieser Ontologie der Geburt geht die Theorie des Dionysischen in der „Geburt der Tragödie" hervor: „Das Dionysische mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust ist der gemeinsame Geburtsschoos der Musik und des tragischen M y t h u s . " 2 8 Von diesem Komplex her gesehen gewinnt die vielleicht umstrittenste Formel der Tragödienschrift, die Formel von der Rechtfertigung des Daseins als ein ästhetisches Phänomen, eine neue Akzentuierung. Diese Formel registriert keine parti pris für den Asthetizismus, wie allzu oft behauptet wird; sie besagt nicht, daß das Leben nur als schön ausdekoriertes wertvoll sei. Sie antwortet vielmehr auf eine unvermeidliche Problemlage, die man als die radikale Kontingenz des Weiterlebens bezeichnen könnte. „To be or not to b e " : nichts nötigt zur Wahl der ersten der beiden Alternativen, welche die Hamletfrage aufwirft. Das Dasein, soll es bejaht (und weitergelebt) werden, bedarf einer Legitimation, und es bedarf ihrer um so mehr, als die sokratische Rechtfertigung der Existenz - die These von der „Ergründlichkeit" derselben -

keinen „Stachel zum D a s e i n " 2 9 mehr

abgibt. D i e Welt hat sich in den monströsen Figuren der sich verschlingenden Schlange, des sich gebärenden Ungeheuers verdichtet, an deren mythischer Rätselhaftigkeit die „ratio" ihr eigenes Scheitern erfährt. So stellt sich, wie Nietzsches Interpretation auch für den „ H a m l e t " geltend m a c h t , 3 0 die Befindlichkeit des „Ekels" ein, welche sich mythisch als die Weisheit Silens ausspricht: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: ,nicht geboren zu sein', nicht zu ,sein, nichts' zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich bald zu s t e r b e n . " 3 1 D e r Ekel ist - wie bei Lessing auch - Horror angesichts der Geburt und der Daseinskontingenz. N u r will Nietzsche diesen Ekel nicht mehr verdrängen, die Geburt nicht mehr verleugnen, und sich nicht mehr eine zweite, unbefleckte Geburt aus dem Geist erträumen. D i e tragische Kunst, die Nietzsche konzipiert, verwindet vielmehr den Ekel, indem sie die ontologische Geburt zu ihrem eigenen Prinzip macht. D e r künstlerisch erregte Mensch wird selber zum Seinsabgrund, gebärt eine Welt des Scheins und der ästhetischen Lust aus dem Schmerz heraus:

26 27 28 29 30 31

KS A KSA KSA KSA KSA KSA

VII, 203. VII, 202. I, 152. I, 101. I, 57. I, 35 (erste Hervorhebung D. W.).

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„Wenn der Widerspruch das wahrhafte Sein, die Lust der Schein ist, wenn das Werden zum Schein gehört - so heißt die Welt in ihrer Tiefe verstehen den Widerspruch verstehen. Dann sind wir das Sein - und müssen aus uns den Schein erzeugen. Die tragische Erkenntniß als Mutter der Kunst." 3 2 Durch die Kunst, wie Nietzsche sie zu denken versucht, wird jeder Mensch zu Demeter, die einzig die Hoffnung erfreute, „sie könne den Dionysius ,noch einmal* gebären". 33 Genau dies ist die ästhetische Rechtfertigung des Daseins: „die künstlerische Wiederholung - und durch diese Wiederholung die Affirmation - der Geburt". Wie verhält es sich heute mit dieser Affirmation? Behält sie auf dem jetzigen Reflexionsstand der ästhetischen Moderne die Gültigkeit, die Nietzsche - übrigens über „Die Geburt der Tragödie" hinaus - für sie beanspruchte? Bietet sie Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik zu denken, die der Erfahrung neuer Kunst gerechtzuwerden vermögen? In einem Passus, der sämtliche Motive der vorhergehenden Überlegungen rekapituliert (ohne den skizzierten Traditionszusammenhang jedoch zu erwähnen), scheint Jean-Franqois Lyotard dies zu leugnen: „Wenn mir das Gesetz mit dem Selbst und der Sprache zukommt, dann ist es schon zu spät. Die Dinge haben schon einen Lauf genommen. Und das Gesetz wird mit seiner Wendung der Dinge jene erste nicht auslöschen können - jene erste Be-rührung (touche). Die Ästhetik betrifft diese erste Be-rührung, die mich berührte, als ich nicht da war. Hier ist nicht der Ort, um diese negative Ästhetik, die jede bedeutende Kunst, jede Schrift bestimmt, aber erst mit der modernen Kunst und Literatur offen zutage tritt, zu entwikkeln. Die Verpflichtung der negativen Ästhetik, ihre konstitutive Vorschrift lautet, sich mit den Mitteln des Sinnlichen der unmerklichen Be-rührung zu entledigen, ihre Schuld zu begleichen. Hinsichtlich des Gesetzes ist diese Be-rührung zwangsläufig eine Schuld. Ort und Augenblick der Be-rührung liegen in einem wilden, unberührten, umherstreifenden, dem Gesetz fremden Raum-Zeitlichen. Insofern also diese Berührung weiterhin besteht, ist diese schuldige Wildheit oder Herumstreiferei in dieser un-vordenklichen Raum-Zeit als Macht des Körpers immer da. Wenn das Gesetz nicht nur verkündet, sondern auch befolgt sein will, so muß es den Widerstand dieser Schuld oder diese von Geburt an bestehende Kraft der Schuld brechen. Das will heißen, daß diese Schuld uns zukommt, weil wir ganz einfach geboren werden, bevor wir zum Gesetz geboren werden. Für das Gesetz ist der Körper zuviel. Die Ästhetik, selbst die negative Ästhetik, wie ich sie verstehe, reicht nicht aus, um die Schuld, die der Körper als Raum-Zeit der Be-rührung

32 KS A VII, 204. 33 KSA I, 72. Daß das Thema des Ekels und die Figur der Wiederholung (sowie die oben erwähnte Figur der Schlange, des Bisses etc.) hier ein Gefüge ausmachen, das auf Affirmation hinzielt, zeigt wie Früh- und Spätwerk bei Nietzsche ineinandergreifen. Was in der Tragödienschrift als Wiedergeburt des Dionysos gedacht wird, kehrt verrätselt im „Zarathustra" wieder als der Gedanke der ewigen Wiederkehr.

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ist, zu begleichen. In gewisser Hinsicht erhöht sie sogar die Schuld. Zumindest wiederholt sie den unzähmbaren Akt der Kindheit-Geburt. An dieser Treue ist die Kunst schuld. Es obliegt jedoch dem Gesetz, sich um dieses Zuviel an Körper zu k ü m m e r n . " 3 4 Der avantgardistische Gestus, die Akzentuierung des Wilden und des Nomadischen, die Selbststilisierung als negativer Ästhetiker der Moderne: all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei Lyotard um eine Neufassung der aufklärerischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Geburt und Gesetz handelt. Selbst wenn er dieses Verhältnis mit umgekehrten Vorzeichen bewertet (was allerdings nicht ganz klar ist), bewegt er sich innerhalb des gleichen Systems von Begriffen und Affekten wie Lessing. Das zeigt der Begriff der „Schuld", der seine Theorie gemäß einer moralischen Ökonomie der Begleichung organisiert. Diese Ökonomie - und mit ihr der Mythos von der väterlichen Einprägung des Gesetzes - bleibt auch dann bestimmend, wenn Körper und Geburt sentimental figuriert werden als natürliche Unschuld, als „vertu persecutee". Von der Perspektive der „Geburt der Tragödie", die sich um „Reinheit" im Bereich der Kunst bemüht, stellt sich Lyotards Denken als ein Versuch dar, deren Wirkungen „aus moralischen Quellen ab[zu]leiten, wie es freilich in der Ästhetik nur allzu lange üblich w a r " . 3 5 Mit anderen Worten: Lyotard fällt auf den Standpunkt der „Moralisierung" der Kunst zurück. Die Möglichkeit einer ästhetischen Affirmation der Geburt, die Nietzsche für die Moderne erschlossen hat, wird hier nicht verwirklicht. In den Gemälden Francis Bacons hingegen scheint mir diese affirmative Geste auf eine in ihrer Konsequenz einmalige Art vollzogen. Bacon malt — der Eindruck ist nicht zu verwehren - immer wieder und unermüdlich die Geburt. Natürlich nicht in dem Sinne, daß die Geburt das Sujet des Bildes abgibt: es handelt sich nicht um Illustrationen. 3 6 Sondern in dem Sinne, daß das Malen selber die Figuren gebärt. Man sieht, wie sie sich aus sich selber reißen, wie sich das Fluidum der Farbe und die Energetik der Handbewegung zu einer Körperlichkeit windet, ohne daß diese eine endgültige Form annimmt. Man kann Bacons Figuren 3 7 als verzerrte Figuren bezeichnen, aber nur mit dem Vorbehalt, daß ihre Verzerrung nicht als etwas verstanden wird, was eine Normalform von außen befällt. In Bacons Universum ist die Verzerrung universell und ursprünglich. Sie aktualisiert sich

34 Jean-Frangois Lyotard, „Die Vorschrift", in: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-Fran^is Lyotard, hrsg. von Wolfgang Welsch und Christine Pries, Weinheim 1991, 30f. 35 KSA I, 152. 36 In den „Interviews with Fancis Bacon" (Anm. 2) bedeutet „illustration" genau das, was die Malerei nicht sein soll: Mittel zur Repräsentation eines Gegenstandes. 37 Vorauszusetzen ist hier die wichtige Unterscheidung zwischen Figur und Figuration bei Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logique de la sensation, a.a.O. Die Figur ist die sich aufdringende Präsenz des Gemalten, die sich diesseits der Repräsentation ( = Figuration) einstellt. Indem Deleuze den Gemälden Bacons einen hysterischen Charakter zuschreibt (36f.), und zwar deswegen, weil sie die insistente Präsenz der Figur freisetzen, kommt er meiner Auffassung nah. Wort und Begriff „Hysterie" gehen auf griech. hysterikos (Gebärmutter) zurück.

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David Wellbcry

entlang einem Kontinuum des Drehens - „torsion, contortion, distortion" - , das keine gerade Stellung, keine orthomorphische Kontur kennt. So eröffnen seine Bilder mitten im streng geometrischen Feld der Gegenständlichkeit einen Bereich „fortwährender Verwandlung", der als solcher festgehalten wird. Unter dem Begriff der Verwandlung ist jedoch kein imaginärer Vorgang (wie bei den Surrealisten) zu verstehen; Bacons Welt ist keine der Phantasie. Es dreht und verzerrt sich hier vielmehr ein Körperliches, das noch nicht zum Körper - zum Objekt - geworden ist. Körperliches wird als präobjektive Dynamik erfahrbar, als Drang, Spannung, Anstrengung, Widerstand, als Dehnung, Windung, Kontraktion und in all diesen Variationen - ausnahmslos, wenn ich recht sehe - als „Schmerz". Für Bacon ist der Schmerz die Matrix körperlicher Hervorbringung; er dreht und dehnt den „Torso", reißt ihn von innen auf. Daher kulminiert diese Hervorbringung so häufig im Schrei. Der Schrei - Schrei der sich aus dem Schmerz gebärenden Welt - ist die Spitze der ästhetischen Affirmation.

Sergio Givone

Das Artifizielle

Aus den Aufzeichnungen, die Hegel während der berühmten Wanderung durch die Berner Alpen (in der letzten Juliwoche 1796) in sein Tagebuch niederschrieb, spricht bekanntlich eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Naturschauspiel, das sich ihm dargeboten hatte. Es handelte sich um das wilde Reich der Notwendigkeit. Und wo „das reine Müssen" herrscht, gibt es keinen Raum für künstlerische Empfindungen. Die Enthusiasten und Träumer sollten ruhig der Illusion anhängen, eine ganz besondere Erfahrung des Erhabenen (die es aber nicht ist, es ist vielmehr eine Erfahrung der Freiheit) oder eine ästhetische Erfahrung zu machen. Dort, wo man ausschließlich mit dem Notwendigen zu tun hat, gibt es keine Kunst, noch darf es sie geben. Indem er Kant radikalisiert und die Grundhypothese seiner späteren Ästhetik vorwegnimmt, scheint Hegel also anzunehmen, daß die Kunst die Notwendigkeit in Freiheit umwandle. So wie es insbesondere in bezug auf die Natur vorkommt: die, kraft der Kunst, vollkommen von der Äußerlichkeit erlöst erscheint, von dem reinen und einfachen So-und-nicht-anders-Sein, von der überwältigenden Macht des Notwendigen. Die Arbeit vermenschlicht die Natur, d. h., die Arbeit macht aus der Natur, die ja dem Menschen widersteht und ihn provoziert, das Produkt des menschlichen Wirkens. Die Kunst vervollkommnet hingegen diese Bewegung, schafft aus ihr etwas in sich Abgeschlossenes und nimmt den Triumph des Prinzips des Geistes vorweg. Dies ist die Grundlage, von der aus Hegel zwangsläufig zur Umkehrung des Kantschen Geniebegriffs kommt, der eingeborenen Fähigkeit, durch welche die Natur der Kunst Regeln gibt. Durch das Genie, durch das Prinzip des Geistes, gibt die Kunst der Natur Regeln und ermöglicht so (mit Hilfe der Arbeit) nicht nur deren Vermenschlichung, sondern (mit Hilfe der Kunst) auch deren Befreiung. Wenn man davon ausgeht, daß die Natur auf der Seite des Menschen steht - eine utopische Projektion - , kann die Natur durchaus als ein Ort erscheinen, an dem unmenschliche und das Bewußtsein übersteigende Kräfte im Spiel sind, aber sie erscheint als solcher in negativer Hinsicht, d. h. in bezug auf einen Mangel und eine unerfüllte Erwartung. Entsprechend kann sie als das

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Sergio Givone

Ergebnis der Arbeit von Generationen angesehen werden, die genau an dem Punkt angelangt ist, an dem das Natürliche und das Artifizielle ununterscheidbar werden; aber wenn dies geschieht, so wie es in der Welt der Technik geschieht (was Hegel umfassend vorausgesehen hat), dann deshalb, weil die Kunst bereits ihre Wahrheit aufscheinen läßt, die Wahrheit des Geistes auf dem Weg zu seiner Emanzipation. Aus diesem Grunde können wir sagen, daß die Kunst in dem Maße notwendig ist, wie sie zwingt, die Natur (und die Kunst selbst) nicht so sehr entsprechend der Notwendigkeit, als vielmehr entsprechend der Freiheit zu denken. Welches ist nun das Medium für den Übergang von der Arbeit zur Kunst, wenn nicht das Konzept des Artifiziellen? Das Artifizielle ist ein relativ zweideutiger Begriff und als solcher von der klassischen deutschen Ästhetik (Hegel mit eingeschlossen) meist vermieden worden. Die Künstelei hat ohne Zweifel einen negativen Klang, während künstlich das Moment des Gezwungenen und der Täuschung evoziert; in der Tat genau das, was man nicht von dem sagen darf, das künstlerisch ist. Dennoch verweist das gemeinsame Etymon der beiden Begriffe auf die Fähigkeit, die Geste, den Modus der Aneignung der Welt durch den Menschen, der die Welt von ihrem Fundament befreit, d. h. von ihrer Notwendigkeit, und sie nach seiner Vorstellung und nach seinem Ebenbild umwandelt. Nachdem Hegel die Trostlosigkeit der Alpengletscher hinter sich gelassen, ins Tal hinabgestiegen und den See von Luzern überquert hat, gibt er sich endlich der Betrachtung der Landschaft hin, die nunmehr vom menschlichen Fleiß gezeichnet, ja vielmehr geschaffen ist. Eine „künstliche" Landschaft, auf ästhetischer Ebene um so aufregender, je mehr die Natur nach einem produktiven Zweck einer höheren Ordnung geformt ist. Von diesem Gesichtspunkt aus ließe sich das Artifizielle als eine Art antizipierende Simulation dessen definieren, was die Natur zu sein bestimmt ist: das Reich des Geistes, das Reich der Freiheit. Genau das, was die Natur, sei es auch nur in bezug auf das Wahrnehmbare und nicht in bezug auf eine höhere Form des Bewußtseins, in dem Bereich der Kunst schon ist. Nicht nur das: Sondern dort, wo die Natur vollkommen künstlich ist, oder auf dem Wege zu einer unendlich fortschreitenden Verkünstlichung, würde sie mit dem totalen Kunstwerk übereinstimmen (demjenigen, das alle Künste in sich vereint und sie am Ende überflüssig macht). Gingen wir einmal von der falschen Annahme aus, daß die Romantik, wie jemand vermutet hat, nichts anderes sei als das schlechte Gewissen der von der Technik entzauberten Welt, so wäre sicher, daß die Ästhetik Hegels — weit entfernt davon, sich nur auf die Verkündigung des Todes der Kunst zu beschränken - , höchstens die Verwandlung feierte, insofern sie industrielle Realität, künstliche Realität ist. 1 Unvermeidbare Folge, beinahe eine Nemesis: die Auflösung des Hegeischen Systems verwandelt diese Feier in eine Parodie und läßt das ganze Entsetzen einer Welt hereinbrechen, die, vom Menschen nach den Regeln der Logik der Aneignung und der Herrschaft

1 Vgl. dazu B. Wyss, Trauer der Vollendung, München 1989, 208ff.

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geschaffen, nichts anderes tut, als das eigene tragische Übermaß zu entblößen, die perverse Unangemessenheit gegenüber der Idee. Das, was das Reich des Geistes sein sollte, wird zum Reich der Zerstörung und des Nichts. Die Ästhetik des Artifiziellen, die in den Umsturz des metaphysischen Rationalismus verwickelt ist, verschwindet aber nicht aus diesem Grund von der Bildfläche noch bevor sie die Möglichkeit hatte, sich zu entfalten. Im Gegenteil, es ist die Krise des Hegelianismus, der sie letztendlich unmöglich macht. Da die Ästhetik des Artifiziellen keine Funktion mehr innerhalb eines dialektischen Prozesses der Emanzipation von der rohen „Natürlichkeit" der Natur hat, findet das Artifizielle den ihm angemessenen Platz in dem Makrophänomen der post-hegelianischen Epoche, nämlich im ästhetischen Nihilismus. Das Artifizielle, behauptet Nietzsche in „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", ist die willkürliche Erfindung der Namen für die Dinge: Wir „geben vor", es befinde sich hinter den Wörtern und den Zeichen eine Realität, die wir uns durch Wörter und Zeichen aneignen, und die wir als unsere wahrste und authentischste Realität erkennen, aber in Wirklichkeit ist die Sprache ein Spinnennetz, das im Leeren schwebt, wie schon die Ummöglichkeit beweist, dem Netz zu entkommen, ohne sich erneut darauf zu stützen, ohne also innerhalb des Netzes zu verbleiben. „Vorgeben" bedeutet, die Welt zu erfinden und bis ins Unendliche wieder zu erfinden. Und diese Simulation, ohne Zentrum, ohne Ursprung, ohne Perspektive, ohne Bezugnahme auf etwas, das sie rechtfertigen würde, ist geprägt durch Willkür und bleibt ohne Fundament. Aber erst mit Baudelaire gewinnt die Ästhetik des Artifiziellen an Klarheit. Nicht zufällig ist der Ort, den sich diese Ästhetik zum Gegenstand macht, der der Metropole die Metropole als ein Ambiente, das in jeder Hinsicht künstlich geworden ist, auch in den Bereichen, in denen die Stadt mit der Natur noch einen organischen Austausch bewahrt. Die Metropole hingegen ist Natur in ihrem letzten Verwandlungsstadium: Sie ist die „versteinerte" Natur, und es gibt keine andere mehr, es sei denn als negatives Extrem. Keine Wiederauferstehung der Natur. Aber auch keine Überschreitung in Richtung Selbstbewußtsein. Das geht soweit, bis das Subjekt seine zentrale Position verliert (die aus ihm den Protagonisten der fortschreitenden Vermenschlichung der Natur machte, und die wiederum in der Erkenntnis gipfelte, daß die Natur nichts anderes als die Unbewußtheit der Ursprünge sei) und aus sich selbst herausgedrängt wird, und schließlich außerhalb jeglicher Form lebensnotwendiger Integration steht. Der „Flaneur" ist derjenige, der die Erfahrung des Künstlichen in jeder seiner Handlungen macht, in jedem Aspekt seiner Existenz. Trotzdem (und trotz der Wiederaufnahme der Baudelaireschen Ästhetik durch Benjamin) steckt in den wichtigsten philosophischen Interpretationen der historischen Avantgarde noch viel von Hegel. So ζ. B. bei Gramsci, dem es gelingt, den Futurismus innerhalb eines bestimmten Rahmens positiv zu bewerten, nämlich hinsichtlich der Aktualität seiner Poetik. Die Futuristen haben laut Gramsci besser als andere verstanden, daß „unsere Epoche, die Epoche der großen Industrien, der großen Arbeiterstädte, des intensiven und chaotischen Lebens" notwendigerweise eine ihr angemessene Kunst hätte

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produzieren müssen. 2 Eine Kunst, in der das Element des Künstlichen par excellence, die Maschine, hätte dominieren müssen, sowohl als Thema, als auch als grundlegende Struktur. Aber hieße das nicht, die Kunst erneut an den für sie konstitutiven Zusammenhang mit der Geschichte und den damit verbundenen Prozessen anzubinden? Und was geschieht aus einer historisch-dialektischen Perspektive anderes als die fortschreitende Emanzipation der Natur? Die Kunst belegt die Notwendigkeit der Emanzipation. Das ist genau das, was Ernst Bloch im „Geist der Utopie" thematisiert hat. Die Kunst, schrieb Bloch, ermöglicht, daß „die Dinge in ihrem eigenen Haus wohnen, in ihrem Inneren". Die sichtbare Welt, schloß er daraus, vernichtet sich, gerät aus der Fassung und zerfällt auf der Leinwand, nähert sich aber so ihrer wahrhaftigen Dimension an: Sowohl weil ihre scheinbar natürliche Zusammensetzung sich als das Ergebnis einer ewig unvollständigen und schillernden Montage entpuppt, als auch weil die Natur, das Ding und das Objekt im Ich zusammenfließen und sich dort ihr rein geistiger Charakter entblößt, der wieder auf anderes verweist. Also: Die äußere Realität verschwindet, sagt Bloch, um zu etwas Göttlichem zu werden. Anders gesagt: Die Natur ist nichts anderes als ein Vorrat von Bedeutungen für den Geist (der hermetischen Tradition zufolge, an die Bloch ausdrücklich anknüpft); das trübe und stumme Außere ist eine geheime Chiffre der Seele, die Schöpfung ächzt unter dem Gesetz in der Erwartung, davon befreit zu werden. Wenn Bloch an diesem Punkt nicht den Hegeischen Gedanken des Selbstbewußtseins einführt, dann um diesen durch das Konzept der Maske zu ersetzten, das - besser geeignet, etwas zu bewahren - , die Finalität der unendlichen Bewegung, ihre unendliche Öffnung umfaßt. Man könnte auch Lukäcs zitieren. Lukäcs' Verurteilung der Avantgarde scheint ihn auf eine Bloch entgegengesetzte Position zu verweisen. Aber man muß daran erinnern, daß Lukäcs die Avantgarde im Namen einer „mimetischen" Konzeption der Kunst kritisiert, wo Mimesis die vehemente Rückkehr zur Natur impliziert, die Rückkehr zu der Erkenntnis, daß die Geschichte von Gesetzen bestimmt wird, die nicht weniger stark und übermächtig sind als die natürlichen Gesetze. Anerkennen bedeutet, ans Licht zu bringen (nach Lukäcs bringt die große Kunst die sich abzeichnenden Tendenzen einer Epoche ans Licht); ans Licht zu bringen bedeutet, zur Evidenz zu zwingen; zur Evidenz zu zwingen bedeutet, sich einer Sache bewußt zu werden und also auch Partei zu ergreifen. Auch auf diesem Weg wird, wie man sieht, die Hegeische Idee der Kunst als Emanzipation von der Natur gerettet. Hieraus ersieht man, wie schwierig es weiterhin ist, die künstliche Welt und die Idee des Artifiziellen selbst zu denken. Entweder richtet die Künstlichkeit die Natur zugrunde (die Metropole als zweite Natur, als vom Menschen geschaffene Natur, die sich von ihm aber soweit entfremdet hat, daß der Mensch sich selbst gegenüber exzentrisch wird) oder die Natur ist schon von Beginn an in den durch die Kunst geregelten Produktionsformen

2 Antonio Gramsci, Quaderni dal carcere, T\irin 1975, 329.

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gegenwärtig (die Kunst erlöst die Natur, indem sie von Beginn an über sie hinausgeht). Auf der einen Seite ist dies die Vermehrung von Automatismen, die das Subjekt, diesen Clown der Metropole, enteignen und seine Illusion von Freiheit auf eine ästhetische Dissonanz reduzieren. Auf der anderen Seite ist dies eine Dialektik (der Wiederaneignung und der Emanzipation, die letztendlich von der Notwendigkeit geleitet wird. Gibt es wirklich keine Alternative zwischen der Ästhetik des entfremdeten Künstlichen, dem Reich des Automaten, und einer Ästhetik des verwandelten Künstlichen, der Präfiguration und Evokation des Geistes? Noch immer unbeachtet scheint die Lehre Vicos zu sein. Es sollte in Erinnerung gerufen werden, daß für Vico nicht nur verum et factum convertuntur, sondern auch verum et fictum gilt. Daß sich der Mensch einzig in seinem historischen Horizont erkennt, der, da der Mensch ihn selbst geschaffen hat, für ihn mit Sinn angefüllt ist, impliziert, daß auf der Grundlage dieses Schaffensvorgangs ein Element der Fiktion und der Simulation existiert. Die Geschichte existiert, dunkel wie die Vergangenheit, undurchdringlich wie die Realität. Dennoch existiert sie, denn sie ist - als authentische Mythologie der modernen Epoche - erfunden worden, sie entspringt. Sie entspringt „aus den entferntesten Tiefen des Geistes" sagt F. Schlegel in der „Vorlesung über die Dichtung", die man als einen faszinierenden Kommentar zu Vico lesen könnte, da sie folgendermaßen schließt: „Sie [die Dichtung] muß die künstlichste aller Künste sein." Damit überwindet er das von Hegel, Schelling und Hölderlin stammende idealistische Programm („Ältestes Systemprogramm"), das noch an eine organizistische, und daher abwertende Konzeption des Künstlichen und des Zusammenhangs zwischen Natur und Geschichte gebunden war. Außerdem hat auch Baudelaire zugegeben, daß das Wahre im Falschen wohnt und die Wahrheit in der Lüge (ein u. a. von Oscar Wilde wiederaufgenommenes Thema). „Ich ziehe es vor, Theaterdekorationen zu betrachten, in denen ich meine liebsten Träume in künstlerischer Gestaltung und tragischer Konzentration wiederfinde. Diese Dinge sind, weil sie falsch sind, dem Wahren unendlich viel näher; dagegen sind die meisten unserer Landschaftsmaler Lügner, eben weil sie das Lügen vernachlässigen."3 Aber wird damit nicht der Ästhetik ein neuer Weg gewiesen? Bedeutet die Verbindung der Wahrheit mit der Erfindung (mit der Fiktion, der Simulation, dem Artifizieilen, so viel Abwertendes dieser Begriff auch enthalten mag) nicht eine Verbindung der Wahrheit - entgegen einer ganzen Tradition - , mit dem Werden, mit dem Widerspruch zu all dem, das es zunichte machen will oder zumindest widerlegen? In diesem Falle müßten wir uns zu fragen beginnen, ob die Ästhetik nun endlich in der Lage sein wird, (die Kunst) der Freiheit entsprechend und nicht der Notwendigkeit entsprechend zu denken. (Übersetzt von Maike Albath)

3 Charles Baudelaire, „Le paysage", in: ders., Oeuvres completes, Paris 1961, 1085.

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Jenseits von Neo-Klassizismus und Primitivismus

Im Lauf der 80er Jahre hat eine Reihe kultureller Ereignisse und Tendenzen der Malerei die Aufmerksamkeit weiter Künstlerkreise auf den Neo-Klassizismus und auf den Akademismus des 19. Jahrhunderts gelenkt: Die Eröffnung des Musee d'Orsay in Paris, die Aufwertung der Kitsch-Kunst, die große, William Bouguereau gewidmete Wanderausstellung, die anachronistische und zitationistische Bewegung, die französischen Neoklassiker - all diese Ereignisse zeigen, daß ein Jahrhundert des Experimentalismus und der Avantgarde nicht gereicht hat, dem modernen Geschmack sein Interesse am Klassischen auszutreiben. Die - oft verachtete und belächelte - neoklassische Sensibilität ist andererseits im Verlauf des 20. Jahrhunderts in einem bestimmten Typus von Realismus und vor allem im Kitsch wirksam geblieben, der aus soziologischer und anthropologischer Perspektive zu einem äußerst bedeutsamen Phänomen geworden ist. Zur gleichen Zeit ließ sich jedoch das Aufkommen einer ganzen Reihe kultureller Ereignisse und Tendenzen der Malerei mit gegensätzlichen Vorzeichen feststellen, die anders gesagt auf eine Neubetrachtung des Primitivismus gerichtet waren, den man als das besondere und hervorstechende Merkmal der Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts ansehen kann: Die bedeutende Ausstellung des Museum of Modern Art in New York 1984, der von William Rubin besorgte umfangreiche Katalog, die Neuauflage der grundlegenden Untersuchung Robert Goldwaters „Primitivism in Modern Art" (die erstmals 1938 erschienen ist), das Aufblühen der Neo-Fauves-'XcndtnTjtn wie etwa die Neuen Wilden in Deutschland - all dies hat bestätigt, daß die Suche nach einem ursprünglichen, nach einem einfachen und primitiven Wesen einen bestimmenden Aspekt der Kunst unserer Zeit ausmacht. Neo-Klassizismus und Primitivismus stellen geschichtlich zwei entgegengesetzte Richtungen dar: Der erste läßt sich von einem Ideal pompöser Schönheit beeinflussen und beruht auf der Nachahmung von Vorschriften, denen metaphysische Geltung zuerkannt wurde; der zweite hingegen wird von der Forderung nach Formen beseelt, die elementare, einfache und tiefreichende Lebensenergien ausdrücken, die allen Menschen

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gemeinsam seien: Der eine wie der andere haben also metaphysische Ansprüche genährt und sich dank einer einschüchternden und despotischen Kulturstrategie durchgesetzt, obgleich sie sich beide wechselseitig ausschließen. Tatsächlich unterscheiden den NeoKlassizismus und den Klassizismus der Renaissance gerade diese Aggressivität und diese Intoleranz: Der Neo-Klassizismus behauptet nicht nur den überhistorischen Charakter der Schönheitsidee, die sich in der klassischen Welt manifestiert habe, sondern behandelt sie als dauerhaften Wert, der immer und überall verwirklicht werden soll. In gleicher Weise unterscheidet den künstlerischen Primitivismus von der positiven Untersuchung primitiver Künste der Anspruch, die Reproduktion dieser Formen als einziger, wirklich authentischer künstlerischer Betätigung durchzusetzen und ihr eine wesentliche und ausschließliche Verbindung zur grundlegendsten Lebenserfahrung zuzuerkennen: Der künstlerische Primitivismus des 20. Jahrhunderts ging überdies mit einer nur oberflächlichen Kenntnis der Produktion anfänglicher Kulturen einher, so daß der Gedanke berechtigt ist, daß er die Entwicklung dieser Kenntnisse eher behindert als erleichtert hat. Deshalb weist unsere erste Aufgabe einen doppelten Aspekt auf: einerseits den relativen Charakter der Klassizität aufzuzeigen und sozusagen die griechische und lateinische Welt zu anthropologisieren; andererseits geht es um den Aufweis des ethnozentrischen und imperialistischen Charakters des Primitivismus, der in seiner ganzen Überheblichkeit und Unverfrorenheit das künstlerische Vermächtnis der ganzen Welt imitiert hat und es als neue europäische Kunst vorstellt. Kurz, mit dem Neo-Klassizismus hat man sich als Grieche und als Römer verkleidet und ignoriert dabei völlig, daß die antike Welt etwas ganz anderes ist als bloß edle Einfachheit, friedfertige G r ö ß e oder harmonische Symmetrie; mit dem Primitivismus hat man sich als Primitiver verkleidet und übersieht dabei, daß sich die anfänglichen Kulturen überhaupt nicht durch Einfachheit, Innerlichkeit oder affektive Ubererregung auszeichneten. Der Neo-Klassizismus und der Primitivismus sind tatsächlich nur künstliche und trügerische Gebilde, Hindernisse nicht bloß für das positive Studium der klassischen Welt und der ursprünglichen Kulturen, sondern vor allem für das Verständnis dessen, was uns mit der klassischen Welt verbindet, und dessen, was uns von ihr trennt, dessen, was uns mit den ursprünglichen Kulturen verbindet und dessen, was uns von ihnen trennt.

Das Neo-Antike Die Wiederkehr des Neo-Klassizismus und des Primitivismus verstellt eine weit wichtigere und wesentlichere Tatsache: die Entstehung einer neuen Sensibilität für die antike Welt und für die außereuropäischen Kulturen, die wir neo-antike Sensibilität taufen dürfen. Diese neue Sensibilität, die nicht bloß die Künste betrifft, sondern den ganzen Bereich der Kultur in seiner weitesten und umfassendsten Bedeutung einnimmt, würdigt die Altertümer und die außereuropäischen Völker aus völlig anderen Gründen als jenen, die dem Neo-Klassizismus und dem Primitivismus zugrunde lagen. Sie sucht bei den Alten gerade nicht die Grundlagen der modernen Welt und der abendländischen Zivilisa-

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tion, die Ordnung und das Maß, sondern das Differente und das Fremde; umgekehrt sucht sie in den außereuropäischen Kulturen nicht so sehr das Ursprüngliche oder die anfängliche Vitalität als eher den Feinheitssinn und die rituelle Wiederholung. Diese Sensibilität wurde durch eine lange Reihe von Forschungen und Studien vorbereitet. Die anthropologische Annäherung an die antike Welt, deren Wurzeln bis in die Religionsgeschichte des letzten Jahrhunderts reichen und die in den zurückliegenden Jahrzehnten eine erstaunliche Entwicklung erfahren hat, macht uns mit Denkformen vertraut und führt uns zu begrifflichen Horizonten, die sich von denen durch den Klassizismus, durch die Metaphysik und durch die Identitätslogik überlieferten völlig unterscheiden: Durch zahlreiche Aspekte erweisen sich die Altertümer als weit fremder als jenes Bild, das die Anthropologen uns von der primitiven Welt gezeichnet haben. Diese Fremdheit wirkt um so beunruhigender, als sie Bereichen zugehört, die uns durchaus vertraut sind. Hinsichtlich der außereuropäischen Kulturen hat die Ethnophilosophie oder besser noch das Ethnologische, d. h. der Versuch, die begrifflichen Strukturen außereuropäischer Völker der Gesamtheit des philosophischen Denkens zu integrieren, ihren großen Feinsinn des Verhaltens, der Sprache, der Lebensformen, aber auch den geregelten und geordneten Charakter der besonders komplexen und verwobenen Rituale deutlich gemacht. Wir werden so zu Zeugen einer paradoxalen Umkehrung: Wir begegnen in den Altertümern dieser Differenz, die der Primitivismus in den nicht-abendländischen Kulturen suchte; und vice versa finden wir außerhalb Europas jene Normen, jene Regeln und Modelle, nach denen der Neo-Klassizismus bei den antiken Künsten Ausschau hielt. Wenn wir uns für den Augenblick an den engeren Bereich der Kunst halten, ist die Entstehung dieser neuen Sensibilität für das Altertum tatsächlich weitgehend der Wiener Schule verpflichtet, die zu Beginn unseres Jahrhunderts das theoretische Scheitern des Neo-Klassizismus markierte. Das Aufkommen einer neuen Sensibilität für die außereuropäischen Kulturen war zu einem großen Teil bestimmt durch den grundlegenden Beitrag des Versuchs der Konzeptualisierung afrikanischer Kunst, die von Forschern verschiedener Horizonte und Nationalitäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgenommen wurde.

Das Neo-Antike und die Wiener Schule Von allen Protagonisten der Wiener Schule verdanken wir hauptsächlich Alois Riegl die Grundlagen einer neuen Herangehensweise an die Kunst des Altertums. Was an seinem Werk vor allem überrascht, ist die Tatsache, daß er den Sinn und die Bedeutung der klassischen griechisch-römischen Kunst zugunsten zugleich dessen, was ihr vorausging der ägyptischen Kunst und der archaischen griechischen Kunst - , und dessen, was ihr nachfolgte - der späteren römischen Kunst - , auf ein Mindestmaß beschränkt. Zum einen stellte die ägyptische Kunst die radikalste Offenbarung eines taktilen künstlerischen Wollens bar jeden Schattens dar, das die Tiefgründigkeit ignoriert und die Figuren stark zeichnet. In diesem Darstellungstypus zählt vor allem die in ihrer stofflichsten

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Dimension begriffene Oberfläche. Die Kunst wird als eine Verlängerung und Ergänzung der Natur gedacht, mit der sie sich durch die Herstellung von Gegenständen verbindet, denen derselbe ontologische Rang wie den Dingen zukommt. Die Verbindung der Formen im zweidimensionalen Raum spielt in dieser Erfahrung eine ausschlaggebende Rolle: Gerade darin bestünde die erste Funktion des Tastens, dessen Vorrang vor den anderen Sinnen zu einer materiellen und objektiven Konzeption der Wirklichkeit führt. Andererseits ist die spätere römische Kunst hingegen für Riegl durch einen optischen künstlerischen Willen charakterisiert, der einen Schönheitstypus ohne jede Lebendigkeit erzeugt und der ganz auf einem unentwegten Wechsel von hell und dunkel, auf einer Alternanz von Schatten und Licht, auf der Verherrlichung der räumlichen und dreidimensionalen Ausmaße beruht. Obgleich dieser künstlerische Wille zur optischen Isolierung der Figuren führt, ist er gleichwohl von der Sorge beseelt, diese Figuren untereinander zu verbinden: Diese Funktion übernimmt der Rhythmus, der die Verbindung wiederherstellt und aufs neue die Erfahrung einer vollen Welt sichert, in der nichts fehlt. Die klassische griechisch-römische Kunst findet sich so zwischen die taktile ägyptische Welt und die später folgende rhythmische Welt des Römischen eingezwängt: Daraus befreit sie sich unter Verlust eines autonomen künstlerischen Willens, und Riegl hält sie für einen Kompromiß, für ein Übergangsmoment zwischen zwei nachhaltigeren und entscheidenderen Erfahrungen. Die Theorie Alois Riegls führt so zu einer zweifachen Wirkung. Die erste Konsequenz - so seine Studie über das Altertum - besteht in der Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Klassischen zu den Momenten, die vom Neo-Klassizismus unterschätzt und für archaische oder barbarische gehalten worden seien, also für näher am berühmten Primitiven gelegen oder wenigstens näher an dem, was man dafür hielt. So zerfällt die evolutionistische Konzeption der Geschichte als Grundlage des Neo-Klassizismus wie des Primitivismus. Zweite ausschlaggebende Wirkung ist der von Riegl mit dem Erscheinen seiner Schrift „Stilfragen" (1893) der ornamentalen Kunst zuerkannte Rang. So bildet eben der Ornamentbegriff die Brücke zwischen der europäischen Ästhetik und den außereuropäischen Kulturen: Er eröffnet eine Problematik der Ordnung, die nichts Klassisches und nichts Naturalistisches hat. Sie erlaubt uns eine erneute Überprüfung des sogenannten europäischen Kunstgewerbes (von den Metallarbeiten bis hin zur Goldschmiedekunst), deren soziokultureller Stellenwert dem der außereuropäischen Erzeugnisse ähnelt. Schließlich bricht er entschlossen mit jenen subjektivistischen Politiken und Ästhetiken, die eine einheimische und typisch ethnozentrische Konzeption der Kunst auf die ganze Welt ausdehnen möchten.

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Das Neo-Antike und die Ethno-Philosophie Wie sollte man nicht im Ubergang von den Problemen der europäischen Kunst zu denen der außereuropäischen Kunst einige grundlegende methodologische Vorbehalte gegenüber einer anthropologischen Herangehensweise geltend machen, die alle Erscheinungen der Kunst Afrikas, Amerikas und Ozeaniens auf einheitliche und globale Weise zu betrachten vorgibt. Wenn man vorhat, über den Primitivismus und seine evolutionistischen Voraussetzungen hinauszugehen, bleibt es ratsam, diese drei Kulturzonen getrennt zu betrachten (indem man gegebenenfalls nacheinander alle Unterscheidungen und Unter-Unterscheidungen vornimmt, die erforderlich scheinen). Entsprechend des gegenwärtigen Forschungsstandes scheint es mir die afrikanische Kunst zu sein, die die Entwicklung eines ästhetischen Denkens anregt und fördert, um sich vom Primitivismus emanzipieren und erneut eine europäische Reflexion über das Altertum vornehmen zu können. Die ethno-philosophischen Studien Tempels', Griaules, Dieterlens, Maya Derens, Roger Bastides, Alexis Kagames, Marc Auges und vieler anderer liefern ein ziemlich einheitliches Bild, das einen Begriff der künstlerischen Tätigkeit umfaßt, die nichts mit dem subjektivistischen Primitivismus zu tun hat. Für Janheinz Jahn, dem Autor einer ausgezeichneten Darstellung der modernen afrikanischen Zivilisation, die ihre ganz besondere Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen Denkformen und ästhetischen Erscheinungen richtet, kann die afrikanische Ästhetik durch einen einzigen Begriff, das Kuntu, bestimmt werden. Das Kuntu weist zwei grundlegende Aspekte auf: den relativ willkürlichen Charakter der Form des Werkes und den Rhythmus. In der klassischen Kunst des Abendlandes verbindet eine unauflösliche Beziehung die Form mit dem Inhalt; Hegel bestimmt die klassische Kunst als unmittelbare Einheit von Idealität und Stofflichkeit, als eine harmonische Begegnung zwischen dem Geistigen und dem Natürlichen. In der afrikanischen Kunst hingegen ist diese Beziehung nicht auf eindeutige und endgültige Weise festgelegt: Dasselbe Bild kann völlig unterschiedliche Bedeutungen oder auch gar keine haben. Damit es etwas bedeutet, muß es einen Namen erhalten und der künstlerische Akt sich dem anpassen. Dieser Prozeß wird sogleich verständlich, wenn man bedenkt, was das kulturelle Modell par excellence der afrikanischen Erfahrung des Heiligen ist, nämlich die Trance. Durch sie zeigt sich ein Gott, indem er den Adepten mit Besessenheit schlägt, der den Gott in seinem Körper empfängt und ihm so eine Hülle aus Fleisch und Blut verschafft: Die Gottheit nimmt so die somatischen Merkmale des Individuums während der ganzen Dauer der Trance an. Zwischen der Gottheit und der physischen Beschaffenheit des Besessenen gibt es keinerlei wesenhafte Beziehung; und dennoch ist die Tatsache keine zufällige, daß gerade dieser Gott und kein anderer eben dieses Individuum heimsucht und kein anderes, denn sie beruht auf einer tiefen Verwandtschaft zwischen den beiden. Das kulturelle Besessenheitsmodell gilt ebenfalls für die Skulptur: Eine Statue nimmt Sinn und Bedeutung nur an, wenn sie durch den Nommo, durch die magische Macht des

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Wortes determiniert wird, das sie mit dieser oder jener Gottheit des schwarzen Pantheons verbindet. Parallel jedoch verringert die Tätigkeit des Bildhauers den Unbestimmtheitsbereich, indem er den Namen der Statue fühlbar macht, in einem Objekt materialisiert. Wie in der Trance ist auch die Materialisierung des Göttlichen im Kuntu von begrenzter Dauer, über die hinaus die Körper und Statuen wieder in ihre profane Beschaffenheit zurückfallen. Konsequenz dieser Erfahrung, der starken Betonung des taktilen gegenüber dem visuellen Aspekt: Es ist nicht so sehr die Gestalt des Körpers, die zählt, sondern der Körper als Gewebe, als Gewand, als Haut. Der zweite Aspekt des Kuntu ist der Rhythmus. Er ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Form afrikanischer Kunst und bildet gewiß nicht zufällig eine der grundlegenden Bedingungen der Rituale, in denen sich die Trance zeigt. Für Jahn ist der Rhythmus der Schlaginstrumente das Modell, an dem sich alle Formen afrikanischer Kunst inspirieren. Die Sprache der Trommel ist die eigentliche Sprache, das Nommo, die Worte der Vorfahren. Die unterschiedlichen Teile eines afrikanischen Kunstwerks - so sagt Jahn — werden immer rhythmisch artikuliert und sind aufeinander bezogen; der Rhythmus entsteht aus der Wiederholung, deren letzte Funktion darin besteht, die wohlgefügte Einheit des Kosmos aufzuzeigen und abzusichern. Diese Einheit hat nichts Unbewegliches oder Statisches: Tempels zufolge ist die afrikanische Welt eine Interaktion von Mächten, die sich gegenseitig beeinflussen. In Afrika gibt es keine Schönheit ohne Wirksamkeit und Macht: Was nicht bedeutet, daß die afrikanische Ästhetik auf eine rein funktionalistische oder schlimmer noch bloß nutzorientierte Konzeption rückführbar wäre. Der größte Teil der Objekte soll lediglich denjenigen beglücken, der sie betrachtet: Am Anfang dieses Glücks findet sich dennoch immer das Gefühl einer dynamischen Verknüpfung der Weltdinge untereinander.

Uber das Tasten und den Rhythmus Wir begegnen hier abermals einer Erfahrung des Altertums, die nichts Klassisches, und einer Erfahrung der afrikanischen Kultur, die nichts Primitives hat; überraschenderweise ähneln sich diese beiden Erfahrungen ganz außerordentlich und beruhen auf denselben Begriffen: dem Tasten und dem Rhythmus. Sie können also auf ein und dieselbe Sensibilität zurückgeführt werden, die wir als neoantike definiert haben. Übrigens ist die Verwandtschaft zwischen der antiken Kultur und der afrikanischen Kultur ein den Fachleuten zugleich des Altertums und Afrikas durchaus geläufiges Thema: Vom „Dyonisos" Henry Jeanmaires bis hin zur „Black Athena" Martin Bernais gibt es zahlreiche Fachleute der Antike, die die Berührungspunkte der griechischen Welt mit Afrika unterstrichen haben, und umgekehrt haben zahlreiche Afrikanisten, um hier nur Leo Frobenius zu nennen, damit begonnen, die Ähnlichkeiten und Beziehungen zwischen der afrikanischen Kultur und der klassischen Welt zu studieren. Das Studium der Trance hat vor allem gezeigt, wie sehr all ihre unterschiedlichen, griechischen, afrikanischen und arabischen Erscheinungsformen mit der gleichen geographischen Region

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verbunden sind, deren Epizentrum das Mittelmeer ist, und die sich schließlich bis zu den Staaten des Golfs von Guinea und von dort bis Brasilien und zu den Antillen ausgeweitet hat. Von einem theoretischen Standpunkt aus beruhen die entscheidenden Fragen gerade auf den beiden Begriffen des Tastens und des Rhythmus. Im Unterschied zum NeoKlassizismus und Primitivismus, die den Blick vor allen anderen Sinnen bevorzugt haben, trägt die neo-antike Sensibilität dem Berühren oder Tasten eine wesentliche Rolle an: Es geht in der Tat nicht darum, ein Bild oder eine Statue vom übrigen Rest zu isolieren, indem man sie der ästhetischen Kontemplation oder der vitalistischen Empathie weiht, sondern die Verbindungen, die Verknüpfungen zu erfassen, die sie mit ihren Umgebungen, ihren Kontexten in Zusammenhang bringen. Die der neo-antiken Sensibilität zugrundeliegende Vorstellung lautet, daß die Weltdinge miteinander in Kontakt stehen und daß es zwischen ihnen Leere nicht gibt: Das Tastempfinden schließt keineswegs die Porosität, die Durchdringbarkeit der Körper aus. Wie in der Physik der antiken Stoiker dringt das Volle quer durch das Volle. Bedeutsam an dieser Weltanschauung ist einerseits die monistische Idee der Wirklichkeit, einer als einheitlich, kompakt und stetig begriffenen Wirklichkeit, und andererseits die Tatsache, daß diese Idee die Aufnahme, die Mischung der Körper untereinander nicht ausschließt. Tatsächlich ist dieser Monismus nicht unbeweglich, sondern wird vielmehr von einer stetigen und gleichwohl von Sprüngen und Brüchen freien Bewegung durchlaufen. Der Rhythmus besteht einer Beobachtung Emile Benevistes zufolge in jener besonderen Weise des Fließens, wie ein flüssige Form, ein Transit, ein Übergang ohne plötzliches Rucken, vergleichbar einem Gewand, das in gewünschter Form fällt.

Post-modern, neo-ethnisch, neo-antik Die neo-antike Sensibilität, die aus einer Begegung zwischen der anthropologischen Herangehensweise an das Altertum und der philosophischen Betrachtung des afrikanischen Denkens hervorgegangen ist, muß sich heute mit zwei weit kämpferischeren und furchtbareren Gegnern auseinandersetzen als es der Neo-Klassizismus und der Primitivismus waren. Auch wenn diese beiden Bewegungen im Laufe der letzten zehn Jahre eine Art von Revival erlebt haben, gehören sie dennoch der Vergangenheit an. Das jedoch ist nicht der Fall für die post-moderne Bewegung, die sich hinsichtlich bestimmter Aspekte (vor allem aus architektonischer Perspektive) den Neo-Klassizismus einverleibt hat, und für die neo-ethnische Bewegung, die ihrerseits den Primitivismus aufgesogen hat. Post-modern und neo-ethnisch stehen in Gegensatz: Während die Post-Moderne alle Identitäten auflöst und den spielerischen Umgang mit ihren Bildern fördert, greift das Neo-Ethnische im Gegenteil die kulturelle Identität jeder Gemeinschaft wieder auf und bekräftigt sie auf ausschließliche und unduldsame Weise. Doch paradoxerweise erzeugen beide auf entgegengesetzten Wegen die gleiche Wirkung: die Verflachung und Angleichung aller kulturellen Erscheinungen in ein und demselben Register. Das Post-Moderne

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bewirkt dies direkt, denn es hält die Kulturen für zahlreiche auswechselbare Stile, deren jeweilige Auswahl nur eine Frage praktischer Angemessenheit und wirkungsvollen Gelingens ist. Das Neo-Ethnische führt zur selben Wirkung auf vermittelte Weise, denn indem es den physischen, biologischen, rassischen Faktor als einzigem kulturellem Kriterium Geltung verschafft, beseitigt es völlig die Möglichkeit eines kritischen Denkens: Tatsächlich werden für den, der sich in keiner Ethnie wiedererkennt, alle Kulturen gleichwertig und austauschbar. Aber auch eine Person, die sich in einer Ethnie wiedererkennt, kann ihren kritischen Geist nicht anwenden, denn es wird ihr zur Auflage gemacht, sich kurzerhand mit einer fiktiven Identität zu identifizieren, indem die Komplexität und Vielförmigkeit jeder Tradition vollständig ausgeschlossen wird. Es gibt nicht eine einzige Art und Weise, Jude, Palästinenser, Kurde, Baske, Kroate oder Serbe zu sein; vielmehr findet ein Kampf inmitten all dieser Kulturen zwischen einer Identität und einer Differenz, zwischen einer A n des Rigideseins, des Unbeweglich- und Sklerosiert-Seins und einer Art und Weise statt, plastisch zu sein, sensibel, fortschrittlich. Post-Modern und Neo-Ethnisch sind auf entgegengesetzten Wegen zur selben Vereinfachung und zur gleichen Banalisierung des privaten und öffentlichen Lebens vorgedrungen: Gemeinsam tragen sie dazu bei, das Klima des spektakulären Neo-Obskurantismus zu festigen, das uns umgibt. Worin bildet die neo-antike Sensibilität eine Alternative zum Post-Modernen und zum Neo-Antiken? Vor allem sucht sie keine kulturelle Identität, um sich ihr zu fügen: Inmitten der abendländischen Tradition unterstreicht sie eine vom entferntesten Altertum an, seit dem alten Ägypten vorhandene und wirksame Differenz. Es trifft nicht zu, daß alles durch etwas anderes ersetzt werden kann, daß anything goes, wie die PostModerne behauptet: Die abendländische Tradition war der Schauplatz eines Zusammenpralls zweier entgegengesetzter begrifflicher Strukturen, zweier Lebensarten, zweier widersprüchlicher Kunstauffassungen: die erste, metaphysischen Charakters und auf die tiefgehende Trennung zwischen dem Denken und dem Fühlen begründet; die zweite, geschichtlichen Charakters, die das Denken und das Fühlen als untrennbar ansah und die sich künstlerisch durch die dem Tasten und dem Rhythmus zuerkannte Bedeutung manifestierte. Zweitens betrachtet die neo-antike Sensibilität diese Orientierungen überhaupt nicht als ausschließliche Bestandteile der abendländischen Welt, sondern sucht nach Verwandtschaften und positiven Bestätigungen in anderen Kulturen und Zivilisationen. Es handelt sich jedenfalls im Gegensatz zu dem, was sich in der Esoterik ereignet, immer um Analogien, die empirisch aufgewiesen werden müssen und die nicht die Existenz universell überprüfter Archetypen rechtfertigen. Das kulturelle Modell der Trance ζ. B. hat sich geographisch weit ausgebreitet; es bleibt aber vom Schamanismus wesentlich unterschieden und kann daher unter die Kategorie der „Ekstase-Erfahrungen" eingereiht werden. Die neo-antike Sensibilität wird vor allem durch die Fähigkeit des Erstaunens über sich selbst und über das ausgezeichnet, was nahe ist; aber auch durch die Fähigkeit des Wiedererkennens angesichts des Anderen und des Fernen. Die erste Haltung steht dem Eindruck des dejä vu, des „dejä senti", des „schon einmal gefühlt", diametral entgegen,

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dem blasierten und enttäuschten Zynismus, der mit der Post-Moderne einhergeht: Jüngst haben Julia Kristeva und Paul Ricoeur sehr klar die Figur des Fremden verdeutlicht, die wir in uns und in unserer Uberlieferung tragen. Die zweite Haltung, d. h. die Fähigkeit, Elemente unseres Fühlens in außereuropäischen Kulturen wiederzuerkennen, widerstreitet nicht bloß der Geschlossenheit, die das Neo-Ethnische kennzeichnet, sondern auch dem apologetischen und unkritischen Akzeptieren anderer Kulturen, das oftmals dessen anderes Gesicht darstellt: die fanatische Verherrlichung orientalischer Religionen oder präkolumbianischer Kulturen oder des Hebräertums durch Personen, die weder Orientalen noch Inder oder Juden sind, entstammt diesem Mangel an kritischem Geist, der die neo-ethnische Einstellung beherrscht. Es handelt sich hierbei um jene völlige Fehleinschätzung und apriorische Feindschaft gegenüber ihrer eigenen Tradition und ihrem eigenen Wissen, das allzu oft nur eine Erfahrungsunfähigkeit und einen emotionalen Mangel verbirgt, der gar nicht soweit von dem entfernt ist, der dem Post-Modernen zugrunde liegt.

„Giocoforza", Inbesitznahme,

Gastfreundschaft

Diese drei Tendenzen - das Post-Moderne, das Neo-Ethnische und das Neo-Antike theoretisch zu ergründen, beinhaltet zwangsläufig eine Uberprüfung der Grundbegriffe, auf die sie zurückgeführt werden könnten. Ich denke entsprechend an die drei Wörter, die dem m. E. entsprechen: „giocoforza" (wörtlich: „Spiel-Kraft", die einen unweigerlichen Zwang anzeigt und „durch die Gewalt des Spiels", durch die Gewalt der Dinge bedeutet), Aneignung und Gastfreundschaft. Das italienische Wort „giocoforza", für das es m. W in anderen Sprachen keine Entsprechung gibt, bezeichnet sehr gut die Art des Postmodern-Seins, denn es vereinigt mit dem spielerischen Element („gioco") den Bezug auf einen Zwang oder besser auf eine äußere Gewalt, die sich als einzige Ausführungsbedingung durchsetzt. Wenn ich sage, daß es „giocoforza" sei, sich so oder so zu verhalten, eine Entscheidung zu fällen, etwas exakt zustande zu bringen, meine ich nicht, daß es absolut notwendig sei, derart zu verfahren, und auch nicht, daß ich nicht frei bin, anders zu verfahren: Ich meine, daß ich, wenn ich im Spiele bleiben möchte, keine Wahl mehr habe. Ich kann aber in jedem Augenblick das Spiel verlassen, mich aus dem Spiel bringen. Das aber ist in der post-modernen Sichnveise die schlimmste aller Situationen: Von diesem Standpunkt aus läßt sich das Post-Moderne als die Verlängerung der Politik in alle Lebensbereiche betrachten: eine verallgemeinerte Politik. Für das Neo-Ethnische liegen die Dinge ganz anders. Hier ist der Schlüsselbegriff der der Inbesitznahme. Das Gesetz, das Nomos der Erde, ist die Inbesitznahme des Territoriums. Carl Schmitt unterstreicht die etymologische Verbindung zwischen dem griechischen nomos (Gesetz) und dem griechischen nemein (was soviel bedeutet wie: ich verteile, aber auch: ich besitze) und dem deutschen Verb nehmen. Die Logik, von der das NeoEthnische inspiriert wird, ist eben die der Inbesitznahme nicht nur dessen, was dem anderen gehört, sondern vor allem dessen, was uns selbst eigen ist - in dem Sinne, als sie

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die Fremdheit, die der Tradition inhärente Differenz nicht respektiert, sondern ihr eine fiktive Identität aufzwingt; das Bild vom ethnos, das es verteidigt, weist eine karikaturale Strenge auf, die überhaupt nicht der geschichtlichen Wirklichkeit entspricht. So verkennt das Neo-Ethnische die Komplexität der Geburt und des Genos und stülpt ihm eine groteske Maske über, die es für ursprünglich hält: eine Maske, die vor allem ihre Landsleute einschüchtert und bedroht, indem sie zu ihr gezwungen werden und sich mit ihr identifizieren. Der dem Neo-Antiken entsprechende Begriff ist dagegen der der Gastfreundschaft. Als komplexe ist sie zugleich der Akt des Gebens und des Nehmens. Im Altertum gibt es neben den Wörtern (wie dem griechischen lambano, dem lateinischen praehendo), in denen nehmen wegnehmen, entreißen bedeutet und die darum auf eine Haltung der Habsucht und Gier verweisen, andere Wörter (wie das griechische dekomai, das lateinische capto), für die nehmen erhalten, empfangen, akzeptieren, verstehen, hören bedeutet. In dieser Bedeutung ist Gastfreundschaft nicht die Nächstenliebe, keine uneigennützige Hilfe infolge des Mitleids. Sie knüpft im Gegenteil eine Beziehung, in der die Gastfreundschaft sich eher in der Tatsache des Nehmens als der des Gebens, des Gast-Seins, eher in der Tatsache des Sich-Gebens als des Nehmens offenbart. Grundlage dieser Beziehung ist die Hoffnung, daß eventuelle Spannungen und Konflikte zugunsten der beiden Glieder der Beziehung überwunden werden können. Und schließlich gehört entscheidend zur Gastfreundschaft der Bezug nicht auf das Blut oder den Boden, sondern auf die Kultur und auf das Wissen. Wie Edmond Jabes sagt: „Unermeßlich ist die Gastfreundschaft des Buches."

Literatur Assunto, Rosario: L'antichitä come futuro. Studio sull'estetica del neoclassicismo europeo, Mailand 1973. Beneviste, Emile: Problemes de linguistique generale, Paris 1966. Goldwater, Roben: Primitivism in modern a n (1938), New York 1967. Jabes, Edmond: Le livre de l'hospitalite, Paris 1991. Jahn, Janheinz: Muntu. Umrisse der neoafrikanischen Kultur, Düsseldorf 1958. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1992. Ricoeur, Paul: Soi-meme comme un autre, Paris 1990. Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, o. O . 1901. Rouget, Gilbert: La musique et la danse. Esquisse d'une theorie generale des relations de la musique et de la possession, Paris 1980. Rubin, William (Hrsg.): L e primitivisme dans l'art du X X . siecle. Les artistes modernes devant l'art tribal, Paris 1987 Schmitt, Carl: Nehmen/Teilen/Weiden. Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom N O M O S her richtig zu stellen, in: Gemeinschaft und Politik, 1/3, 1953.

II. Dekonstruktion der Vernunft

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Abweichung oder Distinktion C e qui est difficile pour l'esthetique, c'est Pethique. Et reciproquement. Henri Meschonnic

1. Happiness und ihre

Bedingungen

D a s vorrangige Problem des Sprechens scheint zu sein, ob es wahr ist oder falsch. Jedenfalls ist das der Eindruck, den man beim Lesen von Büchern über sogenannte Sprachphilosophie erhält. Ihre Hauptsorge ist die Wahrheit. Sprachphilosophie hat eine beinahe ausschließlich semantische Perspektive. Sie ist zuvörderst theoretische Philosophie, die sich nicht besonders um Gut und Böse kümmert. Aber natürlich kann Sprechen auch gut oder böse sein (und wahres Sprechen kann böse sein, und falsche Aussagen können gut sein). Wir erfahren es jeden Tag. Sprechen kann wehtun, es kann schmerzen wie ein Schlag. Wir können beleidigt, irregeleitet, belogen werden. Wir erleben aber natürlich auch gutes Sprechen: Leute können freundliche Dinge sagen, ein Freund tröstet uns, manchmal bringt sogar eine wissenschaftliche Konferenz Menschen zusammen. Sprechen ist nicht nur ein kognitives Ereignis, sondern auch ein kommunikatives, eine Handlung, die den anderen impliziert, und als solche hat es notwendigerweise ethische Implikationen, gehört es auch zum Bereich der praktischen Vernunft. Aber selbst nach ihrer pragmatischen Wende ist Sprachphilosophie noch ziemlich unmoralisch. So versucht sie zwar, die sogenannten Bedingungen des Glückens (happiness conditions) von Sprechakten zu beschreiben (Austin). Und dies scheint eine sehr praktische und ethische Angelegenheit zu sein; denn was könnte ethischer sein als das Streben nach Glück, der pursuit of happiness. Aber diese Bedingungen und die ihnen entsprechenden Regeln sind doch nur Bedingungen oder Regeln zur Ausführung gegebener Handlungsmuster. Das Glück ist also ein sehr technisches: es ist die gelungene Ausführung einer intendierten Handlung, die hier gemeinte happiness ist Erfolg. Sprechakttheorie ist also mehr die Beschreibung einer sozialen Technik als eine Ethik des Diskurses. Das ist, nebenbei gesagt, auch der Grund, warum Linguisten sie so gern mögen.

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Aber natürlich kann auch die Sprechakttheorie ethische Implikationen nicht ganz außer acht lassen, sie hat zumindest gewisse ethische Ränder, wie man am Problem der Aufrichtigkeit sehen kann: Ist Aufrichtigkeit wirklich eine Bedingung für die Ausführung eines Sprechakts, ζ. B. des Versprechens? Ein bestimmter Sprechakt ist als Versprechen gemeint und wird auch so verstanden (weil wir wollen, daß der andere ihn als Versprechen auffaßt, und weil der andere ihn als Versprechen auffaßt), selbst wenn wir nie die Intention hatten, das zu tun, was wir versprachen. Oder: Ein Sprechakt ist eine Behauptung, selbst wenn wir überhaupt nicht von der Wahrheit der Aussage überzeugt sind. Aufrichtigkeit - damit ist gemeint, daß wir wirklich intendieren zu tun, was wir anscheinend tun, und daß wir den anderen nicht betrügen - scheint daher etwas jenseits von Sprechakttheorie zu sein. Sprechakttheorie ist also keine Ethik des Diskurses. Aber allein schon die Frage nach der Aufrichtigkeitsregel zeigt, daß die Sprechakttheorie, als eine Theorie über die pragmatische Dimension, moralische Fragen und Probleme berührt. Um ein anderes Beispiel zu geben: Die Einleitungsbedingung für eine Aufforderung besagt, daß der Hörer Η fähig sein sollte, die Handlung Α auszuführen, zu der ihn der Sprecher S veranlassen möchte. Η sollte ζ. B. fähig sein, das Fenster zu schließen, wenn wir ihn dazu auffordern. Wenn Η aber ein Zwerg ist und nicht in der Lage, das in Frage stehende Fenster zu erreichen, so ist es zwecklos oder sogar unmoralisch, Η aufzufordern, das Fenster zu schließen. Oder umgekehrt: Η ist vielleicht durchaus fähig, die Handlung, jemanden zu töten, auszuführen; die Einleitungsbedingung für die erfolgreiche Ausführung des Befehls „Töte!" ist also erfüllt. Die Bedingung des Glückens liegt vor. Der Sprechakttheorie ist somit Genüge getan. Nicht aber der Ethik. Alle happiness conditions eines erfolgreichen Befehls „Töte!" können vorhanden sein, und dennoch kann es sehr unglücklich - nämlich unethisch - sein, den Befehl auszuführen. Es ist also klar, daß, wenn Sprachphilosophie erst einmal die Dimension des anderen zuläßt, ethische Probleme zum Vorschein kommen. Hinter der Sprechakttheorie lugt immer die Diskursethik hervor. Dies wird bei Grices Reflexionen über Sprache klar, der ja ausdrücklich die Terminologie von Kants „Kritik der praktischen Vernunft" übernimmt. Die Griceschen Konversationspostulate oder -maximen sind diskursethische Postulate (die der Kantschen Tafel der Kategorien der Freiheit folgen): Sei informativ, aber nicht zu sehr! (Quantität) Sag die Wahrheit und beweise sie! (Qualität) Sei relevant! (Relation) Sei klar! (Modalität) Und sie sind sogar, entgegen den Intentionen ihres Erfinders, der sie für universell hielt, diskursethische Maximen einer sehr begrenzten kulturellen Reichweite. Sie sind vielleicht die Maximen von Universitätsprofessoren in Berkeley oder, wie der französische Philosoph Sylvain Auroux es formuliert hat, die eines „native of savage Manhattan or a poor wage earner in some multinational trust" (Auroux 1991, 154). Sie sind sicher nicht so universell, wie sie sein sollen. Auroux erkennt in diesen Regeln schon nicht mehr die Maximen einer Pariser Konversation. Und, um ein Beispiel aus meiner kulturellen Erfahrung zu zitieren, sie sind bestimmt nicht die Regeln des normalen süditalienischen Gesprächs, das die Maximen der Quantität, der Relation und der Modalität schwer

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verletzen würde. Ebensowenig sind sie die Regeln der normalen japanischen Konversation, in der man überinformativ (Quantität) und ein bißchen dunkel (Modalität) sein muß. Diese Bemerkungen zu den ethischen Momenten des Sprechens sollten auf die folgende hinführen: Wenn Sprechen als ein interaktives kommunikatives Ereignis notwendigerweise ethische Implikationen hat, so scheint dagegen poetisches Sprechen unschuldig zu sein. Es scheint jenseits solcher moralischer Betrachtungen zu liegen. Poetisches Sprechen ist frei, semantisch und pragmatisch: Es hat keine Wahrheitsbedingungen zu erfüllen. Deshalb kann Kafka sagen, daß ein junger Mann namens Gregor Samsa eines Morgens beim Aufwachen feststellt, daß er in ein großes Ungeziefer verwandelt worden ist. Es hat keinen Aufrichtigkeitsregeln oder Bedingungen des Glückens Genüge zu tun, da es weder irgendetwas behauptet, noch verspricht, noch befiehlt. Die Konversationspostulate sind außer Kraft gesetzt. Der poetische Diskurs kann so informativ oder überinformativ sein, wie er will, er kann so dunkel sein, wie der Dichter nur will, und er ist völlig irrelevant. Der poetische Diskurs ist einfach Sprechen. Er ist happiness ohne irgendwelche Bedingungen, eine Insel glückseligen Redens ohne Wahrheitsbedingungen, Aufrichtigkeitsregeln oder Konversationsmaximen, ein Eiland verantwortungslosen Glücks. Dies ist auch der Grund, warum Piaton den poetischen Diskurs in seiner Stadt seriöser wahrheitssprechender und aufrichtig kooperierender Männer nicht zulassen wollte. Aber dieses Verdikt Piatons und anderer (protestantischer) Poemo-Klasten wurde in unseren westlichen Gesellschaften nie wirklich ausgeführt. Aristoteles (mehr wie Wittgenstein II, wenn Piaton Wittgenstein I ist) hat ganz liberal durchaus poetische Monster in die Polis aufgenommen, aber eben doch am Rande der wirklichen, seriösen Rede, d. h. außerhalb des logos apopbantikos. Aristoteles erkennt verschiedene Sprachspiele an (während Piaton nur das Wahrheitsspiel zuläßt). Obwohl auch er sich hauptsächlich um das Wahrheitsspiel kümmert, schreibt er doch immerhin eine Rhetorik und eine Poetik. Poetisches Sprechen, diese Insel der Glücklichen, wurde also in die Polis aufgenommen. Es wurde mehr oder weniger integriert, es wurde jahrhundertelang instrumentalisiert, aber es war niemals wirklich verbannt. Heute, so können wir sagen, besetzt es einen einigermaßen gut abgegrenzten Raum am Rande der Stadt. Das poetische Sprechen ist ein ästhetischer Vorort der Großen Stadt des seriösen Sprechens. Bedeutet diese Lokalisierung, daß poetisches Sprechen seriöser geworden ist seit Piaton? Kaum. Es bedeutet nur, daß die Bürger der Politeia keine platonischen Hardliner, sondern liberale Leute sind. Sie halten die Verantwortungslosigkeit poetischen Sprechens aus, ja sie scheinen es sogar zu brauchen. Aber sie wollen es immer noch schön getrennt vom alltäglichen Leben, vom normalen Leben, von seriösen Dingen. Deshalb diese Position am Rande der Gesellschaft. Nicht nur die ernsthaften Leute wollen es so, die Künstler und Dichter selbst sind durchaus auch für diese marginale Position verantwortlich. Es ist nämlich eine ziemlich komfortable Position, da sie eine geradezu uneingeschränkte Freiheit erlaubt. Aber die Gefahr ist natürlich, daß niemand die Leute an den Rändern beachtet.

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Darum gibt es von Zeit zu Zeit auch Versuche, dieses ungebundene Glück zu überwinden. Der berühmteste davon ist vielleicht Brechts „Glotzt nicht so romantisch!". Aber es ist Brecht nicht gelungen, dieses romantische Glotzen, das wir ästhetische Haltung nennen, diese ruhige Kontemplation, aufzubrechen. Zum Glück ist es ihm nicht gelungen; denn das ästhetische Glotzen aufzubrechen würde schlichtweg bedeuten, die ästhetische Tätigkeit in die praktische Tätigkeit zu integrieren und damit zu zerstören, wenn das poetische Sprechen Wahrheitsbedingungen, Bedingungen des Glückens - d. h. Bedingungen des Erfolgs - und Konversationspostulaten unterworfen wird. Der ästhetische Bereich ist ein Gebiet, das als solches bewahrt werden sollte, wie ein Naturschutzgebiet; die Bewahrung des ästhetischen Bereichs ist ein Postulat sozialer Ökologie, weil es das einzige Gebiet ist, auf dem das Sprechen oder andere menschliche Tätigkeiten und Produktivitäten frei sind von Zwängen, wo die Generosität regiert, wo „anything goes". Und diese Freiheit ist seine ethische Bedeutung. Wo sonst, wenn nicht in poetischer Rede, können Menschen erfahren, was Leben sein könnte und sollte. Sie ist die einzige wirkliche Utopie. Und wir können ohne sie nicht sein. Aber dies ist schon die Konklusion, zu der ich doch erst am Ende kommen sollte. Was nun auch immer ihre soziale Position ist — platonisches Außen oder aristotelisches Vorstadt-Innen - , von der „wirklichen Welt" aus betrachtet, von der Welt des wirklichen Lebens, der ernsthaften Menschen und des aufrichtigen Gesprächs aus gesehen, geschehen sehr eigenartige Dinge in der Welt der Poesie. Von der wirklichen Welt aus gesehen ist Poesie abweichendes sprachliches Verhalten. Daher liegt es nahe, ihr Charakteristikum als Abweichung von der Normalität zu beschreiben. Dies ist jedenfalls in linguistischen Theorien der poetischen Sprache getan worden. Die Hauptpositionen dieser linguistischen Diskussion über Abweichung möchte ich noch einmal unter dem Blickwinkel des Themas dieses Bandes aufgreifen, d. h. hinsichtlich ihrer ethischen Implikationen, eine Perspektive, die auf diese zunächst etwas altmodische Diskussion 1 vielleicht doch ein neues Licht wirft.

2. Abweichung Spätestens seit Baudelaire, seit dem naturalistischen Roman und dem naturalistischen Drama wird die poetische Sprache nicht länger als eine scharf abgegrenzte und „höhere" Varietät einer historischen Sprache betrachtet. Der kollektive Stil der Poesie hat sich in viele individuelle schöpferische Stile ausdifferenziert. Diese literarische Situation ist Leo Spitzers Ausgangspunkt: „I had in mind the more rigorously scientific definition of an individual style, the definition of a linguist which should replace the casual impressionistic remarks of literary critics [...]. On the other hand, individuum est ineffabile; could it be that any attempt to

1 Vgl. Trabant 1974.

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define the individual writer by his style is doomed to failure? The individual stylistic deviation from the general norm must represent a historical step taken by the writer, I argued; it must reveal a shift of the soul of the epoch, a shift of what the writer has become conscious and which he would translate into a necessarily new linguistic form." (Spitzer 1948, 11, Hervorhebung J . Τ.) Diese berühmte Passage aus Leo Spitzers Einleitungskapitel in sein amerikanisches Buch über Stilistik, von 1948, ist das herausragende Dokument dessen, was wir die Abweichungstheorie des poetischen Sprechens nennen. Diese Theorie sieht Poetizität explizit in der „Abweichung von der allgemeinen N o r m " , in der „deviation from the general norm". Natürlich wurde auch in klassischen Zeiten die Poetizität von Sprache in einer besonderen sprachlichen Qualität geortet, poetische Sprache wurde als andersartig angesehen. Aber diese Andersartigheit war eine „höhere" Qualität (wenn dies „Abweichung" war, so war es eine Abweichung nach oben). Poetische Sprache war „höher", edler als normale Sprache, sie war die Super-Norm, nicht die allgemeine Norm. Distinktion, um diesen Bourdieuschen Terminus aufzugreifen, nicht Abweichung, war der eigentliche Kern klassischer Poetizität. Neu ist nun, jedoch nicht nur bei Spitzer, daß die Andersartigkeit als eine individuelle Abweichung verstanden wird, nicht als Realisierung jener höheren Norm. Statt vertikal wird die Differenz nun horizontal. Auf den ersten Blick definiert Spitzer jedoch nicht so sehr die poetische Sprache, sondern nur den individuellen Stil eines Autors (was ja nicht ganz dasselbe ist), und er sucht nach einem linguistisch „wissenschaftlichen" Kriterium, mit dessen Hilfe dieser individuelle Stil beschrieben werden kann - und dieses linguistische Kriterium ist die Abweichung von der Norm. Aber es wird dann doch klar, daß Abweichung positiv als Innovation charakterisiert wird und daß sprachliche Innovation eine Form von Kreativität, d. h. von Poetizität tout court ist. Die positive Bewertung der Abweichung verläuft also über die Gleichung: Deviation = Innovation = Kreativität (Poetizität). Diese Gleichung bewahrt den Abweichenden davor bestraft zu werden, wie es bei sonstigen Devianzen der Fall ist, und bewirkt, daß man ihn statt dessen feiert. Es ist bemerkt worden, daß diese Konzeption des Poetischen historisch situiert und limitiert ist, daß sie die moderne, d. h. romantische Konzeption des kreativen Genius beschreibt, der ein individueller Schöpfer ist, jemand, der nicht Gesetzen gehorcht, sondern Gesetze schafft (Kant: „das Genie, das der Kunst die Regel gibt"). Die klassische Konzeption von Kunst und Poesie strebt im Gegenteil nicht nach individueller Abweichung, sondern nach Distinktion, nach einer Annäherung an jenes „höhere Gesetz", sei es das „Ideal" oder sei es die Nachahmung der Klassiker. Poetisches Sprechen, das Distinktion statt Devianz zu erreichen versucht, wird auch gesellschaftlich danach streben, im Zentrum und an der Spitze einer Gesellschaft zu stehen, nicht an ihren Rändern. Spitzer weiß das selbstverständlich. In gewisser Weise gibt er die historische Beschränkung seiner Konzeption auch zu, wenn er feststellt, daß man nur bei modernen Autoren wie Diderot von der sprachlichen Abweichung auf die geistigen Zustände der wirklichen Person schließen könne (Spitzer 1948, 135). Aber er verallgemeinert dann doch ganz

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bewußt seine Konzeption des kreativen Individuums. Klassische Texte widersprechen seinem romantischen Begriff von Abweichung nicht. Für Spitzer ist jedes kreative Individuum innovativ und daher auch abweichend: „Whoever has thought strongly and felt strongly has innovated in his language; mental creativity immediately inscribes itself into the language, where it becomes linguistic creativity." (Spitzer 1948, 18.) Bevor ich das Konzept der Abweichung kommentiere, muß ich noch eine entscheidende Bedingung für die Poetizität der Abweichung von der allgemeinen Norm hinzufügen. Nicht jede Abweichung ist kreativ oder poetisch. Die Abweichung könnte ja nur ein Fehler sein. Um poetisch zu sein, muß die Abweichung systematisch sein. In Spitzers berühmter Beschreibung seiner Methode ist „Konsistenz" das Schlüsselwort. „In my reading of French novels, I had acquired the habit of underlining expressions which struck me as aberrant from general usage, and it often happened that the underlined passages, taken together, seemed to offer a certain consistency." (Spitzer 1948, 11.) In einer anderen Passage ist explizit von einem System die Rede, vom „Sonnensystem" des Autor-Geistes nämlich, „into whose orbit all categories of things are attracted" (Spitzer 1948, 14), also auch die abweichenden sprachlichen Strukturen. Nicht Abweichung allein, sondern Abweichung und Systematizität dieser Abweichung bilden also das Konzept der poetischen Sprache. Systematizität ist ein Element der Ordnung, welches das deviante Verhalten zu heilen scheint. Aber in Wirklichkeit macht sie die Abweichung noch abweichender, wie wir anhand nicht-sprachlicher Beispiele sehen können. Ich könnte von normalen sozialen und moralischen Standards abweichen, indem ich eine Person töte, weil diese Person mich bedroht hat und ich meine Beherrschung verloren habe; aber mein Töten kann auch systematisch, konsistent, wiederholt sein - wie bei James Ellroys Großen Amerikanischen Killern. Ich denke, daß Richter jeweils anders reagieren. Das tun auch literarische Richter. Die Auffassung von poetischer Sprache als Abweichung von der Norm hat großen Erfolg gehabt. Für die linguistische Annäherung an Poesie war diese Konzeption deswegen so praktisch, weil sie es Linguisten erlaubte, dieses schlüpfrige Ding zu lokalisieren und zu fassen: das Poetische. Man brauchte nur sprachliche Abweichungen zu sammeln, und schon hatte man eine wissenschaftliche Beschreibung des Poetischen. Spitzer tat das natürlich nicht, dazu war er viel zu sehr Literaturwissenschaftler. Für ihn war das Sammeln von Aberrationen nur ein erster Schritt, nach dem er daran geht, die aberranten sprachlichen Strukturen zu erklären und zu interpretieren. Aber szientifischer orientierte Linguisten, die sich mehr um Objektivität, Wissenschaftlichkeit und ähnliches bemühten, stützten sich stark auf das Sammeln abweichender Strukturen. Die szientifischsten Linguisten jedenfalls haben diese Konzeption begeistert aufgegriffen: Die generative Beschreibung von Dichtung arbeitet mit dem Konzept der systematischen Abweichung. Sie lokalisiert den sprachlichen Fehler in ihrer formalen Beschreibung, sucht nach der Systematizität des Regelverstoßes, und schon ist das Poetische beschrieben. Die Wissenschaft ist glücklich. Da sie weiß, wo sie nach Poetizität suchen muß, bekommt sie sie auch deskriptiv wunderbar in den Griff.

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Die ethischen Implikationen einer auf diese Weise beschriebenen Poetizität sind evident. Abweichung vom Normalen ist ein Abgehen vom rechten Weg, und der rechte Weg ist der Weg der Tugend. Devianz ist somit entweder eine mildere Form des Verbrechens oder die klinische Beschreibung desselben. Devianz wird im übrigen oft als Abirrung von der sogenannten sexuellen Normalität gedacht. Es ist kein bloßer Zufall, daß das Wörterbuch-Beispiel für das englische Adjektiv „deviant" immer lautet: „sexually deviant". Unter normalen Umständen wird Devianz bestraft oder sonstigen Sanktionen unterworfen, oder, wenn sie nicht bestraft wird, versucht man wenigstens, sie zu heilen. Auf jeden Fall wird abweichendes Verhalten von der Gesellschaft nicht einfach toleriert oder gar gefeiert. Wir erinnern uns alle, um im eher harmlosen Feld sprachlicher Produktion zu bleiben, an die Sanktionen gegen unsere sprachlichen Abweichungen, auch die systematischen, in der Schule. Unsere Lehrer pflegten die poetischen Freiheiten in unseren Klassenarbeiten zu bestrafen. Und selbst wenn wir geltend machten, daß Kafka oder Thomas Mann es doch genauso machten wie wir, sagten diese grausamen Pädagogen, daß wir nicht Kafka oder Thomas Mann seien - womit sie ja durchaus recht hatten. Quod licet J o v i . . . Aber warum durften die schreiben, wofür wir bestraft wurden? Es gab ganz offensichtlich zwei Gesetzgebungen, eine für Leute wie Kafka und Thomas Mann, und eine andere für Leute wie du und ich. Es mußte also etwas geben, was die Regeln und die Gesetze der Korrektheit suspendiert: Der einzige, dem man abzuweichen erlaubt, ohne daß er bestraft oder therapiert wird, ist das Genie. Diese Umbewertung von Devianz ist der Grund dafür, daß Leute normalerweise Poeten und Künstler nicht verfolgen (Piaton, der Terminator, lauert allerdings hinter der nächsten Straßenecke!). Ich werde später auf diese große Ungerechtigkeit zurückkommen, die der einzige Ort der Hoffnung ist.

3. Gegen poetische Abweichung Trotz Spitzers nachdrücklicher Behauptung der Gleichung „Deviation = Innovation = Kreativität" gab es in der Folge der Geschichte der Abweichungstheorie zwei Einwände: a) Man hat gesagt, daß es oft einfach unmöglich ist, in offenkundig poetischem Sprechen Abweichungen von der Norm festzustellen, daß die poetische Rede also vollkommen normales Sprechen sein kann. 2 Das extreme Beispiel hierfür ist das literarische ready-made: Es gibt nichts Normaleres als ein Kochrezept. Aber wenn man es in einem Gedichtbuch findet, ist es Poesie. (Es gibt nichts Normaleres als ein Pissoir, aber wenn man es in einer Kunstausstellung findet, ist es ein Kunstwerk.) Aber auch wenn der Text selbst völlig normal ist, so liegt doch auch hier eine Abweichung vor, eine sehr starke sogar: Das „normale" Objekt ist nämlich seinem normalen Kontext entfremdet. Die Abweichung ist keine textuelle (grammatische, sprachliche)

2 Umgekehrt kann das normale Sprechen abweichend sein, ohne deshalb poetisch zu sein, wie in Telegrammen ζ. B . : „Ankomme morgen", „Schrankkoffer Bahnhof".

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mehr, sondern eine kontextuelle. Die Antwort auf das erste Argument gegen die Abweichung wäre also, daß man das Format der Beschreibung ausdehnen muß, daß man die Domäne der Abweichung erweitern muß, vom Text zum Kon-text, oder, allgemeiner, zu anderen Ebenen des Text-Aufbaus. Weitere Beispiele zur Verdeutlichung: Ionescos Dialoge in der „Cantatrice chauve" sind völlig normal in ihrer Turn-taking-Technik, die Abweichung liegt in der Inkonsistenz der Referenzbeziehung.3 Kafkas Sprache ist völlig normal, ganz nahe an einer sachlich kühlen Verwaltungssprache; was jedoch nicht normal ist, ist die erzählte Welt: in Käfer verwandelte Menschen, Akademie-Berichte schreibende Affen, singende Mäuse, Maschinen, die Wörter in die Haut einschreiben usw. Der Einwand, daß die Sprache der literarischen Texte ganz „normal" sein kann, führt also zur Erweiterung des Konzepts der Abweichung, das Konzept selbst kann aber durchaus beibehalten werden. b) Daher ist vielleicht das andere Argument gegen Abweichung, das „klassizistische" Argument, stärker. In poetischer Rede gibt es sprachliche Strukturen, die mit „aberrant, gegen die Regel verstoßend, von der Norm abweichend" nicht besonders glücklich beschrieben sind. Die klassischen Instrumente der Rhetorik und Metrik, die Elemente dessen, was in einer eher klassizistischen Perspektive „poetische Sprache" genannt wird, verstehen sich zunächst einmal gerade nicht als deviant und aberrant. Was ist abweichend am Vorkommen von Reimen, was ist aberrant bei der Metapher oder der Alliteration? Diese Verfahren als abweichend zu beschreiben, ist zwar möglich, da Reim und Alliteration in der Tat selten im alltäglichen Sprechen vorkommen (obwohl sie dort natürlich vorkommen können). Aber eine solche Auffassung entspricht nicht der Intention des Gebrauchs von metrischen und rhetorischen Kunstgriffen. Die Intuition ordnet sie eher dem Erfüllen einer Norm - eben der höheren Norm „poetischer Sprache" - als dem Verstoß gegen die Norm zu. Sie sind Zeichen von Distinktion, nicht von Deviation.

4. Distinktion und Design Die Unzulänglichkeiten der Abweichungstheorie haben Roman Jakobson dazu geführt, einen anderen Weg zu versuchen: a) Er gibt die Fixierung auf sprachliche Strukturen im engeren Sinne auf, wie wir sie bei Spitzer und seinen generativen Nachfolgern kennengelernt haben - zumindest in einem ersten Schritt; er fällt dann selbst wieder zurück in das, was Pratt (1977) die „poetic language fallacy" nennt. b) Er zieht dem Begriff der Abweichung die Idee der Distinktion als des HauptCharakteristikums der poetischen Rede vor. Was den ersten Aspekt angeht, so initiiert Jakobson zunächst eine „kommunikative" Wende in der Bestimmung des Poetischen, einen Blick nicht so sehr auf die sprachlichen,

3 Vgl. Schlieben-Lange 1980.

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textuellen Strukturen, sondern auf die Sprechsituation. Er erweitert also die Perspektive der Theorie der poetischen Sprache auf das, was wir heute Pragmatik nennen würden. Der Tradition der Prager Schule folgend, geht er von Bühlers Sprachfunktionen aus und entdeckt die poetische Funktion als eine der Funktionen des Sprechens (deren Zahl er unnötig vergrößert). Seine berühmte Definition der poetischen Funktion der Sprache ist: „the set [Einstellung] towards the message as such" (Jakobson 1960, 356). Das bedeutet hauptsächlich, daß wir bei der poetischen Funktion weder uns um die Referenz (was gesagt wird) kümmern, noch die illokutionäre Kraft des Sprechakts beachten, sondern daß wir einfach nur darauf sehen, wie wir sprechen. Der Fokus der Aufmerksamkeit in der poetischen Rede ist das Medium selbst, das Medium (Sprache) ist die Message. 4 Auch wenn dies weit entfernt ist von den Spitzerschen Abweichungen von der allgemeinen sprachlichen Norm, so kann doch diese als eine besondere kommunikative Konstellation aufgefaßte poetische Funktion auch als abweichendes Verhalten beschrieben werden. Bei außer-sprachlichen Botschaften wird besonders deutlich, daß die „Einstellung auf die Nachricht als solche" eine kommunikative Aberration ist. Wenn wir auf Verkehrszeichen mit der Einstellung auf die Nachricht als solche schauen, werden wir wenn wir Glück haben und nicht in dem daraus resultierenden Unfall unser Leben verlieren - rasch von einem Polizisten angehalten werden, der uns an die Tatsache erinnert, daß dieses Zeichen nicht nur sehr schöne Formen und Farben hat, sondern daß es „Stop!" sagt und daß wir ihm gefälligst zu folgen haben. Jakobson seinerseits würde allerdings auch gar nicht so romantisch auf Verkehrszeichen glotzen. Er nimmt ja eher an, daß wir gleichzeitig auf das schöne Verkehrszeichen schauen und seiner Aufforderung nachkommen können. Jakobsons poetische Aberration schließt nämlich die anderen Funktionen nicht aus. Seine Definition der poetischen Funktion ist zwar die alte Prager Definition der poetischen Funktion, aber mit einer sehr charakteristischen Änderung: Sie ist eine schwache Version der radikalen Prager Definition (und des radikalen Russisch-Prager Konzepts der Ent-Automatisierung - der Befreiung der Sprache oder anderer Techniken und Objekte von der Automatisierung, von den Zwängen des „wirklichen Lebens"). In seinem Wörterbuch der Prager Schule sagt Vachek noch, daß Sprache entweder kommunikativ oder poetisch ist: s o i t . . . soit: „II [le langagage] a soit une fonction de communication . . . soit une fonction poetique." (Vachek 1960, 34.) Jakobson ändert dieses Entweder-Oder aber ganz bewußt in ein Sowohl-Als-Auch um. Die poetische Funktion ist nicht die große Alternative, sondern sie ist nur eine Funktion unter anderen. Jede Rede kann auch poetisch sein. U n d die literarische Rede ist umgekehrt auch referentiell und hat auch illokutionäre Kraft und ist somit von praktischer Rede nur quantitativ verschieden.

4 Vgl. die Bestimmung der poetischen Funktion in der Prager Schule: „ D a n s son röle social, il faut distinguer le langage suivant le rapport entre lui et la r6alit6 extra-linguistique. II a soit une fonction de communication, c.-ä-d. qu'il est dirigd vers le signifiö, soit une fonction po6tique, c.-ä-d. qu'il est dirigd vers le signe lui-meme." (Vachek 1960, 34.)

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Die Strategie hinter dieser Veränderung ist natürlich, eine Brücke zu schlagen über die große Kluft zwischen dem Poetischen und dem Kommunikativen. Es ist in gewisser Weise eine neo-klassische Haltung: Das Poetische kann überall gefunden werden, das literarische Sprechen liegt nicht außerhalb der Domäne normalen Verhaltens, und auf der anderen Seite kann jedes „normale" Sprechen auch poetisch sein. Das Poetische ist einfach ein Achten auf formale Qualitäten, auf Distinktion. Natürlich hat Jakobson recht. Aber seine Theorie der poetischen Funktion ist damit eine Theorie der Alltagsästhetik. Sie ist, wie ihr schärfster Kritiker E. Coseriu gesagt hat, eine Theorie der Perfektion von Alltagsgegenständen.5 Sie ist, so würde ich zu präzisieren versuchen, eine Theorie des Designs: Wir werfen einen Blick auf den schön entworfenen Löffel, und dann essen wir unsere Suppe; wir sehen sofort, wie schön dieses Auto gestylt ist, dann setzen wir uns hinein und fahren los usw. Auf die gleiche Weise bemerken wir die formalen Qualitäten eines Textes und dann kommunizieren wir mit ihm. 6 Kunst und Poesie sind in der Perspektive dieser Theorie nur quantitativ intensivere Formen von Design. Wie schon gesagt, gibt Jakobson die linguistische Perspektive aber nicht gänzlich auf. Er stellt die Frage nach „objektiven" Kriterien im Text für die Präsenz jener kommunikativ begründeten poetischen Funktion. Seine objektiven textuellen Kriterien sind allerdings nicht Merkmale der Abweichung von der Norm, sondern Kennzeichen der Distinktion: um jene Einstellung auf die Nachricht/den Gegenstand als solche hervorzurufen, sollen das Auto, der Löffel, der Text Distinktion im Design aufweisen. Abweichung würde ja erneut die große Kluft zwischen normaler und poetischer Rede aufreißen, die Jakobson gerade überbrücken will. Deshalb ist Jakobsons objektives Kriterium für die distinktive Design-Qualität von Texten und Gegenständen nicht die Deviation von der Norm, sondern eine Technik des Schön-und-Auffällig-Machens. Seine berühmte Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ist ein Verfahren, das die Aufmerksamkeit auf den Signifikanten lenkt, ohne dessen normales Funktionieren zu gefährden. Jakobson denkt dabei vor allem an die traditionellen Instrumente der Metrik, deren Effekte die Projektionsthese im wesentlichen umschreibt. Nun hat schon Aristoteles gesagt, daß apophantische Rede, praktische kommunikative Texte nicht zu Poesie werden, wenn sie durch Reim und Metrum schön gemacht werden. Ein Traktat über den Ackerbau wird durch schönes Design nicht zum Gedicht. Im Sinne dieses alten Arguments wurde dann auch gegen die Design-Konzeption von Poesie im Namen „echter" Poesie Einspruch erhoben.

5 Vgl. Coseriu 1980, 59f. 6 Es ist ja daher auch kein Zufall, daß Jakobson die poetische Funktion gerade an einem nichtpoetischen Text exemplifiziert: „I like Ike". E r stellt die Design-Qualitäten dieses Textes heraus.

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Doch bevor ich mich diesem Protest anschließe, muß ich noch einmal auf das Problem der Abweichung zurückkommen. Roman Jakobson möchte die poetische Funktion ins wirkliche Leben re-integrieren, und dementsprechend ist sein linguistisches Kriterium für Poetizität nicht die Abweichung von einer sprachlichen Norm. Dennoch können beide Elemente seiner Theorie der Poetizität auch als Abweichung beschrieben werden. Zum ersten Element haben wir schon gesagt, daß es überhaupt nicht ganz normal ist, die Aufmerksamkeit auf die Nachricht als solche zu richten: je stärker die Einstellung auf die Nachricht als solche, desto stärker weicht man ab (gegebenenfalls von der Autobahn, um bei unserem Beispiel der Verkehrszeichen zu bleiben). Was nun das zweite Kriterium, die Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse, betrifft, so handelt es sich natürlich auch hier um eine eklatante Verletzung sprachlicher Normalität: Normalerweise sind nämlich benachbarte sprachliche Elemente kontrastiv, d. h., sie folgen aufeinander und sind so verknüpft, daß diese Folge einen Sinn ergibt; normalerweise kümmern sich sprachliche Elemente in einer Sequenz nicht um Äquivalenz wie die Elemente der paradigmatischen Achse. Durch Reim oder Alliteration verbundende Elemente sind nun aber einmal äquivalent. Da Jakobsons Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse ein fundamentales Prinzip der Konstruktion „normaler" sprachlicher Äußerungen umkehrt, ist sie durchaus ein sprachlich deviantes Verfahren. Jakobson entgeht der Abweichungsfalle also nicht.

5. Abweichung in der Normalität Mary Pratt (1977) hat gerade deswegen die Jakobsonsche Theorie der poetischen Sprache als eine fallacy kritisiert. Sie will die Differenz zwischen normaler und poetischer Sprache ein für allemal tilgen, so daß der literarische Diskurs als ebenso normal erscheint wie der Alltagsdiskurs. 7 Aber auch die von ihr nun entdeckte Bedingung der Möglichkeit literarischen Sprechens erweist sich letztlich als eine Abweichung von Normalität, auch wenn es sich um eine pragmatische und nicht um eine strikt sprachliche Abweichung handelt und auch wenn es eine Anormalität ist, die innerhalb des alltäglichen Sprechens vorkommt: es geht um das sogenannte Ignorieren (flouting) der Konversationsmaximen. Grice (1975) hatte beobachtet, daß man auch im alltäglichen Gespräch die sogenannten Konversationspostulate nicht immer einzuhalten braucht, daß man also auch in normaler Rede obskur, irrelevant, uninformativ und unehrlich sein kann, wenn man bestimmte Informationen einer höheren Ordnung mitteilen möchte, die sogenannten Implikaturen. Die Tatsache, daß man in literarischen Texten nicht die Wahrheit sagen muß, daß man dunkel usw. sein kann, ist nun nach Pratt dem flouting der Konversationspostulate in der Litera-

7 Es gibt noch einen anderen Ausweg aus dem Dualismus: Während es für Pratt keine solche Qualität Poetizität gibt, ist für den französischen Theoretiker Meschonnic jeder Diskurs poetisch, vgl. Trabant 1990a.

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tur zu verdanken. Der einzige Unterschied zu normaler Konversation wäre also, daß in literarischer Rede die Griceschen Konversationsmaximen häufiger ignoriert würden. Literarische Rede ist damit weder abweichend noch distinktiv, sie ist eine (bloß quantitative) Abweichung innerhalb der Normalität. Wie ich an anderer Stelle gesagt habe, 8 ist es in der Tat vom Standpunkt des alltäglichen Sprechens aus nicht falsch zu behaupten, daß Hölderlin beispielsweise die Maxime der Modalität „Sei so klar wie möglich!" eklatant verletzt. Hölderlin ist überhaupt nicht klar, wenn er sagt: „Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet/ Die Frücht der Erd". Und wir könnten nun schließen, daß er uns durch diese Dunkelheit, die die Maxime der Modalität „floutet", etwas anderes mitteilen möchte. Dies ist zwar eine mögliche, aber keine besonders elegante Beschreibung des poetischen Prozesses. Ich würde einwenden, daß es dem Vorgang des poetischen Schaffens und des Poesie-Lesens sehr viel näher kommt, wenn man annimmt, daß es dort gar keine solchen Maximen gibt, daß dort der ganze Mechanismus von Zwängen des „normalen" Sprechens aufgehoben ist. Wenn Gricesche Maximen im poetischen Sprechen einfach nicht gelten, dann ist Hölderlin völlig frei zu sagen, was er sagen will, nämlich: „Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet/ Die Frücht der Erd".

6. Ent-automatisierung

und Freiheit

Solange wir die poetische Rede vom Standpunkt der alltäglichen Rede und der sogenannten normalen Sprachproduktion aus betrachten, gibt es keinen Ausweg: Die poetische Rede wird dann, auf die eine oder andere Weise, wohl als Abweichung beschrieben werden müssen. Auch die klassische Distinktion ist in dieser Hinsicht eine - allerdings vertikale - Abweichung vom Weg der Normalität. Deshalb möchte ich gerne, auch im Hinblick auf die ethischen Implikationen, vorschlagen, die Blickrichtung umzukehren und die alltägliche Rede von der poetischen Rede aus zu betrachten. Dann werden wir nämlich erkennen, daß das alltägliche Sprechen etwas ist, was unter dem Zwang von Tausenden von Gesetzen steht: das normale Sprechen hat den grammatischen Regeln einer gegebenen Sprache zu folgen, es muß die der sozialen Situation angemessene Sprachvarietät korrekt auswählen, es muß Wahrheitsbedingungen, Konversationsmaximen, pragmatischen Bedingungen des Glückens der Sprechakte gehorchen etc. Alle diese Regeln sind Reduktionen der sprachlichen Möglichkeiten des Menschen im Hinblick auf eine praktische kommunikative Aufgabe, d. h., sie bewirken ein vielfältiges Abweichen der Sprache von der Fülle ihrer Möglichkeiten. Nicht die poetische Rede, das normale Sprechen weicht ab. Dies ist der Kern von Coserius (1980) extrem romantischer Theorie des poetischen Sprechens: Poetisches Sprechen ist für ihn die völlig freie Sprachproduktion eines absolut

8 Vgl. Trabant 1990b.

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freien Subjekts. Das Wichtige an Coserius Position ist dabei nicht so sehr die etwas altmodische Auffassung eines absoluten poetischen Subjekts, das die Alterität (hier als die Dimension des anderen in der sprachlichen Kommunikation verstanden) aufgibt. Ich denke, daß auch bei der poetischen Rede die ganze Konstellation des Sprechens beibehalten wird: Ich - Du - Welt (sonst hätten wir hier nämlich eine kommunikative Abweichung). Das Wichtige an Coserius Position ist aber vor allem, daß er die poetische Rede, dieses Sprechen ohne Zwänge, als nicht deviant betrachtet, sondern daß sie ihm das eigentliche Sprechen ist, Sprache in ihrer „funktionalen Fülle" - in ihrer „plenitud funcional". Auch Coseriu nimmt dabei den Russisch-Prager Terminus der Ent-automatisierung auf, allerdings in seiner alten Radikalität. Dieser Terminus charakterisiert Poetizität als Negation einer Negation: Das Automatische ist das Negative, es ist die Präsenz von Zwängen im sogenannten normalen Leben. Dieses, die Normalität, ist Abweichung von der Freiheit. Die Negation dieses Automatischen, dieses Reduktiven, dieser Zwänge, die Abwesenheit von Negationen ist somit nichts Negatives, ist keine Deviation; sie ist im Gegenteil die Befreiung von dieser „Normalität" genannten Abweichung. Sie ist Freiheit. Dies klingt sehr ästhetizistisch, und Ästhetizismus steht im Gerüche moralischer Indifferenz. Freiheit in diesem absoluten Sinn ist in der Tat auch eine Lokalisierung jenseits moralischer Zwänge, wenn im Poetischen die Zwänge zur Wahrheit und zu praktischer pragmatischer Kooperation aufgehoben sind. Dennoch bedeutet diese „ästhetizistische" Position nicht, daß sie nicht die wichtigsten ethischen Konsequenzen hätte. Die ethischen Implikationen jenes veränderten Blicks, vom Ästhetischen - von der „Dichtung" (wie Coseriu emphatisch sagt) - auf das „wirkliche Leben", sind sogar evident: Es gibt in der Dichtung keine Zwänge in der intersubjektiven Beziehung; der Leser-Hörer glaubt generös, was man ihm sagt; nach Sartres schöner Wendung macht sich der Leser „leichtgläubig" („il se fait credule") in einem Pakt der Großherzigkeit mit dem Autor, einem „pacte de generosite". Es gibt keine Zwänge, „wahre Welten" darzustellen; man kann über Leute sprechen, die am Morgen als Käfer aufwachen. Es gibt keinen Zwang, klar oder relevant zu sein. Was ist am „Faust" relevant? Goethe hätte das Relevante vermutlich in zwei Sätzen sagen können. Die Regeln der Grammatik können befolgt werden oder auch nicht. Wer sagt, daß wir nur eine Sprache in einem Text sprechen dürfen? Wir können gleichzeitig mehrere Sprachen sprechen, wir können uns wie Joyce selber eine Sprache zurechtmachen. Und die ethische Botschaft hiervon kann doch nur sein: Dies ist der Ort der Freiheit, der Kreativität, der Generosität. An einem solchen Ort gibt es keinen Raum für Anstiftung zum Mord, für Haß oder Unterdrückung. Und wir können fortfahren: Laßt uns diesen Ort schützen. Wir müssen ihn schützen, so wie wir den Regenwald schützen müssen. Poesie ist nämlich der Regenwald des sozialen Lebens. Gewiß leben wir auch ohne sie noch für eine gewisse Zeit weiter, doch dann geht uns die gesellschaftliche Luft zum Atmen aus, das gesellschaftliche Trinkwasser, die gesellschaftliche Nahrung wird fehlen, und wir werden gesellschaftlich, als Menschen, sterben. Wir werden vielleicht weiterhin vegetieren, wie Ameisen, angetrieben von zwanghaften gesellschaftlichen Gesetzen, in völliger Normalität, ohne irgendeine Mög-

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lichkeit zur Abweichung. U n d deshalb und in diesem neuen Sinn - nicht im Sinne eines irgendwie höheren gesellschaftlichen Standards in einer Gesellschaft voller Zwänge - ist poetisches Sprechen distinktiv: Es ist die Distinktion der Spezies.

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Rene Girard

Die Einheit von Ethik und Ästhetik im Ritual

Worin besteht die Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik? U m zu relevanten Antworten auf diese Frage zu gelangen, müssen beide Begriffe genauer untersucht werden. Wie Heidegger bin ich der Auffassung, daß ethisches und ästhetisches Verhalten weder aus allgemeinen Begriffen abgeleitet noch mit Hilfe einer vergleichenden Untersuchung exemplarischer Fälle bestimmt werden kann. Bereits die Auswahl unserer Begriffe unterstellt, wir wüßten, worüber wir sprechen. Unweigerlich gerieten wir so jedoch in die endlose Bewegung des hermeneutischen Zirkels. Was Heidegger zu Beginn seiner Schrift über den Ursprung des Kunstwerks ausführt, trifft ebenso auf die Ethik zu: Das Wesen der Ethik kann weder aus Begriffen und Prinzipien abgeleitet noch durch Auswahl und Vergleich von Merkmalen ethischer Handlungen oder Einstellungen begriffen werden. Wenn diese Verfahren angewandt werden, führen sie zur Selbsttäuschung. Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma liegt in einer alten Definition von Kunst und Ethik, die ihren Ausgangspunkt vom Begriff „Mimesis" nimmt. Einer der ältesten Zusammenhänge, in denen der Begriff „Mimesis" auftaucht, ist der Tanz. Doch was bedeutet dies für Ethik und mimetische Ästhetik? An sich gehört der Tanz zu den weniger mimetischen Künsten. Wenn vom mimetischen Charakter des Tanzes die Rede ist, dann wird unter „Tanz" keine besondere Kunstform verstanden, sondern „Tanz" wird als Teil eines Rituals, einer religiösen Handlung begriffen. U m das Verhältnis von Ethik und Ästhetik zu präzisieren, müssen wir Ethik und Ästhetik auf Ritual und Religion zurückbeziehen. Dies geschieht selten. Wir haben verlernt, die Bedeutung der Religion für die Entstehung der Kultur zu begreifen. Für viele in unserer Kultur ist Religion kaum mehr als Aberglaube. Eine solche Sichtweise verrät ein oberflächliches oder gar vollständig fehlendes Verständnis von Religion. Wegen dieses unzulänglichen Verständnisses von Religion gerät unsere Kultur in eine Sackgasse. Immer wenn wir die Grenzen unseres Wissens zu erweitern versuchen, stoßen wir auf Religion. D a uns die Bedeutung der Religion in diesem Prozeß undurchsichtig

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bleibt, geraten wir in den hermeneutischen Zirkel und in nutzlose Tautologien. Heidegger ist insoweit Humanist, als er der Philosophie nicht entfliehen kann. Sein „Schritt zurück" in die Vergangenheit unserer Kultur ist lediglich ein Schritt von Piaton und Aristoteles zu den Vor-Sokratikern. Wir benötigen jedoch einen weiteren und entscheidenderen „Schritt zurück" zu einem religiösen, einem rituellen Anfang. Dieser Schritt und die sich aus ihm ergebene Dekonstruktion unserer Kultur ist möglicherweise für unser Denken zu radikal, doch kann er mit Hilfe von Mimesis erfolgen, die in und über Rituale starke Wirkungen erzeugt. Rituale sind in dem Sinne mimetisch, daß sie weder ausschließlich ästhetisch noch ethisch, sondern beides zugleich sind. In Ritualen fallen Ästhetik und Ethik noch nicht auseinander. In welchem Sinn sind Rituale mimetisch? Wenn Anthropologen frühe Kulturvölker erforschen, untersuchen sie auch, aus welchen Gründen Rituale vollzogen werden. Von den Angehörigen früher Kulturen erhalten sie häufig zur Antwort, daß Rituale eine Form der Befreiung seien. Damit drücken jedoch die Befragten nur das aus, was die Anthropologen zu hören wünschen; doch sie sollten sich eingestehen, daß dieser Grund für die Inszenierung von Ritualen im Interesse der örtlichen Fremdenindustrie liegt. Demgegenüber ist die traditionelle Antwort stets und überall die gleiche: Wir ahmen unsere Vorfahren nach, tun, was unsere Altvorderen immer getan haben. Das Ritual ist also Nachahmung auf der Grundlage eines Pietätsgefühls, aus dem heraus den Vorfahren Folge zu leisten ist. Noch wichtiger ist die Wiederholung des Rituals, weil die Wiederholung der einzige Weg ist, um die in einer Kultur auftretenden sozialen Spannungen abzugleichen und ihrem gewaltsamen Zerfall vorzubeugen. Daher ist das Ritual ethisch; doch es ist ebenso ästhetisch; denn es kann alles das erfinden, was wir Kunst nennen: den Tanz, die Bemalung des eigenen Körpers, das Tragen ritueller Masken. Diese Ausdrucksformen betrachten wir heute wie Kunstwerke. D a s Ritual umfaßt darüber hinaus die Erzählungen der Ereignisse, die im Ritual geschehen und die Mythos genannt werden. Nach Heidegger ist der Mythos das erste poetische Wort, das den Kulturraum öffnet. Was geschieht im Ritual, was ahmt es nach? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten; verschiedentlich habe ich versucht, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Hier kann ich nur einige Überlegungen dazu entwickeln. Nach meiner Auffassung ist die sich im Ritual zeigende Mimesis weit entfernt vom Verständnis moderner Ästhetiker, das sie auf das Sanfte und Naive reduziert. Mimesis zielt auf Trennung, ist konflikthaft und mit Gewalt durchsetzt. Diese Seite der Mimesis wahrzunehmen, mißlang der philosophischen Tradition einschließlich Heidegger. Sobald wir erkennen, daß Mimesis nicht bloß Mimikry der Sitten, Einstellungen und Verhaltensweisen ist, sondern Aneignung, wird Mimesis zu Begehren. Dieses Begehren umfaßt die ganze dynamische Dimension des menschlichen Projekts: „elan vital" im Bergsonschen Sinn, Freiheit, Instinkt, Antrieb, Ambition, Hybris. Mimesis ist eine Quelle von Konflikten, eine trennende Kraft zwischen Menschen, die dieselben Gegenstände, Positionen oder Menschen begehren. Mimesis ist auf schreckliche Weise zerstörerisch und konfliktgeladen. Wie kann es gelingen, sie zu transformie-

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ren? Wie kann ihre dramatische Kraft gleichzeitig ethische, ästhetische und erzieherische Dimensionen umfassen? Eine Umwandlung der Mimesis findet spontan, mechanisch, jedenfalls nicht durch bewußtes menschlichcs Handeln statt. Die Identifizierung dieses Mechanismus der Transformation der Mimesis ist für die Humanwissenschaften von hohem Interesse. Auf dem Höhepunkt mimetisch erzeugter Konflikte kommt es innerhalb der in der Krise befindlichen Gemeinschaft dazu, daß sie sich gegen einen einzigen Gegner zusammenschließt, dessen Tod die Gemeinschaft wieder befriedet. Dieser Gegner wird so wahrgenommen, als habe er allein die Spaltung der Gemeinschaft herbeigeführt und als könne durch seinen Tod der Frieden wieder hergestellt werden. Religion ist real und insoweit wahr, als sie dieses Opferungs- und Opferprinzip als übernatürliche Epiphanie ausweist. Zwar trifft dies in mancher Hinsicht nicht zu, doch in anderer Hinsicht ist es wiederum wahrer als vieles, was wir glauben. Denn dieser Mechanismus existiert tatsächlich und ist vom Menschen kaum beeinflußbar. Zwar kann er auf die eine oder andere Weise gesteuert, niemals aber kann er wirklich beherrscht werden. Obwohl dieser Automatismus allen Techniken zugrunde liegt, kann er selbst niemals wirklich in eine Technik überführt werden. D a s Ritual ist das Drama der Mimesis, das insoweit ein „glückliches" Ende findet, als ein Opfer oder mehrere zur Wiederherstellung des Friedens ausreichen. Die dankbare Gemeinschaft wird dieses Drama auch weiterhin solange mit Ersatzopfern aufführen, wie es ihr zur Wiederbelebung der nützlichen Wirkungen der ursprünglichen Opferung erforderlich zu sein scheint. Diese jeweilige Neuinszenierung des ursprünglichen Opfers ist mimetisch und hat einen ethischen Sinn. Denn ihre Absicht besteht darin, die Beziehungen unter den Mitgliedern der Gemeinschaft zu verbessern. Die jeweilige Neuinszenierung ist mimetisch in einem ästhetischen Sinn. Denn sie wiederbelebt und vergegenwärtigt noch einmal die machtvollen mit der ursprünglichen Erfahrung einhergehenden Gefühle: Hybris, Ambition, Haß, Furcht, Gewalt, Frieden, Dankbarkeit. Sie vergegenwärtigt diese Emotionen erneut und repräsentiert sie durch eine mimetische Gestaltung in Handlungen und Worten. Diese gehen ins Tanzen und Singen und in die Zusammenrottung der Menschen zur Tötung des Opfers über. Sehen wir uns Struktur und Verlauf des Rituals näher an, so erkennen wir, daß die Menschen von der Mimesis des Konflikts so sehr fasziniert sind, daß die Situation sich zuspitzt, so daß es zur Zusammenrottung gegen einzelne Opfer kommt, in deren Folge die Verwandlung gewalthaltiger Mimesis in die „gute" Mimesis einer rituellen Handlung gelingt. In diesem Prozeß wird ein Opfer als Sündenbock identifiziert, das die allgemeine Feindschaft auf sich zieht, und auf dessen Kosten der Frieden der Gemeinschaft wiederhergestellt wird. U m „kathartisch" zu wirken, müssen das Ritual oder später die Tragödienaufführung einen bestimmten Grad der Beteiligung an der ihnen zugrundeliegenden Unordnung und soziale Krise aufweisen. In der Aufführung der Tragödie wird die vollständige Verantwortung für die soziale Krise und das Chaos dem „Helden" aufgebürdet. Er gilt als schuldig und wird geopfert. Die anderen Personen, die an der der Tragödie zugrundeliegenden Krise beteiligt sind, verlassen die bis zu diesem Zeitpunkt gültige Ordnung des

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sozialen Systems. Zunächst treten sie durch ihr radikales gewalthaltiges Verhalten in Erscheinung; dann projizieren sie einen unbändigen Zorn auf das Einzelopfer, den Sündenbock, mit dessen Hilfe ihre eigenen Vergehen nach außen verlagert und aus der Gemeinschaft ausgesiedelt werden. Der Symbolismus der „Reinigung" entsteht aus der Wirklichkeit einer kollektiven Übertragung negativer Gefühle auf den Sündenbock. Auf der individuellen Ebene besteht der Reinigungsvorgang bzw. die kathartische Operation des Rituals vorrangig im Nicht-Nachahmen des „Helden", im Sich-Fernhalten von der Art eines Verhaltens, das den „Helden" in die in der Tragödie dargestellte Not stürzt, indem es ihn in mimetische Rivalitäten verwickelt und schließlich zu seinem Tode führt. In ethischer Hinsicht sind die wichtigsten Teile einer Tragödie gerade die Passagen, in denen die Mitglieder des Chors sich gegenseitig beglückwünschen, sittsame und normale Menschen zu sein, die sich niemals zu einem Verhalten, wie es in den Handlungen des „Helden" zum Ausdruck kommt, hinreißen lassen würden. Die Mitglieder des Chors bestärken einander nachdrücklich darin, auf keinen Fall derartig außergewöhnliche Menschen nachahmen zu wollen, die zwar großartige Höhepunkte erreichen, die aber für den sie treibenden Hochmut mit öffentlicher Schande, Leid und Tod zu zahlen haben. Der Sturz des „Helden" vollzieht sich in der Tragödie erst, nachdem in ihrem Verlauf eine gewisse Identifikation des Zuschauers mit dem „Helden" entstanden ist. Zuerst kommt es zur Identifikation mit dem hochmütigen „Helden", dann erfolgt seine Verwerfung und Preisgabe. In ethischer Hinsicht lernen alle Bürger der Polis von der Tragödie dasselbe, was früher die Menschen von religiösen Ritualen zu lernen hatten. Als einzelner Mensch, als Individuum dürfen sie den „Helden" nicht nachahmen. Damit sie seinem gefährlichen Beispiel auf keinen Fall folgen, sollen die Teilnehmer des Rituals bzw. die Zuschauer der Tragödie „Furcht" und „Mitleid" empfinden. Diese Gefühle sollen viel stärker und nachhaltiger sein als der Impuls zur Bewunderung, der zur Nachahmung des Verhaltens des „Heldens" führen könnte. Der „Held" und seine Tragödie dürfen nur kollektiv nachgeahmt werden, von der gesamten Polis, die im Ritual oder in der Aufführung der Tragödie dadurch gemeinsam handelt, daß sie die tragische Handlung neu in Szene setzt. Von dieser Sicht aus können wir die Theorie der Katharsis in der Poetik in einem neuen Licht lesen. Piaton sieht den Mechanismus mimetischer Identifikation mit dem „Helden" deutlich und begreift, daß vor allem hierin die Wirkung des literarischen Werks und des religiösen Rituals liegen. Nach seiner Auffassung kommt es in jedem Fall zur Nachahmung eines schlechten Vorbildes, selbst dann, wenn das Vorbild später verworfen und abgelehnt wird. Daher fürchtet er die Macht negativer Vorbilder, die er für unkontrollierbar hält. Vor allem die in den Ritualen zum Ausdruck kommende Gewalt stößt ihn ab. Da eine Identifizierung mit ihr nicht vermeidbar ist, sollen Rituale und Tragödien in der Politeia nicht inszeniert werden. Aus dem gleichen Grunde mißtraut Piaton der Homerischen Dichtung. Sie konfrontiert uns mit schlechten Vorbildern, deren Verführung zur Nachahmung wir nicht widerstehen können. Deshalb erscheint Ethik, wenn sie von der Ästhetik getrennt ist, als Nachahmung guter Vorbilder - des Guten an sich.

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Bezogen auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik bedeutet das: In der Nachahmung guter Vorbilder sind Ethik und Ästhetik eng miteinander verbunden. Treten Ethik und Ästhetik auseinander, ist Ziel die Nachahmung des Guten an sich. Da Piaton die Macht der Identifikation betont und an die Möglichkeit einer anschließenden Korrektur der mimetischen Identifikation nicht glaubt, sieht er keinen anderen Weg als den, die für die Unordnung und Unruhe Partei ergreifende Kunst und Dichtung aus der Politeia auszuschließen. Demgegenüber schätzt Aristoteles in seiner Theorie der Katharsis die Macht der Mimesis geringer ein und vertraut auf die reinigende Kraft der „Furcht" vor dem tragischen Ausgang und des „Mitleids" mit dem untergehenden „Helden". Zwar sind Aristoteles' und Piatons Einschätzungen sehr verschieden, doch haben sie eines gemeinsam. Beide werden der Komplexität der Geschehnisse nicht gerecht, die sich zunächst in den Ritualen und dann in der Tragödie und der Kunst ereignen, solange diese noch wie Rituale funktionieren. Beide erkennen nicht, daß der Beteiligung an Ritualen eine Verstrickung in Unordnung und Chaos zugrunde liegt, und daß erst auf dieser Grundlage die Identifikation mit dem künftigen Opfer erfolgt, das schließlich verstoßen wird. Selbst Aristoteles sieht diese Ambivalenz der Zuschauer der Tragödie gegenüber dem Opfer nur ansatzweise. Das entscheidende Charakteristikum des Rituals, das auch das bestimmende Merkmal der Tragödie ist, besteht in folgendem Schema: N u r wenn man in Chaos, Unordnung und Krise verstrickt ist, ist eine Rückkehr zur Ordnung mit Hilfe von Ritual und Tragödie möglich. Um Rituale und magische Inszenierungen zur vollen Entfaltung kommen zu lassen, bedarf es eines Sündenbocks als Mittel der Verwandlung, der aufgrund seiner Funktion für die Gemeinschaft später von ihr sehr geschätzt wird. Erst nach Piaton und Aristoteles setzt sich Differenz und Gegensätzlichkeit von Ethik und Ästhetik durch. So wurde Kunst entweder moralistisch zu einer Mimesis ausschließlich guter Vorbilder. Dann gab sie vor, lediglich Heilmittel ohne Beimischung von Gift zu sein. Oder Kunst verstand sich anti-mimetisch und wollte nur im Sinne der Avantgarde Gift ohne die Beigabe eines Heilmittels sein. In diesem Fall wurde sie dann aber in Wirklichkeit zu einer Mimesis der Unordnung, des Rituals, der Rebellion. In der Postmoderne gewinnt Mimesis wieder an Bedeutung. Doch sie ist heute eher Nachahmung mit dem Ziel der Verspottung, der Parodie, der Simulation als konstruktive Mimesis. Ausgangspunkt jeder Kunst ist das Ritual. In der Moderne stoßen wir auf einen tiefen Bruch mit dem rituellen Prinzip. In der Geschichte der Kunst hat es mehrere derartige Brüche gegeben. Sie erfolgten in Perioden des Ungleichgewichts, in deren Verlauf der Schwerpunkt entweder wie im Elisabethanischen Zeitalter auf einer Mimesis der Unordnung lag oder in der wie in der Klassik der Akzent auf eine Mimesis der Ordnung gelegt wurde. Diese Brüche haben ihren Grund darin, daß sich die seit der griechischen Antike bestehende Trennung zwischen Ethik und Ästhetik langsam auflöst. Es kommt zur Entdeckung der ethischen Dimension von Ästhetik und der ästhetischen Dimension von Ethik. Doch reicht diese Spaltung heute tiefer als in früheren Krisen. Der Grund dafür liegt in der Unfähigkeit des Christentums, an das Ritual zu glauben. Sie ist ihrerseits der Grund

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für unsere fehlende Fähigkeit, ein in sich geschlossenes kathartisches Ende zu erreichen. Diese Unfähigkeit entstand durch den vollständigen Bruch mit der Form des Opfers, also mit der Ritualform, die Ausdruck eines Bewußtseins von der Notwendigkeit von Opfern war. Lange Zeit geriet das Opfer lediglich als Opfer in den Blick. Nun zeigen wir eine allgemeine Anteilnahme für das Opfer als Mensch. Darin liegt nicht bloß, wie Nietzsche glaubte, eine List des Willens zur Macht, eine Rache des Schwachen gegen den Starken, sondern ein äußerst machtvolles religiöses Prinzip, das jüdisch-christliche Prinzip, das über weit mehr Macht verfügt als alle Versuche etwa Heideggers, den Paganismus wiederzubeleben. Vielleicht steht ein Ende der kathartischen Ästhetik an. Denn es gibt eine möglicherweise unwiderstehliche Tendenz zu einer Wiederkehr der frühen Einheit von Ethik und Ästhetik in neuer Gestalt. Sie ist dem jüdisch-christlichen Verständnis der Opferung mit ihrem ästhetischen und ihrem politischen Wirkungsverlust zu verdanken. In Piatons Werk ist die Trennung zwischen Ethik und Ästhetik deutlich zu sehen. Piaton kritisiert Homer und die Dichter im allgemeinen und damit implizit das Ritual und die Religion insgesamt. Denn sie bieten den Menschen nur unzulängliche und gewalthaltige Vorbilder, skandalöse Modelle, die nicht nachgeahmt werden dürfen. Dabei scheint Piaton zu vergessen, daß diese „Helden" keine Vorbilder sind, denen man nacheifern soll, sondern daß sie wirkliche Gegen-Modelle darstellen, deren Schicksal, wie Aristoteles hervorhebt, vermieden werden muß. Diese Gegen-Modelle werden in Ritualen zu Opfern und sind nur auf transzendentaler Ebene bewundernswert; denn sie sollen durch ihren Tod als Opfer die Bürger einsichtiger und weiser machen. Im antiken Griechenland wurde das Ritual entweder nicht verstanden oder es entfaltete keine seiner Bedeutung angemessene Wirkung. In Wirklichkeit kam es zu einer Kombination von Nachahmung und Nachahmungsvermeidung. Dabei wurde Nachahmungsvermeidung vor allem zum Anliegen der Religion. Das religiöse Verbot ist anti-mimetisch. Das Ritual führt zur Überschreitung des Verbots um der Mimesis willen. Angesichts dieser Situation gibt es eine Tendenz, eine „gute" Mimesis von guten Vorbildern von einer „schlechten" Mimesis schlechter Vorbilder zu unterscheiden. Unsere Unterscheidung zwischen Ethik und Ästhetik ist ein Ergebnis dieser Differenz.

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Gunter Gebauer/Christoph Wulf

Soziale Mimesis

Die Einschränkung von Mimesis auf Ästhetik und Nachahmung ist unzulässig. Mimesis bezeichnet die Fähigkeit, menschliche Verhaltensweisen, Handlungen und Situationen wahrzunehmen und nachzuvollziehen, auszudrücken und darzustellen. Dabei erfaßt sie auch die sich in den sozialen Situationen und Handlungen ausdrückenden institutionellen und individuellen Normen, ohne daß diese den Handelnden bewußt sein müssen. Bei Piaton und Aristoteles wird Mimesis noch nicht auf den später als „Ästhetik" bezeichneten Bereich begrenzt, sondern sie wird als soziale Fähigkeit begriffen, die in vielen Bereichen menschlichen Lebens eine Rolle spielt. Diese anthropologische Dimension von Mimesis bestimmt Aristoteles wie folgt: „Mimesis zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt — als auch durch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat." 1 Piaton setzt Mimesis im dritten Buch der Politeia mit einer der wichtigsten sozialen Handlungsformen, mit der Erziehung gleich. Mimesis führt zur Nachahmung von Handlungen und Vorbildern, Einstellungen und Werten, Fähigkeiten und Kompetenzen durch Kinder und Jugendliche. Dieser auf soziales Verhalten gerichtete Prozeß ist sinnlich; da er sich aller Sinne bedient, ist seine Vielschichtigkeit beträchtlich. In der Mimesis von Personen werden soziale Erfahrungen gemacht und entstehen soziale Kompetenzen. Sie bilden sich beispielsweise in der Praxis des Sprechenlernens, in der Entwicklung der Motorik und in der Bildung der Gefühle. Uber Prozesse sozialer Mimesis nimmt der Mensch an den Lebensformen anderer und an den in ihnen impliziten Normen und Werten teil, die so in seinen Körper und in sein Inneres eingeschrieben werden. In sozialen Prozessen vollzieht sich eine mimetische Ansteckung über Körperprozesse. Kinder ahmen schon früh komplexe, symbolisch kodierte Handlungen nach, ohne

1 Aristoteles, Poetik, hrsg. von M. Fuhrmann, 11.

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ein Bewußtsein von diesen und den in ihnen enthaltenen Werten und Normen zu haben. D a die sich über die Wahrnehmung vollziehende Aneignung von Einstellungen, Werten und Kompetenzen auf unterschiedliche Referenzrahmen stößt, unterscheiden sich auch die Ergebnisse sozialer Mimesis bei den einzelnen Menschen. Einerseits wirkt in diesen Prozessen eine deterministische Tendenz, die auf die genaue Übernahme von Handlungs- und Verhaltensformen zielt, andererseits enthalten diese Prozesse ein Moment individueller Gestaltung und Freiheit, die die Nicht-Voraussagbarkeit der Ergebnisse sozialer Mimesis bewirkt. Bei sozialer Mimesis handelt es sich also nicht um Imitation, sondern um Prozesse mit individuellen Veränderungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Kindern und Jugendlichen macht es Freude, sich mimetisch zu verhalten. Bereits bei den frühen Formen kindlichen Sprechens und Bewegens, etwa bei der kontinuierlichen Wiederholung und Vervollkommnung früher Lautgesten oder Bewegungsversuche, läßt sich diese Lust am mimetischen Handeln beobachten. In dieser Freude am Erfolg von Prozessen sozialer Mimesis liegt ein Grund für ihre Wirksamkeit. In ihrem Gelingen fühlt das Kind eine Fähigkeit entstehen, die es Erwachsenen ähnlich macht, die es zu ihnen gehören läßt und die ihm das Gefühl der Geborgenheit vermittelt. Im mimetischen, auf soziale Situationen gerichteten Wahrnehmungsakt werden die in diesem enthaltenen ethischen Normen und Werte vom Nachahmenden aufgenommen. In Familien und Bildungsinstitutionen bleiben diese mimetischen Vorgänge meistens unbewußt und entfalten gerade dadurch eine besonders starke Wirkung. In ihrem Verlauf werden auch die verborgenen Werte und Normen verarbeitet, die häufig im Widerspruch zu den offiziellen stehen. Diese mimetischen Prozesse vollziehen sich so intensiv, daß Piaton alles von jungen Menschen fernhalten will, was ihrer Fähigkeit entgegenstehen könnte, später Aufgaben in der Gesellschaft wahrzunehmen. Junge Menschen sollen daher nur vorbildliche Menschen vor Augen geführt bekommen; negative Vorbilder sollen von ihnen ferngehalten werden. Der Mimesis wird von Piaton eine fast deterministische Macht zugeschrieben, den jungen Menschen in die eine oder andere Richtung zu führen. Welche Ergebnisse soziale Mimesis bewirkt, hängt ab von dem Vorbild bzw. der Darstellung, auf die sie sich richtet, und von den Voraussetzungen des mimetisch Handelnden. Während Piaton die Wichtigkeit des Vorbilds erkennt, verkennt er die Bedeutung der unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen für die Ergebnisse sozialer Mimesis. Diese Voraussetzungen bestimmen jedoch wesentlich, welche Auswirkungen die negativen Vorbilder und Darstellungen auf die jeweiligen Individuen haben. Die Annahme, negative Vorbilder führten zwangsläufig zu negativen Auswirkungen, greift zu kurz. Die Ergebnisse mimetischer Prozesse sind nicht eindeutig; bezogen auf negative Vorbilder können sie negative Auswirkungen haben; sie können aber auch zur Immunisierung gegen das Negative führen. Aufgrund dieser Situation sichert der Ausschluß negativer Einflüsse noch lange nicht positive Ergebnisse der Erziehung. Dies hatte bereits Aristoteles erkannt, der angesichts der Macht der Mimesis eine Auseinandersetzung mit den negativen Darstellungen und Einflüssen für besser hält, damit der Mensch diesen nicht erliege, sondern gegen sie immunisiert werde. Also nicht Ausklammerung und Vermeidung, sondern Auseinander-

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setzung mit dem Negativen ist die Aufgabe. Dieser Auffassung entspricht auch die Aristotelische Tragödientheorie, in deren Mittelpunkt die Organisation der Fabel mit den von ihr ausgehenden kathartischen Wirkungen steht. Durch die Mimesis des „Plot" sollen die Zuschauer befähigt werden, sich gegen das „Schauererregende" und „Jammervolle" zu stärken. Nicht die Vermeidung des Schreckens, sondern die Stärkung des Inneren gegen seine Wirkungen ist das Ziel. Soziale Mimesis vollzieht sich nicht allein über die nachahmende Wahrnehmung lebender Vorbilder. Es können auch Vorstellungen bzw. Repräsentationen sein, die von Kunst, Dichtung oder Wissenschaft erzeugt werden, auf die sich die mimetische Aktivität bezieht. Nicht nur reale soziale Handlungen, sondern auch imaginäre Handlungen, Darstellungen und Bilder können zum Bezugspunkt sozialer Mimesis werden. Vön sozialer Mimesis soll die Rede sein, wenn sich mimetisches Verhalten auf reale oder imaginäre, literarische oder künstlerisch gestaltete Situationen, Handlungen oder Verhaltensweisen bezieht. In sozialen Situationen der Alltagswelt gibt es häufig wechselseitige mimetische Verhältnisse. Durch die von einer Person auf einen Anderen ausgehenden mimetischen Akte wird dieser dazu bewegt, sich ebenfalls mimetisch zu den auf ihn gerichteten Handlungen zu verhalten. Soziale Mimesis bewirkt Veränderungen bei den Menschen, die sich mimetisch auf andere beziehen, und nicht selten in der Folge auch Veränderungen bei denen, die anfangs der Bezugspunkt sozialer Mimesis sind. Somit ergibt sich eine für soziale Konstellationen charakteristische Situation wechselseitiger mimetischer Beeinflussung. Solche Situationen unterscheiden sich von einseitigen mimetischen Prozessen, wie sie in der Mimesis von Kunstwerken, Werken der Dichtung und der Musik stattfinden, bei denen sich der Ausgangspunkt „Kunstwerk" durch die Mimesis des Rezipienten nicht verändert. In „Face-to-face-Situationen" entsteht eine mimetische Spirale, in deren Verlauf sich die anfängliche soziale Situation durch die wechselseitigen mimetischen Bewegungen der an ihr beteiligten Personen weiterentwickelt. Da die mimetischen Elemente sozialer Prozesse in der sozialwissenschaftlichen Literatur kaum gesehen wurden, scheint es uns besonders wichtig, einige von ihnen im weiteren kurz zu skizzieren. In sozialen Situationen wird mit Hilfe von Mimesis praktisches Wissen erworben. Praktisches Wissen ist habituelles Wissen, das sich in sozialen Situationen über längere Zeiträume bildet. Einerseits ist es das Ergebnis von Erfahrungen, die aus früherem Handeln stammen; andererseits wird das so erworbene Wissen zum Ausgangspunkt zukünftiger Handlungen. Praktisches Wissen ist kein regelgeleitetes oder analytisches Wissen, sondern Handlungswissen. Es läßt sich daher logisch und begrifflich nur unzulänglich erfassen. Versuche, soziale Praxis eindeutig zu begreifen, scheitern daran, daß soziale Handlungen häufig relativ offen und unbestimmt sind, während ihre Interpretationen ihnen eine Eindeutigkeit und Logik zuschreiben, die sie nicht haben, derer sie aber auch nicht bedürfen. Sie beziehen sich auf körperliche Prozesse, die zwar in einem symbolisch organisierten Bedeutungsfeld stehen, die aber von diesem nicht eindeutig gemacht werden. Mit Hilfe sozialer Mimesis wird ein mehrdeutiges praktisches Körperwissen erzeugt,

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das Teil einer Lebenspraxis ist, die als solche vielschichtig, widersprüchlich und theoriewiderständig ist. Soziale Mimesis richtet sich auf symbolisch kodierte und normativ bestimmte Körperbewegungen, zu denen unter anderem Gesten, Rhythmen und Laute gehören. Uber die sinnliche Wahrnehmung und Anähnlichung gehen diese in das praktische Wissen des Sich-mimetisch-Verhaltenden ein. Soziale Handlungen, Verhaltensweisen, Reaktionen werden nachvollzogen und sind als Bilder, Lautfolgen oder Bewegungssequenzen im Inneren erinnerbar. Sie werden Teil der inneren Bilder-, Klang- und Bewegungswelt, setzen sich in der Imagination fest und können in neuen Zusammenhängen aktiviert und modifiziert werden. Mit Hilfe sozialer Mimesis werden neue Verhaltensweisen und Handlungsformen erworben. Durch Prozesse der Anähnlichung erfolgt eine Erweiterung bisheriger Lebensformen. Fremdes und Nicht-Verständliches kann so zugänglich werden. Wenn soziale Verhaltensweisen in „settings" fremder Kulturen ihren Ausgangspunkt haben, ist eine Annäherung über ein mimetisches Verhalten für ihr Verständnis besonders wichtig. Soziale Reaktionen, Verhaltensweisen und Handlungen sind mehrdeutig und schwer verstehbar. In Prozessen sozialer Mimesis bleibt diese Vieldeutigkeit des Sozialen erhalten. Was in einer Analyse geklärt werden muß, kann in Prozessen sozialer Mimesis vieldeutig bleiben. In diesen wird das soziale Verhalten anderer in seiner Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit auf die Voraussetzungen des Sich-mimetisch-Verhaltenden bezogen und geht mit diesen eine die Komplexität sozialer Situationen ausmachende Verbindung ein. Nicht-voraussagbare, nicht-planbare Handlungen und Verhaltensweisen entstehen, bei deren Genese Zufall und Notwendigkeit überraschende Verbindungen eingehen und ungewollte Nebenwirkungen zur Folge haben. In Prozessen sozialer Mimesis spielt das Begehren eine zentrale Rolle. So richtet sich häufig das Begehren des einen darauf, dem anderen ähnlich zu werden; zugleich jedoch besteht der Wunsch, sich von dem zu unterscheiden, dem man gleich werden möchte; denn jeder will auch einmalig sein. Wenn die soziale Ordnung zerbricht, kann es zu einer Krise kommen, die sich nur mit Hilfe von Opfern auflösen läßt, denen die Schuld an der in der Krise ausbrechenden Gewalt zugeschrieben wird, und die die Opfer zu büßen haben. Die Prozesse der Schuldzuweisung und Identifizierung von Opfern treten nicht ins Bewußtsein; denn nur so kann die Gewalt der Gesellschaft, deren Ausdruck Krise und Schuldzuschreibung sind, verdeckt und den einzelnen Opfern zur Entlastung der Allgemeinheit angekreidet werden. Diese mit Begehren, Rivalität, Gewalt und Opferung verbundenen mimetischen Prozesse reichen bis in die inneren Strukturen des Sozialen hinein und offenbaren dabei ihre den Menschen konstituierende und destruierende Macht. Mimetische Prozesse vollziehen sich in sozialen Institutionen wie Familie, Schule und Betrieb, deren jeweilige Strukturen die Möglichkeiten und Grenzen der mimetischen Prozesse bestimmen. In den jeweiligen institutionellen Strukturen kommen Machtkonstellationen zum Ausdruck, die in Prozessen sozialer Mimesis weitervermittelt werden. Mit Hilfe symbolischer Kodierungen werden die sozialen Normen und Werte der Insti-

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tutionen festgelegt und bewußt und unbewußt weitervermittelt. Entscheidend ist dabei, daß die sozialen Institutionen den mimetischen Prozessen Kontinuität und Dauer verleihen. Unsere bisherigen Überlegungen lassen sich wie folgt zu einem Zwischenergebnis zusammenfassen. Mit dem Ausdruck „Soziale Mimesis" wird eine große Klasse von Handlungen, Verhältnissen, Konstellationen zwischen Menschen und Ereignissen oder Dingen bezeichnet. Wie in unserem allgemeinen Uberblick erkennbar wurde, spielen solche mimetischen Beziehungen seit der Antike sowohl auf der Ebene der Reflexion als auch auf der des sozialen Handelns selbst eine unübersehbare Rolle. Für die Einführung und Entwicklung des Begriffs „soziale Mimesis" ist seine ästhetische Dimension wichtig. Sie stellt den Begriff in Bezug zur Tendenz der Asthetisierung des Wissens und des Lebens, ohne ihn in dieser Tendenz aufgehen zu lassen. Die ästhetische Verfassung unserer Wirklichkeitserfahrung wird kaum mehr bestritten; erörtert wird lediglich, wie sie einzuschätzen und welche Konsequenzen aus ihr zu ziehen sind. In mimetischen Verhaltensweisen drücken sich Wünsche, Begehren, Gefühle und Interessen aus. In der Repräsentation heterogener Elemente werden soziale Prozesse zum Ausgangspunkt mimetischer Wahrnehmungen und Handlungen. Soziale Mimesis hat einen Zwischencharakter, zwischen außen und innen, zwischen einzelnen Menschen, zwischen den Dingen und den inneren Bildern von ihnen. Indem sie eine Brücke schlägt, ein Dazwischen konstituiert, über das Verbindungen entstehen, trägt sie zur Angleichung an die Welt und die anderen Menschen bei. Soziale Mimesis geht vom Primat der Handlung bzw. der sozialen Situation aus, auf die sich derjenige bezieht, der sich mimetisch verhält. Nicht die Reduktion der sozialen Welt auf einen gegebenen Bezugsrahmen, sondern die Ausweitung des gegebenen Bezugsrahmens durch Anähnlichung und Angleichung an die soziale Welt draußen ist das Ziel. Aus der bisherigen Kennzeichnung von sozialer Mimesis wird ersichtlich, warum seit Piaton mimetische Handlungsweisen in den Ruch des Anstößigen geraten sind. Unter dem Gesichtspunkt ethischen Handelns hat für ein von dem Gedanken einer innigen Vereinigung des Wahren, Guten und Schönen geleitetes Denken die soziale Mimesis ganz und gar bedenkliche Merkmale. Doch nicht nur für Piaton, sondern auch für viele Denker, Künstler und Dichter nach ihm, die die Ordnung des Denkens und der Welt sowie die Klarheit der Erkenntnis zu ihrem Ideal gemacht haben, müssen mimetische Verhältnisse in der sozialen Welt und in der Reflexion geradezu abstoßend wirken. Soziale Mimesis steht für die Verbindung von Ästhetik und Handeln; sie löst sich nicht vom Materiellen, vom Sinnlichen, vom Begehren und Wünschen ab; sie verbindet sich mit Machtgesichtspunkten und ist von Spuren der Geschichtlichkeit markiert. Vor allem sind Prozesse sozialer Mimesis kaum zu kontrollieren: Sie bleiben vieldeutig und sind von einem Spielraum für Interpretationen umgeben. Für Philosophen, Künstler und Dichter, die dem Ideal der klaren und distinkten Erkenntnis verpflichtet sind und die sich, weil sie die Welt beschreiben wollen, mit mimetischen Verhältnissen auseinandersetzen, heißt dies: Die Wirklichkeit darf nicht so wiedergegeben werden, wie sie ist; sie muß gereinigt werden, mit Hilfe einer reinen Erkenntnis und einer reinen Sprache. Im zweiten Teil

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unseres Beitrags soll ein ausgewähltes Beispiel der ethisch geprägten Auseinandersetzung mit mimetischen Verhältnissen gegeben werden. Nachdem im ersten Teil wichtige Merkmale der sozialen Mimesis angegeben worden sind, soll im zweiten Teil gezeigt werden, wie das Ethische in das mimetische Handeln eingreifen kann. Zu diesem Zweck soll die Struktur der sozialen Mimesis expliziert werden; dies geschieht der Klarheit wegen etwas schematisch. Es sollte nicht aus den Augen verloren werden, daß die Verhältnisse dabei etwas zu eindeutig, zu bestimmt gemacht werden. Wir werden für diesen Zweck die Begriffe „Welt" und „Welterzeugen" von N. Goodman verwenden. Soziale Mimesis ist generell dadurch gekennzeichnet, daß wir es nicht mit einer einzigen Welt zu tun haben, sondern mit (mindestens) zwei Welten: Von einer zweiten Welt aus wird auf eine erste Welt Bezug genommen. Diese erste Welt wird als existierend angenommen oder als existierend postuliert. Sie muß nicht die empirische Welt sein, sondern kann eine fiktionale, ideale, gedachte Existenz haben. Die zweite, die mimetische Welt existiert real, sinnlich-körperlich, in einem Medium; sie ist Geste, Laut, Schrift, Aufführung, Malerei, darstellende Handlung, Ritual etc. Der Ausdruck „Mimesis" bezeichnet das Erzeugen einer Welt und oft auch die erzeugte Welt, aber immer so, daß die sinnlich existierende zweite Welt sich auf eine erste bezieht. Dieser Bezug hat sehr oft performativen Charakter: er wird durch soziale Akte konstituiert. Der Ausdruck „soziale Mimesis" soll hervorheben, daß die zweite Welt durch ein gesellschaftliches Handeln in einem Medium erzeugt wird. Weiterhin soll er auf das Mimetische an einer großen Klasse sozialer Handlungen hinweisen, also darauf, daß diese Handlungen auf eine andere Welt Bezug nehmen; so geschieht es ζ. B. im Ritual und Spiel, beim Lernen, Regelnbefolgen, Verstehen, Einhalten sozialer Konventionen. Beide Welten können für sich stehen und eine gewisse Autonomie beanspruchen, sie lassen sich aus sich selbst heraus verstehen. Aber hier kompliziert sich das Schema: Beide Welten sind, insofern als sie mimetisch miteinander verknüpft sind, unter dem Aspekt der gegenseitigen mimetischen Beziehung voneinander abhängig. So bezieht sich die zweite Welt auf die erste; sie ist dieser (im logischen Sinn) nachgeordnet. Ist aber nicht wenigstens die erste Welt von der zweiten vollkommen unabhängig? Dies wäre eine zu einfache Vorstellung, denn in einem mimetisch geprägten Verhältnis wird auch die erste Welt durch die Tatsache, daß eine zweite auf sie Bezug nimmt, berührt; auch ihr Charakter wird verändert. Wenn beispielsweise eine soziale Handlung als eine kleine Szene nachgespielt wird, ist die Handlung nicht mehr dieselbe. Eine narrative Deutung, ζ. B. die des Historikers oder des Psychoanalytikers, wirkt entschieden auf das ein, was sie berichtet oder analysiert. Die Formung einer zweiten Welt durch eine erste, dieses Miterzeugen, hat in vielen Fällen ästhetischen Charakter, so ζ. B. das gestische Spiel, die sprachliche Beschreibung, die Narration, Interpretation, Fiktion, das

2 Vgl. die eindrucksvolle Untersuchung von L. Marin über die Repräsentation des Staats durch das Portrait des Königs.

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Theater, die photographische Reproduktion, die Repräsentation des Staats2 - sie alle haben ihr eigenes Medium und ihre eigene Ästhetik. Am schärfsten wird dieser Standpunkt durch die Bildtheorie des „Tractatus" von Wittgenstein formuliert. Die Sprache bildet die Welt der Gegenstände ab; freilich tut dies nicht die normale Sprache, sondern eine logische Idealsprache. Wittgenstein faßt die Darstellung einer formallogischen Relation in der Sprache der Logik als ein geschriebenes, sinnliches Bild einer in der gegebenen ersten Welt vorhandenen Relation auf. So bildet a R b eine in der Welt der Tatsachen gegebene Relation ab. Das Abbildungsverhältnis ist aber auch umkehrbar: Die Welt der Tatsachen erhält durch die Herstellung einer logischen Idealsprache selbst eine Bildqualität: Sie selbst zeigt auch Bilder, und zwar Bilder von Relationen in der Sprache. Die Bilder beider Welten verweisen aufeinander, sie zeigen sich gegenseitig. Diese Reversibilität ist typisch für soziale Mimesis: Sie bildet ein Weltenpaar, das ineinander verschränkt ist. Diese Umkehrbarkeit mimetischer Beziehungen geht weit über Abbildungsverhältnisse hinaus. Für Rene Girard ist sie der Grund dafür, daß aus Mimesis zwischen Menschen Rivalität entstehen kann. Eine strikte Abbildungstheorie der logischen Sprache wie die des „Tractatus" wird man heute nicht mehr akzeptieren. Aber die Konstruktion eines Weltenpaars, nämlich einer Welt der Gegenstände und einer Welt der Sprache, das sich in gegenseitigem Bezug herstellt, nimmt die Sprachphilosophie nach dem linguistic turn, der von Wittgenstein selbst mit initiiert wurde, bis heute an. Die Welt der sprachlichen Ausdrücke, des Sagens, Benennens, der performativen und dispositionellen Ausdrücke, der linguistischen Konstrukte macht aus der empirisch gegebenen Welt erst das, was sie für uns ist. Auch umgekehrt gilt: Die empirisch gegebene Welt, ihre Materialität, ihre Sinnlichkeit und die Körperlichkeit der Handlungen laden die Zeichen der Sprache mit Bedeutungen auf; sie geben dem System der Sprache einen Weltbezug und machen es zu einem Werkzeug für Beschreibungen und Interpretationen. Der Kern der sprachanalytischen Philosophie ist, daß weder die Welt der Gegenstände noch die der Sprache für sich genommen werden kann. Erst die Interaktion zwischen den Welten erzeugt Bedeutungen, Verstehbarkeit, Interpretationen, Kenntnis, Wissen. Im Unterschied zum „Tractatus" haben wir es hier nicht nur mit einem Weltenpaar zu tun, sondern gleich mit drei Welten, insofern die Welt des Sozialverhaltens - die Welt der Gesten, Rituale, des Sprechens und der praktischen Interaktionen, der „Sprachspiele" - sich mit der Gegenstandswelt und der Sprache verbindet. Wie Goodman 3 gezeigt hat, gibt es eine solche Verkettung von Welten auch bei bildlichen Darstellungen: Ein Portrait von Α stellt die Person Α nicht aufgrund von Ähnlichkeit dar, sondern weil es als Portrait von Α gilt, d. h., weil es einen Handlungskomplex gibt, in dem das Bild als Α-Bild behandelt wird. Ähnlichkeit generell und die Ähnlichkeit eines Bilds mit dem Original im besonderen

3 In: N. Goodman, Languages of Art.

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ist der Betrachtung von Repräsentationen nicht vorhergegeben, sondern ein Ergebnis der Interaktion zwischen drei Welten verschiedener Art (Bild, behauptetes Vorbild, soziale Handlungen). Die sprachliche und bildliche Darstellung läßt erkennen, daß durch soziale Mimesis besondere Beziehungen zwischen Welten hergestellt werden. In diesen Beziehungen wird herausgestellt und gezeigt, was die beiden (oder die drei) Welten unter einem bestimmten Aspekt gleich oder ähnlich macht. Die Zwischenwelt-Beziehungen sind der zentrale Punkt der sozialen Mimesis. Im „Tractatus" wird angenommen, daß die Sprache und die Welt der Tatsachen die gleiche interne Struktur haben. Dies ist wieder eine sehr spezifische Zuspitzung eines Merkmals, das man generell bei der sozialen Mimesis vorfindet: die Ubereinstimmung von internen Strukturen oder von Ordnungen, die mehreren Welten zugrunde liegen. Unterschiede der Positionen ergeben sich bei der Frage, wo diese Strukturen und Ordnungen aufzufinden und welcher Art sie sind. Liegen sie in der Tiefe verborgen und müssen sie durch spezielle Verfahren gefunden werden, die die gegebene Welt und die Sprache in ihren elementaren Formen, universalen Regeln, generativen Prinzipien oder Bewegungsgesetzen analysieren? Oder liegen sie an der Oberfläche gleichsam vor den Augen, nach dem Prinzip des „Nothing is hidden" (Ν. Malcolm) des späteren Wittgensteins oder der Proustschen Auffassung, die Zusammenhänge der Welt seien gleichsam auf der Außenhaut der Dinge und Ereignisse erkennbar? Wie kommt die Bezugnahme zwischen erster und zweiter Welt überhaupt zustande? Diese Transwelt-Relationen, wie sie genannt werden sollen, sind nicht mit den Welten selbst gegeben; sie können in einer Welt nicht dargestellt, sondern nur in der Sphäre des Zwischen aufgefunden werden. Jede Welt hat einen eigenen Referenzrahmen, der sie autonom gegenüber anderen Welten macht. Damit entsteht das Problem, daß es keine Ubersetzbarkeit einer Welt in eine andere gibt. Es führt keine Brücke, keine Regel, kein irgendwie geartetes Verfahren von der ersten zur zweiten Welt. Die interne Struktur der Welt der Tatsachen bildet sich nicht einfach von selbst ab, gleichsam wie ein Spiegelbild in der internen Struktur einer logischen Sprache. Welches ist die Klammer zwischen den verschiedenen Welten? Auch die scheinbar banale Umgangssprache muß erst richtig, d. h. mit sprachanalytischer Methodik, betrachtet werden, um das offenliegende Geheimnis ihrer wahren Ordnung preiszugeben. Die wirkliche Beschaffenheit der Natur, die Mondrian malen wollte, war für ihn in der Tiefe der phänomenalen Welt zu suchen. Der Hermeneutiker, der sich in die zu verstehende Person hineinversetzt, muß sich selbst ganz auslöschen und zum Anderen werden. Der Kern des Problems liegt im Vorgang des Welterzeugens: Es muß garantiert sein, daß dieses Machen ohne falsche Einflüsse, ohne Nebenwirkungen, ohne Verunreinigung, daß es sauber vor sich geht - der Schöpfer einer mimetischen Welt muß alles Verfälschende und Unwahre ausschalten. Für den Philosophen Wittgenstein (den frühen und den späteren) ist es ebenso wie für den Maler Mondrian oder den Architekten Adolf Loos eine Frage der Reinheit des philosophischen oder gestalterischen Machens, also eine Frage der ethischen Haltung des mimetischen Produzierens. Wieder spricht der frühe Wittgenstein diesen Grundsatz im „Tractatus" am prägnantesten aus: „Ethik und

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Ästhetik sind eins" 4 . Die ästhetische Form der erzeugten Welt ist aufgrund einer den Produktionsprozeß leitenden Ethik zustande gekommen. Die dabei konstruierte oder rekonstruierte Ordnung ist die wahre. In diesem Sinne hat Wittgenstein das Wiener Haus seiner Schwester gebaut 5 : Das ganze Gebäude zerfällt in einfache Gegenstände, in Räume, Terrassen, Treppen. Die Räume wiederum setzen sich aus Elementen zusammen: Türen, Fenster, Fußboden, Beleuchtungen. Diese wiederum sind Zusammensetzungen einzelner Elemente: Türgriffe und Schlösser, Fußbodenplatten, Lampenfassungen und Birnen - alles ist elementarisiert, getrennt, für sich, in perfekter Klarheit gezeigt, nichts ist kaschiert oder verdeckt. Die letzten Bestandteile und die Relationen, die zwischen ihnen bestehen, liegen vor dem Auge des Betrachters offen. Reinigung als ethisch-ästhetische Haltung ist das Prinzip von „Wittgensteins Wien" (Janik/Toulmin), der Sprachreinigung Mauthners, der Psychoanalyse Freuds, der Neuen Musik Schönbergs und der Architektur Loos'. Der größte Gegner ist die unklare, weil ungeklärte, unsaubere Gestaltung: das Ornament als „Verbrechen" (Loos 1908), ein Vergehen gegen die Ethik, nicht nur gegen die Kunst. Die Transwelt-Bezüge gehören zu den zentralen Problemen der künstlerischen und philosophischen Mimesis seit Beginn des Jahrhunderts. Es ist aber deutlich zu erkennen, daß die Beziehungen zwischen den Welten etwas leisten sollen, was frühere Zeitalter im Rückgang auf ein letztes Prinzip oder in der Hinwendung auf einen höchsten Punkt gesucht haben. Das künstlerische und philosophische Denken bewegt sich in Zwischenräumen und Ubergängen, die eine Welt mit einer anderen verbinden: Eine Welt soll mit Bezug auf eine andere verständlich, sinnvoll oder interpretierbar gemacht werden. Es ist schwierig, für die Bezugnahme zwischen den Welten einen genauen Begriff zu finden; es handelt sich um keinen rein kognitiven oder theoretischen Modus der Erkenntnis, sondern um einen anderen Modus, in dem das Praktische des Erzeugens, das Sinnliche, Körperliche und das gegenseitige Sich-Machen einen wesentlichen Part spielen. Die Zwischenwelt-Bezüge treten an die Stelle der Hinwendung zu überweltlichen Instanzen, zu den Ideen, zu Gott, zum Absoluten. Es gibt nur noch /««erweltliche Ordnungen. Dies bedeutet, daß es auch keine Wahrheit geben kann, die von einem überweltlichen Standpunkt ausginge. Wahrheit über die empirische Wirklichkeit wird nicht innerhalb einer der symbolischen Welten zugänglich, sondern muß zwischen den Welten gefunden werden. Die letzte Garantie für die Wahrheit einer mimetischen Welt ist die Ethik ihres Schöpfers. Seine Ethik ist es in letzter Instanz, die ihn dazu befähigt, eine Welt rein, d. h. ohne Falschheit, herzustellen. Die ethisch einwandfreie Erzeugung macht seine Welt wahr, und in ihrer Reinheit liegt zugleich ihre Schönheit. Es ist eine ethische Haltung, die dem Philosophen den

4 Vgl. die aufschlußreiche Arbeit von M. Kröß, Klarheit als Selbstzweck. 5 Vgl. die Untersuchung des Wittgenstein-Hauses von G. Gebauer, A . Grünenwald, R . Ohme, L . Rentschier, Th. Sperling und O . Uhl.

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Weg aus dem Fliegenglas weist und den Wissenschaftler asymptotisch an die Wahrheit annähert (nach einem Bild Poppers). Die empirische Welt kann nicht für sich genommen werden, sie bedarf einer mimetisch erzeugten Zweitwelt - sei es, um sie zu interpretieren, ihre Bilder zu klären, ihre Prinzipien zu enthüllen, ihre Genese zu rekonstruieren oder ihre Struktur zu zeigen. Die zweite Welt klärt die erste, aber die mimetische Aktivität bleibt nicht bei einem Weltenpaar stehen, sondern läuft in einer Kette von Transwelt-Bezügen quer durch mehrere Welten fort. Dies scheint ein Erkenntnisprinzip eigener Ordnung zu sein; es ist typisch für die Künste und die historischen Wissenschaften. Von Welt zu Welt fortschreitend vergrößert sich unser Wissen. Die ästhetische Form der mimetischen, der zweiten Welt und die Ethik ihrer Herstellung sind im 20. Jahrhundert offenbar grundlegend für einen Modus der Erkenntnis der jeweiligen ersten Welt - eine Erkenntnis, die aufgrund des Prinzips eines Fortschreitens von Welt zu Welt funktioniert. Das Wissen, das dabei erzeugt wird, ist sehr unterschiedlich; es reicht von dem Ausruf „Jetzt weiß ich weiter" des Schülers, der plötzlich eine Regel verstanden hat, bis zu höchst komplexen Formen des Wissens über Interdependenzen symbolischer Gebilde. Egal, auf welcher Ebene - es steht immer wieder unter dem Gebot der Reinheit des Welterzeugens, das von allen Geboten am schwersten einzulösen ist.

Literatur Aristoteles: Poetik, hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1984. Gebauer, Gunter/ Grünenwald, Alexander/ Ohme, Rüdiger/ Rentschier, Lothar/ Sperling, Thomas/ Uhl, Ottokar: Wien, Kundmanngasse 19. Philosophische und morphologische Aspekte des Wittgenstein-Hauses, München 1982. Gebauer, Gunter/ Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Reinbek 1992. Girard, Rene: La violence et le sacre, Paris 1972. Girard, Rene: Des choses cachees depuis la fondation du monde, Paris 1978. Girard, Rene: Le bouc emissaire, Paris 1982. Goodman, Nelson: Languages of Art, Indianapolis 1968. Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978. Janik, Allan/ Toulmin, Stephen E.: Wittgenstein's Vienna, London 1973. Kröß, Matthias: Klarheit als Selbstzweck, Berlin 1993. Marin, Louis: Le portrait du roi, Paris 1981. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Schriften, Frankfurt/M. 1960. Wulf, Christoph: Mimesis und Ästhetik. Zur Entstehung der Ästhetik bei Piaton und Aristoteles, in: G. Treusch-Dieter u. a. (Hrsg.), Denkzettel Antike, Berlin 1989. Wulf, Christoph: Mimesis und der Schein des Schönen, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989.

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Ethisch-ästhetische Aspekte einer Philosophie des Spiels

In der Zusammenfassung seiner Abhandlung „Homo ludens" sah Huizinga sich gezwungen, die Unlösbarkeit des Problems der Beziehung zwischen Spiel und Ethik anzuerkennen. Die Kritik Bonhoeffers an der fiktiven Aufteilung in einen Menschen der „Ethik" und der „Ästhetik" (Kierkegaard) erlaubt uns, dieses Problem anders anzugehen. Bonhoeffer unterstreicht, daß das Anliegen dieses Streits kein geringes sei: Es geht um jenen weiten Bereich der Freiheit (die Kunst, die Erziehung, die Liebe, das Spiel), den die protestantische Ethik im dunkeln gelassen hat. Überraschenderweise stimmt die Stimme eines anderen Opfers des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts mit Bonhoeffer darin überein - nämlich Michail Bachtin. Ich denke dabei an seine durchaus bekannte und in Anlehnung an Rabelais' Roman entwickelte Theorie der „karnevalesken Kultur". In der Ausarbeitung meines Beitrags werde ich einige weitere mögliche Herangehensweisen darzulegen versuchen.

Posse versus Heuchelei Ich erlaube nicht, daß in meiner Gegenwart gespielt wird. Und die Kartenspieler werde ich umbringen. Das ist das geeignetste Mittel, die Zufallsspiele zu bekämpfen. Daniel Harms

Ein bekannter Aphorismus behauptet, daß die Heuchelei der vom Laster an die Tugend gezahlte Tribut sei. Die Jahrhunderte über bleibt die Ethik mit dem Problem der Glaubwürdigkeit einer Tugend konfrontiert, die den Tribut des Lasters nicht verschmäht. Die besondere Heftigkeit dieser Konfrontation ist der Tatsache zu verdanken, daß die

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Tugend, die Heuchelei und das Laster keine Schauspieler sind, die auf einer abstrakten gesellschaftlichen Bühne auftreten, sondern im Herzen jeder Person anzutreffen sind, die über ein moralisches Bewußtsein verfügt. Deshalb bedeutet das Hinnehmen des Tributs in Form der (oft allzu offensichtlichen) Heuchelei nicht nur, die Grenzen zwischen dem Laster und der Tugend leicht zu verschieben, sondern einfach, daß der Mensch seine Rechtschaffenheit als solche in Frage stellt. Zahlreiche vernünftige Argumente, von denen gerade der Heuchelei eine wichtige Rolle (die des Souffleurs) zuerkannt wird, mäßigen den sittenstrengen Eifer. Doch seit langem hat die Kultur eine andere Figur ausgeheckt. Nehmen wir ζ. B. den Hof des Königs Lear: Der Kampf zwischen Gut und Böse entfaltet sich mit majestätischer Intensität. Die Atmosphäre höfischer Heuchelei erweist sich an diesem Hof als besonders ausgeprägt. Die Bloßlegung der Kehrseite des „doppelten Spiels" wird dem Hofnarren anvertraut. Er versorgt diese kleine geschlossene Welt, die durch Falschheit verpestet wird, mit Sauerstoff. Damit dieser Possenreißer sich rückhaltlos von der Heuchelei lösen kann, hat er freie Hand, darf er keinerlei politische Ambition hegen und muß sich von jedem Kampf um die Macht fernhalten. Es handelt sich nicht um ein zur Maskeerstarrtes Gesicht, sondern um eine Maske, die demonstrativ das Gesicht verbirgt - darin besteht die Rolle des Narren. Der Narr betritt die Bühne nicht mit einer Moralpredigt; nichts deutet auf irgendeinen Anspruch hin, er wolle die Rolle des Kämpen spielen, der die Tugend hochhält; er konfrontiert die respektable Heuchelei mit einer offenen Herausforderung und zeigt auf eigene Kosten und Gefahr den Weg zur Ethik. Im Bereich des erwiesenermaßen Unauthentischen macht eine einzige Geste, die sich auf die Authentizität beruft, die Falschheit offensichtlich und enthüllt die verlogene Seite des Gesichts, deckt die Doppelzüngigkeit auf. Dank der Gestalt des Narren findet jede Situation eine andere Perspektive; und wo das Geschrei der Hohen Personen verstummt, ertönt die Flöte des Narren (in einer anderen Tradition die „Spöttelei" des in Christus Vernarrten). Die Beschaffenheit dieser universellen Situation erlaubt, die den Formen des Spiels eigene ethische Dimension deutlicher hervorzuheben, zu bestimmen. Vergessen wir jedoch nicht, daß die Ironie nur die äußere Seite des Spiels, seine äußere „Verteidigungs"-Zone, ein epiphänomenales Zeichen ist. So wie der Kreis nicht auf seinen Umfang reduziert werden kann, so wenig ist der Inhalt des Spiels auf die trügerische und fassadenhafte Heiterkeit rückführbar. Die Ironie ist nur eine Fähigkeit zur Anpassung an das Wirken (eine demütige Verneigung) jener höheren Dimension, die das Spiel uns offenbart. Das Spiel bei Harms befindet sich nicht in diesem intellektuellen Zwischenbereich, in dem es weder Gut noch Böse gibt. Seine Ironie treibt den Keil zwischen dem Guten und Bösen noch tiefer, sobald diese sich untereinander um einen Kompromiß bemühen. Die Heuchelei schmückt sich mit einem fremden Gesicht und erstarrt in diesem metaphysischen Parasitentum. Seit jeher hat die Menschheit dieses Haften der Maske am Gesicht (genauer: des Gesichts an der Maske) gefürchtet. Das ethische Gesetz ist bereit, eher den Narren zu rechtfertigen, denn wenn wir auch die „Maskerade des Lebens" nicht ohne Maske spielen können, bleibt es doch eine

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Pflicht, keine dieser Masken mit dem eigenen Sein zu identifizieren - „uns nicht von unserem Gesicht abzuwenden" (Pasternak). Gerade in der Heuchelei entdeckt Immanuel Kant das Wesen des „radikal Bösen". Der Triumph des Bösen im 20. Jahrhundert hat das wahre Ausmaß der Kantschen Prophezeiung offenbart: Die Heuchelei hat ihren Souffleurkasten verlassen, um auf die Bühne der Geschichte zu steigen und die erste Rolle zu spielen. Die Heuchelei hatte es über, nur ein beiläufiges Mittel zu sein (der Tribut des Lasters an die Tugend), sie hat sich in ein Emblem verwandelt, um quer über Land und Städte Heerscharen anzuwerben. Aller Widerstand gegen die Heuchelei ist von nun an verdammt, der Macht des „radikal Bösen" zu trotzen.

Das Spiel als anthropologische Form von Freiheit Warum ist das „Spiel" (game) zum Modell des klassischen Liberalismus geworden? Uber den englischen tennisman wurde folgendes gesagt: „Er erfindet das Ritual des Spiels, wobei er ebenso leicht bewaffnet ist wie ein Soldat Attikas und in seinen Gegner verliebt . . A b e r auch das englische Parlament erschafft auf seine Weise in der Verkündung eines „game-act" das Ritual des Spiels. Weshalb beziehen sich die Philosophen ständig auf die Metapher des Spiels, sobald sie sich in einer Theorie des Rechtsstaates versuchen? Das Entscheidende der gestellten Frage geht wohl über die äußerliche Ähnlichkeit zwischen den Spielregeln und gerade solchen Regeln hinaus, die Grundlage der Organisation des liberalen Staates sind. Die ersteren wären nicht zum intellektuellen Schlüssel für die letzten geworden, wenn sie in ihrer ursprünglichen Authentizität nicht eine Grundwahrheit hinsichtlich der Ausweitung der Regeln in die menschliche Existenz hinein bezeugen würden. Sprechen wir zunächst eine einfache Tatsache an: Wie Jean Piaget behauptete, bilden sich beim Kind zwei Moralen aus. Die erste paßt sich den Weisungen der Erwachsenen an (sich nicht um die Sachen anderer kümmern, artig sitzen usw.). Die zweite entwickelt sich mit Hilfe von Spielregeln, die das Kind selbst festlegt. Doch es muß hervorgehoben werden, daß die Herausbildung der Spielregeln, die gerade das Prinzip der Selbstbehauptung ausmacht, vom Vergnügen des Kindes an der SelbstÜberschreitung nicht zu trennen ist. Im Spiel erfährt das Kind erstmalig seine Unabhängigkeit gegenüber seinen Instinkten und seinen affektiven Triebregungen: Was ihm nicht nach seinem Geschmack schien, entpuppt sich als angenehm, das Schwierige erweist sich als lustvoll, das Begehrbare wird fade usw. Die Menschen werden als „Sklaven des sinnlichen Feldes" (V Keller) geboren. Doch in seinen frühesten Jahren erringt das Kleinkind gleichsam spielend einen bedeutungslosen, aber bezeichnenden Sieg über das Chaos seiner Wünsche, über die offensichtliche Dienstbarkeit seiner Natur. Gerade durch das spielerische Uberschreiten seines Willens entdeckt das Kind, daß es einen Willen hat. Die Willenstätigkeit findet gerade durch ihre Eindämmung ihre Nahrungsmittel in sich selbst und sucht in der frühen Kindheit auch keine anderen.

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Auf diese Quelle der aus freier und sich im Spiel während der ersten Jahre der Kindheit offenbarender Selbstbestimmung hervorgegangenen Lust müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit richten. (Die späteren Regeln des „game" können nur noch Formalisierungen und in gewissem Sinne eine Negation dieser anfänglichen Fähigkeit sein: Das Spiel an sich reduziert sich nicht auf eine bestimmte Gestalt von Tätigkeiten, sondern bildet eine besondere Qualität des Handelns, das vom Aufleuchten der Freiheit durchquert wird und reich an allen möglichen Improvisationen ist. Warum ist im existierenden Körper dieser Keim von - wie ich sagen würde - natürlicher Askese so fern jeder Form von Selbstüberwindung? Warum findet das Kind es beispielsweise weit interessanter, auf der Bordsteinkante als eben auf dem Gehweg zu laufen? Und warum hat es mehr Interesse daran, diese Linie auf einem Fuß entlangzuhüpfen? Ist dieses Vergnügen nicht das der „Schmalspur", der Lohn dieses Mutes, den das Kind uns für unser weiteres „Menschenleben" vor Augen führt? Verschwindet dieser ekstatische Gang des Kindes spurlos, das mit jedem Schritt wie aus sich selbst heraustritt? Das Spiel ist diese sonderbare und wechselseitige Unterbrechung der Wörter (ihr freundschaftliches und komplizenhaftes Lächeln), die unabhängig von direkten Absichten der Gesprächsteilnehmer zustande kommt. Wie aus Versehen offenbart sich darin die „innere Rede" als Ursache des Sinns für das Spiel, jenes Spiels, durch das sich das Kind vor den stummen Dunkelheiten schützt und das ihm abends, vor dem Einschlafen, lange und einsame Monologe aufzusagen erlaubt. (Das verweist uns ganz konkret auf die Begründung der „ontogenetischen" These des „Sprachspiels", das eines der wesentlichsten Themen der folgenreichen Überlegungen Wittgensteins und Heideggers oder Gadamers ist.) Ein Verständnis des Spiels als anthropologisches Phänomen führt uns in den innersten Kern der menschlichen Freiheit. Wenn der Mensch grundlegend vom Streit zwischen dem Guten und dem Bösen gespalten gewesen war, hätte er keinen einzigen Schritt tun können, ohne sich aufzulösen. Und zu diesem Ursprung, unerreichbar für die Aufspaltung des Davor-Seins, kehrt das Spiel zurück. „Jenseits von Gut und Böse" liegen die Quasi-Spiele (Trugbilder des Spiels, sekundäre Beschreibungen, die der Spielsituation äußerlich bleiben und mittels Analogien entstehen, die dem Spiel entnommen sind) und kommt das game zustande (die wie im Sport gemäß strengen Regeln organisierte Spielhandlung). Beide unterscheiden sich durch ihren ontologischen Status grundlegend vom einfachen Spiel. Das game und das Quasi-Spiel kennen zwar den Gegensatz von Gut und Böse, abstrahieren jedoch von ihm jedes auf seine Weise. Das Spiel kennt, was sich „vor" dieser Trennung abspielt, und dies auf ganz konkrete Weise und nicht durch eine Abstraktion des „Jenseits". Wir sollten die Bedeutung dieses paradoxalen Verbotes, das auf keinen moralischen Kode zurückgeht, sondern dem innersten Kern der menschlichen Existenz zugehört, nicht verkennen: Wir können nicht auf Befehl spielen. In negativer Hinsicht lassen sich die Spiele als Ereignisse definieren, die die Welt vom Gewicht der Notwendigkeit entlasten. Wenn das „Spiel des Kindes" uns für einen begnadeten Augenblick in den Zustand „vor jeder Moral" versetzt, ^-moralisiert die Zwanghaftigkeit hingegen alles um sich herum.

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Aspekte einer Philosophie des Spiels

Ein mehr oder weniger starker Zwang gehört zu all unseren Beziehungen; doch allein durch die Freiheit eröffnet sich uns die Freiheit. Die Freiheit ist eine Gabe, und diese Eigenschaft einer grundlosen Gabe geht in das Wesen der Freiheit ein. Doch die Freiheit lehrt uns nicht bloß die Uneigennützigkeit, sondern auch den klaren Blick. Zur Freiheit gehört eine außerordentliche Klarsicht: Auch wenn man den Stacheldraht durch einen goldenen Käfig ersetzt - sie wird sich durch das „neue Regime" nicht blenden lassen. Wir sollten das Spiel nicht zu sehr verehren. Es wäre eine doppelte Lüge, würde man das Spiel in ein „Allheilmittel", in den Imperativ irgendeiner Ideologie verwandeln. „Die Selbstvergiftung durch unsere Phantasie", die am Helden des Romans „Der Spieler" beschrieben wird, beweist uns, daß keine einzige Phantasie es verkraftet, zur autonomen Macht zu werden. Deshalb verweist uns nach einer hundertjährigen Verblendung das Motto Marcuses aus dem Jahre 1968 - „Alle Macht der Phantasie!" - zurück auf das Denken Dostojewskis. „Ihr könnt mit mir kein Spiel treiben" - das ist die Bekräftigung der Freiheit aus dem Munde Hamlets (die Flötenszene). Das Ausmaß menschlicher Freiheit entspricht der Weigerung des Menschen, als Spielzeug herzuhalten. Die Marionette ist der Nenner, der den Menschen zu „teilen" erlaubt, und das Ergebnis dieser Teilung zeigt uns das Maß seiner Freiheit an. Wo er die Menschen den von den Göttern gezogenen Puppen anähnelte, legte Piaton (ganz wie der Groß-Inquisitor) in seinem totalitären Regierungsmodell - neben den Sklavenarbeiten - ein Reservat für das Pseudo-Spiel an, indem er das Recht des Menschen auf sein eigenes Spiel durch eine Spiel-„Ration" ersetzte. Wir können aber nicht über den Menschen sprechen, wenn wir seine ursprüngliche Freiheit allmächtigen Händen überantworten: Zweitausend Jahre schon stößt diese Nachricht gegen unsere verriegelten Türen. „Gott ist das Allervertrauteste in mir selbst" - diese Maxime des Heiligen Augustinus trennt alle Fäden durch, die zu solchen absolutistischen Göttern, den Fadenziehern von Marionetten hinaufführen. Erst wenn er nicht länger ein Spielzeug ist, befreit sich der Mensch aus der Knechtschaft, erwacht er zur „geistigen Freude" und wählt frei den Augenblick und die Form seines Spiels. Was kann es im Spiel an Ernsthaftem geben? Jene, die eine solche Frage ein wenig ratlos macht, haben eine völlig einseitige Vorstellung vom „Ernsthaften". Daß eine Tätigkeit eine erforderliche, erzwungene ist, bedeutet nicht, daß sie ernsthaft ist. N u r der Sinn ist ernsthaft, dank dessen eine Tätigkeit über sich selbst hinausreicht und dem Menschen seine Freiheit eröffnet.

Das Spiel als erste Erfahrung bedeutsamer

Wirklichkeit

„Im Spiel entdeckt das Kind, daß alles einen Sinn hat." Diese Bemerkung von Leonid Wygotski verdient eine genauere Erläuterung. Dazu muß dem Begriff des „Sinns" seine ursprüngliche „Logos"-Eigenschaft zurückgegeben werden, die in den Mäandern des Nominalismus der langjährigen psychologischen Experimente verschüttet wurde. Es gibt einen offensichtlichen Parallelismus zwischen der Tätigkeit des Kindes, das sein Holz-

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stab-Pferd besteigt, und der des Gelehrten, der seine These vorträgt, „das Pferd sei ein Wirbeltier". Für den Gelehrten bildet seine These die intellektuelle Achse, der entlang er die zweizeiligen Huftiere klassifiziert. Für das Kind ist sein Holzstock eine magische Stütze, die ihm alle Viehherden der Welt zu besteigen und sich der vierten Dimension des Universums zu öffnen erlaubt - der des Sinns. Kann man diese Dimension (und mit ihr die ganze Welt des Spiels) für eine Täuschung halten, ohne sich an der Wahrheit zu versündigen? Diese Dimension ist in jedem Fall nicht weniger realistisch als die wissenschaftliche Wahrheit, die lautet: „Das Pferd ist ein Wirbeltier." Es handelt sich nicht um eine Beschränkung auf ein formales Skelett und der Holzstock erlaubt nicht allein das Besteigen eines Pferdes, sondern auch, zu ihm zu sprechen, an seinem Sein teilzunehmen. Diese Teilnahme beruht offensichtlich auf einer Konvention, die aber ebenso weit von jeder Täuschung entfernt ist wie der Himmel von der Erde. Die Welt der illusorischen Vorstellung verweist auf die Wunderlichkeiten der Phantasie, die keinesfalls Grundlage in der Wirklichkeit haben. Die konventionelle Tätigkeit stellt im Gegenteil jene Grenze dar, die uns mit dem Nicht-Konditionalen, dem Bedingungslosen verbindet. Wenn wir diese Grenze aus dem Auge verlieren, ersetzen wir das Konventionelle durch das Fiktive, die lebendige Improvisation durch Pappmasken, das Spiel durch die Nachahmung. Die verschiedenen Dimensionen des Bedingungslosen fügen sich dem dreidimensionalen Raum hinzu, indem sie ihm einen neuen Sinn verleihen, und repräsentieren ihn als konventionelle Welt, denn wir sind unfähig, auf einen Blick die Totalität zu erfassen, einen Plan mit der Gesamtheit der Struktur in Verbindung zu bringen. Diese konventionelle Begrenzung steckt den Bereich ab, der uns in die Architektonik des Nicht-Konditionalen oder Bedingungslosen führt. Der Holzstab des Kindes ist nicht das „fünfte Bein" eines Holzpferdes, sondern die Artikulation des Sinns des ganzen Mähnenvölkchens. Das ist das Ideal. Und die sichtbare Distanz zwischen dem Ideal und dem primitiven Spiel des Kindes darf uns nicht in die Irre führen. Wir könnten das Ideal nicht begreifen und hätten dieses Wort nicht in unseren Wörterbüchern, wenn wir nicht wenigstens ein einziges Mal diese Verwandlung des Stabes in ein Pferd empfunden hätten. Und die Verzauberung dieses Stabes, den die menschliche Gattung von Generation zu Generation weiterreicht, besteht darin, daß „die kleinsten Abbilder der höchsten Lebensprinzipien" (P Florenski) durch das Spiel zutage treten. Nehmen wir das gut bekannte Beispiel, das K. Koffka uns liefert: Ein Kind kann mit einem Holzstückchen spielen, sich an dieses wie an ein belebtes Spielzeug wenden, und es kann dann, wenn es zu einer anderen Beschäftigung übergeht, dieses gleiche Stückchen zerbrechen oder ins Feuer werfen. Wie lassen sich diese beiden Typen von Verhalten einem schlichten Holzstückchen gegenüber miteinander vereinbaren? Wir wollen dieses Phänomen einmal für einen kurzen Augenblick aus dem Zusammenhang zeitgenössischen Wissenschaftsstreits herausnehmen, um es in einen entlegeneren Kontext, in eine ganz andere Epoche, mitten in einen Streit mit ganzen anderen Ausmaßen und unterschiedlicher Bedeutung zu versetzen.

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Das spielerische Moment und Bedingtheit der Ikone Die gezeigten Dinge sind in Wahrheit die Ikonen der unsichtbaren Dinge. Denis der Aerophagit

Im mittelalterlichen Byzanz, auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen die ikonoklastische Häresie, verteidigt Theodor Studites mit seltener Geistesschärfe und großem Mut den Ikonenkult gegen die vielfachen Anschuldigungen des Götzendienstes. In seinem „Brief an Piaton" über die Ikonenverehrung bekräftigt er, daß das Abbild und das Urbild in einer Ahnlichkeitsbeziehung bleiben; mehr noch: „Diese Ähnlichkeit liegt außerhalb des Gegenstandes", ganz ähnlich der Art jenes Menschen, der sich in einem Spiegel betrachtet, aber mit dem Wesen im Spiegel nichts gemein hat. Theodor Studites weist die naturalistische Identifikation des Bildes mit der Platte zurück, auf die das Bild gemalt ist. Deshalb auch zögert er nicht, eine abgenutzte oder schlecht ausgeführte Ikone zu verbrennen, so als sei sie ein nutzloser Gegenstand. Im Vergleich zum sklavischen Kult der Idole bezeichnet die Verehrung der Bilder an sich eine neue Etappe, ein neues Zeitalter der Menschheit. Die tiefreichende Differenz zwischen dem Bild und „der Darstellung des Gegenstandes" ist hinsichtlich der Bedeutungsgebung ein weit radikalerer Sieg über das götzendienerische Bewußtsein als die Verhängung des alttestamentlichen Tabus „Du sollst Dir kein Gottesbild machen". Nichts Gemeinsames zwischen dem direkten Verbot ohne irgendeine Perspektive und der Hervorhebung der Hierarchie des Seins, in der die Idole keinen Platz mehr finden, da sich die ungeahnten Horizonte dieser inneren Erscheinung abzeichnen, die das „wahrhafte Bild" ist. Sind aber die Annäherung zwischen der Ikone und dem Spiel und ihre Bedeutungsvertauschung nicht doch sehr gewagt? Die alten Autoren glaubten das nicht. Der Heilige Johannes von Damaskus erinnert uns in seiner „Dritten Rede über die Verteidigung der Ikonen" an den berühmten Satz des Heiligen Paulus: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse", um zu schließen: „Die Ikone ist also der Spiegel und das Rätsel, die unserem rohen Körper angepaßt sind, denn trotz seiner Anstrengungen kann sich der Geist von seiner Körperlichkeit nicht befreien." Die Lehren des Johannes von Damaskus und des Theodor Studites über das Bild stießen sich an der ungeheuren Trägheit des religiösen Naturalismus, der ständig zum Wechsel von einem Extrem ins andere neigt, von der Zerstörung der alten Götzenbilder oder Idole zur Verbrennung der Ikonen und dann abermals zur Herstellung neuer G ö t zenbilder. Die Verehrung des Bildes erfordert eine „Umkehr des Geistes". Sie durchtrennt den gordischen Knoten des Aberglaubens, indem sie ihn von der Antinomie löst. Sie führt uns in die paradoxalen Beziehungen zwischen dem Ahnlichkeits-Bild und dem Ursprungs-Bild ein; vom Sichtbaren zum Unsichtbaren; vom Konditionalen zum NichtKonditionalen. Die Ikone ist die Darstellung des Unsichtbaren. Das Symbol ist hier nicht

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das „Zeichen" eines abwesenden Gegenstandes, sondern das Ereignis einer wirklichen Übereinstimmung mit dem Sinn (es handelt sich also um die Dynamik der Bewegung und nicht um ein Hinweisschild). Das Nicht-Konditionale oder Bedingungslose findet seinen Platz im Konditionalen oder Bedingten, und deshalb überträgt sich die Ehre, die wir dem Abbild erweisen, auf das „ursprüngliche Bild" (Basilius der Große). Der Siegelring mit dem Bildnis des Königs aber hinterläßt unterschiedliche Abdrücke, je nachdem, ob er in Wachs, in Harz oder Lehm gedrückt wird. Der Abdruck hängt nicht vom Material ab, er gehört zum Ring und ausschließlich zu ihm. Deshalb schlußfolgert Theodor Studites, daß das königliche Bild vom abgenutzten Holz unabhängig sei, das er ins Feuer wirft. Mit geradezu beispielloser Freiheit führt er das Konditionale oder Bedingte in das Allerheiligste ein, denn es beruht auf dem Dogma der Fleischwerdung; und er nimmt, um das Nicht-Konditionale im Konditionalen zu verherrlichen, auch die Verbannung, die Martern auf sich und ist bereit, dem Tod zu trotzen. Der Triumph dieser auf dem letzten ökumenischen Konzil verkündeten Lehre vom Bild (oder der „Ontologie des Symbols") liegt nicht nur der gesamten europäischen Kunst zugrunde, sondern ebenfalls der Weltanschauung der christlichen Ökumene. Dennoch bleibt die vor tausend Jahren entwickelte freiheitliche Lösung bis auf den heutigen Tag für all jene eine Neuigkeit, die „an der Krankheit des Götzendienstes leiden" (Johannes von Damaskus). Die Ikone bekundet an sich die extreme Spiritualisierung einer toten Substanz, und sie bezeichnet durch die extreme Uberfüllung eines sichtbaren Bereichs mit dem „Unsichtbaren" den Beginn ihres Auseinandertretens und zeigt uns gerade dadurch in der Erwachsenenwelt einen Weg, der uns von der Unterwerfung unter Idole, Götzen wegführt. Für das spielende Kind ist die paradoxale Verschmelzung des „Unteilbaren und des Unvereinbaren" ein völlig organischer geistiger Akt. Während sie für den Erwachsenen all die Wirren einer zweiten Geburt beinhaltet, damit sein ganzes Sein von dieser Wirklichkeit durchdrungen wird. Gerade so liegt der höchste Grad an Askese (der vorhergehende Etappen keineswegs ausschließt) für die Uberlieferung in der monströsen und bitteren „Kindheit" der in Christus Vernarrten. Nur durch das Nachtgebet, die Zerstörung des „Idols an sich" erlangt der Tor die Hellsicht des Tages und erwirbt das Recht, alle Idole um sich herum zu zerstören. Basilius der Selige weiß, was er tut, wenn er vor den Augen einer Menge verblüffter Pilger eine Ikone zerbricht, die als wunderwirkend verehrt wurde, aber einen unter das heilige Bild gemalten Teufel verbarg. Der Teufel hält sich unweigerlich auf dem Weg jeder Rückkehr ins verlorene Paradies auf. Alle „Spiele dieser Welt" haben einen tödlichen Ausgang, wir müssen die Freuden unseres Selbstseins am Kreuz opfern, um zur „Freude des Herzens" gelangen zu können, zum uranfänglichen Spiel, in dem „die Freude uns nicht beschämt". Innerlich nach der Anmut des kindlichen Spiels strebend erscheint das Verhalten des in Christus Vernarrten äußerlich als dessen Antipode, die nicht anmutig, sondern absichtlich monströs ist. Wenn man die Ernstspiele von der Ikone her entschlüsselt, bleibt notwendigerweise hinzuzufügen, daß jede Identifikation der Ikone mit dem Spiel ein grober Fehler ist. Ein

Aspekte einer Philosophie des Spiels

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solcher Naturalismus macht sich zweier Hauptvergehen schuldig: Er entweiht die Ikone und verleumdet das Spiel. Die Verehrung des Spiels erweist sich als fest verwurzelte Perversion des Erwachsenen. Man kann sein Gebet nicht „an das Spiel" richten, was jede Teilnahme an ihm ausschließt. Das Spiel ist kein einzuschlagender Weg und darum auch um so weniger Ziel eines Weges. Das Spiel kann nicht Gegenstand einer engagierten Wahl werden.

Das Konditionale im Hinblick auf die Idolologie Wenn das Spielen nicht zugleich mit der Kindheit zu Ende geht, sondern unser Verhältnis zur Wirklichkeit durchdringt, wird es zum Ausgangspunkt eines Sieges über die Trägheit ebenso wie über die Überheblichkeit. Als Widerruf jeder Form positiver Verwirklichung des Seins wird es zur Bloßstellung aller verlogenen Formen dieser „positiven Verwirklichung". Es hilft uns, die nächstliegenden Aufgaben und die Zufälligkeiten der Ereignisse nicht allzu ernst zu nehmen. Das Spiel, das sich gegen jede Form von Verabsolutierung wendet, kann selbst nicht Gegenstand einer Verabsolutierung sein - es sei denn als Verrat am Geist des Spiels. Es hilft uns, die Relativität der Welt und ihrer Beziehungen nicht zu vergessen, in die wir verstrickt sind. Die Wandelbarkeit, die Beweglichkeit, die Metamorphose der Spielformen enthüllen und vereiteln jede Form von Verabsolutierung. Das Ziel des Spiels liegt darin, die Existenz als etwas Konditionales anzunehmen, ohne sie zu zerstören, ohne sie ihres Platzes inmitten der Wirklichkeit zu berauben, die sich vom Nicht-Konditionalen nährt. Der kleine Don Quichotte rittlings auf seinem Stock fordert alle Idole der Welt und ganz besonders den Hang zur Unterwerfung unter das in seinem Geist verborgene Idol heraus. Sein Spiel spricht dem Sichtbaren jede Überlegenheit ab, die, wenn sie sich durchsetzte, das Unsichtbare zerstörte. Inmitten des Universums verweilt das Idol - das die „erwachsenste" Sache der Welt ist: ein Objekt, das vorgeblich in sich selbst die ganze kosmische Möglichkeit des Sinns beinhaltet (und deshalb fähig ist, „vor Haß zu zerspringen", wenn es dem Sinn gegenübersteht). Das Idol ist ein Panzerschrank, in dem die „absoluten Werte" verwahrt liegen - die Schlüssel zum irdischen Paradies (deshalb zeigt es soviel Haß gegenüber dem unsichtbaren Paradies). Die geringsten „kindlichen" Bekundungen, die die andere, die nicht-konditionale Dimension offenbaren und die fiktive Natur des Idols enthüllen, provozieren seine Wut. Und die „absolute Ideologie" - diese zeitgenössische Form der Anbetung des Idols - müßte tatsächlich „Idolologie" heißen. Wir sind deshalb mit zwei entgegengesetzten Strukturen konfrontiert, die sich auf gegensätzliche Weise bestimmen ließen: Das Spiel ist die Freude an dem, was konditional ist in der Perspektive einer Begegnung mit dem Nicht-Konditionalen; die Idolologie ist die Verehrung von Halb-Wahrheiten, die vom Haß auf die Wahrheit beseelt wird. „Die Ideologie ist unbezwingbar, weil sie genau ist", so lautet beispielsweise einer der leninistischen Slogan-Syllogismen. Die elementaren Grundsätze der Logik werden tabu,

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zum Schaden des Denkens, das Opfer seines Programms wird. Tabu auch jede Erinnerung an das, was zuvor, anstelle des gegenwärtigen Idols existieren konnte. Diese marantischen Aspekte legen uns ebenso wie auch andere des idolatrischen Denkens folgende Diagnose der gesellschaftlichen Organisation nahe: Totalitansmus. Und das Konditionale? Es wird zum Riß, der das Idol tief spaltet. Die Einführung des Dualismus ist bereits der Ubergang zur Pluralität, die Erschütterung des Unerschütterbaren. Das Sportflugzeug, das wie ein Spielzeug auf dem Roten Platz, im Herzen der Supermacht aufsetzte, hat den Riesen in Verwirrung gestürzt. Während der junge Pilot (M. Rust) sich einfach nur „amüsieren", auf seinem kleinen Luftpferd tummeln wollte. Ich weiß nicht, ob die Schönheit die Welt retten wird, aber ich sehe ganz deutlich, daß die Kühnheit und die spielerische Schalkhaftigkeit sie außer Fassung bringen.

Dominique Jehl

Ethik und Ästhetik des Grotesken

Vielleicht ist es ein Wagnis, sich im Zusammenhang mit der Frage nach der „Ethik der Ästhetik" mit dem Begriff des Grotesken eingehender zu beschäftigen. Denn die Kategorie des Grotesken hat bis jetzt zu vielen zugleich anregenden und einander widersprechenden Interpretationen Anlaß gegeben, die sich mehr zu einer Phänomenologie der Künste als zu einer Analyse der Beziehungen zwischen Ästhetik und Anthropologie zu eignen scheinen. Meine Absicht ist es keineswegs, eine neue Studie über die Komponenten des grotesken Stils zu unternehmen, und die Beziehungen zwischen dem Grotesken und der Satire, dem Grotesken und dem Phantastischen oder dem Absurden herauszuarbeiten. Ich möchte das Gro/teske als eine Schöpfungsform betrachten, die für eine Untersuchung über Sinn und Bedeutung der Ästhetik in ihrem Verhältnis zur Existenz aufschlußreich ist. Den Grund dafür erkenne ich eben im paradoxen Wesen des Grotesken, das zwischen Extremen angesiedelt ist und alle Kontraste in sich vereint. Das Erste und Letzte im Grosteken ist wohl seine Fähigkeit, Elemente zu amalgamieren, die sich in anderen Kunstformen in keiner Weise verschmelzen lassen. Eben diese Fähigkeit unterscheidet ζ. B. das Groteske auf der Bühne vom bloßen nebeneinander der Tragikomödie. Inwieweit ist diese dem Grotesken innewohnende Eigenschaft mit dem Wesen des Ästhetischen verbunden? Ist es möglich, aufgrund einer allerdings bescheidenen Philosophie des Grotesken die zwischen Ethik und Ästhetik immer bestehende Spannung zu erklären oder gar teilweise aufzuheben? Ein Uberblick über die Geschichte des Grotesken wirft etwas Licht auf diese komplexe Situation. Diese Geschichte besteht nämlich aus Gegensätzen, die in den widersprechenden Ansichten der zwei größten Groteske-Interpreten, Wolfgang Kayser und Michail Bachtin, am deutlichsten hervortreten. Beide haben Bild und Wesen des Grotesken in zwei Epochen angesiedelt, die zu divergenten Deutungen Anlaß gaben. Der größte Teil von Kaysers Analyse beginnt mit dem 18. Jahrhundert; Bachtin hingegen geht vom Mittelalter und von der Renaissance aus.

%

Dominique Jehl D e r groteske Stil in Rabelais' Werken bedeutet Entfaltung und Ausdehnung, Anhäu-

fung und Verschwendung. Es ist ein Stil des um sich wuchernden, überfließenden Lebens, in dem das „nahezu körperlich erlebte Gefühl der Einheit, des unerschöpflichen Wesens der Existenz" sich deutlich widerspiegelt. 1 Diese kollektive lebendige Form des Grotesken unterscheidet sich radikal von derjenigen, die Wolfgang Kayser im Lichte des romantischen Idealismus als die wesentliche Form des Grotesken beschrieben hatte. Bachtin betont im Grotesken den dynamischen, beweglichen und ambivalenten Aspekt und sieht in ihm eine Kategorie der Ästhetik, in der die Rolle des Körpers und der Sinne ausschlaggebend ist. Eine solche Auffassung entspricht keineswegs der heute geläufigen Interpretation des Grotesken als einer kritisch deformierenden Darstellung der Wirklichkeit. Für Bachtin bedeutet das Groteske keine tragische Verzerrung, sondern eine Form üppiger Entfaltung, die in sich Realismus und Phantasie versöhnt und auf diese Weise die Einheit des Lebendigen aufrechterhält. Bachtin hat sich früh mit dem Problem Rabelais in der Geschichte des Realismus befaßt. Schon 1940 schrieb er eine Dissertation über „Rabelais in der Geschichte des Realismus" 2 . Seine große Rabelais-Studie (1965) ist eine Auseinandersetzung mit den Theorien Wolfgang Kaysers, dessen berühmtes Buch über das Groteske 1957 erschienen war. Auffallend ist die Diskrepanz zwischen beiden Werken. Diese Diskrepanz entspricht - und das soll hier besonders hervorgehoben werden - , zwei vollkommen divergierenden Auffassungen der ästhetischen Realität. Wesentlich ist für Kaysers Interpretation des Grotesken das Phänomen der Entfremdung. „Das mit Lächeln gemischt Grauen hat seinen Grund eben in der Erfahrung, daß unsere vertraute und scheinbar in fester Ordnung ruhende Welt sich unter dem Einbruch abgründiger Mächte verfremdet, aus den Fugen und Formen gerät und sich in ihren Ordnungen auflöst." 3 D i e von Bachtin so stark betonte Ambivalenz führt hier zu einer dem Bachtinschen Standpunkt vollkommen entgegengesetzten Auffassung. Das Groteske erscheint nämlich in tragischer Beleuchtung als ein Verlust der Identität, als das, was Freud in seiner Analyse von Ε . T. A . Hoffmanns „Der Sandmann" - einem nach Kayser typisch grotesken Werk - als das „Unheimliche" bezeichnet. D i e erste Bedeutung des Wortes „unheimlich" ist wohl: ohne H e i m , ohne Standort, ohne einen eigenen Raum der Existenz. Das Groteske, das bei Bachtin in der Realität des Lebens angesiedelt war, erscheint nunmehr als eine abgründige Welt, die sich selbst nicht erfassen kann und in totaler Inkonsistenz zwischen dem Wirklichen und dem Unwirkli-

1 Zitiert nach der frz. Übersetzung: Mikhail Bakhtine, L'oeuvre de Franfois Rabelais et la culture populaire au Moyen Age et sous la Renaissance, Paris 1970, 47. 2 1940 als Schreibmaschinenmanuskript veröffentlicht. 3 Wolfgang Kayser, Das Groteske, seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg 1961, 38.

Ethik und Ästhetik des Grotesken

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chen schwankt. Kein Wunder, angesichts dieser neuen Situation, wenn ein moderner Interpret die Struktur des Grotesken mit derjenigen von Erwartung und Enttäuschung verbindet. „Ein Werk wirkt grotesk, wenn es die Struktur von Erwartung und Enttäuschung im Leser w e c k t . " 4 Bachtins Reaktion auf Kaysers Analyse ist vielleicht zuerst ein Versuch, das Ästhetische als Kategorie des Lebens zu rehabilitieren. Seine Auffassung des Grotesken entspricht einer Auffassung der Ästhetik, die mit der Natur unlösbar verbunden wäre, und zwar mit einer Natur, die in voller Eigenständigkeit walten würde und nicht -

wie

allzuoft in der klassischen Tradition - durch die Vernunft kontrolliert, wenn nicht gar mit ihr gleichgesetzt würde. Zwei Komponenten sind hier wesentlich: zuerst der Körper, der bei Rabelais eine außergewöhnliche D y n a m i k besitzt und als die Quelle immer neuer Assoziationen, Projektionen und sogar Fiktionen erscheint. Hans Robert Jauß sagt sehr treffend von den Rabelaisschen Helden: „Das Lachen über ihren Riesendurst und Riesenhunger, über die unersättliche Sexualität oder ungeheuerliche Skatologie ihrer ,Faits et dits heroiques' setzt die aus der epischen Idealität verdrängte Körperlichkeit des menschlichen Daseins wieder ins Recht und diejenigen ins Unrecht, die an diesem A k t der Befreiung des Kreatürlichen moralisch Anstoß nehmen."5 Hier erscheint eine zweite Dimension, und zwar das Spielerische, das sich bei Rabelais mit ungeheurer Macht entfaltet. D i e Rolle der Phantasie war ausschlaggebend in der ornamentalen Malerei der Renaissance, in der sogenannten „grottesca", in der verschiedene Formen aus der Tier- und Pflanzenwelt sich in einer „phantastischen Spielwelt" 6 begegneten. D e r französische Kunsthistoriker Andre Chastel spricht mit Recht von „einem undefinierbaren Spiel von Schwingungen und Symmetrien, von einem Prinzip kosmischer Unregelmäßigkeit" und verwendet dafür das Wort „libertinage" 7 . Die Ästhetik des Grotesken beginnt mit der Phantasie, findet aber ihren Höhepunkt in einer Durchdringung von Phantasie und Leben, in einem systematischen Willen, die Wirklichkeit in all ihren Dimensionen, in den bewußten wie in den unbewußten zu untersuchen. Die deutsche Klassik hatte schon die Ausmaße des Schönen erweitern und die Ästhetik von der seit Piaton bestehenden Vormundschaft der Ethik befreien wollen. Schiller selbst, der in seiner Jugend Schönheit und Moral eng verband, sucht im Spieltrieb ein Mittel, den Menschen in der Totalität seiner Möglichkeiten zu erfassen.

4 Carl Pietzeker, Das Groteske, in: Das Groteske in der Dichtung, hrsg. von Otto F Best, Darmstadt 1980, 87. 5 Hans Robert Jauß, Der Rabelaissche Held als Gestalt grotesken Lachens, in: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik 1, München 1977, 277. 6 Wolfgang Kayser, Das Groteske, a.a.O., 22. 7 Andr£ Chastel, La Grottesque, Paris 1988, 18: „Categorie esthitique oü se cache, sous un jeu indifinissable de balancements et de sym^tries, un principe d'irrögularit£ comique, de libertinage."

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»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." 8 Aber dieses Ideal des Spieltriebs wird aufgegeben durch „das Ideal der Schönheit, welches die Vernunft aufstellt" 9 . Ganz anders ist die Rolle des Spiels in der Bachtinschen Kategorie des Karnevals, in der sich das Lachen und die materielle und körperliche Realität vereinigen. Das so interpretierte Groteske gehört zu einer Ästhetik, die auf einem Ritual beruht, in einem mehr vorreligiösen als religiösen Sinne. Bekanntlich erweitert Bachtin das Motiv des Karnevals - etwa in seiner Dostojewski-Studie, im Sinne einer komplexen Kommunikationsstruktur. Das Körperliche setzt sich hier als Prinzip im Geistigen fort, ganz anders allerdings als in der klassischen Ästhetik, in der das Sittlich-Geistige tonangebend blieb. Jedenfalls erscheinen in der Bachtinschen Auffassung des Grotesken die Grenzen der Ästhetik als sehr umfangreich. Der Grund dafür liegt wohl zuerst in der fundamentalen Ambivalenz, die sich zu einer Darstellung von allen Formen der Wirklichkeit eignet. Das Groteske nach Wolfgang Kayser könnte zuerst - historisch gesehen - als eine Reaktion des Geistes betrachtet werden, der die Ambivalenz ablehnt, zu seiner Einsamkeit heimkehrt und die Welt als Entfremdung erlebt. Das polyphonische Prinzip wird durch das monologische ersetzt. Der Drang nach Expansion, der groteske Uberfluß scheinen auf einmal zu erlahmen und werden abgelöst durch eine groteske Form der Automatisierung, die das Leben in eine starre Mechanik und den lebendigen Körper in eine tote Puppe verwandelt. In den Werken, auf die sich Kayser für seine Begründung des Grotesken beruft, entdeckt man eine neue Struktur, die der Erlahmung und der Reduktion. Das ist auffallend in einigen dramatischen Werken des Sturm und Drangs, besonders in Lenzens Stücken, in denen die Gestalten „wie Marionetten in der Hand fremder Mächte wirken" 1 0 . Diese Bemerkung Wolfgang Kaysers läßt sich sehr gut auf spätere Werke wie Büchners „Woyzeck" oder auf Hoffmanns tragisch-groteske Erzählungen anwenden. In ihnen werden die Gestalten allmählich ihrer Autonomie beraubt, sie sind lauter Marionetten in der Hand des Schicksals. Man könnte einwenden, diese Struktur sei einfach die des Tragischen. Aber das Tragische setzt Freiheit, Kampf, Aktivität voraus. Grotesk ist die neue Welt im Sinne einer Perversion der traditionellen Kategorien der ästhetischen Welt. Das Komische wird tragisch, das Tragische verliert seine Integrität. Diese auf paradoxe Weise innerhalb des vermeintlich so dynamischen Sturm und Drangs beginnende Bewegung setzt sich in der Romantik und bis in die heutige Moderne fort. Die ungeheure Macht des Lachens scheint jetzt aus dem ästhetischen Reich verbannt und mit ihm verschwinden auch die reichen Möglichkeiten der Ambivalenz. Einige Werke der Renaissance vereinigten in sich das Groteske als Entfremdung mit dem Grotesken als Uberfluß: etwa die erstaunli-

8 Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (15. Brief). 9 Ebenda. 10 Wolfgang Kayser, Das Groteske, a.a.O., 44.

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chen Kompositionen eines Hieronymus Bosch, in denen der phantastische Schauer durch das unendlich kreative Spiel der graphischen Invention kontrolliert und aufgewogen wird. A m Ende des 18. Jahrhunderts wird das Komisch-Groteske durch das Tragisch-Groteske in den Schatten gestellt. D a s spielerisch Groteske erhält sich als ästhetisch unentbehrliche Qualität in der romantischen Arabeske und sogar in vielen Novellen H o f f manns. Aber es beginnt eine aufschlußreiche Allianz zwischen dem Grotesken und dem Phantastischen, das in England im „gotischen R o m a n " einen ersten Höhepunkt erreicht. Diese in den Definitionen Kaysers deutlich spürbare Assimilierung zwischen Groteske und Phantastik ist für die neue Zeit charakteristisch. Der moderne Mensch scheint den vielfältig ambivalenten Möglichkeiten der Ästhetik, die das Groteske der Renaissance in sich enthielt, nicht mehr gewachsen zu sein. Auffallend ist hier die Reaktion einiger großer Vertreter der Moderne, die gegen das Groteske deutlich Stellung nahmen: G o e the, als deklarierter Feind des „Monströsen", aber auch Hegel, der die Mischung zwischen Natur und Geist in der indischen Kunst ablehnte. 1 1 So reagierte der „ H o m o aestheticus" der Klassik und der Romantik. Er weigerte sich, die Begegnung zwischen Natur und Geist in der Form der grotesken Ambivalenz hinzunehmen. Die Arabeske als freies Spiel der Phantasie fand noch bei ihm Anerkennung, aber er lehnte das Groteske ab, da es die Trennung zwischen Natur und Vernunft vollzieht, die in der nachplatonischen Ästhetik innig verbunden blieben. Jedenfalls ist damit eine wesentliche Dimension der Ästhetik aufgeopfert. D i e im deutschen Geist immer vorhandene Tendenz zur Versöhnung zwischen Ästhetik und Ethik hätte in der Ambivalenz der Renaissance-Groteske eine originelle L ö s u n g finden können. Die spätere Erfahrung des Grotesken als Entfremdung bedeutet in dieser Hinsicht eine Art Kapitulation. Die Ästhetik scheint hier auf einmal sich selbst den Krieg zu erklären oder jedenfalls die Grenzen ihrer Fähigkeiten und Tätigkeiten ungeheuer einzuschränken. D a s im Bachtinschen Sinne verstandene Groteske glich einem Abenteuer im Sinne einer Erweiterung der Grenzen der Kunst. D a s Groteske der Entfremdung eröffnet allerdings einen neuen Bereich des Imaginären, aber bedeutet gleichzeitig eine gefährliche Erlahmung und Verarmung, die in gewisser Hinsicht der äußerlichen Erstarrung eines immer technischer werdenden Jahrhunderts entspricht. Wäre etwa das lebendige Groteske nur innerhalb einer vor-modernen Zeit möglich? Ein Blick auf die späteren Formen des G r o t e s k e n gibt eine Art Antwort auf diese Frage und wirft zugleich ein Licht auf die Wechselfälle moderner Ästhetik in ihren Beziehungen zur Ethik. Ich will hier zwei A s p e k t e der grotesken Kunst hervorheben, die diese Beziehungen besonders erhellen: zuerst das, was ich als das kritisch satirische Groteske bezeichnen möchte. D i e s e Form wird besonders auf der Bühne deutlich, etwa bei Dramatikern wie Brecht und Dürrenmatt, bei denen das Groteske eine demonstrative Rolle hat und als das einzige Mittel erscheint, die jede Form hergebrachter Tragik weit

11 Vgl. ebenda, 204.

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übertreffende Unmenschlichkeit der Moderne zu suggerieren. Zum Beispiel können die Atombombe oder der Nazi-Terror nur im Stil des gewaltsam Lächerlichen angedeutet werden (Dürrenmatts „Die Physiker", Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui"). Dieses auf eine Form genauer Satire reduzierte Groteske hat neue, nicht unbeträchtliche Eigenschaften und eröffnet neue Perspektiven in der Kunst der Verfremdung. Das Groteske der freien Entfaltung läuft immerhin Gefahr, zugunsten einer beschränkten Satire seine Rechte einzubüßen. Hier drückt sich ein Mißtrauen gegen eine als Genuß aufgefaßte Ästhetik aus, 12 aber Schopenhauer, der Ästhetik und Askese gern assoziiert, und Kierkegaard, der Ästhetik in der Skala der Werte weit hinter Ethik und Religion stellt, hatten uns schon darauf vorbereitet. Überraschender sind die Folgen, die die Nietzschesche Weltschau für das Groteske hatte. Nietzsche scheint nämlich zuerst eine totale Rehabilitierung der Ästhetik herbeizuführen. Als Feind aller Theorien verwandelt er den Philosophen in einen Künstler. Die durch den Willen zur Macht gestärkte Kunst verleiht der ganzen wirklichen Welt, besonders dem Körper und den Sinnen, eine neue Würde und eine neue faszinierende Intensität. Aber Nietzsches paradoxer Individualismus befreit sich vom traditionellen Begriff des Subjekts genauso wie er sich von dem des Objekts befreit hatte, und er verwandelt schließlich die geistige Welt in eine Aneinanderreihung von Interpretationen. Die einzige Wahrheit ist die künstlerische Wahrheit und künstlerische Wahrheit ist zuallererst die Fähigkeit, jede Form von Tradition und Kontinuität wegzuwerfen und sich in seinem Anderssein zu behaupten. Hier erkennt man Nietzsches Einfluß auf das Programm der „Avant-Garde", ein Programm, das von manchem Künstler der Moderne als eine neue verführerische Art des Experimentierens verwendet wurde. Andererseits bedeutet diese Nietzschesche extreme Weisheit auf paradoxe Weise das Aufkommen einer neuen grotesken Weltschau, die im Expressionismus ihren Anfang und gleich ihren Höhepunkt fand. Ein Hauptzug der Expressionisten ist - in der Nachfolge Nietzsches — ihre Suche nach einem Anderssein, die sie keineswegs als willkürliches Experimentieren, sondern als die einzig mögliche Rechtfertigung ihres unbedingten Anspruchs erlebten. Die Suche nach dem Neuen ist eine verzweifelte Suche, und das einzige Mittel, die Realität zu erleben liegt darin, sie zu zerstören oder grotesk zu verzerren. Die Ästhetik wird in der nie aufhörenden Spannung zwischen Abbau und unmöglichem Aufbau angesiedelt. Das Gesetz ist hier nicht mehr Uberfluß und Expansion, sondern Tension, Reduktion, Abstraktion. Daher der schwindelerregende Rhythmus der oft ins Nichts mündenden expressionistischen „Stationendramen", die zwischen Abstraktion und Apokalypse schwebende Form des expressionistischen Gedichts. In dieser neuen Form des Grotesken scheint die Ästhetik Selbstzerstörung zu feiern. Bei näherem Betrachten aber erweist sich dieses neue Gesetz der Dissonanz als der

12 Hans Robert Jauß ( a . a . O . , 46ff.) untersucht sehr treffend die Wege zu einer Rehabilitierung des ästhetischen Genusses.

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mögliche Weg zu einer neuen Ästhetik, die auf paradoxe Weise eine neue Form der Ethik nicht ausschließt. Aus der unendlichen Spannung zwischen nie zu versöhnenden Positionen ergibt sich eine dissonante Dialektik, in der sich die widerspruchsvollen Strukturen des 20. Jahrhunderts widerspiegeln. Es ist vielleicht der für die Moderne einzig mögliche Weg, das Unausdrückliche auszudrücken. Dieses tragisch-positive Abenteuer des Expressionismus und eines Teils der modernen Kunst ist in Thomas Manns „Doktor Faustus" gut dargestellt, der oft als NietzscheRoman sowie als Schönberg-Roman gedeutet wurde. Dieses Werk, das auf viele Formen der grotesken Kunst immer wieder anspielt, kann zugleich als ein grotesker Roman und als ein Roman über das Groteske betrachtet werden. Durchaus grotesk im modernen Sinne ist die Analyse der nie aufgelösten Dissonanz als einzig möglicher Ausdrucksweise. Leverkühn, der Held, lehnt jede Form künstlerischer Objektivität und sogar den Begriff der Schönheit ab. Aber sein Bestreben ist in keiner Weise nur negativ, denn der Roman illustriert auch die künftigen Möglichkeiten einer in ihrer tragisch grotesken Phase begriffenen Ästhetik. 1 3 Auf dieser Ebene erreicht die Ästhetik eben in ihrem scheinbaren Versagen eine neue Dimension und eine neue ethische, gewissermaßen auch religiöse Qualität. Die unendliche, nie gelöste Spannung in der Dissonanz des Grotesken kann tatsächlich in der Unbedingtheit ihres Anspruchs der unbedingten Spannung gleichgesetzt werden, in der Kierkegaard, der den ästhetischen Lebensweg so entschieden ablehnt, das große Vorrecht der religiösen Welt erkennt. Hinter den verschiedenen Manifestationen des Grotesken wurde hier versucht, einige wesentliche Aspekte der ästhetischen Wirklichkeit in ihren Beziehungen zur Ethik zu zeigen. Der Anfang war die Renaissance-Groteske, und zwar an diesem günstigen Zeitpunkt, an dem die Phantasie sich von allen früheren Schranken befreit und in der grotesken Kunst ein ideales Feld entdeckt. Die frühe Form des Grotesken mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, die Komponenten der Wirklichkeit zugleich auszudehnen und in ihren Kontrasten lebendig in Einklang zu bringen, setzte der ästhetischen Welt sehr weite Schranken, innerhalb derer sich der Geist wie der Körper, der Gedanke wie die Sinne, das Individuelle und das Kollektive frei entfalten konnten. Diese Welt war insofern ethisch, als sie auf der Unschuld des Lachens gegründet war, und in der Freiheit ihrer spielerischen Entfaltung keiner Legislation bedurfte. Ihr ritueller Hintergrund stattete sie noch dazu mit einer religiösen Dimension aus. Das Groteske verwandelt sich später in eine der

13 Aus derselben Perspektive stammen die letzten Zeilen von Thomas Manns Artikel „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung": „ E r ist dabei zu den Firnen grotesken Irrtums emporgetrieben worden, aber die Zukunft war in Wahrheit das Land seiner Liebe, und den Kommenden, wie uns, deren Jugend ihm Unendliches dankt, wird er als eine Gestalt von zarter und ehrwürdiger Tragik, umloht vom Wetterleuchten dieser Zeitenwende, vor Augen stehen." (In: Thomas Mann, Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Bd. 3, Frankfurt/M. 1960, 4 9 . )

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Phantastik nahe Form der Entfremdung, dann in eine systematisch kritische Waffe und schließlich in eine Tendenz zur Verzerrung alles Bestehenden. Dies bedeutet eine bedenkliche Wendung in der Geschichte der modernen Ästhetik, die sich gegen sich selbst zu richten scheint. Bei näherem Zusehen aber zeigen die Formen des Grotesken eine geheime Kontinuität hinter der scheinbaren Diskrepanz. All diesen Formen ist nämlich ein Grundzug gemeinsam, der der grotesken Kunst ihre Spezifizität unter allen Formen ästhetischen Schaffens verleiht. Diesen Aspekt hat Baudelaire in „Curiosites Esthetiques" als eine Form von „vertige" sehr gut definiert. Er spricht vom „vertige du comique absolu", also von einer schwindelerregenden Form des Komisehen, die alle anderen Formen übertrifft. 14 Mit diesem Wort „vertige" unterstreicht Baudelaire eine wesentliche Eigenschaft in der echten Tradition des Grotesken. Ich meine die extreme Tention, die auf allen Stufen als die geheime Triebkraft des grotesken Schaffens erschien, sowohl in der imaginativen Hypertrophie eines Rabelais als auch in der verzerrenden Phantasie vieler Expressionisten. Allerdings entspricht das konvulsivische Groteske der Moderne im Vergleich zur frohen Üppigkeit Rabelais' einer neuen Form von Hypertrophie, die als Antwort auf den Zwang eines übertechnisierten Jahrhunderts gedeutet werden kann. Auch in diesem Sinne kann von einer ethischen Funktion des Grotesken die Rede sein. Wie dem auch sei: Die Synthese zwischen Ambivalenz und Tention, die sich als die echte Struktur des Grotesken erwies, bedeutet eine sichere Abwehr gegen eine mögliche Erlahmung der Ästhetik und verschafft ihr sogar ethische Dimensionen. Die moderne Form des Grotesken enthält in sich zugleich einen Protest gegen die Bedrohung der Ästhetik durch die um sich greifende Macht des Künstlichen und gleichzeitig ein Gegenmittel gegen diese Herrschaft. Denn das Groteske, das in der Form der Automatisierung mit einer Art erstarrendem Nihilismus zu koinzidieren schien, behält jedoch in sich auf jeder Stufe eine spielerische Potenz, die es vor der Erstarrung schützt und die wir als aktives Prinzip der Unbestimmtheit bezeichnen möchten. Unbestimmtheit nicht im Sinne von Unklarheit und Sinnverlust, sondern als ein Sinnbereich, in dem sich die Synthese zwischen Ambivalenz und Tention vollziehen kann. Eine solche Form aktiver Unbestimmtheit war schon am Werk in der ornamentalen Groteske nach der Renaissance, in der das freie Spiel der ineinander verschränkten Motive sich manchmal in eine Art Auflösung aller festen Formen verwandelte, ζ. B. in der „Knorpelgroteske" eines Johann Heinrich Keller oder eines Cammermeir. 15 Auffallend ist die Permanenz dieses Stils in der vielleicht großartigsten Form grotesker Kunst der Moderne, und zwar im Werk Samuel Becketts. Dieses Werk, das oft als systematische Parodie, als Zerstörung aller Lebens- und Kunstbedingungen mißdeutet wurde, steht immer noch in der großen Tradition des unaufhörlichen Daseins in der

14 Charles Baudelaire, Oeuvres completes, Paris 1951, 717: „Qu'est ce que ce vertige, c'est le comique absolu." 15 Vgl. Wolfgang Kayser, Das Groteske, a.a.O., 24.

Ethik und Ästhetik des Grotesken

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grotesken Kunst der Renaissance. N u r ist der schwindelerregende Überfluß zu einer Art schwindelerregender Reduktion geworden. Aber diese sich immer fortsetzende Reduktion besitzt ihre eigene Intensität. Die bei Beckett wie bei Rabelais vorhandene Kraft des Spielerischen verleiht dem grotesken Stil, der jede Form beschränkter Anspielung ablehnt, eine Art fortdauernde Tention im Unbestimmten: das „Endspiel" ist ein Spiel ohne Ende. So entsprechen die Modulationen des Grotesken mehreren Formen der Beziehungen zwischen Ethik und Ästhetik. Der alte deutsche Traum von einer totalen Durchdringung beider Bereiche fand in der Renaissance-Groteske zum ersten Mal eine Erfüllung, die in ihrer Art nicht übertroffen werden sollte. Denn das Ästhetische und das Ethische verfolgten in ihr dasselbe Ziel, d. h. die Verwirklichung und Intensivierung des Lebens. Damals durfte im unmittelbaren Sinne des Wortes von einer Ethik der Ästhetik die Rede sein. Zur Zeit der deutschen Klassik standen sich Ethik und Ästhetik wie zwei Kräfte gegenüber, aus deren Zusammenspiel ein echtes, aber prekäres Gleichgewicht entstand. Aber diese bedrohte Harmonie hat nichts mehr zu tun mit der ersten Entfaltung des Grotesken. Von nun an verwandelt sich das Groteske in eine Erfahrung, die gerade den Verlust der Harmonie bedeutet. Aber es behält nichtsdestoweniger eine durchaus positive Rolle innerhalb der Ästhetik, in der es die Funktion eines Warnsignals besitzt. Dank des Grotesken wird das „Schöne" durch das „Häßliche", das „Harmonische" durch das „Dissonantische" erweitert und korrigiert. In diesem Sinne besitzt das Groteske immer noch eine ethische Funktion im Bereich der Ästhetik. Die groteske Ambivalenz und die dem Grotesken innewohnende kritische Tention schützen die Ästhetik vor der Gefahr der Selbstgefälligkeit und des geistigen Donjuanismus, in dem Kierkegaard ihre Hauptsünde erkennt. So verstanden, erscheint das Groteske als eine Art Regulationsprinzip innerhalb der ästhetischen Welt und nicht als das Versagen der Ästhetik in einer automatisierten und entfremdeten Welt. Die Permanenz des spielerischen Elements, die Allianz zwischen Ambivalenz und Tention, Expansion und Reduktion machten das Groteske zu einer privilegierten Ausdrucksform, die in sich die vielfältigen und immer erneuten Möglichkeiten der Ästhetik zusammenfaßt.

Hans Ulrich Gumbrecht

Das Nicht-Hermeneutische

Interpretieren, das galt seit Wilhelm Dilthey, ist die elementare Form geisteswissenschaftlicher Praxis. Als Lehre von den Bedingungen und Zielen des Interpretierens macht die Hermeneutik diese Praxis zu einer Kunst - und sich selbst zu einer Grundlagendisziplin. Vor dem Hintergrund eines solchen Vorverständnisses gab es Ende der 70er Jahre Anlaß zu der Vermutung, daß es schlecht um die Hermeneutik stehe. Siegfried J. Schmidt etwa erregte 1979 erhebliches Aufsehen mit einem Artikel unter dem (Enzensberger zitierenden) Titel „Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation!". Im selben Jahr hatte Odo Marquard einen Vortrag der „Frage nach der Frage" gewidmet, „auf die die Hermeneutik die Antwort ist" - und einleitend mit der „dazugehörenden Versuchung" kokettiert, die Antwort „nicht zu finden". Doch Schmidts Untertitel - „Bekämpfen Sie das noch häßlichere Laster der richtigen Interpretation!" - machte deutlich, daß seine Polemik weniger auf den Status von Interpretation und Hermeneutik als auf den Autoritarismus bestimmter Interpreten und bestimmter Hermeneutiken zielte. Und weit davon entfernt, der Versuchung des Schweigens nachzugeben, wartete Marquard mit einer Fülle von Antworten auf seine Frage nach der Funktion der Hermeneutik auf. Interpretieren könne sowohl - durch Verfremdung tradierter Bedeutungen - von der Vergangenheit entlasten als auch - durch ihre adaptierende Umdeutung - Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart stiften. Vor allem aber war Marquards Aufsatz ein Plädoyer für den Vorrang der literarischen Hermeneutik, die er unter dem Prinzip „Nicht Wahrheit, sondern Originalität" gegen alle interpretatorischen Autoritätsansprüche stellte. Was beim Wiederlesen dieses Textes gut zehn Jahre nach seiner Veröffentlichung aber vor allem auffällt, ist die Uberschaubarkeit - wenn nicht geradezu die Beschaulichkeit - des Feldes der Möglichkeiten, in dem Marquard seine Argumentation entfaltete. Gegenüber der (guten) literarischen Hermeneutik gab es nur zwei (schlechte) Alternativen: jene Interpretationen, die für sich beanspruchen, die eine richtige Text-Bedeutung identifizieren zu können (Marquard meinte die Ideologiekritik) und die „Code-Knacker" (das waren die Vertreter der Semiotik), die

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nicht bereit waren, sich das angeblich jeder Interpretation vorausliegende „Verständnis" zunutze zu machen. Obwohl Wolfgang Iser über Jahrzehnte als ein Hauptvertreter jener literarischen Hermeneutik galt, deren liberale Prinzipien Marquard zum generellen Prinzip erheben wollte, vermittelt schon das Vorwort zu seinem eben erschienenen Buch „Das Fiktive und das Imaginäre" den Eindruck, daß mittlerweile in der Literaturwissenschaft - ohne das Feldgeschrei der 70er Jahre - eine Bewegung der Abwendung von der Hermeneutik eingesetzt hat. Anders als Marquard stellt Iser tatsächlich die Frage, „ob Literatur als Medium auch noch anderes als Gegenstand von Textinterpretation sein kann" - ohne sie sogleich negativ zu beantworten. Wenn aber die Literaturwissenschaftler nicht mehr ausschließlich „hermeneutisch aufgeklärte" Künstler der Textinterpretation sein wollen, dann werden zwei Prinzipien der Ausschließlichkeit brüchig, auf die Dilthey seine Konzeption der Geisteswissenschaften gegründet hatte: das Verständnis von Texten (und anderen kulturellen Artefakten) als „Ausdruck" des „Innern" eines Subjekts und die Ausblendung aller materiellen Aspekte, welche diesen Ausdruck ermöglichen. In Diltheys eigenen Worten: „Aber in der Natur der Wissenschaftsgruppe, über die wir handeln, liegt eine Tendenz [...], durch welche die physische Seite der Vorgänge in die bloße Rolle von Bedingungen, von Verständnismitteln herabgedrückt wird. Es ist die Richtung auf die Selbstbesinnung, es ist der Gang des Verstehens von außen nach innen. Diese Tendenz verwertet jede Lebensäußerung für die Erfassung des Innern, aus der sie hervorgeht." Heute zeichnet sich eine Konvergenz von Reflexionen im Nicht-Hermeneutischen ab. Unter ganz verschiedenen Motivationen blenden sie alle Diltheys Ziel einer „Erfassung des Inneren" aus - und sind häufig gerade von jener „physischen Seite" menschlicher Kommunikation fasziniert, welche er „in die bloße Rolle von Bedingungen herabgedrückt" sehen wollte. Vorerst sehen wir die Umrisse des Felds von nicht-hermeneutischen Theorien und Forschungspraktiken aber noch so unscharf, daß sie konvergent vor allem durch das erscheinen, was sie nicht mehr oder nur mehr am Rande thematisieren — nämlich die von Subjekten konstituierten und zwischen Subjekten zirkulierenden Strukturen des Sinns. Wolfgang Isers Frage nach der Besonderheit der Literatur „als Medium" etwa führt zum Imaginären als einer Schicht, die vor der Strukturiertheit und der Stabilität von Sinn liegt und deshalb in fiktionalen Texten zu einer bloß indirekten Artikulation finden kann. Nicht zu Unrecht verweist Iser deshalb auf die Nähe zwischen dem Imaginären und Jacques Derridas Begriff der „Schrift". Die Schrift soll nicht jenem Prinzip der binären Unterscheidungen unterworfen sein, aus denen nach einer von Derrida als „logozentristisch" kritisierten Sprachwissenschaft jegliche Sinnstrukturen entstehen; darüber hinaus soll sie sich jener stabilisierenden „Idealisierung" entziehen, durch die Sinn in den verschiedensten Kontexten als mit sich selbst identischer Sinn erscheinen kann. Mehr als alle anderen Diskurse unserer Kultur wird Literatur unter dieser Perspektive zu jenem Medium, in dem sich das Imaginäre „inszeniert" (Iser) oder in das sich „Spuren" der Schrift einzeichnen (Derrida). Als Konzepte, die auf einen Bereich vor der Ebene des strukturierten Sinns bezogen sind, visieren das Imaginäre und die Schrift das an, was bei

Das Nicht-Hermeneutische

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Hjelmslev „Inhaltssubstanz" - im Gegensatz zu „Inhaltsform" - geheißen hatte. Weil sie unstrukturiert und instabil ist, sperrt sich die Inhaltssubstanz prinzipiell der hermeneutischen Übertragung in begriffliche Sprache. Es ist in den gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Debatten zu einem Gemeinplatz geworden, die Nähe zwischen den von Jacques Derrida und Paul de Man vertretenen Positionen zu betonen - doch vielleicht ist diese Nähe nicht viel mehr als die gemeinsame Ausblendung der hermeneutischen Perspektive. Denn ein Äquivalent zum Konzept der „Schrift" gibt es bei Paul de Man nicht. Zumal seine späten Schriften die Ausarbeitung einer Technik des „rhetorischen Lesens" verfolgen. Sie sind ausschließlich auf die Formen der Texte konzentriert und widerstehen jenem Habitus, der aus dem Zusammenspiel der Formen Sinn entstehen läßt und dabei zugleich die Formen aus dem Auge verliert. Im rhetorischen Lesen werden die Texte der Verfügung des sinnkonstituierenden Subjekts entzogen. Dieser Aspekt - und allein dieser Aspekt - macht Literaturwissenschaft in der Version von Paul de Man anschließbar an Michel Foucaults Diskursanalyse. Die Betonung, welche Foucault auf die Äußerlichkeit der Diskurse legt, gilt nämlich nicht der Äußerlichkeit (oder der „Materialität") von Signifikanten, sondern begründet eine Analysetechnik, welche die Inhaltsformen der Texte von den spezifischen Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption durch Subjekte trennt. Diskursanalyse ist nicht an der „physischen Seite" der Kommunikation interessiert - aber noch weniger geht es ihr um die „Erfassung des Innern". Während jedoch Foucault die Möglichkeit der Hermeneutik wohl gar nicht prinzipiell leugnet — sondern nur ausblendet - , hat Niklas Luhmann eine systemtheoretische Fassung des Verstehensbegriffs vorgeschlagen, in der „das Andere" (das andere Subjekt, das andere psychische oder soziale System) prinzipiell unerreichbar bleibt. Denn er definiert autopoietische Systeme als blind gegenüber ihrer Umwelt. Was wir „Verstehen" nennen, beschreibt Luhmann deshalb als eine innerhalb der Systeme vollzogene Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. An ihr orientieren sich die internen Operationen der Systeme, und auf ihr als Grundlage werden die beiden Pole Selbstreferenz und Fremdreferenz je noch einmal als Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz erfahren. Verstehen erscheint dann als ein Oszillieren zwischen dem Fremdreferenz-Aspekt der primären Selbstreferenz und dem Selbstreferenz-Aspekt der primären Fremdreferenz, als ein Oszillieren, das sich innerhalb der Grenzen eines Systems abspielt und nie mit der „wirklichen" Fremdreferenz außerhalb des Systems konfrontiert werden kann. Diese Unerreichbarkeit des Anderen wiederum ist ein Motiv, das - im Anschluß an Levinas - auch in Derridas Philosophie eine bedeutsame Rolle spielt. Als Ausgangspunkt für eine Kritik des Begriffs „kulturelle Aneignung" begründet es mittlerweile das Interesse verschiedener Forschungsrichtungen des Multikulturalismus an der Dekonstruktion. Gewiß läßt sich nicht so etwas wie ein „gemeinsamer Nenner" für de Mans rhetorisches Lesen und Foucaults Diskursanalyse, für Luhmanns Verstehensbegriff und die Dimension des Anderen bei Derrida angeben. Die Konvergenz dieser Positionen - oder eher, im Sinne Wittgensteins, ihre Familienverwandtschaft - liegt allein darin, daß sie gemeinsam die Möglichkeit des Verstehens von subjektivem Sinn umgehen, ausblenden,

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leugnen. Deutlicher erscheint im Bereich des Nicht-Hermeneutischen die Nähe zwischen solchen Forschungspraktiken und Theorien, die zu ihrem Thema die Form und die Substanz der Signifikanten gemacht haben - jene „physische Seite", welche Dilthey auf die Hintergrundszene der Geisteswissenschaften verbannt hatte. Eine Äußerlichkeit der Sprache, die nicht identisch ist mit der „Äußerlichkeit der Diskurse" in Foucaults Sinn, war bereits in Derridas früher Husserl-Kritik als ein Aspekt diskutiert worden, der durch das Vorherrschen des Paradigmas gesprochener Sprache im Blickfeld der europäischsprachphilosophischen Tradition verlorengegangen sei. Denn allein die akustische „Äußerlichkeit" gesprochener Sprache schwindet ja mit der Gegenwart ihres Gebrauchs. Mittlerweile hat eine neue Medienforschung dieses Motiv aufgegriffen. Ihre Anfangsimpulse bezog sie freilich weniger aus der Dekonstruktion als aus Marshall McLuhans Spekulationen über die Prägung menschlichen Denkens durch Materialität und Technologie der Kommunikationsmedien. In diesem Kontext hat Friedrich Kittler jüngst die radikale These zur Debatte gestellt, daß „es keine Software gebe". Damit betont er Abhängigkeiten wie die der verschiedenen Schreibprogramme, die wir in unseren Personalcomputern benutzen, von deren Input/Output-Systemen, welche ihrerseits „auf einigen elementaren Fuktionen beruhen, die in Silikon eingebrannt sind und deshalb zur Hardware gehören". Natürlich ist die Leugnung der Wirklichkeit von Software nichts anderes als die rhetorische Dramatisierung einer Verschiebung des WirklichkeitsAkzents - und unseres Interesses - von der Software zur Hardware. Daß diese Verschiebung jedoch mehr ist als ein kurzlebiges Aufflackern von Technikbegeisterung, zeigt sich an der vielleicht überraschendsten unter all jenen Konvergenzen, die wir als das NichtHermeneutische beschrieben haben: an der Konvergenz zwischen Kittlers ComputerReflexionen und jener Richtung der Mediävistik, die sich mittlerweile in den Vereinigten Staaten als „Neue Philologie" etabliert hat. In einer aufsehenerregenden Sondernummer der traditionsreichen Zeitschrift „Speculum" eröffnete Stephen G. Nichols 1990 eine Polemik gegen das historisch-kritische Edieren, weil es die in den mittelalterlichen Manuskripten überlieferte Pluralität der Varianten auf einen Idealtext reduziert und Phänomenebenen wie Handschriftqualitäten oder Illuminationen gänzlich unberücksichtigt läßt. Diese Vielfalt der in den Manuskripten gegebenen Wahrnehmungsfelder, so Nichols, sei ein ungeeigneter Ansatzpunkt für die an der Sinn-Intention eines Subjekts orientierte hermeneutische Interpretationspraxis. Solche Verschiebungen des Forschungsinteresses von den Sinnstrukturen hin zu den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ihrer Entstehung und ihrer Zirkulation sind zu zahlreich geworden, als daß man sie weiterhin einzelnen Theorie-Positionen zuordnen - und damit isolieren - könnte. Eine andere Frage ist es, wie lange die sich auf das Nicht-Hermeneutische wendenden Geisteswissenschaften noch Gewieswissenschaften bleiben können.

III. Wahrnehmung des Außen

Stephan Sting

Wahrnehmungskontrolle und die Ästhetik der Dunkelkammer

Mit der Aufklärung und der Entstehung der modernen europäischen Gesellschaften setzt sich eine spezifische Form der Wahrnehmungskontrolle durch. Die moderne Ästhetik als Art und Weise die Welt wahrzunehmen und sich in einem Verhältnis der Anschauung zu ihr einzurichten - enthält eine spezifische Ethik des Blicks. Ethik und Ästhetik konvergieren in einem sozial determinierten Arrangement der Weltbetrachtung, das weniger mit Hilfe der Moral an die Vernunft und den Verstand appelliert als vielmehr den Horizont der Sinne und der Vorstellung einschränkt. Die moderne Ethik des Blicks besteht in einer Distanzierung von den Verfänglichkeiten der konkreten, sinnlichen Umgebung zugunsten eines Uber-Sehens, das den Blick in die Ferne fixiert. Als Ästhetik etabliert sich ein spezifisches Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Licht und Dunkel, das sowohl die bildliche Darstellung der Umgebung als auch die Bildung des Subjekts in der Gesellschaft bestimmt. Dieses Verhältnis möchte ich in Ableitung vom Modell der Photographie mit dem Begriff der Dunkelkammer charakterisieren, verstanden als sozialer Raum, der sich zwischen Subjekt und Welt schiebt. „Dunkelkammer" bezieht sich dabei nicht nur auf das Labor zur Entwicklung photographischer Bilder, sondern ebenso auf die Kamera selbst als dunklen Innenraum. Die Kamera ist weniger eine black box, in die man nicht hineinsehen kann, als ein den Blick einschließendes Environment, das nur streng kontrollierte Wahrnehmungen durchläßt. Das photographische Modell ist nicht der Auslöser einer bestimmten Anordnung im Sozialen. Es ist eher ein Zwischenstadium der historischen Entwicklung, ein bestimmte Tendenzen bestätigendes und verstärkendes Resultat. Die Standardisierung des Sehens durch die Photographie verweist zunächst auf die camera obscura: Eine dunkle Kammer, zunächst ein richtiges Zimmer, später ein etwa fernsehergroßer Kasten, fängt einen einzelnen Lichtstrahl ein, oft durch spezielle Linsen gebrochen und gefiltert. Der Einsatz der camera obscura in der Malerei führt zu einer dreifachen Beschränkung des Blicks: Neben der Fixierung von Beobachterstandort und Perspektive etabliert er eine Distanz zwischen dem Betrachter und der betrachteten Umgebung, der das Naheliegende aus dem Blick

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ausschließt, also eine bestimmte Art des Fern-Sehens. Und er grenzt den Blickwinkel durch einen von der Lichtöffnung bedingten Rahmen ein, der Bildausschnitte aus dem Feld des Sichtbaren herausschneidet. Trotz dieser Beschränkungen setzte sich die camera obscura vom 15. Jahrhundert an allmählich als Hilfsmittel der Malerei durch 1 und führte Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer neuen malerischen Ästhetik, die auf die Bildkomposition zugunsten eines realitätstreuen Bildausschnitts verzichtete. Die Fähigkeit des Malers hing nach Jean-Claude Lemargny nun vom Einsatz des Rahmens ab, von der Verschiebung des imaginären Rechtecks des Bildausschnittes. 2 Mit der Einführung der Photographie verschwindet der bildende Künstler in seiner Dunkelkammer; er verschanzt sich in einem variablen, geschützten Beobachtungsposten, von wo aus er perspektivische und gerahmte Bildpartikel einer in der Ferne liegenden Außenwelt einfängt.

Soziale

Dunkelkammern

Die Durchsetzung des Camera-obscura-Blicks bei der Betrachtung der umgebenden Welt folgt keiner natürlichen Evidenz fortschreitender Aufklärung und Annäherung an die Wirklichkeit; sie ist eingebunden in eine Geschichte von Bildungsinstitutionen, die seit den Anfängen der europäischen Kultur dem Modell der Dunkelkammer entsprechende soziale Räume einrichten. Die christlich-europäische Kultur konstituierte sich im Schattenreich der Antike, in den unterirdischen Katakomben Roms. Die frühchristlichen Gemeinschaften versammelten sich in dunklen, von der Außenwelt und dem Rest der Gesellschaft abgeriegelten Grüften, um dort ein Leben nach eigenen sozialen Regeln zu führen. Im Dunkel der Katakomben kam trotz des Bilderverbots ein Bedürfnis nach Bildern auf, das seit dem 3. Jahrhundert zu ersten Christusdarstellungen in der Gewölbemitte führte. 3 Das Bild Christi stellte eine Art zentrale Beleuchtung dar, einen heiligen Lichtstrahl, der das Dunkel der Grüften und Grabkammern belebte. Die Situation der frühen Christen beinhaltete von Anfang an die Elemente des Photo-Realismus: das umgebende Dunkel, das vom Naheliegenden distanziert und den Blick auf ein in der Ferne liegendes Heil richtet, die Zentrierung der Perspektive durch Konzentration auf das Bild Christi und die Selektivität des Ausschnitts durch die Reduktion der Weltwahrnehmung. Schon diese frühe Dunkelkammer macht deutlich, daß der Blick nach draußen von sich aus keinen Kontext errichtet. So wenig, wie die Photographie ohne Beschriftung auskommt, so wenig können die Christen ihr reduziertes Dasein unabhängig vom Bezug auf die Heilige Schrift fristen. Die Reduktion des Wahrnehmungsfeldes geht einher mit der Herausbildung eines Verbindungsgliedes zum aus der Wahrnehmung ausgeschlossenen

1 Vgl. Newhall 1989, 9 - 1 3 . 2 Vgl. Lemargny, in: Lehner/Pfäffli 1990, 270. 3 Vgl. Runciman 1978, 16-19.

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Bereich. Das Verhältnis zwischen Innen und Außen, zwischen den Eingesperrten und dem Rest der Gesellschaft, bedarf eines zusätzlichen soziokulturellen Interfaces, das sowohl die perspektivischen Bildfragmente zu einem Gesamtbild zusammenschließt, als auch den eingegrenzten Raum im sozialen Kontext verortet und für wechselseitige Vermittlung und Verständigung sorgt. Dies ist Aufgabe der Schrift im weitesten Sinne. Mit der Schrift intervenieren ein kulturelles Gedächtnis und eine soziale Ordnung, die die Kontrolle der Wahrnehmung durch die Dunkelkammer zu einer spezifischen, soziokulturellen Wahrnehmungsorganisation ausweiten. Per Schrift verbindet sich die Ästhetik der Dunkelkammer mit einer historisch und gesellschaftlich bedingten Ethik der Bildsynthese und der Interpretation, die der Ästhetik nicht äußerlich ist, sondern die konstitutiv ist für die Herausbildung von Wahrnehmung überhaupt. Die frühen Christen gewannen ihre Orientierungen und sozialen Regeln aus dem Bezug auf die Heilige Schrift. Die Verschränkung ihres Lebens mit den christlichen Vorschriften führte zu einer sozial determinierten Wahrnehmung, zu einer schriftgeleiteten Existenz. Und umgekehrt ging die Bildung der Subjekte durch die Schrift, wie sie seit dem Beginn der Neuzeit sich zusehends ausbreitete, mit der Ausgestaltung der Schulen zu Dunkelkammern einher, die die Wahrnehmung der Insassen einschränkte. Symptomatisch für die Verbindung von christlicher Totenstätte und dunklem Klassenzimmer war die Umfunktionierung von Beinhäusern zu Schulen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. 4 Von ruhigen Friedhöfen umgebene kerkerartige Grüften erschienen als geeignete Stätten für die Schulbildung: In der Einübung des Lesens und Schreibens, im abgeschotteten Blick auf Bücher und Schrifttafeln, sollte sich Schritt für Schritt eine perspektivische, in der Ferne liegende Welt entfalten. Voraussetzung dafür war, daß die Schüler keinen Blick nach draußen werfen konnten, der nicht den Filter des Klassenzimmers durchlaufen hatte. 5 Die Schule etablierte wie die Dunkelkammer eine dreifache Beschränkung der Wahrnehmung: durch Ausgrenzung der Schüler aus der Gesellschaft, durch Selektivität des Wissens je nach verfügbarem Schriftmaterial und durch Perspektivität entsprechend den Bewertungkriterien des Lehrers.

Emile und Anti-Emile Ganz im Sinne der realistischen Malerei entwickelte Rousseau eine moderne Erziehungstheorie, die auf eine besondere Unterweisung oder einen vorstrukturierten Bildungsgang zugunsten der „natürlichen Reifung" verzichtete. Wie die Natur sich mit Hilfe der camera obscura von selbst abbildete, so sollte der Zögling sich von selbst ohne Zutun des Pädagogen bilden. Das Konzept der negativen Erziehung beinhaltete in erster Linie die Konstitution einer pädagogischen Zone, die gegen alle unkontrollierten Einflüsse der

4 Vgl. Diehl 1942. 5 Vgl. hierzu ζ. B . Comenius 1960, 9 0 f .

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Außenwelt abgeschottet ist. 6 Der Erzieher tritt zwar selbst nicht belehrend in Erscheinung, er bleibt unsichtbar; er gewährleistet aber durch seine permanente Anwesenheit eine pausenlose Kontrolle des Wahrnehmungsfeldes des Zöglings. 7 Da die Kontrolle total ist und von Anfang an besteht, da also der Zögling kein Außerhalb des pädagogischen Raums mehr kennt, erscheint ihm seine Abhängigkeit unausweichlich und natürlich. Der Pädagoge wird zu einem Künstler der Rahmung, der Bildausschnitte festlegt, die Einhaltung der Perspektive überwacht und durch seine permanente, aber unsichtbare Anwesenheit die Distanz zur Umgebung garantiert. In diesem Kontext vollzieht sich ein neues Lernen durch Erfahrung: Infolge der Etablierung einer pädagogisch beschränkten, durch und durch konstruierten Erfahrung, die den Zögling permanent auf Verhältnisse stoßen läßt, die ihn „Verpflichtungen" und „Notwendigkeiten" spüren lassen, 8 kann Rousseau die Bildung per Schrift ablehnen und den Bildungswert der Naturerfahrung hervorheben. Dennoch verbirgt sich in Rousseaus „Emile" die permanente Wirkungskraft schriftlicher Konzepte. Zunächst basiert die gesamte Theorie auf einer schriftlichen Fiktion, sie ist eingebunden in einen Erziehungsroman, der keinen Bezug auf Wirklichkeitserfahrungen vorweisen kann. Des weiteren bezeichnet Rousseau Emiles Erfahrungen als Lektüre im „Buch der Natur". Die Natur wird zum Buch, das allen Augen offensteht; Lesen und Erfahren vermischen sich wie die Natur des Emile mit der Vorschrift des Erziehers. Der pädagogische Raum entspricht dem Bild der Anordnung von Schriftzeichen im Text. Die Ordnung der Geschehnisse entspringt einer schriftgeleiteten Weltkonstruktion, die Lesen und Leben in eins setzen. Dementsprechend akzeptiert Rousseau keine Besonderheiten der Schrift mehr. Lesen und Schreiben werden zum bloßen „Sprechen mit Abwesenden" und erscheinen als natürliche Vorgänge; Emile findet in seiner Dunkelkammer selbstverständlich Geschriebenes vor, Briefe, die „deutlich, sauber und schön geschrieben" sind, 9 also geschrieben wie gedruckt. Das Vorhandensein gedruckter Texte erfordert, daß Emile lesen und schreiben können muß; die quasi-natürliche Konfrontation mit Schrift soll das Bemühen um Verständnis erregen, so daß Emile von selbst lernt ohne spezielle pädagogische Unterweisung. Der Zögling empfängt in seiner pädagogischen Dunkelkammer eine rundum beschriftete Welt, deren Konsistenz und Kontexthaftigkeit ihm unzugänglichen Vorschriften entstammt und die ihn letzten Endes in der Sozialordnung piaziert, ohne daß die Beschränkungen der Dunkelkammer überwunden werden können. Sein Verhältnis zur Welt enthält eine Ethik des Blicks, die ihn von der Umgebung distanziert und die seine Wahrnehmung und Interpretation der Umgebung auf eine subjektive Willkür verweist, die sich nur im Horizont der präfigurierenden pädagogischen Zone entfalten kann. Mit

6 7 8 9

Vgl. Sting 1991,165. Vgl. Rousseau 1981, 27. Vgl. Rousseau 1981, 70. Rousseau 1981,101.

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etwa 16 Jahren findet Emiles erster Eintritt in die Gesellschaft statt; doch selbst nach vollständiger Sozialisierung bleibt die Distanz zwischen ihm und den anderen bestehen. Sein Geist erscheint klar, aber begrenzt und seine Sicht der Welt ausschnitthaft und perspektivisch verzerrt. Emile bleibt „ein liebenswürdiger F r e m d l i n g " . 1 0 Gut 60 Jahre nach Emile taucht ein weiterer etwa 16jähriger Fremdling auf: I m Mai 1828 erscheint Caspar Hauser in Nürnberg, sprachlos und mit einem versiegelten Brief in der Hand, auf der Suche nach seinem Platz in der Sozialordnung. D i e Geschichte Caspar Hausers steht in unübersehbarer Beziehung zur Figur des Emile. Sie liefert ein komplementäres Negativbild zur Rousseauschen Erziehungstheorie, indem sie genau diejenigen Momente hervorhebt, die in Rousseaus Konzept als verborgene Implikationen stecken. Durch eine Umkehrung der Perspektive, die den Blick weg vom vorschreibenden Erzieher und hin zum beschriebenen Zögling lenkt, kommt das Zwanghafte Rousseauscher Naturerfahrung zum Vorschein. Caspar Hausers familiäre Herkunft und Heimat sind unbekannt; gerade seine Herkunftslosigkeit entsprach jedoch den Vorbedingungen moderner Subjektbildung, wie sie Rousseau am Beispiel des Emile skizzierte: „Emile ist Waise. E r braucht weder Vater noch Mutter. Ich übernehme alle ihre Pflichten und R e c h t e . " 1 1 D i e Namensgebung Caspar Hausers verweist auf diesen Kontext: Caspar ist der Name des Schwarzen unter den drei Heiligen Königen, Hauser parodiert die Hauslosigkeit. Als heimatloser Schwarzer avanciert Caspar zum „Kind Europas", dem in der Tradition Rousseauschen D e n kens Naturwüchsigkeit zugesprochen wird. Karl G u t z k o w beschrieb ihn als „Urmensch ohne Vorurteile" und „Muster der Menschheit". 1 2 Die Freisetzung von Herkunft und Heimat führte zur Einsperrung in die Dunkelkammer. Caspar Hauser verbrachte seine Bildungsphase in einem dunklen, unterirdischen Keller ohne jeden menschlichen Kontakt. Wie Emile wurde er in seiner pädagogischen Zone eingeschlossen und von einem unsichtbaren Erzieher betreut, der ihn während des Schlafs versorgte und seine pädagogische Umgebung mit Materialien für eine drastisch eingeschränkte Welterfahrung ausstattete. D i e Prämissen negativer Erziehung wurden strikt eingehalten: D i e Distanzierung von der Gesellschaft, die reduzierte und selektive Wahrnehmung, die nur einen vom Erzieher gefilterten Input erlaubte. U n d wie Emile merkte Caspar nichts von seiner Einsperrung; er war immer zufrieden und vergnügt, und sein Erzieher erschien ihm rückblickend als Unbekannter, den er als Wohltäter und R e t e r verehrte. 1 3 Kiine Biologie, Natur oder Herkunft widersetzte sich diesem selbstgenügsamen D u n kelkimmer-Dasein; die Verstörung setzte erst ein, als Caspar Hauser in die Gesellschaft eintrat. Seine von unbekannten Vorschriften konstruierte Lebensweise zeichnete sich

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Rousseau 1981, 365. Fbusseau 1981, 27. Gutzkow, in: Struve 1992, 86f. und Struve, 7f. V>1. hierzu ζ. B. Feuerbach, in: Hörisch 1979, 140 und 199; Hauser, in: Hörisch 1979, 88f.

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durch radikale Partikularität und Desintegration aus. W i e Emile erschien er als außerordentlich begrenzter Geist, der zur Bestimmung seines Verhältnisses zum Sozialen schriftlicher Verweise bedurfte. Caspar tauchte mit einem Brief in der Hand auf, der keine Äußerungen von ihm, sondern über ihn enthielt und der seine weitere Einschätzung und Eingliederung in die Gesellschaft bestimmte. Darüber hinaus erhielt er kurz vor seiner Entlassung aus dem isolierten Kerkerdasein Schreibunterricht: „Als das erstemal der Mann zu mir hereinkam, stellte er einen ganz niedrigen Stuhl vor mich hin, legte ein Stück Papier, und einen Bleistift darauf, dann nahm er meine Hand, gab mir den Bleistift in die Hand, drückte mir die Finger zusammen und schrieb mir etwas vor. Das that er recht oft, bis ich's nachmachen k o n n t e . " 1 4 Caspar wurde mit einer ihm unverständlichen Schrift konfrontiert, die er widerspruchslos kopierte. Es fand eine soziale Einschreibung statt, die reine Assimilation an die Vorschrift verlangte. Dementsprechend konnten seine späteren Versuche einer Autobiographie nichts anderes hervorbringen als eine Wiederholung seiner sozialen Zuschreibungen. Von Anfang bis Ende konnte er die Umzingelung durch Beschriftung nicht durchbrechen; nach vollendeter Sozialisierung endete er als Kopist beim bayrischen Appellationsgericht. D i e Beschränkung von Caspars Lebensbereich und der Ausschluß subjektiver Interventionsmöglichkeiten im Bildungsprozeß führte zu einer rein empirischen Wahrnehmung. Seine von Pädagogen diagnostizierte Folgsamkeit und Phantasielosigkeit, das Fehlen jeder gestaltenden und integrierenden Subjektivität, machten ihn zu exaktem Registrieren und Verdoppeln von Wahrgenommenem fähig. In medizinischen Gutachten wurde ihm eine außergewöhnliche sinnliche Sensibilität hinsichtlich des Visuellen bescheinigt, die sich mit einer übernatürlichen Stärkung des Gedächtnisses verband. Allerdings fehlte es ihm an Abstraktions- und Differenzierungsvermögen; er projizierte alle Eindrücke auf eine Ebene, vermischte Nahes und Fernes, Natur und Kunst, Lebendes und Totes: „Alle Gegenstände hatte er auf seinem Auge, sie schienen ihm auf diesem Organ selbst zu haften, wie die Gegenstände des Gefühls auf der H a u t . " 1 5 Caspars Wahrnehmung entspricht der photographischen Vision als Projektion der Tiefe auf eine Fläche, als reine Aufzeichnung von Wichtigem und Unwichtigem, die alles auf eine Stufe stellt. D i e Vorgaben der Dunkelkammer reduzierten die Wahrnehmung auf einen oberflächlichen, photographischen Blick, der sich einerseits durch Perspektivität und Ausschnitthaftigkeit und andererseits durch detailgetreue und exakte Abbildlichkeit auszeichnete. Caspars Natur wird zur Photo-Natur, deren Fähigkeiten sich im Rahmen sozialer Beschriftungen entfalten. So wenig wie Caspar über den Bereich außerhalb seiner partikularen Existenz verfügen kann, so wenig ist ihm sein eigenes Innenleben zugänglich. D i e Verweigerung subjektiver

14 Häuser, in: Struve 1992, 13. 15 Feuerbach, in: Hörisch 1979, 159.

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Intentionalität läßt dabei die Mechanik sozialer Einrahmung und Zuschreibung nackt zutage treten. Das Subjekt verschließt sich in seiner Dunkelkammer; als imaginäres Selbst nistet es sich in Momenten der Abwesenheit vom Sozialen ein und stellt von dort aus die sozialen Vorschriften in Frage. Mehrere Andeutungen verweisen im Fall Caspars auf die Abkoppelung eines imaginären, sich selbst konstituierenden Subjekts: Seine ursprüngliche Vorschrift, der einzige Satz, den er bei seiner Ankunft im Sozialen sagen konnte, lautet: „Ich möchte ein solcher Reiter werden, wie mein Vater einer w a r . . . " Das „wie" wurde durch Caspars Abbildhaftigkeit realisiert, durch die Kopie sozialer Vorschriften; das „Reiter werden" wird zu einem „Ritt ins Innere", zum Anknüpfungspunkt einer imaginären Subjektivität. Zeitlebens bewahrte Caspar eine merkwürdige, unvermittelte Pferdebegeisterung, die ergänzt wird durch eine Flucht ins Reich der Träume und des Unbewußten: „Oft äußerte er: das Bett sei das einzig Angenehme, das ihm noch auf dieser Welt vorgekommen, alles übrige sei gar schlecht. Erst seit er in einem Bette schlief, hatte er Träume . . . " 1 6 Die Flucht aus der Dunkelkammer führt ins eigene Innere, in eine fiktive Subjektivität trotz des alle Lebensbereiche erfassenden Sozialen.

Mobile Dunkelkammern Die Wirkungsgeschichte Caspar Hausers gibt Hinweise auf einen weiteren Ausweg heimatloser Europäer, auf eine reale Fluchtbewegung vor der sich verschärfenden sozialen Disziplinierung, deren befreiender Charakter allerdings höchst fragwürdig erscheint. In der literarischen Nachbearbeitung der Hauser-Geschichte durch Karl Gutzkow soll Caspar nach Amerika gebracht werden, was jedoch von seinem Bewacher verhindert wird. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er dagegen als literarische Figur nach Amerika projiziert. In der Ferne Amerikas wird Caspar, der Fremde, zum urdeutschen Karl, und die Abkehr von der Suche nach dem verlorenen Haus zugunsten der Pferdebegeisterung verwandelt Hauser in Roßmann. Karl Roßmann betritt in Kafkas Roman „Amerika" als 16jähriger den amerikanischen Kontinent, aber nicht ohne seine Dunkelkammer mitzutransportieren. Nach seiner Ankunft im Hafen von New York irrt er durch die dunklen Gänge und Kabinen im Innern des Schiffs. Seine erste Annäherung an den unbekannten Kontinent geschieht aus der Dunkelkammer-Perspektive; von der Kabine des Kapitäns aus betrachtet er durch die Bullaugen hindurch das Treiben im Hafen: „Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man nur in der Ferne beobachten Hinter alledem aber stand New York und sah Karl mit hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja, in diesem Zimmer wußte man, wo man war." 1 7

16 Feuerbach, in: Hörisch 1979, 164. 17 Kafka 1991, 16.

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D a s Zimmer in einem Schiff erscheint als O n der Gewißheit und Festigkeit; es bietet den beschränkenden, distanzierenden Schutz der Dunkelkammer. D i e Reduktion der Wahrnehmung auf den Kamerablick und die Bezugnahme auf Geschriebenes sind für Kafka nicht nur schützender Rückzug, sondern Bedingungen klarer Erkenntnis, an die unmittelbare sprachliche Kommunikation nicht heranreichen kann. Während Karls Freund, der Heizer, sich sprechend vor dem Kapitän zu verteidigen versucht, starrt Karl aus dem Fenster und sieht „eine Bewegung ohne Ende, eine U n r u h e . . . Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung; aber was tat der Heizer? E r redete sich allerdings in Schweiß, . . . was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein trauriges Durcheinanderstrudeln . . . " 1 8 Der Einsatz der Dunkelkammer klärt und ordnet die Verhältnisse; zugleich wird sie auf ein Schiff versetzt und damit mobil und variabel. Als Roßmann das Schiff verläßt, kommt er nicht etwa ins ungeschützte Freie; er wird schnurstracks in ein Zimmer im sechsten Stockwerk eines Stadthauses versetzt, von dessen Balkon aus er das Geschehen N e w Yorks beobachtet. Er konnte eine Straße „zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter H ä u s e r " überblicken, die „von einem mächtigen Licht" durchdrungen schienen, „das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten A u g e so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen". 1 9 Kafkas Dunkelkammern enthalten alle zentralen Aspekte der modernen Ethik des Blicks: die Distanzierung, die Ausschnitthaftigkeit und die perspektivische Verzerrung. Zugleich gerät das Konzept der Dunkelkammer in Bewegung und wird in plurale, gegeneinander abgeschüttete Welten vervielfältigt. Der indirekt gewordene B e z u g des Subjekts zur Gesellschaft wird über divergierende soziale Umgebungen vermittelt, die jeweils eine spezifische Lebenswelt errichten. Für den optimistischen Habermas ζ. B . ist das Konzept der Lebenswelt unhintergehbare Ausgangsposition jeglicher sozialer Kommunikation. Er beschreibt sie in exakter Übereinstimmung mit den Kriterien der Dunkelkammer: D i e Distanzierung von der Außenwelt wird durch ihren „eingrenzenden C h a r a k t e r " und durch ihre „relative Undurchsichtigkeit" gewährleistet. Als fragloser Rahmen erzeugt sie eine deutliche, aber perspektivische Wahrnehmung durch ein intuitiv gegenwärtiges „ N e t z von Präsuppositionen", und sie reduziert die Welterfahrung auf einen „beschränkten Ausschnitt aktueller Reichweite". 2 0 Kafkas Romanfigur Karl Roßmann erscheint als Wanderer durch eine Serie divergierender Lebenswelten. Allen gemeinsam ist die spezifische Ästhetik der Dunkelkammer; aber in jedem einzelnen Fall wird er mit einer perspektivischen Verzerrung und Selektivität konfrontiert, die jeweils ein nach eigenständigen Regeln verlaufendes, ihm unverständliches Innenleben herausbilden. Sein Onkel erscheint ihm als undurchsichtiger

18 Kafka 1991, 20 f. 19 Kafka 1991, 37 f. 20 Vgl. Habermas 1981, 193 - 2 0 2 .

Wahrnehmungskontrolle und die Ästhetik der Dunkelkammer

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„Mann mit Prinzipien", denen er alles verdankt, was er ist. Im Hotel Occidentale wird er entlassen, da er unwissentlich gegen willkürliche Dienstregeln verstößt; und in Bruneidas Asyl wird er mit einem ihm völlig unzugänglichen Ensemble von Ordnungen, Regeln und Wertschätzungen konfrontiert, dem er sich dennoch nicht entziehen kann. Die Grenze zwischen innen und außen, die jede Lebenswelt umgibt und die Verbindung zur Außenwelt kontrolliert, beschreibt Kafka in aller Deutlichkeit bei dem Versuch Roßmanns, nach seiner Entlassung aus dem Hoteldienst auch das Gebäude zu verlassen. Der Oberportier hält ihn in der Portiersloge fest und verwandelt diese mit Hilfe schwarzer Vorhänge sofort in eine abgeschlossene Dunkelkammer, in eine Lebenswelt, in der sich alles nach seiner Willkür organisiert. Die Verbindung nach draußen wird durch die Arbeit der Unterportiers aufrechterhalten, die mit permanentem Telephonieren beschäftigt sind. Dem gewaltsam festgehaltenen Karl, den es nach draußen drängt, bleibt allein die genaue Beobachtung der Vorgänge der Telekommunikation. 2 1 Angesichts des permanenten Wechsels der Regeln und Perspektiven erscheint Karls Vorbildung partikular und unzusammenhängend; keine Erziehung und kein Wissen reicht aus, um ihn auf diese amerikanischen Verhältnisse vorzubereiten. Zugleich ist ihm die Möglichkeit zunehmender Lebenserfahrung verwehrt, da die vorausgegangenen Erfahrungen mit der jeweils neuen Situation inkompatibel sind. Kafka beschreibt eine neuartige soziale Desintegration, den Zerfall des Sozialen in divergierende Lebenswelten, deren Beziehung untereinander nicht mehr gesichert scheint. Jede Welt wird für sich zu einem selbsttätigen Kreislauf, auf den das Subjekt als Außenstehender keinen Einfluß mehr nehmen kann. Parallel dazu findet ein Zersetzungsprozeß der ehemals das Soziale integrierenden Schrift statt. Zwar wird alles Geschehen von permanenter schriftlicher Aufzeichnung begleitet; aber in der Fülle des Geschriebenen läßt sich keine soziale Vorschrift mehr auffinden. Kafkas Figuren müssen ohne den Brief auskommen, der die Existenz Caspar Hausers noch begleitete. Sie sind auf ihre Selbsteinschätzung und Selbstkonstitution verwiesen. Dies wird im Roman „Das Schloß" eindringlich dargestellt: Der namenlose Landvermesser K. versucht, beim Gemeindevorsteher Einsicht in die Akte über seine Beauftragung zu bekommen. Die Akte läßt sich jedoch nicht finden; das Zimmer quillt von der Fülle der Akten über. Wie das Soziale zerfällt die Schrift in einen Berg loser Blätter, in welchem sich die Gehilfen des Landvermessers zwischen hilflosem Buchstabieren und sinnlosem Wühlen hin und her bewegen. 2 2 Die Schrift gewährleistet keinen Bezug des Subjekts zum Sozialen mehr; weder integriert sie die verschiedenen Lebenswelten, noch stellt sie eine Verbindung zum Leben überhaupt her. Kafkas schreibende Beamte sind zwar gebildet, aber einseitig und spezialisiert; und „wenn die Herren vom Schreibtisch aufstehen, . . . finden [sie] sich in der

21 Vgl. Kafka 1991, 165f. 22 Vgl. Kafka 1974, 5 3 f .

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Welt nicht z u r e c h t " 2 3 . Andererseits akzeptiert Kafka keinen Ausweg aus der Schrift; das Subjekt bleibt auf die Verfahren der Schrift und die Ästhetik der Dunkelkammer angewiesen, wenn es sich selbst in seinem Verhältnis zum Sozialen konstituieren soll. D i e E t h i k des Blicks bleibt also erhalten, sie reicht jedoch nicht mehr hin, um die Wahrnehmungen und Interpretationen des Subjekts über seinen partikularen Lebensbereich hinaus verbindlich zu organisieren. In Kafkas Werk finden sich mehrere Hinweise auf eine neuartige Verfassung des Subjekts im Rahmen der skizzierten Prämissen. Kafka sah sein eigenes Schreiben als ein von jedem vorgefaßten Sprechen unabhängiges, quasi-rituelles Gebet. Im Schreiben sollte ein Geständnis stattfinden, das eine innere Erfahrung des Äußeren ans Licht bringt. D a s schreibende Subjekt vollzieht eine Selbstbildung, die sich allein an den Differenzen im Äußerlichen ablesen l ä ß t . 2 4 D i e Schrift gerät dabei in Bewegung; sie liefert keine einmalige, starre Vorschrift, sondern läßt das Subjekt in der Verschiebung des Geschriebenen durchscheinen. D i e Verschiebbarkeit des Geschriebenen erfährt Karl R o ß m a n n in seiner zentralen Schreibszene: E r wird nicht mit einem kleinen Stuhl und einer zu kopierenden Vorschrift konfrontiert; er sitzt statt dessen einem neuartigen amerikanischen Schreibtisch gegenüber, in welchem der ungeordnete Aktenberg des Gemeindevorstehers mühelos verschwinden könnte. D e r Schreibtisch zeichnete sich durch einen beweglichen Aufsatz mit hundert Fächern verschiedenster G r ö ß e aus; „außerdem war an der Seite ein Regulator, und man konnte durch Drehen an einer Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen" 2 5 . Das Subjekt versetzt die ehemals starr geordneten Aktenberge, um sich mit der neu gewonnenen Mobilität zu identifizieren. Dasselbe geschieht mit dem eingemauerten Blick aus der Dunkelkammer: Bela Baläzs, einer der ersten Filmtheoretiker und Zeitgenosse Kafkas beschreibt das „kurbelnde Bewußtsein" als eine neue Form menschlicher Selbstfindung mit Hilfe der Kamera. „ D e r innere Prozeß des Sich-Rechenschaft-Gebens hat sich nach außen verlegt. D e r ,klare Blick' wird mechanisch fixiert, damit man ihn länger behalte. D i e Selbstkontrolle des Bewußtseins war früher eine innere Bildfolge gewesen, nun wird sie als Filmrolle in den Apparat gespannt, mechanisch funktionierend und auch für andere sichtbar. . . . D e r psychologische Prozeß kehrt sich um. Man kurbelt nicht, solange man bei Bewußtsein ist, sondern man ist solange bei Bewußtsein, als man k u r b e l t . " 2 6 Bei Kafka finden sich permanent detaillierte, quasi-photographische Beschreibungen von äußerlichen Abläufen in Situationen, in denen man Gefühlsbekundungen und innere Regungen erwartet hätte. So vollzieht Karl Roßmann inmitten gewaltsamer, körperlicher Umklammerung durch den Oberportier eine scheinbar völlig teilnahmslose, geradezu

23 24 25 26

Kafka 1974,165. Vgl. hierzu Janouch 1965, 8 2 - 8 5 und 123. Kafka 1991, 38f. Baläzs 1984, 122f.

Wahrnehmungskontrolle und die Ästhetik der Dunkelkammer

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filmische Aufnahme von den Vorgängen in der Telephonzentrale. Er antwortet auf die Bedrohung mit einer „Kraft des zielenden Blicks", die nach Kafka danach streben soll, „die Welt aufzulösen". 2 7 Die filmische Aufnahme als Blick aus der mobilen Dunkelkammer wird letztlich zurückbezogen auf die Selbstgestaltung mit Hilfe der Schrift. Karl Roßmann findet in der Schlußszene des Romans „Amerika" eine Anstellung in einem rätselhaften, fast grenzenlosen „Naturtheater". Zu seiner Aufnahme erscheint er ohne Papiere. Da er jedoch ohne Beschriftung nicht aufgenommen werden kann, muß er sich seine Schrift selbst zusammenstellen. Zu dem Zweck gibt er sich einen Decknamen, der auf einer variablen Anzeigetafel auf dem Gelände einer Pferderennbahn veröffentlicht wird und ihn in der Grenzenlosigkeit des Theaters piaziert. 2 8 Der selbstgeschaffene, öffentlich inszenierte Name verweist auf eine neue, nach außen gewendete Form der Selbstgestaltung. Zugleich ist er falsch, ein Deckname, der das Selbst nicht bezeichnet, sondern verbirgt. Er bleibt damit eine oberflächliche Erscheinung der schriftlichen Verortung und distanzierten Dunkelkammer-Optik, die den anderen von außen als black box erscheinen läßt. Doch hinter der inszenierten Selbstbeschreibung steckt eine zweite Schrift, die das Selbst in eine Geschichte und eine individuelle Biographie einbindet. Die Wahl des Namens verweist auf die Schrift der Verschiebungen hinter den inszenierten Schriften; Karl Roßmann nennt sich „Negro, europäischer Mittelschüler". Seine Selbstinszenierung als europäischer Neger läßt ihn im Horizont seines Vorgängers Caspar Hauser verharren und verweist auf eine Geschichte Europas, die das Subjekt als Fremden unter seinesgleichen konstituiert. Die Selbstgestaltung des Subjekts bleibt in diesem Kontext an eine Ästhetik der Dunkelkammer gebunden, deren konstitutive Bedingungen in einer Ethik des Blicks bestehen, die sich durch Distanz, Selektivität und Perspektivität auszeichnet.

Literatur Baläzs, Bela (1984): Der Geist des Films, in: ders., Schriften zum Film, Bd. 2, Berlin. Brod, Max (1959): Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas, Frankfurt/M. Comenius, Johann Arnos (1960): Große Didaktik, hrsg. von Andreas Flitner, Düsseldorf - München. Diehl, Wilhelm (1942): Zur Geschichte der Beinhäuser, in: Hessische Chronik, Heft 2. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt/M. Hörisch, Jochen (Hrsg.) (1979): Ich möchte ein solcher werden wie . . . Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser, Frankfurt/M. Janouch, Gustav (1965): Franz Kafka und seine Welt, Wien - Stuttgart - Zürich. Kafka, Franz (1974): Das Schloß, Frankfurt/M. Kafka, Franz (1991): Amerika, Frankfurt/M.

27 Brod 1959, 21. 28 Vgl. hierzu und zum folgenden Kafka 1991, 232ff.

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Lehner, Bernhard/ Pfäffli, Andreas (1990): Point de vue - Der Blick aus dem Fenster. (Film-)Reise auf den Spuren der ersten Fotografie der Welt. (Schriftl. Bearbeitung: Paolo Bianchi), in: Kunstforum, Heft 110, Köln. Newhall, Beaumont (1989): Geschichte der Photographie, München. Rousseau, Jean-Jacques (1981): Emil oder Uber die Erziehung, Paderborn - München - Wien Zürich. Runciman, Steven (1978): Kunst und Kultur in Byzanz, München. Sting, Stephan (1991): Der Mythos des Fortschreitens. Zur Geschichte der Subjekt-Bildung, Berlin. Struve, Ulrich (Hrsg.) (1992): Der Findling. Kaspar Hauser in der Literatur, Stuttgart.

Richard Η. Brown

Realismus und Macht in ästhetischen Darstellungen

Realismus ist jene Art der Malerei oder des Schreibens, die für eine unmittelbare Darstellung der Welt, so wie sie ist, gehalten wird. 1 Warum aber gerade diese besondere Art und keine andere? Wie können unterschiedliche Arten der Darstellung jede zu ihrer Zeit als wahrheitsgetreu das Reale darstellend gelten? W i e interagieren die Modi der Mimesis, der Paradigmen der Stimmigkeit, mit Professionalismus, mit Eigentum und Privileg? Bei der Beantwortung dieser Fragen unterstelle ich eine Vernetzung ästhetischer und politischer Praktiken, zwischen der Formalisierung der Diskurse, den Privilegien ihrer Autoren und der politischen und ökonomischen Macht. Durch die Aufklärung dieser Beziehungen können wir Einblick in die A r t und Weise gewinnen, wie das Reale durch ästhetische Praktiken nicht nur ausgestaltet worden ist, sondern auch, wie es geschichtlich, strukturell und diskursiv mißbraucht wurde. U m diesen wechselseitigen Austausch zwischen politischer und ästhetischer Darstellung zu verstehen, lautet die entscheidende Frage nicht länger, was ist das universelle Reale und ob es schön oder wahr ist. D e r zentrale Punkt ist nun, wie Wirklichkeit und Wahrheit, also beide ästhetisch und gesellschaftlich

in besonderen

geschichtlichen

Zusammenhängen konstruiert werden. I m H i n b l i c k darauf werden realistische Darstellungen zu wahren Beschreibungen nicht durch ihre genaue Entsprechung mit ihren noumenalen O b j e k t e n , sondern durch die Ubereinstimmung zwischen der herrschenden Ontologie und den überlieferten Methoden ihrer ästhetischen Darstellung. Darstellungen gelten als realistisch, wenn ihre gesellschaftlich orthodoxen Praktiken des Schreibens und Lesens oder Malens und Betrachtens so vertraut geworden sind, daß sie auf ganz klare Weise verfahren. 2 Wenn wir uns etwa ein Gemälde von Canaletto anschauen und

1 Vgl. hierzu J. P. Stern, On Realism, London 1973, 2. 2 Vgl. M. J. Shapiro, The Politics of Representation: Writing Practices in Biography, Photography, and Policy Analysis, Madison 1988, xi.

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sagen: „Das ist der Canale Grande", unterstellen wir, daß der Kanal und Canalettos Bild dieses Kanals eine bestimmte Äquivalenz aufweisen. Wir glauben mithin den Realismus des Bildes als unabhängig von unseren Begriffen des Malens, der Perspektive, der Architektur, der Geschichte und der Metaphysik, die unsere Art des Sehens dieses Bildes lenken. Diese Situation stellt sich jedoch noch etwas komplexer dar. Ein Teil dieser Komplexität hängt mit der Entessentialisierung und der Entontologisierung des Schönen (wie ebenso des Guten und des Wahren) zusammen. All diese Letzt-Begriffe haben ihre Grundlage in der Wirklichkeit verloren. Antifundamentalismus hat in die Moralphilosophie, die Erkenntnistheorie und in die Ästhetik Einzug gehalten. Diese Entontologisierung und die entsprechende Zersetzung der Schönheitsstandards machen es anscheinend unmöglich, unveränderliche Beziehungen zwischen Ästhetik, Politik und Wirklichkeit zu knüpfen. Statt dessen stehen solche Bemühungen unter dem Verdacht eines ideologischen Inhalts. Gleichzeitig erlaubt uns die Entrealisierung des Schönheitskanons jedoch, ihn als soziales und geschichtliches Konstrukt zu betrachten und zu fragen, wie „Wirklichkeit" ästhetisch, aber auch politisch, in Kunst umgesetzt wird. Im folgenden versuche ich deshalb nicht, ein Modell von Realismus und Macht empirisch zu überprüfen. Ich hoffe vielmehr, ein solches Modell in der Diskussion und mit Beispielen spekulativ zu entwickeln. Diese schließen die Konstruktion von Realismus innerhalb ästhetischer Paradigmen und die gesellschaftliche und historische Relativität des Realismus in Literatur und Malerei ein.

Konstruktion von Realismus innerhalb von Paradigmen Der „Realismus" jeder Darstellung läßt sich nicht vorrangig auf der Basis der Wirklichkeit ihrer Objekte oder Inhalte bestimmen. 3 Realismus ei>twickelt sich vielmehr hauptsächlich durch die Verwendung der Ressourcen des ästhetischen Paradigmas, innerhalb dessen ihr Benutzer oder ihre Benutzerin arbeitet. Alle Künstler, ob sie nun bunte Glasfenster verwenden oder Styropor-Skulpturen herstellen, stehen vor einer bestimmten Entscheidung, die zum Akt ästhetischen Schaffens hinzugehört. Diese Entscheidungen umfassen den Grad an Beständigkeit in der Verwendung einer Erzählstruktur oder historischer Anspielungen, der Entwicklung einer ästhetischen Distanz und Perspektive, in der Zuweisung des textuellen, zeitlichen oder visuellen Raumes an verschiedene Subjekte oder Erzähler und in der Verwendung bildlicher Ausdrücke wie der Metonymie oder Ironie. In welchem Genre (oder Paradigma) soll jemand schreiben oder malen oder bildhauern? Wie eng sollte sich jemand an seinen Kanon halten oder ihn als Ausgangspunkt wählen?

3 Vgl. W. Harms, Significant Objects: A Possibility of Realism in Early Narratives, in: N. Boyle/ M. Swales (Hrsg.), Realism in European Literature, Cambridge 1986,133; ebenso R. Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion, Stuttgart 1976, 76 und 310.

Realismus und Macht in ästhetischen Darstellungen

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Es gibt ebensoviele wirklichkeitsgetreue Ebenbilder wie es Genres gibt; die Grenzen und die Freiräume jedes Werkes werden von den Erzeugungsregeln codiert, durch die es erst intelligibel wird.4 Deshalb wird Realismus teilweise durch die strenge Befolgung der Regeln eines ästhetischen Paradigmas und der Redundanz und Wiederholung ihrer Anwendung erreicht. Dies ließe sich eine Genre-Stärkung nennen. Das Gegenteil, eine schwächere Befolgung der Genre-Regeln und das Erreichen anderer oder neuer Genres könnten Genre-Dehnung genannt werden. Entsprechend zeigen Arbeiten, die nur schwach codiert sind und ihr Genre ausdehnen, einen niedrigeren Grad an Realismus. Je stärker ein neues Genre sich einführt und Erweiterungen erfährt, je mehr können natürlich seine repräsentativen Werke einen höheren Grad an Realismus erreichen. Picasso beispielsweise antwortete einem Betrachter, der meinte, sein Porträt ähnele nicht Gertrude Stein: „Macht nichts, das wird es noch." Genre-Stärkung umfaßt straff codierte Beschreibungen, eine semiologische Dichte. Die Gesetzmäßigkeiten des Genres in bezug auf die Darstellung finden buchstäbliche und strikte Anwendung, um eine als vorgegeben unterstellte Welt abzubilden. Verstärkte Genres reproduzieren oder entfalten ein Paradigma, das bereits etabliert und in Geltung ist. 5 Im Unterschied dazu werden Subjektivität oder Relativismus von der Erweiterung und Überbietung, vom Ironisieren und durch die Vermischung der Genres und ihrer Regeln getragen. Die Genre-Dehnung rückt die polysemischen Eigenschaften der Darstellung in den Vordergrund, und neue Bedeutungen oder Beziehungen werden von den Veränderungen des Gesichtspunktes, von ironischer Neubildung oder metaphorischen Sprüngen angeregt. Genre-Dehnung oder Vermischung begünstigen künstlerische Revolutionen, die Bildung neuer Paradigmata, das künstlerische Schaffen durch Artikulation einer Wirklichkeit, die sich zu bilden im Begriff ist. Objektivität oder Realismus sind Ergebnisse der Konsistenz oder Stärke der Darstellung, die den Gesetzmäßigkeiten des Paradigmas oder Genres folgt. Solcher Realismus wird textuell durch starke Codierung in Ubereinstimmung mit den Regeln des Codes und auch durch Entwicklung, Formalisierung und Codifizierung dieser Regeln selbst erreicht. Genauso, wie wir jene Kunst erfahren, die fest in einem vorherrschenden Paradigma verankert ist, neigen wir auch dazu, die Wirklichkeit zu sehen, die ästhetisch als sich selbst erhaltend und unserer Praxis als Macher oder Betrachter, Zuhörer oder Leser völlig äußerlich widergespiegelt wird. Realismus kann keine Kopie der Dinge sein, sondern hängt vom Sprachwissen ab; das „realistischste" Werk ist nicht jenes, das Wirklichkeit „malt", sondern so tief wie möglich die unwirkliche Wirklichkeit der Sprache innerhalb eines Genres durchdringt. Durch die Stärkung von Darstellungen gemäß eines anerkannten Paradigmas definieren dann Künstler und Publikum solche Tätigkeiten zugleich als Irrtümer, die das Paradigma erweitern oder mit anderen vermischen. Wenn es

4 Vgl. T. Todorov, The Poetics of Prose, Ithaca, N Y 1987,83. 5 Vgl. Μ. Riffaterre, Intertextual Representation: On Mimesis as Interpretative Discourse, in: Critical Inquiry, 11 (1984) 1, 159.

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jedoch zu genügend Anomalien kommt oder konkurrierende Perspektiven die dominante herausfordern oder Veränderungen des herrschenden Habitus stattfinden, erweisen sich das alte und das neue Genre als Metaphern und nicht als Kopien einer Wirklichkeit, die nun auf unterschiedliche Weise durch unterschiedliche ästhetische Beschwörungen erkannt werden kann. In solchen Augenblicken können die Konflikte zwischen den alten und den neu aufkommenden künstlerischen Paradigmata leichter als politische Gefechte zwischen Vertretern gegensätzlicher Definitionen der korrekten künstlerischen Tradition erkannt werden.6 Das herrschende Genre kann noch die neuen Perspektiven und Darstellungen ignorieren und dadurch ihre Relevanz und Bedeutung einschränken. Umgekehrt kann aber auch das vorherrschende Paradigma erweitert werden, um neue Erfahrungen, Techniken oder Gesichtspunkte aufzunehmen. Deshalb laufen Praktiker jedoch Gefahr, ihr Paradigma von innen her zu labilisieren und es der starken Konsistenz der Darstellung zu berauben, die eine Quelle seines Realismus und seiner Objektivität und insofern auch seiner Autorität war. Schließlich wird das alte Bild der Welt bestätigt werden oder ein neues wird es ersetzen. Nach den Gezeiten des Meeres, wenn die Wasser sich wieder beruhigt haben, wird das wiedererstarkte oder das jetzt neu herrschende Paradigma abermals zum gültigen Code für realistische Darstellungen. Künstler werden abermals beginnen, die neuen Genres zu stärken, die sie durch Ausdehnung oder durch Mischung geschaffen haben.

Die geschichtliche Relativität

des Realismus

Die logische Unterscheidung zwischen der Stärkung oder der Erweiterung des Genres ist auch eine dialektische und zeitliche. Jede Art von Mimesis führt zu einem Mehr an möglicher Bedeutung, wobei eine Abweichung von der Norm unausweichlich ist. Und jede Art von Mimesis setzt die anderen voraus; und jede kann mit der Zeit die andere werden. Dies teilweise deshalb, weil Genre-Stärkung Realismus nur dann erzeugt, wenn das Genre selbst der dominanten Ontologie seines Publikums homolog ist. Jede Zeit hat ihren eigenen Realismus.7 Realismus ist stets Realismus für irgendjemanden von irgendeinem Sundpunkt aus. Darstellung ist nicht Schilderung; sie ist ebenso ein Argument, Darstellung nicht durch einen Betrachter, sondern von einem und für einen Betrachter, Zuschreibung einer Identität, ein Fall für die Intelligibilität der Welt. Religiöse Kunst beispielsweise ist nur für ein Publikum inständig Gläubiger realistisch, während Renais-

6 Vgl. H. Brown, Society as Text. Essays on Rhetoric, Reason, and Reality, Chicago 1987, 164ff.; A. Maclntyre, Epistemological Crises, Dramatic Narrative, and the Philosophy of Science, in: G. Gutting (Hrsg.), Paradigms and Revolutions: Applications and Appraisals of Thomas Kuhns Philosophy of Science, Notre Dame 1980; W. Fisher, Human Communication as Narration: Toward a Philosophy od Reason, Value, and Action, Columbia 1987. 7 Vgl. J. P. Stern, On Realism, a.a.O., 89.

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sance-Malerei für ihr Elite-Publikum insoweit realistisch sein konnte, als es eine mechanistische, geometrische Weltauffassung, eine Sichtweise teilte, die ihrerseits von neoplatonischen ästhetischen Konzeptionen mathematischer Harmonie, Symmetrie und Form genährt wurde. 8 Ähnlich wurde auch der Realismus des Romans des 19. Jahrhunderts realistisch, als eine verweltlichte und wissenschaftliche Ontologie das Bewußtsein der neuen lesenden Mittelklasse einnahm. Verschiedene Völker unterschiedlicher Zeiten und O n e haben verschiedene Ontologien und ästhetische Paradigmen sowie verschiedene Formen von Realismus. „Die Fähigkeit des Sehens bemißt sich am Wissen, oder wenn man möchte, an den Begriffen, den Wörtern mithin, über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und die gleichsam Wahrnehmungsprogramme erstellen." 9 Realismus ist nicht die korrekte Form der Wahrnehmung, sondern eher eine geschichtlich relative Funktion der sich verändernden ästhetischen Paradigmata, der kollektiven Ontologien und Sozialstrukturen. Ein Genre, dessen Darstellungen für das eine Publikum buchstäblich und realistisch sind, können für ein anderes metaphorisch und imaginär sein. Als Beispiel dafür kann der Wandel der Realismusbegriffe für literarische und bildnerische Darstellungen im Laufe der Jahrhunderte dienen. In beiden Bereichen nennen diejenigen, die älteren Paradigmen anhängen, die neuen Darstellungsweisen subjektiv, willkürlich oder dekadent. Neue Modi werden von ihnen als Entstellungen des alten Kanons, als Verwerfung der Ebenbildlichkeit und des Realismus angesehen. Sie bestehen darauf, daß das etablierte Paradigma das einzige sei, das zu realistischen Darstellungen führe und aus diesem Grunde die Wahrheit sage. Deshalb tendiert Realismus in verschiedenartigen Medien und Kulturen dazu, ästhetisch konservativ zu sein und durch eine semiotische Konsistenz innerhalb eines bestehenden Paradigmas oder Genres hervorgerufen zu werden. Obgleich Praktiker oftmals bestrebt sind, die Grenzen ihres Paradigmas zu verschieben, sind die besonderen Regeln jeder Art von Darstellung nur in Begriffen des begrenzten Verwendungszusammenhangs ganz nachvollziehbar. Darum kann kein einziger Realismus alle anderen umfassen. Wer immer auch in Racines Werk Lebenstreue spürt, kann sie nicht mehr bei Shakespeare finden. Wer Michelangelos menschliche Gestalten realistisch findet, wird wahrscheinlich in den Nackten des Lucas Cranach keinen Realismus oder eine andere Art von Realismus entdecken. Urteile über Realismus ändern sich mit der Zeit. Gemälde wie die Kampfdarstellungen bei Uccello galten nicht als die Wirklichkeit so darstellend, „wie sie ist", sondern erst später, als das Paradigma der Perspektive und ein mechanistisches Weltbild etabliert waren. 10 Ganz ähnlich ist auch der Realismus Canalettos nicht mit dem späteren Realismus Courbets vergleichbar. Canaletto lud den Betrachter ein, die Szene zu beherrschen,

8 Vgl. F Hallyn, The Poetic Structure of the World: Copernicus and Kepler, New York 1990. 9 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt/M. 1987,19. 10 Vgl. hierzu die Schriften Erwin Panofskys über die Perspektive und symbolische Formen.

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während Courbet die Gegenwart des Zuschauers zu negieren oder zu neutralisieren versuchte. Einige Kritiker verbannen sogar solche Darstellungen aus der Kunst, die sich dem herrschenden Kanon nicht fügen. So können sogar abweichende Darstellungen verboten werden. Die Bekräftigung von Paradigmata ist insofern tatsächlich eine der Hauptfunktionen von Akademien, Instituten, Graduiertenprogrammen oder anderer Einrichtungen, die die Praktiker lizensieren oder zensieren. Derzeit verteidigen zeitgenössische konservative Ästhetiker das Paradigma der Moderne gegen die Postmoderne, so wie früher Konservative den Klassizismus gegen die Moderne verteidigten.

Eigentumsrechte, „wissenschaftliche" Ästhetik des Realismus und die Professionalisierung der Kunstproduzenten Zur Zeit der Französischen Revolution erreichten die Produzenten von Kultur in Europa eine gewisse Autonomie. Unternehmer glaubten, daß wirtschaftliche Entwicklung durch technologische Innovationen beschleunigt werde und daß der freie Warenhandel mit der freien Zirkulation von Gedanken einherzugehen habe. Prinzen und Prälaten verloren Macht und Ansehen einerseits an Staaten, die in der Lage waren, allgemeinere Gesetzesstandards und Tausch- und Darstellungsregeln durchzusetzen und andererseits an Bürger, Geschäftsleute und Arbeiter, die über neue Rechte und die Macht verfügten, ihre Entscheidungen selbst zu treffen. Schließlich wurde den Akademien die Kontrolle über die Herstellung und den Verkauf von Kultur übertragen. Im Ergebnis waren sie fähig, ihren individuellen Mitgliedern größeren wirtschaftlichen und sozialen Schutz zu bieten. Mit dem Aufkommen des Begriffs des Autors in dieser Zeit ist auch der der Individualisierung innerhalb der Ideengeschichte verbunden. Seit dem 18. Jahrhundert übernahm der Autor die Rolle, die Beziehung zwischen dem fiktiven und dem Privateigentum zu regulieren. Kunst und Wissensformen wurden Privateigentum, und der individuelle Autor wurde zur Hauptperson, durch die solches Eigentum reguliert werden konnte. Der „Autor" im modernen Sinne ist das Ergebnis des Aufkommens einer neuen Gruppe von Individuen im 18. Jahrhundert: Schriftsteller, die ihr Leben durch den Verkauf ihrer Schriften an ein neues und sich rasch ausweitendes Publikum zu verdienen suchten. Die Übertragung dieses bürgerlichen Begriffs des Individualismus und des Eigentums in die Gesetze künstlerischen Copyrights erfolgte zuerst 1709 in England und 1794 in Preußen. Der gesetzliche Terminus des Autors wurde 1777 zuerst in Frankreich infolge der ein halbes Jahrhundert währenden Diskussion anerkannt. Nach der Revolution benutzten Anwälte des Copyright-Rechts zusätzlich zu kommerziellen auch patriotische und politische Argumente. Das Copyright schützte Verleger nicht bloß vor ruinösen Raubdrucken; es schützte auch den Staat gegen Aufruhr und Verleumdung durch die Einrichtung der Autorenverantwortlichkeit. Die neuen Gesetze machten den Autor im legalen Sinne verantwortlich für den Text, indem sie diesen als sein Eigentum bestimmten.

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Mit dem Verfall der Handarbeit und des Kunsthandwerks im Kapitalismus und später in der industriellen Produktion entwickelte sich eine Analogie zwischen göttlichem und künstlerischem oder wissenschaftlichem Schaffen. Diese neue Konzeption ging Hand in Hand mit der Entwicklung der Patente für wissenschaftliche Erfindungen und des Copyrights für literarische Autorenschaft. Kunstwerke und künstlerische Techniken und Ideen waren stets Eigentum - d. h., daß in allen Gesellschaften und zu jeder Zeit bestimmte Personen und keine anderen das Recht hatten, sie zu verwenden. Doch erst im Kapitalismus wurde Kunst auch zur Ware, die andere zwar kennen, aber insofern respektieren, als sie aus ihnen keinen eigenen materiellen Profit ziehen. Mit den Werken der Prosa beispielsweise wurde das Schreiben dem Sprechen vorrangig, da gedruckte Werke viel leichter als gesprochene Darstellungen durch das Copyright zu schützen, zu reproduzieren und zu vermarkten waren. Objektivität wurde mit Gedrucktem assoziiert und man hielt einen Gedanken solange nicht für das Eigentum seines Autors, wie er nicht durch den Druck veröffentlicht war. Mit der Aufstellung universeller Normen ästhetischer Stimmigkeit und Autorenschaft in der Akademie und danach in einer Nachahmung der Wissenschaft wurde es leichter zu entscheiden, welche Praktiken die richtigen waren - wer deshalb Künstler war und wer nicht. Die Aufstellung eines Kanons richtiger ästhetischer Darstellung lieferte Merkmale für eine Mitgliedschaft und ermöglichte die Bildung von Berufsverbänden, die diese Definitionen ästhetischer Stimmigkeit verkündeten und aufrechterhielten. So erhielten Mitglieder neuer Berufe neue Titel, die sie zu größerer Kontrolle über ihre kulturellen Erzeugnisse berechtigten. Insofern stützten sich ästhetisches Eigentum, kulturelle Stimmigkeit und Berufsprivilegien wechselseitig. Seit dem 18. Jahrhundert und besonders nach dem Niedergang der Monarchien und dem Aufstieg kapitalistischer Eliten ersetzten Wissenschaft und Wirksamkeit vermehrt Theologie und göttliche Rechte als vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurs. Entsprechend beanspruchten Künstler die gleichen Privilegien, die bereits Wissenschaftler errungen hatten. 1 1 Zur Stützung dieses Anspruchs bemühten Künstler die Ähnlichkeit der Mimesis in künstlerischen wie in wissenschaftlichen Studien. Kunst sei nichts ohne Wissenschaft, sagte der Architekt Mignot, der die Erbauer der Kathedrale von Mailand beriet. All dies setzte einen Parallelismus der Beschaffenheit wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeiten voraus. Wie der Pointiiiismus Pissarros und Seurats wurde auch der Kubismus als strenge Methode der wissenschaftlichen Darstellung der Wirklichkeit angekündigt. Wie die Wissenschaft repräsentierte die moderne Kunst das Verlangen, mit der entfliehenden und kontingenten Welt des Scheins durch eine Suche nach dem Unveränderlichen und Unwandelbaren fertig zu werden. Genauso wie in den Wissenschaften den Laborexperimenten Hypothesen zugrunde liegen, galt in den Künsten das Zuschneiden der Steine gegenüber der Bildhauerei als

11 Vgl. R . Caillois, Approches de l'Imaginaire, Paris 1974.

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inferior, da man vom Zuschneider annahm, daß er keine leitende Theorie oder Konzeption ausdrücke. Künstler übernahmen die Rhetorik wissenschaftlicher Gemeinden dieser Epoche. Seit es Wissenschaftlern erlaubt war, Wahrheit zu definieren, meinten Künstler, ihnen solle die Bestimmung der Schönheit gestattet sein. Künstler behaupteten, daß künstlerisches Schaffen von den gleichen Gesetzen wie wissenschaftliche Vorhaben geleitet werde, und zwar von Universalismus, Objektivität und Interesselosigkeit. Ahnlich wurde in der Kunst ebenso wie in den Wissenschaften die Geltung der Ansprüche hinsichtlich der Ausführung als unabhängig von den persönlichen oder gesellschaftlichen Eigenschaften ihres Autors unterstellt. Es wurde also gefordert, daß Karrieren eher Talent und Ausführung als Kaste oder Verbindung widerspiegeln sollten. Entsprechend waren Meister „kosmopolitischer" Kunstformen oft feindlich gegenüber jeder Art von Ausdruck eingestellt, die als ethnozentrisch oder partikular interpretiert werden konnte. „Regionale" Kunst wurde unter die Kategorie eines minderen Genres gezählt, und von Minderheitskünstlern wurde erwartet, über die Marginalität ihrer Rasse oder ihres Geschlechts hinauszugehen und die universalistische Qualität zu bejahen, die der künstlerischen Kreativität zugerechnet wurde. Von Künstlern wurde auch erwartet, dieselbe grundlose Leidenschaft für das Wissen unter Beweis zu stellen, wie sie auch Wissenschaftlern zugeschrieben wurde, und von ihren Tätigkeiten wurde ebenfalls erwartet, von müßiger Neugier und Fair play inspiriert zu sein. Ein entsprechender Vorläufer in der darstellenden Kunst war Rembrandt, der größere Autonomie dadurch zu erreichen suchte, daß er einen Unterschied zwischen Auftragsbildern und solchen geltend machte, die er für nicht näher bezeichnete Gönner anfertigte. Diese Gedanken wurden während des 19. Jahrhunderts im Begriff der „Kunst um der Kunst willen" weiterentwickelt. Diese Ideologie unterschied die „schönen" Künste von „angewandten" Tätigkeiten. Die ersten wurden hochgeachtet, galten als reine Ausdrücke des Geistes; die zweiten hielt man für Verfälschungen, für eine Art Prostitution. Maler behaupteten ihre Überlegenheit über Drucker und später über Photographen. In den ersten Phasen des Kinos weigerten sich Bühnendarsteller, die bereits eine solide Anerkennung erreicht hatten, Filme zu drehen, ebenso wie ihre Nachfolger später verweigerten, sich an Werbung zu beteiligen. Dieses Verschieben dreckiger oder unsauberer Arbeit auf Arbeiter niedrigeren Rangs ist eine wohlbekannte Technik des Schaffens und Festhaltens an Berufsstatus und -privileg. Die Beziehung zwischen Eigentum und Stimmigkeit änderte sich mit dem Einfluß der Industrialisierung auf das Konzept des Realismus und das Anrecht, von Künstlern unterhalten zu werden. Künstler hoben die Analogien zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Realismus und der Kreativität in beiden Feldern stark hervor. Sie behaupteten ebenso ihr Recht, Kanons der Geltung zu definieren und individuelle Werke im Namen der Gemeinschaft ausführlich zu untersuchen. Jedenfalls reklamierten Künstler Ähnlichkeiten zwischen ihren Rollen und denen von Erfindern, um ihre ökonomischen Rechte an ihren individuellen Werken zu behaupten, nachdem sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren. Insofern war die Schaffung moderner Formen eines „wissenschaftlichen" Realismus in der ästhetischen Darstellung nicht nur eine Sache

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der Verfeinerung und Entwicklung der unterschiedlichen Modi der Mimesis. Diese Verfeinerung stellte auch Eigentumsnormen bereit, was die Professionalisierung der Hersteller von Kultur und zugleich damit ihr übertriebenes Privileg und ihr Eigentumsrecht soweit erleichterte, daß ihre Werke zum Haupterzeugnis des neuen Kulturmarktes wurden.

Der Roman als Quellenbuch für textuellen Realismus Die Betrachtung des Realismus als gesellschaftliche und geschichtliche Konstruktion kann auch unter Bezug auf den Roman begründet werden. Im Roman wurde Realismus durch die Homologie zwischen orthodoxen ästhetischen Formen und der vorherrschenden Ontologie der Künstler und ihres Publikums erzeugt: Der moderne Roman spiegelt fiktionale Wirklichkeiten wider, die die modernen sozialen Wirklichkeiten des psychologischen Individualismus und des ökonomischen Kapitalismus in einem atomistischen und kausalen Universum ausdrücken und verstärken. Wie die Wissenschaft drückt der Roman den Wechsel vom mittelalterlichen zum modernen Realismuskonzept aus. Von Piaton bis hin zu Thomas von Aquin, Shakespeare und Shaftesbury wurde Wirklichkeit als universellen Formen innewohnend gedacht, die unabhängig von irgendwelchen Vergegenwärtigungen in einer besonderen Zeit, Person oder Räumlichkeit existieren. Insofern konnten korrekte oder wahre Darstellungen per definitionem kein Roman sein. Obwohl im Gegensatz dazu moderner Realismus den mittelalterlichen Respekt vor Universalia beibehält, sind diese nicht länger von Gott offenbarte göttliche Wesenheiten. Statt dessen nehmen Universalia für moderne Personen die Form von Naturgesetzen an, die vom individuellen Cogito entdeckt und durch empirische Wahrnehmung bestätigt werden.12 Wie das individuelle Cogito erhielt individuelle Sinneswahrnehmung den Rang eines Hauptmittels zur Erkenntnis der Naturgesetze, von denen man glaubte, sie inhärierten der Wahrnehmungserfahrung alles Äußerlichen. Ob nun in Descartesscher oder Lockescher Formulierung: Wahrheit galt als abgeleitet von individuellem Denken oder Erfahren, formuliert in mathematischen Naturgesetzen und unabhängig von ererbtem Glauben oder kollektiver Überlieferung. Der Roman drückt ebenfalls den Zeitsinn der Moderne aus, in der nostrum aevum, unsere eigene Zeit, in nova aetas, die Neue Zeit umbenannt wurde. Für Christen bedeutete die neue Welt das noch bevorstehende, erst mit dem Jüngsten Tag anbrechende Weltalter der Zukunft. Im Gegensatz dazu heißt das säkulare Konzept der Moderne die Neuheit der Zukunft und die Entdeckung und Erforschung neuer geographischer und

12 Vgl. R . I. Aaron, The Theory of Universals, Oxford 1952, 1 8 - 4 1 ; auch I. Watt, The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding, Berkeley 1957, 9 - 3 4 .

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ästhetischer Grenzen willkommen. 13 Das kann in der bekannten Querelle des andern et des modernes beobachtet werden, in der die „Modernen" kritische und historische Argumente vortragen, um die etablierte Praxis der Nachahmung klassischer Vorbilder herauszufordern. Im Gegensatz zu den angeblich zeitlosen Normen der Schönheit und menschlichen Natur treiben die Modernen ein Konzept der relativen Schönheit und der geschichtlich bedingten Natur des Menschen voran. Die Zukunft war nun in der Gegenwart enthalten und die Gegenwart brachte in jedem Augenblick das Neue hervor. Diese Konzeptionen stimmten mit dem Aufkommen des Individuums als subjektiv Handelndem überein, das in der psychologischen Atomisierung durch den Protestantismus, in der Freiheit der Lohnarbeiter gegenüber Pfarrhaus und Gilde, in der sich entwikkelnden Marktökonomie und im Gesetzesindividualismus der Bürger in den neuen Nationalstaaten Ausdruck gefunden hat. Hegel formulierte dieses Individuationsprinzip zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In seiner Geschichtsphilosophie führt er aus, daß die Grundlage für Recht und Moral im aktuellen gegenwärtigen Willen des Menschen gesehen wurde. Realismus wird entsprechend im Roman als soziale Erzählung des Individuums als Problem erzeugt: Was ist, wo liegt, wie ist die Bedeutung des Individuums in dieser prosaischen Welt beschaffen, das mit der Gesellschaft und mit Geschichte konfrontiert ist? Der Roman verschafft dem Individuum unaufhörlich Sinn, führt ihn, den Helden, aber zugleich auch den Leser, in dieses neue Feld der Wirklichkeit, ins Denken, ins Wissen, in die Bedeutung. Im Unterschied zu den einem gemeinschaftlichen Publikum erzählten Geschichten und Erzählungen schrieb der Roman über eine öffentliche Masse unterschiedener Individuen, sprach zu ihr und verhalf ihr zu ihrer Bildung. Der Roman war die literarische Version neuer Sozialpraktiken und epistemologischer Voraussetzungen. Sein bloßer Name drückte den Vorrang der Neuheit aus, seine Form lieferte ein Mittel, einzigartige Erfahrungen einzigartiger Individuen in einzigartigen Situationen darzustellen. Romane werden von einem einzigen Autor komponiert, von einem einzelnen Leser in Vereinzelung gelesen und von einem einsamen Bewußtsein erfaßt. Autoren konnten individualistischer sein als etwa Architekten, deren finanzielle Produktionsmittel noch von den Kirchen, Akademien und Staaten kontrolliert wurden. Vom Romancier wurde wie vom Wissenschaftler erwartet, Erfahrung wahrheitsgetreu darzustellen - und dies hieß für die Fiktion die besondere Erfahrung besonderer Personen in besonderen Zeiten und Räumen. Früher wurde behauptet, daß das Repertoire der möglichen Erfahrung bereits vorliege und sich die Kunst deshalb in ihrer Abbildung der Wirklichkeit traditioneller Handlungen und Charaktere zu bedienen habe. Shakespeare beispielsweise verwendete noch traditionelle Handlungen und Charaktere, und es war völlig unwesentlich, ob sie ins mittelalterliche Schottland, ins Verona der Renaissance oder ins antike Rom versetzt wurden. Im Gegensatz dazu schufen Defoe, Richardson,

13 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985,15, und R. Koselleck, Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1979, 300ff.

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Balzac, Flaubert und ihre Erben stark individualisierte Charaktere in besonderen Zeiten und an spezifischen Orten. Tatsächlich wird ein großer Teil der Texte ihrer Romane den örtlichen empirischen Details gewidmet, durch die der Realismus bekannt geworden ist. Romanschreiber sind also vollständig in der Welt der Dinge verankert.14 Als Meister der weltlichen Dinge gründen die Romanciers ihre Autorität und durchsetzen ihre Romane mit Fakten. Das erklärt auch zum Teil, warum der Roman weniger der gesellschaftlichen und historischen Kommentierung bedarf als andere literarische Gattungen: Romane vertreten diese Details selbst innerhalb des Ursprungstextes. Wie Descartes und Locke eine neue subjektivistische Konzeption der Person als eine dauerhafte Identität des Bewußtseins geliefert haben, untersuchten Schriftsteller wie Sterne und Joyce die Persönlichkeit als wechselseitige Durchdringung von vergangenem und gegenwärtigem Selbstbewußtsein. Überdies wird der Roman in seinem Realismus im Unterschied zu früheren Erzählweisen, deren Handlung über zufällige Begegnungen, gelegentliche Ereignisse oder mißverstandene Identitäten voranschritt, von einer kohäsiveren Struktur getragen, die auf dem Prinzip von Kausalverbindungen durch die Zeit beruht. Heldenromane machen gewöhnlich den Protagonisten zur Ursache äußerer Ereignisse; Bewußtseinsromane entwickeln die inneren Zustände des Erzählers gewöhnlich als Wirkungen äußerer Geschehnisse. In beiden Fällen jedenfalls und in der umfangreichen Literatur, die zwischen ihnen angesiedelt ist, gibt es eine klare zeitliche Abfolge der Kausalität individuellen Bewußtseins und der Aktion, die die moderne Romanhandlung bildet. Die Skepsis gegenüber der Sprache ist ebenfalls Teil des modernen Habitus. Wissenschaftler etablierten ihre Macht teilweise gerade durch die Unterscheidung ihrer eigenen Prosa von der Eloquenz der Juristen, Humanisten und Theologen, und schon bald folgten Romanschreiber ihrem Beispiel. Da in der Moderne die Wahrheit eine des Geistes und der Welt und nicht länger vorrangig des Wortes Gottes ist, schien Sprache in ihren Darstellungen keine positive Rolle zu spielen. Sprache verlief nur über den Weg direkter Intuitionen oder Wahrnehmungen. Im Roman wie in der Wissenschaft wurde eine flache beschreibende Sprache zum notwendig zu zahlenden Preis für die Treue gegenüber dem Objekt oder dargestellten Erfahrungen. Die Funktion der Sprache besteht im Roman eher als in anderen literarischen Formen in reiner Referentialität; die Gattung selbst arbeitet mehr mit vollständiger Präsentation als mit eleganter Konzentration. Was auch erklärt, warum der Roman die am meisten übersetzte aller literarischen Gattungen ist, vielleicht sogar die internationale literarische Form, und warum auch große Romanschreiber wie Dostojewski, Dreiser oder Zola oft völlig schmucklos schrieben. Ein Merkmal des Romans als eines unterschiedenen Genres besteht darin, daß er kanonische Genres ebenso wie „unliterarische" Schreibweisen aufnimmt und verkörpert. Wie die modernen Personen selbst komponiert deshalb der Roman seine eigene Konventionalität gegen die Autorität überlieferter Konventionen. Er bestimmt sich selbst durch

14 Vgl. J . Bayley, Pasternak's Fairy Tale, in: New York Review of Books, März (1991), 12.

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Negation. Der Roman ist so ein in sich selbstbewußtes Genre, seit er offen seine eigenen Bauweisen zeigt. Darin besteht das Ideal des modernen, authentischen, selbstgeschaffenen Selbst, wie es von Rousseau bis Sartre ausgedrückt wird. Der „Entfremdungseffekt" des Romans ist die literarische Entsprechung der gesellschaftlichen und psychologischen „Entfremdung" moderner Menschen, jede eine Vorbedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis und literarischer Wahrheit und beide Entsprechungen einer versachlichten und marktabhängigen Gesellschaftsordnung. Die moralische Herausforderung für die vormodernen Menschen war Aufrichtigkeit zu sein, was sie schienen, Ubereinstimmung mit der sozialen Rolle. Für den modernen Menschen ist die Herausforderung Authentizität, mit dem eigenen inneren Selbst übereinzustimmen. So befaßt sich der Roman mit Fragen der Wahrheit und der Tugend oder eher der Übereinstimmung mit sich selbst als Tugend. Darin drückt der Roman Verschiebungen und Spannungen zwischen älteren und neueren Moralcodes aus. Dieser Konflikt zwischen „Wahrheit" und „Tugend" im Roman war die Übersetzung der epistemologischen und existentiellen Probleme der aufsteigenden Mittelklasse. Der Roman war das kulturelle Genre, das frühe moderne Autoren und ihr Publikum in die Lage versetzte, auf der Ebene der Erzählform und des Erzählinhaltes sowohl mit moralischen wie gesellschaftlichen Krisen gleichzeitig umzugehen.

Realismus im Spätkapitalismus oder in der Postmoderne Die spätkapitalistische oder postmoderne Beziehung zwischen Realismus und Macht in ästhetischen Darstellungen ist durch einen Wechsel der Bedeutung von der Produktion zur Konsumtion und insofern durch eine Betonung des Umsatzes und der Differenzierung der auf dem Markt verfügbaren künstlerischen Waren gekennzeichnet. Mit dem Einfall des Kapitalismus in die Kulturwelten ging auch ein systematisches Lob des Relativitätskonzeptes und entsprechend eine Entwertung all dessen einher, was realistisch genannt werden konnte. Solche Relativierung ist Folge der Wucherung neuer Kunstwelten und Marktbereiche und des sich ergebenden Übermaßes an konkurrierenden Avantgardes, wobei jede von kürzerer Dauer ist als die ihr vorausgehende. So wurden ζ. B. der Abstrakte Expressionismus in den 40ern und der Minimalismus in den frühen 60ern von der akademischen Kritik und den Kuratoren New Yorker Museen unterstützt. Pop, Photorealismus der frühen 70er und Neo-Expressionismus in den frühen 80ern fanden ihre Gönner in Händlern, Investoren und Sammlern. Figürliche und Modellmaler der frühen 70er wurden von regionalen Museen und den Akquisitionsmanagern von Kunstkörperschaften erworben. 15

15 Vgl. D. Crane, The Transformation of the Avant-Garde: The New York Art World, Chicago 1987,41.

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In einer solchen Situation wurde Kunst zur Mode und Mode wurde zum neuesten Steckenpferd der Wahl des Konsumenten. D i e entsprechende Preisgabe eines einzigen und stabilen Paradigmas fördert umgekehrt eine beschleunigte Zahl koexistierender und sich wechselseitig negierender ästhetischer Stimmigkeiten und unterschiedlicher Kanons des Realismus. Mit der Entwicklung einer weitgefächerten Kulturindustrie, die für zunehmend differenzierte Marktbereiche sorgt, und der parallel laufenden Fragmentierung unterschiedlicher Kunstwelten sterben die vorhandenen Definitionen der Regeln ästhetischer Stimmigkeit und die Rechte auf künstlerisches Eigentum jung, während nie eine in solchem Uberfluß geboren wird, daß sie die anderen zu subvertieren vermag. Das verstärkt eine Inflation der Interpretationen vorhandener Kunstwerke in dem Maße, wie ihre jeweiligen Umsätze und Lebenszyklen beschleunigt werden. Das Verwischen der Regeln zersetzt auch die professionelle Solidarität der Künstler untereinander. Einige zeitgenössische Künstler wie etwa Duchamp wenden ein, daß es für einen Widerstand gegen den Kapitalismus nicht ausreiche, die Variablität der mit Kunstgegenständen verknüpften Interpretationen zu betonen. Künstler müssen sich ebenso vergewissern, daß diese Kunstgegenstände selbst nicht von Dauer sind. Dieser Realismus des „anything goes" des Kunstmarktes ist verwandt mit dem „everything comes and goes" des Warenlagers. Infolge des Fehlens zuverlässiger ästhetischer Kriterien bleibt es möglich und nützlich, den Wert von Kunstwerken in Verbindung zu den Gewinnen einzuschätzen, die sie abwerfen. Dieser Realismus paßt sich allen Tendenzen an, so wie der Kapitalismus sich allen „Bedürfnissen" anpaßt, indem er lediglich dafür sorgt, daß alle Tendenzen vermarktbar sind und alle Bedürfnisse über die entsprechenden Einkaufsmittel verfügen. Realismus schützt das Bewußtsein vor Zweifeln. In einer Zeit jedoch, deren Quintessenz im Zweifel besteht, können selbstbewußte Darstellungen der Wirklichkeit nur ironisch sein, da es keine festgelegten Konventionen mehr gibt, mit denen irgendjemand durch Einsicht übereinstimmen oder gegen die er ernsthaft rebellieren könnte. So klingen heute alle Revolten und Revolutionen gegen Vers, Sprache, Metapher oder Darstellungsweise hohl, seit auch sie zu Gebrauchsartikeln geworden sind und von den Institutionen zuweilen gegen die Absichten oder Wünsche ihrer Hersteller oder durch Anstiftung der Künstler selbst vermarktet wurden. Der anti-kapitalistische und zum Gebrauchsartikel gewordene Realismus des „anything goes' umfaßt auch Widersprüche in der Rolle und den Erwartungen des Künstlers. M i t der Entwicklung des Fernsehens und der Aufzeichnungsmöglichkeiten verwandeln die Editionsverbesserungen die Vortragenden in Athleten, die danach beurteilt werden, o b sie das „hohe C " erreichen können, oder umgekehrt in Trugbilder der Vortragenden, die weder Millinoch Vanilli sind. Kunstideologien betonen gleichzeitig die Entpersonalisierung des schöpferischen Prozesses und die Glorifizierung des Selbst-Bildes. 1 6 D o c h diese SelbstBilder sind ihrerseits Schöpfungen des Marktes.

16 V{1. R. Lichtman, The Production of Desire, New York 1982,225; S. Gablik, Has Modernem Failed?, New York 1984, 3 8 - 4 0 .

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Mit dem Verlust des anerkannten Kanons wird die Darstellung persönlicher und zugleich entpersonalisiert. Wir stehen also sowohl einer Zunahme idiosynkratischer Freiheit wie kollektiver Entfremdung gegenüber. Einerseits gibt es einen inflationären Emotionalismus von Künsdern wie Burden, der sich selbst in den Arm schoß, weil niemand zu fühlen vermöge, was es heißt, angeschossen zu werden, wenn er nicht angeschossen wurde. 17 Auf der anderen Seite gibt es Manifeste wie das Rothkos für eine neue Ästhetik des Ausschlusses - wie etwa in seinen zwölf Regeln für eine neue Akademie: keine Textur, keine Pinselarbeit oder Kalligraphie, kein Entwerfen oder Zeichnen, keine Formen, kein Design, keine Farbe, kein Licht, Raum, Zeit, Bewegungsmaß oder Skala; keine Symbole, Bilder oder Zeichen; auch keine Lust oder Mühe. 1 8 All diese Interventionen zerbrechen die orthodoxen Schranken zwischen Simulation und Stimulation, Schaffenden und dem Publikum, Gegenwart und Darstellung und damit dem Verständnis dessen, was „Realismus" möglicherweise ist.

Zusammenfassung Noch vor der Industrialisierung kontrollierten akademische oder individuelle Gönner der Kunst die Definitionen sowohl von ästhetischer Stimmigkeit als auch von ästhetischem Eigentum. Wer Kunstwerke besaß oder bestellte, kontrollierte auch die Definition realistischer Darstellung. Im Lauf der frühen Epochen der Industrialisierung regte das Wachstum privaten Kapitals Erneuerungen der wirtschaftlichen Gönnerschaft, der ästhetischen Stimmigkeit und des legalen Kunsteigentums an. Dies erfolgte zuerst in der billigsten und am einfachsten zu vermarktenden Kunstform, den literarischen Büchern, später auch in Medien wie der Malerei, dann der Bildhauerei und im Theater und schließlich in der Architektur und den öffentlichen Bauten. Die Eliten jeder Epoche rechtfertigten die aufkommenden Praktiken neuer Gruppen von Künstlern. Die Veränderung der Rhetorik erlaubte tatsächlich öffentlichen Autoritäten die Schaffung eines Gesetzesrahmens zum Schutz individueller Kreativität. Die neue Ideologie gestattete es Künstlern, sich in die Gesellschaft von Wissenschaftlern und Erfindern zu begeben und das Recht geltend zu machen, an den Eigentumsrechten an ihren Werken als Künstler festzuhalten, deren Bedeutung und Wert darin bestand, von den eigenen Absichten des Künstlers bestimmt zu werden. Heute verändern Künstler als Antwort auf oder als Widerstand gegen den Markt und andere Kräfte die Maße ihrer Werke, die Rohmaterialien, den Produktionsprozeß oder die Bedingungen, unter denen diese Werke betrachtet werden können. Dadurch jedenfalls fordern Künstler herrschende Definitionen der Einzigartigkeit ästhetischen Schaffens und entsprechender künstlerischer Eigentumsrechte heraus. All dies erfolgt im Rah-

17 Der Fall wird von S. Gablik, Has Modernism Failed?, a.a.O., 49f., berichtet. 18 Vgl. R. Clignet, The Structure of Artistic Revolutions, Philadelphia 1985.

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men einer erweiterten politischen Ökonomie und des kollektiven Bewußtseins, daß Kunstwerke ineins ausdrücken, rechtfertigen und verändern. Daher sind ästhetischer Realismus und politische Macht eng miteinander verwoben. Die Repräsentation, die Darstellung müßte verstanden werden als zugleich ästhetisches und politisches Konzept. Wir sind nun in der Lage, die wesentlichen Punkte und Erkenntnisse unserer Diskussion zusammenzufassen. „Realismus" ist eine gesellschaftliche und stilistische Schöpfung. Ihre Haupttechnik besteht in der Stärkung eines generischen Codes der Darstellung, der der vorherrschenden Ontologie ihres Publikums homolog ist. Als solche variieren Realismusdefinitionen sowohl kulturell wie historisch - vom Realismus der Homerischen Epik bis hin zum Realismus der Romane Balzacs, die beide jeweils vom herrschenden Code und Kontext abhängen. In größeren Gesellschaften mit komplexerer Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit erfordert die Herstellung „hoher" oder „nationaler" Kultur bedeutende gesellschaftliche Investitionen. Das heißt, daß die Einrichtung und Aufrechterhaltung einer Herrschaft der Bedeutung die Ausbildung und die Sozialisation besonderer Praktiker, Institutionen und Akademien etc. umfaßt. Künstler, die in Akademien ausgebildet wurden, erreichen eine Stellung, Privilegien und Wohlstand, unter der Bedingung, daß sie im Rahmen künstlerischer Paradigmen tätig werden, die mit den ontologischen und ideologischen Interessen der Eliten übereinstimmen. Veränderungen in der Machtverteilung zwischen Klassen führen auch zu Veränderungen in den Modi künstlerischen Schaffens - wie wir am Beispiel der Bedeutung des Romans für die aufkommenden Mittelschichten gezeigt haben. Wenn wie in der postmodernen Kultur Macht und Legitimität in einer Gesellschaft abnehmen, wird auch der „Realismus" zusammen mit den anerkannten und geltenden Standards dessen abnehmen, was real ist, was wahr ist, was schön ist oder was Kunst ist. Künstler erreichen eine neue Freiheit, sehen sich aber zugleich mit einem ehrgeizigen Kampf um Berühmtheit in einer Kunstwelt konfrontiert, die zusehends ein Markt von Gebrauchsgütern ist.

Gert Mattenklott

Schönheitslinien nach dem Schweigen der Ideen Botho Strauß, Peter Handke und Friederike Mayröcker

Noch vor hundert Jahren war jede Stimme beheimatet, behauptet Botho Strauß 19891; die des Dichters, so legt er nahe, sei es derzeit jedenfalls nicht mehr. Seine „Fragmente der Undeutlichkeit", ein kleines Bändchen mit zwei Prosastücken des seinerzeit gerade mit dem Büchner-Preis Bedachten machen die Probe aufs Exempel. Das zweite Stück, eigentlich eine Sammlung von Aphorismen, heißt „Sige". Sige, so der Autor, ist das Schweigen der Ideen. Die Stätte. Der Schweigende, der Wächter.2 Die Ideen würden stumm werden, wenn das Geräusch der leeren Worte überhandnimmt: Der demokratische Schrecken: man lebt vom Flügelrauschen im Mund und kommt nur noch zur Stimmfühlung zusammen wie die Enten am Weiher.3 Glücklicherweise machen die Dichter, die wirklichen jedenfalls, wie der Demokratieverächter Jeffers, dem Strauß mit dem anderen der beiden Stücke dieses Bändchens ein Denkmal setzt, eine Ausnahme: er der langsam Andersredende, Fürsprecher weder des Chaos noch der denkbaren Ordnung, bewohnt entgegen der allgemeinen Annahme nicht das Reservat einer erlöschenden Spezies, sondern hält den verborgenen Vorposten, die Erwartungsstille, den masseschweren Gegenpol, da weder Wissen noch Wissenschaft sich bewegen ohne die Gravitation des Unerforschbaren. Jeder ihrer Fortschritte vertieft das Geheimnis des Ganzen. 4

Wo alle Welt im demokratischen Entengeschnatter des Journalismus paralysiert zu sein scheint, findet die selbsternannte Avantgarde der Dichter im Diesseits kaum noch eine

1 Botho Strauß, Fragmente der Undeutlichkeit, München 1991, 61. 2 Ebenda, 44. 3 Ebenda, 46. 4 Ebenda, 48.

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Adresse. Ihre Wiederbegegnung mit dem Primären5, so Strauß in seiner Begrüßung von Steiners „Real Presences", zielt auf nichts Geringeres als eine Theologie des Textes6: Ich kann nur vor Gott treten, nur vor die allergrößte mir versagte Gegenliebe. [...] Was kann ich noch tun? Ich kann nur zu Dir sprechen. Haltlos, hemmungslos abfließend wie der Strom. Denn JEDER, der mir Antwort gäbe, hätte meine Frage nicht verstanden.7

Als Apostrophe an einen schweigenden Gott strebt das Dichterwort nach einer Erneuerung unvergleichlich konkurrenzloser Würde. Bereits 1985 hatte Strauß Hölderlins späte Hymnenintonation und Rilkes Klänge in den Duineser Elegien zu einem ungewollt parodistisch anmutenden Ton abgemischt: Langsam geht jetzt Geschichte, unzeitgemäß. Während die stillen Maschinen eilig gleiches Gedächtnis verteilen über die Erde. 8

Die Dichter, indem sie solche und ähnliche Beobachtungen anstellen, werden zu Pionieren auf dem Königsweg der Natur zu ihrem Ursprung in Gott: Immer gilt es, unsere Ruhe rein und bereit zu halten und ein geordneter Aufstieg zu sein. 9

Karl Pestalozzi hat in seiner Studie über die Excelsior-Metaphorikl° die pietistische Tradition in ihrem Fortwirken bis zu Nietzsche und dessen lyrischen Schülern sichtbar gemacht. Seine in den 60er Jahren erarbeitete Schrift fände ihre Belege heute ohne viel Spürsinn bei den Zeitgenossen. Ein Unterschied der neueren Belege zu denen aus dem frühen 20. Jahrhundert ist bemerkenswert, die Mischung der Aufschwung-Motivik mit der strategischen der Avantgarde. Sie steht für die steile Militarisierung der Phantasie bei zunehmender Exklusivität und Isolation; Unistände, die Kitscher wie Strauß begünstigen. Ein weiteres immer höher dosiertes Ingredienz ist das Ressentiment gegen alles, was gleichmacht. George und D'Annunzio, Drieu und Jünger geben dafür Beispiele aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts. - Die Dynamik fortschreitender Isolation verstärkt

5 Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, in: Die Zeit, Nr. 26, 22. Juni 1990, Feuilleton, 57. 6 Ebenda. 7 Ebenda, 53. 8 Botho Strauß, Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war. Gedicht, München 1985, 49. 9 Ebenda, 67. 10 Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970.

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sich selbstreferentiell. Je stärker Arroganz gegen die vermeintlichen oder wirklichen Tendenzen des Zeitalters auftrumpft, desto effektiver der wirkliche Ausschluß. E r wird aber nicht eigentlich erlitten, weil das Martyrium ihn sinnvoll macht. Das kryptotheologische Fundament dieser Poetik will diese außerhalb der Uberbietungslogik begründen, wie sie von den modernen Avantgarden des 19. Jahrhunderts Poe und Baudelaire an ihrer Spitze - formuliert worden war. Das ganz Andere, dem die Dichter zugewandt sind, ist womöglich nicht neu und vielleicht auch nicht modern, und doch gehört ihm die Zukunft. Es eröffnet sich jenseits der profanen Innovationsdynamik als geistlich-geistiger Ursprung. Als solcher gehört er allen drei Dimensionen der Zeit an. Die Wiederbegegnung mit dem Primären, die Formel von Botho Strauß für die Resakralisierung der Kunst, hat bei Handke einen vertrauteren Namen: Glückserfahrung. Doch will auch dieses Glück mit einem anderen als dem gewöhnlichen Maßstab von jedermann gemessen sein. So hat es denn auch nichts gemein mit dem Glück der Eudämonieversprechen, die die Geschicke unserer Kultur seit dem 18. Jahrhundert begleiten, in den Grundrechten von Virginia von 1776 sogar demokratisch verfassungsrechtlich zugesichert. Handke nennt seinen geglückten Tag 1991 unvergleichlich und einmalig und entzieht ihn damit Konventionen dieser Art, wie sie zur Grundlage der liberalen Gesellschaften und ihrer demokratischen Verfassungen geworden sind. Die Glücksvorstellungen der Dichter divergieren von den „allgemein und gleich" formulierten Eudämonieversprechen spätestens seit der Frühromantik und von da an zunehmend. Handke steht damit nicht allein, sondern am Ende einer langen Entwicklung. In ihrer Folge werden die Autoren, einst Sprachrohr der aufklärerischen Kultur, zu deren unermüdlichen Kritikern im Namen eines Glücks, das je weniger von dieser Welt ist, je mehr von den Versprechen in Erfüllung gehen, die in Virginia so bündig formuliert worden waren. Das Glück der Dichter ist gemessen an dem verallgemeinerungsfähig formulierten der Gesellschaften, in denen sie leben - exklusiv, esoterisch und metaphysisch. Wie steht es damit bei Handke? Ein geglückter Tag ist für ihn nicht nach objektiven Kriterien definierbar und auch auf keine Weise willentlich herstellbar. Unwillkürlich, wie seine Idee sich einstellt, sind auch die Empfindungen, die ihn als geglückt beglaubigen oder als mißraten eingestehen. Welche Kriterien statt dessen über geglückt oder mißraten zu entscheiden zulassen, läßt Handke gleich am Eingang seines Essays vermuten: ästhetische, diese aber im Sinne einer Metaphysik. Es ist eine Abfolge von ästhetischen Eindrücken, welche die Idee des geglückten Tags überhaupt erst entstehen lassen: Ein Selbstbildnis des Malers William Hogarth, in London, ein Augenblick aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit einer Palette, auf dieser, sie zweiteilend, ungefähr in der Mitte, eine leicht geschwungene Linie, die sogenannte „Line of Beauty and Grace". Und ein flacher, gerundeter Stein vom Ufer des Bodensees auf dem Schreibtisch, in dem dunklen Granit, als Diagonale, mit einer feinen, wie spielerischen, genau im rechten Moment von der Geraden abweichenden Krümmung, eine kalkweiße Ader, welche beide Hälften des Kiesels trennt und zusammenhält. Und auf jener Fahrt in jenem Vorortzug zwischen den Seine-Hügeln westlich von Paris, zu jener Stunde des Nachmittags, da in der Regel Frisch-

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Gert Mattenklott luft und -licht manch morgendlichen Aufbruchs verbraucht sind, nichts mehr natürlich ist und nur noch das Abendwerden, vielleicht, aus der Tagklemme hilft, jenes plötzliche Ausscheren der Gleisstränge zu einem weiten Bogen, fremdartig, zum Staunen, hoch über der unversehens sich in der Flußniederung frei wegdehnenden Stadt samt ihrem, dort auf der Höhe etwa von St. Cloud und Suresnes, so verrückt wie wirklich sich auftürmenden Wahrzeichen, mit welch unvorhergesehener Kurve, heraus aus der Enge, der Tageslauf, in einer Sekunde des Ubergangs von Wimpernstarre zu Wimpernzucken, neu Richtung bekam und die fast schon abgetane Idee von dem „geglückten Tag" wiederkehrte, begleitet von dem Schwung, der heiß macht, sich zusätzlich an einer Beschreibung, oder Aufzählung, oder Erzählung der Elemente und Probleme solch eines Tags zu versuchen. Die „Linie der Schönheit und der Anmut" auf Hogarths Palette scheint sich regelrecht den Weg durch die unförmigen Farbmassen zu bahnen, wirkt zwischen diese eingegraben, und zugleich ist es, als werfe sie einen Schatten. 11

Kein Zweifel, der geglückte Tag ist eine exklusive Erfahrung, und deren Erläuterung durch Hogarths line of beauty and grace im sozialen Zusammenhang der Aristokratie des 18. Jahrhunderts betont diese Exklusivität, indem sie Müßiggang als Voraussetzung dafür nennt, daß sie sich einstellt. Hogarth hatte diese Privilegierung nicht ohne Sarkasmus bemerkt, wenn er seine Schönheitslinie in der Choreographie des Gesellschaftstanzes der Adeligen wiederfand. Nicht minder privilegiert sind die Situationen, in denen Handke ihr nachspürt: die Bildbetrachtung in der Tate Gallery, die Kontemplation eines Kiesels, die entrückte Betrachtung der Pariser Stadtsilhouette von der geschwungenen Tangentiale einer Hochbahnstrecke; alltägliche Situationen zwar, wie auch alle anderen, die auf den nächsten Seiten zur Sprache kommen, der Gang durch den Vorortgarten, ein Vogelflug, eine späte Malvenblüte, der Ton fallenden Laubs. Exklusiv ist dennoch die Perspektive, nämlich eben die des Müßiggangs, die es zuläßt, daß der Augenblick einer singulären Wahrnehmung sich durch Betrachtung zur Kunstgestalt rundet. Die Besonderung kommt aber hier nicht durch die Abspaltung eines exzentrisch gerichteten Individuums von seinen Gefährten zustande, nicht durch die Forderung eines Neuen und Unerhörten. Kein künstlerischer Spezialist hat das Wort, mit Beobachtungen und Techniken ihrer Erfindung und Präsentation, die anders als professionell nicht zu haben wäre. Mit einem Wort, die „line of beauty" dieses Essays verlängert nicht ohne weiteres den roten Faden der romantischen Ästhetik subjektiver Ekstase und individueller Selbstermächtigung, obschon ekstatische Erfahrungen hier auch ins Spiel kommen. Alle Emphase ist hier vielmehr darauf gerichtet, dem bloß Privaten und Absonderlichen, dem bedeutungslos Abseitigen und Verlorenen, den individuellen Schrullen und Schrecken als einer Formlosigkeitshölle12 zu entkommen. Von welcher Allgemeinheit ist aber die line of beauty and grace, wenn keine Aristokratie mehr in Sicht ist, deren Rituale und Zeremonien eine überindividuelle Gültigkeit beglaubigen könnten; wenn kein Klassizismus mehr zur

11 Peter Handke, Versuch über den geglückten Tag, Frankfurt/M. 1991, 7f. 12 Ebenda, 37.

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Verfügung steht, in dessen Gestalten die haltlosen Schatten der Moderne sich halbwegs solide noch einmal verkörpern könnten? Dies ist keine Prosa zum Jahreswechsel, und so enthält sich ihr Autor auch aller erbaulicher Mitteilungen und Vorschläge über und für geglückte Tage. Ihre Kunstfertigkeit - das heißt ihre evozierende Kraft - kommt vielmehr in Anschauungsformen zum Ausdruck, denen man zutraut, daß sie der Vision geglückter Tage näher kommen als das stumpfe Sensorium des geschäftigen Lebens, das zuallererst ausgeschlossen ist, wenn wir uns diesem Spaziergänger anvertrauen. Welche? Zumindest so wichtig wie positive Bestimmungen sind hier die negativen; also welche Orte und welche Stimmungen, welche Anschauungsformen und Affekte zu meiden sind. - Daß Handkes Texte die großen Städte fliehen, verdient Beachtung. Was gewinnt er mit der Vertauschung des Fluchtpunkts vom kulturellen Zentrum, der Stadtmitte, an die Peripherie der Vororte? Randzonen sind Zwischenräume. Von ihnen her relativiert sich die Perspektive. Statt der gewöhnlichen Sehweise, in der wir uns, vom Vordergrund ausgehend, Schritt für Schritt den Mittel- und Hintergrund erobern, schlägt Handke eine verfremdende vor, in der dieses Verhältnis umgekehrt ist. Das Andersgeartete am fernen Horizont, das Unsichtbare oder noch kaum Sichtbare, das Unscheinbare oder eben erst als Umriß Wahrnehmbare wird zum Ausgangspunkt, während die scheinbar vertrauten Gegenstände an die Horizontlinie rücken. Was das für künstlerische Konsequenzen haben kann, hat der vormalige Hausphilosoph des Pariser „Centre Pompidou" Paul Virilio, selbst ein Gelegenheitsmaler, in Vorstellungen negativer Theologie und fernöstlicher Mystik umschrieben: Die fernöstliche Malerei interessierte mich auch, nicht aufgrund ihres Exotismus, sondern aufgrund iher Absicht, das Nicht-Darstellbare darzustellen: den Wind, die Leere, die Strömung, das Verwelken, das Weiche; alles im wesentlichen taktile Dinge, die uns noch jenseits der Möglichkeiten des Zeichens zu liegen scheinen.

Daß der Tuschpinsel auf Windstärken und das elastische Nachgeben weicher Haut, auf die Strömung eines Flusses oder eine Temperaturschwankung reagieren kann - diese Übersetzung dinglicher Eigenschaften, die für das Auge am Rande des Nichts liegen, in kalligraphische Zeichen - wird für Virilio zum Argument für die Faßlichkeit eines besonderen Lebens, das in den Philosophien des Abendlandes bloß unter den barbarischen Titeln des Nichts oder der Leere vorkommt. D a s Sichtbare, so vermutet er, ist im Grunde nur eine Maske des Unsichtbaren, die scheinhafte Positivität von etwas, dessen Eigentümlichkeit nicht unvermittelt angeeignet werden kann. Handke teilt mit Virilio diese Optik der Umkehr: als käme der Blick aus einer Welt fern der unseren zurück, so daß ihm die zuvor durch Gewohnheit allzu vertraut gewordene

13 Paul Virilio, Der negative Horizont. Bewegung - Geschwindigkeit - Beschleunigung [frz. 1984], München 1989, 8 f .

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Erde gegenübertritt wie die noch unbenannte Schöpfung; mit jedem Tag ein neuer Aspekt der geschaffenen Welt, eines Namens bedürftig. Denn was ist die Schönheitslinie in der Bildkunst anderes als der Name in der dichtenden Sprache? Er ruft die Dinge an, um bewußtzumachen, daß dort etwas ist, wo nichts sein könnte: Und es hatte Bestand auch noch die Erfahrung: daß gerade ein Nichts an Tag (wo nicht einmal die wechselnden Lichter mitspielten, kein Wind, kein Wetter) die äußerste Fülle verhieß. Nichts war, und wieder war nichts, und wieder war nichts. Und was tat dieses Nichts und wieder Nichts? Es bedeutete. Es war mehr möglich mit nichts als dem Tag, weit, weit mehr, mir wie dir. Und darum ging es hier: das Nichts unserer Tage, das galt es jetzt „fruchten" zu lassen, von Morgen bis Abend (oder auch Mitternacht?). Und ich wiederhole: die Idee war Licht. Die Idee ist Licht. 1 4

Kontur und Name umreißen nicht bloß, sie sparen zugleich auch aus. Das Positive, das sie bezeichnen, ist Insel in einem Nichts an Bedeutung, dessen Ränder mit denen der umrissenen Gestalt identisch sind. Kontur und Namen sind ineins Anfang des Nichts und Ende einer Form. Die Sichtung der Kultur von den Grenzen ihrer zeitlichen und räumlichen Erstreckung aus - von Virilio als Eigenart gewisser kalligraphischer Darstellungsweisen asiatischer Kunst erkannt - begünstigt auch bei Handke Wahrnehmungsformen, in denen das noch wenig Bekannte und Unbenannte, das Vage und Verfließende mehr Aufmerksamkeit findet als gewöhnlich. Wie Virilio assoziiert Handke Philosophien des fernen Ostens, wenn er nahelegt: Das Glücken des Tags und das Lassen; und das Lassen als Tun: Er ließ vor dem Fenster den Nebel ziehen, er ließ hinter dem Haus das Gras wehen. 15

Indifferenz, Schweigen, Gelassenheit, Leere, Nicht-Handeln, eine affektarme Ausgeglichenheit und statt dessen die ruhige Betrachtung sind nach taoistischer Auffassung Merkmale des Weisen. Tatsächlich nähern sich auch die von Handke bevorzugten Orte und Motive denen, die in der Philosophie vom Sein und Werden des Tao ausgezeichnet werden: der Garten als die Miniatur einer interesselos angeschauten Schöpfung, die dem Meditierenden ihre Geheimnisse offenbart; die Bedeutung der Linien, Adern und Ströme, von denen die Erde, alle Dinge und Kreaturen durchzogen werden, und aus deren besonderen Zusammentreffen sich ihre individuelle Eigenart erklärt; die Abbildung der schaffenden Energien, ja der Schaffenszeit selbst im abstrakten Liniennetz, von dem die Welt geheimnisvoll durchzogen ist. Für den Kundigen bilden diese Linien Figuren, die die Welt intelligibel machen.

14 Handke, V e r s u c h . . a . a. O . , 56. 15 Ebenda, 80.

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Die Legitimationsgrundlage von Handkes Poetik sollte hier nicht eher auf einen Begriff gebracht werden, ehe sie im literarischen Vollzug, also formbildend nachvollzogen wurde. Danach mag es nun erlaubt sein. Mir scheint, daß Handke den schon oft in diesem Jahrhunden unternommenen Versuch wiederholt, das Dichten als eine profane Selbsttranszendenz des Lebens mit ästhetischen Mitteln zu begründen. Ludwig Klages und in seinem Gefolge Walter Benjamin hatten in diesem Sinne eine auratisierende Wahrnehmungsweise von Gegenständen des Natur- und Kunstschönen beschrieben. Auf die Frage Was ist eigentlich Aura? hatte Benjamin sich selbst mit der Definition geantwortet: Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.16 In seinen Baudelaire-Studien überträgt er magische Belehnungsformen auf die ästhetische Wahrnehmung und schreibt: Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.17 In seinen letzten Lebensjahren hat er diese Magie als eine parasitäre Teilhabe des Ästhetischen am Kult nur historisch gelten lassen wollen und für die Gegenwart verurteilt - auch eine Auseinandersetzung mit Klages. - Kein Zweifel, daß Benjamins Kritik die neureligiöse Rauschsehnsucht empfindlich trifft. Zu Recht hat er im Bündnis von Ekstase-Verlangen und Methode den ohnmächtigen Rettungsversuch von Erfahrungsformen gesehen, die für die Wirklichkeit der technisch zivilisierten Welt und ihrer neuen Massenästhetik nicht zu konservieren sind. Erschöpfen sich aber der Urbilder-Eros von Klages und die Ideen-Sehnsucht in der Prosa Handkes in derart vergeblichen Anstrengungen, die beschädigte Welt durch Verkultung zu restaurieren? Ich glaube nicht. Denn wie immer von Vergeblichkeit geschlagen derartige Rückbildungsversuche auch sein mögen - Handke stellt ihr Mißlingen ausdrücklich fest - , und für wie gefährlich sich die Bösartigkeit aus dem Ressentiment des Verlusts auch erwiesen haben mag, so bleibt doch der Wert von Versuchen wie gewissen frühen Essays von Klages und dem hier interpretierten von Handke, daß sie unbestochen wie sonst wenige die Verlusterfahrungen zu Wort kommen lassen, die sich mit der Vernichtung überkommener Wahrnehmungswelten verbinden. In Philosophie und Dichtung dieses Jahrhunderts wird die Erfahrung des Verlusts der Welteinheit nicht darauf nur zurückgeführt, daß diese Welt zu groß geworden ist, um übersichtlich zu sein. Ein anderer Grund scheint in der Verödung der Wahrnehmungsfähigkeit zu liegen. So verzeichnet die Geschichte der Sinne eine Tendenz zur Verkümmerung der Nahsinne zugunsten der Hypertrophie vor allem eines Fernsinns, des Auges. Je dichter die Menschen aufeinanderleben, desto mehr sind sie darauf angewiesen, sich gegeneinander abzugrenzen. Von der Verhornung der Sinneszellen über die Einschalung der Körper bis zu den Wohncontainern reichen die Versuche der sinnlichen Desensibilisierung. Am Ende steht die Ertaubung. Mit der Außenwelt mag man dann über die

16 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie. Gesammelte Schriften 11,1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977, 378. 17 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire. Gesammelte Schriften Bd. 1,2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, 646f.

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Gegensprechanlage, das optisch verkleinernde Spion-Guckloch in der Tür, den Boten mit dem fahrbaren Mittagstisch und zur Entsorgung mit dem Müllschlucker kommunizieren. - Aber nicht einmal dem Uberblick und Durchblick kommt der hypertrophierte Augensinn zugute; keine Möglichkeit also zur Kompensation der Restsinne durch die forcierte Leistung des einen. Denn die optischen Vermögen sind derart auf Einblicke und Ausschnitte trainiert, auf den selektiven und sonstwie abstrahierenden Blick geschult, daß für die Wahrnehmung der Alleinheit, wie die auratische Optik sie anstrebt, ein anderes als das natürliche Auge nötig zu werden scheint, ein drittes. Das Wiedereröffnen der Gesamtsinnlichkeit, zunächst des Ohrs, dieses Inbildes eines aufnehmenden Organs - neben Vagina und Anus - , ist eine der Voraussetzungen von Handkes Vision eines geglückten Tags. Ich hatte die fernöstlichen Assoziationen seiner Phantasien über die stille Hingabe an Eindrücke der Außenwelt hervorgehoben. Von der Philosophie des Tao war die Rede gewesen, die das Lassen höher schätzt als das Tun; diese Empfänglichkeit aber als Weg zu einer stärkeren Aufmerksamkeit für das dichte Netz von korrespondierenden Spuren und Zeichen. Was hätten die Künste seit je anderes im Sinn gehabt, als diese unscheinbar aufscheinende Ordnung, die sich in der Aura um die rohe natürliche Welt bildet. Das dritte Auge hält sich an die Spektralfarben des Regenbogens, der sich über dem Wasserfall abzeichnet; es nimmt die line of beauty an der kurvenden Hochbahnstrecke an der Pariser Peripherie wahr; es folgt der weiß eingeschlossenen Kalksteinlinie im dunklen Granit. — Statt der schon namhaft gemachten fernöstlich taoistischen Assoziationen, die einem bei der Lektüre von Handkes „Versuch über den geglückten Tag" einfallen mögen, könnte sich auch ein Autor unseres eigenen Kulturkreises anbieten: Roger Caillois, der 1966 ein Buch über „Steine" unter diesem Titel ist es 1983 bei Hanser in München erschienen - veröffentlicht hat. Handke kennt es zweifellos. Darin ist von der Mythologie der Steine die Rede, wie sie sich aus der Deutung von Beschaffenheit, Eigenschaften, Farbe und all den rätselvollen Zeichen erzählen läßt, die von der Oberfläche gelesen werden können. Ein Steingarten ist die Welt en miniature. Kein Zweifel, das dritte Auge des surrealistischen Mineralogen Roger Caillois geht eher auf das emphatisch Frühe, selbst Unvordenkliche, als auf die Zukunft. Was Ε. M. Cioran aus Anlaß von Caillois' „Faszination des Minerals" (so der Titel von Ciorans 1983 in den „Akzenten" erschienenem Aufsatz) 18 geschrieben hat, gilt nicht nur für die Gesteinskunde, sondern formuliert das Selbstverständnis für diese die physische Welt auratisch transzendierende Optik: Die Suche nach den Ursprüngen ist die wichtigste, die wir unternehmen können. Jeder versucht sie einmal und sei es nur einige Augenblicke lang, als ob eine solche Rückkehr das einzige Mittel sei, uns neu zu erfassen, über uns selber hinauszugehen, uns sowie allem anderen gegenüber souverän sein zu können. Das ist auch die einzige Flucht, die weder

18 Ε . M. Cioran, Faszination des Minerals, in: Akzente, München 1983, 2 7 5 - 2 7 9 .

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Ausweichen noch Schwindel ist. Aber wir haben heute die Gewohnheit, uns an die Zukunft zu klammern, die Apokalypse über die Kosmogonie zu stellen, die Katastrophe, das Ende zu vergöttern, und setzen bis zur Lächerlichkeit auf die Revolution und das Jüngste Gericht. All unsere prophetische Arroganz rührt daher. Wäre es nicht klüger, sich dem ursprünglichen Chaos zuzuwenden, das unvergleichlich viel reicher ist als das, was wir zu antizipieren suchen? Dieses Chaos, in das Ordnung und Zufall sich mit gleichem Anteil mischen, ist der Stoff, aus dem - wie die Träume - so auch die Dichtungen gemacht sind. Das reiche Zuströmen dieses Stoffes in das Potential der poetischen Einbildungskraft soll ihre philosophische Orientierung an den Weisheitslehren des Ostens und ihre ästhetische am Surrealismus erleichtern. Handke hält sich an Caillois und Rene Char, den er ja auch übersetzt hat. Für Friederike Mayröcker, deren 1991 erschienenes Buch „Stilleben" hier am Abschluß stehen soll, kommen ähnliche Anreger hinzu. Das Ursprungsverlangen der taoistischen Kontemplation ist in ihren „Stilleben" der poetischen Kraft verwandt, mit der Kinder phantasieren. So geht der folgenden Passage aus dem achten Kapitel des Buchs die Begegnung mit einem Kind voraus: Plötzlich fühlte ich mich selber wieder als junges Kind im Wickelbett, in die Kissen gepackt, und im Rückwärtsfallen spüre ich, wie lang, ohne Stundenschlag, ein solcher Tag im Leben eines jungen Kindes währt. Ich erfinde ein Lächeln auf meinen Lippen und die Stille des Augenblicks, während Clara in eine Nische zurücktritt und uns anblickt. (Sie hatte dann über das Kind im Wagen ein weißes Tuch gebreitet.) Verborgene Beschaffenheit eines Dinges, sage ich, in meiner Kindheit sah ich manche Dinge in ihrer verborgenen (eigentlichen?) Form, in ihrem wirklichen Zustand, die Türklinke zum Beispiel und wie sie zur Schlange wurde, den Fliesenboden als Schachbrett, den großen Schlüssel als männliche Figur mit übergroßem Kopf, den Wasserhahn, die Feder am Hut, usw. Ich mußte nur lange genug den Gegenstand betrachten, schon begann er sich vor meinen Augen zu verwandeln, das Sperlingspaar, heruntergezirpt bis ans Ende frühkindlicher Trance, usw. Dieser Körpergedanke, sage ich, „diese Mohnblumenstaude am Handgelenk eines Kindes, es hatte mich benommen gemacht": trage Staubwolken an Händen und Füßen, ein kleines geringeltes Flaumhaar springt über das Papier, als hätte es sich aus eigener Kraft belebt. Es war hingegen meine durch Mund und Nase geblasene Luft, welche das STAUBKORN bewegt hatte, wie etwa zwischen den Stäubchen in einem geschlossenen Zimmer, die bis dahin ruhig erschienen, Bewegung entsteht, usw. Ich konnte die Fliege an der Wand sich vorwärtsbewegen, dann über meine Papiere wirbeln hören, so still war es im Zimmer. So groß war das Schweigen zwischen uns - diese platonische Wendung, sage ich, „eine Absprache wie unter Wasser". Im violetten Frühmorgenhimmel, sage ich, Schwärme von dunklen Vögeln, die aus ihren Schlafbäumen aufgebrochen sein mochten. „Ausbund an Lust".

19 Ebenda, 277.

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G e n Mattenklott Ihr Puls schlägt ganz weich, sagt der Arzt, Ihr Herz ist ganz schlank, sagt der Arzt, Sie sind in guter Verfassung. Er zitierte Laotse: Schwäche ist stark, Stärke ist nichts. Wenn der Mensch geboren wird, ist er schwach und weich, wenn er stirbt, ist er stark und hart, Härte und Kraft sind die Begleiter des Todes, darum wird, was hart geworden, niemals siegreich sein, usw. Er sagt, man sieht durch Ihren Körper hindurch, wenn man ihn berührt, ich sage, ich brenne, verbrenne, habe Feuer gefangen, etwas brennt in meinem Körper, in meinem Kopf, vielleicht ist es das dritte Auge an meiner Stirn.

Dergestalt wahrt das Geschriebene die Nähe zum träumerischen Somnambulismus, ein Bild der Welt, übereinanderkopiert aus den Visionen, die auf der Innenseite der Lider bei geschlossenen Augen entstehen, oder als Aura über einem Körper, in dem die Erinnerungen des gelebten Tages auf den Impuls eines Tons oder Drucks auf irgendeine Körperstelle hin aufsteigen. - Der Musiker John Cage hat sein Komponieren einmal als Suche nach der verlorenen Stille bezeichnet.21 Friederike Mayröcker zitiert dieses Programm in einem Interview: Das ist interessant und auch eine Parallele zu meiner Arbeit, weil Cage ja so ganz und gar nicht still ist. Ich glaube, es ist bei Cage auch so, daß er dieses innere Stillhalten meint, das auch eine Nähe zur Meditation hat.

In „Silence"22 hat Cage das musikalische Werk nicht bloß überflüssig, sondern das Überflüssige genannt, reine Produktion ohne irgendeinen Tauschwert. Sie solle nichts sagen, sei vielmehr wesentlich stumme Produktion mit der Tendenz, die Bedeutungen zu stillen. Nur als geräuschvolle Stille bringe Musik den Austausch von Nachrichten und Werten zum Verstummen, lasse die Töne gewähren, breche sie aus dem Diskurs der wert- und tauschbezogenen Produktion zugunsten einer reinen, mitteilungslosen Sprache, die sich der Welt in ganzer Breite öffne. In der Musik wertet diese Auffassung das Geräuschhafte auf. Ernst Jandl, Friederike Mayröckers Partner, hat diesen Aspekt analog auf den Umgang mit Sprache übertragen. Das Vogelrauschen vor Sonnenaufgang, die Himmelsschrift der Schwalbenzeichen, alle aus ihren festen Bedeutungsfeldern irgendwohin verlaufenen Bezeichnungen, literarische Reminiszenzen - in diese noch chaotische Wortwelt langt das Erzählen hinein. Was in den Strukturen der Sätze hängenbleibt, hat oft nicht mehr Zusammenhang untereinander als das Ensemble von Tier- und Pflanzenformen, Reste von organischer und anorganischer Materie und irgendeinem hergestellten Ding, was sich zugleich im Fang eines Fischernetzes findet, noch zuckend hier und da oder pulsend. Die poetische Sprache übt Mimesis an der adamitischen Namengebung, wenn auch nie ohne Melancholie. Dro-

20 Friederike Mayröcker, Stilleben, Frankfurt/M. 1991, 131f. 21 Daniel Charles, John Cage oder Die Musik ist los. Darin: Alia Ricerca del Silenzio Perduto, Berlin 1979, 9ff. 22 John Cage, Silence, Middletown, Conn., 1961.

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gen sind allenthalben im Spiel. Selbst Baudelaire nähren sie das Sprachvermögen der selbstbeauftragten Forscher nach der Ursprungssprache. Melancholie mag sich einstellen, weil die Sprachursprungswelt in der Dichtung - anders als in der adamitischen Welt nicht ohne Gewalt und Zerstörung zugängig ist. Sie ist ja immer schon verloren, wenn das Dichten anfängt, das stets ein bewußter Versuch von Restitution ist. Das Ich muß sich aufgeben, Sinnbezüge müssen durchstoßen werden. Dichten wird zur Passion. Die Welt des Ursprungswahns ist keineswegs nur hold, und der Zugang dazu ist nicht stets nur ein Spaziergang durch den Garten. Es ist aber eben dieser gewalttätige Aspekt in der surrealen Regression und das katastrophische Moment seiner Poetik des Negativen - diesem Pendant zur negativen Theologie - , durch die diese von verkitschender Verharmlosung bewahrt ist. Die surreale Attacke zielt auf Kulturzerstörung durch Dekonstruktion von Bedeutungen. Denn weil sein philosophischer Hintergrund der Nihilismus ist, fallen ihm nicht nur diese oder jene Bedeutung zum Opfer, sondern Bedeutsamkeit als Dach über dem Kopf. Seine Poesie, an der Friederike Mayröcker fortschreibt, ist ein Abbruchunternehmen von ungewissem Ausgang, indem der Rückgewinn des Anfangs auch ein Ende macht. Daß das Ich leer zurückbleibt, diese Erfahrung formuliert die Erzählerin nicht nur als Beschreibung einer postkreativen Depression, sondern auch als Ergebnis radikaler Rezeptivität. Im Geschehenlassen und bloßen Hinhören liegt nicht nur fromme Demut, sondern es ist auch eine Maske des Attentäters, der einen Schreibangriff auf das Ich der Kultur austrägt. Die.Märtyrerin poetischer Passion versteht sich auch als eine heilige Kämpferin. Drei durchaus verschiedene Formen ästhetischer Metaphysik sind hier zu Wort gekommen. So unterschiedlich diese auch ausfallen, so haben sie doch eines gemeinsam, die mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Opposition gegenüber dem literarischen Journalismus, wie Botho Strauß - George Steiner nachvollziehend - in unausgesprochener Aufnahme des Verdikts von Karl Kraus gegen Heine die dezidiert zeitgenössische Literatur betitelt. Es handelt sich dabei um mehr als die Revision der jungdeutschen Literaturrevolution der 60er Jahre. Denn Strauß, Handke und die Mayröcker, die ich hier exemplarisch für eine breite Strömung in der Gegenwartsliteratur zu Wort kommen ließ, wollen durchaus nicht auf das Niveau der inneren Emigration oder des erhabenen Tons der 50er Jahre zurück, dem Rühmkorf, Enzensberger und Weiss, Walser, Grass und Boll den Garaus gemacht hatten. Die Opposition reicht weiter zurück als in das erste Drittel dieses Jahrhunderts. Die literarischen Metaphysiker dieser Jahre sind Erben einer schon früh sich formierenden Opposition der Intellektuellen gegen den zeitgenössischen Diskurs und das Fortschrittsdenken im Zusammenhang des Demokratisierungsprozesses. Ich halte die Resakralisierung der Kunst und die Neubegründung einer Avantgarde profaner Dichter-Priester jenseits von Anciens und Modernes für mehr als eine literarische Modeerscheinung. Ich möchte dazu - im Rückgriff auf einige frühere Bemerkungen - abschließend eine These formulieren. Die aufklärerische Kultur verspricht das größtmögliche Glück für alle; in der amerikanischen Verfassung sogar ausdrücklich festgeschrieben. Spätestens in den Massengesell-

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Schäften des 20. Jahrhunderts kann es nicht mehr den Individuen überlassen bleiben, diesem Zweck - jeder auf eigene Weise - nachzustreben. Gesellschaftliche Organisation und Institutionalisierung ist erforderlich. Die liberale Demokratie ist die Form, in der die größtmögliche Lust möglichst vieler Menschen organisiert wird. Frieden, Gerechtigkeit, Harmonie, Schönheit sind ihre Versprechen. Zum Zweck dieser Standards bildet sie ihre Werte, bezahlt sie ihre Agenten. Zu dieser ideellen Seite, der Förderung gewisser Inhalte, tritt eine medial-formale. Hier entstehen eben jene von Steiner bis Strauß als parasitär denunzierten Formen. Durch die Organisation des liberal-demokratischen Fortschritts entstehen für den einzelnen Belastungen, die kompensiert werden können und sollen. Information, Unterhaltung und Zerstreuung sind die wichtigsten Funktionen, die dieses Entlastungsgeschäft besorgen. Außerdem können insbesondere von den Bildmedien gewisse integrative Leistungen übernommen werden (etwa im Blick auf die multiethnische Gesellschaft in den USA). Diese Ideen und Funktionen sind Standards, in deren Dienst auch die Künste, in besonderem Maße die neuen Medien genommen werden; mit unterschiedlichem Erfolg in den USA und auf dem europäischen Kontinent. Die Verpflichtung der Künste (Medien) auf die moralische Kultur der liberalen Demokratie (und ihrer politischen Organisationsformen) sowie auf die medialen Funktionen ihrer Stabilisierung gelang und gelingt in den USA leichter, weil weniger historischer Fundus im Sinne gegenstrebiger Schwerkraft wirkt. - Hier wie da hat aber die liberale Ideologie der Lust- und Glücksversprechen sich in hohem Maße - zumindest als Anspruchshaltung - durchgesetzt: im privaten wie im öffentlichen Leben. In der „Grundwerte"-Diskussion scheint es keine gravierenden Differenzen zu geben. Die Sozialdemokratisierung Europas als Systemform zeichnet sich ab. Deren Substanz, die aufklärerisch-liberale Ideologie, verschwindet nun aber aus der Kunst in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu ihrer Durchsetzung als Legitimationsmaßstab in der Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. Kunst im Dienst von Gerechtigkeit, Frieden, Harmonie und Schönheit ist schal und langweilig. Die Institutionalisierung der Kunstproduktion im Sinne eines moralischen Gesundheitswesens ist eine Sonderentwicklung und im Kunstprozeß der Moderne marginal. Sie hat von der Tugendpropaganda der Aufklärung über die verschiedenen Realismusvarianten des 19. und 20. Jahrhunderts eine politisch und moralisch integre, aber ästhetisch harmlose Produktion zur Folge gehabt. Zwischen den Kunstprogrammen der Deutschen Klassik und Heinrich Boll dehnt sich die ästhetische Durststrecke einer Kultur der guten Menschen. Malevich und Kafka, Bunuel, Dali und der frühe Aragon, aber eben auch Strauß, Handke und die Mayröcker, haben Vorstellungen von Gerechtigkeit, Harmonie und Schönheit, die mit dem Eudämonie- und Lustprinzip, dem Progressismus und den Zukunftsversprechen des Liberalismus nichts zu tun haben. Unlust und Schmerz, Trauer, Erschütterung, Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit; Affekte des Außersichseins, der Undefinierbarkeit, innerweltliches Überschreiten des weltlich Begreifbaren: Un-Menschliches ist ihr Charakteristikum. Die Kunst wird im selben Maße ekstatisch und metaphysisch wie die Gesellschaft liberal und demokratisch, wie sie aufgeklärt werden. Kunst artikuliert sich nicht nur als Kritik an der Unmenschlichkeit der Gesellschaften, sondern an menschli-

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chen Gesellschaften, die das Un-Menschliche leugnen; in letzter Hinsicht: den Tod. Die Künste haben diesen Todesbezug. Die „Lust" der Kunst ist im Verständnis der künstlerischen Moderne überwiegend nicht mit der Lust vergleichbar, die von den Gesellschaften versprochen und eingerichtet wird. Vom „richtigen Leben" sprechen beide in verschiedenen Sprachen. Das zähe Festhalten am Laienpriestertum der Künstler und ihrem Avantgarde-Anspruch jenseits der Innovationsästhetik scheint mir hier seinen eigentlichen Grund zu haben. Der skizzierte Widerspruch zwischen dem normativ orientierten Fonschrittsdenken der Demokratien und der anarchischen Glückserfahrung der Künstler und Künste ist nicht prinzipiell auflösbar. Auch die Künstler müssen die liberale Ideologie und ihr gesellschaftliches Ergebnis bejahen, die sie künstlerisch verneinen. Bezeichnend genug, daß Botho Strauß die steilsten Attacken gegen den parasitären Journalismus, seine Würdigung von Rudolf Borchardt etwa und seine Würdigung George Steiners ausgerechnet in den Feuilletons der FAZ und der ZEIT publizierte. Die Position der Künstler, einschließlich der ihnen zugestandenen relativen Autonomie, ist ein Produkt des Humanitätsdenkens, dessen Propaganda sie künstlerisch ruinieren würde. Die Opposition Kunst gegen Gesellschaft versimpelt den Sachverhalt. Der Widerspruch reicht in jeden hinein, zumal in den modernen Medienkünstler. Die anarchischen Impulse, die Selbstheit des Anderen, die neuen Kunstmetaphysiken können nur im Rahmen von demokratisch eingerichteten Literaturverhältnissen und in den Formen des „zeitgenössischen" Diskurses zur Sprache kommen, ob gewollt oder nicht. Das Verhältnis von politischen Ideen und ästhetischer Einbildungskraft ist so, daß beides sich auszuschließen scheint, und doch bedarf eines des anderen. (Die Allegorisierung dieser Konstellation in der PhiloktetErzählung: die Gesellschaft bedarf des Schmerzensmannes, auch wenn er stinkt und schreit.) Das Andienen der Künste an die liberalen und humanistischen Ideen der Aufklärung ist ein krasser Irrtum, der auf sinnloses Verdoppeln in Tautologien und Pleonasmen hinausliefe. Die Unterwerfung der Künstler unter die liberale Werteordnung mißversteht die Funktionsweise des Ästhetischen: die Artikulation dessen, daß Kultur nicht ohne Leichen zu haben ist: ein tragisches Verhältnis. Die Künste haben mit der Glücks- und Lustkultur der modernen Welt nichts zu tun, von der sie doch ausgehalten werden. Nirgendwo in der Kunstgeschichte ist die Problematik dieses Widerspruchs so drastisch ausgebildet wie in den Künsten im Zeitalter der neuen Medien. Der gesellschaftliche Zugriff zielt auf Einverleibung. Die technischen Produktionsbedingungen zielen auf Tilgung der innerweltlichen Transzendenz durch Reproduktion. - Dagegen bestehen die Künstlerästhetiken - je defensiver, desto verstiegener - auf einer metaphysischen Aura.

Derrick de Kerckhove

Kunst und Natur: ökologische Ästhetik

Ein wesentlicher Teil künstlerischen Arbeitens besteht in der Interpretation der Auswirkungen der Technologien auf die natürliche und menschliche Umwelt und deren Nachweis in der Psychologie, d. h. in normativen emotionalen und kognitiven Verhaltensweisen in der Kultur. Seit und sogar schon vor der Renaissance hatte die künstlerische Suche Vorrang vor dem wissenschaftlichen Forschen und seiner entsprechenden Theoriebildung. Dieser Aspekt des Wirkens von Künstlern, Architekten, Malern, Bildhauern, Schriftstellern und Musikern ist unberücksichtigt geblieben oder wird zumindest weder von der ästhetischen Kritik noch von der akademischen Psychologie anerkannt. Der Kunst wird zivilisationsfördernder Rang nur aufgrund ihrer ornamentalen Funktionen, ihrer stilistischen Erfindungen und ihrer Aufgabe der Zerstreuung im Alltagsleben zuerkannt. Diese Lücke im institutionellen Bewußtsein scheint mir außerordentlich folgenreich, vor allem in unseren Tagen, in denen die Vermehrung der die Welt, das Leben und die Psychologie verändernden Technologien die künstlerische Erfindung notwendiger denn je machen. All unseren Auffassungen der Kunst mangelt es vor allem mehr noch als an der Bewußtseinsbildung über ihre zivilisationsfördernde Rolle an der Erkenntnis ihrer bildenden und übermittelnden Rolle bei der Herstellung von Grundstrukturen der Psychologie. Ich werde dafür weiter unten ein archetypisches Beispiel nennen, nämlich die Erfindung und Verbreitung der Perspektive als Technik zunächst visueller und zugleich kognitiver Organisation. Schon vor dem Erscheinen der Abhandlungen der Geometriker und Mathematiker war es den Malern und Architekten lange vor der Renaissance gelungen, die Perspektive als natürliche Betrachtungsweise des visuellen Raums einzuführen. Natürlich erfolgt die Wahl der Perspektive als Beispiel nicht von ungefähr, da sie eng mit der Art und Weise verbunden ist, in der wir uns der Umwelt und infolge kognitiver Ausdehnung des Raums auch der Natur bewußt werden. Im übrigen muß genau begriffen werden, wie dieser artifizielle Begriff des Raums die Regelung der großen raumzeitlichen Koordinaten der abendländischen Psychologie übernommen hat, um das Aus-

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Derrick de Kerckhove

maß heutigen Geschehens zu erfassen und sich schließlich einen Weg im Dschungel neuer Wahrnehmungen zu bahnen, die vom Computer und anderen technologischen Prothesen unterstützt werden. Denn schließlich geht es hier um den Aufweis einer möglichen und tragfähigen Richtung des künstlerischen Forschens, indem ihm neue Dimensionen, die sich ihm eröffnen, und neue Verantwortlichkeiten bewußt gemacht werden, die ihm obliegen. Es geht dennoch nicht um die Dienstbarmachung der Kunst für die Umwelt; also nicht um die Herstellung eines propagandistischen Werks, sondern eher um den Versuch zu zeigen, daß in bestimmter Hinsicht das neue ökologische Bewußtsein wieder mit dem ästhetischen Empfindungsvermögen zusammengeht, und vor allem, daß Arbeit an diesen Zusammenhängen gleichermaßen lebensnotwendig wie dringend ist.

1. Die Rolle der Kunst in der psycho-sensoriellen Bestimmung des Raums Im allgemeinen wird die Entstehung der Perspektive mit der Buchdruckerkunst verbunden - und zwar nicht gemäß einer Ursache-Wirkung-Beziehung, sondern wie zwei zeitgenössische Erfindungen, die gleichermaßen dazu beigetragen haben, der Moderne ihre hauptsächlichen Kennzeichen zu verleihen. Die Versuchung ist groß, zwischen den beiden eine mehr als nur korrelative Beziehung zu unterstellen, so als hätten beide an derselben obskuren Entwicklung teil. In Wirklichkeit begannen die Arbeiten der Maler und der Architekten an der Ausarbeitung einer verläßlichen Technik „naturalistischer" und rationaler Darstellung des Raums bereits am Ende des 14. Jahrhunderts, also einige Zeit vor der Beschleunigung der alphabetischen Technologie durch die Buchdruckerkunst. Die ersten Forschungen über die perspektivistische Darstellung beginnen jedoch in einer Epoche, in der man eine plötzliche Zunahme der Alphabetisierung und ein rasches Anwachsen der Zahl von Lesern zunächst in Italien und dann in Frankreich feststellt. Für das Verständnis der neuro-physiologischen und psychologischen Wirkung des Lesenlernens ist der zutreffende neuro-anatomische Kontext des optischen Chiasmus, d. h. die Tatsache, daß das Sehfeld jedes menschlichen Auges vertikal in zwei gleiche Hälften geteilt ist und jede vom gerillten Körper der entgegengesetzten Hirnhemisphäre gesteuert wird. So wird das, was von jedem der rechten Teile jedes Auges aus gesehen wird, vom Kortex des Hinterkopfes der linken Hemisphäre, und die beiden linken Hälften werden umgekehrt von der rechten Hemisphäre aufgenommen. Das ist von großer Bedeutung, sobald man das grundlegende Prinzip erkennt, das die der linken und der rechten Hirnhälfte entsprechenden Vorgänge unterscheidet. Die Neurobiologen sind sich fast einig, daß die linke Hemisphäre eine zeitliche Analyse der Abfolgen und Sequenzen von Gesten, Gegenständen und Wahrnehmungen vornimmt, während die rechte eine umfassende, einheitliche und räumliche Wahrnehmung der Welt bietet. Das ist für das

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Verständnis der Anordnung der Gegenstände in den Sehfeldern jedes Auges sehr wesentlich. Das ganze Problem der Lateralisierung der Gegenstände in den Sehfeldern läßt sich im Gegensatz von Text-Kontext zusammenfassen. Wenn der Kontext den Vorrang hat, lassen sich die Objekte besser in den linken visuellen Hemifeldern erfassen, die die Komplexe rascher und genauer sichten; wenn jedoch die Sequenz überwiegt, geschieht das Erfassen der Objekte leichter in den rechten visuellen Hemifeldern. Weil die vokalischen Laute allgemein in den semitischen Schriften nicht abgebildet werden, bleibt der semitische Text stets mehr oder weniger zu „erraten". Nicht der Text, sondern der Kontext hat Vorrang. Im Vergleich dazu genügt bei den Griechen und den Römern und folglich bei uns der fortlaufende Zusammenhang des geschriebenen Textes ganz sich selbst. Bei uns überwiegt der Text den Kontext. Dieser strukturelle Unterschied zwischen den beiden Schriftsystemen — die von einem strukturellen Unterschied zwischen den beiden Typen linguistischer Systeme abhängen — führt m. E. zu erheblichen strukturellen Unterschieden in den Typen psychologischer Organisation zweier kultureller Gruppen. Weil in der alphabetischen Lesart der Faktor sequentieller und zeitlicher Analyse über den des globalen Erfassens herrscht, wird sich die kognitive Organisation alphabetisierter Völker eher um die Achse analytischer Strategien als um die globaler Herangehensweisen herum ausbilden.

Unerläßlichkeit der Perspektive Schauen wir uns nun die Wirkung an, die gerade dieser vom Erlernen des Lesens bevorzugte Faktor zeitlicher Analyse auf die Organisation des Seh- und Blickfeldes haben könnte. Es sei daran erinnert, daß die Abwechslung links-rechts-links-rechts der vier visuellen Hemifelder jedem Auge dieselbe visuelle Fläche zu sehen erlaubt, aber ausgehend von unterschiedlichen Seh- oder Gesichtspunkten. Andererseits verweist jedes Auge dieselben Elemente des Sichtbaren an zwei Verarbeitungssysteme, das eine analytisch und vorrangig an die linke Hemisphäre des Großhirns gebunden, das andere global, ausgehend von Gegebenheiten, die im linken visuellen Hemifeld auftauchen, und an die rechte Hemisphäre des Hirns gebunden. Es ist gerade der Unterschied der Sehpunkte, der, indem er vier leicht unterschiedliche und komplementäre Beziehungen (zwei + zwei sich abwechselnd) zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten knüpft, die rohen Tatsachen vorlegt, die die Tiefegrade des Feldes abzuschätzen erlauben sollen. Ferner bleibt das Mittel zu finden, um sie derart zu koordinieren, daß sie im inneren Feld des Bewußtseins des betrachtenden Subjekts erscheinen. Gerade der Unterschied und die schnelle, wenn nicht sogar simultane Alternanz 1 der globalen und der sequentiellen

1 Entsprechend desselben Prinzips schneller Abwechslung stellt sich in der Technologie der Videobrillen, die in den virtuellen Maschinen Verwendung finden, die Illusion der Tiefe ein.

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Verarbeitung, die, wie wir sahen, für die linken respektive für die rechten visuellen Hemifelder kennzeichnend waren, fügen die Sukzessivität hinzu, d. h. das Erkennen der Hierarchien im Inneren des Sichtbaren. Der analytische Blick führt genau so wie die zentrale Verarbeitungseinheit eines Rechners ständige Meß- und Berechnungsvorgänge durch, um die Informationen durch den Anblick des Erfaßten zu vervollständigen. Die dreidimensionale Erscheinung der sichtbaren Welt ist also nicht bloß die Wirkung der verschobenen Verdoppelung der binokularen Sichtweise, sondern auch das Ergebnis der systematischen Analyse der Gegenstände des Sichtbaren mittels eines Zerlegungsprinzips, das diese Gegenstände zueinander ins Verhältnis setzt. Dank dieser zweifachen Verdoppelung der Funktionen sind die beiden Augen wie die beiden Hände, die linke Hand, die das Brot hält, die rechte, die das Messer hält, um das Brot zu zerschneiden. Man kann an diesem sehr schlichten Bild festhalten, um sich weitere Wirkungen der alphabetischen Schrift auszumalen, denn durch die Hinzufügung eines Prinzips zeitlicher Analyse zu allen Gegebenheiten des Sinnlichen hat sie den abendländischen Menschen mit einer sehr bald verinnerlichten Technik des Erfassens, der Aneignung und der Manipulation der Umwelt ausgestattet. Doch sind es zunächst die mehr als andere für die Veränderungen der Wahrnehmungen empfänglichen Künstler, die die Notwendigkeit spürten, die neuen Formen der Verräumlichung darzustellen. Außerhalb des alphabetischen Kontextes muß das Erkennen der Perspektive nicht unbedingt entscheidend sein, nicht unbedingt im Interesse des menschlichen Subjekts liegen. Zweifellos ist es aber für den Jäger wichtig, die Abstandsbeziehungen zwischen einem Gegenstand und einem anderen richtig einzuschätzen, besonders die zwischen ihm selbst und seiner Beute, und es ist mit Gewißheit ganz entscheidend für den Fahrzeugführer, vor seinem Wechsel der Fahrbahn den ungefähren Abstand des Fahrzeugs abzuschätzen, das plötzlich in seinem Rückspiegel auftaucht. Eine Kultur jedoch, deren geistige Organisation auf der symbolischen Dekodierung identifizierter Gegenstände aufbaut, kann es sich sehr gut leisten, einen entscheidenden Teil ihrer Aufmerksamkeit der Registrierung formaler Informationen zu widmen, die für ihr Uberleben nicht ausschlaggebend sind. So kommt es, daß eine eigenartige und beständige Sorge um Realismus und Genauigkeit gegenüber den sichtbaren Gegenständen im Griechenland des 7. und 6. Jahrhunderts auftaucht. Die Perspektive - früher unter den zahlreichen und vom Funktionieren des menschlichen Sehsystems zugelassenen Möglichkeiten der Interpretation des Sehfeldes nur fakultativ - wird nun unter dem Druck des beim Menschen des Schriftzeichens vorherrschenden Faktor zeitlicher Analyse unerläßlich.

Das Aufkommen des Naturbegriffs Eine erste Loslösung des Subjekts vom Gegenstand der Beobachtung - ein erster Schritt in Richtung auf eine Bildung und Aneignung des perspektivischen Raums - hilft dem Naturbegriff im antiken Griechenland zur Geburt, das bereits der alphabetischen Gärung

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wehrlos ausgeliefert ist. Es handelt sich um die pkysis, die objektive Umgebung, die theoretisch von den Beobachtungsmitteln, d. h. von menschlichen Wahrnehmungen unabhängig ist. Die Welt läßt sich bald schon als ein Objekt in einem neutralen und unendlichen Raum (apeiron, d. h. „grenzenlos") denken, der dem Zwang einer geschichtlich unumkehrbaren Kontinuität, einem anderen Vermächtnis der alphabetischen Synthese unterliegt. 2 Andererseits tritt jede objektive Betrachtung der Wirklichkeit in das Feld der tbeoria ein, der Theorie: das heißt etwas zu Betrachtendes (vom Wort theama), ein den Augen dargebotenes Ensemble. Der raum-zeitliche Rahmen der auf die Umwelt erweiterten Psychologie, in dem und durch den die Natur uns heute erscheint, bleibt im wesentlichen unverändert. Das heißt, daß die Natur, wie wir sie erfassen, selbst eine Theorie ist, ein Unter-Produkt unserer seit fast 3000 Jahren hauptsächlichen Kommunikationstechnologie.

Die „Haut der Kultur" Durch eine Untersuchung der zeitgenössischen kulturellen Objekte des Erscheinens der Schrift lassen sich alle Wirkungen ihres neuro-physiologischen Aufpralls verstehen. Da sie die ganze der gesprochenen Kommunikation zugehörige Sensorik in abstrakte Zeichen übersetzte, war die Scheidung des Denkens vom Körper Wirkung der Schrift. Sie ist als eine Technik der Kontrolle und Beherrschung der Sinne aufgetreten. Seit Beginn ihrer Herrschaft über jede Form soziokulturellen Austausches ist der rein sinnliche Ausdruck vom Reich der Natur in das der Kultur gewechselt. Auf dieser Ebene konnte dann die künstlerische Arbeit manche Aspekte biologischer Unterweisungsfunktionen wiederaufnehmen. Es bleibt also zu bedenken, daß die Basisstrukturen psychologischer und gesellschaftlicher Organisation stets von den herrschenden Technologien rekonstruiert und neuformuliert werden, die die gesamten menschlichen Tätigkeiten durchziehen. Im Verhältnis zum gesellschaftlichen Körper funktioniert aber die Kunst in all ihren Formen als „Sinne und Haut der Kultur". Die in den jeweiligen künstlerischen Disziplinen spezialisierte sinnliche Verarbeitung erstellt neue Ensembles, die gleichzeitig die technischen Vorrichtungen und die sensori-biologischen Erweiterungen widerspiegeln. Unter diesen Bedingungen wird die Kunst demnach zum Vermittlungssystem zwischen der biologischen Natur und der technischen Kultur. Es gibt in der abendländischen und heute zusehends weltweiten technokratischen Kultur nur wenige Objekte, die dieser grundlegenden Wechselbeziehung zwischen den neurologischen und durch die Medien und ihre konkreten Wirkungen, ihre kulturellen Niederschläge bedingten Optionen entgehen.

2 Das Alphabet hat uns nicht nur mit einer strukturalen Idee des Raums, sondern auch der Zeit ausgestattet: die Linearität der Abfolge oder Sukzession der Buchstaben, die dem Hirn noch vor jeder semantischen Dekodierung das Modell der unumkehrbaren Aufeinanderfolge der Erkenntniselemente als Grundprinzip kognitiver Organisation anbietet.

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Noch vor einer Untersuchung der neuen Bedingungen infolge der neuen Technologien bleibt eine ergänzende Wirkung der alphabetischen Technologie zu verdeutlichen, um besser zu verstehen, weshalb die ökologische Ethik dazu bestimmt ist, auf kurze oder lange Sicht dem ästhetischen Empfindungsvermögen innerhalb unserer psychologischen Organisation beizustehen, die künftig eher von der Technologie als von der Biologie abhängt.

2. Der tiefe Ursprung des ökologischen Bewußtseins Ohne die Bedeutung des Begriffs überzustrapazieren, läßt sich von jeder Sprache sagen, daß sie wahrlich der Code der Kultur ist, die sich seiner bedient. Wie die des genetischen Codes der Arten - wenn auch unter Berücksichtigung der Anpassungsentwicklungen, die er den „natürlichen" Uberlebensbedingungen hinzufügt - besteht die Rolle des linguistischen Codes in der Aufrechterhaltung der globalen Form und der besonderen Formen der Gesellschaft. Er ist eine Art kultureller DNS (Desoxyribonukleinsäure). In dem Maße jedoch, in dem der genetische Code und der linguistische Code in derselben Richtung arbeiten und der zweite gezwungen ist, den Grundregeln des ersten zu folgen, wurde ihre Zusammenarbeit immer vom genetischen Code bestimmt. Die Sprache konnte die Anweisungen des genetischen Codes nur aufnehmen und auf einem höheren Entfaltungsniveau widerspiegeln. Aus diesem Grunde ist sie ein genokultureller Code. Aber genaugenommen trifft dies nur für die gesprochene Sprache zu. Solange die Verwendung des linguistischen Codes an die Oralität gebunden bleibt, ändert sich seine Beziehung zu den lokalen Ursprungsbedingungen nicht. Man kann gut sagen „verba volant, scripta manent" - die Bedingungen sprachlicher linguistischer Praxis tragen zur Stärkung der auf Bewahrung ausgerichteten Kulturelemente bei. Je nach Art ist der Spielraum der Anpassungsfähigkeit, den der genetische Code dem Phänotyp zugesteht, mehr oder weniger groß. Beim Menschen war dieser Spielraum von Beginn an außerordentlich weit, weil er durch die Sprache besetzt wurde. Sich selbst überlassen funktioniert die Sprache adaptativ jedoch nur innerhalb einer einzigen Generation, insofern sie darauf beschränkt bleibt, als Instrument sprachlicher Kontinuität zwischen den Generationen zu dienen, wie das bekanntlich in schriftlosen oder wenigstens in Stammeskulturen der Fall ist, die über kein System linguistischer Repräsentation verfügen. Nur wo sie sich auf die Schrift stützt, kann die Sprache wirklich das Anpassungsfähigkeitsfeld einer Kultur erweitern, indem sie ihr die Codierung ihrer Information an mehrere nachfolgende Generationen erlaubt. Das Aufkommen der Schrift führt in die Beziehung zwischen genetischem und linguistischem Code ein neues Element ein. Wie der genetische Code über die RNS (Ribonukleinsäure) verfügt, die sein Kommunikationsmittel zwischen den Zellen zur Verteilung seiner Anweisungen ist, so versieht sich der kulturelle Code in der Schrift mit einem neuen Mitteilungscode, einer Art kultureller RNS, um seine formalen Anweisungen zu erteilen, die die raum-zeitlichen Zwänge der Anwendungen übersteigen. Der grundlegende Unterschied zwischen genetischer und kultureller RNS liegt in der

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Macht der Schrift, den Text des linguistischen Codes zu entkontextualisieren. Das ist für die zunächst kulturelle und technische Veränderung der Art und auf kurze oder lange Sicht auch für ihre genetische Transformation entscheidend. Der erste Mitteilungscode, der sich hinreichend von seinem oralen Kontext gelöst hatte, um mit dem genetischen Code um die Kontrolle der menschlichen Angelegenheiten zu rivalisieren, war das phonetische Alphabet. Wie die R N S des genetischen Codes zerlegt das Alphabet vollständig die Informationsabfolgen des gesprochenen Diskurses, der das linguistische Pendant zur Zelle darstellt. Ebenso wie wir künftig durch genetische Neukombination Formen verändern können, die wir niemals auf der Basis von Techniken hätten verändern können, die sich in der Zucht oder Veredelung bewährt haben, konnten wir seit 3000 Jahren ständig neue Abwandlungen der Sprache und des Denkens und dadurch neue Technologien als Anwendungen eines angehäuften Wissens erzeugen. 3

Spaltung zwischen genetischem und alphabetischem Code Während der genetische Code auf Bewahrung ausgerichtet ist, ist hingegen der alphabetische Code innovativ. Dem genetischen Code geht es prinzipiell um die Verdoppelung bereits vorhandener Formen. Das Alphabet bemühte sich indes seit seiner Erschaffung um die Erfindung neuer Formen, linguistischer ebenso wie technischer. Sozusagen von innen heraus sichert der genetische Code der Art eine durchgängige Kontinuität, während der alphabetische Code auf phänotypischer Ebene, der des kulturellen Lebens, Spezialisierungen hervorruft, die nicht unbedingt den Steuerungsbedingungen der Gesamtheit der Gene Rechnung tragen. Im Gegenteil scheint es nunmehr soweit zu sein, daß wir wie durch eine Art Rückkehreffekt des alphabetischen Codes auf den genetischen in den genetischen Code selbst einzugreifen beginnen. In einer Rekordzeit - vom biologischen Standpunkt aus - , nach 3000 Jahren fast gar keiner alphabetischen Erziehung, macht sich der abendländische Mensch nun daran, den genetischen Code bestimmter Arten einer analytischen und kombinatorischen Behandlung zu unterziehen, einen Code, mit dem er seit Beginn des Erlernens des Lesens und der Schrift gebrochen hat.

3 Wir wissen, daß wir künftig die Anweisungskette zerlegen können, also die Kette von Nukleotiden, die die D N S einer Zelle bilden, um sie mit Elementen anderer Ketten zu rekombinieren und dadurch neue organische Arten zu schaffen. Genau dies nennt man genetisches Genie. Dies wird nicht nur dadurch ermöglicht, daß man Segmente der Nukleinsäureketten der Zellen unterschiedlicher Arten rekombinieren kann, ohne sie zu vernichten — eine an sich erstaunliche Sache, die die grundlegende Einheit aller Tierarten auf molekularer Ebene beweist. Sondern vor allem dadurch, daß man diese Informationselemente aus organischen Ensembles herauslösen kann, denen sie zugehören, ohne diese dennoch ihrer Kohärenz oder der Durchsetzungsfähigkeit ihrer Anweisungen zu berauben. Diese Informationselemente, die Erzeugnisse der DNS-Kette sind, werden R N S genannt, um sie zu unterscheiden und weil sie aus anderen molekularen Bestandteilen gebildet werden.

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Entsprechend ist es im Laufe dreier Jahrtausende zwischen dem alphabetischen und dem genetischen C o d e zu einer gewaltigen Spaltung gekommen. Mit dem phonetischen Alphabet hat dasselbe Abstraktionsprinzip, das dem Leser erlaubte, den Sinnen den Sinn abzunötigen und die Sprache aus ihrer physiologischen Verankerung zu lösen, auch auf kultureller Ebene die Wechselbeziehungen der Anpassungsmaßnahmen mit der biologischen Realität aufgelöst. Während dieses ihm erlaubte, sich der Umgebung zwar nicht auf globale Weise, doch nach Maßgabe der von den Umständen vorgeschriebenen technischen Spezialisierungen anzupassen, hat das Alphabet nie aufgehört, die Steuerung menschlicher Verhaltensweisen von den formalen Anweisungen des genetischen Codes abzutrennen. Die durch das Alphabet gestattete semantische Abstraktion war eine technische Spezialisierung der Sprache, die ihre Verbindungen zu einer der physischen Wirklichkeit der Welt integrierten sinnlichen Wahrnehmung abbrach. Genauso und aus denselben Gründen stellten die technischen Anwendungen auf kollektiver Ebene und unter der dreifachen Garantie des wissenschaftlichen Wissens, ihrer punktuellen Effektivität und ihres Warenwerts ein Universum funktionaler und von biologischen Rhythmen und Ursachen oftmals durchkreuzter Wechselbeziehungen wieder her. Man braucht nicht einmal unsere Alltagstechnologien Revue passieren zu lassen, um zu zeigen, daß sie uns ständig eine Sonderwelt erzeugen, die sich zusehends von unseren biologischen Ursprüngen entfernt hat. Mit immer weniger Widerstand haben sich die in der abendländischen Kultur im Lauf der letzten drei Jahrtausende praktizierten Anpassungsmaßnahmen quantitativ und qualitativ entsprechend einer Ordnung geometrischen Wachstums vervielfacht. Was noch an schützender Undurchsichtigkeit der Materie blieb, hat sich durch wissenschaftliches Erforschen verflüchtigt. Sobald es erst einmal von den Kontingenzen seiner zufälligen Entstehung befreit war, konnte sich das Wissen im alphabetischen C o d e im Abstand zum Leben bilden - wie beispielsweise die atomistische Theorie Demokrits - und dann dem C o d e selbst eingelagert werden, der ihm zur Entstehung verholfen hatte, um erst Tausende von Jahren später, etwa zur Zeit Hiroshimas, wieder Verwendung zu finden. Getrennt von unseren anfänglichen biologischen Informationsquellen und unter der glänzenden Oberfläche unserer Zivilisation haben wir seit Demokrit nie aufgehört, die Atombombe zu erfinden. Diese Disjunktion zwischen dem genetischen und dem alphabetischen Code mündet heutzutage in ein äußerst instabiles Gleichgewicht, das jeden Augenblick buchstäblich von der Atomexplosion der ursprünglichen alphabetischen Spaltung bedroht ist.

Veräußerlichung biologischer und kognitiver Funktionen Wie Mumford, McLuhan und Leroi-Gourhan und lange vor ihnen Marx aufgezeigt haben, stellt jede technologische Erfindung eine Erweiterung dar, d. h. eine Besonderung oder eine Spezialisierung dieser oder jener biologischen Funktion des menschlichen Körpers. Selbstverständlich findet die Gesamtheit technischer Umsetzungen einer bestimm-

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ten Epoche wieder zu einer gewissen Kohärenz jenseits der von jeder einzelnen Erweiterung eingeführten Ausdifferenzierung zurück. Jedes Wirtschaftssystem bildet eine Art Ökosystem, das sich nicht auf organische Kriterien, sondern auf eine technische Produktion gründet. So zeigen das Straßennetz und die ganze vom Verkehr beherrschte Umwelt inklusive der erdölverarbeitenden Industrie spontan den Anschein strukturellen Zusammenhangs gerade dort, wo der pessimistische Philosoph nur einen ungeheuren kulturellen Stau sehen dürfte. Wir haben so im Rahmen unserer Entwicklung mehrere Perioden technischer Metaphorisierung unterschiedlicher Eigenschaften unseres biologischen Körpers durchlaufen. Zunächst gab es das Zeitalter des Muskels - von der Buchdruckerkunst bis zu den mechanischen Technologien des 19. Jahrhunderts - , dann das neurologische Zeitalter, das mit der elektronischen Technologie seit der Erfindung des Telegraphen assoziiert werden darf, und nun stehen wir im Begriff, das genetische oder molekulare Zeitalter vorzubereiten, insofern sich das Organische und das Leblose begegnen. Nach der Beherrschung der Elemente, der relativen Kontrolle über die Epidemien, nach dem Sieg über die Entfernungen und über die Dauer blieb uns nur noch, der Natur ihre Kontrolle über die Formen des Lebendigen und über das Leben selbst abzunehmen. Diese neue und noch ganz frische Eroberung ist weder das Ergebnis eines wissenschaftlichen Zufalls noch einer neuen Entwicklung. Sie ist das Ergebnis und der Wiederkehreffekt der alphabetischen Eroberung der Materie und des Lebens.

D a s ökologische Bewußtsein als M a c h t e r g r e i f u n g Diese offensichtliche und auf der wissenschaftlichen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Ebene funktionale Kohärenz verdeckt jedoch eine radikale Dysfunktion auf bio-kultureller Ebene. Die technischen Erfindungen sind nicht gleichförmig auf die Gesamtheit aller Möglichkeiten der Verhaltensanpassung des Menschen verteilt und ihre Anwendungen bedrohen bekanntlich ständig das Gleichgewicht der Umwelt. Genau an dieser Stelle interveniert die neue Bewußtwerdung der Umwelt, die auch eine Machtergreifung ist - nicht nur eine politische, sondern vor allem eine psychologische. Im Prinzip ist der Ökologismus von erlösender Inspiration. Es geht ihm um das Wiederfinden eines verlorenen Gleichgewichts, um die Steuerung der Ökonomie im Schritt der Ökologie - wobei die beiden Worte zwei Hierarchieebenen der „Ordnung des Hauses" (ikos), d. h. des Wohnens bezeichnen. Während aber paradoxerweise auf den ersten Blick das ökologische Bewußtsein nur entstanden zu sein scheint, um der Natur ihre Rechte zurückzuerstatten, besteht sein wirkliches Vorhaben wohl darin, sich eine vollkommene technische Kontrolle über alle seine Äußerungen, auch der Kontrolle über den genetischen Code zu sichern, was für die Zukunft bereits durch das Genom-Projekt 4 auf den Weg gebracht ist. Als sei die Natur nie etwas anderes gewesen als eine erste zu überwin-

4 D a s „Genom"-Projekt ist eine Programm der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen ameri-

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dende Herausforderung, arbeitet die Menschheit seit Entstehung der Sprache am Ziel der Macht über ihre eigene Schöpfung. Heute hat sich der Spielraum der genetischen Anpassungsfähigkeit soweit geöffnet, daß die Austausch- und Kontrollbeziehungen zwischen Biologie und Kultur sich zugunsten der Kultur umgekehrt haben. D i e Zusammenfassung lautet, daß wir alle künstliche Wesen, Erzeugnisse unserer eigenen Technologien, in unserer Lebensweise weit von unseren biologischen Wurzeln entfernt sind. Das neue ökologische Bewußtsein hat dies zur Kenntnis genommen und schickt sich an, entsprechend tätig zu werden. Im Gegensatz zur sentimentalen Vorstellung, die man sich von der „Ökolo"-Mentalität macht, und jenseits des Schuldkomplexes, den viele Stadtteilökologen uns einflößen möchten, weil wir zögern, uns an Wiederaufbereitungssystemen zu beteiligen, müssen wir im erstaunlichen Erfolg dieser neuen Generation den Ausdruck einer Macht der kognitiven Synthese erkennen, die die ganze Umwelt als ihre neue natürliche Umgebung umfaßt. Das ökologische Bewußtsein ist ein auf globale Ebene übertragenes ästhetisches Bewußtsein.

3. Die Ausdehnung des kognitiven Feldes Wir durchleben gerade den gewaltigen Übergang von der alphabetischen Psychologie zur elektronischen Psychologie. Es war zunächst das Alphabet, das das Erneuerungsprinzip und die Erfindung als zur Normalität gewordene kognitive Strategie in die abendländische Epistemologie einbaute. Während der größte Teil technischer Erfindungen noch immer mittels und innerhalb der alphabetischen Schrift erfolgt und verbreitet wird, hat die typographische Numerisierung ihre Schöpfungsmacht längst an die elektronische Numerisierung abgetreten. D i e Morseschrift diente seit der Erfindung der ersten elektronischen Technologie, dem Telegraphen, als verbindendes Element. Auf der Anwendungsebene löscht die Verwandlung des Alphabets durch die Elektrizität die Bedeutung, die Dimensionen, die Dauer und fast die ganze Stofflichkeit unserer herkömmlichen mechanischen Ausdehnungen aus. Denn im Telephon reisen wir schneller als im Flugzeug.

D i e E r d e als B i l d des K ö r p e r s Unsere technologische Beschleunigung erreicht eine gleichsam mutative Geschwindigkeit und breitet sich rasch über die ganze Oberfläche und in die Atmosphäre der Erde aus. W i r treten in ein neues Zeitalter biotechnischer Planetisierung ein. D e r Wandel erstreckt sich mehr noch als auf die menschliche Ökologie auf die Psychologie. W i r erleben das

kanischen Universitäten, um innerhalb der nächsten zehn Jahre die Entschlüsselung des gesamten genetischen Codes des Menschen zu erreichen.

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Zeitalter einer beispiellosen Ausdehnung des Feldes kognitiver Operationen des Normalbürgers, sei es nun im Westen oder im Osten, im Norden oder im Süden. Die Klimametapher wird allabendlich im Fernsehen als Symbol der umfassenden Einheit des Planeten vorgetragen. Es wäre schon erstaunlich, wenn diese alltägliche Begegnung mit unserer einheitlichen natürlichen Umgebung nicht schließlich auch eine Globalisierungswirkung auf das Bewußtsein eines jeden von uns hätte, noch vor jener Wirkung der Nachrichten, die uns augenblicklich vom anderen Ende der Erde erreichen. Seit den ersten Photographien der Erde vom Mond aus gewöhnen wir uns daran, unsere eigene Umgebung in ihrer Totalität zu sehen und sie unserem Denken als neue Grundstruktur einzufügen. Die Rundheit des Planeten ersetzt schnell den Horizont als räumlichen Bezug des gewöhnlichen Erkenntnisvermögens. Andererseits rücken unsere technologischen Erweiterungen durch ihre zunehmende Integration in das häusliche Leben und in die häusliche Umgebung erneut an den Körper heran, von dem sie sich im mechanischen Zeitalter entfernt hatten. Ihr durch und durch „prothetischer" Charakter ergibt sich aus der Elektrizität als dem gemeinsamen Medium des biologischen Körpers und seiner technischen Erweiterungen. Ein Kind, das mit einem Nintendo spielt, spielt mit der technischen Erweiterung seines Nervensystems, mit augenblicklichem Feedback und Feedforward. Auf einer anderen Ebene überzieht die Zunahme der Kommunikationstechnologien die Erde mit einem gleichzeitig neuro-technischen und sensoriellen Netz. Eine Vielheit von Tätigkeiten des Erfassens und der Übermittlung von nicht nur für die Ökologie, sondern auch für die Industrie und die internationale Sicherheit lebensnotwendigen Informationen entsteht mit Lichtgeschwindigkeit, also schneller noch, als unsere physischen Sinne es für jeden von uns tun, und das über unvergleichliche Distanzen hinweg. Satelliten, Radars und Relais führen auf der Ebene militärischer Überwachung wie auf der der Überwachung unserer Klimabedingungen zu neuen Systemen automatischer Steuerung. Der ganze Planet rüstet sich mit einem neuen Nervensystem aus. Demnach ist der Begriff einer Kontinuität zwischen dem individuellen Körper und Denken und dem globalen Körper und Denken mehr als ein bloßes „Hirngespinst". Die Erde wird nunmehr als eine einzige Einheit wahrgenommen, die das Feld kognitiver Tätigkeiten der Individuen wie der Gesellschaften globalisiert. Die Erde und nicht die Natur als solche ist das wirkliche Aktivitätsumfeld des ökologischen Bewußtseins. Die Erde ist unser neues „Bild des Körpers".

Verdichtung des irdischen R a u m s und der irdischen Zeit Das zusehends schnellere Anwachsen des ökologischen Bewußtseins folgt aus einer doppelten und komplementären Bewegung der Ausdehnung und der Verdichtung, die beide aus unmittelbar zugänglichen Technologien hervorgehen, die unsere Fähigkeit zur räumlichen Kontrolle vergrößern und die Übertragungsfristen vermindern. Zur gleichen Zeit, in der sie das Feld kognitiver und sensorieller Operationen erweitern, wird es von den elektronischen Kommunikationsmitteln auch umgrenzt, bis es mit den äußersten Gren-

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zen der irdischen Atmosphäre zusammenfällt. Weil dieser Raum auf psychologischer Ebene dem individuellen geistigen Raum koextensiv wird, wird er zu einer ebenso privaten wie öffentlichen Realität. In seinem Beharren auf der Metapher der Verschmutzung weist das ökologische Bewußtsein darauf hin, daß das Lebensumfeld nicht mehr neutral ist, daß es sich eng der Haut anschmiegt und von für unerwünscht gehaltenen Stoffen, Ausdünstungen und chemischen Reaktionen überschwemmt wird. Das ökologische Problem des sauren Regens und der Löcher in der Ozonschicht wird zunächst als planetare Gefahr dargestellt; doch vom Standpunkt individueller Empfindungsfähigkeit läßt sich die Atmosphäre selbst als eine Art Ausdehnung unserer Haut, lassen sich die Satelliten als globales epidermisches System begreifen, das unsere neuen individuellen Grenzen erweitert und festlegt. Andererseits macht die Bedeutung der Begrenzungen unserer natürlichen Ressourcen seit der neuen Theologie des „Stop dem Wachstum" auch die Natur zu einer endlichen Welt. Man untersucht nicht nur die Chancen der Dauer der natürlichen Ressourcen und der davon abhängigen Populationen, sondern auch das Alter der Erde. Auf der Basis genauer Berechnungen werden Prognosen über den Zeitraum des Erkaltens der Sonne vorgenommen. Man versetzt sich also psychologisch ans andere Ende der Erdgeschichte, um sich des planetaren Todes bewußt zu werden. Möglicherweise liegt dieser Typ von Katastrophenprojektion in der nuklearen Bedrohung begründet, die aber mit dem Ende ihres umfassenden Charakters infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion das kognitive Feld eher ökologischen als militärischen Befürchtungen überlassen hat. Der projizierte Tod der Erde führt zu einer Ausweitung des Sinns des Todes bei jedem einzelnen von uns, und die zeitlichen Begrenzungen des Planeten fügen sich dem Sinn unserer eigenen Endlichkeit hinzu. Gleichzeitig begünstigt das Erkennen der räumlichen und zeitlichen Begrenzungen des Planeten durch das Setzen neuer Grenzen, die ihn übersteigen und die er übersteigen kann und soll, die zunächst kollektive und institutionelle, dann aber auch individuelle Erweiterung des menschlichen Bewußtseins auf den Erdmaßstab. Sagt „Ökologie" und die meisten Leute, selbst Personen, die dieser Art von Fragen gleichgültig gegenüberstehen, werden sich augenblicklich in unterschiedlichen Formulierungen und auf unterschiedlichem Anspruchsniveau eine unermeßliche Umgebung mit verschwommenen Umrissen und voller kleiner Sonden vorzustellen beginnen, die Metaphern unserer Besorgnisse und unserer Fragen sind. Diese Umgebung ist die unserer erweiterten biologischen Wirklichkeit; und die Auflösung der Kontinuität zwischen dem individuellen Körper und der Welt, die früher durch die Haut ausgedrückt wurde, ist künftig weniger genau bestimmt. Andererseits ist die romantische Vorstellung einer von menschlichen Eingriffen unberührten Natur für immer hinfällig. Künftig hat jedes Nachdenken über die Natur, ob es nun ästhetisches oder ökologisches ist, unter Einschluß und nicht mehr unter Ausschluß der Technologien zu erfolgen. Auf psychologischer Ebene werfen unsere technischen Interaktionen mit der globalen Umwelt das Problem auf, genau zu bestimmen, wo das aufhört, was ausschließlich meiner Gegenwart in der Welt zu verdanken ist, und wo jene

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Zone der Welt beginnt, die in keiner Weise von mir abhängt. Diese Art Fragen hängt nicht vom ökologischen Empfindungsvermögen, sondern von der Arbeit der Kunst ab. Eine neue Renaissance steht uns bevor, die nicht mehr wie die ersten grundlegenden Strukturen der abendländischen Psychologie in uns verankert sein wird, sondern uns mit einer globalen Psychologie ausstatten soll, die die ganze Welt in unser Inneres einschließt, statt sie wie früher daraus auszuschließen. Die Arbeit der Kunst an der Psychologie besteht in dem Ziel, unsere technischen Möglichkeiten gerade ins Innere unseres persönlichen kognitiven Feldes übergehen zu lassen. Nicht nur, weil diese unverzichtbar geworden sind, um die wachsende Menschheit zu ernähren und zu schützen, sondern auch, weil kein Verständnis der Welt auf sie verzichten kann. Und mit der Vorherrschaft der Kultur wird der Gedanke hinfällig, daß die Natur „natürlich" ist. Die sich bereits am Horizont abzeichnende neue Gestalt des menschlichen Wesens ist die des Umweltmenschen mit ökologischem Bewußtsein. Ästhetisches Empfindungsvermögen und ökologisches Empfindungsvermögen: derselbe Kampf.

4. Dreifacher Ursprung des Verschmutz ungshegnffs Es gibt eine „ökologische" Kunst, und zwar in verschiedenen Formen und seit langem. Louise Poissant erklärt: „Die ökologische Quelle, aus der sich bestimmte Kunstpraktiken der letzten dreißig Jahre gespeist haben, knüpft erneut an eine Tradition an, die einen Raum direkten Einschlusses der Kunst in das Leben absteckte." Indem sie die begriffliche Abstraktion und die ästhetische Verarmung der Moderne bloßlegt, enthüllt Poissant in allen öko-ästhetischen Tendenzen einen Willen zu zugleich politischem und gesellschaftlichem Engagement. „Die abstrakte Kunst spiegelte eine zerstückelte, eine sinn- und zusammenhanglose Welt wider. Diese Tendenz und das sie begleitende Entfremdungsgefühl haben die Ökologie und ihr globalistischer Ansatz umzukehren versucht, um dem Menschlichen zu ermöglichen, sich in einem Ganzen wiederzufinden und sich als sein Teil zu spüren, an dessen Aufrechterhaltung und Veränderung es mitwirkt." Und Poissant faßt zusammen: „Das Bedürfnis, die Kunst wieder in das Leben einzulassen und nach den Grenzen der Ressourcen zu fragen, das Verbrauchen der Materie sind zumindest teilweise Anliegen dieses globalisierenden Ansatzes, der der Umwelt eine hervorragende Stellung vorbehält." Die wichtigste Eingebung der ökologischen Kunst ist erlösender Natur. Sie antwortet zunächst auf die unzweifelhaft zahlreichen Formen der Zerstörung der natürlichen Umgebung. Poissant resümiert das ganze Problem der neuen Hierarchie Kultur-Natur in einer gelungenen Formulierung: „Die großen Gefahren kommen nicht mehr aus den Acts of God, sondern von den Schlägen des Kapitalistischen Dämons." Gerade das Wort „Verschmutzung" führt alle Proteste in einem einzigen Aufschrei zusammen. Man denke an die Beach Pollution-Installation von Hans Haacke, die alle gesammelten Abfälle eines öffentlichen Strandes auf einem großen Haufen zeigt und als Archetypus dieses Genres angesehen werden darf. Diesseits der Antwort des Bauches auf das enttäuschende Spekta-

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kel der Femsehcliches, das uns Seeadler mit ölverschmierten Federn zeigt, ist die Sensibilität gegenüber der Verschmutzung jedoch Ergebnis dreier zusammenfließender Quellen.

Leerer Raum, voller Raum Zunächst einmal hat sich die Wahrnehmung des natürlichen Raumes verändert, ohne daß wir uns dessen deutlich bewußt geworden wären. Die erste Intuition war die eines neutralen und „leeren" Raumes - ein Merkmal der wissenschaftlichen Überlegungen zu Beginn der Moderne („Hat die Natur Abscheu vor der Leere?" - „Erzeugt ein Baum, der im Wald fällt, ein Geräusch, wenn niemand es hören kann?"). Diese nie bestätigte, aber in die alphabetische Psychologie übernommene Intuition hat außerdem die eines vollen Raumes ersetzt, die beispielsweise vom griechischen Vokabular gezeigt wird, das sich um den Begriffpneuma, Atem, herum entwickelt; dieser Begriff impliziert, daß jede Empfindung, jede Wahrnehmung „in die Lungen eingeatmet" wurde, noch bevor sie den von der Praxis des Alphabets eingeführten Sinnbesonderungen unterworfen wurden. Nebenbei sei bemerkt, daß der Großteil der alphabetlosen Gesellschaften und insbesondere die Japans, die den ausschlaggebenden Begriff des Intervallraumes im Konzept des MA kultiviert, sich stets so verhalten haben, als sei der Raum nicht neutral, sondern mit zugleich mythischen und dynamischen Gegenwarten angefüllt. Heute verweist uns die Vermehrung der elektromagnetischen Wellen der Kommunikationsindustrie auf die unformulierte Intuition, daß der Raum nicht leer sei, daß er voll ist. Wenn er voll ist, ist er in seiner Ganzheit für Gefahren empfänglich; und die ganze Zeit entdecken wir dementsprechend neue Typen von Luftverschmutzung, um es zu beweisen: chemische, radioaktive, bioelektrische und Lärmverschmutzung etc.

Staubkörnchen zwischen dem hard, und dem soft Zum anderen weist die vom Begriff „Staub" herstammende Etymologie von Verschmutzung auf eine zweite tieferliegende und metaphorische Quelle der ökologischen Angst. Das brutale Aufeinandertreffen der industriellen Kultur und der elektronischen Kultur erzeugt eine Reibungsfläche mit pulverisierendem Effekt zwischen den harten Formen der Industriemaschinen und der durchdringenden Sanftheit der Elektronen. Die neue elektronische Psychologie empfindet das industrielle Erbe als „schmutzig" und bedrohlich. Auch hierfür finden wir einen Vorläufer in der griechischen Kultur der Antike, die in den religiösen Kulten und in der Tragödie das Konzept des miasma („unreine Luft", „Ansteckung") in Umlauf gebracht hatte, wahrscheinlich als mythopoietische Metapher des durchaus brutalen Zusammentreffens der Stammespsychologie und der auf Buchstaben basierenden Psychologie. Hierfür ist zeitgenössisch ohne Zweifel die Arbeit Mark Päulines und seines Survival Technologies Lab in San Francisco das öko-psychologische

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Meisterwerk. Pauline konfrontiert auf seinen riesigen Unterhaltungsparkplätzen mechanische und elektronische Maschinen, die sich einen erbitterten Kampf um das größte Vergnügen Tausender von Zuschauern liefern. Auf technischer Ebene wurde der endgültige Sieg der Elektrizität über die Zündungsmechanik durch die kanadische Bergbautechnik besiegelt, die ganz ohne Sprengstoff einen Felsen mittels einer gewaltigen elektronischen Erschütterung in Staub zu zerlegen erlaubt.

Das erweiterte Nervensystem Die dritte und der ersten entsprechende Quelle unserer Empfindlichkeit gegenüber der Verschmutzung ist diejenige, die wir bereits in einem anderen Zusammenhang aufgezeigt hatten, nämlich die technologische Veräußerlichung unseres Nervensystems auf die Umweltebene. Das augenblickliche Feedback lebensnotwendiger Informationen auf dem Planeten ähnelt immer mehr einer Propriozeption, die vom Individuum zur Umwelt verläuft. Der psychotechnologische Rückkehreffekt dieser Ausweitungen auf unsere individuelle Psychologie, begleitet von der Wirkung der von den Computern vorgenommenen sensori-kognitiven Metaphorisierungen, lenkt heute die Aufmerksamkeit auf das Nervensystem als vorrangigem Ökosystem. Große Teile der Bevölkerung fongeschrittener Gesellschaften hören heute zu trinken und zu rauchen auf, da wir in der Lage sind, uns die zersetzenden Einflüsse der Vergiftungen auf das zur heiligen Umgebung aufgerichtete Nervensystem vorzustellen oder sie gar genau zu erkennen. Auch hier gibt es ein Beispiel α contrario, nämlich die rasche Einführung des Tabaks in das Alltagslebens des 17. Jahrhunderts. Diese Tendenz erinnert daran, daß der Rauch das geeignetste Mittel ist, den Kopf vom übrigen Körper zu trennen, um ihn an die Macht zu bringen - eine weitere unbewußte Antwort auf die intellektualisierende und entsinnlichende Wirkung der massenhaften Alphabetisierung. Der Rauch ist auch ein Schirm zum Schutz individueller Grenzen und der Privatzone der Person. Früher Quelle für harmlos gehaltener Lüste, ist die Verdammung des Tabaks heute ein Echo auf die einmütige Verdammung der Ölindustrie, die die Lungen des Planeten vergiftet. Unsere techno-sensoriellen Erweiterungen führen andererseits zu einer neuen Transparenz der Welt, oder - mit einem Ausdruck Paul Virilios - einer Trans-Apparenz. Wir sind künftig eingeladen, mit dem Auge und dem Ohr der Medien am Abbau ökologischer und sozialer Gleichgewichte teilzunehmen. Wie die bereits vom amerikanischen Militär ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen zur Verhinderung des Eindringens der Wirklichkeit des Golfkrieges in die amerikanischen Haushalte beweisen, ist es durchaus wahrscheinlich, daß eine Regelung von Weltkonflikten manu militari für die Normalbürger aller Länder unerträglich wird. Das politische und ökonomische Bewußtsein wird sich früher oder später den Prioritäten des ökologischen Bewußtseins unterordnen müssen. Derweil ist die ökologische Kunst nicht ausschließlich puritanisch, d. h. nostalgisch einem wahrscheinlich irrealen und in jedem Fall nicht rückholbaren Goldenen Zeitalter

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zugewandt. Den moralistischen Werken fehlt es an Begeisterung und trotz ihrer Verdienste tragen sie nur zur Vergrößerung der bedeutendsten Verschmutzung in der abendländischen Geschichte bei, der der Psychologie durch den Schuldkomplex. Das erste, was erschüttert werden muß, ist dieses Schuldgefühl, weil die Gewissensbisse, vor allem dann, wenn sie kollektive sind, den Geist verdüstern und lähmen. Nichts ist ernsthafter als das ökologische Bewußtsein. Es ist eine neue Moral, gekennzeichnet von der Bewegung „politischer Korrektheit", die mit dem Respekt aller Unterdrückten beginnt. Die lobenswerteste und zweifellos wünschenswerteste Version dieser Bestrebungen ist jene, die uns für die Einheit des Menschengeschlechts und insbesondere für die Bedeutung zu sensibilisieren versucht, die Völker der Dritten Welt als Partner vollständig in die globale Psychologie einzubeziehen. Es gibt beispielweise das Werk des französischen Videasten Pierre Lobstein - „Portrait de l'humanite"-, der uns mit drei Sekunden pro Person eine möglichst größte Zahl von Individuen vorstellt, die aus verschiedenen städtischen Zentren der Welt stammen.

5. Drei Merkmale psychologischer Umstrukturierung Unsere biotechnologischen Erweiterungen laden uns ein, lieber unsererseits den Raum zu umgreifen, als ausschließlich von ihm umschlossen zu werden. Hier bewahrheitet sich das Pascalsche Paradox auf vollkommene Weise: „Durch den Raum umfaßt mich das Universum, durch das Denken umfasse ich es." Durch Elektrizität stehen wir in augenblicklichem Kontakt zu jedem Punkt des Erdballs. Warum leugnen, daß diese Fähigkeit uns zur Integration der Welt in uns und dies auf bisher unbekannte Weise einlädt? Alle Medien, alle Technologien arbeiten gemeinsam an der Herstellung unserer Beziehung zur Welt. Es gibt einen ständigen, wenn auch nicht gleichgewichtigen Austausch zwischen dem Sinn und den Sinnen, und zwar bis zur trügerischen Täuschung ihrer Homonymie (die man in zahlreichen Alphabetsprachen wiederfindet). Eine erste Aufgabe der Kunst besteht in der Beschleunigung der Wiedererlangung unserer durch die abstrakte Semiotik des Alphabets verlorenen Sinne.

Ausdehnung der Propriozeption über die Grenzen der Haut Während das Alphabet dem Auge einen absoluten Vorrang über die anderen Sinne antrug, werden sie von der Elektrizität - auf unterschiedliche Weise und zunächst durch ihre Ubersetzung vermittels der Numerisierung - in einem neuen Zusammenwirken reintegriert. Paradoxerweise ist gerade der in unserer auf dem Sehen beruhenden Kultur unterdrückteste Sinn, das Tasten, auch jener, der zur interessantesten Fragestellung führt. Gerade die Elektrizität bringt ihn wieder zum Vorschein. Die Elektrizität besteht nicht nur aus Licht; sie ist vielmehr eine ganz subtile Form des Tastens, die uns auf einmal mit dem ganzen Planeten in Kontakt bringt. Die Elektronen bewegen sich nicht linear,

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sondern werden in ihrer Wirbelbewegung gleichzeitig von einem Ende der Erde zum anderen gestoßen. Durch Einschalten des Telephons oder Fernsehens berühren wir mittels der Elektrizität einen entfernten Punkt der Erde, vergleichsweise so, wie wir durch das Denken mit diesem oder jenem Teil unseres Körpers in Kontakt treten. Das erweiterte neue sensori-kognitive Feld ist nicht bloß ein begriffliches oder theoretisches, denn es wird von der Fähigkeit des Zugangs eines jeden zu egal welchem Punkt des Erdballs aufrechterhalten und bestärkt. Telephon, Telekopie, Weltfernsehen und -radios statten uns mit erweiterten Wahrnehmungssystemen, mit sensoriellen Erweiterungen aus, die uns mit allem und jedem in unmittelbaren propriozeptiven Kontakt bringen. Außerdem besteht im Sinne dieser Ausweitung unseres Nervensystems, die schon McLuhan vorausgesagt hat, die neue Tendenz der Medien in einer Dezentralisierung der Produktions- und Verteilungsmittel, in der Vervielfachung der Interaktionsnetze eines jeden. Einerseits sind die neuen elektronischen Gemeinschaften im Begriff, sich über nationale Grenzen hinweg zu bilden, andererseits konstituieren die Individuen sich selbst per Telephon, Videophon, Modem und anderen Erweiterungen, als seien sie die Knotenpunkte ihrer eigenen Vernetzungen. Möglicherweise werden diese immer zahlreicher werdenden Personen schließlich erkennen, daß die Gesamtheit ihrer personalisierten Vernetzungen ein Bild ihres eigenen erweiterten Körpers bildet. Doch das Telephon reicht anscheinend nicht, und auch nicht das Fernsehen, um uns zu sagen, daß wir überall dort, wo wir Zugang haben, vorhanden, gegenwärtig sind, und daß wir folglich für all diese O r t e insoweit Verantwortung tragen, als wir Zugang zu ihnen erlangen. Wir können an unsere neue Dimension nur zu glauben beginnen, wenn wir sie formal berühren können. Sobald wir berühren, glauben wir unseren Augen und unseren Ohren. Physische Kontakte über sehr große Entfernung einzurichten: das ist der Traum der kanadischen, französischen, italienischen, deutschen, amerikanischen und anderer, sogar russischer Künstler, die vorsätzlich oder unabsichtlich die Ästhetik der Kommunikation praktizieren. In Kanada beispielsweise wird am Körper gearbeitet. Es gab im Juni 1986 den „transantlantischen Eisenarm" zwischen Paris und Toronto von Norman White und Doug Back: zwei per Telephon verbundene Hebel mit zwischengeschalteten Modems, Rechnern und Motoren, um einen sinnlichen Eindruck direkten physischen Drucks jenseits des Atlantiks zu erzeugen. Ein anderes und präziseres Beispiel ist der „Transantlantische Tanz" von David Rokeby, dessen ebenfalls per Telephon geknüpftes System Tänzern von einem Ende der Welt zum anderen gestattet, ihre eigene Musik durch Bewegungen ihres Körpers zu erzeugen, zu komponieren und zu modulieren. Rokeby ist vor allem daran gelegen, den Sinn der intimen Gegenwart über große Entfernungen hinweg wiederzuerzeugen. Anstelle der körperlosen Stimme des Telephons, des unberührbaren Bildes der Videokonferenz zeigt er ein musikalisches corps-ä-corps mit dem Klang, ähnlich dem Berühren. Diese Künstler wie auch andere führen Ereignisse vor, die die Einbildungskraft zwingen, sich in einem weiten Raum zu situieren und in ihm eine aktive, zugleich öffentliche und persönliche Rolle zu spielen. Ich spreche hier von Tausenden von Kilometern - eine Kleinigkeit für einen Planeten.

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Neupositionierung des Subjekts in der Umwelt Infolge der propriozeptiven Verschmelzung des physischen und des technischen Körpers, einer Propriozeption, die über riesige Entfernungen, weit über die Reichweite des Blicks hinausreicht, infolge auch seiner Manipulation, zu der es durch die Aufzeichnungs- und Verbreitungstechniken des Videos kommt, ist der von der Renaissancekunst geheiligte Gesichtspunkt, die Perspektive, unzureichend geworden, um die Königsstellung des Subjekts in der Umwelt zu kennzeichnen. Der Großteil unserer erweiterten und von den Medien gesteuerten Wahrnehmungen erfolgt ohne Rücksicht auf den Horizont oder eben unsere aufrechte Haltung. Was wir gerade jenseits der Grenzen des Blickfeldes nicht sehen, das berühren wir, spüren wir, hören wir. Und unsere Anschauung erfolgt mehr und mehr auf kanalisierte Weise. Nicht grundlos heißen die Videobrillen für virtuelle Wirklichkeiten im Englischen eyephones, „Telephone für die Augen". Man spricht bereits von einer direkten Projektion von Laserbildern in die Pupillen. Wir sind verurteilt, immer mehr Zeit in einem Umfeld künstlichen Sehens zu verbringen, das sich an die Stelle des Umfeldes natürlichen Sehens setzt. Vom Nintendo-Bildschirm über den des Fernsehens und seines Zusatzes, der Kinoleinwand, bis hin zur Arbeitsstelle der Informatiker verbringen wir immer mehr Zeit vor einem Schirm als in der sichtbaren Wirklichkeit der Welt. Dieser enge Visions-Tunnel unterdrückt die Umrisse des Horizonts und verschafft uns unsere Sehwahrnehmungen in der punktuellen Weise, die charakteristisch ist für die anderen Sinne. Es muß also ein anderer zentraler Bezugspunkt gefunden werden, um uns psychologisch in dieser gewaltigen Ausweitung und Komplexierung unserer sinnlichen Fähigkeiten zu orientieren. Dieser neue Referenz- und Selbstwahrnehmungsort ist der „Seinspunkt", der ausgehend vom physischen Körper das Feld der vom Gesichtspunkt ermöglichten kognitiven Operationen auf die subtilen taktilen Wahrnehmungen ausweitet. Der Seinspunkt ermöglicht ebenfalls, eine Sinnlichkeit der Vernetzungen mit Mitteln des Handelns über Entfernungen und die Integration der Technologien auf taktile Weise zu stimulieren. So treten wir beispielsweise durch das Zellentelephon nicht mehr in Kontakt zu Orten, sondern zu Personen, wo immer sie auch seien. Eine andere wichtige Veränderung findet im Bereich der Verräumlichung unserer Beziehungen zur visuellen Welt statt. Die Renaissance-Malerei und das Lesen haben uns daran gewöhnt, die Welt stets frontal, in Augenhöhe, nichts drunter, nichts drüber, ohne Rückseite zu sehen. Die anderen Sinne, die bis zum Auftreten der Perspektive auf die Umwelt ausgerichtet waren, wurden durch die Tyrannei des Blicks auf eher instrumenteile als kognitive Funktionen reduziert. Sie dienten zunächst der Information des Gesichtspunktes und trugen weniger zur Verbindung der Leute untereinander bei. Das Aufkommen des Seinspunktes als raum-zeitliche Referenz meiner Stellung in der Welt zieht auch eine Veränderung der Strategien visueller Kontrolle nach sich. Die neuen Videotechnologien und die virtuellen Maschinen erforschen die Möglichkeit eines 360-Grad-, wenn nicht sogar eines völlig kugelförmigen Sehens. Man begnügt sich bereits nicht mehr damit, den Bildschirm zu betrachten, man dringt durch ihn in die

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virtuellen Realitäten vor. Mit den Fortschritten der holographischen Kunst ist die kubistische Wahrnehmung kein Schnitt nebeneinanderliegender Facetten mehr, sondern buchstäbliche Dreidimensionalität. Ein anderer Künstler aus Toronto, Graham Smith, von Beruf Photograph, dann Robotiker und Informatiker geworden, um das Problem der erzwungenen Frontalität photographischer und visueller Darstellungen zu lösen, erfand Horizonscan, ein Videosystem, das in einem Winkel von 360 Grad aufzeichnet. Dank dieser Erfindung stehen wir der visuellen Umwelt nicht mehr gegenüber, sondern mitten in ihr. Zudem erlaubt diese Technologie, die Umwelten, die man erforschen möchte, aufzuzeichnen und ganz wörtlich auf sich zu beziehen. Wir dürfen hoffen, daß diese Art künstlerischen Unternehmens eines Tages zur Veränderung der gewöhnlichen visuellen Wahrnehmung der Welt, vom Frontalverhältnis zur umwelthaften Beziehung führt. Heute verlangt man von der Kunst wie von der Technologie etwas so Solides, physisch Überprüfbares, Nützliches und Angenehmes wie die Perspektive.

Veräußerlichung des Imaginären In seiner Verurteilung der Phantasie als einer „Herrin der Irrtümer und Falschheiten" war Pascal auf dem Holzweg. Weder er noch Montaigne haben wirklich die grundlegende psychologische Rolle des Lesens erfaßt, das unsere Vorstellungsfähigkeiten befördern soll, indem es uns zwingt, im Denken die Abstraktion der Buchstaben in multisensorielle Bilder umzukehren. Hätte Pascal dies verstanden, hätte er auch begriffen, daß der Feind des religiösen Gewissens nicht der Libertin ist, sondern das Buch, das unsere Orientierung an der Welt in eine Orientierung an uns selbst wandelt. Unsere innere Einbildungskraft hat sich seit Erfindung des Fernsehens unablässig immer wieder nach außen gewandt. Auch wenn man dem Fernsehen vorwerfen kann, unsere private Phantasie durch eine kollektive Phantasie zu ersetzen, so trifft dies nicht mehr für die interaktiven Multimedien und die virtuellen Wirklichkeiten zu, die ein objektives Imaginäres unseren Bearbeitungen aussetzen. Die plurisensorielle Kombinatorik, die unser Hirn bei der Schaffung seiner Bilder auf ganz natürliche Weise vornimmt, ist auf den Bildschirmen der Multimedien nun außerhalb des menschlichen Hirns möglich geworden. Wie dem individuellen Denken ermöglicht die Elektrizität auch den Rechnern ihre Effizienz und ihr zugleich symbolisches (Bedeutungen) und pragmatisches (sensorielle Simulationen) Arbeiten. D i e grundlegende binäre Schwingung übersetzt alles, den Sinn und die Sinne, die Richtung und die Energie, die Information und ihr Ergebnis. Die numerische Übertragung unserer ganzen Sensorialität von analogen auf digitale Bedingungen schafft das Hindernis der Heterogenität der Sinne beiseite. Jeder Sinn wird in die Terme jedes anderen übertragbar. Die Beliebtheit der Multimedien spiegelt demnach unser tiefes Verlangen wider, in unsere veräußerlichten Sinne eine vollständige kognitive Funktion hineinzuprojizieren. Dies ist der Traum der künstlerischen Tätigkeit, und es ist kein Zufall, wenn heute noch die meisten Ingenieure und Informatiker, die in den Bereichen virtueller Maschinen arbeiten,

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auch Künstler sind. Einer der bekanntesten ist der Australier Jeffrey Shaw, dessen weithin beachtetes Werk „Legible City" in einer ebenso eingebungsreichen wie humoristischen Metapher fast alle hier beschriebenen Gedanken zusammenführt: ein Fedaltreter auf einem feststehenden Fahrrad, vor einem großen Bildschirm, um mit seinem Lenker eine große und aus riesigen Buchstaben des Alphabets erstellte Stadt zu erkunden; man kann sich in ihr auf Avenuen aus Worten bewegen, zumal wir ja seit Erlernen des Alphabets auch nie etwas anderes getan haben. Die Wahl einer so archaischen Technologie wie des Fahrrades als ¥>.oriiro\\interface unterstreicht ironisch einen anderen wichtigen Aspekt der Veräußerlichung der Einbildungskraft. Die Kontrollmter/aces zwischen Benutzer und Maschine haben seit der Zeit der elektrischen Schalter und Knöpfe der ersten Generation von Rechnern bis zu den Systemen des Erfassens der Stimme, des Atems und des Blicks einen technologischen Wandel in Richtung auf eine Entmaterialisierung durchlaufen. Diese unentwegte Arbeit an der Erfindung einer idealen Interface kündet für die nächste Zukunft das direkte Einwirken des Denkens auf das Handeln an, ohne daß es noch über den Körper verliefe. Es geht also darum, die Fähigkeiten der Psyche zur sensoriellen Synthese ganz außerhalb des Kopfes vollkommen wiederherzustellen. Mit RB2 (Reality Built for Two), der von Jaron Lanier und seiner Mannschaft gebauten virtuellen Maschine für zwei Personen, haben wir bereits den Prototyp der ersten Vorrichtung, die direkt an einer veräußerlichten imaginären Produktion teilzuhaben und auf sie einzuwirken erlaubt. In ihrer technischen und künftig auch mit der Enthüllung und Offenbarung des Potentials der Maschine verbundenen Suche - so wie die Künstler einstmals die Färb-, Material- und Tonmischungen vornahmen - und in ihrer ästhetischen Suche, die um den sozio-politischen Kommentar ebenso wie um die Begriffe von Lust und Schönheit herum zentriert ist, zeichnen die Künstler uns ein Bild des menschlichen Wesens, das auf der Höhe seiner neuen technologischen Kräfte und dem erweiterten Umfeld gewachsen ist, das wir mit unserer aktiven Gegenwart einnehmen. Alles, was wir aufs neue über unsere eigenen psychologischen Veränderungen lernen können, können wir nur direkt durch äußerst aufmerksame Beobachtung der künstlerischen Arbeiten und Werke lernen. Dank dieses Umwegs der Erforschung unserer psychologischen Vermögen kann schließlich das ästhetische Empfindungsvermögen wieder mit dem ökologischen Empfindungsvermögen zusammengehen - nicht, indem wir uns unvermittelt durch Werke, die Vorwürfe in die Wüste schreien, der Ökologie zuwenden, sondern indem wir unseren Wahrnehmungsraum wachsen und in ihm planetare Gefühle entstehen lassen. Parallel dazu muß die ökologische Sensibilität früher oder später die Kunst zu befragen beginnen, um ihre Arbeit des Wahrnehmens fortzusetzen. Oliver Wendeil Holmes hat folgenden bedeutenden Satz formuliert: „Wenn es erst einmal einer großen Idee gelungen ist, den Geist zu erweitern, wird dieser nie mehr zu seinem ursprünglichen Maß zurückkehren." Die ganze Erde ist diese große Idee und sie ist zu einem künstlerischen Material geworden.

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Technologie und Imagination Zur Rematerialisierung des Immateriellen

Wenn „Sinn-Verkörperungen" derzeit zu einem „geisteswissenschaftlichen Thema werd e n . . . , dann kann man das bei aller Vorläufigkeit in der philosophischen Fundierung solcher Thematisierungen als ein Indiz dafür sehen, daß zu den Zielpunkten einer neuen Epistemologie die Entwicklung einer Selbstreferenz-Figur des Menschen gehören sollte, welche den menschlichen Körper einschlösse, statt ihn als Fremdreferenz weiter auf Distanz zu halten", so Hans Ulrich Gumbrecht (1991, 846). Die Selbstreferenz Mensch wäre dann nicht mehr synonym mit Geist. Dem möglichen Einwand, daß der Körper dem menschlichen Denken per definitionem nicht zugänglich sei, daß solch ein Schritt ein Rückschritt in den philosophischen Substantialismus sei, entgegnet Gumbrecht, daß dieses Argument nichts anderes als eine Immunreaktion des geisteswissenschaftlichen Systems auf der Basis der Dichotomie Geist versus Körper sei. Wie ich in meinem Beitrag zeigen will, besteht bei der gegenwärtigen Rematerialisierung des Denkens, der Sprache, des Immateriellen - wie ich es nennen will - tatsächlich nicht die Gefahr der bloßen Wiederholung des Substantialismus. Denn ging letzterer aus der Techno-Logik der mechanischen Maschine hervor und war deshalb eine unabdingbare Notwendigkeit der Erkenntnis, so hat sich die Techno-Logik mit den neuen Technologien verändert und die Notwendigkeit der Repräsentation der Zeichen, der symbolischen Darstellung hinfällig werden lassen. Das heißt, die Immaterialisierung der realen technischen Funktionslogik erlaubt eine immaterialisierte Materialisierung des Lebens, des Körpers, der Dinge, und löst damit die mechanologische Materialisierung des Körpers ab. Denn erst wenn mit der Immaterialisierung der realen Maschine, der Technik und der Medien Sprache und Empirie als äquivalent angenommen werden können, ist das symbolische Zeichen von jeglicher Referenz befreit. U n d dies ist die Bedingung der Rematerialisierung der Sprache, der Rematerialisierung der menschlichen Selbstreferenz. Insofern werde ich in meinem Beitrag dem von mir unterstellten Bedeutungszusammenhang der Immaterialisierung der Maschine/Medien und der damit verknüpften For-

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malisierung der symbolischen Darstellung, der Notation, also der Ästhetisierung der Welt, nachgehen und die daraus resultierende Konsequenz der Relevanz der Ethik für die Ästhetik beleuchten. Denn - so meine These - die völlige Formalisierung der symbolischen Darstellung, d. h., daß nichts jenseits der Sprache als existent gedacht werden kann, stiftet - wenngleich sie nicht mehr als solche erscheinen muß - die formale Äquivalenz von Begriff und Sinnlichkeit, von Erkenntnis und Imagination und läßt eine Ethik als der Ästhetik implizite Notwendigkeit erscheinen.

Die Negation der Körper: Mensch und Maschine als abstraktes Symbolsystem Der KI-Forscher M. Minsky hat in den 60er Jahren als Höhepunkt und Endpunkt einer fortschreitenden Evolution die Künstliche Intelligenz (KI), die denkende Maschine, proklamiert. Diese, sich heute als bloßes Phantasma erweisende Äußerung basiert auf einem Verständnis von Maschine und Mensch, in dem jeglicher Einfluß der physikalischen Bestandteile negiert worden ist. Dieses Maschinenmodell, das bis heute wesentlich die klassische KI prägt, geht vor allem auf A. Turing zurück. Turing hat aufgrund der Realisierung seiner Zeichenmaschine ein begriffliches Modell der Maschine entworfen, das die Maschine als formales abstraktes Symbolsystem bestimmt (Turing 1936). U m zu beweisen, daß diese Maschine denken kann, konzipiert er ein Spiel, in dem jegliche physikalischen Bestandteile in der Identifikation von Mensch und Maschine ausgeschlossen sind (Turing 1967). Das bloße, vollends formalisierte Zeichen, das Kalkül, wird zur Grundlage der Identifikation. Mit dem Imitationsspiel ist das Zeichen von der Verpflichtung zur Repräsentation befreit worden. Es hat damit seinen medialen Charakter verloren und ontologischen Rang erhalten. Denn die vollends formaliserten Zeichen sind mit diesem Spiel äquivalent mit der Maschine geworden. Dieses Spiel ist zwar bis heute niemals gespielt worden, doch da es ohnehin eine Setzung - nämlich die Äquivalenz von realer Maschine und formaler Sprache - beweisen soll, ist dies bedeutungslos. Wenn die Zeichen beanspruchen, die Realität nicht mehr zu repräsentieren, sondern diese zu sein, existiert die Maschine bereits dann, wenn sie als formales Zeichenkonstrukt existiert. Es bedeutet aber auch, daß jede symbolische Maschine sich als empirische realisieren läßt; dies wird lediglich zu einer Frage der Zeit. Mit der Realisierung der Zeichenmaschine konnte Turing vollenden, was insbesondere seit der Neuzeit betrieben wurde: die völlige Formalisierung der Darstellung der Welt und damit die Befreiung der menschlichen Selbstbeschreibung, Selbstbestimmung von jeglicher sich der menschlichen Kontrolle entziehenden Bewegung. Mit der Immaterialisierung der Maschine und der damit verknüpften Bestimmung der Maschine als abstraktes Symbolsystem gelingt es dem Menschen, die Äquivalenz von Zeichen und Empirie anzunehmen, d. h., daß mit der Bestimmung der Maschine als abstraktes Symbolsystem die Maschine äquivalent wird mit einem seit der Neuzeit vorherrschenden Verständnis

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vom Menschen als bloßer Geist, als bloße, formale Sprache. Insofern erlaubt die Immaterialisierung der Maschine dem Menschen, die Welt so zu denken, daß nichts jenseits einer vollends formalisierten Sprache, also dem bloß Menschlichen existiert. Die Formalisierung der symbolischen Darstellung wird insbesondere mit Descartes virulent, der den Menschen als reines Denken, als Sprache definiert. Sprache will er im formalen Sinn verstanden wissen, also losgelöst von den körperlichen Einflüssen, wie sie sich im intuitiven Erkennen, in der sinnlichen Wahrnehmung, in der Einbildungskraft, in der Emotionalität, Unmittelbarkeit, Gestik und Subjektivität des Denkens, des Sprechens ausdrücken (vgl. Descartes 1969). Insofern negiert Descartes in seinen Meditationen den Körper. E r setzt voraus, daß der Körper, die Sinne, die Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und O r t nichts als Chimären sind und schafft damit die Voraussetzung, die Welt neu im Rahmen einer den naturwissenschaftlichen Methoden verpflichteten reinen Vernunft zu generieren (Descartes 1976). Descartes forciert damit die in der Antike begonnene Trennung des menschlichen Selbstverständnisses in Körper und Geist. Bereits Piaton hat die materiale Welt, den Körper, in Analogie zu den bloßen Vorstellungen der zeitgenössischen Geometrie beschrieben. Der eigentliche Mensch wird - analog zum Erdenrund - zum Kopf als Kreis; der übrige Körper ist dessen Werkzeug. Dabei betrachtet Piaton die Sehkraft als das edelste Sinneswerkzeug, als den größten Gewinn für den Menschen, da nur diese die Betrachtungen des Weltganzen, die Beobachtung des Kreislaufs der Natur und damit die Erzeugung der Zahl und eines Begriffs von der Zeit ermöglichen. „Und hieraus haben wird uns verschafft die Philosophie, als welches ein größeres Gut weder kam noch kommen wird dem sterblichen Geschlecht als Geschenk der Götter" (Piaton 1959, 169). Die Philosophie als abstraktes Begriffssystem ist Ausdruck der Teilhabe an der göttlichen, also unendlichen Bewegung. Sie verleiht somit dem einzelnen Menschen die Teilhabe an der Unsterblichkeit, die Teilhabe an der göttlichen Immaterialität über die Erzeugung einer ästhetisierten Welt, die in der Schönheit der Form, in der symbolischen Darstellung, ihren Ausdruck findet (Piaton 1981). Jedoch ist die Erkenntnis der Antike ein bloßes Schauen der immateriellen Bewegung. Das heißt, die Zeichen sind gegenüber den wirklichen Ideen - so Piaton - niederen Ranges. Sie sind ein bloßes Instrument dessen, was sie bezeichnen. Dies sollte sich mit der Neuzeit ändern. Die neuzeitliche Wissenschaft ist mit der Erfindung eines völlig neuen Typus von Schrift verknüpft, den S. Krämer in Absetzung zur phonetischen Schrift als „operative Schrift" bezeichnet. Hier wird die Schrift autonom gegenüber den Vorgaben des mündlichen Wortes. „Operative Schriften sind graphische Hervorbringungen sui generis, die dann allenfalls versprachlicht werden können." (Krämer 1990, 22.) Sprache wird damit zu einem formallogischen System, in welchem zwar vieles notiert werden kann, das aber keine Verständigung mehr zuläßt. Denn ein Formalismus - so Sybille Krämer - definiert sich vor allem über drei Bedingungen. Die erste ist die der bloßen Schriftlichkeit. Die Lautsprache wird ihrer Bedeutungsrelevanz enthoben. Die zweite Bedingung ist die Schematisierbarkeit eines Ereignisses. Die Bedeutung entsteht aus der Einhaltung des Schemas. Das Ereignis oder die Bedeutungs-

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Produktion wird zu einem Verfahren, das - im Prinzip - unbegrenzt wiederholbar und reproduzierbar ist. Die dritte Bedingung ist die der Interpretationsfreiheit. Die formalen Zeichen enthalten keine Referenz (Krämer 1988, 1 ff.). Mit der Formalisierung der Sprache verliert sie ihren mimetischen Charakter. Sprache ist nicht mehr Abbildung oder Nachahmung eines Ereignisses oder einer Handlung, sondern wird zur Erfindung im Sinne einer Schöpfung von etwas in der Natur nicht Vorkommendem, vielmehr von einer Sprache, die allein im Bewußtsein des Menschen existiert. Mit der Formalisierung der Sprache wird diese selbst zur Maschine, zur symbolischen Maschine, insofern das Denken selbst maschinisiert wird. Das heißt, es wird allein aus der Mechanik des Denkens heraus erzeugt. Der Mensch wird zum Beginn der Neuzeit zum Konstrukteur der Welt über die bloße Konstruktion der Zeichen. Allein die Konsistenz der symbolischen Darstellung wird mithin zum Kriterium für die Existenz des repräsentierten Gegenstands - so Descartes (Descartes 1979; vgl. Berr 1992). Der Negation der Subjektivität, des Körpers in der Selbstreferenz des Menschen, der Ausgrenzung der Natur als Gegenständliches im menschlichen Verständnis der Welt, d. h. der Beschränkung von Mensch und Welt auf ein abstraktes formales Symbolsystem, wird von Rousseau eine Anthropologie gegenübergestellt, die den Selbstbezug, den Dingbezug der Sprache ermöglicht, indem sie die Sprache aus den subjektiven Empfindungen, aus dem Willen der Natur, des Individuellen, hervorgehen läßt. In Rousseaus Erziehungsroman „Emile" entsteht dabei eine Natur als literarischer Diskurs, als Imagination, auf der Basis einer bloßen Technik, einer bloßen Kunst und nicht - wie bei Descartes — als formales Begriffssystem, als abstrakte Erkenntnis auf der Basis einer abstrahierenden Reflektion. In einer art perfectionne, einer vollendeten Kunst, in der Ästhetisierung des Subjektiven als die formalisierende Transgression des Subjektiven in die symbolische Darstellung, in die Fiktion, will Rousseau den Bruch zwischen Natur und Kultur des Menschen überwinden. Noch ausdrücklicher bestimmt Friedrich Schiller die Transgression vom subjektiven Willen in das tätige Denken und Wollen: als den mittleren, den ästhetischen Zustand. Mehr noch als bei Rousseau wird die Ästhetisierung des menschlichen Wollens als die Transgression des Menschen in Sprache, in formale Darstellungen, von Schiller als Notwendigkeit betrachtet, sich der Macht der Natur zu entledigen. Denn „der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur" (Schiller 1965, 99). Dies aber hindert ihn daran, das höchste Ziel der Menschengattung, das der Moral, zu erreichen, „weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwickeln kann" (95). Der Schritt von der rohen Natur zur Schönheit entsteht darüber, daß „der Stoff durch die Form vertilgt" (91), daß die Form von jeglichem Inhalt befreit wird. „Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten" (91). Denn ein edler Geist ist dadurch gekennzeichnet, daß „er sich nicht damit begnügt, selbst frei zu sein, sondern er muß alles andere um sich in Freiheit setzen, indem er ihm Form verleiht" (97). Der ästhetische Zustand, die Schönheit ist die Bedingung zur Vernunft, zum moralischen Wollen - also weder ein Resultat des Willens noch des

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Verstands, sondern das „Vermögen", von der Roheit des Willens in den Zustand des Verstandes, des Denkens zu gelangen. Und dieses Vermögen ist die Entstofflichung der Form, ist die Formalisierung der Darstellung (93). Descartes rechtfertigt die Formalisierung der Sprache^die Setzung des Menschen und seiner Welt als formale Sprache damit, daß - wie die Realisierung der selbsttätigen Maschine, des Automaten zeigt - die Bewegung der technischen Materie aus den formalen Vorstellungen des Menschen erzeugt werden kann. Daß die organische Materie nicht anders beschaffen ist als die technische/mechanische, läßt sich im wissenschaftlichen Experiment nachweisen, wird in den medizinischen Sektionen offensichtlich. Also kann auch die organisch-materiale Welt nichts anderes als die formalen Vorstellungen des Menschen sein (Descartes 1969). Zudem erweisen sich die Funktionen des menschlichen Körpers mit der Realisierung der optischen Instrumente als unvollkommen und trügerisch. Denn das Teleskop und wenig später das Mikroskop haben den Blick in die Makround Mikrodimensionen der Welt in unendliche Tiefen gehen lassen und die Wahrnehmung des Menschen vervielfacht, verfeinert und differenziert. Sie haben dem bloßen Auge Unsichtbares sichtbar werden lassen (vgl. Berr 1990). Dennoch kann Descartes auf die Repräsentation des Zeichens nicht verzichten, muß die symbolische Darstellung Stellvertreter von etwas, das es selbst nicht ist, sein. Denn die Selbsttätigkeit der mechanischen Maschine ist nur eine scheinbare. Die Form der Bestandteile bestimmen und determinieren die Bewegung der mechanischen Maschine. Diese kann zwar einen einfachen linearen Algorithmus in eine maschinelle Funktion transformieren; diese Funktion kann beliebig oft wiederholt, jedoch nicht selbsttätig verändert werden. Das heißt, ein wesentliches Kriterium der Formalisierung der Sprache - die Referenzlosigkeit des Zeichens - bleibt unvollkommen, da die abstrakte Vernunft als der eigentliche Mensch gerade durch die materielle Form des mechanischen Gegenstands, der doch eigentlich nichts anderes als die materialisierte Form der abstrakten Rationalität sein soll, determiniert wird. Immanuel Kant hat in seinen anthropologischen Überlegungen den Verfallscharakter der Sprache, wie er durch die Einbeziehung des Selbstbezugs in die Sprache bei Rousseau entsteht, dadurch zu überwinden versucht, daß er die Ästhetisierung des Individuellen als die Transgression des Individuellen in eine universelle Sprache, in ein objektives Begriffssystem konzipiert. Die Anthropologie Rousseaus wird bei Kant der Sprache implizit über die Erzeugung des Individuellen als bloße Vorstellung, als objektives Wissen. Das „ich will" Rousseaus wird bei Kant zu einem „du sollst". Der einzelne hat zum Vorteil der Menschengattung, die äquivalent mit dem objektiven Begriffssystem, mit der Sprache als Wissenschaft gedacht wird, seine Individualität zu disziplinieren, d. h., die „Rohigkeit" seiner Natur zu regulieren, zu kontrollieren, dem Begriff Gehorsam zu leisten. Dies wird als Bedingung dafür gesetzt, daß der Mensch als Subjekt, als Sprache entstehen kann (Kant 1977). Damit hat Kant die Ästhetisierung - anders als Rousseau oder Schiller - nicht mehr als die formalisierende Transformation vom Subjektiven in die Darstellung, sondern im Sinne Descartes' Subjektphilosophie als die Erzeugung des Individuellen im Rahmen der

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Notwendigkeiten der Menschengattung als abstraktes Symbolsystem, als normative, idealistische Sprache bestimmt. Kant trägt damit der Erkenntnis Rechnung, daß der Begriff, die Form, niemals der Einbildungskraft, der Sinnlichkeit, der Empfindung, dem subjektiven Willen zu entsprechen vermag, wenn die Sprache nicht unablässig den Determinierungen, der Endlichkeit des Individuellen preisgegeben sein soll. Das Subjektive wird infolgedessen als undarstellbar, als mit dem Begriff nicht erfaßbar bestimmt. Im Begriff des Erhabenen wird dieser Widerstreit von Lust und Schrecken zum Gegenstand selbstreflexiver Empfindsamkeit. Denn auch die Ästhetik als bloße Technik, als Kunst, vermag das Nicht-Darstellbare nur als abwesenden Inhalt anzuführen; jedoch wird die Schönheit der erkennbaren Form als Anlaß von Lust, als Trost gewährt, der dem Individuum, dem Betrachter, dem Leser, den Schmerz über die Unmöglichkeit der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, von abstrakter Symbolsprache/symbolischer Darstellung und Subjektivität verdecken sollte (Kant 1974). Die Transgression der Welt in ein formales objektives Symbolsystem wird - wie bereits erwähnt - mit der Realisierung der immateriellen Maschine vollendet. Symbole sind - anders als bei Descartes - hier nicht mehr nur Medien der Wahrnehmung, der Erkenntnis, die für Differenz bürgen, sondern sie stiften formale Äquivalenz. Turings Negation des Körpers - auch des technischen - aus der Bestimmung von Mensch und Maschine ist eine Zuspitzung und gleichsam die Vollendung der Transzendenz. Die Folge ist die formale Äquivalenz von abstraktem Zeichen und Maschine, von Zeichen und Realität, von Geist und Körper, aber auch von abstraktem Zeichen und Subjektivität, von Zeichen und Sinnlichkeit. Mit der Bestimmung von Mensch und Maschine als abstraktes formales Zeichensystem vollendet sich der Prozeß der Vermenschlichung der Welt. Das seit dem Beginn der Verwissenschaftlichung der Welt angestrebte Ziel, die Welt als bloße Bewegung des Geistes/der Vernunft (ratio) denken und realisieren zu können — frei von jeglicher Determinierung einer bedeutunggebenden, bedeutungdeterminierenden Materie - ist mit der Turingschen Maschinendefinition erreicht worden. Die Welt ist zu einem System der reinen Logik geworden. Sie kann als abstrakter formaler Universalismus generiert werden. Mit der Realisierung der immateriellen Maschine und der damit verknüpften Formalisierung des Zeichens wird die Transzendenz jedoch nicht nur vollendet, sondern beinhaltet die gleichzeitige Aufhebung der Transzendenz. Es erlaubt einerseits zwar die Absolutsetzung, die Universalisierung des Subjekts als formales abstraktes Symbolsystem, aber ebenso führt es andererseits zur Auflösung, zum Verschwinden des Subjekts. Denn die Absolutsetzung des Subjekts als bloßes formales Zeichensystem negiert jegliche Repräsentation von etwas jenseits des Zeichens Existierendem und hebt damit die über den metaphysischen Subjektbegriff gewährleistete Sicherung der Bedeutung, die Gewährleistung der Konsistenz der Darstellung auf. Mit der Absolutsetzung des abstrakten formalen Zeichens, des Subjekts, wird die Bedeutungskonstruktion zu einer bloßen Kombinatorik der Zeichen. Die Bestimmung der menschlichen Selbstreferenz wird damit ausschließlich zu einem sprachimmanenten Vorgang, die Erzeugung von Bedeu-

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tung über die Differenz von Darstellung und Dargestelltem wird letztlich zu einer Bedeutungsproduktion über die bloße Differenz von Zeichen. Hat Turings Formalismus noch das Zeichen, das auf sich selbst verweist, als materielle Referenz, so lehnen die postmodernen/poststrukturalistischen Ansätze jeglichen Zusammenhang von Zeichen, symbolischer Darstellung und Wirklichkeit ab. Das postmoderne Zeichen verzichtet auf jede Symbolfunktion. Die postmoderne Ästhetik besteht geradezu darauf, daß der Begriff und die gegenständliche Welt niemals eine Einheit werden können. Der Körper, die gegenständliche Welt, wird zum Undarstellbaren. Jede Hoffnung auf Versöhnung wird dadurch ausgeschlossen, daß das Zeichen, die symbolische Darstellung, die Form, hier zum immaterialisierten Träger eines unendlichen Bedeutungsraumes wird, da das Zeichen, die Form, auch von jeglicher Selbstreferentialität befreit ist (vgl. Lyotard 1985). Konsequenter noch als Turing betreiben die postmodernen/poststrukturalistischen Überlegungen die Trennung von Sprache und Sprecher, heben sie den Tod des Subjekts hervor. Die Transformation von Sprache in ein bloßes, immaterialisiertes Sprachsystem wird hier betrieben. Bedeutungen entstehen nicht mehr - wie bei Saussure (1967) - über die Differenz von Zeichen, sondern über die Differenz von immateriell gedachten Zeichen (Derrida 1976; 1983), die von jedem Verweis auf einen Sinn oder Zweck befreit sind. Damit wird jeglicher abstrakten universellen Ordnung, jeglicher Objektivität der Begriffe, Bedeutungen, eine Absage erteilt. Die so verstandene Sprache wird zum verrückten, beschädigten Diskurs, in welchem das Materielle als das Undarstellbare aufblitzen, aufscheinen kann (Lyotard). Sprechen wird zum Verstehen, Interpretieren, aber nicht im Sinne von Erinnern und Identifizieren, sondern im Sinne einer unendlichen „Spurensuche" (Derrida), einer unendlichen Infragestellung der von der Moderne, von Wissenschaft und Technik produzierten Dispositive, ohne anderes Ziel und anderen Zweck als die Infragestellung selbst (Lyotard 1988). Die postmoderne Ästhetisierung überwindet dennoch das fundamentale Problem der Unversöhnbarkeit von Begriff und Leben, wie es bei Kant noch virulent ist, indem sie den Körper zwar völlig negiert, im Sinne Lacans, daß der Körper als solcher nicht existiert, aber ihn gleichzeitig als das Undarstellbare setzt. Damit kann die materielle Welt sich einerseits von dem Zugriff der abstrakten Symbolwelt befreien, d. h., sie entzieht sich der Normierung und Normalisierung durch den abstrakten Begriff. Doch da - anders als bei Turing - hier auch die Realität des Zeichens selbst obsolet ist, ist es paradoxerweise das Undarstellbare, das jede Objektivierung und Verallgemeinerung der Bedeutungen ausschließt, da es — obwohl als Undarstellbares formlos geworden - den symbolischen Diskurs durchquert, beschädigt. Es ist das Undarstellbare, das die Zeichenproduktion zu einer Realität des Jetzt, zu einer Realität ohne Dauer, aber mit einer unendlichen Potentialität und Vielfalt macht. Das Undarstellbare ist es, das die postmoderne Ästhetik, das postmoderne Zeichen trotz seiner Referenzlosigkeit vor der Beliebigkeit schützt, beziehungsweise den Vorwurf der Irrationalität selbst als irrationales Argument einer Vernunft erscheinen läßt, die sich - wie bei Descartes oder Kant - über die Negation des Materiellen als Formalisierung des Zeichens als Ästhetisierung erzeugt. Denn durch die

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Setzung, daß die völlig negierte Materie als das Undarstellbare in der Sprache aufscheint und diese beschädigt, dekonstruiert, müssen hier die Dualismen der Moderne - wie die Trennung in Körper und Geist, in Subjekt und Objekt, in Mensch und Technik, in Technik und Ästhetik, in Kunst und Wissenschaft, ebenso wie die dem Menschen im Verhältnis zur Welt unhintergehbar erscheinende Opposition von Darstellung und Leben — nicht wie bei Turing als äquivalent gedacht, sondern können als Paradoxien zugelassen werden. Allerdings ist die Bedingung die völlige Immaterialiserung der Bedeutung sowohl der Materie als auch des Zeichens. U n d gerade darin liegt das Technologische der postmodernen Ästhetik. Es ist die Technologisierung des Anderen, die Technologisierung des Körpers als der völlige Ausschluß des Körpers in der Bedeutungsproduktion. Mehr noch als bei Turing wird hier über die Setzung des Paradoxons - der Negation des Körpers und die gleichzeitige Bedeutungsgewährleistung der postmodernen vollends immaterialisierten symbolischen Darstellung durch den negierten Körper - die Technologisierung des Lebens als die Formalisierung der Imagination betrieben, obwohl es dem Anspruch und dem Anschein nach die Wiederbelebung des Lebens, das Zu-Wort-kommen-Lassen des Lebens ist. Die postmoderne Ästhetik als das entsubstantialisierte Erhabene ist mehr noch als Turings symbolische Maschine die Vollendung, vor allem aber die Aufhebung des auf Transzendenz beruhenden Subjekt-Objekt-Modells. Die Negation der Materie und der Selbstreferentialität des Zeichens enthält nicht mehr wie in Turings Maschinenmodell vor allem die Absolutsetzung des Menschen als Subjekt, als völlig formalisiertes abstraktes Symbolsystem, sondern beschränkt sich ausschließlich auf das mit der völligen Formalisierung des Zeichens einhergehende Verschwinden des Subjekts, auf die völlige Trennung von Sprache und Sprecher. Dies erlaubt die Forcierung der von Kant betriebenen Ästhetisierung der Philosophie, die auch als Philosophisierung der Ästhetik gelesen werden kann, und hat die Konsequenz, daß die Materie damit jeden sinn- und bedeutunggebenden Einfluß - selbst in der mechanisierten, der instrumentalisierten Form der Metaphysik - verloren hat. Mehr noch als bei Turing ist mit der postmodernen Ästhetik die Sprache zur Maschine geworden, da die postmoderne Formalisierung/Ästhetisierung des Zeichens erlaubt, unendliche Bedeutungsmöglichkeiten produzieren zu können, die frei sind von jeglicher Determinierung einer - wie auch immer angenommenen - materiellen Welt. Allerdings ist Turings Modell hier zu einer „verrückten" symbolischen Maschine geworden, die weder eine formale Äquivalenz der Welt mit den abstrakten Zeichen noch die Rematerialisierung der Sprache - wie die kybernetische Maschine - zuläßt. Eine ähnliche Kritik, wie sie innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften gegenüber den postmodernen/poststrukturalistischen Diskursen bezüglich ihres universellen Formalismus geäußert wird, richtet sich innerhalb der Informationswissenschaften gegen die Annahmen der klassischen KI. Mit der Turingschen Maschinenbestimmung läßt der Begriff der Maschine, die bloße Vorstellung ist, keine Differenz von abstrakter und realer Maschine zu, da der abstrakte Formalismus beansprucht, die Maschine, die Realität zu sein. Es kann also über das Verhalten der Maschine kein Einfluß auf die Konstruktion, auf die Theorie der Maschine genommen werden. Dies hat den Nachteil - und dieser wird

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wesentlich für die Probleme der KI verantwortlich gemacht daß, wenn der Körper aus der Definition ausgeschlossen wird, auch alle körperlichen Funktionen wie Wahrnehmung, Assoziation, Intuition aus der Sprache, aus dem Denken, aus dem Zeichensystem Mensch-Maschine ausgeschlossen sind. Es hat sich aber gerade im Kontext der KI gezeigt, daß ein bloß abstrakter universeller Formalismus die technische Realisierung der Realität begrenzt und die Frage nach dem Sinn nicht mehr zuläßt (Coy 1988). Phänomene wie „Wahrnehmung", „Wissen" und „Verstehen" können mit einem bloß abstrakten Formalismus nicht annähernd in einer handhabbaren Weise formalisiert werden. „Wahrnehmung und Verstehen sind aber nicht nur zur Formalisierung komplexer Arbeits- und Denkvorgänge, sondern bereits bei einfachen Perzeptionsprozessen der Bild- und Sprachverarbeitung unumgänglich. Selbst die scheinbar schlichte Kategorie der Ähnlichkeit von Objekten und Szenen entzieht sich weitgehend einer befriedigenden Formalisierung. Ähnlichkeit und Analogie aber spielt dabei in so disparaten Bereichen wie Mustererkennung, Software-Technik und Fehlertoleranz eine wesentliche Rolle" - so der Informatiker Wolfgang Coy (1988, 5f.). Turings Formalismus - ebenso wie die postmoderne Ästhetik - als die völlige Negierung der materiellen Welt war jedoch notwendig, damit, da jetzt nichts mehr neben den bloßen Zeichen existiert, die Erzeugung des Materiellen in der menschlichen Selbstreferenz wieder zugelassen werden kann. Allerdings im Rahmen einer immateriellen funktionalen Sprache.

Die kybernetisierten Körper als materielle Information Norbert Wiener wird, ebenso wie Turing, durch die Funktionslogik der Hochleistungsrechner angeregt, als er das mathematische Modell einer kybernetischen Maschine entwirft. Hatte Turing aber daraus die völlige Negation des Körpers in der Funktionslogik der Maschine abgeleitet, kann Wiener dagegen - da mit Turings Maschinenmodell nichts mehr jenseits der Sprache existiert — seine Aufmerksamkeit auf die „empirische" TechnoLogik, auf das „Verhalten" des Artefakts richten (Wiener 1952, 37f.). Er geht davon aus, daß Lebewesen Homöostate sind, die sich also durch „Unterhaltung", durch den Austausch mit ihrer Umwelt erhalten. Im Sinne des kybernetischen Denkens heißt dies: ein System von input - black box - output. Wiener begreift mit der Realisierung des Hochleistungsrechners das maschinelle System als ein geschlossenes rekursives Regelungsoder Steuerungsmodell, das als Teil eines Ganzen in Beziehung zu diesem steht und über diese Beziehung definiert wird. Das bedeutet, daß die Maschine nicht mehr als triviale (Heinz von Foerster), also über einen linearen Algorithmus verstanden werden muß, sondern daß sie als rückgekoppelter Regel- oder Schaltkreis gedacht werden kann. Ein individuelles System wird hier nicht mehr über seine materiellen Bestandteile definiert, sondern über die Beziehung zwischen den Entitäten, als eine Struktur. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Information (Wiener 1952, 35). Denn Wiener geht davon aus, daß die Maschine dadurch funktioniert, daß von einer Entität zur anderen Nachrichten bzw.

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Signale, die Informationen enthalten, übermittelt werden, und diese werden wiederum mit Signalen beantwortet. Die Maschine wird somit zu einer Sprachstruktur, zu einem Informationsnetz (78 ff.). Wiener zieht für sein kybernetisches Modell zwar den auf dem Energieprinzip beruhenden Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik heran. Doch daß dieses mit der Entropie, also dem Tod, dem Ende der Welt, des Menschen verbundene Modell für das Funktionieren der Welt keinen Pessimismus mehr hervorruft, sondern zur Beschreibung der physikalischen Welt ohne Gefahr herangezogen werden kann, hat seinen Grund darin, daß mit der elektronischen Rechenmaschine ein Maschinenmodell realisiert worden ist, das nicht in erster Linie über die Übertragung von Energie, sondern von Information, von Signalen funktioniert. Probleme der Bewegung, des Funktionierens sind infolgedessen nicht mehr Probleme der Energieübertragung, sondern der Informationsübertragung. Das Problem des Wärmeverlustes wird damit zum Problem des „Rauschens". Und wie die Realität zeigt, kann dieses in der Informationsübertragung ausgeschaltet werden, kann es durch Informierung reduziert werden (31 ff.). Zum anderen kann die Maschine damit von dem unerbittlichen Zeitpfeil der Energiebewegung, des Energieverlusts befreien und als ein rückgekoppelter informationeller Schaltkreis gedacht werden. Insofern muß die empirische Welt nicht mehr aus der formalen symbolischen Darstellung der Welt ausgeschlossen werden. Die Generierung der Maschine als Sprache kann ohne Gefahr von der Mikroebene ausgehen und diese mit dem Modell der Makroebene verbinden. Mit dem Modell der Kybernetik werden die Körperfunktionen als Funktion zum Gegenstand operationalisierender Verfahren. Denn mit dem Begriff der Koppelung bezeichnet Wiener die Möglichkeit, mittels eines Formalismus die unterschiedlichen und unvereinbaren Ordnungen der Mikro- und Makroebene zu verbinden (34). Und die Koppelung als Informationsübertragung, als Funktion ist der Bereich, den die symbolische Darstellung beschreibt. Mit seiner funktionalen Steuerungstheorie gelingt es Wiener, Mensch und Maschine gleichzusetzen - ohne den Körper bzw. seine Funktionen ausschließen zu müssen. Mensch und Maschine werden zum kognitiven System, zur funktionalen Sprache als Gedächtnis, das mit seinem Körper über die für die Spracherzeugung notwendigen Wahrnehmungssensoren verfügt. Der Körper, das Nervenzentrum wird hier als informationeller Übertragungsmechanismus der psychischen, der kinästhetischen Funktionen verstanden und kann damit in der angewandten Informationswissenschaft ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften als formales Modell entstehen, generiert werden, ohne dem Vorwurf der Destruktion und Begrenzung der materialen Welt durch den abstrakten Begriff ausgesetzt zu sein. Das Modell der kybernetischen Maschine und der daraus resultierenden Möglichkeit, den Körper als funktionale Sprache konzipieren zu können, bewirkt nicht nur, daß die Kritik an der Ausgrenzung des Körpers im Selbstverständnis des Menschen zunimmt, sondern - positiv gefaßt - als Teil der menschlichen Selbstreferenz konzipiert wird. Denn die Funktionalisierung der Sprache läßt die Dualismen wie Geist und Körper, Mensch und Technik, Technik und Asthetik/Symbolisierung obsolet erscheinen. Wenn-

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gleich diese Dualismen - anders als mit Turings abstraktem Formalismus - nicht identisch zugunsten des Abstrakten, sondern nur kompatibel werden, da die abstrakte Sprache, der Geist als kognitives Gedächtnis sich aus den vermittelten Körperfunktionen, aus dem Körper als Information generiert. So hat Leroi-Gourhan (1980) in den 60er Jahren Technik und Symbolisierung aus dem Wechselverhältnis von Körper und Geist hervorgehend beschrieben und damit sowohl einem bloß materialistischen als einem bloß geisteswissenschaftlichen Verständnis von Mensch und Welt eine Absage erteilt. Das Wesentliche an der Sprache als kybernetische Maschine ist, daß sie einen semantischen Aspekt erhalten hat. Turings Modell der symbolischen Maschine und der damit verknüpften Äquivalenz von Mensch und Maschine als formales System, als symbolische Maschine, setzt die Ausgrenzung des Körpers aus der symbolischen Darstellung — wie vor allem seit Descartes betrieben - fort, beziehungsweise spitzt es sogar zu, indem der abstrakte Formalismus beansprucht, die Realität zu sein. Mit dem kybernetischen Denken wird in der symbolischen Darstellung/ der Notation der Mikroebene/ dem Körper dadurch Rechnung getragen, daß die Information eine als Pattern (Schema) definierte Semantik enthält (Couffignal 1963). Die Patterns sind in der symbolischen Sprache nur unvollständig abbildbar. Ein Pattern umfaßt den Kontext einer Information, eines Zeichens: also den vorbewußten, den unbewußten sprachlichen Bereich - Intuition ebenso wie Assoziation, bildliche Wahrnehmung u. ä. Insofern ist ein Pattern nicht auf die diskursive Sprache beschränkt, sondern gilt ebenso für das Bild. D a s heißt, mit der Kybernetisierung als Funktionalisierung der abstrakten symbolischen Sprache verliert diese ihren linearen Charakter, denn hier erhält das Zeichen nur über die Beziehung zum anderen Zeichen Bedeutung, wobei es die Beziehung, das Zwischen-den-Zeichen ist, das über das abstrakte Zeichen Form erhält und die Bedeutung des Zeichens bestimmt. Sprache wird zum „ikonischen Zeichen" (Couffignal), zur Sprachstruktur, zum Sprachbild. Die gegenständliche Form - dies gilt sowohl für die Schrift, für das Bild als auch für das technische Artefakt, für die Rechenmaschine - wird zum bloßen Träger der Bedeutung, ohne diese noch zu repräsentieren. Die Informierung ist damit bloße Gestaltung, bloße Formung im Rahmen einer immateriell materiellen Sprachstruktur. Das heißt, die symbolische Darstellung ist Träger - nicht Repräsentant - eines immateriell materiellen Kontextes. Die in der Logik der kybernetischen Maschine begriffenen Medien sind von jedem Sinn befreit, der über eine Sinngebung als bloße Strukturveränderung hinausgeht. Im Sinne Wieners, daß die Struktur eines Modells (Pattern) sich über die Informationsvermittlung herstellt und daß ein Modell seinen Sinn lediglich dadurch gewinnt, daß es eine Auswahl aus einer großen Anzahl möglicher Modelle ist. Marshall McLuhan (1968) hat konsequenterweise die Welt als bloß vermittelte, als bloßes Medium, als bloße Information verstanden; und hat dennoch die Medien, die Mediatisierung der Welt als eine Ausbreitung, Ausweitung des menschlichen Körpers bzw. seiner Funktionen begriffen, ohne in den philosophischen Substantialismus zurückfallen zu müssen. Denn das Wesentliche am Modell der kybernetischen Maschine ist ja, daß sie einen Formalismus bereithält, das Materielle, das Unbewußte, das Leben als vermittelte Funktion zu begreifen. Bedingung dafür ist die Auflösung der Materie als gegenständliche. Die Materie wird

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zur Beziehung, zum Zwischen, zum Rauschen; sie kann nur über die Darstellung, über die Mediatisierung, Form erhalten und entstehen. Insofern erscheinen die Medien obwohl zum immaterialisierten Träger geworden - dennoch als Notwendigkeit der Existenz, des Zustandekommens der Welt.

Mensch und Maschine als emergente/kontextuelle Sprache: Wahrnehmung als soziale Kommunikation Norbert Wiener hat zwar einem Verständnis von der Maschine als Medium zum Durchbruch verholfen und damit dazu beigetragen, daß die Sprache als funktionale Struktur verstanden werden kann und sich in Mikro- und Makroebene unterscheiden läßt. Die Dominanz des abstrakten Symbolsystems bleibt dennoch weitgehend unangetastet. Mensch und Maschine werden zum Gedächtnis, dem die Rolle eines Zentrums, einer Steuerungsinstanz innerhalb des Regelkreises zugesprochen wird. Die sinnliche Wahrnehmung, die körperlichen Funktionen werden als Empfangsstufe, die lediglich als eine Vorstufe zu den für die sinnvolle Sprachentwicklung notwendigen Begriffen und Abstraktionen definiert ist. Das Verständnis von der Maschine als Informationsübertragung ist noch an das technische Artefakt, an das Subjekt gekoppelt, da die Informationsübertragung die Beziehung zwischen Einheiten, zwischen Entitäten ist. Doch erscheint diese Einheit, die Identität bereits als eine brüchige, da sie - über die Beziehung, über die Interaktion definiert - als die Vielheit der Interaktionen wahrgenommen werden muß. Erst mit der immensen Erweiterung der Speicherkapazität und der damit einhergehenden Computerisierung des Experiments hat sich „das naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse von der Substanz auf die Kommunikation verlagert" (Prigogine/Stengers 1981, 12). Diese Immaterialisierung des naturwissenschaftlich/technischen Erkenntnisinteresses bedeutet, daß in der Bestimmung von lebenden Systemen nicht mehr von wahrnehmbaren materiell determinierten Einheiten ausgegangen werden muß, da die Materie nur noch als Code, als mathematisches Zeichenmodell existiert, das sich kommunizierend verhält. Der Neurophysiologe Humberto Maturana definiert Lebewesen - also auch Maschinen - als autopoietische Maschinen. Sein Konzept steht damit in Zusammenhang mit der Kybernetik 2. Ordnung. Maturana bestimmt Autopoiese als die Selbstorganisation eines Systems, wobei er sich vom Verständnis der kybernetischen Maschine leiten läßt, das „Verhalten" der Maschine jedoch vollends immaterialisiert. Die Organisation einer Maschine wird dabei nicht über die Eigenschaften der Bestandteile, die die Maschine als konkretes System verwirklichen, definiert, sondern lediglich über die Relationen, die von den Bestandteilen hergestellt werden müssen, um die Maschine oder das System als eine in sich geschlossene Einheit zu erzeugen. Anders als bei einer nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten konstruierten Maschine (wie der Uhr) unterliegt die Organisation beim Computer und ähnlichen Systemen strukturellen Veränderungen im zeitlichen Verlauf in zweifacher Hinsicht. Das

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heißt, daß sich nicht nur wie bei den Maschinen vom Typ Uhr die Beziehungen zwischen den Komponenten, sondern darüber hinaus die Eigenschaften der Komponenten selbst verändern. Aus diesem Grund entzieht sich der Computer einer Definition über seine materiellen Bestandteile (Maturana 1982, 183 ff.). Aus der Fähigkeit der zweifachen Strukturveränderungen ergibt sich ein wesentliches Kriterium der Autopoiese: sie entzieht sich der Beobachtung. Dies befreit die wissenschaftliche Analyse von der Notwendigkeit, bei der Definition, Beschreibung der materialen Dinge, Gebilde, die Frage nach der Ursache des Ursprungs der Bewegung der gegenständlichen Welt erklären zu müssen. Vielmehr kann die Welt - deren Existenz über die Autopoiese vorausgesetzt wird - allein über die Beobachtung der Wirkung des Verhaltens, also über die Beobachtung der beobachteten Kommunikation, erzeugt werden. Denn nur die Wirkungen von Funktionen können beobachtet werden. Mit der Autopoiese befreit Maturana die Funktion, das Verhalten, von jeglicher Referenz auf eine Einheit, auf das Subjekt oder technische Artefakt. Damit ist es Maturana gelungen, den Zusammenhang von Sprache und Existenz so zu bestimmen, daß nichts außer der Sprache existiert. Verhalten, Handeln ist vollends zur Sprache geworden. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das Verständnis von Sprache. Da die Setzung der Autopoiese als Wesensbestimmung von Lebewesen und Maschinen es erlaubt, diese nicht mehr als Entität, als Einheit definieren zu müssen, verschwindet das transzendentale Subjekt ebenso wie die Maschine als Gegenstand. Mit der Folge, daß die Mikroebene nicht mehr gegenständlich, substantiell angenommen werden muß. Die Koppelung, das Zwischen der Mikro- und Makroebene muß infolgedessen nicht länger als abstrakte formale Funktion gedacht werden, um die Unvereinbarkeit der materialen und der symbolischen Welten zu kompatibilisieren. Vielmehr wird die Funktion, die Kommunikation, das Zwischen, mit der Setzung der Autopoiese zur sensuellen/strukturellen Koppelung als bloße Funktion, als immaterialisierte Interaktion, als bloße soziale Kommunikation (Winograd/Flores 1989, 87ff. und 172f.)· Da die Interaktion zwischen im materialisierten Elementen stattfindet, kann die Kommunikation - so Maturana auch mit sich selbst geführt werden. Erkennen, Wahrnehmung und Beobachtung können damit äquivalent gedacht werden: als immaterialisierte soziale Kommunikation (vgl. dazu auch Luhmann 1987). Das Prinzip der Autopoiese zur Bestimmung des Lebens eröffnet der Informationswissenschaft, den Realisatoren der KI ganz neue Perspektiven. Denn mit der Autopoiese ist das Leben, der Ursprung des Lebens, der Beobachtung zwar entzogen, aber durch diese Ausklammerung ist es gerade möglich geworden, das Leben als bloß Menschliches, als bloße Sprache zu erzeugen. Die Autopoiese ermöglicht der wissenschaftlichen Beobachtung, die Dinge, die Welt als über die von dem Maschine-Mensch-System wahrnehmbaren Schnittstellen im Rahmen einer immaterialisierten sozialen Kommunikation zu definieren. Dies macht die Negation des Körpers in der Bestimmung von Mensch und Maschine, die bei Turing noch notwendig war, überflüssig, da der Körper, bislang der Träger des Lebens, nur noch als operationalisiertes Verhalten, als beobachtete Kommunikation, existiert.

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Mit dem Maschinen-Modell der Kybernetik, das auch dem Autopoiese-Modell zugrunde liegt, wird die Welt als ein kognitives Netz, als Sprachstruktur konzipiert, das die lineare Ausrichtung der vom Mechanischen geprägten Vorstellungen zugunsten zyklischer Zeitparameter verschwinden läßt. Die Realisierung des Mikrochip und der damit verknüpften Möglichkeit der Simulation des Parallel-Rechnens auf dem linear operierenden Von-Neumann-Computermodell hat das zyklische Erkennen des kybernetischen Modells experimentelle Realität werden lassen. Parallel-Rechnen bedeutet, daß in einem Rechenvorgang zeitgleich mehrere Verbindungen, Verknüpfungen hergestellt und berücksichtigt werden können, daß die Simulation des Verhaltens der materialen Welt als Zeichensystem nicht mehr nur die Simulation einer linearen Funktion ist, sondern zur Simulation der sozialen Kommunikation werden kann. Insofern gewinnen innerhalb der KI die auf den neuronalen Netzen basierenden Forschungsarbeiten der Neuroinformatik oder des Konnektionismus zunehmend an Bedeutung und lösen allmählich die auf dem Turingschen Maschinenmodell basierende Klassische KI ab bzw. machen diese zu einem Sonderfall des kybernetischen Denkens (Coy 1988). Das heißt, es finden innerhalb der Informatik seit einigen Jahren grundlegende Paradigmenwechsel statt, die im wesentlichen als die Ablösung der Informatik von der Theorie und als ihre Hinwendung zur angewandten Informatik beschrieben werden kann. Die an den neuronalen Netzwerken orientierten Ansätze verstehen Kognition nicht mehr nur als ein Modell, das Verhalten als ein Stimulus-Response-Schema begreift, indem ein bestimmtes Muster eine bestimmte Aktion auslöst, sondern als die Kategorisierung, die Formalisierung all dessen, was wahrnehmbar ist. Insofern hat der Konnektionismus - anders als die Klassische KI - nicht die komplexen, auf der formalen Logik beruhenden Denkleistungen auf hohem Niveau als Ausgangspunkt, „sondern die scheinbar so trivialen, da uns so leicht fallenden Aufgaben wie Erkennen (Wahrnehmen), Intuitiv-Schließen und Assoziieren" (Dorffner 1991, 13). Die subsymbolische KI, wie der Konnektionismus auch bezeichnet wird, ordnet den zwei Ebenen des Symbolischen und des Körperlichfunktionalen verschiedene Mechanismen, Formalismen zu. Die unbewußte Ebene wird dabei als die zugrundeliegende angesehen, in die ein bewußter Symbolmechanismus eingebettet bzw. aus der ein solcher hervorgehen muß (Dorffner). Mit diesem Verständnis einer ganzheitlichen Intelligenz wird die Vorstellung einer zentralgesteuerten signalgebenden und -empfangenden Einheit - wie noch bei der Maschine Wieners - aufgegeben. Mensch und Maschine werden nicht mehr als Gedächtnis begriffen, das als steuerndes Zentrum die operationalisierte materielle Welt regelt und kontrolliert. Vielmehr lösen sich hier jegliche auf Substanz verweisende Systemgrenzen auf. In einem neuronalen Netzwerk stellen Inputs und Outputs die Schnittstellen zur Außenwelt dar, über die das Verhalten des Netzwerks beobachtbar und insofern „sinnvoll" wird (Dorffner 1991, 16ff.). Das Verhalten der Maschine ist nicht mehr die Struktur als Beziehung zwischen kommunizierenden Einheiten, sondern die bloße Struktur als ein immaterielles Netz von Kommunikationsbeziehungen, ist die beobachtete Simulation der sozialen Kommunikation.

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Die Relevanz dieses materiellen Immaterialismus wird dadurch forciert, daß die auf der Basis der neuronalen Netze betriebene KI-Forschung verspricht, eine von der materialen Substanz vollends gelöste, universelle kognitive Struktur - die bloße Software - realisieren zu können. Eine bloße Software, die sowohl auf Kohlenstoff wie auf Silizium als materielle Träger implementierbar sei (Coy 1988). Ähnliche Absichten äußert auch der Konnektionismus. Mittels „Non-Von(-Neumann)-Architekturen" will er immaterielle, sich selbst erschaffende Systeme realisieren. Die neuronalen Netzwerke des Konnektionismus gelten als adaptive Systeme; sie müssen nicht mehr programmiert werden, da sie als lernende und sich selbst organisierende Systeme ihr Verhalten aus geeigneten Beispielen lernen und verändern können (Dorffner 1991, 29 ff.). Die mit den neuronalen Netzen arbeitende KI-Forschung gesteht zwar eine gewisse Analogie zu neurophysiologischen Erkenntnissen ein, betont jedoch, daß die auf den neuronalen Netzen basierende KI nicht versucht, den Menschen nachzubilden, obwohl sie sich stärker an der Wirkungsweise des Gehirns orientiert als die Klassische KI. Ähnlichkeit und Analogie sind die Begriffe, die Nachahmung und Abbild ablösen. Insofern kann die Unterscheidung von Mensch und Maschine in der Informatik, in der KI-Forschung - anders als mit dem Maschinenmodell Turings, in gewisser Weise auch Wieners - wieder zugelassen werden, da die Technik den Menschen nicht mehr nachahmt, sondern sich durch Ähnlichkeit und Analogien realisieren will (Coy 1988). Was wie eine Befreiung des Menschen von den Zwängen des Technologischen, wie ein Triumph des Sozialen über das Technische scheint, bedeutet m. E. jedoch nur, daß es gelungen ist, den Menschen als individuelles Element und die Maschine als technisches Artefakt zum immaterialisierten Medium des Technologischen als einer immaterialisierten funktionalen Sprache, als einer immaterialisierten sozialen Kommunikation zu machen. Die KI - als formales abstraktes Symbolsystem verstanden - hat das Empirische, die Realität äquivalent mit dem abstrakten Formalismus gesetzt; damit generierte sich die Technologie aus dem potentiell unbegrenzt Denkbaren/Darstellbaren. Das auf neuronalen Netzwerken basierende KI-Modell ist die Realisierung des Technisch-Möglichen als simulierte soziale Kommunikation. Das Technisch-Mögliche, die Mikroebene, aus der die abstrakte Sprache der subsymbolischen KI hervorgeht, ist damit nicht mehr - wie bei Wiener - die bloße Information, die Interaktion. Technologie wird hier zur Beobachtung/Kommunikation des Technisch-Möglichen, das die beobachtete Simulation des Verhaltens als soziale Kommunikation ist. Das Empirische, die technische Realität, ist zur beobachteten Funktion als soziale Kommunikation geworden ohne äquivalent mit der abstrakten Symbolsprache, mit dem sie darstellenden Formalismus gedacht werden zu müssen, obwohl sie nicht anders als durch Beobachtung Bedeutung erhält. Technologie ist damit zum unbegrenzt Technisch-Möglichen, zur unbegrenzt erzeugbaren Realität, insofern analog zur Bedeutungsproduktionen im Kontext der sozialen Kommunikation geworden. Die Differenz von Mensch und Maschine ergibt sich also nicht aus einer Renaissance des Subjektmodells, sondern aus dem emergenten/kontextuellen Sprachverständnis der

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kybernetischen Maschine, d. h. der Kybernetik 2. Ordnung. Diese ermöglicht oder bedingt die völlige Immaterialisierung der an der Kommunikation, an der Spracherzeugung beteiligten Elemente. An der Darstellung der subsymbolischen KI sollte deutlich geworden sein, daß sie die Auflösung des technischen Artefakts zur Bedingung hat. Ein individuelles Element - sei es Mensch oder Maschine - kann nur über die Beobachtung der Wirkung der vermittelten sozialen Kommunikation im Kontext der sozialen Kommunikation gedacht werden. Insofern ist Mensch und Maschine als einzelnes Element mit der Kybernetik 2. Ordnung zum immaterialisierten Mediums der sozialen Kommunikation geworden, also nur existent als ein zu einem immateriellen Ganzen in Beziehung stehender immaterieller Teil. Zwar steht für Maturana „außer Frage, was Realität ist: ein Bereich, der durch Operationen des Beobachters bestimmt wird. Menschen können über Gegenstände sprechen, da sie die Gegenstände über die sie sprechen, eben dadurch erzeugen, daß sie über sie sprechen." (Maturana 1982,264.) Aber dies bedeutet nicht, daß die Welt von einem als Subjekt gedachten Beobachter erzeugt wird, sondern Wahrnehmen, Erkennen eines einzelnen Elements/des Menschen steht im Kontext einer immaterialisierten Sprachstruktur. Wenn jedoch mit dem kybernetischen Denken 2. Ordnung der Mensch nur noch als immaterialisiertes Medium einer sozialen Kommunikation gedacht werden kann, die ihre Sozialität, Materialität, nur über die Beziehung des immaterialisierten Mediums Mensch zur sozialen Kommunikation herstellen kann, ist das Zustandekommen der Bedeutung lediglich über die Referenz auf das, was vorausgesetzt, was bloße Setzung ist, möglich. Die Differenz von Mensch und Maschine gerät damit zur bloßen Konstruktion der getroffenen Voraussetzungen. Mit der Kybernetik 2. Ordnung wird - wie beschrieben - Wahrnehmung und Kommunikation äquivalent; Technologisierung ist folglich die Ästhetisierung als bloße Organisation von Zeichenrelationen. Obgleich darin eine Analogie zur postmodernen Ästhetik zu liegen scheint, bestehen tatsächlich fundamentale Unterschiede. Die Ästhetik als soziale Kommunikation ist die pragmatische Wendung der Postmoderne. Denn die Funktionalisierung der Sprache im Rahmen einer pragmatisch-technologischen Ästhetik geschieht über die Differenz der Zeichen, die zwar - v i e in der postmodernen Ästhetik immaterialisiert sind, jedoch ihre Bedeutung über die Relation zum sprachlichen Kontext, zur immateriellen sozialen Kommunikation gewinnen, nicht über das Undarstellbare. Das Undarstellbare kann in der pragmatisch-technologischen Ästhetik nicht mehr gedacht werden, da die Annahme der Sprache als kontextuelle etwas Nicht-Sagbares also das Undarstellbare - als Existierendes nicht denken läßt, denn das Gesagte steht hier immer schon in einem sprachlichen Kontext - und sei es in Relation zum Nicht-Gesagten. Insofern erscheint eine Ethik als implizite Notwendigkeit der pragmatischen Ästhetik, um die Bedeutungsproduktion im Rahmen einer immaterialisierten selbstreferentiellen materialen Kommunikation zu gewährleisten. Da die Bedeutung ausschließlich über die Beziehung der relational gedachten Zeichen, über die Differenz von Gesagtem und Noch-nicht-Gesagtem entsteht, kann die Ästhetik als kontextuelle Sprache/soziale Kommunikation als relationale Erkenntnis betrachtet werden. Dies schließt zwar jeden

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Anspruch auf eine universelle objektive Wahrheit aus; ebensowenig ist damit die Relativität der Erkenntnis des Perspektivismus gemeint (Wittgenstein 1991, 9ff.), der ja immer noch an das Subjekt geknüpft war. Jedoch liegt in der Ästhetik als soziale Kommunikation die Möglichkeit, unendliche Zeichenkombinationen, Bedeutungen zu erzeugen und diese dennoch - anders als die Postmoderne - zumindest als relationale Wirklichkeiten betrachten zu können. Die Zeichengenerierung als Beobachtung der vermittelten Empirie bildet die Realität zwar nicht ab, aber über die Annahme der Emergenz der Sprache eröffnet sich die Möglichkeit, die Beobachtung als Ausdruck der medialisierten Kommunikation des Anderen/des Realen zu denken. In der Annahme einer relationalen Wahrheit liegt nicht nur die Begründung der Möglichkeit — oder sogar Notwendigkeit — einer Verknüpfung von Ästhetik und Ethik, sondern darin wird auch der wesentlichste Unterschied zur Postmoderne deutlich, die jede Verbindung zwischen Zeichen und Wirklichkeit verweigert und sich damit einer Ethik entzieht. Die Pragmatisierung der postmodernen Ästhetik kommt auch in dem Konzept der Solidarität, das Richard Rorty an die Stelle des wissenschaftlichen Anspruchs auf eine universelle objektive Wahrheit setzen möchte, zum Ausdruck. Er umschreibt mit dem Begriff der Solidarität ein relationales Verständnis von Erkenntnis. Mit dem Begriff der Solidarität soll die Sozialität der Selbsterschaffung, der Selbstbeschreibung, die die Voraussetzung der relationalen Erkenntnis ist, in der postmodernen Ästhetik jedoch fehlt, gewährleistet werden. Dies soll aber nicht der tatsächlichen Begrenzung der potentiellen Unendlichkeit der Zeichenproduktion - wie sie auch die Postmoderne enthält - dienen, sondern vielmehr die Möglichkeit eröffnen, dieser - obwohl durch nichts als sich selbst begrenzt - den Anschein einer Fremdreferenz zu geben. Rorty metaphorisiert den Begriff der Solidarität mit dem „Erzählen der Grausamkeit" (1992), was sicher nicht zufällig auch an Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit" (1983) erinnern soll. Artauds Theater der Grausamkeit ist die Infragestellung einer den Körper unterdrückenden, normierenden Rationalität, formalen abstrakten Sprache, die über die damit beabsichtigte Erzeugung des Chocs ein soziales Moment gewinnt. Rorty „begrenzt" mit dem Begriff der Solidarität die Spracherzeugung als poietischen Prozeß der postmodernen Ästhetik, indem er zwar die Negation des Subjekts von dieser übernimmt, aber das Moment des Sozialen hinzufügt, das jedoch anders als bei Artaud nicht mehr das Subjekt meinen kann. Das Soziale in Rortys Begriff der Solidarität ist der völlig formalisierte/ immaterialisierte, also technologisierte Andere, als sprachliche Beziehung, als sprachlicher Kontext. Mit der kybernetischen Maschine als emergente/kontextuelle Sprache ist es gelungen, die Ästhetik als Transgression von der Mikroebene in die formale Darstellung zu generieren. Ästhetik wird zur Kunst, zur Technik als die bloße Organisation von Zeichenrelationen, von Kommunikationsbeziehungen. Und das Wesentliche hieran ist: anders als bei Rousseau ist die symbolische Darstellung nicht mehr bloße Fiktion, sondern eine relationale Erkenntnis. Insofern ist das Subjektive Rousseaus nicht mehr die Natur als der Wille, das „ich will" eines Subjekts. Die Mikroebene der kybernetisierten Ästhetik ist das „ich will" im Kontext des „du sollst", ist die Beobachtung der vermittelten sozialen Kommu-

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nikation im Kontext der immateriellen sozialen Kommunikation. In Anbetracht dessen, daß die Beobachtung sich zunehmend auf eine technisch erzeugte, d. h. technisch beobachtete und vermittelte Kommunikation - sei es in den verschiedenen Alltagsmedien, sei es in der Medizin oder in den Naturwissenschaften u. ä. - beschränkt, könnte man sagen, daß die Mikroebene, der Körper, das als vermittelte Kommunikation

beobachtbare

Reale, zum Technisch-Möglichen geworden ist, daß insofern die soziale Kommunikation - wie mit dem Konnektionismus gezeigt - aus dem Technisch-Möglichen hervorgeht. Asthetisierung hätte sich insofern von der Technologisierung als die formalisierende Transgression vom Leben in die Imagination, in die Technologisierung als die formalisierende Transgression vom Technisch-Möglichen in die immaterialisierte soziale K o m m u nikation gewandelt.

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IV Verantwortung des Anderen

Vivian Sobchack

Die Materie und ihre Passion Prolegomena zu einer Phänomenologie der Interobjektivität

Wo sollen wir die Grenze zwischen Leib und Welt ansetzen, wenn die Welt Fleisch ist? 1 Maurice Merleau-Ponty

Als zentral für jedes Verständnis der Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik ist diese Frage nach der „Grenze zwischen Leib und Welt" eine Frage, die nicht allein von Merleau-Ponty in seinem Werk „Das Sichtbare und das Unsichtbare", sondern genauso von Jean-Paul Sartre in seinem Roman „Der Ekel" untersucht wurde. O b sie nun in Begriffen gestellt wird, die an existentielle Leichtigkeit oder an Verzweiflung, an ein inniges Verbundensein mit der Welt oder an eine Entfremdung von ihr, an die Erfahrung ehrfürchtiger oder furchtbarer Begegnungen mit weltlichen „Dingen" denken läßt, so problematisiert doch diese Frage die sinnlich wahrnehmbare Objektivität subjektiven Seins; und inwiefern es dem empfindbaren Sein der objektiven Materialität der Welt ähnlich oder unähnlich ist. Insofern diese Objektivität besonders bei Merleau-Ponty auf dem allgemeinen und substantiellen Boden des „Fleisches" ruht, suggeriert diese Frage in der Tat, daß Leib und Welt über die Passivität miteinander verflochten sind. „Verflochten", weil Leib und Welt im selben stofflichen Medium existieren - oder genauer, weil beide im selben Medium existieren, das Stofflichkeit oder „Materialität" ist. „Uber die Passivität", weil, wo die Beziehungen zwischen Leib und Welt „im Fleisch" angelegt sind, die Frage ihrer wechselseitigen Verstrickung in zwei sich beinhaltenden Definitionen von „Passion" gestellt werden kann, deren Sinn in der allgemeinen, jedoch subjektiv begründeten Umkehrbarkeit von Subjekt-Objekt-Beziehungen ausgemacht und nur der Modalität nach unterschieden wird. Einerseits heißt Passion „erleiden"; hier handelt es sich um „den Zustand oder die Fähigkeit, dem Wirken äußerer Handelnder oder Kräfte ausgesetzt zu sein". In ihrer stofflichen Existenz sind sowohl Subjekte wie Objekte fähig zu erleiden. Weil es gerade als ein Objekt entweder von einem intentionalen Körper-Subjekt (beispielsweise von einem „Folterer") oder von einem nichtintentionalen weltlichen Objekt (ζ. B. einem alles

1 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 182.

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verwüstenden Wirbelsturm) konstituiert wird, „erleidet" das Körper-Subjekt und vermag zu verstehen, was es heißt, von außen her erfaßt zu werden und Wirkungen ausgesetzt zu sein - versteht also in seinem subjektiven Bewußtsein, ein lebendiger Körper zu sein, den Sinn dessen, was es materiell bedeutet, „ein Objekt zu sein". Hierin liegen, worauf ich hinweisen möchte, die materiellen Grundlagen der Bedeutung, die unserem ethischen Verhalten anderen und der Welt gegenüber zugrunde liegt: Anerkennung seiner selbst und Sorge um sich selbst als ein objektives Subjekt, das ohne Rücksicht auf sein eigenes Wollen von außen her Wirkungen ausgesetzt sein kann und fähig ist, dies auch zu fühlen. Andererseits wurde Passion als aktive Hingabe an die objektive Welt und an andere, als ein „starkes, treibendes, überwältigendes" Gefühl definiert, das unseren bewußten Willen erdrückt, dabei aber von innen her auf uns einwirkt.2 Wie das Erleiden übersteigt diese Hingabe unser Wollen, im Unterschied jedoch zum Erleiden gehört es zu unserer Wirktätigkeit. Es bringt unsere Verbundenheit zu anderen und zur Welt, unser Verlangen zur Geltung, sie zu berühren, sie zu umfassen und zu besitzen, ihre Objektivität auf ganz vertraute Weise zu erfahren - sie wirklich als unsere eigene zu verstehen. Dieser überwältigende Umgang mit der Welt ist ein überwältigendes Selbst-Interesse, das den Sinn dessen zu begreifen versucht, was es materiell heißt, „ein Subjekt zu sein". Damit möchte ich an die materiellen Grundlagen der Bedeutung erinnern, die unserem ästhetischen Verhalten der Welt und den anderen gegenüber zugrunde liegt: Sorge um das eigene Selbst und dessen Anerkennung als ein subjektives Objekt, fähig, auf innerliche Weise gegenüber der objektiven Welt und den anderen in Überschreitung unseres eigenen und der anderen Willen zu handeln und die Kraft der Welt und der anderen, uns umhüllend zu ergreifen, als gleich zu verstehen. Wo er „Fleisch" als gemeinsame Materialität setzt, die das Sein des Subjekt-Körpers und der weltlichen Objekte begründet, wird Merleau-Pontys Frage nach der Grenze zwischen Leib und Welt nicht nur eine Frage nach der passionierten wechselseitigen Umhüllung existentieller Subjekte und Objekte, sondern ebenso eine Frage nach ihrer chiasmatischen Beziehung. Er legt also nahe, daß das Körper-Subjekt und die Welt in ihrer Verflechtung, wo sie different in ihrer Seinsart bleiben, nichtsdestoweniger in gewisser Weise reversibel sind: beide fähig zum Sein als „Erleiden", d. h. als Wirkungen erfahrend, und beide fähig, als Sein auf etwas einzuwirken. So im „Fleisch" begründet dem Materiellen, um das es ganz konkret geht - scheint mir die Doppelstruktur der Passion und der subjektiv-begründeten Umkehrbarkeit von Leib und Welt entscheidend für unser axiologisches Verständnis, wie subjektive Bedeutung objektiv hergestellt und in der Welt in zwei ihrer positiven und sich wechselseitig beeinflussenden Modalitäten umgesetzt wird: Ethik und Ästhetik. Ich möchte tatsächlich nachweisen, daß die umkehrbaren Beziehungen zwischen Leib und Welt und die zweifache Passion des „Fleisches" des Körper-Subjekts in all seinem

2 Webster's Ninth Collegiate Dictionary, Springfield, MA 1988, 860.

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Erleiden und seiner glühenden Hingabe an die objektive und materielle Welt sowohl die Möglichkeitsbedingungen als auch die konkreten Voraussetzungen dafür liefern, daß wir das präreflexiv gelebte und einfache System mit reversibler Eigenschaft reflexiv als Ethik und Ästhetik ausdifferenzieren. Um es noch deutlicher zu machen: Ich möchte zeigen, daß die oftmals als „geistig" oder „erhaben", als auf transzendentalen Begriffen wie „das Heilige" oder die „Gnade", „Sittlichkeit", „Schönheit" und „Idealform" basierend beschriebenen Erfahrungen der menschlichen Existenz überhaupt keine transzendentalen Erfahrungen sind. Sie sind vielmehr transzendent „im Fleisch" — begründet auf Fleischwerdung und Materialität. Tatsächlich führen solche transzendentalen und metaphysischen Erklärungen der überschreitenden Momente des lebendigen Leibes, die den Geist vom Fleisch trennen und ihn über das Stoffliche erheben, das Bewußtsein von der Materie lösen und es über sie stellen, Ethik und Ästhetik als nicht-sensorische und immaterielle, als bloß philosophische Gebilde ein, die keine Bedeutung haben können, weil sie nicht als stoffliche Grundlage dienen. Gerade hier würde mich besonders eine unter phänomenologischem Blickwinkel vorgenommene Untersuchung der materiellen Grundlage von Ästhetik und Ethik und ihrer wechselseitigen Beziehung interessieren. Ich möchte gern verstehen, wie es möglich ist, daß materielle Objekte in der Welt, indem sie uns durch unsere Sinne „berühren", nicht nur für unser eigenes „Fleisch" fühlbar sind, sondern uns ebenso dem „Fleisch" der Welt und der anderen ergeben und ihnen gegenüber verantwortlich machen können. Ich möchte gern zeigen, daß wir nur in unserer tiefen, unvollständigen und seltenen subjektiven Anerkennung unserer selbst als materielle Objekte am vollen Sein der Welt teilhaben und nicht nur eine oberflächliche Passion für das Materielle, sondern ebenso die existentielle Passion des Materiellen fühlen können. Nur durch das Begreifen des unentwirrbaren Geheimnisses unserer eigenen „Objektheit" können wir unser eigenes Selbst hinreichend aus den Augen verlieren, um „transzendent" von der „Schönheit" und „Erhabenheit" der Sonnenuntergänge oder vom „Erleiden" und der „Passion" stofflicher Anderer und materieller Objekte, die unsere Umgebung bilden, ergriffen oder von einer plötzlichen Ehrfurcht und Achtung vor der „Heiligkeit" der ganzen weltlichen Existenz „überwältigt" zu werden. Kurz: Um die Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik besser zu verstehen, möchte ich eine Phänomenologie einer Art gelebten Engagements in der Welt vorschlagen, die ich Interobjektivität nenne. Ich möchte eine solche phänomenologische Untersuchung des subjektiven Empfindens, das wir von der Umkehrbarkeit zwischen uns selbst in unserer Materialität und dem objektiven Stoff der Welt haben, mit einer der berühmtesten und nicht zuletzt zuversichtlichsten Begegnungen zwischen Leib und Welt beginnen: Es handelt sich um das Zusammentreffen zwischen dem lebendigen Leib Antoine Roquentins und dem Kastanienbaum der Welt in Sartres „Der Ekel". Für Roquentin ist die phänomenale Dichte des Seins, d. h. der Kastanienbaum, vollständig anders als das Nichts, d. h. sein wahrnehmendes Bewußtsein. Trotzdem: Das Gewahrwerden des Gewichtes des Baumes und seiner Andersheit durchdringt ihn kraft und in Form seines eigenen phänomenalen Körpers:

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„Es erdrückt mich", sagt er. „Überall dringt die Existenz in mich ein, durch die Augen, die Nase, den Mund." Als die Kastanie auf seine Augen drückte, begriff er, „daß es zwischen der Nicht-Existenz und dieser lustvollen Üppigkeit keinen Mittelweg gab. Wenn man existierte, so mußte man bis dahin existieren, bis zum Verschimmeln, bis zum Aufgeschwemmtsein, bis zur Schamlosigkeit." Durch das Nichts, d. h. sein wahrnehmendes Bewußtsein, versteht der entsetzte, angewiderte und angeekelte Roquentin: „Diese Wurzel - in ihrer Farbe, ihrer Form, ihrer ersurrten Bewegung - überstieg jede Erklärung", entzog sich jeder menschlichen Bedeutung, jeder Eigenschaft - sie war völlig zufällig, überflüssig und einfach „da". Er ist überrascht von der Passivität der Immanenz: „Existieren, das heißt einfach: da sein. Die Existierenden erscheinen, sie lassen sich antreffen, aber niemals kann man sie herleiten." Und in diesem (auch als „gräßliches Vergnügen" beschriebenen) Zustand des Ekels stellt Roquentin die Frage nach der Grenze zwischen der passiven Immanenz der Welt und der immateriellen und wesentlichen „Gelebtheit" des Leibes in Begriffen des Seins und des Nichts - wenn er die Dichte der Existenz in der Welt und das subjektive Bewußtsein, das als Nicht-Ding, als Nichts existiert, gegenüberstellt und doch verbindet, behauptet er: „Ich war die Wurzel des Kastanienbaums. Oder vielmehr: ich war das Bewußtsein ihrer Existenz. Noch war ich gelöst von ihr - da ich mir ja ihrer bewußt wurde —, und doch war ich verloren in sie, nichts anderes als sie." Die objektive Welt ist für Roquentin dicht und vollständig, trotz ihrer scheinbaren Aktivität unfähig zum Dasein-in-der-Zeit oder zum Werden. Aus den Tiefen seines Inneren aufsteigend wartet er auf die Bewegung des Baumes, versteht sie aber als etwas „Absolutes". „Meine Augen erblickten nur Volles," erzählt er, „es wimmelte von Existenzen an den Spitzen der Zweige, Existenzen, die sich unaufhörlich erneuerten, niemals aber geboren wurden." Doch der Schauer des Baumes „war nicht eine werdende Eigenschaft, nicht ein Übergang von der Kraft zur Tat; er war ein Gegenstand. Ein gegenständlicher Schauer wogte in dem Baum, bemächtigte sich seiner, schüttelte ihn und ließ plötzlich ab von ihm". Roquentin, der sich dieser ganzen Empfindungslosigkeit und Zufälligkeit der äußerlichen Natur bewußt ist, ist „betäubt, niedergeschlagen von diesem Überquellen herkunftloser Wesen...: überall ein Aufblühen, ein Sichtentfalten." Er erzählt uns: „Meine Ohren dröhnten vor Existenz, mein eigenes Fleisch zuckte, öffnete sich halb, gab sich dem allgemeinen Knospen hin - es war widerlich." 3 Hier also, „im Fleisch", liegt Sartres Entfremdung vom Dichten, von der Materialität, von der Existenz des objektiven Fleisches, das für Merleau-Ponty Grundlage sowohl des Wahrnehmungs-, des verkörperten Bewußtseins als auch der objektiven Existenz der Welt ist, das Element, das zwischen ihnen eine Gemeinschaft begründet. Für Sartre scheint es keinen gemeinsamen Grund für das subjektive Bewußtsein und das Objekt in der Welt zu geben, zwischen dem Nicht-Sein, das Nichts, kein „Ding", sondern die Wahrnehmungs- und Reflexionstätigkeit ist, d. h. das Leben des Subjekt-Körpers aus-

3 Jean-Paul Sartre, Der Ekel, Reinbek 1981, 135-143.

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macht, und dem vollen und dichten Ding, d. h. dem rohen Objekt-Körper, der nicht im besonderen, sondern allgemein in der aufblühenden, dröhnenden Verwirrung und der skandalösen Objektivität des passiven und „allgemeinen Knospens" der Welt erfaßt wird. Roquentins Bewußtsein ist also angeekelt von dem Gedanken, vom bloßen Fleisch entweder absorbiert zu werden oder ihm preisgegeben zu sein, das zwar eine solche Sensibilität erlaubt, das aber zur gleichen Zeit über jede Erklärung - d. h. über das Wollen, Denken, Verstehen - hinausreicht und ihr entgeht. Zu Beginn des Romans sagt er: „Die Dinge dürfen einen nicht berühren, denn sie leben nicht. Man bedient sich ihrer, stellt sie auf ihren Platz, man lebt mitten unter ihnen - sie sind nützlich, sonst nichts. Aber mich, mich berühren sie, und das ist unerträglich. Ich habe Furcht vor ihrer Berührung, ganz als wären es lebende Tiere." 4 Roquentin ist angewidert und voller Furcht bei dem Gedanken an die leidenschaftliche Vermischung zwischen dem „Fleisch" seines eigenen entfremdeten lebendigen Leibes und dem „Fleisch" der Welt. So ist Sartre zufolge für das „Wesen" und das Nichts, d. h. das existentiell bewußte und transzendente Subjekt, das Etwas, d. h. das existentielle und immanente Objekt, immer das abstoßende und doch notwendige Fleisch, d. h. „anders". Gibt es in dieser entfremdeten Beziehung die Möglichkeit einer Alternative? In welcher Weise kann wahrnehmendes Bewußtsein Erleichterung und intensive Lust an der gewöhnlichen Dichte seines eigenen Fleisches und der Dinghaftigkeit der Dinge der Welt erfahren oder am Gefühl und der Anerkennung, daß das eigene Fleisch alle Erklärung übersteigt und zu einem „allgemeinen Knospen" „ursprungslos reiner" Immanenz gehört? Erfahrung lehrt uns, daß wir nicht immer von der Objektivität der Welt entfremdet sind, sondern uns ihr manchmal hingeben - und nicht bloß in der gemeinhin als „Warenfetischismus" beschriebenen negativen und reduzierten Weise. „Gräßliches Vergnügen" hat sein Gegenstück in unserem Empfinden des „Erhabenen". Die widerwärtige Durchdringung unseres subjektiven Bewußtseins durch das existentielle „Dasein" der Welt und der ekelige Widerstand unserer lebendigen Körper gegen unseren Willen können ebenso als intensiv lustvolles „Hiersein", als Befreiung von den Zwängen des auf Bewahrung bedachten Selbstseins und als Umarmung der Fülle und „Erfüllung" des Seins erfahren werden. Sogar Sartre hatte via Roquentin seine freudigen Augenblicke, verspürte Lust und war subjektiv eher gelöst als vom „Dasein" der Welt auf gemeine Weise überwältigt. Man könnte den Roman „Der Ekel" gewiß gegen den Strich, in glücklicher Perversität, lesen. Sicherlich verspürt Roquentin ein einem Oxymoron vergleichbares „kleines Glücksgefühl des Ekels", wenn er Jazzmusik hört - doch die Substanzlosigkeit oder das GedrängtAndauernde der Musik, ihr zeitliches, die zeitliche Existenz von Roquentins Gegenwart transzendierendes Wesen ist eher eine Repräsentation des Bewußtseins als des Fleisches.5 Gleichwohl macht Roquentin eine andere sanguinische Erfahrung der Welt - und findet

4 Ebenda, 17. 5 Vgl. ebenda, 28.

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Vergnügen „am Fleisch", jenem Generalnenner der Sensitivität subjektiven Bewußtseins und der Sensibilität der materiellen Dichte der Welt. Zu Beginn des Romans ebenso ausführlich beschrieben wie in der späteren Begegnung mit dem Kastanienbaum, erfährt Roquentin die Welt in einer gegenseitigen Umarmung. Passenderweise macht er gerade an einem Sonntag die Erfahrung der heiligen Natur des Immanenten, der „Zufälligkeit", verwandelt in die „Gnade" des bloßen „Daseins" der Welt in seiner ganzen Fülle und Erfüllung. Auch diese Erfahrung beginnt in den Parkanlagen, die, wie Roquentin erzählt, ihm „zulächelten". „Auf den Bäumen, auf dem Rasen lag ein leichtes Lächeln. Beschreiben konnte man es nicht, man hätte schnell vor sich hin sagen müssen: ,Das sind öffentliche Anlagen, es ist Winter, ein Sonntagmorgen.'"6 Die sonntägliche Welt ist verwundet in nicht transzendentalem Sinne; sie ist, besser gesagt, in der Fülle ihrer genauen, dichten und allgemeinen Objektivität reizvoll. Roquentin bewegt sich um sie herum (und wichtiger: durch sie hindurch) und beschreibt all ihre Umrisse, ihr ganzes allgemeines Knospen sowie alle Eigenschaften des Lichtes, die ihr Sein sichtbar machen. Objekte, Subjekte, Lichter, Welt - ihr gemeinsames „Fleisch" führt zu einem Bewegen, „Berühren", Vervielfältigen des Seienden. Am Ende dieses Sonntags wie auch seiner Beschreibung (die ebenso empfindsam wie genau ist) schreibt Roquentin: „Eine Gaslaterne blitzte auf. Ich meinte, der Laternenanzünder sei vorbeigegangen. Die Kinder spannen auf sein Erscheinen, denn er gibt das Zeichen zur Heimkehr. Aber es war nur ein letzter Sonnenreflex. Der Himmel war noch klar, aber die Erde lag schon im Halbdunkel. Die Menge lichtete sich, man hörte sehr deutlich das Rauschen des Meeres. Eine junge Frau stützte sich auf die Einfassung, blickte mit einem blauen Gesicht zum Himmel auf, ihr Lippenrot war nur noch ein schwarzer Strich. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich nicht die Menschen lieben könnte. Aber letzten Endes: es war ja ihr Sonntag und nicht der meine." 7 Doch trotz seines Einwandes ist es sein Sonntag. Er fährt deshalb fort: „Als erstes entzündete sich das Licht des Leuchtturms von Caillebotte; ein Knabe blieb neben mir stehen und murmelte hingerissen: ,Oh, der Leuchtturm!' In diesem Augenblick spürte ich in mir das unwiderstehliche Gefühl des Abenteuers." Auf seinem weiteren Weg grübelt Roquentin über das Geschehen, das Eintreten ins Sein, über dieses plötzliche Gefühl der Fülle, das ihn befällt: „Nichts hat sich geändert, und doch existiert alles auf eine andere Art. Ich kann es nicht beschreiben. Es ist wie der Ekel - und doch ist es auch wieder gerade sein Gegenteil: endlich stößt mir ein Abenteuer zu, und wenn ich mich selbst befrage, sehe ich, daß es mir zustößt, daß ich ich bin und daß ich hier bin; ich bin es, der durch den Abend schreitet, und ich bin glücklich wie ein Romanheld." Und als er die Rue Basse-de-Vieille erreicht, erzählt er uns: „Ich weiß nicht, ob die Welt plötzlich zusammengeschrumpft ist oder ob es an mir selbst liegt, daß alle Laute und alle Formen

6 Ebenda, 47. 7 Ebenda, 60f.

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sich zu einer so starken Einheit verbinden: auf einmal kann ich nicht mehr begreifen, daß alles, was mich umgibt, anders sein soll, als es ist." 8 Draußen, vor dem Cafe Mably, in dem er ein „feines Gesicht" sieht, „das gegen den granatfarbenen Hintergrund steht", sagt Roquentin: „Alles ist stehengeblieben, mein Leben ist stehengeblieben: diese große Fensterscheibe, diese schwere, wasserblaue Luft, diese fette weiße Pflanze auf dem Grunde des Wassers, und ich selbst — wir bilden ein unbewegliches, bis an den Rand gefülltes Ganzes: ich bin glücklich." Selbstverständlich findet Roquentins Sonntag in einem Gefühl der Verbitterung über die Leere, sobald das Abenteuer der Welt ihn verlassen hat, und über die Willkür, mit der dieses Gefühl der Erfüllung ohne seinen Willen sich einstellt und schwindet, ein befremdliches Ende. Unter Montag schreibt er: „Was mich im Grunde so anwidert, das ist, daß ich gestern abend ,erhaben' war. . . . Ich muß mich durch abstrakte, wasserklare Gedanken reinigen." So wie es hier angesprochen wird, läuft das Erhabene substantiell dem abstrakten Gedanken zuwider. Wie die Erfahrung ertragenen Ekels geht die Erfahrung der Ergebung an die Welt, die das Erhabene anzeigt, aus einer gewissen materiellen Kommunion des Subjekt-Körpers mit der objektiven Welt hervor und wird zur Erfahrung, subjektiv von der Objektivität in einem konkreten, wenn auch flüchtigen Erfassen dessen und durch das gestreift zu werden, was Merleau-Ponty „Fleisch" nennt. Für Merleau-Ponty werden sowohl das wahrnehmende Bewußtsein als auch die Welt, Körper-Subjekte und weltliche Objekte in ihrer Existenz zur gleichen Zeit konstituiert und haben an einer allgemeinen und reversiblen Seinsweise teil, die er in seinen letzten philosophischen Untersuchungen „Fleisch" nennt. „Fleisch" ist mehr als nur Substanz. Es ist ein „formendes Milieu" für „Objekt und Subjekt" 9 - zugleich die allgemeine und materielle Objektivität, die uns als Körper-Subjekte in eine uranfängliche Umkehrbarkeit mit anderen Körper-Subjekten versetzt, um unsere wesentliche Intersubjektivität zu bilden, und das Medium, dank dessen über uns im durchaus objektiven Sinne gesagt werden kann, eine Welt zu „haben". „Fleisch" ist ein „Element", ein „konkretes Emblem einer allgemeinen Seinsart" 10 . Remy Kwant drückt dies so aus: „Körper und Dinge druchdringen einander wechselseitig. Der Körper gehört zur Ordnung der Dinge und die Dinge werden ins Reich des leiblichen Seins übernommen." 11 So sind Subjekte und Objekte in ihrer allgemeinen, wenn auch in unterschiedlicher Modalität ausgeprägten Teilhabe an der allgemeinen Materialität des Seins bis zu einem gewissen Grad reversibel. Darum sagt uns David Levin, daß Fleisch „die ausschlaggebende Matrix, das Gewebe, das

8 9 10 11

Ebenda, 61 f. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., 193. Ebenda. Remy Kwant, From Phenomenology to Metaphysics: An Inquiry into the Last Period of Merleau-Ponty's Philosophical Life, Pittsburgh 1966, 58.

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Feld der Dimensionalität unseres Seins ist: dasjenige .Medium', aus dessen Tiefen Subjekt und Objekt beide gleichzeitig zusammen aufsteigen und in denen sie für immer vereint sind; ein Medium, durch das sie sich ständig einander spiegeln"12. Gewiß kommt es zu keinem Verständnis der notwendigen Bedingungen des ästhetischen Empfindungsvermögens und der ethischen Verantwortung ohne die Erkenntnis, daß sie gemeinsam in der subjektiven Verwirklichung und Anerkennung unserer eigenen Objektivität entstehen und einander spiegeln. Ihr gemeinsamer Ursprung liegt in der Passivität unserer eigenen Stofflichkeit - d. h. in der inhärenten Struktur des transzendenten Bewußtseins des leiblichen Subjekts von seiner eigenen Immanenz, seinem Gefühl dafür, was es heißt, als ein und in einem Objekt-Körper zu existieren, der in gewisser Weise immer „überall vorkommt", in gewisser Weise aber ebenso immer über das Bewußtsein hinausgeht und Teil des „allgemeinen Knospens" und der „erfüllenden Umarmung", also des Fleisches der Welt ist. Diese Verwirklichung und Anerkennung unserer eigenen gelebten Körper als reversible Struktur der Transzendenz (unser Bewußtsein als „Ursprung" von Erklärungen und unser dichtes und opakes Fleisch „unterhalb der Erklärung") bilden eine Struktur von Empathie und Sympathie zwischen unserer eigenen objektiven Dichte und Opazität und der objektiven Dichte und Opazität sowohl der anderen wie der Welt. Dieser Zustand, den ich Interobjektivität nenne, steht demnach in einer komplementären, aber notwendigen Beziehung zur Intersubjektivität. Für Merleau-Ponty stellte sich das Problem der Intersubjektivität nicht in Begriffen, wie denn das Körper-Subjekt seine eigene Existenz als materielles Objekt erfassen könne, sondern vielmehr in der Frage, wie der Leib des anderen von der objektiven Welt als ein Subjekt für sich unterschieden werden könne. Das heißt, wenn ich durch diese und als körperliche Subjektivität lebe, die ich unveränderlich als „meine" erfahre, würde der andere als ein bloßes Objekt für mich unter vielen anderen Objekten gesehen. Diese asymmetrische Wahrnehmung erkennend sagt Merleau-Ponty: „Insofern der Andere in der Welt angesiedelt, dort sichtbar ist und meinem Felde zugehört, ist er niemals ein Ich in dem Sinne, in dem ich es für mich selbst bin. Um ihn als wahrhaftiges Ich zu denken, müßte ich mich selbst als sein bloßes Objekt denken, was mir das Wissen, das ich von mir selbst besitze, verbietet."13 Diese Asymmetrie wird jedenfalls ausgeglichen durch die Bejahung der wirklichen Objektivität meines eigenen Körpers als einer wahrnehmbaren Realität, von der ich, da ich sie lebe, weiß, daß sie ebenso eine wahrnehmende Realität ist. Das heißt, daß ich, weil ich selbst und der Andere die Gegenseitigkeit der Fleischwerdung in einer Welt und eine Gegenseitigkeit des wahrnehmenden und wahrnehmbaren Verhaltens teilen, die Entsprechung und Reziprozität begreifen kann, die zwischen dem Bewußtsein vom materiellen Sein eines jeden,

12 D. M. Levin, Visions of Narcissism, in: Μ. C. Dillon (Hrsg.), Merleau-Ponty Vivant, Albany 1991, 67. 13 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 404 (Hervorhebungen V S . ) .

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so wie es subjektiv und intentional gelebt wird, und der Wahrnehmung des Anderen als ein Subjekt bestehen. Merleau-Ponty drückt es wie folgt aus: „Ich sage, es sei ein Anderer, ein zweites Ich-selbst, und ich weiß es zunächst, weil dieser lebendige Leib da dieselbe Struktur hat wie der meinige. Meinen Leib erfahre ich als Vermögen gewisser Verhaltensweisen und einer gewissen Welt, ich bin mir selbst nicht anders gegeben denn als ein gewisser Anhalt an der Welt; und eben mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile meines Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bilden somit auch der fremde Leib und der meinige ein ganzes System, zwei Seiten eines einzigen Phänomens, und die anonyme Existenz, deren Spur mein Leib in jedem Augenblicke ist, bewohnt nunmehr die beiden Leiber in eins." 1 4 Die lebendige Struktur der Interobjektivität könnte uns auch zu diesem Zustand anonymer Fleischwerdung, zu diesem „gemeinsamen Boden" und zu einer Art von Anerkennung zurückführen, die der intersubjektiven entspricht. Das heißt, daß Interobjektivität uns mit dem anfänglichen Fleisch oder der uranfänglichen Materialität verbände, an der nicht nur intentionale Subjekte, sondern ebenso nicht-intentionale Objekte wechselseitig und objektiv teilhaben. Als andere Seite der Intersubjektivität wird Interobjektivität zu einer Frage nicht von Anthropomorphismus, nicht zu einer Frage, wie das Objekt-für-mich jemals ein Subjekt-für-sich sein kann, sondern eher, wie ich, gesetzt, daß ich ein Objekt-Körper bin, der sein fleischgewordenes Sein als „meines" lebt, einen anderen objektiven Körper als ein Nicht-Subjekt „an-sich" erfassen kann. Eine Phänomenologie der Interobjektivität könnte zeigen, daß wir, insoweit wir den Widerstand unserer eigenen Körper gegen unseren Willen fühlen und insoweit wir unser In-derWelt-Sein als Hinausgehen unseres Etwas-Seins über unser Nichts-Sein empfinden, in der Lage sind, obgleich stets von innen her Subjektivität, einen Großteil unseres SelbstBewußtseins aufzugeben und uns selbst plötzlich in die Mannigfaltigkeit des Seins als Fleisch versetzt zu fühlen. Wir können unsere eigene Objektivität fühlen und mit Sinn versehen und uns so nicht nur auf das objektive Sein anderer Subjekt-Körper, sondern auch auf das objekte Sein nicht-intentionaler „Dinge" beziehen. In dieser letzteren Beziehung jedenfalls können wir niemals ganz das „An-sich-Sein" einer vollständig objektiven Existenz erfassen - und so können wir durch unser eigenes subjektives Gefühl unserer eigenen Objektivität ein in der Welt als ein Nicht-Subjekt „/är-sich" existierendes intentionsloses „Ding" empfinden. Das bedeutet, daß die Interobjektivität genauso eine Struktur des Umgangs mit Dingen ist, in dem wir erkennen, was man subjektiv empfindet, wenn man objektiv körperlich ist, oder wie die Intersubjektivität eine Struktur des Umgangs mit anderen lebendigen Körpern ist, in dem wir erkennen, wie es objektiv aussieht, subjektiv über Bewußtsein zu verfugen. Während wir somit zwar immer wissen, wie es sich anfühlt, ein Subjekt-Körper

14 Ebenda, 405.

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zu sein, können wir uns uns doch nie ganz als bloßer Objekt-Körper vorstellen. Insgesamt wird Interobjektivität, so wie auch Intersubjektivität, asymmetrisch wahrgenommen - denn wir bleiben noch Subjekte, selbst wenn wir immer auch Objekte sind. Wir existieren immer als qualifizierte Objektivität. Insofern kann Merleau-Pontys Charakterisierung der Asymmetrie von Intersubjektivität von ihrer anderen Seite her betrachtet und als die Asymmetrie von Interobjektivität umschrieben werden. Interobjektivität ist also nicht gleichbedeutend mit Anthropomorphismus - wenngleich Anthropomorphismus sich als eine ihrer Varianten ergeben kann: Uberschätzung des „subjektiven Objekts" in einer Struktur „vollständiger" Umkehrbarkeit zwischen körperlichen Subjekten und weltlichen Objekten. Interobjektivität ist eher eine subjektive Struktur körperlichen Umgangs mit substantiellen Objekten, die - während sie sich Roquentins Entfremdung als eine ihrer Varianten anpaßt - ebenso die andere Seite von Entfremdung berücksichtigt: nicht bloß In-der-Welt-Sein, sondern auch zu ihr „gehören". Interobjektivität kann demnach Entfremdung in Rechnung stellen: die Dichte und Opazität der Dinge in einer negativen Struktur der Reziprozität, in der der SubjektKörper, auch wenn er immer als „meiner" gelebt wird, sein eigenes Sein als einen opaken Objekt-Körper erkennt, der - „unterhalb der Erklärung" - sein „eigenes" Leben im unterschiedslosem Umgang mit Dingen führt. Jedenfalls erklärt Interobjektivität zusätzlich eine positive Struktur von Reziprozität, in der der Subjekt-Körper lustvoll vertraute Formen lebt, die allein einem Subjekt zugänglich sind, das ebenso ein Objekt ist, und das passionierte Erdulden und die Hingabe an sein objektives Sein als eine Bekräftigung der Zugehörigkeit zur Welt erfährt. So gelangt der Subjekt-Körper zur Anerkennung seiner eigenen uranfänglichen Zugehörigkeit „zum Fleisch" und geht mit diesem Zugehören reflexiv und objektiv um - d. h. als Empfindungs-Vermögen und als VerantwortungsVermögen. In seinem letzten Werk „Das Sichtbare und das Unsichtbare" spricht Merleau-Ponty vom Sehen, von der Malerei und vom Reich des Sinnlichen in Begriffen, die auf die Konjunktion der ästhetischen Sensibilität und der ethischen Verantwortung abzielen: „Deshalb sieht der Sehende, der vom Gesehenen eingenommen ist, immer noch sich selbst: es gibt einen grundlegenden Narzißmus für jedes Sehen; und aus demselben Grund erleidet er das Sehen, das er praktiziert, auch von Seiten der Dinge, und - wie man von Malern oft sagt - fühle ich mich von den Dingen beobachtet, und meine Aktivität ist gleichermaßen Passivität - was der zweite und tiefere Sinn des Narzißmus ist: nicht wie die Anderen von außen den Umriß eines Leibes sehen, den man bewohnt, sondern vor allem gesehen werden von ihm, existieren in ihm, auswandern in ihn, verführt, gefesselt und entfremdet werden durch das Phantom, so daß Sehender und Sichtbares sich wechselseitig vertauschen und man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird." 15 Die „Fesselung" und „Entfremdung", von denen hier die Rede ist, sind nicht die Roquentins. Hier geht es weder um narzißtische Selbst-Übereinstimmung noch um einen Selbst-

15 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., 183.

Die Materie und ihre Passion

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Verlust, der zu Ekel und Entsetzen führt. Es ist eher eine Verzückung, eine Ekstasis, die nach den Worten David Levins „eine sich selbst entwickelnde Sozialisation möglich macht, die die der tiefen Anordnung unserer Körperlichkeit innewohnende Fähigkeit hervorlockt, Erfahrungen von Sozialbeziehungen in ein Übernehmen der mit dem Anderen identifizierten Stellung umzukehren". Diese Umkehrbarkeit erlaubt uns nicht nur die Lust an der Objektifikation, sondern dient, wie Levin hervorhebt, „als unser Grund für die Ausbildung solcher, für das ethische Leben unverzichtbarer Umkehrbarkeiten" 16 . Interobjektivität benennt tatsächlich die Bedingung einer tiefen und von Passion durchdrungenen Anerkennung unserer selbst und der Welt der Objekte als gemeinsam „im Fleisch" - d. h. sowohl materiell wie transzendental „auf gemeinsamem Boden stehend".

16 D. M. Levin, Visions of Narcissism, a.a.O., 70f.

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Künstlerisches Denken und Erfahrung der Andersheit

In seiner klassischen Verwendung in den Schriften Baumgartens und seit Kants „Kritik der Urteilskraft" bezeichnet der Begriff „Ästhetik" die „Wissenschaft" von den Geschmacksurteilen. Doch hat er nicht selten in selektiver Weise auf Urteile über Kunstwerke Anwendung gefunden, d. h. auf menschliche Werke, denen es doch im wesentlichen um die Schönheit geht. Dieser eingeschränkte Begriffsgebrauch birgt die Gefahr, die Kunstwerke zu einem von den anderen menschlichen Tätigkeiten abgesonderten Bereich zu machen. Dieser Bereich würde sich sodann durch gesellschaftliche Unverantwortlichkeit auszeichnen. Es ist jedoch ratsam, die zwischen allen menschlichen Tätigkeiten bestehenden Verbindungen zu bedenken, seien diese Verbindungen nun solche der Übereinstimmung oder des Gegensatzes. Denn gemeinsam bilden sie das innere Gerüst der Gesellschaften. Es bleibt insbesondere die Frage nach den bestehenden oder möglichen Beziehungen zwischen der Ästhetik und den verschiedenen moralischen und politischen Institutionen zu stellen. Die Ästhetik ist demnach als ein Wissen zu begreifen, das die gesellschaftliche Wahrnehmung und Empfindungsweisen betrifft. Zudem stimmt diese Bedeutung des Begriffs auch mit seiner griechischen Etymologie überein: aistbesis. Die Arten und Weisen des Wahrnehmens und Empfindens sind geschichtliche Institutionen. In ihnen hat die moralische Gemeinsamkeit unterschiedlicher Gesellschaften ihre Wurzeln. Diese einführenden Bemerkungen erlauben die weite Ausdehnung zu erfassen, die der Begriff „schön" stets erfahren hat. Die Behauptung, daß ein am Strand aufgelesener Kieselstein ebenso schön sei wie eine Blume oder ein menschlicher Körper, ein bearbeiteter Gegenstand ebenso schön wie ein Verhalten, ist durchaus zulässig und sogar notwendig. Solche Urteile werden in allen Kulturen gefällt. Sie verweisen nämlich auf gesellschaftliche Normen ebenso wie auf individuelle Normen: Zwischen diesen und jenen kann es zur Übereinstimmung oder zum Widerspruch kommen. Doch ist ein Widerspruch nichts anderes als eine der von den gesellschaftlichen Regeln zugelassenen mögli-

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chen Positionen. Der Geschichtlichkeit der Institutionen entkommt wirklich nichts: auch nicht die durchaus persönlichen oder die völlig abweichenden ästhetischen Urteile; selbst nicht der Wunsch, sich dem Zugriff der gesellschaftlichen Institutionen, der Zeit und der Geschichte zu entziehen - ein Verlangen, das einer der wesentlichen Aspekte des künstlerischen Denkens ist; also auch nicht dieses „Ewigkeits"-Verlangen, von welchem Charles Baudelaire behauptete, daß es die eine der beiden „Hälften" der Kunst bilde, während die andere die Quelle der „Mode", des „Kurzlebigen", das Bemühen um „Modernität" sei. Das Bemühen um eine Modernität der Zeit geht in der Kunst mit dem Vergessen des Vergangenen einher und gestattet eine formale Neuerung. Die Sorge um die zeitlosen oder ewigen Bedingungen des Denkens begründet dagegen das Gedächtnis; sie eröffnet heute insbesondere einen Zugang zu den Werken der entlegensten oder fremdesten Zivilisationen. Diese beiden miteinander verbundenen Sorgen sind Kräfte, die in allen geschichtlichen Formen der aistkesis vorkommen. Die „Schönheit" einer Sache rührt also daher, daß diese Sache in unseren Augen in ihrer Einzigartigkeit symbolisch durch die Spannung zwischen dem Vorübergehenden und dem Unwandelbaren gekennzeichnet ist. In jeder geschichtlichen Kultur müssen indessen die besonderen Weisen der aisthesis berücksichtigt werden. In der heutigen Zeit ist es zu einem Phänomen von größter Wichtigkeit gekommen, zu einer Entstehung dessen, was die Historiker „die modernen Zeiten" nennen. Zur gleichen Zeit, in der sich die Wissenschaft entwickelt, wird die Kunst als Kunst erfunden. Zum ersten Mal in den menschlichen Gesellschaften läßt sich das künstlerische Denken in besonderen Institutionen nieder. Es erhält einen wirklichen Autonomiestatus. Als geschichtliches Beispiel ist die „Enzyklopädie" hervorhebenswert, die Diderot von 1751 an veröffentlichte und die nicht auf den modernen Sinn der Worte „Kunst" und „Künstler" zurückgreift. Diese beiden Begriffe werden in der „Enzyklopädie" noch auf kunsthandwerkliche Arbeiten angewandt, die eine umfangreiche Reflexion erfordern: Das angeführte Beispiel ist das des Uhrmachers. Die geschichtlichen Bedingungen, die zwangsläufig zur Autonomisierung des künstlerischen Denkens führten, muß ich hier übergehen. Ich kann hier nur einige Modalitäten seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen Funktion anführen. Ich möchte eine These vortragen, die wie alle Thesen zur Diskussion steht: Das künstlerische Denken ergreift in den ethischen Positionen beispielsweise für die Erfahrung der Andersheit Partei. Es besteht wesentlich in der Anerkennung des Anderen als anders; und dies hat nichts zu tun mit einer gesellschaftlichen Normalisierung oder mit irgendeinem „Wissen": Indem wir diesen Zug des künstlerischen Denkens herausstellen, wird diese Verstrickung der Ethik in die Ästhetik zweifelsfrei zu einer der vorrangigen geschichtlichen Aufgaben im Denken der Gegenwartskunst. Diese These beruht ihrerseits auf Gedanken, die ebenfalls zur Diskussion stehen. So behaupte ich, daß einerseits die Kunst und andererseits das Wissen und die sich daraus ergebenden Techniken und Praktiken zwei entgegengesetzte Pole des Denkens darstel-

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len. Jedes Denken, sei es nun künstlerisch oder die Folge eines empirisch-rationalen Wissens, hat an diesen zwei Polen und an der zwischen ihnen bestehenden Spannung teil. Daraus ergibt sich, daß dieser polare, für jedes Denken wesentliche Gegensatz keinesfalls abgeschwächt werden darf. Man sollte nicht darauf verzichten, diese beiden gegensätzlichen Tendenzen einander anzunähern; man darf vor allem nicht versuchen, sie aufeinander rückzuführen, indem man sie auf identische Funktionen zurückzuführen versucht. Auf dieser irreduktiblen Dualität beruht die Dynamik des Geistes. Das Eigene der Gegenwartskunst, die ihre Autonomie als Denkweise einklagt, wäre mithin die Vertiefung des sie trennenden Abstandes. Das wissenschaftliche Denken knüpft konstante Beziehungen zwischen den Daten, entnimmt seine Erfahrung der Wirklichkeit. Daher muß es die Vielheitlichkeit auf dasselbe engführen. Es erfüllt diese Aufgabe durch die Aufstellung von Identitäten. Es ermöglicht dem Denken so eine technische Herrschaft über das Wirkliche. Sein eigentliches Ziel ist die Nützlichkeit. Die Kunst schlägt den umgekehrten Weg ein. Das Vorgehen der Kunst führt zu jener äußersten Erfahrung der Andersheit, die ich erläutern, deren Bedeutung und Reichweite ich aber zunächst kennzeichnen werde. Ich glaube, daß man Arthur Rimbaud buchstäblich aufzufassen hat, wenn er sagt, daß „ich" in der künstlerischen Erfahrung „ein anderer" bin. In der Kunst stellt sich tatsächlich eine doppelte Erfahrung der Andersheit ein: der des Anderen als anders, doch auch der meiner selbst als anders. Ihr eigentliches Ziel ist die Ermöglichung des Denkens der Gegenwart alles Gegenwärtigen in seiner irreduktiblen Andersheit. Hölderlin eröffnet das moderne künstlerische Denken. Er fordert in seinen „Anmerkungen zu Odipus" hinsichtlich der Kunstwerke, daß man sie nach dem Kalkül ihrer Stellung und den anderen methodischen Vorgehens weisen, dank derer das Schöne erzeugt werde, beurteile. Doch wenn das Schöne hergestellt ist, kommt ihm keine transzendente Wirklichkeit zu. Strenggenommen müßten wir eher schon als von „Schönheit" von „künstlerischer Wirkung" sprechen. Hölderlin zufolge ist diese Wirkung die einer „Katastrophe" des Sinns, den man gemeinhin den Dingen zuspricht. Erzeugt wird diese Katastrophe durch die Kunstgriffe, denen die dichterische Arbeit die Sprache unterzieht. Gerade diese Kunstgriffe ruinieren den gebräuchlichen Sinn der Dinge. Gleichwohl ist dieses Katastrophenereignis als Wirkung der Arbeit von Kunst — seien wir nun Autoren oder Leser des Werks - unvorhergesehen und es ist auch durch den Dichter selbst nicht vorhersehbar. Wo er auf seine Weise von „Katastrophe" oder „antirhythmischer Zäsur" spricht, gibt Hölderlin zu bedenken, daß Dichter und Leser stets überrascht werden. Das Ereignis ist gewiß gewünscht. Man müht sich methodisch, sein Eintreten hervorzurufen. Seine Struktur kann im nachhinein beschrieben werden, wie Hölderlin es tut, wenn er selbst den Wechsel der Töne in der griechischen Tragödie analysiert. Und nach Hölderlin ist die Struktur des künstlerischen Ereignisses sogar

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immer katastrophisch oder von Zäsuren durchsetzt. Dennoch sind wir niemals sicher, daß es eintritt. Aus diesem Grund ist nach der als „Selbstausdruck" begriffenen romantischen Episode der Dichtkunst die ganze moderne Poesie im Gegenteil besessen vom Denken einer Loslösung vom „Ich". Der Dichter ist nicht Urheber der künstlerischen Wirkung. Er verlangt nach ihr, unternimmt alles, was zu tun ist, um sie hervorzurufen. Doch sobald das Sprachereignis unvorhersehbar im Verlauf des künstlerischen Arbeitens eintritt, hat es wirklich weder Absender noch Empfänger. Dieses Ereignis ist nicht den Projekten zu verdanken, die ein diskursives Denken durchführen möchte. Es verdankt hingegen alles dem durch die Kunstgriffe der dichterischen Sprache hervorgerufenen Ruin des geläufigen Sinns. Der Identitätsverlust des „Ich" und des „ D u " ist ein wesentlicher Zug der künstlerischen Erfahrung. Jüngst noch griff Paul Valery diese Idee wieder auf, als er sagte, daß uns, den Dichtern, „der erste Vers immer geschenkt" werde. Doch was wird in der Form der „in Versform gebrachten" Sprache, d. h. der wohlklingenden und rhythmischen Sprache geschenkt? Rene Char hat diese Frage in einem kurzen poetischen Ausspruch beantwortet: „Erwacht noch vor seinem Sinn weckt uns ein Wort und spendet die Helle des Tages; ein Wort, das nicht geträumt hat." Das also bleibt, wenn die Katastrophe den Sinn ruiniert hat, wenn beim Erwachen eines Wortes, das ihm vorausgeht, der Sinn zunächst ausgeschlossen ist. Übrig bleibt die nackte Gegenwart des Wirklichen, die die wohlklingenden und rhythmischen Worte des Gedichtes, die durchaus sinnlosen Worte „spenden"; zurück bleibt die Wirkung, die diese Worte erzeugen, Wirkung einer Wirklichkeit des Wirklichen vor dem Sinn des Wirklichen als stets gegenwärtigem Rätsel. Dieser Ausspruch Rene Chars ist sehr bemerkenswert. U m zu bekräftigen, daß jedes Gedicht tatsächlich der Ort einer Katastrophe des gewöhnlichen Sinns der Dinge ist, gibt sich dieser Ausspruch selbst als sinnlos aus. Was könnte logischerweise schon besagen wollen, daß ein Wort noch vor seinem Sinn erwacht? Mit der vernünftigen Diskursivität wurde hier gebrochen. Statt ein Wissen von den Dingen zu vermitteln - ζ. B. Kenntnisse über das Tageslicht - , läßt die Dichtung ihre rätselhafte Gegenwart und unsere eigene Gegenwart als Rätsel aufsteigen. Char kommt an anderer Stelle und auf seine Weise auf das Denken Rimbauds zurück und schreibt: „Die Worte, die aufsteigen wollen, wissen von uns, was wir an ihnen ignorieren." Ich glaube, daß die Worte auch über uns wissen, was wir an uns selbst ignorieren. Sie kennen von uns das, von dem wir nicht wußten, daß wir es denken konnten, noch bevor sie „aufsteigen". So ist die künstlerische Erfahrung wohl die der Gegenwart alles Wirklichen - meiner selbst eingeschlossen - als ganz anders noch als alles, was wir je darüber wissen können. Worin nun bestehen die „methodischen" Vorgehensweisen, die eine Chance eröffnen, daß sich die künstlerische Wirkung vielleicht einstellt? Es handelt sich um eine Arbeit mittels Kunstgriffen am Körper der Sprache. Diese Arbeit ist ein symbolisches Körper-an-Körper zwischen einem sprechenden Körper und

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seiner Sprache. H i e r z u eine A n e k d o t e , die wohl verdient, wahr zu sein. D e r

M a l e r E d g a r D e g a s soll eines Tages S t e p h a n e M a l l a r m e gefragt h a b e n : „ M o n s i e u r , wann h a b e n Sie die Vorstellung eines G e d i c h t s u n d w i e setzen Sie diese Vorstellung ins W e r k ? " U n d M a l l a r m e habe geantwortet: „ A b e r M o n s i e u r , m a n macht kein G e d i c h t mit Vorstell u n g e n , m a n macht es mit W o r t e n . " D i e s e A r b e i t an den Worten ist u n s e r e C o n d i t i o selbst. W i r werden in der Sprache g e b o r e n u n d wir sterben in ihr. W i r b e w o h n e n die Sprache, nichts s o n s t , u n d die Sprache hat keine andere Bleibe als in uns. F o l g e n d e s also kennzeichnet d a s künstlerische D e n k e n : I m Alltagsleben u n d in der A n w e n d u n g unserer K e n n t n i s s e machen wir G e b r a u c h von der Sprache. M i t h i n ist die S p r a c h e f ü r uns ein Werkzeug. Selbst noch in ihren feinsten U n t e r g l i e d e r u n g e n ist sie eine gebräuchliche Sprache. D e r K ü n s t l e r handelt völlig u m g e k e h r t : E r wendet all seine A u f m e r k s a m k e i t d e m materiellen K ö r p e r seiner S p r a c h e z u . D i e K u n s t g r i f f e seiner Schreibweise treiben aus ihm seine K l a n g f a r b e n u n d R h y t h m e n hervor. E r ruiniert auf diese Weise den gebräuchlichen Sinn der Worte, u m die S p r a c h e selbst in ihrer physischen Wirklichkeit z u vergegenwärtigen, die rätselhaft ist, d a - w i e M a l l a r m e sagt -

„die

Sprachen u n v o l l k o m m e n sind, insofern sie mehrere s i n d " . U n d weil die S p r a c h e alle D i n g e benennt, sind alle D i n g e als G e g e n w a r t e n u n d als Rätsel in der Sprache des G e d i c h t s gegeben. W ä h r e n d d a s Wissen d a s Wahre sagt, sagt d i e K u n s t die G e g e n w a r t des G e g e n w ä r t i g e n als R ä t s e l . D a r i n ist die K u n s t nie wahr o d e r falsch, niemals s c h ö n o d e r häßlich, weder moralisch noch unmoralisch. Sie trägt d a s D e n k e n auf seinen G i p f e l : Sie trägt es im A u g e n b l i c k u n d am O n selbst des E r e i g n i s s e s des D e n k e n s , seiner unmittelbaren B e g e g n u n g mit d e m Wirklichen, aus der die ästhetische W a h r n e h m u n g besteht. U m abermals auf einen G e d a n k e n Friedrich H ö l d e r l i n s a m Schluß seiner „ A n m e r k u n g e n z u O d i p u s " z u r ü c k z u k o m m e n : „ A n der letzten G r e n z e der Z e r r ü t t u n g bleiben n u r noch d i e Beding u n g e n v o n R a u m u n d Z e i t . " D o c h diese B e d i n g u n g e n - B e d i n g u n g e n der Wahrnehm u n g - sind G r u n d l a g e von allem: A u f ihrem B o d e n w i r d die Vielfalt geschichtlicher Institutionen errichtet. D e r s e l b e n Vorgehensweise begegnen w i r in d e n Werken der Malerei. A u c h sie sehen sich d e m P r o b l e m der Identität u n d der A n d e r s h e i t gegenüber. Allen K ü n s t e n w i d e r f ä h r t dasselbe Schicksal. Sie führen d a s D e n k e n z u jenem Rätsel z u r ü c k , d a s d a s Schicksal ist und d a s aus den geschichtlichen u n d transhistorischen B e d i n g u n g e n des Schicksals besteht. D i e m o d e r n e W i s s e n s c h a f t entsteht im klassischen Zeitalter u n d g r ü n d e t sich auf d a s Kalkül der Identitäten: auf d a s K a l k ü l b e s t a n d s k r ä f t i g e r B e z i e h u n g e n , die d i e U m r i s s e der D i n g e festlegen. Gleichzeitig stellt auch die Malerei sich die F r a g e der Identität. Sie erfindet d a s Porträt und d a s S e l b s t p o r t r ä t . Sie beschreibt d a s E i g e n e eines Wesens, sie trägt bei, ihm einen E i g e n n a m e n z u geben. Z u d i e s e m Z w e c k s e t z t sie drei vereinheitlichende Prinzipien ein, drei „ C o d e s " , die den B e g r i f f d e s I n d i v i d u u m s in der klassischen Malerei b e g r ü n d e n .

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Der Code der Perspektive umfaßt die Darstellung des menschlichen Körpers als ein mit der festen Identität eines Dings ausgestattetes Volumen. Der anatomische Code regelt die Proportionen dieses Volumens gemäß den Wahrscheinlichkeitsregeln. Und diese Wahrscheinlichkeit selbst ist nur der Blick, den man auf die Dinge unter dem Aspekt der Perspektive wirft, wobei man jede andere Wahrnehmungsweise ausschließt (ζ. B. der Nähe, der irrationalen und maßlosen psychischen Distanz, der Geschwindigkeit etc.). Schließlich der doppelte Code der Psychologie der Leidenschaften und der sozialen Stellung, der den physiognomischen Ausdruck, die Gestik und die Haltungen des Subjekts, also Kleidung und Dekor festlegt, in denen das Subjekt gezeigt wird. Während einiger Jahre des 19. Jahrhunderts wird dieser dreifachen Codifizierung heftigst widersprochen. Das „Porträt des Herrn Bertin", das Ingres 1832 fertigstellte, ist das Äquivalent einer Augenblicksphotographie. Dieser Pressemagnat wird vom Maler mit einem Gesichtsausdruck, in einer Haltung und in Kleidern dargestellt, die aus ihm das typische Bild des „Bourgeois" machen, wie es zu dieser Zeit und denselben Wahrscheinlichkeitsprinzipien gemäß vom Romanwerk Balzacs beschrieben wird. Indessen zeichnet derselbe Ingres seit 1810 immer wieder verschiedene Frauenporträts, so etwa das von „Madame de Senonnes", in denen die Aufmerksamkeit von den weißen, ausdruckslosen Gesichtern, in denen sich ganz offensichtlich die individuelle Persönlichkeit offenbaren soll, auf den Reichtum der Stoffe und des Schmucks gelenkt wird, deren Üppigkeit ein Ergebnis der Arbeit des Malers am Material seiner Kunst selbst ist. Edouard Manet greift entscheidend in diesen Prozeß ein. 1863 malt er das von ihm „Olympia" betitelte Bild. Eine nackte junge Frau liegt in der Haltung der Venus der italienischen Renaissance, also ganz entsprechend dem von Giorgione und Tizian erfundenen Modell, ausgestreckt auf einem Bett. In der Nähe dieses Bettes befindet sich eine schwarze Dienerin mit einem Blumenstrauß in Händen. Wir kennen übrigens die Identität der Frau, die Manet als Modell diente; und natürlich kannten sie auch die Freunde des Malers. Der Maler selbst aber ist an der Identität dieser Frau, an der einzigartigen Individualität ihres Körpers gänzlich uninteressiert; ihn interessiert ebensowenig der Mythos und das imaginäre Thema der Venus, an die die moderne Welt nicht mehr glaubt und denen niemand mehr irgendeine symbolische Bedeutung beimißt - wie Giorgione und Tizian das noch taten. Der Beweis dafür ist, daß das ganze Bild mittels eines rein pikturalen, d. h. formalen Gegensatzes aufgebaut ist: Das Gemälde beruht auf der Opposition zwischen dem Dunklen und dem Hellen. Die Bettlaken, die Schals und der Körper der Olympia bilden zusammen mit dem Kleid der Dienerin und dem Blumenstrauß eine einzige helle Zone. Die Wand des Hintergrundes und das Gesicht der schwarzen Frau bilden eine große dunkle Zone. Für den Maler lautet die Frage: Kann man hell auf Hell und dunkel auf Dunkel malen? Und kann man dies, ohne die zwischen den Objekten vorgenommenen Unterscheidungen zu berücksichtigen? In diesem Gemälde verbinden das Helle und das Dunkle unterschiedliche Dinge. Es sind sich also nicht mehr die Dinge, die das Sichtbare anordnen: Es ist die Malerei, die man bald danach schon „rein" nennen wird.

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Die Gegenwartskunst geht in dieser Zerstörung der klassischen Ordnung noch weiter. Sie beharrt auf ganz anderen, der visuellen Wahrnehmung eigenen Widersprüchen, in der sich das Wirkliche dem Blick unterschiedlicher Wissensformen unter sinnlosen, formalen Aspekten zeigt. Statt die Identität der Dinge zu befragen, beharrt die Gegenwartskunst auf dem, was ihre Andersheit an Befremdlichem und gar Beunruhigendem aufweist. Dieses beunruhigende Beharren, das vom Denken Friedrich Hölderlins angekündigt wurde, ist zunächst mit einem ebenfalls katastrophalen Einsturz alter Uberzeugungen verbunden, auf denen das klassische künstlerische Denken noch beruhte. Im Band mit Interviews, die er David Sylvester gegeben hat, stellt Francis Bacon zwei Vorgehensweisen der Malerei gegenüber: Die eine bezeugt das Wirkliche durch die Illustration, durch Beschreibungen und Erzählungen, die den den Dingen in anderen Bereichen des Denkens zugewiesenen Sinn wiederaufnehmen: geschichtlicher, religiöser, moralischer, politischer, anekdotischer Sinn etc. Trotz aller Arten von Verzerrungen und Entstellungen, denen ein Großteil der Künstler unseres Jahrhunderts ihre gemalten Figuren unterzieht, läuft diese Vorgehensweise weiterhin auf die klassische Ideologie des Wahrscheinlichen hinaus. Die andere, von ihm selbst bevorzugte Vorgehensweise müht sich, so sagt Bacon, „das Bild viel direkter wirklich" zu machen. Auf direktere Weise wirklich: d. h. ohne die Vermittlung durch gewohnte Bedeutungs- und Sinngebungen. So nimmt Bacon in dem ihm eigenen Vokabular wieder auf, was den Grund des derzeit aktuellsten künstlerischen Denkens ausmacht. Für den Künstler gibt es keinen Glauben an einen festliegenden Sinn der Geschichte mehr; keine Überzeugung mehr, die sich durch Mythen oder religiöse Erzählungen ausdrückt; schließlich auch keinen Glauben mehr an einen moralischen oder politischen Fortschritt, der mit wissenschaftlichen oder technischen Fortschritten einherginge. D a er den allgemeinen Unglauben gegenüber den alten Traditionen des klassischen Humanismus teilt, spürt der Künstler das Verlangen, eine Ethik des Sehens auf „unmittelbare" Gegebenheiten der Anschauung zu gründen. Ein eindeutiges Beispiel für diese Vorgehensweise ist zweifellos Paul Cezanne, der mit allen Kräften als erster Maler „verwirklichen" wollte, was er seine „kleine Empfindung" nannte. Welcher Natur ist diese „unmittelbare" Beziehung zum Sichtbaren, die das Werk Francis Bacons hervorrufen möchte? Sie besteht zugleich aus Erstaunen und Angst: Es gibt etwas außerhalb meines Bewußtseins, etwas, das ist, während es nicht sein dürfte. Francis Bacon beharrt auf dieser Ambivalenz des künstlerischen Denkens. So sagt er beispielsweise, daß er ein Porträt nur von Personen anfertigen könne, mit denen er sympathisiere. Doch erstellt er ihr Porträt anhand von Photographien. Er würde nicht wagen, wie er selbst sagt, ihrem Bild dieselbe Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, wenn diese Personen zugegen wären. Wenn es stimmt, daß das Denken der Kunst ambivalent ist, drängt sich uns der Gedanke auf, daß die Kunst als Kunst keinen Wert darstellt. Gewiß transportieren der gesellschaftliche Körper und der Künstler selbst oft mit ihren Bildern unterschiedliche ästhetische, moralische, religiöse, politische Werte. Doch ist die Kunst als Kunst nicht in

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„Wert"-Begriffen denkbar: nicht nur nicht in Begriffen der Warenwerte, sondern auch nicht in solchen ästhetischer Werte. Das Wertkonzept hat keinen Einfluß auf künstlerische Wirklichkeiten. Die Kunst gelangt tatsächlich immer nur zur ambivalenten Erkenntnis der Andersheit jedes Wesens und jeder Sache. Die Herrschaftsbeziehung des Wissens über das Wirkliche ersetzt sie durch eine Gegenwartsbeziehung, die immer wieder über das gegenwärtig Vorhandene erstaunt ist. Um den gewünschten und auf viel direktere Weise wirklicheren Wirklichkeitseffekt zu erzielen, zieht Francis Bacon wie schon Edouard Manet die Aufmerksamkeit der Blicke auf die Pikturalität der Malerei: auf die formalen Eigenschaften ihrer „Sprache". Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Nicht nur die Glaubensüberzeugungen wurden ausgehöhlt, auch der Künstler verspürt heute das Gefühl einer extremen Gewalt, daß seiner Kunst äußerste Gewalt widerfährt. Die Medienbilder lassen dank der durch die neuen Informationstechniken ermöglichten „Massenkommunikations"-Mittel schnell und überall Stereotypen zirkulieren, durch die sich konformistische Verhaltensweisen herausbilden. Durch eine Bewegung der Gegen-Gewalt gehört Francis Bacon zu denen, die den sinnlosesten der Sprachkunstgriffe ins Werk setzen: „Zufalls"-Prozeduren, für die man in der Kunst dieses ganzen Jahrhunderts gewiß noch weitere Beispiele findet. Doch bei manchen Malern haben diese Zufallsprozeduren eine außergewöhnlich genaue Bedeutung. Das Werk Francis Bacons gehört zu denen, die gegen die Abwendung vom Körper in einer Kultur Einspruch erheben, die ihre Denkfähigkeiten an Maschinen abtritt. Nicht daß die von den Maschinen übernommenen geistigen Operationen an sich Böses bewirkten; doch darf ihre wirkliche Nützlichkeit nicht vergessen machen, daß es in der Kunst stets und vor allem ein Körper ist, der denkt. So ist wohl eine der schwierigsten Fragen, die das künstlerische Denken dieses Jahrhunderts beschäftigt, die der Gegenwart der Körper in den Körpern und vorrangig im Sprachkörper selbst, der, indem er sie benennt, alle Dinge und alle Körper zu erscheinen auffordert. Francis Bacon versucht, die ambivalente Beziehung wiederzufinden oder wenigstens nicht zu verlieren, die der denkende Körper zu anderen Dingen und Körpern eingeht. Uber eines seiner Gemälde sagt er: „Ich wußte, daß ich zwei Figuren auf ein Bett legen wollte und in gewisser Hinsicht wollte ich, daß sie kopulieren oder sich arschficken oder wie man das nennen will - , aber ich wußte nicht, wie ich das machen sollte, damit es die Kraft jener Empfindung annimmt, die ich bei diesem Thema verspürte. Ich konnte mich nur aufs Glück verlassen und versuchen, daraus ein Bild zu machen . . . Ich bin also vollständig im Leeren geblieben und habe mich den Zufällen überlassen, wie ich es die ganze Zeit mache." Es gibt kein Wissen, das ausreichend wäre, eine solche Gegenwart des Anderen als „unmittelbar" gegenwärtig zu denken. Wenn man Worte finden will, um diese erotische Erfahrung auszusprechen, muß man die Sprache wie von selbst und zufällig sprechen lassen. Francis Bacon zählt die Verfahren auf, die er anwendet, um die Sprache in einem Körperan-Körper von Maler und Farbe, das gleichsam dem Zufall ausgeliefert ist, zum Sprechen

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zu bringen: Er bedient sich viel zu breiter Pinsel, um die Züge einer Figur detailliert ausführen zu können; er verschmiert die noch frische Farbe mit Lappen; mit bloßen Händen wirft er Farbe auf die Leinwand. So entdeckt man unabhängig davon, welches Gemälde Bacons man vor Augen hat, sei es nun ein jüngeres oder ein älteres, dieselbe Struktur, die an sich Widerspruch zur oder Gewalt an der Sprache der Malerei ist: Eine Person oder eine Personengruppe stellen in der Mitte der Bilder Körper dar, die wie durch die vom Körper des Malers ausgehenden Zufallsimpulse zerquetscht oder zerknittert wirken; und diese chaotischen Zentren sind in geometrische Strukturen und in Farbabflachungen eingelassen, die ein ausreichendes Maß an stabiler Ordnung vermitteln, um diese Drohung mit dem Chaos einzudämmen. Doch das Werk Francis Bacons zeigt noch einen anderen Aspekt, der wesentlich für das künstlerische Denken unseres Jahrhunderts ist. Der Gedanke der Zufallsimpulse, die die Körper zerdrücken oder verformen, tritt in den Bildserien hervor: Die Individualität derselben Körper löst sich in ihnen in zahlreichen Variationen auf. Denn die gegenwärtigen Zeiten werfen, ob man will oder nicht, das Problem der Serialisierung der Gegebenheiten des Denkens auf. U n d keiner der großen Maler des Jahrhunderts ist, glaube ich, vor der Herausforderung zurückgewichen, die diese neue gesellschaftliche Ordnung der Zeit, die einer seriellen Logik unterliegt, für die Kunst darstellt. So auch Francis Bacon nicht, der zahlreiche Porträts einiger weniger Freunde oder seiner selbst malt. Er bietet mannigfaltige Visionen dieser Körper, immer der gleichen. Von Bild zu Bild stehen sich dieselbe chaotische Gewalt und dieselbe Linien- und Farbordnung gegenüber. Die Serie ist hier also nicht jene rein repetitive derselben Stereotypen, wie man sie etwa im Werk Andy Warhols findet. Die Serie hält an der Gewalt der Widersprüche fest, die heute die Malerei anstacheln, da sie sie in ihre innere Struktur aufnimmt. Sie verweist auf das, was man wohl die Vielheit des Einen nennen muß, da man von dieser extremen Erfahrung der Andersheit, in der nicht nur „Ich" „ein Anderer" ist, sondern in der „Ich" etwas anderes bin als ein „Ich" und in der „ D u " ebenfalls immer ein anderer ist, nur in paradoxen Begriffen reden kann. Die Andersheit des Anderen mir gegenüber und die meiner selbst gegenüber mir selbst nimmt im Werk Francis Bacons oftmals die Form einer Inszenierung des Doubles an. Die formale Dualität des Werks (also jene der chaotischen Figuren in der Bildmitte, die der Geometrie der Linien und den Farbabflachungen entgegengesetzt sind) erzeugt entsprechende Phantasmen: Sie erzeugt die mythische Form des Doubles. Manche menschlichen Figuren werden in diesen Bildern durch ihre Betrachtung in einem Spiegel verdoppelt. Andere Porträts wiederum sind Diptychen oder Triptychen, die gemeinsam zwei oder drei mögliche Bilder derselben Wirklichkeit zeigen. Mehrere, gerade schreibende männliche Figuren werden durch Blätter voller Schriftzüge verdoppelt, die zusammengeknüllt auf die Erde geworfen wurden. Schließlich stellen einige Bilder wie ζ. B. die „Studie zu einem Selbstporträt" von 1975 einen männlichen Körper dar, der durch eine Art monströser Verdoppelung, in der der innere Körper wie im Äußeren erscheinen soll, sein Blut und seine Säfte auf den Boden zu fließen scheinen läßt.

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Das Thema des Doubles ist oft mit dem Thema des Monströsen verbunden. Beide sind für das künstlerische Denken wesentlich. Die Kunst erstellt wirklich keine abstrakten Konzepte, wohl aber Figuren, deren generische Natur darin besteht, analogistische Doubles zu sein. Im griechischen Mythos galt Dädalus als der erste Künstler. Sein Name ist ein Wort, das die Grammatiker ein „verdoppeltes" nennen. Zunächst stellte er eine Statue mit rundem Buckel her, ein voluminöses Double des menschlichen Körpers. Zudem hat Dädalus die monströse Verkupplung der Königin Pasiphae mit dem weißen Stier zugelassen, aus der dann das Monstrum des Minotaurus hervorgeht. Schließlich war diese erste von Dädalus hergestellte Statue eine Mischung aus Holz und Metall: Darüber hinaus, daß der Mythos einen Technikfortschritt bezeugt, bekundet er auf symbolische Weise auch, daß das künstlerische Denken denkt, indem es die Gegensätze, das Pflanzliche und das Mineralische, vereint. Das Eine ist für das archaische griechische Denken zwei; es ist nach Heraklit die Einheit des Gegensätzlichen. Dieses Denken der paradoxalen Vielheitlichkeit des Einen ist in der Kunst erneut aktuell geworden: Zweifellos deshalb muß das künstlerische Denken den Maschinenweisen seriellen Denkens entgegentreten, das das Verschiedene auf das Selbe zurückführt. Seit jeher ist die Kunst für den Menschen tatsächlich die Gelegenheit, seine Sprache in der Hoffnung zu befragen, daß - um Rene Char und anderen Poeten zu glauben - die Worte sich einstellen mögen, die „von uns wissen, was wir an ihnen ignorieren". In den Höhlen von Lascaux benutzte ein Maler der Vorzeit die Ausbuchtung eines Felsens, um den Augen und dem Denken den vollen Bauch eines Muttertieres vorzuführen. Es gibt kein Denken der weiblichen Fruchtbarkeit, bevor nicht die Beobachtung des Sichtbaren auf den Felswänden dem Geist eine Form geboten hat, in der sie körperlich werden kann. Heute indes ist die Dringlichkeit groß: Denn Denkmaschinen machen folgende Immoralität möglich: Jeder Gedanke kann auf eine nützliche „Information" reduziert werden; jede Formierung der Information erfolgt gemäß einer binären Logik mit den beiden Gliedern 0 und 1, ja und nein, mit der von der operativen Systemfinalität definierten Nützlichkeit konform oder nichtkonform. Die diese binäre Klassifizierung gestattende Unterscheidung schafft keine Differenz zwischen den Gliedern. Sie ist ganz im Gegenteil ein Denken der Indifferenz, die nur ein- und auszuschließen vermag. Sie setzt Identitäten und verweist das Nicht-Identische auf das als Modell Gegebene. Auch heute macht sich das künstlerische Denken zur Aufgabe, die Erfahrung der Andersheit in ihren Wahrnehmungsgrundlagen wiederherzustellen oder zu bewahren. Und es ist wie bei Francis Bacon oft gehalten, sich auf den menschlichen Körper zu beziehen. Es wendet sich somit auf wirklich grundlegende Weise an das ethische Denken und an das politische Denken.

Rene Scherer

Die Schönheit des Bösen

Die Diskussion eines Films über den Menschen Jesus Christus hat uns jüngst erst wieder daran erinnert, daß es Themen gibt, derer sich die Kunst nicht annehmen kann, ohne zugleich die Moralordnung gegen sich aufzubringen. Auch wenn es sich in diesem Fall um den Gott-Menschen handelte, so hat bereits die Darstellung des Menschen selbst unter bestimmten Umständen ganz ähnliche Leidenschaften oder auch Schlimmeres wachgerufen. Man denke nur an die mittlerweile schon vergessene Ausstellung der Nationalsozialisten über „Die entartete Kunst" im Jahre 1937, deren Katalog auf dem Einband den „Neuen Menschen" von Otto Freundlich zeigte, der vernichtet werden sollte. Diese Steinfigur, in der sich die ganze Überschreitung des bildnerischen Kanons verdichtete, schien zu Recht die Negation der arischen Identifikation der Menschheit zu sein; eine Herausforderung, die aus der Erneuerung der zeitgenössischen Ästhetik hervorging und sich gegen die akademische Kunst der unmenschlichen Barbarei richtete. Die Streitigkeiten um die ästhetische Darstellung des Menschen sind immer auch Kämpfe für den Sinn des Menschen gewesen. Für uns trägt die Ethik heute einen Namen und die Ästhetik tausend Gesichter. Die Ethik ist leicht identifizierbar: Sie ist die Anrufung eines Komitees, des Ethikkomitees. Dessen Ziel ist klar: Es hat die Aufgabe, alles aufzudecken, was den grundlegenden Menschenrechten und der Erhaltung des menschlichen Lebens zuwiderläuft. Die Probleme, mit denen es sich befaßt, gehören natürlich im wesentlichen in den Bereich der Medizin. Und die jüngsten Probleme, mit denen man in Frankreich zu tun hatte, betrafen die Verlängerung des bereits bewußtlosen Lebens und die Experimente mit Fällen zerebralen Komas. Vor dem Menschen, vor der Figur des Menschen, wie sie sich bis heute ausgebildet und bestimmt hat, steht die Ethik Wache. Ihr gegenüber scheint die Ästhetik, deren Zweckfreiheit Kant zu einem ihrer Hauptmerkmale gemacht hat, unmittelbar vielgestaltig und deshalb kaum festlegbar. Ästhetik spielt mit dem Unmenschlichen. Obwohl sie bevorzugt den Menschen zu ihrem Gegen-

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Rene Scherer

stand macht, erlebte sie nur dann Fortschritte, wenn sie die endgültige Festlegung ihrer Form verweigerte. Ästhetik verbiegt, durchforscht, dekonstruiert Formen. Eine gelungene Darstellung des Gleichgewichts des Humanismus zeigt die „Anatomiestunde" Rembrandts, in der die Ästhetik ihre Verbindung mit der Medizinischen Fakultät feiert; in diesem Augenblick scheint die medizinische Ethik anläßlich der Sektion des Leichnams gleichzeitig ihre Normen und deren Grenzen durchzusetzen; dieses Gleichgewicht liegt schon lange hinter uns. Wenn sich Ästhetik weiterhin für die Anatomie, für den zerstückelten und geöffneten Körper interessierte, dann insofern, als sie ihn eher aus einer anderen als der ethischen Perspektive untersuchte. Sie interessierte die Perspektive Sades, Goyas, Artauds, Bellmers, in der sie zur mittelalterlichen und barocken Faszination durch den gemarterten Körper zurückfand. Blutige Ästhetik, Ästhetik der Grausamkeit, auch wenn letztere nur auf metaphorische Weise gegenwärtig ist. Obwohl die Form des Menschen unterschiedlich und unstet ist, ist sie dennoch eine Form für die Ethik. Mit der Ästhetik jedoch zerfällt sie, entkommt der Mensch seiner Hülle. Aus Prinzip und per definitionem kann die Ethik keinen Exzeß hinnehmen; die Ästhetik aber geht zugrunde, wenn sie nicht die Richtung des Exzesses einschlagen darf. Was auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Experimente am Menschen oder der mißbräuchlichen Verwendung von Macht und Informationstechniken als Schutz bestehender Rechte in Erscheinung tritt, wird auf dem ästhetischen Feld zur Zensur. Die Frage der Beziehungen zwischen Ethik und Ästhetik scheint auf dieser Ebene also bereits entschieden oder zumindest leicht entscheidbar: Wenn man unter Ästhetik die freie Entfaltung des künstlerischen Schaffens versteht, hat sie nichts mit Ethik zu tun. Uberall dort, wo dieses Schaffen auf moralische Beschränkungen stößt, triumphiert die Ästhetik schließlich doch über ihre Zensoren.

Die aufwertende

Ästhetisierung

Alles könnte demnach zum besten stehen und die Ethik könnte der Ästhetik das Recht einräumen, sich nicht mehr weiter um die Ethik kümmern zu müssen; oder um eine deutlichere Sprache zu sprechen: unmoralisch oder amoralisch sein zu dürfen. Gleichwohl existieren Reibungspunkte oder Uberlagerungszonen; sie bilden kritische Bereiche, in denen sich die tiefe wechselseitige Durchdringung von Ästhetik und Ethik zeigt, die man nicht einfach ignorieren kann. Folgende Punkte möchte ich einer genaueren Betrachtung unterziehen: Es gibt einen Bereich, in dem die Ethik gesellschaftlich Gesetze zu verkünden pflegt, ohne daß dieser Gesetzgebung seitens der Ästhetik groß Hindernisse entgegengesetzt würden: Das ist die Pornographie. Im allgemeinen findet die Ethik gerade in diesem Bereich ihren Stoff, während die Ästhetik zögert, ihre Rechte anzumahnen. Genauer: Die Ästhetik überläßt diesen Bereich der Ethik in dem Maße, in dem die Pornographie von

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keinen sicheren ästhetischen Kriterien geleitet zu werden scheint; dieses Gebiet bildet eine Art no man's land. Solche Kriterien für das Selbstverständnis der zeitgenössischen Ästhetik wären von großem Interesse. Um sie anzuerkennen, erwartet die Ethik von der Pornographie, daß sie sich als ästhetische ausweist, daß sie sich ästhetisiert; daß die Ästhetik ihr sozusagen zu Hilfe eilt und sie unter ihren Schutz nimmt. Zuweilen hat sie dies auch getan: Die Auseinandersetzungen zwischen der Kunst und der Justiz und ihre fast durchgängigen Siege zeugen davon. Sie beweisen aber auch, daß die Ästhetik den besonderen Inhalt der Pornographie, die Zurschaustellung und sexuelle Erregung einzelner Teile des Körpers, überwachen und kontrollieren darf: Die Ästhetik gewährt der Pornographie nur unter bestimmten Bedingungen Schutz. Im Rahmen dieses Vorgangs kommt in ihr eine regulierende Struktur zum Vorschein, die der Struktur der Ethik vergleichbar ist. Kant sprach von ihr als von der „Schönheit als Symbol der Sittlichkeit".

Die abwertende Ästhetisierung Doch es gibt einen weit strittigeren Punkt, an dem die Ästhetik und die Ethik bezüglich der Ästhetisierung selbst aufeinanderprallen. Weit davon entfernt, den Gegenstand durch ihr Eintreten zu retten, wenn sie zwischen ihm und den Zensoren vermittelt und ihn so unter ihren Schutz nimmt, sieht sich die Ästhetik gerade durch den Gegenstand verurteilt, dessen sie sich zu bemächtigen versuchte. In diesem Fall genügt es, die Ästhetisierung und selbst noch den Schatten von Ästhetisierung zu verurteilen. Ich erkläre dies, indem ich mich auf zwei Texte beziehe, die bekannt sind; es handelt sich einerseits um das Nachwort in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" von Walter Benjamin, das die Ästhetisierung der Politik und des Krieges behandelt; andererseits um Kommentare Ruskins zu Turner, in denen er den einfachen Liebhaber der Malerei mit der freizügigen Sensibilität dieses Künstlers konfrontiert. Ich zitiere hier die Passage, die die Wandlung eines wirklichen Elends in einen Gegenstand der Kunst behandelt: „Was interessiert es ihn, daß die Leute vor Traurigkeit und im Fieber verenden... ? Aber doch, das interessiert ihn ungemein. Warum denn sonst sind sie erschaffen worden? Was hätten sie denn besser machen können? . . . Diese vom Fieber geschundenen Wesen, die ihr Leben gaben, um das erste Material dieser Wirkungen herzustellen, sind wahrlich nicht vergeblich tot." Diese beiden Texte legen das ganze Feld der Probleme offen, das die Verallgemeinerung der ästhetischen Kultur und des ästhetischen Bewußtseins dem zeitgenössischen Menschen schaffen. a) Nehmen wir zunächst Ruskin. Heute ist es nicht mehr der Maler, sondern der Amateurphotograph, der sich darüber freut, von seinen Urlaubsreisen eine malerische Ausbeute mitzubringen, die soviel wie möglich von den Katastrophen der Dritten Welt zeigt; es ist dieser Amateurphotograph, der vor den zu Skeletten abgemagerten Kindern oder den verstümmelten Kadavern im Album oder auf der Kassette seinen Unfug treibt,

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wenn er sagt: „Diese Leute sind nicht vergeblich tot, denn sie haben diese Photos ermöglicht." b) Wir begreifen den Satz Benjamins nicht mehr als schöne Formulierung, sondern sehen nun buchstäblich, daß „die Menschheit (...) ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges" erlebt; wir sehen dies zusammen mit Millionen von Fernsehzuschauern, die begierig sind, sich direkt den irakisch-iranischen Krieg ins Haus zu holen und mit dem Blick in die Sterberäume der Gasopfer einzudringen. Ohne jede rhetorische Übertreibung können wir nur die Triftigkeit und die Aktualität der Begriffe festhalten, mit denen Ruskin ebenso wie Benjamin ins Zentrum ethischer Probleme der Ästhetik vorgedrungen sind.

Die nihilistische Ästhetik Diese Feststellung zwingt mich noch zu einem weiteren Schnitt, der die Natur der Ästhetik, die von der Ästhetisierung betroffen und einem entsprechend abwertenden Urteil unterworfen ist, und die Beziehung des fraglichen Gegenstandes zu einer möglichen Neubestimmung der Ästhetik unterscheiden soll. Eines der kritischen Argumente Benjamins am Ende seines Angriffs auf das „l'art pour l'art", das „Fiat arspereat mundus", das er dem Faschismus zuschreibt, besteht darin, daß „die Menschheit nun ein Schauobjekt für sich selbst" geworden sei. Die Ästhetisierung wird hier als Akt des interesselosen Zuschauers definiert, hinter dem man leicht eine Ästhetik der reinen Vorstellung im Sinne Schopenhauers wiedererkennen könnte. Ganz ähnlich lautet auch der Vorwurf Ruskins gegen die nur wenig talentierten Maler, die im Elend der anderen weiter nichts zu sehen vermögen als den Vorwand für ein kontemplatives Vergnügen. Das ist, was man in anderen Begriffen eine nihilistische Ästhetik nennen könnte. Marinettis Manifest, das den äthiopischen Kolonialkrieg beschönigt, indem es ihn in die reine Vorstellung eines distanzierten Zuschauers, in eine visuelle Maschine verwandelt, ist dafür ein gelungener Ausdruck. Nicht die Ästhetik selbst oder ihr Gegenstand, sondern diese nihilistische Ästhetik wird von Benjamin und Ruskin verurteilt. Die Verurteilung der Ästhetisierung lädt ein, zu den Ursprüngen der Ästhetik zurückzukehren; die Wahl des Gegenstandes - sei es nun das Elend oder der Krieg - gibt Anlaß, erneut allgemein über den Gegenstand der Ästhetik und die Arten und Weisen seiner Behandlung, aber auch über den Einfluß des Gegenstandes auf diese nihilistische Ästhetik selbst nachzudenken. Dieser letzte Aspekt ist zweifelsohne der wichtigste, weil er zu der erneuten Überlegung zwingt, worin die Ästhetik im ganzen in ihrer Beziehung zur Ethik besteht; gegen die nihilistische Ästhetik also eine andere zur Geltung zu bringen, die auf Lebenskräfte begründet ist.

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Die leidenschaftliche Ästhetik Ruskin schließt das Elend als Gegenstand der Malerei nicht absolut aus. Benjamin scheint den Krieg auszuschließen; doch handelt es sich deutlich erkennbar um den Krieg als Darstellung, um das Kriegs-Spektakel, um den Krieg, wie er von der Mussolinischen Propaganda vorgeführt wird. Der Krieg entzieht sich in seinem Schrecken, in seiner bis an die Grenzen des Menschen und darüber hinausreichenden Intensität nicht der Ästhetik. Brecht wird dafür das Beispiel liefern. Doch die letzte Formulierung Benjamins, die der faschistischen Asthetisierung der Politik die „Antwort des Kommunismus" entgegenhält, die in der „Politisierung der Kunst" besteht, läuft leider Gefahr, das zeitgenössische Denken, auch das der politischen Kunst, zu blockieren, es von einer reicheren Interpretation, von den im Text Benjamins vorhandenen Anmerkungen abzulenken, die doch gerade im Rahmen einer erweiterten Ästhetik verstanden werden wollen. So führt auch Ruskin in seine Kritik des Malereiliebhabers die einleuchtende Idee ein, daß seine ästhetische Tätigkeit vielleicht jenseits des Spektakels eine Lebenswahl beinhaltet. Die Alternative heißt nicht: entweder faschistischer Ästhetizismus oder Politisierung der Kunst. Sofern man nur die Perspektive seiner Überlegungen erweitert, zeigen sich inmitten der Ästhetik selbst grundlegende Kräfte oder Energien, die zu einem Zuwachs an Lebensintensität führen. Diese Kräfte stehen nur täuschenderweise auf der Seite der staatlichen Manipulation der Massen. Die andere Ästhetik ist keine im Sinne Schopenhauers, sondern eine im Sinne Nietzsches. In die gleiche Richtung, wie paradox auch immer das scheinen mag, möchte ich die Ästhetik der Einfühlung einordnen, die Ruskin der kontemplativen entgegensetzt hat und die er Turner ebenso wie Tintoretto zuschreibt: Einfühlung in die anderen, in die Dinge, die Welt, allgemein in die Kräfte des Lebens und nicht die des Todes. Im einen wie im anderen Fall sind diese Ästhetiken vor allem leidenschaftliche und lassen die versteinerte Form des Menschen zerspringen. In diesem Sinn bedrängen sie die Ethik. Von den zeitgenössischen literarischen Werken, deren vorrangiger Gegenstand der Auseinandersetzung der Krieg ist und die an der nihilistischen Asthetisierung Zweifel hegen und sie durch eine andere ersetzen, möchte ich „Tombeau pour cinq cent mille soldats" von Guyotat und „Ein verliebter Gefangener" von Genet anführen. In beiden Werken wird über die Antinomie von Ästhetik und Ethik ohne Rekurs auf irgendeine der Ästhetik selbst äußerliche Instanz oder Bedeutung hinausgegangen. Durch ihren intimen und leidenschaftlichen Zugang zu ihrem Gegenstand umfaßt und begreift diese Ästhetik mehr. Diese tiefreichende Einfühlung, diese Suche nach einer Lebensintensität, die exzessive Formen der morbide genannten Anziehung oder der Erotik, d. h. des Pornographischen annehmen kann, ist verwandt mit dem, was Bataille die „starke" oder überlegene „Kommunikation" genannt hat, die sich der schwachen Kommunikation des gewöhnlichen Verkehrs entgegensetzt. Sie kann, schreibt er in „Die Literatur und das Böse", „nur unter

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einer Bedingung Zustandekommen, d. h., daß wir uns dem Bösen zuwenden, der Verletzung des Verbotes". In ihr gründen die „bevorzugten und stets auf Überschreitung zielenden Momente der Sinnlichkeit, des Festes, des Dramas, der Liebe, der Trennung, des Todes". „Denn das Schöne ist nichts/ als des Schrecklichen Anfang." (Rilke) Wenn man sich wundert, daß ich mich hier auf ein Konzept beziehe, das Bataille gerade geschmiedet hatte, um es Genet entgegenzuhalten, von dem er glaubte, daß er stets sich selbst zugewandt geblieben und zu keiner Kommunikation gelangt sei, so glaube ich doch, daß „Ein verliebter Gefangener" ein hinreichend deutliches Dementi dieses Vorwurfs darstellt. Die Entscheidung Genets für ein ästhetisches Leben und eine ästhetische Anschauung des palästinensischen Krieges ist die Entscheidung für eine starke Kommunikation; derart stark, daß es ihr gelingt, zwei Unnachgiebigkeiten in einer souveränen, überschreitenden Subjektivität zusammenzuführen.

Das Verschwinden der Ethik in der Ästhetik Das Problem, das in dieser neu aufgekommenen Idee der Kommunikation steckt, scheint mir im Zentrum der Beziehungen zwischen Ethik und Ästhetik zu stehen, sofern man sich nicht damit begnügen möchte, beide jeweils getrennt voneinander zu definieren und ihre Einflußsphären abzugrenzen. Und wenn man das moralische Gewicht der Ästhetik sichern und die Ethik dadurch zurückdrängen möchte, daß man sie überflüssig macht, was die Möglichkeit einer allgemeinen Ästhetik schafft. Charles Fourier glaubte die Moral überflüssig zu machen, indem er die Erfüllung ihrer Zwecke dem „integralen Aufflug" der Leidenschaften in einer umfassenden Ordnung anvertraute. So gesehen gibt es zwischen der erweiterten Kommunikation im Sinne Batailles, zu der es ausschließlich in der Verletzung des Verbots kommt, und der gemeinschaftlichen Harmonisierung der auf ihren äußersten Intensitätsgrad getriebenen Leidenschaften eine bemerkenswerte Analogie, auf die hier allerdings nur hingewiesen werden kann. Das Fehlen der Moral bei Fourier, das Benjamin in seinem Werk über das Paris des 19. Jahrhunderts („Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts") mit einem zutreffenden Titel unterstreicht (Eine Welt der Unmoral), darf nicht im Sinne eines individuellen Hedonismus oder eines Utilitarismus verstanden werden. Es behält der Ästhetik und insbesondere der ästhetischen Erziehung die Entwicklung einer Begeisterung für die Entsagung vor, zu der es nicht ohne Erinnerung an Bestrebungen kommt, die Ethik in die Ästhetik einzufügen; Bestrebungen, die Schiller zufolge die deutsche Seele gekennzeichnet haben. Ich möchte eher auf dem Ergebnis bestehen, das aus dieser Möglichkeit der ästhetischen Absorption der Ethik resultiert, die sich an zahlreichen Punkten herausbildet und die äußerst erwünscht zu sein scheint, und das sich als eine Ästhetik der Lüste bezeichnen läßt, die zugleich eine Ethik des Verhaltens ist. Diese Ästhetik verlangt zweifellos den Ungehorsam gegenüber den Regeln und die Abweichung von jeder Form von Macht; die Zerstörung der Schönheit oder ihre Überführung in die Schönheit des Bösen, in dieses

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konvulsivische, explosive Paar, aus dem seit „The Marriage of Heaven and Hell" von Blake die moderne Kunst hervorgegangen ist. Dieses Böse erscheint als einziger Statthalter einer Energie, die das „ewige Vergnügen" ist. Die damit verbundenen Paradoxa sind hinlänglich bekannt. Im Rahmen ihrer Erforschung wird „die Souveränität" des freien Individuums, um die Terminologie Batailles wiederaufzunehmen, mit der „starken Kommunikation" identifiziert. Denn nur in der Rückwendung auf sich selbst ist die Souveränität trügerisch; zur authentischen Kommunikation kommt es ausschließlich zwischen souveränen, transgressiven Individuen, die sich in ihrer wechselseitigen Unnachgiebigkeit begegnen. Daß die Ästhetik der Aufflug der souveränen Kommunikation sei, heißt für mich, daß sie eine verbindende Kraft ohne feststehende Regeln ist, die aber Wahlverwandtschaften zu organisieren vermag. Sie leitet die Bildung von Gruppen im Sinne Fouriers und ebenso jene plötzlichen leidenschaftlichen Bündnisse, auf die die Gruppen und Freundschaften begründet sind, die das künstlerische Leben unserer Zeit entwickelt haben. Man muß wohl nicht im einzelnen daran erinnern, daß solche ästhetischen Gruppen Trägerinnen und Verkünderinnen einer neuen Ethik sind. Als einzige zugleich ästhetische und ethische Subjekte und in ihrem Wesen kommunikativ entgehen sie jeder nachhaltigen ideologischen Formierung, jeder staatlichen Gewalt. Als Veränderungen erzeugende Zentren der sozialen Bewegung, besonders in der Kunst, aber auch in den alltäglichen Wahlverwandtschaften, stellen sie den Untergrund der offiziell anerkannten sozialen Schichtungen, der Orte der schwachen Kommunikation dar. Am Rande einer Ethik, in der der Mensch erstarrt, kann vielleicht auf ästhetische Weise die Gefahr der Unmenschlichkeit gebannt werden.

Dietmar Kamper

Unter dem Schatten des Körpers . . . denn Helios wird seine Maße nicht überschreiten. Sonst werden ihn die Erinnyen, der Dike Schergen, ausfindig machen. Heraklit von Ephesos

Als wir vor 15 Jahren von einer „Wiederkehr des Körpers" - allerdings noch mit der Frage: „Fiktion oder Wirklichkeit?", verbunden - zu sprechen begannen, ahnten wir nicht, daß eine wirklich fiktive Wiederkehr stattfinden würde, und zwar eine des Körpers im Bilde, und daß die Frage mit ihrem Entweder-Oder-Muster inadäquat gestellt war. N u n sehen wir mühsam, daß auf den Hochglanz-Bildern vom Körper neue Schatten auftauchen, die von einem Körper, der nicht ins Bild paßt, geworfen werden. Eine entsprechende Frage müßte zumindest die Naivität der damaligen Alternative vermeiden und sich darüber hinaus in der indirekten Rede üben. Der Körper, der Schatten wirft auf die Bilder vom Körper, die bis vor kurzem einen ungebrochenen Siegeszug mitmachten, kann nicht als Gegenstand dienen. Er wirkt vom Rücken der Betrachter her und würde sich mit jedem Versuch, seiner auf direkte Weise habhaft zu werden, nach hinten drehen. Insofern ist ein Denken, Sagen und Schreiben unter dem Schatten des Körpers gehalten, für sich nicht die Ausnahme von der Regel zu beanspruchen. U m sein Thema nicht zu verspielen, muß ein Körper-Denken seine prinzipiell unzulängliche Position ins Kalkül einbeziehen. Es wird zur Wahrnehmung der Wahrnehmung, nicht um noch eine Variante der Selbstreferenz durchzuspielen, sondern um dem Anderen die Chance zu lassen, im Spiel zu bleiben. Sprechen wir also vom Schatten und - unter dem Schatten des Körpers vom Körper. Dem Schatten haftet noch immer etwas Odiöses an, etwas Verdächtiges, etwas, das nicht sein soll und letztendlich verschwinden wird. Der Schatten gehört - nach einer gängigen Auffassung - zu den „faiblesses terrestres", zu den Schwachstellen der Erde, zu den Einwänden gegen die erste Schöpfung, die gerade dort nicht vollkommen gelungen sei, wo ein Materielles sich dem Licht entgegenstellt und seinen Schattenriß auf Flächen markiert. - Dem widerspricht aber das Motto. Heraklit, der selbst der Dunkle genannt wurde, feierte den Schatten seinerseits als Garant der Maße, die Helios, den Gott der Sonne, den Gott als Sonne an eine mittlere Welt binden, wenn nicht gar fesseln. Wenn er diese Maße überschreitet und somit ins Extreme gerät, wird er ausfindig und dingfest

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Dietmar Kamper

gemacht durch die Rachegeister der dunklen, schattigen Erde. Das Motto ist mir seit meiner Münchener Studentenzeit bekannt. Es diente mir zur Warnung, das Studium der Wissenschaften als eines Sonnengottesdienstes nicht zu übertreiben und im eigenen Denken dem mütterlichen Dunkel verwandt zu bleiben. Indem ich also hier und jetzt eine Rehabilitierung des Schattens versuche, kann ich an alte Absichten anknüpfen und mit Hilfe des Heraklit Dinge ermitteln, die in ihrem Stellenwert zwischen Licht und Schatten, zwischen Schatten und Licht gefährdet sind: das Reale, die Schwere, der Körper. Sächlich, weiblich und männlich dimensioniert kommt der Schatten damit anders zur Darstellung als man es gewohnt ist. Ich gebe zunächst meinen Gedankengang in dreizehn Schritten, um ihn dann einzeln oder in Bündeln zu erläutern. 1. Das wirkliche Reich der Menschen ist das Mittlere, das des Clair/Obscur; es ist begrenzt und bemessen durch zuviel Schatten und zuviel Licht. 2. Im Anfang gab's zuviel Schatten, am Ende gibt's zuviel Licht; die Richtung der menschlichen Geschichte ist klar, zumindest seit der Aufklärung. 3. Aber inzwischen fand ein Umschlag statt; seitdem entsetzt sich die Angst nicht mehr vor dem Dunkel, sondern vor den Ungeheuern des Lichts. 4. Die Schatten an den Wänden von Hiroshima und Nagasaki sind das einzig Reale, das von der Schwere der Körper auf Erden übrigblieb. 5. Es gab Warnungen, Schlagschatten in Schriftform an der Wand, die schon lange gelesen werden konnten: es sei unmöglich, über den eigenen Schatten zu springen. 6. Je mehr Licht, desto mehr Schatten. Das ist die unüberschreitbare Grenze des Sehens am Rande des Sichtbaren. 7. Im Imaginären kommt der Andere nicht vor. Zuviel Beobachtung zieht Autismus nach sich: die Welt als Spiegellabyrinth ohne Ausgang. 8. Seit die Unsterblichkeitsphantasien der Moderne sich rettungslos mit dem Licht verbündet haben, findet sich das Sterbliche im Schatten. 9. Seine Parteigänger versuchen, im Medium der Entmaterialisierung das Reale, die Schwere, den Körper zu betonen: Strategie der gebremsten Transparenz. 10. Auf dieser Stelle arbeitet neuerdings die Kunst. Wenn die Verlichtung der Sinn der Geschichte ist, dann ist die künstlerische Arbeit der Wahnsinn. 11. So betrachtet, gleicht die Kunst dieses Jahrhunderts einem Abbruchunternehmen, das die Domäne des Sichtbaren unterminiert. 12. Für die Schwere, das Unterpfand der Sterblichkeit zu kämpfen, heißt: die Beschränktheit des Symbolischen auf symbolische Weise zu zeigen. 13. Denn das Universum ist kein Uni-Versum; die geschaffene Welt ist ebenso schwach wie der schaffende Gott; aus den fraktalen Schatten kommt das Künftige.

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Erstens Die Menschen wohnen im Halbschatten an der Grenze, wo sich der Sonne Licht und der Erde Schatten miteinander mischen, in der ewigen Dämmerung, sei es in der des Morgens, sei es in der des Abends. Von solcher Wohnung aus wird die Nacht ebenso gemieden wie das schattenlose Licht des hohen Mittags. Doch die Menschen wohnen nicht nur. Sie machen auch Expeditionen, Ausflüge über den Rand des mittleren Reiches hinaus, vornehmlich ins Licht und folgen darin dem Gott, dem Heraklits Warnung gilt. Insofern sie mit der Sonne in Konkurrenz treten, ist Maßlosigkeit von Anfang an auch ein menschliches Schicksal. Der Satz von den verlorenen Maßen und von der tätigen Rache der Erinnyen hätte gar keinen Sinn, wenn er die Freiheit des Menschen vergäße, aufzubrechen, wohin er will. Die Gefahr der Überschreitung durch Verlassen der Maße ist ebenso wirklich und wirksam wie der Raum fürs Wohnen, jedenfalls zunächst. O h n e die Expeditionen ins Extreme wäre auf dem Planeten nie etwas in Gang gekommen. Man denke an das Paradies und seine beschränkte Ordnung. Die Geschichte ist ohne ihr extremes Gegenteil, ihre äußerste Gefährung, nicht denkbar. Aber man muß die Anfangsbemessung ebenso im Blick behalten wie die Überschreitung derselben. Dann bleibt es spannend, worauf beides im Wechselspiel miteinander hinausläuft. Erst wenn der Bügel bricht an der Waage zwischen Maß und Gefahr, wenn die Maßlosigkeit perfekt wird, verliert sich die Spannung der Geschichte ebenso wie das Interesse daran, geraten die Menschen ins Irre, ohne noch zu wissen warum.

Zweitens und drittens Man darf also annehmen, daß die Maße der menschlichen Welt einem Zuviel an Dunkelheit abgerungen worden sind. Man muß aber auch annehmen, daß seitdem die Errungenschaften durch ein Zuviel an Licht gefährdet sind. Die Richtung der menschlichen Geschichte scheint per aspera ad astra zu gehen, aus dem Dunkel der mütterlichen Höhlen ins Licht einer körperlosen, flüchtigen, unwirklichen Transparenz. So lautet das Ziel einer Geschichte als Vergeistigung. Am Schluß hält er, der Geist, alles im Griff, ohne - da man ihn durchgreift - selbst begriffen zu sein. Doch diese Richtung von der Materie zur Herrschaft der Transparenz, von „animal" über die „anima" zum ubiquitären „Animismus" ist umgeschlagen: Neuzeit, Aufklärung, Moderne sind am Punkt ihres endgültigen Abschieds von der Erde in einen radikalen Verdacht vorgerückt, daß nämlich die Richtung überhaupt nicht stimmt, daß die Maßlosigkeit eine neue Unmenschlichkeit mit sich bringt, die in der Zunahme dessen passiert, das minimiert werden sollte. Immer weniger Schatten bedeutet nämlich keineswegs: immer mehr Licht. Die beiden Ordnungen diesseits und jenseits des Wohnens sind gar nicht so aufeinander bezogen wie die historische Linie, die die Richtung abendländischen Selbstverständnisses suggerierte. Vielmehr muß es in aller Strenge heißen: je mehr Licht, desto mehr Schatten. Sowohl das alte Dunkel als auch ein neues, hier tituliert als „die Ungeheuer des Lichts", sind nun im

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Spiel. Ich identifiziere sie als die Lichtbilder, die wir gemacht haben und machen, Milliarden an der Zahl, die sich, absolut geworden, gegen uns wenden. Vielleicht war Aufklärung immer nur dies: Bilder machen, Transformation des Realen, der Schwere, der Körper ins aufgehellte Bild, De- oder Entmaterialisierung, unerwartet endend in einem transparenten Nihilismus, der ein maßloses Zwielicht verbreitet.

Viertens Seit Hiroshima und Nagasaki ist diese Ambivalenz der Verlichtung des Dunkels unbestreitbar geworden. Die Schatten dort an den Wänden sind Reste der Realität körperlicher Schwere, die nach dem erscheinenden Feuerball der Bombe, heller als tausend Sonnen, von wirklichen Menschen übrigblieben. Seitdem hat man die Geschichte des zunehmenden Lichtes und des aufhörenden Schattens anders zu schreiben und anders wahrzunehmen. Erst recht die Geschichte des Wissens, das sich vor Zeiten dem Licht assoziierte. Man hat ja das Wissen als das Lichte, als das Leuchtende definiert und das Unwissen wiederum als das Dunkle, und von daher eine weithin geläufige Metaphorik gefolgert, die auch den Zusammenhang übernahm: je mehr Wissen, desto weniger Unwissen. An der Spitze jedoch des wissenschaftlichen Fortschritts, der mitgewirkt hat, hört es sich längst anders an: je mehr Wissen, desto mehr Unwissen. Je tiefer ich eindringe in die Geheimnisse des Mikrokosmos und des Makrokosmos, desto ungeheuerlicher werden sie. Die ins Unbekannte vorgetriebene Grenze der Forschung läßt das Unwissen im selben Maße anwachsen wie das Wissen. Wer heute genau weiß, weiß auch genau, was er nicht weiß! N u r die ungenau Wissenden wissen es nicht. Allerdings ist ein solches Modell erkennender Erfahrung noch weit entfernt vom Common sense, auch in den Wissenschaften. Vielleicht läßt es über kurz oder lang das Wissenwollen verkümmern, das in seiner Deutung des Wissenszuwachses als Motiv und Motor noch sehr einseitig verbleibt. Vielleicht aber stimuliert es auch die Neugier, die dann aus der Doppelnatur von Wissen und Nichtwissen, von Vernunft und Nichtvernunft, von Licht und Schatten in der Welt Rückschlüsse auf ihre notwendige Unvollendbarkeit zulassen müßte. Ich komme am Schluß darauf zurück.

Fünftens, sechstens und siebentens Es gibt von Hölderlin in den begleitenden Überlegungen zu seinen Übersetzungen aus dem Griechischen eine bemerkenswerte Erwähnung, die ein Gesetz der verzögerten Sichtbarkeit andeutet. Das, was in Zukunft entscheidend sein wird, taucht sehr leise auf, zunächst unbemerkt, verhüllt, eingesponnen in den Kern eher grober Tendenzen. So ist es auch mit dem Umschlag in der Wertschätzung des Lichtes ergangen, wie es durch Zwielicht und Ambivalenz hindurch nach und nach ins Ungeheure changiert ist. Zwar waren da Warnungen, „Schlagschatten in Schriftform an der Wand", Menetekel in unbe-

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kannten Buchstaben, Zeichen wie Nachbilder von zu großer Helligkeit. Die Sprache hat einiges davon festhalten können, die Wörter, die Sprichwörter der Sprache. Dabei handelt es sich um logische Unmöglichkeiten, die den Menschen aus der „lästigen Tatsache" ihrer Körperlichkeit entstanden sind. Daß der eigene Schatten mitspringt, wenn ich ihn zu überspringen versuche, kann jeder nachvollziehen, der es übt, und üben tut derzeit fast jeder. Auch die unüberschreitbare Grenze des Sichtbaren kann für solche Zeitgenossen, die ihre Augen offen halten, im Wiederholungsfalle ermittelt werden. Schwieriger ist die Behauptung zu ertragen, daß im Imaginären, also im Reich der Lichtbilder, der andere Mensch nicht mehr in seiner realen Körperlichkeit, sondern nur noch in der Form schwereloser Ablichtung vorkommt. Bilder sind nämlich keine Brücken zum Abgebildeten, sondern in Betracht des Anderen Gefängnismauern aus Licht. Das liegt, glaube ich, daran, daß der wahrnehmende Körper bis auf das zum Maschinenersatzteil depravierte Auge reduziert ist, was dann auch dem wahrgenommenen Körper keine Wahl des Widerspruchs mehr läßt. Der Mensch in der Position des körperlosen Beobachters ist aber in seinen Schädel rettungslos eingesperrt. Die einfache Tatsache, daß es mehr als ein Gehirn gibt auf der Welt, kann keinem Gehirn bewiesen werden. Die gesamte Apparatur, aufgefahren seit Galileis Fernrohr und seit den ersten Mikroskopen, befestigt doch nur den Autismus dessen, der die Instrumente bedient. Hier arbeiten die Erinnyen, an einem Spiegellabyrinth ohne Ausgang, das mit dem Versprechen, Platz zu haben für alle Welt, den beobachtenden Menschen hinüberzieht in die rettungslose Existenz der Monade. Das Sehen, das nicht mehr über Kreuz geschaltet ist mit den anderen menschlichen Sinnen, unterliegt uralten Zwängen. Vor allem ist es gezwungen, in einer Welt aus puren Oberflächen zu agieren, in der nur noch Grundrisse, Skizzen, Zeichnungen bestenfalls mit Raumillusion, aber ohne die körperliche Erfahrung einer körperlichen Welt dominant sind. Der Lebensraum ist dann in aller Buchstäblichkeit der Bildschirm, der keineswegs dadurch räumlich wird, daß er in einem Raum steht oder sich durch entsprechende Zusatzschaltungen in virtuelle Räume hinein öffnet.

Achtens und neuntens Ein starker Antrieb für die Assoziation von Phantasie und Licht sind die uralten Wünsche nach Unsterblichkeit. Vom Wahlspruch der religiösen Metaphorik: „je lichter, desto unsterblicher", profitieren nicht nur die Gläubigen, sondern erst recht die Aufgeklärten, auch wenn sie sich für ungläubig halten. Die Wünsche haben sich gewissermaßen abgelöst von den Kontexten der Lebenswelt und bis auf die Knochen der Abstraktion verselbständigt. Abstrakte Figuren sind dabei zustande gekommen, die einem Lebenswillen um jeden Preis aufhelfen, einem rücksichtslosen Mehrwert der totentbundenen Existenz. Was bleibt, ist eine abgemagerte Lichtreligion, die es immerhin erlaubt, alles, was am Menschen sterblich ist, auf die Seite des Schattens zu rechnen, wo es dann ein immer noch elendes Schattendasein führen muß. Deshalb ist der Tod, die Endlichkeit, die Sterblichkeit - und damit die Zeit - bis heute kein wirkliches Thema von Belang, trotz aller

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Dietmar Kamper

Versuche, daran zu erinnern. Auch die mühsamsten Anstrengungen, die Sterblichkeit der Menschen als Ereignis mit persönlichen Folgen präsent zu halten, sind nach und nach gescheitert. Theorie in der methodisierten Form eines akkumulierbaren Wissens kommt ohne Zeit und ohne den Anderen aus, und selbst diejenigen, die in solche Verkümmerungen Licht zu bringen versuchen, erstarren in der Geste der Kritik. Deshalb ist den Parteigängern des Schattens heute nicht viel möglich, bestenfalls eine Strategie der gebremsten Transparenz, die im Medium selbst der Entmaterialisierung für das Materielle eintritt. Wer dort zaghaft das Wort erhebt und mit ihm sich engagiert, kann kaum die ungelenke Rede, das anstößige Stottern vermeiden, was notwendigerweise bedeutet, den schon fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigten Prozessen der Medien eine Verlangsamung in der Artikulation der Probleme entgegenzusetzen. Wahrnehmung bedarf des rekapitulierten anfänglichen menschlichen Maßes. In der Beschleunigung stirbt sie endgültig ab.

Zehntens Die Kunst war vordem - und ist es in den unübersichtlichen Mischungen aus Not und Notwendigkeit noch immer - wie die Theorie den Richtungen des Lichts hörig und untenan. Erst seit hundert Jahren findet sie Anlaß genug, die Seiten zu wechseln. Seitdem hat sie auch mehr und mehr Partei ergriffen für das Materielle, insbesondere für das Materielle an ihr selbst, gegen den imponierten Sinn der Geschichte, der auf Verlichtung, d. h. Vernichtung hinausläuft. Um zu kennzeichnen, wie groß das Risiko ist und bleibt, steht in den Thesen die Formel vom „Wahn-Sinn" der Kunst. Alle Einsprüche gegen den „main stream" der überschrittenen Maße, der von einem dünnen Sonnenkult promoviert wird, werden noch immer stante pede sanktioniert. Dabei ist es längst unmöglich, den Sinn länger mißzuverstehen. Paul Virilio hat seit Jahren unmißverständlich klargemacht, daß die Beschleunigung von Bewegung und Wahrnehmung - und das geschieht in der verlichtenden Tendenz - gezwungenermaßen Waffencharakter annimmt. Nicht allein die Waffen sind schneller, sondern das Schnellerwerden ist eine Waffe geworden, die lebensgefährlich sich auswirkt. Wer hier auf die naturgegebene Arbeitsweise des menschlichen Gehirns verweist, dessen Energieströme, abgesehen von den synaptisch bedingten Unterbrechungen, fast der Lichtgeschwindigkeit gleichkommen, liefert nolens volens das Stichwort für die künstlerische Arbeit: Bremst die Cerebralfunktionen! Kämpft gegen die schnelle Elektronik für den langsamen Chemismus! Nehmt den unvollkommenen Körper als Modell, nicht das vollkommene Gehirn, das keineswegs zufällig der Pilzform der gezündeten Atombombe gleicht!

Unter dem Schatten des Körpers

231

Elftens und zwölftens Mit diesem apokalyptischen Inbild, einem selbstgemachten Offenbarungszeichen, in dem sich die Geschichte der belichteten Welt gut zusammenfassen läßt, hat die Kunst ein virulentes Gegenüber, dementgegen sie nun buchstäblich die Flächen unterminiert, auf denen die Macht des Lichts in Europa sich abspielt. Die symbolische Ordnung des Sinns, durch zuviel Licht zuletzt in die Phase einer ekstatischen Wirksamkeit eingetreten, kann künstlerisch konterkariert werden. Zwar ist eine Kritik der Symbole nur symbolisch möglich, aber die Gegenrichtung ist klarer geworden, nicht zuletzt durch die Exteriorisierung der Symbolfunktion in der großen Rechenmaschine, im Computer. Durch die damit gesetzte Behauptung, daß es nur noch Zeichen gäbe, Daten für die Verarbeitung, werden die Reste erst wieder interessant, die nicht aufgehen im Spiel. D a zeigt sich mit einem Mal die Verwandtschaft eines schattenlosen Reiches der Daten mit dem Totenreich der Schatten, beides Emanationen eines Zuviel. Die seit der Romantik prophezeite Umstülpung der Geschichte des Geistes in eine des Buchstabens wird nun erst in Angriff genommen. Es geht nämlich nicht um die Zeichen, sondern um deren Materialität. Beim Nachweis der Beschränktheit des Symbolischen, das sich von sich aus zum Nonplusultra der Medien aufwerfen läßt, kommen gerade die Reste zu Hilfe, die Schatten, welche geworfen werden vom Körper, von der Schwere, vom Realen. Der Sinn ist eben nicht maßlos gültig, sondern von Unsinn, Nonsens und Wahnsinn umlagert, in welcher Heterogenität das Homogene seine unbeliebige Grenze findet.

Dreizehntens Vor allem eins wird immer deutlicher: das Universum des Geistes ist kein Uni-Versum, kein System, das sich durch Wendung zur Einheit halten könnte. Die Welt besteht in irreduzibler Vielfalt. Und auch die Menschen haben denkend, handelnd, schaffend keine Anlage zum Universum, sondern zu einer Mehrzahl von Ordnungen, deren Verhältnis nicht eindeutig ist und sein kann. Sie haben am Licht und am Schatten teil, aber in unbestimmter Weise, woraus alle Schwierigkeiten einer ungeschichtlichen Anthropologie erwachsen. Wie Edgar Morin gezeigt hat, können jedoch die Täter und Denker es wissen, wenn es getan und gedacht ist. Komplexität ist eine Herausforderung insofern, als sie aus den inkommensurablen Folgen der Überschreitung ein Lernfeld eröffnet. Wenn allerdings das Universale übertrieben wird, mögen der Bruch, der R i ß und die nicht schließbare Lücke im Gegenlauf den Vorrang bekommen. Dann geht es um eine angemessene Darstellung der notwendigen Unvollkommenheit menschlicher Existenz. Auch den Werken der Menschen ermangelt die Perfektion, wie der Mensch selbst, Bürger mehrerer Welten, dessen Traum von der Einheit mehr zerstört hat als alle geistigen Kräfte des Universums zusammengenommen. Doch der Versuch, die geschaffene Welt in der Neuzeit ebenso heilig zu sprechen wie die Religion vordem den schaffenden G o t t , ist im Zustand der Zersetzung. D a ist wirklich nichts mehr zu machen. N u r noch aus dem, was

232

Dietmar Kamper

abgefallen ist und abfällt beim Prozeß der Selbstvergöttlichung, also aus den fraktalen Schatten des Scheiterns, kann eine Zukunft kommen, die allerdings ihre Realität einzig darin hat, nicht determinierbar zu sein. Die man auch nicht vorwegnehmen kann und - streng genommen - auch nicht besprechen sollte. Deshalb höre ich jetzt und hier auf.

Anhang

Autorenverzeichnis

Marie-Anne Berr, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft, Freie Universität Berlin Richard H. Brown, Professor für Soziologie und Politik, University of Maryland at College Park, Washington, USA Rene Girard, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft, Stanford University, California, USA Sergio Givone, Professor für Philosophie und Ästhetik, Universitä Degli Studii di Firenze, Italien Hans Ulrich Gumbrecht, Professor für Literaturwissenschaft, Department of Comparative Literature, Stanford University, California, USA Dominique Jehl, Professor für Germanistik, Universite de Toulouse le Mirail, Frankreich Dietmar Kamper, Professor für Soziologie, Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie, Freie Universität Berlin Derrick de Kerckhove, Direktor des McLuhan Programme in Culture and Technology, University of Toronto, Kanada Marc Le Bot, Professor für Ästhetik und Kunst der Gegenwart, Sorbonne, Paris, Frankreich Gert Mattenklott, Professor für Literaturwissenschaft, Philipps-Universität, Marburg Mario Perniola, Professor für Ästhetik, Universitä di Roma, Italien Rene Scherer, Professor für Philosophie, Universite de Paris, Frankreich Konstantin Sigov, Professor für Philosophie und Ästhetik, The University of Kiev Mohyla Academy, Ukraine; Maison des Sciences de l'Homme, Paris, Frankreich Vivian Sobchack, Professorin für Kunst- und Medientheorie, University of Los Angeles, USA Stephan Sting, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft, Freie Universität Berlin

236

Autorenverzeichnis

Jürgen Trabant, Professor für Romanistik und Sprachwissenschaft, Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie, Freie Universität Berlin David Well be ry, Professor für Deutsche Literaturwissenschaft, The John Hopkins Uni-' versity Baltimore, Maryland, USA Wolfgang Welsch, Professor für Philosophie und Ästhetik, Universität Magdeburg Christoph Wulf, Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft, Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie, Freie Universität Berlin

Namenverzeichnis

Aaron, R. I. 131 Adorno, Theodor W 12-16, 17, 18, 21 Albrecht, Jörn 68 Alexander der Große 27 Apelt, Otto 191 Aragon, Louis 150 Aristodamus 27 Aristomenes 27 Aristoteles 7, 57, 64, 70, 73, 74, 75, 76f., 84 Artaud, Antonin 189, 190, 218 Assunto, Rosario 52 Auge, Marc 47 Augustinus 89 Augustus 27 Auroux, Sylvain 56, 68 Austin 55 Bachtin, Michail 85, 9 5 - 9 8 , 99 Back, Doug 169 Bacon, Francis VIII, 23, 35f„ 213, 214f., 216 Baläzs, Bela 120, 121 Balzac, Honore de 133, 137, 212 Barner, Wilfried 23 Basilius der Große 92 Bassenge, Friedrich 10 Bastide, Roger 47 Bataille, Georges 221, 222, 223 Baudelaire, Charles VIII, 39, 41, 58, 102, 141, 145, 149, 208

Baumgarten, Alexander Gottlieb 8, 207 Bayley, J . 133 Beckett, Samuel 102 f. Bellmer 218 Beneviste, Emile 49, 52 Benjamin, Walter 39, 145, 219, 220, 221, 222 Berg, Alban 15 Bergson, Henri 70 Bemal, Martin 48 Berr, Marie-Anne 176, 177, 190 Best, Otto F. 97 Bianchi, Paolo 122 Blake, William 223 Bloch, Ernst 40 Böhme, Gernot 4 Boll, Heinrich 149, 150 Bonhoeffer, Dietrich 85 Borchardt, Rudolf 151 Bosch, Hieronymus 99 Bouguereau, William 43 Bourdieu, Pierre 4, 59, 68, 127 Boyle, N. 124 Brecht, Bertolt 58, 99 f., 221 Brinkmann, R. 124 Β rod, Max 121 Brodsky, Joseph 3 Brown, H. 126 Büchner, Georg 98 Bühler, Karl 63

238 Bunuel, Luis Burden 136

Namenverzeichnis 150

Cage, John 16,20,148 Caillois, Roger 129,146 f. Cammermeir 102 Canaletto (Giovanni Antonio Canal) 127 Cezanne, Paul 23,213 Char, Rene X , 147,210,216 Charles, Daniel 148 Chastel, Andre 97 Cicero, Marcus Tullius 18 Cioran, Ε. M. 146 Clignet, R. 136 Cole, Peter 68 Colli, Giorgio 13,30 Comenius, Johann Arnos 113,121 Coseriu, Eugenio 64,66 f., 68 Couffignal, Louis 183,190 Courbet, Gustave 127f. Coy, Wolfgang 181,186,187,190 Cranach, Lucas, d. Ä. 127 Crane, D. 134

Dubuffet,J. 16 Duchamp, Marcel 135 Dürrenmatt, Friedrich 99 f.

123 f.,

Dali, Salvador 150 D'Annunzio, Gabriele 140 Defoe, Daniel 132 Degas, Edgar 211 Deleuze, Gilles 2 3 , 3 5 Demokrit 160 Denis der Aerophagit 91 Deren, Maya 47 Derrida, Jacques I X , 106,107,108,179,190 Descartes, Rene 131,133,175,176,177,178, 179,183,190 Diderot, Denis 59,208 Diehl, Wilhelm 113,121 Dieterlen 47 Dillon, M . C . 202 Dilthey, Wilhelm 105,106,108 Dorffner, Georg 186,187,190 Dostojewski, Fjodor 89,98,133 Dreiser, Theodore 133 Drieu La Rochelle, Pierre 140

Elisabeth I. 73 Ellroy, James 60 Enzensberger, Hans Magnus

105,149

Feuerbach, Ludwig 115,116,117 Fichte, Johann Gottlieb 11 Fisher, W 126 Flaubert, Gustave 133 Flitner, Andreas 121 Florenski, Pawel 90 Flores, F. 185,191 Foerster, Heinz von 181 Foucault, Michel IX, 4,107,108 Fourier, Charles 222,223 Freud, Sigmund 31,83 Freundlich, Otto 217 Fricke, Gerhard 9 Frobenius, Leo 48 Fuhrmann, Manfred 75,84 Gäbe, Lüder 190 Gablik, S. 135,136 Gadamer, Hans-Georg 88 Galerius 27 Galilei, Galileo 229 Gebauer, Gunter 83,84 Genet, Jean 221,222 George, Stefan 140 Giorgione (Gorgio da Castelfranco) 212 Girard, Rene 74,81,84 Goethe, Johann Wolfgang von 67,99 Goldwater, Robert 43,52 Goodman, Nelson 80 f., 84 Göpfert, Herbert G. 9 , 2 8 Goya y Lucientes, Francisco Jose de 218 Gramsci, Antonio 39f. Grass, Günter 149 Griaule 47 Grice, H.Paul 56,65 f., 68 Grünenwald, Alexander 83,84 Gumbrecht, Hans Ulrich 173,190

Namenverzeichnis Gutting, G. 126 Gutzkow, Karl 115,117 Guyotat 221 Haacke, Hans 165 Habermas, Jürgen 118,121,132 Hallyn, Ε 127 Handke, Peter 139,141-145,146,147,149, 150 Harms, Daniel 85,86 Harms, W 124 Hart-Nibbrig, Christian 24 Hauser, Caspar 115-117,119,121 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich X I , 10,11, 2 0 , 3 7 f „ 39,40,41,47,99 Heidegger, Martin 69,70,74,88 Heine, Heinrich 149 Heraklit von Ephesos 225,226,227 Hess-Lüttich, E. W B. 68 Hjelmslev, Louis 107 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 96,98, 99 Hogarth, William 141 f. Hölderlin, Friedrich 41,66,140,209,211, 213,228 Holmes, Oliver Wendell 172 Homer 3,28,72,74,137 Hörisch, Jochen 115,116,117,121 Huizinga, Johan 85 Husserl, Edmund 108 Ingres, Dominique 212 Ionesco, Eugene 62 Iser, Wolfgang 106 Jabes, Edmond 52 Jahn,Janheinz 47f.,52 Jakobson, Roman 62 f., 6 4 , 6 5 , 6 8 Jamme, Christoph 12 Jandl, Ernst 20,148 Janik, Allan 83,84 Janouch, Gustav 120,121 Jauß. Hans Robert 97,100 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) Jeanmaire, Henry 48

22

239

Jeffers, John Robinson 139 Joerges, Bernward 190 Johannes von Damaskus 91,92 Joyce, James 67,133 Jünger, Ernst 140 Kafka, Franz 57,61,62,117-121,150 Kagame, Alexis 47 Kamper, Dietmar 74,84 Kant, Immanuel 3 , 6 , 8 , 3 2 , 3 7 , 5 6 , 5 9 , 87, 177 f., 179,180,190,207,217 Kayser, Wolfgang 9 5 - 9 8 , 9 9 , 1 0 2 Keller, Johann Heinrich 102 Keller, V 87 Kierkegaard, Sören 85,100,103 Kittler, Friedrich 108 Klages, Ludwig 145 Koffka, K. 90 Koselleck, Reinhart 132 Kouloughli, Djamel 68 Krämer, Sybille 175 f., 190 Kraus, Karl 149 Kristeva, Julia 51,52 Kröß, Matthias 83,84 Kwant, Remy 201 Lacan, Jacques 179 Lanier, Jaron 172 Lehner, Bernhard 112,122 Leiris, Michel 23 Lemargny, Jean-Claude 112 Lenz, Jakob Michael Reinhold 98 Leroi-Gourhan, Andre 160,183,191 Lessing, Gotthold Ephraim VIII, 2 3 , 2 4 - 2 9 , 30,31,33,35 Levin, David Μ. 201 f., 205 Levinas, Emmanuel 107 Lichtman, R. 135 Lobstein, Pierre 168 Locke, John 131,133 Loos, Adolf 82,83 Luhmann, Niklas I X , 107,185,191 Lukäcs, Georg 40 Lyotard, Jean-Fran^ois 34f., 179,191

240

Namenverzeichnis

Maclntyre, Alasdair 126 McLuhan, Marshall 108,160,169,183,191 Malcolm, N . 82 Malevic, Kasimir Severinovic 150 Mallarme, Stephane 211 Man, Hendrik de I X , 107 Manet, Edouard 212,214 Mann, Thomas 61,101 Marcuse, Herbert 89 Marin, L. 80,84 Marinetti, FilippoTommaso 220 Marquard, Odo 105,106 Marx, Karl 160 Maturana, Humberto R. 184 f., 188,191 Mauthner, Fritz 83 Mayröcker, Friederike 139,147-149,150 Meier, Georg Friedrich 8 Merleau-Ponty, Maurice 195,196,198,201, 202 f., 204 Meschonnic, Henri 55,65 Michelangelo (Michelagniolo Buonarroti) 127 Mignot 129 Milli Vanilli 135 Minsky, Marvin Lee 174 Mondrian, Piet 82 Monet, Claude 23 Montaigne, Michel Eyquem de 171 Montinari, Mazzino 13,30 Morgan, Jerry L. 68 Morin, Edgar 231 Müller, H. 191 Mumford, Lewis 160 Mussolini, Benito 221 Neumann, Johann Ludwig von 186,187 Newhall, Beaumont 112,122 Nichols, Stephen G . 108 Nietzsche, Friedrich VIII, 13 f., 3 0 - 3 4 , 3 5 , 3 9 , 100,101,140,221 Nussbaum, Martha C. 4 Ohme, Rüdiger

83,84

Panofsky, Erwin

127

Pascal, Blaise 168,171 Pasternak, Boris 87 Pauline, Mark 166 f. Paulus 91 Pautrat, Bernard 31 Pestalozzi, Karl 140 Pfäffli, Andreas 112,122 Pfeiffer, K. L. 190 Piaget.Jean 87 Picasso, Pablo 23,125 Pietzeker, Carl 97 Pissarro, Camille 129 Piaton 3,31,57,61,70,72,73,74,75,76,79, 89,91,97,131,175,191 Poe, Edgar Allan 141 Poissant, Louise 165 Popper, Karl Raimund 84 Pratt, Mary Louise 6 2 , 6 5 , 6 8 Pries, Christine 35 Prigogine, Ilya 184,191 Proust, Marcel 82 Rabelais, F r a ^ o i s 85,96,97,102,103 Racine,Jean 127 Rentschier, Lothar 83, 84 Rembrandt (Rembrandt Harmensz van Rijn) 130,218 Rheinberger, Hans-Jörg 190 Richardson, Samuel 132 Ricoeur, Paul 51,52 Riegl, Alois 45 f.,52 Riffaterre, M. 125 Rilke, Rainer Maria 140,222 Rimbaud, Arthur 209,210 Rohde, Erwin 30 Rokeby, David 169 Rorty, Richard 189,191 Rothko 136 Rouget, Gilbert 52 Rousseau, Jean-Jacques 113-115,122,154, 176,177,189,191 Rubin, William 43,52 Rühmkorf, Peter 149 Runciman, Steven 112,122 Ruskin.John 219,220,221

241

Namenverzeichnis Rust, Michael

94

Sade, Alphonse Donatien Franqois de 218 Sanre, Jean-Paul 67, 134,195,197-201 Saussure, Ferdinand de 179,191 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 41 Schiller, Friedrich 8 , 9 f „ 11,12,14,15,97f„ 176 f., 191,222 Schlegel, Friedrich 41 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 191 Schlieben-Lange, Brigitte 62,68 Schmidt, Siegfried J. 105 Schmitt, Carl 51,52 Schneider, Helmut 12 Schönberg, Arnold 15 f., 83,101 Schopenhauer, Arthur 100,220,221 Schulte, J. 191 Schweppenhäuser, Hermann 145 Scipio 27 Searle.JohnR. 68 Sebeok, Thomas A. 68 Seurat, Georges 129 Severin, I. 190 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 131 Shakespeare, William 127,131,132 Shapiro, M.J. 123 Shaw, Jeffrey 172 Smith, Graham 171 Sobchack, Vivian Sokrates 30,31 Sperling, Thomas 83, 84 Spitzer, Leo 58-60,61,62,63,68 Steiner, George 140,149,150,151 Stengers, Isabelle 184,191 Stern, J. P. 123,126 Sterne, Laurence 133 Sting, Stephan 114,122 Strauß, Botho 139-141,149,150,151 Struve, Ulrich 115,116,122 Swales, Μ. 124 Sylvester, David 23,213 Tempels 47,48 Theodor Studites

91,92

Thomas von Aquin 131 Tiedemann, Rolf 145 Tintoretto (Jacopo Robusti) 221 Tizian (Tiziano Vecelli) 212 Todorov, Tzvetan 125 Toulmin, Stephen E. 83,84 Trabant, Jürgen 58,65,66,68 Treusch-Dieter, Gerburg 84 Turing, Alan Mathison 174,178,179,180, 181,183,185,186,191 Turner, William 219,221 Uccello, Paolo, (Paolo di Dono) Uhl, Ottokar 83,84

127

Vachek, Josef 63,68 Valery, Paul 210 Velasquez, Diego 23 Vico, Giambattista 41 Virilio, Paul 143 f., 167,230 Wagner, Richard 13 f. Walser, Martin 149 Warhol, Andy 215 Watt, I. 131 Webern, Anton 15 Weischedel, Wilhelm 190 Weiss, Peter 149 Wellbery, David 24 Welsch, Wolfgang 3,4,5,19,35 White, Norman 169 Wiener, Norbert 181 f., 183,184,186,187, 191 Wilde, Oscar 41 Winckelmann, Johann Joachim 24 Winograd, T. 185,191 Wittgenstein, Ludwig 57,81,82 f., 84,88,107, 189,191 Wols (Wolfgang Otto Alfred Schulze-Battmann) 16 Wulf, Christoph 74,84 Wygotski, Leonid 89 Wyss, B. 38 Zola, Emile

133

Die andere Kraft Zur Renaissance des Bösen Herausgegeben von ALEXANDER

SCHULLER

u n d WOLFERT VON RAHDEN

Die andere Kraft Z u r R c n a i s s a n c c d e s Bösen

Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie 1993. VIII. 369 Seiten 170 mm χ 240 mm Hardcover DM 48 - / öS 3 7 4 , - / s F r 4 6 ISBN 3-05-002366-X

18 Abb.

Mit Beiträgen von Armin Adam, Norbert Bolz, Hans-Richard Brittnacher, Angelika Ebrecht, Erik Grawert-May, Norbert Kapferer, Heinz Dieter Kittsteiner, Hans Körner, Tilman Krause, Manfred Maengel, Wolfert von Rahden, Susanne Schamowski, Wolfgang Schild, Alexander Schuller, Moritz Schuller, Christoph Schulte und Falk Wagner Die Rückkehr des Bösen ist nicht mehr zu leugnen. Was anachronistisch und lächerlich schien, ist omnipräsent und auf der Höhe der Zeit. Aber nicht als Bedrohung der Tugend oder des Guten - für die alle Begriffe ohnehin verfallen sind - erscheint es uns, auch nicht als Sünde, Schuld oder Verdammnis, sondern als Gegenmacht, als der große - vielleicht der letzte - Gegenspieler unserer von Sinn und Gott entleerten Wirklichkeit. Das Scheitern der Aufklärung im dialektischen Dilemna, seine Vollendung in der Banalität des Sozialismus oder des Konsums, verleihen dem Bösen seine kontrafaktische, seine befreiende Kühnheit. Nicht mehr der Fortschritt und die Vernunft okkupieren unseren Alltag und unsere Phantasie, sondern das Böse. Jede Grausamkeit und jeder Schrecken, alle Brutalitäten und alle Katastrophen dieser Welt formulieren uns - wtnn auch in radikaler Negativität - ihre stumme Utopie. Sie gilt es zum Sprechen zu bringen. Anders als bereits vorliegende Bearbeitungen des Theiias-die jeweils theologische, philosophische, wissenschaftliche oder politische Einzelaspekte systematisch beleuchten - zielt die Konzeption dieses Bandes darauf ab, theoretische Reflexionen Uber das Böse grundsätzlich eklektisch und mit jeweiligen Alltagserfahrungen zu verknüpfen. Die geheime Veiheißung des Bösen, seine funktionale Kraft wird in all seinen vielfältigen Maskierungen aufgezeigt. In diesem Sinne soll 4as Böse „ernst" genommen werden: als Herausforderung aui de Banalität der Moderne und der von ihr strukturierten Welt

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WOLFGANG W E L S C H

Unsere postmoderne Moderne

Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie 4. Auflage 1993. XVI, 344 Seiten - 7 Abb. 170 mm χ 240 mm Broschur DM 29 - / öS 226,- / sFr 2 8 ISBN 3-05-002378-3

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Die Parole von der Postmoderne ist mißverständlich und wurde dennoch unumgänglich, Wolfgang Welsch spricht von einer „Magie des falschen Namens". Der Postmoderne-Diskurs ist allzu oft diffus statt präzis und droht in Beliebigkeit und Indifferenz abzugleiten. Anders in diesem Buch. Der Autor rekonstruiert die Geschichte des Ausdrucks und entwickelt einen Begriff von Postmoderne, der sich bezüglich der Literatur, der Architektur und der anderen Künste ebenso bewährt, wie er neuere Entwicklungen der Wissenschaftstheorie reflektiert, soziologische Fragen aufnimmt, Veränderungen in der Lebenswelt diagnostiziert und die philosophischen Dimensionen des Themas durchleuchtet. Wolfgang Welsch blickt als Philosoph über die Grenzen seiner Disziplin hinaus und gibt ein Gesamtbild unserer Zeit. Er tut das in der Form eines Pluralitätskonzepts, das Unterschiede nicht tilgt, sondern freigibt und verteidigt. Welsch begegnet den postmodernen Tendenzen mit Aufgeschlossenheit, ohne ein modisches Verhältnis zu ihnen einzunehmen. Seine Version von Postmoderne ist problembewußt. Am Ende entwickelt er eine Vernunftkonzeption, die - nach Jahren der Vernunftkritik und als Ausweg aus ihr - mit Pluralität im Sinn von Vernünftigkeit und Gerechtigkeit umzugehen erlaubt.

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Seit 1 9 9 3 n e u im Akademie Verlag

Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie

Herausgeber:

Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin

Herausgebergremium:

C. Colpe, G. Gebauer, D. Kamper, D. Lenzen, G. Mattenklott, A. Schuller, J. Trabant, K. Wünsche, Ch. Wulf (Geschäftsführender Herausgeber)

Erscheinungsweise:

1 Band pro Jahr (2 Hefte/ca. 212 Seiten jährlich); Format 170 mm χ 240 mm - ISSN 0938-0116 Jahresbezugspreis 1994 DM 48,- / öS 383,- / sFr 49,Einzelheftpreis DM 27 - / öS 191,- / sFr 30,-

Publikationssprachen:

Deutsch, Englisch, Französisch

Paragrana ist eine internationale transdisziplinäre Zeitschrift für Historische Anthropologie, die im Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin herausgegeben wird. Historische Anthropologie bezeichnet Bemühungen, nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm weiterhin Phänomene und Strukturen des Menschlichen im Spannungsfeld zwischen Geschichte, Humanwissenschaften und Anthropologie-Kritik zu erforschen und für neuartige paradigmatische Fragestellungen fruchtbar zu machen. Interessenten: Human- und Sozialwissenschaftler, Historiker, Philosophen, Kultur-, Literatur- und Kunstwissenschaftler, interessierte Laien Themenschwerpunkte der einzelnen Hefte: Band 1 /1992 · Heft 1: Miniatur Band 2/1993 · Heft 1-2: Das Ohr als Erkenntnisorgan Band 3/1994· Heft 1: Kultur Band 3/1994 · Heft 2: Europa

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