Ethik der Gabe: Denken nach Jacques Derrida [Reprint 2014 ed.] 9783050069234, 9783050023700

Michael Wetzel, Universität Bonn.

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German Pages 382 [384] Year 1995

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Ethik der Gabe: Denken nach Jacques Derrida [Reprint 2014 ed.]
 9783050069234, 9783050023700

Table of contents :
Vorwort
I. Ethik des Lesens: Denken, Danken, Dichten
Pardes. Die Schrift der Potenz
„Zu lesen geben“
Schwarze Tränen, Tintenspur
Das Schibboleth der Ethik. Derrida und Celan
Von der Gabe des Gedichts zur Vergebung für den Dichter? Der Sagetrieb Ezra Pounds
II. Ethik des Tausches: Von der Gabe zur Verausgabung
Wenn es Gabe gibt - oder: „Das falsche Geldstück“
Die Wahrung der Gabe
Die Gabe der Wilden. Mary Rowlandsons Captivity Narrative
Dekonstruktion des Geldes. Die Unvermeidbarkeit des Sekundären
Wozu das Leben sparen wollen, wo nichts mehr ist?
III. Psyche und Techne: Erfindungen des Anderen
Verkehrte Aufzeichnungen und photographische Wiedergabe
Die Gabe des Sehens. „Geben, sagt er“
Liebesgaben. Streifzüge des literarischen Eros
Das Geschenk der Lebensgeschichte: die Norm. Der autobiographische Text/Test um Neunzehnhundert
IV. Politik der Dekonstruktion: des Zeichens, des Eigennamens und des Geschlechts
Mosaïque. Politiken und Grenzen der Dekonstruktion
Dem Buchstaben nach geben
Eine Erschütterung des Eigennamens
Kein Recht Auf-Gabe. Der Körper-Effekt des Polineikes
Der Traum und die Gefahr. Wo sich die sexuelle Differenz verliert
Bibliographie der Schriften Jacques Derridas
Zu den Autoren

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Ethik der Gabe Herausgegeben von Michael Wetzel und Jean-Michel Rabate

Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie

Ethik der Gabe Denken nach Jacques Derrida Herausgegeben von Michael Wetzel und Jean-Michel Rabate

Mit Beiträgen von G. Agamben, G. Bennington, Μ. Calle-Gruber, J. Derrida, U. Dünkelsbühler, U. Haselstein, J . Hörisch, D. Lesage, M. Lisse, R. Major, C. Malabou, P. Marrati, J.-M. Rabate, M. Schneider, B. Stiegler, H. de Vries, E. Weber, M. Wetzel und D. Wills

Akademie Verlag

Titelbild: John Michael Wright, Portrait of Anne or Mary Butterworth, ca. 1660, Öl/Leinwand, Coll., Rochdale Art Gallery, Rochdale.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme: Ethik der Gabe : Denken nach Jacques Derrida / hrsg. von Michael Wetzel und Jean-Michel Rabate. Mit Beitr. von G. Agamben ... - Berlin : Akad.-Verl., 1993 Acta humaniora) (Collegia) ISBN 3-05-002370-8 N E : Wetzel, Michael [Hrsg.]; Agamben, Giorgio

© Akademie Verlag GmbH, Berlin (1993) Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gedruckt auf säurefreiem und chlorarm gebleichtem Papier Satz: Satzrechenzentrum Kühn & Weyh Software GmbH, D-7800 Freiburg Druck: Strauss Offsetdruck GmbH, D-6945 Hirschberg 2 Bindung: Verlagsbuchbinderei Georg Kränkl, D-6148 Heppenheim Printed in the Federal Republic of Germany

Vorwort

Den Geistern [esprits, spectres, revenants] von Royaumont

Kann man geben, ohne zurückzugeben? Kann man schenken, ohne sich im ökonomischen Teufelskreis von Tausch, Verpflichtung und Schuld zu drehen? Mit diesen Fragen hat sich eine Gruppe von Philosophen und Literaturwissenschaftlern aus Frankreich, Deutschland, Belgien, England, Italien und den USA auseinandergesetzt, die im Dezember 1990 in Royaumont zusammengekommen war, um Jacques Derrida zu seinem 60. Geburtstag die Ehre zu erweisen. Aus den Vorträgen und Diskussionen, aus den vielen Fragen und Antworten, die während dieser Veranstaltung - vor allem von Derrida selbst - gestellt und gegeben wurden, sind die folgenden Beiträge entstanden. Sie versuchen, die aufgeworfenen Aspekte und angeregten Assoziationen im Sinne einer ersten Annäherung an die zugrundeliegende Thematik aufzugreifen: Weit jedoch davon entfernt, das Thema erschöpfen zu wollen, geht es in ihnen darum, im Ausgang vom Denken Derridas diesem mit dem Ernst der Frage zu danken, ob und wie es eine Ethik der Gabe gibt. Die deutsche Rezeption hat Derrida vor allem als Theoretiker der Schrift gewürdigt und sich auf die sprachphilosophische Kernthese seines ersten Hauptwerkes Grammatologie (1967, dt. 1974) konzentriert, daß die abendländische Metaphysik eine ihrem Logozentrismus unverfügbare Ordnung der Zeichen als Spuren verdrängt habe. Im Zuge der Postmoderne-Diskussion hat man Derrida auch als Vertreter einer neuen Hinwendung zur ästhetischen Theorie wahrgenommen, derzufolge sein methodischer Ansatz einer Dekonstruktion im Sinne einer Analyse von Texten als Kunstwerke zu verstehen sei, wie sie in seinen Arbeiten zur Malerei, Architektur und Photographie, zur Kunsttheorie Kants, Hegels, Nietzsches und Heideggers sowie zur Dichtung Mallarmes, Blanchots, Genets und Ponges zum Ausdruck kommt. Völlig unberücksichtigt gelassen wurde jedoch die Ebene einer Ethik, die sich durch das ganze Werk Derridas hindurch und verstärkt seit mehreren Jahren im Zusammenhang einer intensiven Beschäftigung mit den Problemen des Nationalismus und der jüdischen Tradition abendländischen Denkens abzeichnet. Die implizite Frage nach der Möglichkeit einer philosophischen Ethik steht dabei für Derrida schon

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Vorwort

seit langem im Zeichen einer Beschäftigung mit dem Problem der Gabe. Diese Thematik hat sich in der Entwicklung des derridaschen Oeuvres gleichsam herauskristallisiert: Denn wie die Elemente, die sich in Flüssigkeiten zu kristallinen Konfigurationen zusammenschließen, sind auch die Momente einer Ethik der Gabe in den Schriften Derridas verstreut. Während aber Bibliotheken über die hierin entfaltete Zeitproblematik und die Kritik an der vulgären Auffassung des „present" als Präsenz geschrieben wurden, würdigt kaum eine Arbeit die andere Bedeutung des Wortes, nämlich als Geschenk. Die in Derridas jüngstem Buch Donner le temps (1991, dt. 1993) vorgestellte These von der Unmöglichkeit der Gabe stellt aber gerade die Kehrseite jener anderen von der Unmöglichkeit der Präsenz dar: Zeit und Gabe sind zwei Seiten desselben Phänomens von Aufschub oder unmöglicher Gegenwart, das Derrida auf den Begriff der differance gebracht hat. Und er führt diese im Namen der Gabe eröffnete Auseinandersetzung mit der ethischen Dimension jener Zeitfrage als phänomenologische Tradition fort, an deren Anfang Husserls Ausführungen im § 38 von „Erfahrung und Urteil" über das Zeit-Gebende der Erscheinungen stehen und die in der Folge vor allem geprägt ist durch Heideggers zentrale Reflexion über das ontologische Fundament des Gebens der Gabe, das alle Gegenwart nur als Geschenk erfahrbar werden läßt und alles Denken als ein Danken ausweist. Ebenso wie Emmanuel Levinas, dessen Werk für ihn zugleich Ausgangspunkt für seine ethische Reflexion ist, kommt auch Derrida immer wieder auf Heideggers ontologischen Grundsatz des „es gibt" zurück, der bereits in Sein und Zeit formuliert ist und im Vortrag „Zeit und Sein" von 1962 seine entscheidende Ausprägung erfahren hat. Was Derrida nun an diesem Konzept der Gabe aufgreift, ist seine paradoxe Struktur, seine Aporie. Bereits Heidegger hat in Der Spruch des Anaximander auf den Widerstreit von Gabe und Besitz hingewiesen und in der Vorlesung „Was heißt Denken?" das Danken für die „Mitgift" des Denkens von der Vergeltung durch Gegengaben unterschieden. Derrida verdichtet diesen nicht-ökonomischen und keiner Ordnung des Symbolischen folgenden Zug zur Unberechenbarkeit und Unentscheidbarkeit der Gabe, die sich nicht auf die Positivität eines Abgrenzbaren oder durch eine Erwartung Bestimmbaren reduzieren läßt, d. h. die nicht etwas gibt, das sich im Kreislauf des Tausches aneignen ließe, sondern die das Denken zur Aufgabe verpflichtet im doppelten Sinne des Wortes: zum Verzicht auf identitätslogische Existenzialurteile und zur Öffnung für das in seiner gegenwärtigen Unmöglichkeit ermöglichte Kommende. Im Horizont dieser zeitlichen Aporie einer nie gegenwärtig gewesenen und sich nie vergegenwärtigenden Gabe entfaltet sich für Derrida die Fragestellung einer Ethik, die er unter den beiden Gesichtspunkten der Verpflichtung und der Verantwortung diskutiert. Ein jedes Sprechen sieht sich einem Versprechen gegenüber verpflichtet, das es hat möglich werden lassen, ohne als solches sichtbar geworden zu sein, und auf das es über seine Intentionalität hinaus in seinem Bedeuten eine Antwort gibt. Die höchste Aufgabe des Denkens besteht folglich darin, sich der Frage nach dieser Verantwortung in dem Maße zu stellen, wie das Vergessene und

Vorwort

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Versprochene seines Daseins aufgearbeitet wird, ohne auf die Sicherheit eines gängigen Erklärungsmodells zu rekurrieren und damit Verantwortung in programmierbaren Bestimmungsgründen aufzuheben: Eine Ethik der Diskussion muß ihre Entscheidungen aus der radikalen Erfahrung von Unentscheidbarkeit heraus treffen und sich der von Derrida im Sinne Levinas' formulierten Anforderung einer Ethik der Ethik stellen, die nicht mehr auf klassische Ideale und Werte vertrauen kann und dennoch in dieser Erschöpfung des philosophisch Möglichen gerade ihre politische Chance hat, wie auch Lacoue-Labarthe in La fiction du politique am Beispiel des,Falls' Heidegger ausführt. In diesem Sinne bedeutet Philosophieren für Derrida, die radikale Erfahrung der Zeitlichkeit von Sein als die Unentscheidbarkeit der eigenen Gegebenheit auszuhalten. Daß Verantwortung nur übernommen werden kann, wo Unentscheidbarkeit herrscht, impliziert vor allem den Verzicht auf den Willen zur Macht, der im Namen von Berechenbarkeit die Gewalt seiner Entscheidung hinter Formeln der Legitimation und Legitimität verschleiert. Es geht darum, das, was dem Gesetz Kraft gibt, was die Gesetzeskraft begründet, in seiner Gegebenheit zu hinterfragen, wie es Derrida zum Beispiel in seiner vor kurzem auf Deutsch erschienenen Studie zum mystischen Grund der Gewalt bei Benjamin und früher schon am Beispiel der Namen- und Ortlosigkeit des verpflichtenden Gesetzes bei Kafka sowie in der 1990 veröffentlichten grundsätzlichen Stellungnahme Du droit a la philosophie vorgeführt hat. Und es gilt, nicht von normativen, kontrafaktischen Idealen her das Fragen einer Ethik zu präjudizieren, sondern der Faktizität von Übertretungen, von Verfehlung nachzugehen, das Außerordendiche und Außermoralische der Dunkelzonen von Verweigerung, Haß, Gier und Neid in einer Ethik der Gabe mitzudenken. In diesem Sinne sind für Derrida vor allem die ethnologischen und soziologischen Untersuchungen Marcel Mauss' und George Batailles zum Phänomen des Potlatsches, des verausgabenden Gabentausches, von entscheidender Bedeutung. Immer wieder zeigt Derrida, für den gerade Batailles Werk eine wichtige Orientierung des eigenen Denkens darstellt, am Begriff der Gabe selbst die Doppeldeutigkeit von Schenken und Schädigen (wie sie sich an der etymologischen Doppeldeutigkeit eines Begriffs wie Mitgift ablesen läßt), überführt er die lauteren Gesten der Wiedererstattung ihrer geheimen Aneignungstendenzen, die er in seinen historischen Analysen an den Wunden des Denkens und nicht zuletzt an der Asche jener Opfer des nationalsozialistischen Holocausts zu verdeutlichen sucht. Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Philosoph hat Derrida in seinem Bemühen um eine Neubestimmung des Denkens weite internationale Anerkennung erfahren. Diese weltweite Würdigung ist aber immer wieder überschattet - und besonders in der deutschen Rezeption - durch die Asche jener sinnlosen,Verbrennungen', die sich zum Beispiel an den Feuilletonaffären um die politische Vergangenheit Heideggers und Paul de Mans entzündet haben. Unter Mißachtung des gerade von Derrida durchgängig artikulierten Appells an das Gedenken, an die Trauerarbeit als Aufgabe

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Vorwort

des Denkens, wurde ihm Parteilichkeit für die politischen Exponierungen dieser Autoren vorgeworfen, die ihm vorrangig als Sujet einer memorialen Aufarbeitung der Doppeldeutigkeit, des double bind von Gabe galten. Hier bietet die thematische Entfaltung einer Ethik der Gabe im Denken Derridas die Chance, den Verkennungen der dekonstruktiven Aufgabe und den Verzerrungen ihres politischen Engagements mit der ganzen Kraft dieser Arbeit gegen das Vergessen zu begegnen. Dagegen findet sich in der von Mißgunst und Häme gekennzeichneten jüngsten, von den Medien als „Affäre von Cambridge" aufbereiteten Reaktion auf das Denken Derridas kaum ein Ansatz für eine Ethik der Diskussion. Zumal das Echo in der deutschen Presse, die es sich durchweg nicht hat nehmen lassen, zu den Mißstimmigkeiten um die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Cambridge in einer Weise Stellung zu nehmen, die auf ein sachkundiges Urteil den allerwenigsten Wert legte, hat wieder einmal gezeigt, daß das Denken in Deutschland seit Nietzsche nichts von seiner Beschränktheit im Geist der Rache und des Ressentiments verloren hat. Aber auch die Reaktionen vor Ort zeugen von der professuralen Unart einer Vergeßlichkeit. Denn zu erinnern gilt es, daß seit den Sendungen in „Die Postkarte" (1980, dt. 1982), aber auch schon früher, ζ. B. in dem Vortrag „Signatur Ereignis Kontext" von 1971 und der daraus entstandenen Kontroverse Limited Inc. von 1977, Derrida immer wieder die Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Philosophie und besonders mit der von Searle repräsentierten Sprechakttheorie gesucht hat. Was die jüngsten Ereignisse in Cambridge aber zeigen, ist die Rückbindung der verfehlten Diskussion und Begegnung um die Frage der Institution an diese selbst. Rein institutionell aber scheint die Verleihung des Titel eines Doktor honoris causa durch die Universität Cambridge für Jacques Derrida, den die britischen Zeitungen als den berühmtesten französischen Denker der Gegenwart präsentieren und dessen Bücher fast alle ins Englische übersetzt worden sind, eine banale Sache. Erst nachdem im März vier Dons mit ihrem non placet Einspruch gegen die Vergabe (frz. donation) des Titels erhoben hatten, wurde dieser Akt spektakulär. In der Folge ging es um eine öffentliche, populärphilosophische Bewertung von Derridas Denken, in die hinein die universitäre Entscheidung vom 16. Mai mit 336 Ja-Stimmen gegen 204 Nein-Stimmen für eine Nominierung Derridas fiel: So als ginge es bei der philosophischen Entscheidung über Wahrheit wie auf dem Rasen von Wimbledon um Punkte. Derrida hatte diesen magistralen Diskurs einer „verite en pointures" bereits vor anderthalb Jahrzehnten in einem Aufsatz über Heideggers Van Gogh-Interpretation {Die Wahrheit in der Malerei, 1978, dt. 1992) analysiert, in der es auch um Restitutionen geht und zwar von gemalten Schuhen. Dieser symbolische Akt, der hier auch noch ein überdeterminiertes Symbol betrifft, kann als Allegorie für die Ereignisse in Cambridge genommen werden, zumal wenn man die idiomatische Wendung des Englischen to be in someones shoes hinzunimmt, die auf das Verhältnis der Nachfolge, der Ersetzung und damit zugleich den Konflikt der Generationsfolge anspielt. Der positive Stimmentscheid hat Derrida nicht nur einen Doktorhut, sondern auch ein

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symbolisches Paar Schuhe wiedererstattet - und dies geschah, wie man in den Presseberichten nicht versäumte zu unterstreichen, überwiegend durch die jüngeren Fakultätsmitglieder. Der Konflikt des Denkens erweist sich hier paradigmatisch als ein Konflikt der Generationen. Hinter dem grotesken Konservatismus der Gegner Derridas verbirgt sich ein Widerstand gegen die subversiv politischen Implikationen dessen, was global als „Dekonstruktivismus" gebrandmarkt wird, d. h. ein Widerstand gegen Dekonstruktion als konkrete Infragestellung der klassischen Traditionen und Institutionen. Neben seinem politischen Engagement gegen Rassismus und Apartheid hat Derrida vor allem im französischen Unterrichtswesen leidenschaftlich für Reformen gekämpft: Die Akten der 1979 gegen die Mißstände des Philosophieunterrichts einberufenen Generalstände der Philosophie tragen seine Handschrift und setzen eine Arbeit fort, die 1975 mit der Gründung von GREPH (Forschergruppe über den Philosophieunterricht) durch Derrida begonnen hatte und die schließlich vor zehn Jahren zur Gründung des College international de Philosophie und der Ernennung Derridas zum ersten Präsidenten führte. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß weniger der Vorwurf des „moralischen Nihilismus" oder der „zu literarischen Philosophie" - immerhin sind drei der vier Wortführer des Einspruchs gegen Derrida Professoren für englische Literatur und nur einer Philosoph - im Vordergrund stand, sondern die Angst davor, daß ein fremdes, genauer ein ausländisches Denken die ideologischen Systeme bzw. die national fundierten Institutionen in Frage stellte. Diese Angst ist gerade auch aus der deutschen Rezeption Derridas heraus nicht unvertraut - auch wenn fast kein deutscher Feuilletonartikel zur Affäre es sich nehmen ließ, auf die spezifische Situation des britischen Snobismus und dessen insulare Xenophobie ironisch einzugehen. Ohne hier die lange Tradition des von Fichte und der politischen Romantik her eingeübten Kampfes gegen die ideologische „Ausländerei" aufrollen zu wollen noch zu können, sei nur an die Sprachgewohnheiten mancher zeitgenössischer deutscher Philosophen erinnert, die aus der Bedrohung durch „die Franzosen" keinen Hehl machten und nur dort zu lesen vermochten, wo sie sich des Abglanzes deutscher Denktraditionen sicher wähnten. Der politische Impetus von Derridas Dekonstruktionen läßt sich aber in der Tat nicht auf die nationalen Grenzen seiner rezeptionstheoretischen Anschlüsse reduzieren. Er ist international auch im Sinne jüdischer Denk- und Forschungstraditionen und stellt sich wie kaum eine andere zeitgenössische philosophische Reflexion der Frage Europas - der Essai L'autre cap von 1991 ist hierfür nur ein Beispiel. In welchem Maße eine Überwindung der nationalen und ideologischen Grenzen die gegenwärtige Aufgabe des Denkens darstellt, macht das Verblassen des in Cambridge müßig aufgewirbelten Staubs gegenüber dem Ernst einer Arbeit des Fragens deutlich, wie sie etwa zu gleicher Zeit in Oxford aufgenommen wurde, wo Derrida zusammen mit Julia Kristeva, Helene Cixous, Paul Ricoeur und Edward Said vor eintausendvierhundert Zuhörern mit Alan Montefiore, einem Philosophen der ana-

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Vorwort

lytischen Tradition Oxfords, einen Dialog über die Freundschaft führte, der den Geist dieses zugunsten von Amnesty International durchgeführten Kolloquiums widerspiegelte. Die Ausgabe des Guardian vom 30. März widmete diesen Diskussionen und der resümierenden Darstellung der s. g. Doktrin Derridas fast eine ganze Seite - fast, denn das Ende dieser Seite (S. 23) war Leserbriefen an den Herausgeber vorbehalten, in denen man direkt unter dem Namen Jacques Derridas folgende Anfragen u.a. lesen konnte: „Warum gibt es nur zwei Geschlechter?" „Ist es moralisch vertretbar, jetzt Früchte aus Südafrika zu kaufen?" „Was nutzt es zu leben?" [„What is the point of living?"] Die folgenden Beiträge wollen auf diese Fragen keine lebenspraktisch konkrete Antwort geben. Wenn es eine Ethik der Gabe gibt - und das ist hier die Frage, die das Denken von Jacques Derrida aufgegeben hat dann besteht sie gerade nicht im Geben von letzten Antworten, nicht in der letzten Konsequenz einer moralischen Versicherung durch kategorische Imperative, die über eine kommunikative Kompetenz entscheidet. Die Antworten auf die Fragen, die in Royaumont und anderswo gestellt wurden, sind immer unterwegs - zur Gabe, wenn und wann es sie gibt - , d. h. werfen im Vorübergehen, das allem in der Zeit und nicht an der Zeit seienden Denken eigen ist, überraschende Perspektiven auf, ohne sich in ihnen wie in den Sandburgen abendländischer Metaphysik zu verschanzen. Angefangen mit der Frage nach einer Ethik des Lesens - wie sie Derrida in seiner immer wieder erneuerten Auseinandersetzung mit dem Werk von Levinas und nicht zuletzt in seiner Ethik der Diskussion im Anhang von Limited Inc. aufwirft - , geht es darum, mit den Potenzen, den Möglichkeiten und auch mit der Gewalt einer Lektüre von Texten umzugehen, in deren Tränen- und Tintenspur sich unser Denken auch als Aufgabe und Vergebung der vergangenen Fehler begibt. Im Zentrum der Überlegungen steht die im zweiten Kapitel aufgeworfene Frage nach der ökonomischen Struktur der Gabe, die das System des Tausches, der Wahrung, der Äquivalenz und der UnVerhältnismäßigkeit des Konsums, der Verausgabung betrifft. Die hier diskutierten Aporien des Geldes und der Geltung werden im folgenden dritten Teil auf ihre medialen Institutionen, ihre Einsätze - d. h. ihre Investitionen und Inventionen in bezug auf den anderen, an den sich der Anspruch richtet - zurückverwiesen: die technischen und psychischen Implemente einer Erfindung von Leben und Liebe. Es geht hier um Erinnerung, um Memoires, die aber nicht die Präsenz eines Abwesenden wiederherstellen, sondern deren Wiedergabe immer eigenwillig verfälscht, verdreht, verblendet oder verstellt ist. Den vorläufigen Abschluß bilden im vierten Teil die Randgänge einer Politik der Nicht-Entscheidung der semantischen, der nominalen und der geschlechtlichen Gegensätze, die in ihrem Gleiten, ihrer Vieldeutigkeit zu einer neuen, dekonstruktiven Toleranz gegenüber der Unbestimmtheit von Gaben und Gegebenheiten aufrufen. Im gegenwärtigen Zeitalter, wo die Logik der Anerkennung in kriegerische Abgrenzungen umschlägt, kommt es darauf an, das Denken der Grenzen als Denken der Gabe, der Aufgabe von Grenzen zu entwickeln. Entgrenzung als radikale Form der

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Gabe lebt somit von der zukünftigen Hoffnung auf eine Passage der Grenzen, weniger auf das Uberschreiten als vielmehr das Ubergehen, das Umschlagen von Demarkationslinien in die Fluchtlinien einer Zukunft ohne Illusion. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal Jacques Derrida und allen Teilnehmern des Treffens für ihr Engagement danken, das die einzigartige Atmosphäre von Royaumont hat entstehen lassen. Dank gilt aber auch all denen, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben, und hier an erster Stelle den Ubersetzerinnen und Übersetzern, ohne deren hingebungsvolle Arbeit die exemplarische Grenze der Fremdsprache nicht hätte passierbar werden können. Michael Wetzel/Jean-Michel

Rabate

Cerisy-La-Salle, 15.Juli 1992

Inhalt

Vorwort I. Ethik des Lesens: Denken, Danken, Dichten Pardes. Die Schrift der Potenz 3 Giorgio Agamben „Zu lesen geben" 19 Michel Lisse Schwarze Tränen, Tintenspur 39 Elisabeth Weber Das Schibboleth der Ethik. Derrida und Celan 57 Hent de Vries Von der Gabe des Gedichts zur Vergebung für den Dichter? Der Sagetrieb Ezra Pounds 81 Jean-Michel Rabate

II. Ethik des Tausches: Von der Gabe zur Verausgabung Wenn es Gabe gibt - oder: „Das falsche Geldstück" 93 Jacques Derrida Die Wahrung der Gabe 137 Rene Major Die Gabe der Wilden. Mary Rowlandsons Captivity Narrative Ulla Haselstein

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Dekonstruktion des Geldes. Die Unvermeidbarkeit des Sekundären 173 Jochen Hörisch

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Inhalt

Wozu das Leben sparen wollen, wo nichts mehr ist? 183 Catherine Malabou

III. Psyche und Techne: Erfindungen des Anderen Verkehrte Aufzeichnungen und photographische Wiedergabe 193 Bernard Stiegler Die Gabe des Sehens. „Geben, sagt er" 211 Mireille Calle-Gruber Liebesgaben. Streifzüge des literarischen Eros 223 Michael Wetzel Das Geschenk der Lebensgeschichte: die Norm. Der autobiographische Text/Test um Neunzehnhundert Manfred Schneider

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IV. Politik der Dekonstruktion: des Zeichens, des Eigennamens und des Geschlechts Mosai'que. Politiken und Grenzen der Dekonstruktion Geoffrey Bennington

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Dem Buchstaben nach geben 285 David Wills Eine Erschütterung des Eigennamens 301 Dieter Lesage Kein Recht Auf-Gabe. Der Körper-Effekt des Polineikes 321 Ulrike Dünkelshühler Der Traum und die Gefahr. Wo sich die sexuelle Differenz verliert 333 Paola Marrati Bibliographie der Schriften Jacques Derridas 353 Zu den Autoren 365

Ι. Ethik des Lesens: Denken, Danken, Dichten

Pardes Die Schrift der Potenz

Giorgio Agamben

Pardes Das zweite Kapitel des talmudischen Traktats Chagiga („Festopfer") 1 handelt von den Dingen, in denen unterwiesen zu werden, erlaubt ist, und von den Dingen, die auf keinen Fall Gegenstand von Erörterungen sein dürfen. Die Mischna, die das Kapitel einleitet, besagt: „Die Inzestgesetze dürfen nicht vor drei Personen, die Schöpfungsgeschichte darf nicht vor zwei Personen und der Thronwagen" - d.i. die Merkaba, der Wagen, der im Zentrum der Vision Ezechiels steht und als Symbol für die mystische Erkenntnis galt - „auch nicht vor einem Einzelnen erörtert werden, außer wenn er ein Gelehrter ist, der aus eigener Erkenntnis versteht. Wer über vier Dinge Betrachtungen anstellt, für den wäre es besser, wenn er auf die Welt nicht gekommen wäre. Diese vier Dinge sind: das, was oben, das, was unten, das, was vorn und das, was unten ist" - nämlich der Gegenstand der mystischen Erkenntnis, aber auch der Metaphysik, welche sich anmaßt, den übernatürlichen Ursprung der Dinge zu erforschen. Das Blatt 14b bringt dann folgende Erzählung, die einen kurzen Zyklus von Aggadotb um Acher - wörtlich: „den Anderen" - , wie Elischa ben Awuja seit seiner Sünde genannt wird, eröffnet: „Vier traten in den Pardes ein und dies waren Ben Asai, Ben Soma, Acher und Rabbi Akiba. Rabbi Akiba sprach zu ihnen: Wenn ihr an den Ort der glänzenden Marmorsteine kommt, so sprecht nicht: Wasser! Wasser! Denn es heißt: Wer Lügen redet, soll nicht vor meinem Angesicht bestehen. Ben Asai sah und starb. Über ihn sagt der Schriftvers: Kostbar ist in den Augen des Herrn der Tod seiner Frommen. 1 A. d. £/.: Talmud-Zitate und Rechtschreibung hebräischer Wörternach: L. Goldschmidt (Der Babylonische Talmud, Bd. 3, Haag 1933), R. Mayer (Der Babylonische Talmud, [Auswahl], München 1963) und G. Scholem. Nicht nachgewiesene fremdsprachige Zitate sind im allgemeinen anhand des Originals eigens übersetzt. - Dem Verfasser sei an dieser Stelle für die Durchsicht und Unterstützung der vorliegenden Übersetzung gedankt.

4

Giorgio Agamben Ben Soma sah und wurde irrsinnig. Über ihn sagt der Schriftvers: Hast du Honig gefunden, so iß, was dir genügt, daß du seiner nicht satt werdest und ihn auspeiest. [...] Acher brach junge Zweige ab. [...] Rabbi Akiba kam heil hinein und heil hinaus."

Der Pardes - das Paradies, der Garten - bedeutet nach rabbinischer Überlieferung die höchste Erkenntnis. Deshalb wird die Schechina - die Gegenwart Gottes - in der Kabbala Pardes ha-Tora, das Paradies der Tora, d.h. die Fülle und die vollendete Offenbarung der Tora, genannt. Diese gnostische Interpretation des Wortes „Paradies" ist zahlreichen häretischen Bewegungen gemeinsam, und zwar nicht allein jüdischen, sondern auch christlichen. Nach Amalrich von Bene, dessen Anhänger am 12. November 1210 auf den Scheiterhaufen stiegen, heißt das Paradies die „Erkenntnis der Wahrheit, und wir brauchen auf ein anderes nicht zu warten". Der Eintritt der vier Menschen in den Pardes ist also ein Bild für den Zutritt zur höchsten Erkenntnis und die Aggada beinhaltet eine Parabel über die tödlichen Gefahren, die mit diesem Zutritt verbunden sind. Was bedeutet aber in dieser Perspektive, neben dem Tod von Ben Asai und dem Wahnsinn von Ben Soma, das „Abbrechen der jungen Zweige", das die Erzählung Acher zuschreibt? Mit Gewißheit wissen wir es nicht; doch setzt die Kabbala das „Abbrechen der jungen Zweige" mit der schwerwiegendsten Sünde gleich, in die man auf dem Weg der Erkenntnis verfallen kann. Diese Sünde wird definiert als die „Abkapselung der Schechina" und besteht darin, daß die Schechina von den übrigen Sefiroth abgesondert und als eine selbständige Macht aufgefaßt wird. Nach kabbalistischer Auffassung ist die Schechina die höchste unter den zehn Sefiroth, den Attributen oder Namen Gottes; sie drückt die Gegenwart der Gottheit selbst, deren Manifestation und Wohnen auf Erden aus. Acher hat daher durch das Abbrechen der jungen Zweige, nämlich der anderen Sefiroth, die Erkenntnis und die Offenbarung Gottes von den anderen Bestimmungen der Gottheit losgerissen. So erscheint es nicht als Zufall, wenn der Abbruch der jungen Zweige in anderen Texten mit der adamitischen Sünde identifiziert wird. Adam zog es nämlich vor, anstelle der Gesamtheit der Sefiroth die letzte Sefira allein zu betrachten, die ihm alle anderen in sich zu vereinigen schien; damit trennte er den Baum der Erkenntnis von dem des Lebens. Die Analogie zwischen Acher und Adam ist erhellend: Acher, der „Andere", repräsentiert so wie Adam die Menschheit, indem er das Wissen zu seiner eigensten Bestimmung, seiner spezifischen Macht erhebt und damit die Erkenntnis, die nicht die vollendete Form der Manifestation Gottes ist, von den anderen Sephiroth trennt, in denen sich die Gottheit erst voll offenbart. In dieser Situation des „Exils" verliert die Schechina ihre Macht und sie wird boshaft. (Mit einem kühnen Bild sagen die Kabbalisten, daß sie „die Milch des Bösen aufsaugt".)

Pardes - Die Schrift der Potenz

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Exil Moses de Leon, der Autor des Sohars, hat uns eine andere Deutung der Geschichte von den vier Menschen, die in das Paradies traten, überliefert. Dieser Lektüre zufolge ist die Aggada in Wahrheit eine Parabel über die Exegese der heiligen Schrift, und zwar auf deren vier Sinnstufen. Jeder der vier Konsonanten im Wort Pardes repräsentiert eine Sinnstufe: Ρ steht für Peshat, den wörtlichen Sinn, R für Remez, den allegorischen Sinn, D für Derascha, die talmudische Deutung, und S für Sod, den mystischen Sinn. Dementsprechend verkörpert jeder der vier, die das Paradies betraten, nach dem Tikkune Sohar eine bestimmte Stufe der Interpretation: Ben Asai, der ins Paradies eintritt und stirbt, ist der wörtliche Sinn, Ben Soma der talmudische Sinn, Acher der allegorische Sinn und Akiwa, der das Paradies betritt und unversehrt wieder verläßt, der mystische Sinn. Wie ist in dieser Perspektive nun die Sünde von Acher zu verstehen? Im Abbruch der jungen Zweige und der Absonderung der Schechina kann man eine in jedem Interpretationsakt und jeder Auseinandersetzung mit einem Text oder einer göttlichen bzw. menschlichen Rede implizite tödliche Gefahr erblicken. Diese Gefahr besteht darin, daß das Wort, welches nichts anderes als die Manifestation oder die Unverborgenheit von etwas ist, sich von dem scheidet, was es offenbart, und sich verselbständigt. Bedeutsamerweise definiert der Sohar an anderer Stelle die Isolation der Schechina als eine Trennung von Wort und Stimme (der Sefira Tifereth). Das Abbrechen der jungen Zweige erscheint von daher als ein experimentum linguae, ein Experiment der Sprache, welches darin besteht, das Wort sowohl von der Stimme, die es ausspricht, als auch von seinem Bezug2 zu trennen. Ein reines Wort, ohne Stimme und Bezug [referente], in seinem semantischen Wert unbestimmt, isoliert für sich stehend: das ist der Ort, an dem Acher, der „Andere", im Pardes zu Hause ist. Deshalb kann er weder im Paradies der Sprache umkommen, indem er wie Ben Soma und Ben Asai dem wörtlichen bzw. talmudischen Sinn folgt, noch kann er wie Akiwa unversehrt wieder hinauskommen. Er macht bis auf den Grund die Erfahrung des Exils der Schechina, d. h. die Erfahrung der menschlichen Sprache. Uber ihn sagt der Talmud: „er wird weder gerichtet werden, noch wird er in die kommende Welt einziehen."

2 A. d. Ü.: Für die Hauptbegriffe im mittleren Aufsatz-Teil sind folgende Übersetzungen verwendet worden:

1. il significato: die Bedeutung; significare: bedeuten; la significazione: das Bedeuten;

2. il denotato: das Denotat; denotare: bezeichnen; la denotazione: die Bezeichnung; denotativo, denotante: etwas bezeichnend; 3. la referenza: der Bezug; autoreferenza: Selbstbezüglichkeit; autoreferenziale·. selbstbezüglich; il referente: der Referent. - Wird ausnahmsweise eine andere Ubersetzung vorgezogen, so folgt der italienische Begriff aus dem Original in eckigen Klammern.

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Giorgio Agamben

Terminus Benjamin hat einmal geschrieben, daß die Terminologie das spezifische Element des Denkens sei und daß der terminus für jeden Philosophen den Kern des Systems in sich berge. „Terminus" heißt auf Lateinisch „Grenze, Schranke"; ursprünglich war er der Name eines Gottes, der noch in klassischer Zeit als eine anthropomorphe Gestalt dargestellt wurde, deren Körper sich auf eine, in die Erde fest eingerammte, Spitze zu verjüngte. In der mittelalterlichen Logik, die den modernen Sprachen die geläufige Auffassung übermittelt hat, meint Terminus ein solches Wort, das nicht nur sich selbst bedeutet (suppositio materialis), sondern für die Sache steht [staper], die es bedeutet, also etwas bezeichnet (terminus supponit pro re, suppositio personalis). Ein Denken ohne Termini, welches also die Schwelle nicht kennt, auf der es aufhört, sich auf sich selbst zu beziehen, und sich anschickt, sich in den Boden der Bezeichnung einzurammen, ist dieser Auffassung zufolge kein philosophisches Denken. Ockham, das Haupt der Schule der sogenannten „Terministen", schloß deshalb die Konjunktionen, die Adverbien und andere synkategorematischen Ausdrücke aus dem Kreis der Termini in engerem Sinn aus. Für die moderne philosophische Terminologie ist sowohl die klare Gegenüberstellung von Selbstbezüglichkeit und Bezeichnung als auch der Ausschluß synkategorematischer Termini nicht mehr möglich (falls sie es je gewesen sind). Ist es, auf der einen Seite, bereits für einige Grundbegriffe des kantischen Denkens (ζ. B. das transzendentale Objekt und das Ding an sich) nicht möglich zu sagen, ob sie etwas bezeichnen oder selbstbezüglich sind, so hat, auf der anderen Seite, die terminologische Relevanz von synkategorematischen Ausdrücken rapide zugenommen. M. Puder hat auf die wichtige Rolle des Adverbs gleichwohl für die Artikulierung des kantischen Denkgestus hingewiesen. Heidegger hat in den Marburger Vorlesungen des Sommersemesters 1927 auf das häufige Vorkommen und die Relevanz des Adverbs schon für die eigene Bestimmung des Problems der Temporalität aufmerksam gemacht. Selbst ein einfaches Interpunktionszeichen kann in diesem Zusammenhang terminologischen Charakter erlangen: einem wachen Beobachter wie Karl Löwith ist die strategische Bedeutung des Bindestrichs in Sein und Zeit, etwa in Ausdrücken wie In-der-Welt-Sein, nicht entgangen. Ist die Terminologie, wie treffend gesagt wurde, die Poesie der Philosophie, dann ist die eben geschilderte Verlagerung und Verwandlung des eigentlich poetischen Moments des Denkens zweifellos charakteristisch für die zeitgenössische Philosophie. Allerdings heißt das nicht, daß die philosophischen Termini ihren spezifischen Charakter verloren hätten, daß die Philosophie, indem sie den Gestus des Benennens aufgibt, einfach in die Literatur eingemündet und, wie behauptet wurde, dem „Gespräch" der Menschheit restituiert worden sei. Die philosophischen Termini sind und bleiben weiterhin Namen, aber ihre Eigenschaft zu bezeichnen kann nicht mehr einfach nach dem traditionellen Schema des Bedeutens begriffen werden, sondern

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impliziert eine andere und entscheidende Erfahrung der Sprache. Sie werden zum Ort eines wahren experimentum linguae. Die (im etymologischen Sinn des Wortes) Krise der Terminologie ist heute die eigentümliche Lage des Denkens, und Jacques Derrida ist wahrscheinlich derjenige Philosoph, der sie am gründlichsten durchdacht hat. Sein Denken befragt und stellt in Frage gerade das terminologische Moment des Denkens (sein eigentlich poetisches Moment); er bringt dessen Krisis zur Darstellung. Dies erklärt das Ansehen, das die Dekonstruktion in der zeitgenössischen Philosophie genießt, zugleich aber auch die Polemiken, die sie umgeben. Die Dekonstruktion hebt nämlich den terminologischen Charakter des philosophischen Vokabulars auf: inde-terminiert [inde-terminati] scheinen nun die Termini, im Ozean des Sinnes uneingeschränkt [interminabilmente] zu fluktuieren. Es handelt sich bei der Dekonstruktion selbstverständlich nicht um ein Verfahren, das aus einer bloßen Laune oder unnatürlichen Gewaltsamkeit entspringt; vielmehr macht gerade die Hinterfragung der philosophischen Terminologie ihre unvergleichliche Aktualität aus. Es wäre daher das schlimmste MißVerständnis des derridaschen Gestus, würde man seine Intention auf eine dekonstruktive Praxis philosophischer Terminologie herunterschrauben, diese Terminologie einem unkontrollierten Dahintreiben, einer unendlichen Interpretation anheimgäbe. Derrida verzichtet auf die Benennungskraft des Denkens nicht, obwohl er dessen poetisch-terminologisches Moment hinterfragt. Er „nennt" noch beim Namen (so wie Spinoza, wenn er sagt: „per causam sui intelligo ..." oder Leibniz, wenn er schreibt: „la Monade, dont nous parlerons ici..."). Es existiert für ihn durchaus eine philosophische Terminologie, nur daß diese bei ihm ihren Status völlig verändert, ja, den Abgrund offenbart, auf dem sie seit je ruht. Ganz so wie Acher tritt er in das Paradies der Sprache ein, wo die Termini an ihre Grenze stoßen, aber ebenso wie Acher „bricht er die jungen Zweige ab": er macht m.a.W. die Erfahrung des Exils der Terminologie, ihres paradoxen Uberlebens in der Abkoppelung von aller eindeutigen Bedeutung [denotazione]. Worum geht es schließlich bei den Begriffen \termini\ seines Denkens? Was benennt eine philosophische Terminologie, die nicht mehr bloß etwas bezeichnen will, und doch vor allem die Erfahrung der Tatsache macht, daß es Namen gibt ? Was könnte ein terminus interminatus bedeuten? Welches ist, wenn sich alles Denken durch eine bestimmte Erfahrung der Sprache konstituiert, das experimentum linguae der derridaschen Terminologie?

Nomen innominabile Derrida selbst hat an verschiedenen Stellen den Status seiner eigenen Terminologie definiert. In den nun folgenden drei Passagen wird dieser Status als das Unbenennbare [innomable], das Unentscheidbare [indecidable] und die Spur [trace] bestimmt:

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Giorgio Agamben „Für uns bleibt die differance ein metaphysischer Name und alle Namen, die sie in unserer Sprache erhält, sind immer noch qua Namen metaphysisch. [...] Eine solche differance,,älter' noch als das Sein, hat keinen Namen in unserer Sprache. Aber wir ,wissen bereits', daß sie nicht nur vorläufig unnennbar ist, weil unsere Sprache diesen Namen noch nicht gefunden oder empfangen hat, oder weil er in einer anderen Sprache, außerhalb des begrenzten Systems der unseren, gesucht werden müßte. Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der differance, die kein Name, die keine nominale Einheit ist und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst. [...] Dieses Unbenennbare ist kein unaussprechliches Wesen, dem kein Name nahekommen könnte: Gott zum Beispiel. Dieses Unbenennbare ist jenes Spiel, das nominale Effekte bewirkt, verhältnismäßig einheitliche oder atomare Strukturen, die man Namen, Ketten von Namenssubstitutionen nennt, und in denen zum Beispiel der nominale Effekt,differance' selbst herbeigeführt, wiedergeschrieben wird [...]."3 „Um diesen Abstand deutlicher zu kennzeichnen [...], mußte man von nun an bestimmte Zeichen [marques] analysieren und in dem Text der Geschichte der Philosophie ebenso wie in dem sogenannten literarischen Text' [...] agieren lassen [...], die ich per Analogie [...] als Unentscheidbare bezeichnet habe, das heißt als Scheineinheiten, als ,falsche' verbale, nominale oder semantische Eigenschaften, die nicht mehr innerhalb des philosophischen (binären) Gegensatzes verstanden werden können und ihm dennoch innewohnen, ihm widerstehen, ihn desorganisieren, aber ohne jemals einen dritten Ausdruck zu bilden [...]. Es geht [...] darum, eine Maserung, eine Falte, einen Winkel zu be-merken (re-marquer), die die Totalisierung unterbrechen sollen: An einer gewissen, klar festgelegten Stelle kann keine Reihe semantischer Wertigkeiten sich noch schließen oder sammeln. Nicht daß sie für einen unerschöpflichen Reichtum oder die Transformation eines semantischen Uberschusses offen wäre. Ein Zeichen (marque) bezeichnet (marque) mit diesem Winkel, dieser Falte, dieser Doppel-Falte (re-pli) eines Unentscheidbaren zugleich das Bezeichnete (marque) und das Zeichen, den be-merkten (re-marque) Ort des Zeichens. Die Schrift, die sich in diesem Augenblick selbst bemerkt (re-marque) (das ist alles andere als eine Selbstdarstellung), kann nicht mehr in der Liste der Themen hinzugezählt werden (sie ist kein Thema und kann auch unter keinen Umständen eines werden), sie muß abgezogen (Höhlung) und hinzugefügt (Relief) werden."4 „Die Beziehung zwischen den beiden Texten, zwischen der Anwesenheit überhaupt und dem, was sie [...] übersteigt, läßt sich auf keinen Fall in Form von

3 J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 51. 4 J. Derrida, Positionen, Graz/Wien 1986, S. 90, 96.

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Anwesenheit lesen, setzt man voraus, daß sich etwas überhaupt je in einer solchen Form zu lesen gebe. Gleichwohl kann, was uns über die Umschließung hinaus zu denken gibt, nicht einfach abwesend sein. Als Abwesendes gäbe es uns überhaupt nichts zu denken, oder es wäre eine weitere negative Modifikation der Anwesenheit. Notwendigerweise ist demnach das Zeichen dieser Überschreitung vollends transzendierend im Hinblick auf jede mögliche Anwesenheit-Abwesenheit und auf jedes Erzeugen oder Verschwinden eines Seienden überhaupt, und demnach bezeichnet es sich zugleich in gewisser Weise. In gewisser, für die Metaphysik als solche unaussprechlicher Weise. Die Überschreitung der Metaphysik erfordert die Inschrift einer Spur in den metaphysischen Text als Hinweis nicht auf eine andere Anwesenheit oder andere Form von Anwesenheit, vielmehr auf einen ganz anderen Text. [...] Die Inschrift einer solchen Spur in den metaphysischen Text hat auf eine so undenkbare Art zu geschehen, daß sie als ein Erlöschen der Spur selbst zu beschreiben ist. Die Spur entsteht als ihr eigenes Erlöschen. Der Spur eignet, sich selbst auszulöschen und das selbst zu entziehen, was sie als Anwesenheit erhalten könnte. Die Spur ist weder sichtbar noch unsichtbar. [...] Aber dies Erlöschen der Spur muß zur gleichen Zeit seine Spur in dem metaphysischen Text hinterlassen haben. Das Anwesen ist demnach weit davon entfernt, etwa das zu sein, was das Zeichen bezeichnet oder worauf die Spur hinweist, vielmehr ist das Anwesen die Spur der Spur oder die Spur des Erlöschens der Spur."5

Paradoxa Welcher Status des Terminus wird in diesen drei dichten Passagen definiert? Zunächst bezieht sich der Nicht-Name differance (so wie die anderen Termini Derridas) nicht auf ein Unbenennbares im Sinne eines unaussprechlichen Denotats, ein quid jenseits der Sprache, für das uns Namen fehlen würden. Unbenennbar ist, daß es Namen gibt („jenes Spiel, das nominale Effekte bewirkt"); ohne Namen und dennoch irgendwie bedeutend ist der Name selbst. Deshalb hat jede Interpretation der derridaschen Terminologie (ihres „wörtlichen Sinnes", mit der kabbalistischen Exegese der Aggada von Acher gesprochen) von ihrer selbstbezüglichen Struktur auszugehen: „Notwendigerweise ist demnach das Zeichen dieser Überschreitung vollends transzendierend im Hinblick auf jede mögliche Anwesenheit-Abwesenheit [...] und demnach bezeichnet es sich zugleich in gewisser Weise. Ein Zeichen (marque) bezeichnet {marque) mit diesem Winkel, dieser Falte, dieser Doppel-Falte (re-pli) eines Unentscheidbaren zugleich das Bezeichnete (marque) und das Zeichen [...]." 5 Derrida, Randgänge, a. a. O . , S. 82f.

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Der Terminus, der seine Bezeichnungskraft [potere denotante] und den eindeutigen Bezug auf einen Gegenstand eingebüßt hat, bedeutet in gewisser Weise noch sich selbst; er ist selbstbezüglich. Daher lassen sich die Unentscheidbaren Derridas (obwohl sie es nur „per Analogie" sind) in den Umkreis der Paradoxa der Selbstbezüglichkeit einordnen, die die Krise der modernen zeitgenössischen Logik gekennzeichet haben. Hier tritt die Unzulänglichkeit des Grundansatzes ans Licht, der sowohl die philosophische als auch die linguistische Reflexion über die Frage der Selbstbezüglichkeit bisher geleitet hat. Dieser Ansatz bleibt der mittelalterlichen Unterscheidung von intentio prima und intentio secunda verpflichtet. Die intentio prima ist der mittelalterlichen Logik zufolge ein Zeichen, das kein Zeichen und keine intentio, sondern einen Gegenstand bedeutet; sie ist ein Terminus, der etwas bezeichnet. (Signum natum supponere pro suo significato.) Die intentio secunda ist dagegen ein solches Zeichen, das eine intentio prima bedeutet, ein Zeichen, das ein Zeichen bezeichnet. Was heißt aber ein Zeichen bezeichnen, eine intentio meinen? Wie kann man eine intentio meinen, ohne sie zu einem Gegenstand, einem intentum, zu machen? Sind die beiden Weisen der intentio (erste und zweite) wirklich homogen und differieren sie nur bezüglich ihres Gegenstands? Das Unzulängliche an diesem Denkansatz ist, daß die intentio secunda (das Meinen eines Zeichens) nach dem Modell der intentio prima (das Bezeichnen eines Gegenstands) gedacht wird. Damit wird die Selbstbezüglichkeit auf die akustische oder graphische Beschaffenheit des Wortes bezogen, d. h.: auf die Identität des Terminus als Gegenstand (die suppositio materialis der mittelalterlichen Logiker). Auf diese Weise ergibt sich genaugenommen gar keine Selbstbezüglichkeit, da der Terminus einen Teil der Welt, aber keine Intentionalität bezeichnet. Eigentlich gemeint ist keine intentio, sondern ein Ding, ein intentum. Erst nachdem man diese erste Stufe der Selbstbezüglichkeit (eigentlich der Pseudo:Selbstbezüglichkeit) hinter sich gelassen hat, gelangt man zum Kern des Problems. Alles wird aber dadurch komplizierter. Die Bedingung dafür, daß eine Intentionalität und kein Gegenstand bedeutet wird, ist die, daß der Terminus sich selbst bedeutet, aber sich selbst nur insofern bedeutet, als er bedeutet. Mithin ist es erforderlich, daß die intentio niemals die Position des Denotats einnimmt und, dennoch auch nicht einfach einen Gegenstand bezeichnet. Im Hinblick auf das semiotische Modell aliquid statopro aliquo, Α steht für B, heißt dies, daß die Intention weder auf das erste, noch auf das zweite aliquid gerichtet sein darf, sondern das stehen für visieren muß. Die Aporie der Terminologie Derridas besteht darin, daß hier das stehen für für ein stehen für steht, ohne daß sich jemals etwas als ein bezeichneter Gegenstand in der Anwesenheit konstituieren kann. Damit gerät der Begriff von Sinn überhaupt (von stehen für) in eine Krise, und darin liegt seine eigentümliche Stringenz. Die Bedingung dafür, daß die Intention sich auf sich selbst und nicht auf einen Gegenstand bezieht, ist also, daß sie weder in der reinen Anwesenheit eines intentum,

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noch in seiner Abwesenheit jemals erlischt. Der Status der Terminologie Derridas resultiert nun konsequent aus dem Begriff der Spur, wie er schon in La voix et le phenomene und De la grammatologie entwickelt wurde. Das ursprüngliche Ziel des grammatologischen Projekts war zunächst eine „Destruktion des Begriffs von .Zeichen'" und eine „Befreiung der Semiologie", bei denen „die Identität der Bedeutung mit sich selbst sich ständig entwindet und auflöst". Die Irreduzibilität des Bedeutens beinhaltet hier die Unmöglichkeit jenes „Erlöschens des Signifikanten in der Stimme", auf dem die abendländische Auffassung der Wahrheit basiert. Die Spur benennt eben diese nicht auslöschbare Instanz des repraesentamen in jeder Anwesenheit, dieses Mehr des Bedeutens in j edem Sinn. Es gibt, um die Termini der mittelalterlichen Logik aufzugreifen, nicht eine intentio prima und eine intentio secunda, sondern jede Intention ist immer secundo-prima oder primo-secunda, in der Weise, daß die Intentionalität immer über das Gemeinte hinausschießt, das Bedeuten die Bedeutung vorwegnimmt und sie überlebt. „Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier [...], daß der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät. Folglich muß man, um den Begriff der Spur dem klassischen Schema zu entreißen, welches ihn aus einer Präsenz oder einer ursprünglichen Nicht-Spur ableitete und ihn zu einem empirischen Datum abstempelte, von einer ursprünglichen Spur oder Ur-Spur sprechen. Und doch ist uns bewußt, daß dieser Begriff seinen eigenen Namen zerstört und daß es, selbst wenn alles mit der Spur beginnt, eine ursprüngliche Spur nicht geben kann." 6 D er Begriff,Spur' ist kein Begriff (so wie „die differance kein Namen ist"): Diese paradoxe These, die im grammatologischen Projekt schon impliziert ist, definiert den Status der Terminologie Derridas. Um diesem Paradox zu entkommen (besser gesagt: um auf die richtige Weise in ihm zu wohnen), hat die Grammatologie zur Dekonstruktion werden müssen, indem sie darauf verzichtet hat, nach Maßgabe von Sinnentscheidungen zu verfahren. Ihrer ursprünglichen Intention nach jedoch, stellt die Grammatologie weder eine Theorie der Polysemie, noch eine Lehre der Transzendenz von Sinn dar: sie bezweckt keine Dekonstruktion als unendliche Hermeneutik eines ebenso unerschöpflichen Bedeutens, sondern eine Radikalisierung des Problems der Selbstbezüglichkeit, die den Begriff des Sinns selbst, auf den sich die abendländische Logik gründet, in Frage stellt und verwandelt. In dieser Perspektive erinnert das zentrale Paradox der Grammatologie („der Begriff ,Spur' ist kein Begriff") eigenartig an den Satz, den Frege 1892 in der Schrift Uber Begriff und Gegenstand aufgestellt hatte und der das erste Symptom einer Krise war, die bald darauf das Gebäude der formalen Logik erschüttern sollte: „der Begriff Pferd ist kein Begriff". Dieses Fregesche Paradox beruht auf der Tatsache, daß, sobald wir einen Begriff benennen (statt ihn als Prädikat in einem Satz zu verwenden), dieser 6 J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974, S. 107f.

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aufhört, als Begriff zu füngieren, und als Gegenstand auftritt. Wir glauben, daß „ein Begriff gemeint ist", wohingegen „ein Gegenstand genannt wird"; wir meinen eine intentio, aber wir befinden uns vor einem intentum. Das Fregesche Paradox ist die Konsequenz eines allgemeineren Gesetzes, das folgendermaßen ausgedrückt werden kann: ein Terminus kann nicht etwas bezeichnen und zugleich bezeichnen, daß er es bezeichnet·, um den Spruch des weißen Ritters in Lewis Carrolls Through the looking glass zu zitieren: „der Name des Namen ist nicht der Name". Bemerkenswerterweise liegt dieses „Theorem des weißen Ritters" sowohl der These von Wittgenstein, „was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken" (Tr. 4.121), als auch dem linguistischen Axiom von Milner, „der linguistische Terminus hat keinen Eigennamen", zugrunde. Wesentlich ist jedenfalls, daß, wenn man eine intentio sagen, den Namen benennen will, man nicht mehr zwischen Wort und Ding, Begriff und Gegenstand, dem Terminus und seiner Bedeutung [denotazione] unterscheiden kann. Wie Reach im Bezug auf Carnaps Versuch, den Namen mit Hilfe der Anführungszeichen zu benennen, gezeigt hat und das Theorem von Gödel impliziert, sind alle Kunstgriffe zum Scheitern verurteilt, die von den Logikern ausgeklügelt werden, um den Konsequenzen dieser radikalen Anonymität des Namens zu entgehen. Es genügt aber nicht, aufgrund des Theorems von Gödel das notwendige Verhältnis zwischen einer bestimmten Axiomatik und unentscheidbaren Sätzen zu unterstreichen: entscheidend ist erst, wie man dieses Verhältnis auffaßt. Das Unentscheidbare kann nämlich als eine bloß negative Grenze (die kantische Schranke) aufgefaßt werden dann wird es darum gehen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sich an ihr nicht zu stoßen (Russells Typentheorie, Tarskis Metasprache) - , man kann aber das Unentscheidbare auch als eine Schwelle (die kantische Grenze) auffassen, die zu einem Außen führt, alle Elemente des Systems umverteilt und verändert. Deshalb stellt der Begriff der ,Spur' die spezifische Leistung von Derridas Denken dar. Er beschränkt sich nicht einfach darauf, die logischen Paradoxa zu reformulieren, sondern macht sie - wie schon Heidegger in Unterwegs zur Sprache, als er schrieb, daß „es kein Wort für das Wort gibt", und eine neue Erfahrung der Sprache vorschlug, bei der die Sprache selbst zu Wort kommen solle - zum Ort eines Experiments, bei dem der Begriff des Sinns selbst sich verwandeln und den Platz an den der Spur abgeben muß. Warum nimmt aber der Versuch, den Namen zu benennen, die Gestalt „einer Schrift ohne Anwesenheit und ohne Abwesenheit, ohne Geschichte, ohne Ursache, ohne Gesetz, ohne Ziel, die jede Dialektik, jede Theologie, jede Teleologie, jede Ontologie absolut stört", an? Worin besteht das derridasche experimentum linguae, wenn es keine andere Form als die einer Schrift haben kann?

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Skriptor Das spätbyzantinische Lexikon, das unter dem Namen „Suda" bekannt ist, gibt zum Stichwort „Aristoteles" die rätselhafte Definition: Aristoteles tesphyseos grammateus hen ton calamon apobrechon eis noun" ("Aristoteles war der Schreiber der Natur, der die Feder ins Denken eintaucht"). Mit abweichendem Wortlaut kommt diese Definition schon bei Cassiodorus (und dann wieder bei Beda und Isidor von Sevilla) vor, diesmal nicht um den „Schreiber der Natur", sondern um Aristoteles als Logiker zu charakterisieren: Aristoteles quando perihermeneias scriptabat, calamun in mente tingebat." Das Werk, das die abendländische Auffassung der Bedeutungsfunktion [significazione] von Sprache und die ihres Zusammenhangs mit dem Denken begründet hat, ist dieser Tradition zufolge „durchs Eintauchen der Feder in den Intellekt" geschrieben worden. Das Denken hat über das Verhältnis zwischen Sprache und Denken und zwischen Denken und Welt nur dadurch schreiben können, daß es ausschließlich auf sich selbst bezuggenommen, die Feder in die eigene Trübheit getaucht hat. Was ist der Ursprungs dieser eigenartigen Metapher? Was mag im aristotelischen Text das Bild einer „Schrift des Denkens" begründet haben? Und was könnte eine solche Schrift sein? Nahe aneinandergerückt werden Denken und Schreibakt an der berühmten Stelle von De anima (430a 1), an der Aristoteles die Vernunft der Möglichkeit nach 7 mit einer unbeschriebenen Schreibtafel (grammateion) vergleicht: „Wie mit der Schreibtafel, auf der der Wirklichkeit nach nichts geschrieben ist, so verhält es sich auch mit dem nous." Das berühmte Bild der tabula rasa (oder, wie Alexander von Aphrodisias 7 A. d. Ü.: Der aristotelische Begriff der „Möglichkeit" (ital.potenza) bereitet der Übertragung ins Deutsche seit je „Beschwer" (Theiler 1959). Die ursprüngliche Bedeutung der dynamis, ,das Vermögen, etwas in Bewegung zu setzen', erweitert Aristoteles zu der ontologischen Auffassung, ,der Möglichkeit eines jeglichen Seienden, zu sein oder auch nicht zu sein', wobei aber der dynamische Aspekt von ,Vermögen' übernommen wird (vgl. Tugendhat 1958). In der deutschen Aristoteles-Ubersetzung hat sich daher der Gebrauch von „Möglichkeit" und „Vermögen" durchgesetzt (Bonitz 1892, Gadamer 1948, Bassenge 1960, Schwarz 1970, Bonitz/Seidl 1978-79), während die „Potentialität" (Schwegler 1847, Lasson 1924) kaum mehr und die „Potenz" gelegendich in der Sekundärliteratur (in Verbindung mit „Akt") vorkommen. Hierauf gründet sich auch der Sprachgebrauch in der vorliegenden Ubersetzung: lapotenza: „die Möglichkeit", ausnahmsweise „die Potenz", wenn das Wort- wie ζ. B. im Untertitel - als systematischer Begriff auftritt (im Anschluß an Schmitz 1985); una potenza·. ein Vermögen·, potenza di: das Vermögen zu; in potenza: der Möglichkeit nach. Bei potenza, der italienischen Übersetzung für dynamis, kommt noch der Aspekt der „Macht" hinzu (vgl. Nietzsches „Wille zur Macht", ital. „la volonta di potenza"). Dieser Aspekt der „Macht" spielt nach Auskunft des Verfassers in die folgenden Ausführungen zur „Schrift der Potenz" durchaus hinein; dagegen ist die sexuelle Bedeutung von „Potenz" hier ganz unmaßgeblich.

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genau bemerkte, des rasum tabulae, d. h. jene dünne Wachsschicht, in die der Griffel die Buchstaben eingravierte) kommt in dem Abschnitt von De anima vor, wo Aristoteles von der Vernunft der Möglichkeit nach bzw. von der leidenden Vernunft (nous pathetikos) handelt. Die Natur der Vernunft ist es, reine Möglichkeit zu sein: „Er (der nous) besitzt keine andere Natur als diese, daß er dem Vermögen nach ist. Der sogenannte nous der Seele [...] ist der Wirklichkeit nach, bevor er denkt, keines von den Dingen." (429a 21-22; [Üb. Theiler]) Der nous ist also ein Vermögen, das als solches Bestand hat, und die Metapher von der unbeschriebenen Schreibtafel drückt eben die Weise aus, in der ein reines Vermögen ist. Jedes Vermögen, etwas zu sein bzw. etwas zu bewirken, ist nach Aristoteles tatsächlich immer auch das Vermögen, nicht zu sein, und nicht zu wirken (dynamis me einai, dynamis me energein). Denn ohne diese wesendiche Eigenschaft würde das Vermögen (die Möglichkeit) schon immer in den Zustand der Tätigkeit (Wirklichkeit) übergehen und sich (gemäß der These der Megariker, die Aristoteles im Buch Tbeta der Metaphysik widerlegt) mit ihr vermengen. Dieses Vermögen nicht zu ...' bildet den echten Angelpunkt der aristotelischen Potenzlehre, die aus jedem Vermögen als solchem ein Unvermögen macht (pasa dynamis adynamia, Met. 1046a 32). Wie der Baumeister ein solcher ist, weil er die Baukunst nicht-ausüben kann [pud non esercitare] und der Zitherspieler ein solcher, weil er die Zither nicht-spielen kann, so existiert das Denken als ein Vermögen, nicht zu denken (der intellectus possibilis der mittelalterlichen Philosophie), wie eine Schreibtafel, auf der nichts geschrieben steht. Die reine Potenz des Denkens ist ein solches Vermögen, das nicht zu denken, nicht Wirklichkeit zu werden vermag. Jedoch ist dieses reine Vermögen (das rasum tabulae) wiederum selbst intelligibel; es kann seinerseits gedacht werden: „Er (der nous der Möglichkeit nach) ist auch selbst denkbar wie die denkbaren Dinge." {De anima 430a 2; [Üb. Theiler]) Im Lichte dieser Auffassung von Potenz ist nun die Stelle in De anima zu lesen, an der Aristoteles die Darlegung des Buches Lambda der Metaphysik über das Denken, das sich selbst denkt, wiederaufnimmt: „Wenn er (der nous der Möglichkeit nach) so zu jedem (der Intellegiblen) wird, wie man es vom Wissenden sagt, der der Wirklichkeit nach weiß - und das tritt ein, wenn er sich aus sich selbst heraus zu betätigen vermag - so bleibt er auch dann irgendwie der Möglichkeit nach [...] und er kann dann sich selbst denken." (429b 6-10; [in Anlehnung an Gigon]) Das Denken des Denkens ist zunächst ein Vermögen zu denken (und nicht zu denken), das sich auf sich selbst bezieht -potentia potentiae. Erst von daher wird die Lehre der neoseos noesis im Buch Lambda ganz verständlich: reine Wirklichkeit, also Wirklichkeit einer Wirklichkeit, kann allein die Wirklichkeit einer reinen Möglichkeit, nämlich die Möglichkeit einer Möglichkeit, sein. Das Apophthegma über den Schreiber der Natur, der die Feder ins Denken eintaucht, bekommt nun seinen eigentlichen Sinn als Bild für eine Schrift der Potenz. Aristoteles konnte seine logischen Werke (nämlich die, die von dem reinen Vermögen des Denkens und der Sprache handeln) schreiben, allein indem er die Feder in den

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nous, ein reines Vermögen, eintauchte. Das Vermögen, das sich ausschließlich zu sich selbst hinwendet, ist eine absolute Schrift, die von niemandem geschrieben wird: ein Vermögen, geschrieben zu werden, das durch das Vermögen selbst, nicht geschrieben zu werden, geschrieben wird; es ist eine tabula rasa, die von ihrer eigenen Rezeptivität affiziert wird, und somit sich nicht nicht-schreiben kann [puö non non-scriversi]. Nach der genialen Intuition im Kommentar zu De anima von Albertus Magnus: „hoc simile est, sicut diceremus, quod litterae scribent se ipsas in tabula" („die Buchstaben schreiben sich selbst auf die Tafel").

Materie Der derridasche Begriff der Spur samt seiner Aporien muß vor dem Hintergrund dieser Schrift der Potenz, die niemand schreibt, gesehen werden. So erscheint er als der strengste Versuch, entgegen dem Primat der Wirklichkeit und der Form das aristotelische Paradox der Potenz - den Gestus des Schreibers, der die Feder ins Denken eintaucht und nur aus seinem Vermögen heraus (nicht zu schreiben) schreibt - erneut zu denken. Die Spur, diese Schrift „ohne Anwesenheit und Abwesenheit, ohne Geschichte, ohne Ursache, ohne Gesetz, ohne Ziel", ist keine Form, kein Ubergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, sondern ein Vermögen, das über sich selbst verfügt, sich selbst affiziert; die Spur ist die Schreibtafel, die nicht den Eindruck einer Form, sondern den Abdruck ihrer eigenen Passivität und Gestaltlosigkeit empfängt. Aber hier kompliziert sich alles noch einmal. Was kann das heißen: weder einen Gedanken, noch ein Ding, sondern eine reine Potenz zu denken; weder Gegenstände, noch Termini, die etwas bezeichnen, sondern die reine dynamis des Wortes zu benennen; weder Buchstaben, noch Texte, sondern die reine Potenz der Schrift zu schreiben? Was heißt schließlich die Erfahrung einer Möglichkeit machen und eine Passivität erleiden, wenn die Wörter „Erfahrung" und „Erleiden" hierbei einen Sinn haben sollen? Bricht hier nicht aufs neue die Aporie der Selbstbezüglichkeit hervor, die die Schrift der Potenz auflösen wollte? Genau diese Fragen werden in einer Passage von Plotins Traktat über Die beiden Materien gestellt. Wie kann man, fragt Plotin, ein Gestaltloses (amorphon) und eine Un-Bestimmtheit (aoristia) denken? Wie ist dasjenige zu erfassen, das weder Größe noch Gestalt hat? Allein durch eine Un-bestimmtheit wird eine Un-bestimmtheit zu denken sein: „Was ist das also für eine Unbestimmtheit in der Seele? Etwa gänzliches Nichtwissen (agnoia), Unmöglichkeit jeder Aussage, oder ist das Unbestimmte Gegenstand einer gewissen positiven Aussage, und wie man mit dem Auge die Finsternis als die Materie jedes nicht sichtbaren Dinges sieht, so kann auch die Seele, wenn sie

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Giorgio Agamben alle Eigenschaften wegdenkt die wie Licht auf den sinnlichen Dingen sind, den Rest nicht mehr bestimmen und es ergeht ihr wie dem Sehen in der Dunkelheit, sie wird in gewisser Weise dem gleich was sie sozusagen sieht. Aber sieht sie dann überhaupt noch? Nur so wie sie Gestaltlosigkeit und Farblosigeit, das Lichtlose und ferner des Größelose sieht; sonst würde sie sie bereits zu einem Gestalteten machen. Ist diese Affektion {pathos) der Seele nicht identisch mit der, wenn sie nichts denkt? Nein, denn wenn sie nichts denkt, sagt sie nichts aus, genauer, sie wird überhaupt nicht affiziert; denkt sie aber die Materie, so wird sie in dem Sinn affiziert, daß sie gewissermaßen einen Abdruck des Gestaltlosen empfängt (paschei patbos oion typon ton amorphou)." (Enn., 2, 4,10; [Üb. Harder])

Wie das Auge in der Finsternis nichts sieht, sondern gleichsam von seinem eigenen Unvermögen zum Sehen affiziert wird, so ist die Wahrnehmung nicht das Affiziertwerden durch etwas, ein Wesen ohne Form, sondern Wahrnehmung der eigenen Gestaltlosigkeit, eine Selbsteinwirkung des Vermögens. Zwischen dem Erleiden von etwas und dem Erleiden von nichts liegt das Erleiden der eigenen Passivität. Die Spur {typos, ichnos) ist vom Anfang an der Name dieses Selbst-Erleidens, und das, was in ihr erfahren wird, ist das Ereignis einer Materie. Insofern, also, werden die Aporien der Selbstbezüglichkeit nicht aufgelöst; vielmehr verlagern sie sich und (dem platonischen Wort zufolge) verwandeln sie sich in Euporien. Der Name kann aber benannt werden und die Sprache kann zu Wort kommen, weil die Selbstbezüglichkeit auf die Ebene der Möglichkeit verlagert wird. Weder das Wort als Gegenstand, noch das Wort, sofern es ein Ding der Wirklichkeit nach bezeichnet, ist hier gemeint, sondern das reine Vermögen zu bedeuten (und nicht zu bedeuten) - die Schreibtafel, auf der nichts geschrieben ist. Hier liegt aber nicht mehr die Selbstbezüglichkeit eines Sinnes, das Sich-selbst-bedeuten eines Zeichens vor, sondern ein Vermögen, das zur Materie wird, das Sich-materialisieren von dessen eigener Möglichkeit [possibilita]. Die Materie ist kein gestaltloses quid aliud, dessen Vermögen eine Prägung erfährt: die Materie kann als solche sein, weil sie die Selbstmaterialisierung eines Vermögens durch das Erleiden (den typos, die Spur) des eigenen Unvermögens ist. Das Vermögen zu denken, das sich selbst affiziert und über sich selbst als das Vermögen nicht zu denken verfügt, macht sich zur Spur der eigenen Gestaldosigkeit, zu einer Spur, die niemand gelegt hat, zu reiner Materie. In diesem Sinne ist die Spur die Leiden-schaft des Denkens [lapassione delpensiero]. Die Materie ist aber nicht das träge Substrat einer Form; im Gegenteil ist das, was gemeinhin Form genannt wird, das Resultat eines Materialisierungsprozesses. Das Modell dieser Erfahrung der Materie hat Piaton im Timaios geliefert. Die chora - die Stätte oder besser das Statt-finden [aver-luogo] - , wie er die Materie nennt, ist angesiedelt zwischen dem Nicht-Wahrnehmbaren (der Idee, dem anaistheton) und dem Wahrnehmbaren (dem Sinnlichen, was durch die aisthesis wahrgenommen werden kann). Sie selbst ist aber weder wahrnehmbar, noch nicht wahrnehmbar, sondern

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wahrnehmbar met'anaisthesias: „mit Abwesenheit der Wahrnehmung", wie diese paradoxe Formulierung zu übersetzen ist. Die chora ist also die Wahrnehmung einer Nicht-Wahrnehmung, die Empfindung einer Empfindungslosigkeit, eines bloßen Statt-findens, bei dem außer der Stätte gar nichts statt-findet. Deshalb entwickelt Aristoteles seine Theorie der Materie als Möglichkeit im Anschluß an die chora des Timaios: ähnlich dem Sehvermögen in der Dunkelheit kann auch das Empfindungsvermögen - wie es in De anima heißt - sein eigenes Nicht-empfinden, sein Vermögen empfinden. So kann das Denken der Möglichkeit nach - die unbeschriebene Schreibtafel - sich selbst denken, nämlich seine eigene Möglichkeit denken. (Die Neuplatoniker sprechen konsequent von zwei Materien, einer sinnlichen und einer intelligiblen.) Auf diesem Wege macht sich das Denken zur Spur der eigenen Gestaltlosigkeit; es schreibt sein eigenes Ungeschrieben-sein und zugleich findet es seine Stätte, es trennt sich (ο de nous choristos, 429 b 5). Die derridasche Spur „weder sichtbar noch unsichtbar", „be-merkter Ort eines Zeichens", reines Statt-finden - ist also wirklich mit der Erfahrung einer intelligiblen Materie vergleichbar. Das experimentum linguae, um das es in der grammatologischen Terminologie geht, begründet keineswegs eine Interpretationspraxis, die - einem nur allzu verbreiteten Mißverständnis zufolge - auf die unendliche Dekonstruktion von Texten abzielt; sie eröffnet keinen neuen Formalismus: es kennzeichnet vielmehr das entscheidende Ereignis einer Materie und legt den Weg zu einer Ethik frei. Wer dieses Experiment bis auf den Grund durchführt und in diesem Sinne seine Materie findet (sich selbst erleidet und auf diesem Wege sich passioniert [si appassiona]), wird in den Paradoxen der Selbstbezüglichkeit wohnen können, ohne in ihnen gefangen zu bleiben; er kann nicht nicht-schreiben [puo non non-scrivere]. Nur dank Achers Ausharren im Exil der Schechina kann Rabbi Akiba im Paradies der Sprache unversehrt ein- und ausgehen. Aus dem Italienischen und Französischen von Giorgio Giacomazzi

Zu lesen geben"

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„Hinzufügen bedeutet hier nichts anderes als zu lesen geben [Herv. M.L.]" 1 , zu diesem Ergebnis konnte Jacques Derrida aufgrund seiner Reflexionen über die Lektüre gelangen. Was jedoch bedeutet dieses „zu lesen geben"} Kann man „zu lesen geben"1 Ist diese Geste denn überhaupt möglich? Was sind ihre politischen, ethischen, juristischen Implikationen? Bevor zu diesem Netzwerk von Fragen einige Antworten skizziert werden können, sollten einige Textstellen Derridas, in denen die Problematik der Lektüre aufgeworfen wird, nochmals einer näheren Betrachtung unterzogen werden. An erster Stelle in Gewalt und Metaphysik2. In diesem Essay über das Denken Emmanuel Levinas' sagte Derrida von dessen „stilistischer Geste", daß sie sich nicht von der „Intention" trennen lasse. Diese stilistische Geste, diese Schreibweise ist in dem Maße, in dem sie sich der Gegenüberstellung von Inhalt und Form, Aussage und Ausgesagtem verweigert - weshalb sie auch nicht zu einer Hierarchisierung gemäß der Gesetzmäßigkeit aller begrifflichen Opposition führt - , eine Schreibweise, die „jene prosaische Entkörperung im begrifflichen Schema verbietet, das die erste Gewalttätigkeit eines jeden Kommentars [Herv. M.L.] ist" 3 . Jegliche Reduktion, jegliche begriffliche Schematisierung, jeglicher Kommentar würde demgemäß dem Text Gewalt antun; eine nahezu chirurgische Gewalt dieser Schnitte und Einschnitte4 vornehmenden Lektüre„operation". Doch nicht zu kommentieren, sich nicht dieser Arbeit der Entkörperung oder Zergliederung hinzugeben, garantiert nicht, daß man der Gewalt entkommt. Im Gegenteil. Es bedeutet weder Untreue noch Treue, wenn man sich oft ζ. B. die Metaphern von Levinas nicht bewußt macht, deren „Gebrauch [...] in ihrem Pathos die entscheidendsten Bewegungen des

1J. Derrida, La dissemination, Paris 1972, S. 71. 2 J. Derrida, Gewalt und Metaphysik, in: Die Schrift und die Differenz, übers, von R. Gasche, Frankfurt a.M. 1976, S. 121-236. 3 Ebd., S. 128, Anm. 6. 4 Vgl. Derrida, La dissemination, a. a. Ο., S. 333-334.

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Diskurses"5 in sich birgt. „Sind wir treu oder untreu, wenn wir allzu oft darauf verzichten, sie [die Metaphern] in unserer nüchternen Prosa wiederzugeben?"6 Die Frage ebenso wie ihre Formulierung sind anzuzweifeln. Derrida sagt nicht, daß er in seinem Text einfach auf die Wiedergabe der Metaphern Emmanuel Levinas' verzichten wird. Er wird „zu oft" - und demnach nicht immer - auf diese Wiedergabe verzichten. Und dieses zu oft bringt bereits die Opposition treu/untreu ins Wanken. Man hätte davon ausgehen können, daß die Treue zum kommentierten Text in der Wiedergabe der Metaphern und - umgekehrt - die Untreue in der Verschleierung derselben bestünde. Derrida jedoch kompliziert die Dinge, indem er ein „quantitatives" Element einführt. Es gibt demnach eine Schwelle, mit deren Überschreiten die Untreue beginnt: genau dann, wenn zu oft darauf verzichtet wird, die Metaphern des Originaltextes zu wiederholen. Ein klein wenig darauf zu verzichten, ist noch keine Untreue, sondern liegt immer noch im Bereich der Treue zum Text. Wie aber ist diese Schwelle zu bestimmen? Die Problematik könnte sich nun auf diese Frage reduzieren, würde Derrida nicht ein neues Problem hinzufügen. Der Verzicht auf die Reproduktion der Metaphern gehört der Gattung einer entzauberten Prosa an, die durch die prosaische Entkörperung entsteht. Wäre man, mit anderen Worten, treu oder untreu, wenn der Verzicht im Rahmen einer anderen Gattung oder eines anderen Stils als dem der entzauberten Prosa stattfinden würde? Verlangt die Treue zum Text einen Kommentar im selben „Stil", in der selben „Gattung" etc.? Es sei denn, dieser stilistische Mimetismus wäre die Bedingung, der Ausgangspunkt der Untreue. Die Alternative „Treue/Untreue", mit der die Frage Derridas endet, beraubt jede mögliche Antwort ihrer Gewißheit. Man kann nicht damit fortfahren, daß die Treue zum Text die Verwendung des gleichen Stils und des gleichen Genres verlangt, ohne sich sofort zu fragen, ob das nicht das Hauptprinzip der Untreue ist. Über einen Text zu sprechen, indem man auf den gleichen Stil und das gleiche Genre zurückgreift, hieße das nicht gerade, dem Text untreu zu sein? Oder ist nicht der allzu oft wiederholte Verzicht darauf, sich die Metaphern bewußt zu machen, Zeichen für die größtmögliche Treue? Doch hiermit nicht genug. „Entzauberte Prosa" ebenso wie „prosaische Entkörperung" sind Metaphern zur Bezeichnung der Aktivität des Kommentators. Demnach bezeichnet Derrida den ersten Moment seiner Lektüre mit Hilfe einer Metapher als eine Lektüre, durchgeführt „im Stil eines Kommentars"7, von dem er sagt, daß er sich durch einen allzu oft wiederholten Verzicht auf die Wiedergabe der Metaphern Levinas' charakterisiert. Die Schreibweise Derridas verweigert die Verfestigung der These, die sie mit sich zu führen scheint, und macht ihre Verdinglichung unmöglich. Aus diesem Grunde taucht nach dem Satz, den wir relativ lange kommentiert haben, 5 Derrida, Gewalt und Metaphysik, a. a. O., S. 128, Anm. 6. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 129.

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eine Serie von Metaphern auf. Ich beschränke mich an dieser Stelle ohne weiteren Kommentar auf das Zitat: „Sind wir treu oder untreu, wenn wir allzu oft darauf verzichten, sie in unserer nüchternen Prosa wiederzugeben? Zudem ist die Entwicklung der Themen in Totalite et Infini weder rein deskriptiv noch rein deduktiv. Sie entfaltet sich gleich der ununterbrochenen Beharrlichkeit des Wellenschlags gegen einen Strand: immerwährende Wiederkehr und Wiederholung derselben Welle gegen dasselbe Ufer, an dem sich jedoch alles wieder zusammenzieht und in unendlicher Weise erneuert und bereichert."8 Ich werde die Analyse dieser Passage nicht weiter vorantreiben. Eine solche Untersuchung würde die Wiederaufnahme der Problematik der Metapher verlangen, die Derrida in anderen Texten dargelegt hat9. Dies ist jedoch weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Kommen wir jedoch auf die Frage der Gewalt zurück, der Gewalt jeglichen Kommentars, jeglicher Lektüre. Wenn jeder Kommentar, jede Lektüre gewalttätig sind, oder zumindest eine gewisse Gewalt befördern, auf eine Gewalt zurückgreifen, wie soll man sich damit abfinden können? Wie diese Gewalt akzeptieren? Muß sie reduziert werden? Gewalt und Metaphysik liefert den ersten Ansatz einer Antwort auf diese Fragen. In diesem sehr schönen und ausführlichen Text führt Derrida eine Studie über das Thema des Gesichts bei Levinas durch. An einen bestimmten Punkt dieser Analyse - auf dessen Rekonstruktion ich hier verzichten muß - präzisiert Derrida, daß für Levinas das „Gesicht Präsenz" ist, „ousia [Herv. J.D.]" 10 . Diese Bestimmung des Gesichts als Präsenz beinhaltet, daß das Gesicht nicht bedeutet, sich nicht als Zeichen vergegenwärtigt, sondern daß es „sich zum Ausdruck" bringt, „indem es sich leibhaftig, an sich [...] gibt" 11 . Aus dieser Implikation zieht Derrida alle möglichen Konsequenzen: „Sich zum Ausdruck bringen heißt, hinter dem Zeichen sein. Hinter dem Zeichen sein, heißt das nicht zunächst imstande sein, seiner Sprache beizustehen, beizuwohnen und zu helfen, dem Wort des Phaidros gemäß, der gegen Theut (oder Hermes) plädierte, und das Levinas zu wiederholten Malen sich zu eigen macht? Die lebendige Sprache allein vermag durch ihre Beherrschung und ihre Meisterschaft sich selbst zu helfen, nur sie allein ist Ausdruck und nicht dienendes Zeichen. [...] 8 Ebd., S. 129, Anm. 6. 9 Vgl. J. Derrida, Die weiße Mythologie, in: Randgänge der Philosophie, übers, von M. Fischer und K. Karabaczek-Schreiner, Wien 1988, S. 203-259 und: Der Rückzug der Metapher, in: V. Bohn (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt a.M. 1987. 10 Derrida, Gewalt und Metaphysik, a. a. O., S. 154. 11 Ebd., S. 155, Herv. J.D.

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Michel Lisse Das Geschriebene und das Werk sind für Levinas keine Äußerungen, sondern Zeichen." 12

Was Derrida durch die Thematik des Gesichts bei Levinas entdeckt, ist nichts anderes als die metaphysische Affirmation der Vorherrschaft der Sprache über die Schrift. In diesem Punkt schreibt sich Levinas in eine Tradition ein, die - wie uns der Text, den wir gerade gelesen haben, beiläufig erinnert - ihre bedeutendsten Momente im Phaidros von Piaton fand. Wie man weiß, analysiert Derrida später en detail dieses logozentrische Privileg, dieses α priori, sein Funktionieren, seine Implikationen und Konsequenzen. Jedoch bereits seit Erscheinen dieses Textes, erstmals in einer Zeitschrift im Jahr 196413, beginnt Derrida, an diesem Privileg zu zweifeln, indem er sich fragt: „Kann man nicht alle Aussagen Levinas' zu diesem Punkt umkehren? Indem man beispielsweise zeigt, daß die Schrift sich selbst helfen kann, da sie dazu Zeit und Freiheit hat, weil sie besser als die Sprache der empirischen Dringlichkeit sich entziehen kann?" 14 Indem Derrida in gewisser Weise Levinas gegen Levinas ausspielt, sich, gemäß der Logik von Totalite et Infini, auf dessen Gebiet begibt, zeigt er, daß eben diese Logik nicht notwendigerweise das Privileg, das der Sprache in bezug zur Schrift zugewiesen wird, befürwortet, sondern daß die Schrift es sich erlauben kann, „sich selbst zu helfen", sich „besser als Andere auszudrücken", sich „erfolgreicher an den Anderen zu wenden" als die Sprache: „Weil der Schriftsteller sich besser entfernen kann, das heißt, weil er sich besser als Anderer ausdrückt und sich erfolgreicher an den Andern wendet als der Mensch der Sprache? Und daß er, indem er auf die Genüsse und auf die Effekte seiner Zeichen verzichtet, besser der Gewalt widersteht?"15 An diesem Punkt angelangt, könnte man zu der Uberzeugung gelangen, daß die Schrift weniger gewalttätig ist als die Sprache, daß sich demnach der Umkehrschluß vollkommen rechtfertigen läßt und der Schrift in bezug auf die Sprache ein Privileg eingeräumt werden muß. Derrida jedoch, und seine Leser wissen dies genau, hat niemals die Logik der einfachen Umkehrung gepriesen. Wenn diese auch einen strategischen Wert besitzt, so kann sie jedoch nie mehr als eine Bedingung der 12 Ebd., S. 155, Herv.J.D. 13 In: Revue de metaphysique et de morale, 1964,3 und 4. 14 Derrida, Gewalt und Metaphysik, a. a. O., S. 156, Herv. J.D. 15 Ebd., S. 156, Herv. J.D.

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Möglichkeit der Verschiebung metaphysischer Oppositionen darstellen. Wenn der Text, den wir hier lesen, diese Verschiebung noch nicht zu bewerkstelligen scheint, wenn er noch nicht die Motive der Spur, der Schrift, der Dissemination etc. entwickelt, so schwächt er doch bereits die einfache Umkehrung der Opposition Sprache/Schrift und den Glauben an die Gewaltlosigkeit einer Schrift, der an die eben genannte Umkehrung gebunden ist, ab. Und in der Tat fügt Derrida, nachdem er die Hypothese in Betracht gezogen hat, der Schriftsteller müsse besser der Gewalt widerstehen, die alles relativierende und komplizierende Bemerkung hinzu: „Es stimmt zwar, daß er [der Schriftsteller] vielleicht nur die Absicht hat, sie [die Genüsse und Effekte seiner Zeichen] unendlich zu vermehren, und darin - wenigstens - den Andern vergißt, das unendlich Andere als Tod, und daß er somit die Schrift als differance und Ökonomie des Todes praktiziert."16 Genau von diesem Punkt an, wenn der Schriftsteller - anstatt sich die Genüsse und die Effekte seiner Zeichen zu versagen - diese unendlich zu vermehren vermag, beruht die Opposition zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit nicht auf der Opposition zwischen Sprache und Schrift, sondern ist eine andere. Derrida zieht sofort die Folgerung: „Die Grenze zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit verläuft daher vielleicht nicht zwischen Sprache und Schrift, sondern durch das Innere einer jeden hindurch."17 Mit anderen Worten tragen die Sprache, die Schrift, die Sprachfähigkeit, der Diskurs einen Teil der Gewalt, bergen sie „eine wesentliche Gewalt" 18 , „transzendental und vorethisch"19, in sich. Diese Gewalt entspricht der „Notwendigkeit, vom Andern als Andern zu sprechen oder zum Andern als Andern in seinem Für-mich-Erscheinen-als-das-was-er-ist"20. Und diese Notwendigkeit, der kein Diskurs, keine Schrift und keine Sprachfähigkeit entfliehen kann, ist - gemäß Derrida „die Gewalt selbst oder vielmehr der transzendentale Ursprung einer irreduziblen 16 Ebd., S. 156, Herv. J.D. An dieser Stelle möchte ich einen entsprechenden Abschnitt aus der Revue de metaphysique et de morale zitieren. Man wird feststellen, daß die Begriffe differance und Ökonomie des Todes nicht direkt präsent sind: „Es ist richtig, daß er [der Schriftsteller] vielleicht nur die Absicht hat, sie [die Genüsse und die Effekte seiner Zeichen] unendlich zu vermehren und darin - wenigstens - den Anderen, das unendlich Andere als den Tod, vergißt" (S.347). Diese Divergenz sollte uns an die Warnungen Derridas in verschiedenen Artikeln erinnern, Warnungen, die uns zeigen, daß Versionen variieren und daß diese Variationen analysiert oder zumindest angezeigt werden müssen. 17 Ebd., S. 156. 18 Ebd., S. 196, Anm. 54. 19 Ebd., S. 195. 20 Ebd.

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Gewalt" 21 . In dem Maße jedoch, in dem dieser transzendentale Ursprung den Bezug zum Andern öffnet, ist er gleichzeitig, wie Derrida versichert, „Gewaltlosigkeit"22. Wenn nun die Notwendigkeit des Bezugs zum Anderen besteht, wenn das Gesicht23 der transzendentale Ursprung einer irreduziblen Gewalt und Gewaltlosigkeit ist, muß eingestanden werden - wie Derrida dies im weiteren Verlauf des Textes versichert - , daß die Begriffe „pure Gewalt" und „pure Gewaltlosigkeit" widersprüchlich sind24. In Anbetracht dieser Situation, der Präsenz einer irreduziblen Gewalt innerhalb eines jeden Diskurses, einer jeden Sprache, einer jeden Schrift, eines jeden gesprochenen Wortes etc., erscheint es notwendig, eine „Ökonomie" der Gewalt einzusetzen, um das zu vermeiden, was Derrida selbst für die „schlimmste Gewalt" hält, „diejenige des Schweigens und der dem Diskurs vorangehenden oder ihn unterdrückenden Nacht" 25 . Man muß also die geringstmögliche Gewalt wählen, man muß sprechen und schreiben - d. h. der Mensch muß diese Gewalt anerkennen, in die er sich verwickelt weiß, um das Schlimmste verhindern zu können. Der folgende Satz von Derrida resümiert exakt den aus unserer sprachlichen Situation hervorgegangenen ethischen Imperativ: „Das gesprochene Wort ist mit Sicherheit die erste Niederlage der Gewalt, paradoxerweise existiert die Gewalt aber nicht vor der Möglichkeit der Rede. Der Philosoph (der Mensch) muß in diesem Krieg des Lichts sprechen und schreiben, in den er sich schon verwickelt weiß, und von dem er weiß, daß er ihm nur durch die Verleugnung des Diskurses, dadurch also, daß er die schlimmste aller Gewalten riskierte, entfliehen könnte." 26 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd., vgl. S. 225 :„Ein Gesicht allein vermag die Gewalt aufzuhalten, zunächst aber, weil es allein sie hervorrufen kann." 24 Ebd., S.225. 25 Ebd., S. 178. Vgl. auch S. 197: „[...] die schlimmste Gewalt [...]: die des primitiven und prä-logischen Schweigens, einer unvorstellbaren Nacht, die nicht einmal das Gegenteil des Tages ist, einer absoluten Gewalt, die nicht einmal das Gegenteil der Gewaldosigkeit ist: das reine Nichts oder der reine Unsinn." 26 Ebd., S. 178-179, Herv. J.D. Es handelt sich hierbei um das Schweigen, das den Diskurs negiert oder unterdrückt. Später spricht Derrida von einem anderen Schweigen, demjenigen, das die Erfindung einer „unauffindbaren Sprache" anruft, einer kommenden politischen Situation. Dieses Schweigen ist das der von der Vereinigung der „Künstler der Welt gegen die Apartheid" organisierten Ausstellung, ein Schweigen, in dem „bildhafte Idiome sich kreuzen, versuchen, die Sprache des Anderen zu sprechen, ohne jedoch auf die eigene zu verzichten" (Le dernier mot du racisme, in: Psyche, a. a. O., S. 356), in dem die Gemälde schweigend betrachten und anrufen, um die Ausdrucksweise Derridas aufzunehmen. Dieses Schweigen - gemäß Derrida - ist gerechtfertigt, denn ein „Diskurs erzwinge die Beschäftigung mit der

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Der Versuch, diese Überlegungen zur Gewalt auf die Problematik der Lektüre zu übertragen, läßt erahnen, in welchem Maße die Lektüre - ebenso wie die Schrift - mit der Gewalt rechnen muß, in welchem Maße jeglicher Kommentar - so treu er auch immer sein mag - mit der Gewalt umgehen muß, der er sich ausgeliefert sieht. Wenn Lesen und Schreiben unerläßlich sind, um die schlimmste Gewalt zu vermeiden, wenn eine irreduzible Gewalt akzeptiert werden muß, so darf dies nicht davon abhalten, eine „Ökonomie der Gewalt" (im Sinne des doppelten Genitivs) im Akt der Lektüre zu praktizieren. Diese „Ökonomie der Gewalt" findet ihr Prinzip in dem, was ich in Ermangelung eines treffenderen Ausdruckes die „Regeln der Lektüre" nennen werde, Regeln, die in mehreren Texten Derridas bereits formuliert wurden.

In dem Kapitel Das Exorbitante. Methodenfrage in der Grammatologie wird die Frage nach der Methodologie der Lektüre gestellt. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen liegt in der Frage nach dem Gebrauch des Wortes „Supplement" bei Rousseau. Derrida macht darauf aufmerksam, daß das „Subjekt des Satzes" - sofern es sich des Wortes Supplement bedient - „immer mehr, weniger oder etwas anderes aussage, als es aussagen möchte"27. Da das „Subjekt" fortan in bestimmter Weise von seiner Sprache mitgezogen wird, da es „in einer Sprache und in einer Logik" schreibt, „deren System, Gesetze und Eigenleben von seinem eigenen Diskurs definitionsgemäß nicht absolut beherrscht werden können" 28 , kann das Problem des Gebrauchs des Wortes nicht mehr auf die Schreibweise des betreffenden Subjekts - z.B. Rousseau - beschränkt werden, sondern muß auf die Lektüre dieses Wortes und sein Funktionieren innerhalb des Textes ausgeweitet werden. Diese Lektüre „muß ein bestimmtes, vom Schriftsteller selbst unbemerktes Verhältnis zwischen dem, was er an verwendeten Sprachschemata beherrscht, und dem, was er nicht beherrscht, im Auge behalten" 29 . Warum muß die Lektüre ein bestimmtes Verhältnis im Auge behalten? Wer oder was zwingt sie dazu? Wer oder was nötigt sie, diese Regel zu befolgen? Die Antwort auf diese Fragen - eine mögliche Antwort - bezieht sich auf die Situation des Schriftstellers innerhalb seiner Sprache. Wenn „das Subjekt" von der Sprache und der Logik, in denen es schreibt, vereinnahmt oder bisweilen überholt wird, so darf die Unterderzeitigen Situation des Militärs und der Rechtsprechung. Er schließe Verträge, er verliere sich in der Dialektik und sei der Wiederaneignung ausgeliefert" (ebd., S. 362). Dies ist nicht das Schweigen der schlimmsten Gewalt, sondern dasjenige, das „bedingungslos anruft", das „über das wacht, was noch nicht ist, und über die Gelegenheit, eines Tages daran erinnern zu können" (ebd., S.362). 27J. Derrida, Grammatologie, übers, von H.-J. Rheinberger und H. Zischler, Frankfurt a.M. 1974, S. 273, Herv.J.D. 28Ebd., S.273, Herv.J.D. 29 Ebd., S.273, Herv.M.L.

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suchung des Sagen-Wollens nicht zur Regel der Lektüre erhoben werden, sondern muß in einen weiteren Rahmen der Untersuchung des Sagen-Wollens, der des Textes, eingeordnet werden. Das zu untersuchende Verhältnis ist, wie Derrida fortfährt, „eine signifikante Struktur, die von der Lektüre erst produziert werden muß" 30 . Im folgenden geht Derrida auf die Bedeutung dieses Wortes „produzieren" ein. Ich zitiere den gesamten Absatz über die Produktion einer kritischen Lektüre: „Diese signifikante Struktur zu produzieren, kann aber gewiß nicht heißen, mit Hilfe der verstellenden und distanzierten Verdopplung des Kommentars das bewußte, willentliche und intentionale Verhältnis zu reproduzieren, das der Schriftsteller in seine Wechselbeziehung mit der Geschichte einbringt, welcher er dank dem Element der Sprache zugehört. Gewiß muß dem Moment des verdoppelnden Kommentars sein Platz in der kritischen Lektüre eingeräumt werden. Doch würde man die kritische Lektüre nicht gebührend anerkennen und ihre klassischen Anforderungen berücksichtigen, was nicht eben einfach ist und wozu es aller Instrumente der traditionellen Kritik bedarf, so liefe die kritische Produktion Gefahr, richtungslos zu bleiben und sich so gut wie alles zuzutrauen. Diese unabdingbare Abwehr konnte eine Lektüre zwar immer abschirmen, sie konnte sie jedoch nicht '·££ «31 eröffnen. Eine doppelte Geste, eine doppelte Bewegung ist demnach vorgeschrieben. Zunächst muß mit Hilfe aller Instrumente der traditionellen Kritik ein verdoppelnder, verstellender und distanzierender Kommentar produziert werden. Mit anderen Worten: es ist unerläßlich, sich einer Paraphrase des bearbeiteten Textes auszuliefern. Wird dieses Moment des verdoppelnden Kommentars nicht respektiert, so läuft die Lektüre Gefahr, sich so gut wie alles zuzutrauen. Das Moment des Kommentars ist demnach eine Abwehr, die die Lektüre vor interpretatorischen Delirien schützt. Dieser Moment ist jedoch auch insofern ungenügend, als er nicht vermag, die Lektüre zu eröffnen. Was bleibt dazu zu sagen? Wie nun ist dieses zweite Moment der Lektüre beschaffen, das ein eröffnendes Moment zu sein scheint? Die Antwort von Derrida ist schwierig und komplex. Derrida wird eine Art von Lösungen, ein Genre möglicher, jedoch im Hinblick auf die Situation des Schriftstellers in der Sprache unannehmbarer Antworten, ausschließen. Demnach darf die Lektüre kein Text-Äußeres, einen Referenten oder ein textäußeres Signifikat, im Auge haben. Der Zugang zu einem wie auch immer gearteten Referenten kann nur im und durch den Text gefunden werden, und „wir haben kein 32 Recht, uns über diese Beschränkung hinwegzusetzen" . Der Referent, das, was man 30 Ebd., S.273. Herv.J.D. 31 Ebd., S. 273-274, Herv. J.D. 32 Ebd., S.274.

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das „Wirkliche" nennt, kann nur in der textuellen Kette, in die er eingeschrieben ist, zum Vorschein kommen: „Es hat immer nur Supplemente, substitutive Bedeutungen gegeben, die ihrerseits nur aus einer Kette von differentiellen Verweisen hervorgehen konnten, zu welchen das ,Wirkliche' nur hinzukam, sich lediglich anfügte, wenn es - ausgehend von einer Spur und einem Ergänzungszeichen usw. - Bedeutung erlangte." Derjenige, der nach der Methode der referentiellen äußeren Lektüre vorginge, kann die Lektüre, die negiert, daß „der Sinn und die Sprache diese Schrift als das Verschwinden der natürlichen Präsenz freilegen"34, nicht eröffnen. Eine solcherart referentielle Lektüre beruht auf dem Glauben an eine „Selbstidentität des Textes" und auf einem nahezu naiven Vertrauen in die Möglichkeit des Nachzeichnens der „Konturen" des Textes, was einen Sprung „über den Text hinaus zu seinem vorgeblichen Gehalt, in den Bereich des reinen Signifikats"^erlaubt. In der hier beschriebenen referentiellen Lektüre erkennt man die logozentristische Geste, die den Anteil des Textes ignoriert, um die Seele des Signifikats zu erschüttern, die Psychologie, den Geist, das Denken des Autors. Diese Geste geht einher mit der Ablehnung der Anerkennung der Probleme, die durch die Begrenzung des Kontextes entstehen, eine Ablehnung, die das Postulat der Existenz eines begrenzten Kontextes, der nicht durch sein Anderes kontaminiert werden kann, aufstellt36. Es drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß es wohl unmöglich ist, „durch Interpretation oder Kommentar das Signifikat vom Signifikanten zu trennen"37. Dies gilt nicht nur für den „Literaten", sondern in gleicher Weise für „den Philosophen, den Chronisten, den Theoretiker", kurz gesagt für „jeden Schreibenden"38. Diese Schlußfolgerung muß jedoch nicht - wie bei Habermas - zu der Annahme führen, daß Derrida „den Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur"39verschwinden läßt. Wenn Derrida affirmiert, daß jeder Schreibende (Philosoph, Literat, Theoretiker etc.) dem „Ubergewicht der Sprache unterworfen" ist, wenn jeder Schreibende

33 Ebd., S. 274-275. 34 Ebd., S.275. 35Ebd., S.275, Herv.J.D. 36 Uber das Problem des Kontextes vgl. J. Derrida, Limited Inc., Paris 1990, passim. 37 Derrida, Grammatologie, a. a. O., S. 276. 38 Ebd., S.276. 39 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988, S. 223. Vgl. auch S.224: „Der Vorrang der Rhetorik vor der Logik bedeutet die Generalzuständigkeit der Rhetorik für die allgemeinen Qualitäten eines alles einbegreifenden Textzusammenhangs, in dem sich letzdich alle Gattungsunterschiede auflösen", und S. 226: „Die Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Literaturkritik und Literatur [...]."

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in einem textuellen System gefangen ist, so legt er (Derrida) Wert darauf, daß eben dieses textuelle System ein „begrenztes"*®ist: „Selbst wenn es niemals ein reines Signifikat gibt, bietet [Herv. J.D.] sich doch in je verschiedener

[Herv. M.L.] Weise etwas am Signifikanten als nicht weiter redu-

zierbare Schicht des Signifikats dar [Herv. J.D.]." 4 1 Der Literat, der Philosoph, der Theoretiker und der Chronist verfolgen verschiedene Ziele, und es ist wichtig, diese Unterschiede nicht auszuradieren, diese Besonderheiten nicht zu reduzieren, auch wenn eine Lektüre dieser Texte zeigt, daß diese Singularität niemals pur ist, niemals sicher ist vor der Ansteckung durch andere Singularitäten, daß die Grenze zu jenen niemals unüberwindbar ist, sondern daß sie die unterschiedlichen Singularitäten durchschreitet 42 . Das von Derrida gewählte Beispiel, um ein textuell bestimmes System zu veranschaulichen, ist der philosophische Text: „[...] der philosophische Text [...], welcher - obschon immer geschrieben - als philosophischer daraufhin entworfen ist, vor dem bezeichneten Inhalt, dessen Träger er ist, zurückzutreten." 4 3 Der philosophische Text tendiert dazu zurückzutreten, sich als Text, als Schrift, als Signatur 44 , als „Signifikant" auszuradieren, er postuliert und sucht gleichzeitig eine textuelle Transparenz, um so seinen bezeichneten Inhalt hervortreten zu lassen. Dies ist der einzigartige Anspruch, dem - gemäß Derrida - die Lektüre gerecht werden muß, „selbst wenn sie überzeugt ist, ihn in letzter Analyse entkräften zu können" 4 5 . 40 Derrida, Grammatologie, a. a. O., S. 276, Herv. M.L. 41 Ebd., S. 276, Herv. M.L. 42 Vgl. J. Derrida, Y a-t-il une langue philosophique?, in: Autrement, novembre 1988, n° 102, S. 30-37. 43 Derrida, Grammatologie, a. a. Ο., S. 276, Herv. M.L. 44 „Die Signatur verlangt die Unterbrechung des Textes und kein Philosoph hätte seinen Text unterzeichnet, der resolut und einzigartig, mit allen Gefahren, die dies in sich birgt, in seinem Namen spricht. Jeder Philosph negiert das Idiom seines Namens, seiner Sprache, seiner Umstände und spricht daher notwendigerweise in ihm nicht eigenen Begriffen und Allgemeinheiten" (J. Derrida, Signeponge, Paris 1988). Diese Sätze müssen jedoch im Hinblick auf eine den sogenannten philosophischen Texten innewohnende/tieferliegende Signatur nuanciert werden. Derrida hat dieses nicht übersehen; im Verlauf des Textes in Signeponge spricht er von den „Philosophen, die nicht unterzeichnen, die vielmehr unterzeichnen, ohne zu unterzeichnen" (S. 32), und in einem Interview in der Zeitschrift Fruits, erklärt er: „Ich habe den Eindruck [...], daß es in allen philosophischen Texten, sowie in allen äußerst komplizierten Vermittlungen, die uns davor schützen und uns den Zugang versperren, eine versteckte Stimme, ein Wort, eine Schrift oder eine Signatur [Herv. M.L.] gibt, die da ist, verschleiert, mit einer nie gehörten Gewalt, die die universitäre Institution im allgemeinen verdeckt" (Dialangues. Une conversation avec Jacques Derrida, in: Fruits, 1983, n°l, S. 80). 45 Ebd., S.276.

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Nur ein Mißverständnis dieser 1967 von Derrida aufgestellten schwierigen, nichtsdestoweniger notwendigen Lektüreprinzipien kann dazu führen, daß - wie bei Habermas - mit einer naiven oder unehrlichen Gewißheit folgendes behauptet wird: „Die Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Literaturkritik und Literatur befreit das kritische Geschäft vom mißlichen Zwang, sich pseudo-wissenschaftlichen [Herv. M.L.] Standards zu unterwerfen; gleichzeitig hebt sie es über die Wissenschaft hinaus und empor auf das Niveau schöpferischer Tätigkeit."46 Konträr zu den Ausführungen von Habermas bricht die vom Text geforderte Lektüre nicht einfach mit wissenschaftlichen Anforderungen oder Kriterien, sondern sie ist sich deren ebenso bewußt wie eines weiteren, von Habermas jedoch unbeachteten Problems: eines Phänomens von Kontamination durch das philosophische Projekt der Auslöschung des Signifikanten zugunsten des Signifikats, das jeden Text trifft. Ebenso verhält es sich mit der literarischen Schreibweise, die gemäß Derrida „von sich aus nahezu immer und überall [Herv. M.L.], den Moden entsprechend und über sehr verschiedene [Herv. M.L.] Zeitalter hinweg, dieser transzendenten [Herv. J.D.] Lektüre, der Untersuchung des von uns in Frage gestellten Signifikats sich gewidmet, aber nicht um es zu annullieren, sondern um es in einem System zu begreifen, gegenüber dem sie selbst blind ist" 47 . Deshalb handelt es sich nicht um eine „Einebnung der Unterschiede", sondern vielmehr um die Bewußtwerdung des Durchschreitens dieser Unterschiede durch die logozentristische Geste des Auslöschens des Signifikanten zugunsten des Signifikats. Nur aufgrund der Tatsache, daß diesem Durchschreiten Aufmerksamkeit geschenkt wird, kann gezeigt werden, daß eine literarische Schreibweise sich nicht in einem bezeichneten Inhalt verliert, den sie übermitteln möchte oder von dem man möchte, daß sie ihn übermittelt. Darum auch die zu Recht gestellte Frage: Gibt es überhaupt eine Schreibweise, die sich vollständig in ihrer Botschaft, in dem von ihr bezeichneten Inhalt erschöpft? Anders formuliert könnte die Frage auch folgendermaßen lauten: Gliedert/ Lagert/Ordnet sich denn eine Schreibweise/Schrift nicht immer um ihren blinden Fleck herum an? Der Begriff des Supplements ist - im Falle Rousseaus - „eine Art blinder Fleck", „Nicht-Sicht, welche die Sichtbarkeit ermöglicht und be46 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 226. Ich verzichte an dieser Stelle, näher auf eine essentialistische Tendenz/Neigung von Habermas einzugehen, der von der Wissenschaft, der Argumentation, der Logik, der Rhetorik spricht,... ebenso auf den Begriff der schöpferischen Tätigkeit, die aus der Lektüre eine Aktivität ex nihilo macht (vgl. hierzu: Derrida, Vers une ethique de la discussion, in: Limited Inc., a. a. O., S. 272). 47 Derrida, Grammatologie, a. a. O., S. 276.

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grenzt"48. Blinder Fleck, da dieser Begriff, dessen virtuelle Sinngebungen Rousseau nicht vollständig ausschöpfen kann, das System seiner Schreibweise durch die „Auswahl" und die „Exklusion" dieser virtuellen Sinngebungen erhellt. „Auswahl" und „Exklusion" sind vielleicht nicht die treffenden Ausdrücke, es sind hier keinesfalls die Kategorien gemeint, auf die die Lektüre „verzichten"49sollte: Aktivität oder Passivität, Unbewußtes oder Bewußtsein des Autors. Die Aufgabe der Lektüre (immer noch am Beispiel Rousseaus) besteht in der Produktion des Gesetzes des Verhältnisses zwischen der Sicht und der Nicht-Sicht im Gebrauch des Begriffes des Supplements, eine Produktion, die „versucht, die Nicht-Sicht dem Blick freizugeben [Herv. M.L.]" 50 , eine Produktion, die „notwendigerweise ein Text [Herv. M.L.]" ist, „das System einer Schrift [Herv. M.L.] und einer Lektüre [Herv. M.L.], von der wir α priori [Herv. J.D.], doch erst jetzt wissen, und eines Wissens, das keines davon ist, daß sie sich um ihren eigenen blinden Fleck gliedern [auch hier im Original s'ordonner]"51. Der Text muß seine Chancen erhalten, er muß die Möglichkeit haben, seinen Schleier zu zerstören, auch noch Jahrhunderte nach seiner Niederschrift. Dieser Lektüreprozeß, diese Produktion findet an den Rändern und zwischen den Zeilen der gelesenen Texte statt: „[...], eigentlich muß man vor allem jene Autoren lesen und wieder lesen, deren Spuren ich beim Schreiben aufnehme, die ,Bücher', in denen ich an den Rand und zwischen die Zeilen kritzle, um auf diese Weise einen Text zu entziffern, der zugleich sehr ähnlich und ganz anders ist [...]." 52 Bevor wir durch das „Supplement" zu einem anderen Text übergehen, sollte der Selbstkommentar dieses Textes der Grammatologie, der in Vers une ethique de la discussion5*zu finden ist, untersucht werden. Da an dieser Stelle der Reichtum dieser Seiten aus Limited Inc. nicht rekonstituiert werden kann, möchte ich mich auf die wesentlichen Punkte dieses Selbstkommentars beschränken. Wie, so fragt sich Gerald Graff, ist ein „verdoppelnder Kommentar" möglich, wenn man dem Denken der Iterabilität folgt, d. h. wenn man die Begriffe der reinen Präsenz, des Sagen-Wollens etc. in Zweifel zieht? Der verdoppelnde Kommentar, antwortet Derrida, zielt darauf 48 Ebd., S. 282. An dieser Stelle müßte eine Lektüre der Memoires d'aveugle. L'autoportrait autres mines, hg. von der Reunion des musees nationaux, 1990 aufgepfropft werden. 49 Ebd., S.282. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 J. Derrida, Positionen, übers, von D. Schmidt und A. Wintersberger, Wien 1986, S. 34. 53 In: Limited Inc., a.a. O., S. 201-285.

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ab, eine „Stabilität der dominierenden Interpretation" des kommentierten Textes zu erschüttern. Andererseits ist die Selbstinterpretation abhängig von dieser Stabilität, von diesem verdoppelnden Kommentar, der selbst bereits, wie Derrida betont, eine Interpretation ist. Genauer gesagt handelt es sich um eine Paraphrase, die sicherzustellen versucht, was eine tiefe und solide Zone von impliziten „Konventionen" und „Verträgen" in den kommentierten Texten konstituiert. Ein Minimum an Intelligibilität - die Kenntnis der Grammatik, Lexik und Rhetorik einer Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Geschichte - ist erforderlich, um eine Untersuchung im Inneren einer Gemeinschaft zu ermöglichen. Dieses Minimum an Intelligibilität garantiert in der Tat sowohl einen minimalen Konsensus, was den Text betrifft, als auch die Möglichkeit der Diskussion über eben diesen. Der verdoppelnde Kommentar oder die Paraphrase sind in keiner Weise originär oder ahistorisch und stellen sicherlich nicht eine primäre Schicht des Sinns dar, sie machen jedoch durchaus den stärksten und festesten Teil dessen aus, was schon eine Interpretation des Textes ist. Dieser Moment der Lektüre ist unerläßlich, darauf zu verzichten, hieße alles mögliche zu sagen, d.h. eine Maschinerie der Zensur, der Nicht-Lektüre, der unwiderruflichen Verurteilung etc. anzuwerfen, deren ethischpolitische Konsequenzen sich leicht erraten lassen. Versuchen wir nun, anhand von Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel. Paul de Mans Kriegteinige Regeln zu definieren, die einen minimalen Konsensus garantieren, speziell in Texten von hoher politischer Bedeutung. Genauer gesagt nehmen wir die Formulierung zweier Lektüreregeln von Jacques Derrida auf: „Erste Regel: die Achtung für den anderen, das heißt die seines Rechtes auf Differenz in seinem Verhältnis zu den anderen, aber auch in seinem Verhältnis zu sich." „Zweite Regel: [...] da wir gerade über den totalitären, faschistischen, nazistischen, rassistischen, antisemitischen Diskurs reden, von all den Gesten, ob diskursiv oder nicht, die der Komplizenschaft mit ihm verdächtigt werden, möchte ich das Mögliche tun und natürlich die anderen dazu einladen, um zu vermeiden, im Spiegelbild, und wäre es virtuell, die Logik des derart inkriminierten Diskurses zu reproduzieren."55 Präzisieren wir diese Regeln: Dem inkriminierten Autor muß das Recht auf einen Irrtum eingeräumt werden, das Recht der Einschreibung seines Denkens in das Herz der Geschichte und die Umwandlung dieses Denkens; gleichzeitig aber auch das Recht auf Verweigerung der Totalisierung dieses Denkens und seiner Reduktion zugunsten einer Homogeneität - d. h. die Affirmation der Heterogenität dieses Denkens und gegebenenfalls die Demonstration der Spiegelung dieser Heterogenität. 54 J. Derrida, Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel. Paul de Mans Krieg. Memoires II, übers, von E. Weber, Wien 1988. 55 Ebd., S. 103 und 104, Herv. J.D.

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(Diese Heterogenität - für diejenigen, die mir in der Problematik der Signatur folgen wollen - entspricht m.E. der 3. Modalität der Signatur, die Derrida in Signeponge56herausgearbeitet hat). Die Logik der nazistischen, faschistischen, antisemitischen, rassistischen, totalitaristischen etc. Diskurse zu vermeiden bedeutet, auf das Projekt zu verzichten, diese Logik informell und in Gänze zu totalisieren, denn es scheint, gemäß Derrida, daß eben diese Totalisierung den „wesentlichen Charakter dieser Logik" ausmacht. Was aber auf keinen Fall heißt, auf die Analyse dieses Formalisierungsprozesses und seines Programms zu verzichten. Ganz im Gegenteil, denn diese Analyse ist unerläßlich, „um die philosophischen, ideologischen oder politischen Aussagen und Verhaltensweisen, die ihm unterstehen, zu entdecken"57 und sie situieren zu können. Ist das Moment des verdoppelnden Kommentars, der Paraphrase, mit dem Ziel der Stabilität der Interpretation in Anspruch genommen, darf man sich jedoch nicht damit begnügen - auch nicht für einen Moment - , denn diese Stabilität ist nur relativ und durchzogen vom Spiel, von der Instabilität, der Nicht-Transparenz. Mit anderen Worten: die Stabilität ist von ihrem Wesen her destabilisierend. Die Lektüre trägt von da an ein zweites Moment in sich, dasjenige der Öffnung durch eine Unentscheidbarkeit, die selbst die riskantesten Fragen und Interpretationen erlaubt. Dieses Moment der Öffnung besteht in der engstmöglichen Begrenzung des Oszillierens zwischen den ihrerseits begrenzten signifikanten Potentialitäten. Als Beispiel für diese doppelte Lektüre und um ihre politisch-ethischen Implikationen aufzuzeigen, möchte ich hier auf eine Gegenüberstellung zwischen Gadamer, der Celan liest , und Derrida, der Celan liest , eingehen: „MIT DEN VERFOLGTEN in spätem, unverschwiegenem, strahlendem Bund. Das Morgen-Lot, übergoldet, heftet sich dir an die mitschwörende, mitschürfende, mitschreibende c

Ferse.

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56 Derrida, Signeponge, a. a. O., S. 47—48. 57 Derrida, Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel, a. a. O., S. 105. 58 H.-G. Gadamer, Wer bin Ich und werbist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichterfolg „Atemkristall", Frankfurt a.M. 1973. 59 J. Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, übers, von W.S. Baur, Wien 1986. 60P. Celan, Atemwende, in: Gedichte, 2. Bd., Frankfurt a.M. 1985, S.25.

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Gadamer beginnt seine Analyse dieses Gedichts 61 damit, daß er die Bedeutung des Wortes „VERFOLGTE" auf den Antisemitismus im Dritten Reich beschränkt: „Das läßt sich bei diesem Dichter und in diesen Jahren kaum anders als in bezug auf die Judenverfolgungen Hitlers verstehen [...]." 2 Diese Einschränkung des Begriffs Verfolgte auf die Juden findet ihre Berechtigung in einer doppelten Referenz auf die Biographie („des Dichters") und auf die Chronologie („dieser Jahre"): „Die erste Strophe spricht von den Verfolgten. Das läßt sich bei diesem Dichter und in diesen Jahren [1965, Datum der Ausgabe von Atemkristall] kaum anders als in bezug auf die Judenverfolgungen Hitlers verstehen, und daß es ein Bekenntnis des Dichters ist, das hier ,mit-schreibend' zum Gedicht wurde, scheint deutlicher denn je." 63 Im weiteren Verlauf seiner Analyse verzichtet Gadamer auf die Verwendung des Wortes „Juden" und zieht an dessen Stelle die von Paul Celan verwendete Bezeichnung „Die Verfolgten" vor, so als ob Gadamer in einer theoretischen Aussage gefangen bliebe, bevor er mit dem Kommentar der Textsammlung Celans beginnt; „jedes der Gedichte hat seinen Ort in einer [hermetisch verschlüsselten] Folge, und es wächst dem einzelnen Gedicht von da aus gewiß etwas an Bestimmtheit zu" 64 . Die Reserve der möglichen Bedeutungen des Begriffes „Verfolgte", der zugleich auf alle Verfolgten der Menschheitsgeschichte zu verweisen imstande ist, „ist die menschliche Grundsituation als solche, daß da Verfolgte sind [...]"65. Was Gadamer hier auszuradieren versucht - ohne daß es ihm gelänge - , ist die Tatsache, daß die Stabilität sich destabilisiert, daß der Begriff der Verfolgten, trotz des von Gadamer definierten Kontextes - Paul Celan ist ein jüdischer Dichter, der, als er 1965 von Verfolgten sprach, nur das Modell der Judenverfolgung durch Hitler vor Augen haben konnte - , sich nicht nur auf die Auslöschung im II. Weltkrieg bezieht, sondern auf alle Verfolgungen in der Geschichte der Menschheit, ohne sie jedoch auf eine verallgemeinernde Formel zu reduzieren, die die Besonderheiten jeder einzelnen Verfolgung verwischen würde. Meines Wissens hat Derrida den oben zitierten Text von Celan nie kommentiert, man findet jedoch in Schibboleth Lektüren von Texten, die auf historische Ereignisse anspielen. Daher insistiert der Kommentar von In Eins auf der Möglichkeit eines Gedichts, an ein und demselben Datum, in einem einzigen Mal, eine Reihe einzigartiger Ereignisse feiern zu können: 61 Gadamer, Wer bin Ich und wer bist Du?, a. a. O., S. 80-84. 62 Ebd., S.81. 63 Ebd. 64 Ebd., S.9, Herv. M.L. 65Ebd., S.81.

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Michel Lisse „Die Vielfalt der Sprachen kann in einem einzigen Mal, an ein und demselben Datum, den poetischen und politischen Jahrestag, die Wiederkehr einzigartiger Ereignisse, wie sie auf der Karte von Europa aufblitzen, gemeinsam feiern; sie sind einander dann in einer geheimen Verwandtschaft verbunden."66 Oder weiter: „Aber schon im Brennpunkt ein und derselben Sprache, zum Beispiel der französischen, läßt sich einer unzusammenhängenden Flut von Ereignissen in einem einzigen Mal, an ein und demselben Datum, gemeinsam gedenken, welches von da an die seltsame, koinzidierende, unheimliche* Dimension einer Vorbestimmung kryptischer Art annimmt."67

Dies gilt für das Datum und das Schibboleth, aber ebenso - und dies ist unsere Hypothese für die Lektüre des Gedichts aus Atemkristall - für ein Wort. Das Datum, das Schibboleth und das Wort bleiben „jeder interpretativen Totalisierung [Herv. M.L.]" gegenüber heterogen. „Das bedeutet eine Eliminierung des hermeneutischen Prinzips [Herv. M.L.]. Es gibt keine Bedeutung, keine einzige ursprüngliche Bedeutung mehr, seit es ein Datum gibt und das Schibboleth [Herv. J.D.] [und ein Wort, M.L.]." 68 Schibboleth, ein Datum und ein Wort behalten sich eine Reserve an nicht zu verallgemeinernden Bedeutungen vor und können immer auch auf etwas anderes verweisen. Gleichzeitig verweisen sie auf eine Vielzahl von Ereignissen und verhindern so die Sättigung des interpretativen Kontextes und verhindern eine interpretative Verallgemeinerung, eine Rückkehr zum ursprünglichen Sinn. So wie Hamacher dies anläßlich einer Lektüre von Radix, Matrix beschreibt: „Es spricht nicht mehr die Sprache eines Geschlechts, das Grund, Zentrum, Ursprung, Vater und Mutter sein könnte, sondern es spricht, deradiziert, dematernisiert, die des gemordeten. Deswegen wird ihm Auschwitz nicht zum historisch begrenzten Faktum, der Mord nicht zum unproblematischen Gegenstand seines Sprechens, sondern zum Vorwurf eines Fragens, das sich als unberedt und darin als selbst von jenem Mord betroffen bekennt."69

66 Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 53, Herv. J.D. 67 Ebd., S. 54-55, Herv. J.D. 68 Ebd., S.58. 69 W. Hamacher, Die Sekunde der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte, in: Paul Celan, hg. von W. Hamacher und W. Menninghaus, Frankfurt a. M. 1988, S. 105.

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Um einen solchen Text zu lesen, um einen Teil der signifikanten Reserven eines Datums, eines Wortes ausbreiten zu können, reicht ein verdoppelnder Kommentar nicht aus, muß man seinen Teil dazu beitragen, muß man hinzufügen - zu lesen geben. Zu lesen geben? Die Frage „Was heißt ,zu lesen geben'?" kann hier nicht mehr in aller Strenge gestellt werden, ohne durch den von Derrida geäußerten Satz: „Die Gabe oder die Sendung werden uns über die Frage, die in der Form ,Was ist?' gegeben ist, hinaustragen" 70 in einer Sackgasse zu enden. Zu lesen geben? „Hinzufügen bedeutet an dieser Stelle nichts anderes als zu lesen geben. Man muß sich arrangieren, um das zu denken: daß es nicht darum geht zu sticken, außer in der Überlegung, daß zu sticken wissen auch heißt, sich darauf zu verstehen, dem gegebenen Faden zu folgen, d. h., - wenn man uns nachfolgen mag - dem verborgenen."71 Der gegebene-verborgene Faden, der blinde Fleck. Die beiden Seiten, die wir lesen, hätten demnach mit der Unmöglichkeit einer Phänomenologie der Lektüre begonnen: ein Text birgt auf den ersten Blick „das Gesetz seiner Komposition und seine Spielregel", ein „Text bleibt im übrigen immer unwahrnehmbar [Herv. M.L.]" 72 . Ebenso „lüftet" das Gedicht von Celan „ein Geheimnis nur, um zu bestätigen, daß da im Hintergrund und auf ewig der hermeneutischen Ausdeutung entzogen ein Geheimnis ruht" . Gesetz und Regel des Textes „schützen sich nicht in der Unerreichbarkeit eines Geheimnisses, sie liefern sich lediglich niemals [au present] an etwas aus, was man eine Wahrnehmung [Herv. M.L.] nennen könnte" 74 . Die Lektüre ist weder eine Phänomenologie noch eine Hermeneutik. Das Hymen des Textes: defloriert und dennoch jungfräulich, regeneriert es „in unendlicher Weise sein eigenes Gewebe hinter der einschneidenden Spur, die Entscheidung jeder Lektüre" . Über den Text hat man keine Macht, kein Wissen, man täuscht sich darin, „gleichzeitig alle Fäden 76 überwachen" zu wollen, „zu schauen [Herv. M.L.][...], ohne ihn zu berühren" 77 . Man muß ihn jedoch mit den Fingern berühren, „irgendeinen neuen Faden" einknüpfen, ohne den vorgegebenen zu verlassen. Eine einzige Geste, „jedoch verdoppelt, lesen und schreiben" 78 . Verdoppelung 70 Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 37 [modifizierte Übersetzung]. 71 Derrida, La dissemination, a. a. Ο., S. 71-72. 72 Ebd., S. 71. 73 Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 58. 74 Derrida, La dissemination, a. a. Ο., S. 71 75 Ebd. 76 Α. d. Ü.: Die Doppeldeutigkeit des französischen „fils", Söhne und Fäden, ist im Deutschen nicht wiederzugeben. 77 Ebd., S.71. 78 Ebd., S. 72.

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der Wachsamkeit: „Derjenige, der sich sofort dazu ausersehen fühlt, etwas wieder hinzuzufügen, d. h. irgend etwas hinzuzufügen, hat nichts von dem Spiel begriffen." Würde er jedoch nichts hinzufügen, so hielte die N a h t nicht stand. Umgekehrt kann auch der nichts lesen, den die,methodologische Vorsicht', die ,Normen der Objektivität' und die Schutzvorrichtung des Wissens' davon abhalten, einen Teil seines Selbsts beizutragen. Dieselbe Albernheit, dieselbe Sterilität von,nicht-ernsthaft' und ,ernsthaft'." 7 9 Strenge des Textes, der Lektüre und der Schrift als Spiel des Supplements und der Signatur (die ich unterzeichne 8 0 ): „Das Supplement der Lektüre und der Schrift muß in allerstrengster Weise vorgeschrieben werden, jedoch durch die Notwendigkeit eines Spiels, als Zeichen, dem das System mit all seinen Kräften angeglichen werden m u ß . " 8 1 Logik der Gabe, in jeder Lektüre am Werke, in jeder Schrift 8 2 .

79 Ebd. 8 0 A d. Ü.: Die Doppeldeutigkeit des „ich unterzeichne" und „Zeichens meines Ichs", die dem „je signe" innewohnt, ist im Deutschen nicht wiederzugeben. 81 Derrida, La dissemination, a.a.O., S. 72, Herv. J.D. 82 Lucette Finas betrachtet die Lektüre ebenfalls als Gabe. Aber wenn man dem Text etwas gibt, so gibt dieser - gemäß Finas - etwas zurück: „Meine Lektüre weiß, daß der Schatten [leise Andeutung, Spur] sie - wie jede Lektüre - trägt und daß ihr Haben - falls es dieses gibt [die Doppeldeutigkeit des „s'il y a": „falls es dieses gibt" bzw. wördich: „falls es dieses hat", ist im Deutschen nicht wiederzugeben; A. d. U.] - sich aus diesem Schatten erhebt. Das, was sie hat, gibt sie. Zum Wohle! Aber sie gibt nur einem Text, von dem sie weiß, daß er zurückgibt. (Im übrigen zielt die textuelle Unentschiedenheit in ihrer Allgemeinheit auf dieses Verb zurückgeben: Rückgabe, Rentabilität (Einträglichkeit) oder Verlust, Erbrechen?)" (Le bruit d'Iris, Paris 1978, S. 107). Handelt es sich noch, oder bereits, um eine Logik der Gabe? Ich stelle die Frage zurück, in Erwartung einer durch diesen anderen Text von Finas gebeugten Lektüre: „Sie [die Lektüre] ist eine Art der Gabe, die ich dem Text anbiete, während dieser gleichzeitig, in einem Zug sich in seinen Möglichkeiten zu lesen gibt. Anstatt dem so verbreiteten Identifikationsbedürfnis nachzugeben, stellt sie an erste Stelle das Bemühen, am Text dessen eigene, angeregte, entwickelte und vervielfachte Beziehungen wiederherzustellen. Multiplizierung des Gelesenen, indem man ihn [den Text] liest... Gewiß ist die Aufteilung zwischen dem, was ein Text mir gibt und dem, was mein Begehren ihm in Form der Gabe zurückgibt, schwierig. Die Gabe des Lesers an den Text setzt die Gabe des Textes an den Leser voraus, dieser jedoch hat die Initiative, die glühende Initiative!" (La toise et le vertige, Paris 1986, S.14)

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Das Gabe der Lektüre ist immer eine doppelte Geste. Sie kann nur in einer Schrift stattfinden, die sich gibt, indem sie sich gleichzeitig an die Ränder des Textes zurückzieht, den sie zu lesen gibt. Man kann nur etwas zu lesen geben, wenn man an die Ränder schreibt, wenn man zitiert, wiederholt, wenn man gibt, was einem nicht eigendich gehört - d. h. was man nicht geben kann. Den Text des Anderen zu lesen geben, dem zu lesenden Text das Andere hinzufügen, dem Anderen des Textes etwas zu lesen geben, den Text zum Lesen des Anderen geben etc., Aufgaben und Gaben, zu denen der Text Derridas uns aufruft. Übersetzt von Beate Ochsner

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I. A m Ende der Wanderung durch die Wüste zeigt G o t t M o s e das verheißene Land mit den Worten: „Dies ist das L a n d , das ich Abraham, Jizchak und J a a k o b zugeschworen habe, sprechend: Deinem Samen gebe ich es! Mit deinen Augen habe ich dich es sehen lassen, aber dorthinüber gelangen wirst du nicht. D o r t starb Mosche, S E I N Knecht, im Lande M o a b , auf S E I N Geheiß. Er begrub ihn in der Schlucht, im L a n d e Moab, gegen Por-Haus zu, niemand kennt sein G r a b bis an diesen Tag." 1 Die Talmudgelehrten fragen sich, ob es möglich ist, daß M o s e lebendig war (oder „tot", wie die klassische Lesart hier übersetzt 2 ) und schreiben konnte: „ D o r t starb 1

Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von M. Buber gemeinsam mit F. Rosenzweig, Heidelberg 111987, Das Buch Reden, 34,4-6, S. 569-570. In der Übersetzung von L. Zunz lautet diese Stelle: „Dies ist das Land, das ich zugeschworen Abraham, Jizchak und Jaakob, sprechend: Deinem Samen will ich es geben; ich habe es dich sehen lassen mit deinen Augen, aber hinübergehen sollst du nicht. / Und es starb daselbst Moscheh, der Knecht des Ewigen, im Lande Moab, auf Befehl des Ewigen. / Und er begrub ihn im Thale im Lande Moab, gegenüber Bet Peor, und Niemand kennt seine Grabstätte bis auf diesen Tag." Die vier und zwanzig Bücher der Heiligen Schrift. Unter der Redaction von Dr. Zunz übers, von H. Arnheim, Dr. Julius Fürst, Dr. M. Sachs. Berlin 1838, S.201-202.

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Den Dikduke Sofrim (das heißt, den Einzelheiten des Religionsgesetzes, die sich nur durch genaue Erforschung, nicht aber aus dem ausdrücklichen Text ergeben) zufolge lautet die Ubersetzung „lebendig"; vgl. M.-A. Ouaknin, Le Livre brüle. Lire le Talmud, Paris 1986, S. 23 und 37, Anm. 42.

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Mosche"? Diese Frage ist entscheidend, hängt doch von ihr die Vollständigkeit (und damit die Autorität) der fünf Bücher Moses ab: der traditionellen Auffassung zufolge war es Mose selbst, der den Pentateuch verfaßt hat. Und es ist unmöglich, daß im Sefer Tora ein Buchstabe fehlt3. Ist es möglich, daß Mose, „auf SEIN Geheiß" (der hebräische Text lautet wörtlich übersetzt „auf Gottes Mund" oder „durch den Mund Gottes") sterbend oder, wie Levinas in der Folge von Raschi und Maimonides4 übersetzt, die Seele „durch den Kuß Gottes" aufgebend5, fortfuhr zu schreiben, um seinen eigenen Tod und sein eigenes Begräbnis zu berichten, um die Schrift, die Vollständigkeit des Buchs zu bewahren6? Es gibt zwei Interpretationen dieses Problems. Die eine, pragmatisch, behauptet, ein anderer, nämlich der Nachfolger Moses, Josua, habe die letzten Verse geschrieben. Die zweite Interpretation weist den Gedanken einer derartigen Unvollständigkeit der Fünf Bücher Moses zurück7 und bringt folgende Hypothese vor: „Vielmehr, bis da sprach der Heilige, gebenedeiet sei er, und Moscheh sprach nach und schrieb nieder, von da ab sprach der Heilige, gebenedeiet sei er, und Moscheh schrieb mit Tränen nieder." Zur Schrift aus Tränen stehen sich wiederum zwei verschiedene Interpretationen gegenüber: dem Hohen Rabbi von Prag, Rabbi Low zufolge besagt diese Stelle, Mose habe geweint, als er die letzten Verse schrieb. Die wörtliche Lesart (peschat) hingegen lautet, daß die gesamte Tora mit Tinte geschrieben wurde mit Ausnahme dieses Abschnitts, der mit Tränen geschrieben worden sei8. Lazarus Goldschmidt, der deutsche Übersetzer des Babylonischen Talmud fügt an dieser Stelle folgende Anmerkung hinzu: „Er sprach nicht nach, weil dies noch nicht eingetreten war; auch schrieb er es nicht mit Tinte, sondern mit Tränen."9 Was hieße, mit Tränen zu schreiben? Ergäbe diese Schrift einen Text? Und wäre dieser Text für einen anderen lesbar? Welche Spur würde von solchen Buchstaben hinterlassen? 3 4 5 6 7

Vgl. Raschi, Kommentar zu Deut. 34,5, sowie Ouaknin, a. a. O., S.23. Mose ben Maimon (Maimonides), Führer der Unschlüssigen. Ubersetzung und Kommentar von Adolf Weiss (1924), 2. Bd., Hamburg 1972, S. 354-355. Vgl. E. Levinas, Autrement qu'etre ou au-delä de l'essence, Den Haag 1978, S.229. Raschi führt R. Ismael an, von dem es heißt, er habe sogar gelehrt, Mose habe sich selbst begraben. Der Babylonische Talmud. Mit Einschluß der vollstaendigen Mischnah. Hrsg. [...], moeglichst wortgetreu uebersetzt und mit kurzen Erklaerungen versehen von Lazarus Goldschmidt, Berlin/Leipzig 1896ff. Hier: 6. Band, Leipzig 1906, Baba Bathra 15a (S.977): „Ist es denn möglich, daß im Pentateuch auch nur ein Buchstabe fehlte, und es heißt: Nimm dieses Buch der Lehre? Vielmehr,...". Vgl. auch ζ. B. Maimonides, in: Ouaknin, a.a.O., S.22.

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Das ist die Ansicht des „Ritba" in: Ayin Yaakov, Vilna 1894, zitiert nach Ouaknin, a. a. O., S. 37, Anm. 44.

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Baba Bathra, a. a. O., 15a, S. 977.

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Sehr viel später wird ein anderer sich an eine Frau wenden und schreiben: „[...] tu pleures et qa devient notre lit, le lit - comme une lettre ouverte": „Du [...] weinst, und das wird unser Bett, das Bett - wie ein offener Brief." 10 Dieser Satz müßte dem Elias anvertraut werden, ihm, der durch die Jahrhunderte reist, um an den Diskussionen und Debatten über den Text teilzunehmen, damit er j enen Satz überliefert. In gewisser Weise ist er Elias schon anvertraut worden, auch wenn Elias, wie immer, ein anderer ist. Der biblische Text erwähnt also nicht die Tränen Moses. Wenn er weint, so spricht er gerade nicht davon, schreibt es nicht. Man sagt niemals „ich weine"; kein Speech act, ja, vielleicht nicht einmal ein Akt, eine Handlung findet hier ihre Zeit und ihren Ort. Weinen ist kein Tun. Ebensowenig wie sterben. Um eine logische Schwierigkeit in der Schrift zu lösen, geht einer der Talmudgelehrten von den Tränen Moses aus. Nichts jedoch erfahren wir von ihnen im biblischen Text. Dagegen unterstreicht Deuteronomium, Kapitel 34, daß zu dem Zeitpunkt, an dem Mose starb, „sein Auge nicht erloschen war, seine Frische war nicht entflohn" (34,7). Er starb, „ohne daß eines seiner Vermögen geschwächt war. Weder hatte sich sein Sehvermögen verdunkelt noch war seine Liebeskraft geschwunden."11 Trotz seiner hundertzwanzig Jahre ist Moses nicht mit Blindheit geschlagen, abgesehen von der von den Tränen verursachten unmittelbar vor seinem Tod. Wenn andere hochbetagte Männer der Bibel erblinden und damit zu Weisen schlechthin werden12, so scheint Moses beim Nahen des Todes gerade solche Weisheit nicht zu verkörpern: Dem Midrasch Rabba zufolge soll Moses ein erbittertes Gefecht mit Gott unternommen haben, um den Zeitpunkt seines Todes aufzuschieben, und zwar „nicht, um unsterblich zu werden, sondern um des einzigen Zieles willen [...]: mit dem Volk, das er in der Wüste geführt hatte, in das Land Kanaan zu gelangen"13. Die - hypothetischen - Tränen schütteln ihn nach diesem Kampf und vor seinem Tod, zwischen beiden. Er hat sich darein gefügt, das gelobte Land nicht zu betreten. Die Tränen kommen ihm nach dem Streit, zwischen den Worten und der Schrift, zwischen den Worten, die um sein Leben streiten, und der Schrift, die seinen Tod berichtet, im Intervall zwischen Stimme und Schrift. Die Tränen kommen ihm in die Augen, und gleichzeitig kommen in seinen schreibenden Hände die Worte an. Ist er es, der weint, ist er es, der schreibt? Die Tränen kommen ihm, wie die Worte ihm kommen. Doppelte Gabe. Sollten seine Tränen vielleicht weniger um seinen Tod weinen als um eine Ankunft, ein Versprechen, eine Gabe? 10 J. Derrida, La carte postale, Paris 1980, S.40; dt.: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits, aus d. Frz. von H.-J. Metzger, Berlin 1982, S.45. 1 1 R . Drai, La traversee du desert, Paris 1988, S. 343. 12 Vgl. J. Derrida, Memoires d'aveugle. L'autoportrait et autres ruines, Paris 1990. 13 Drai, a.a.O.,S. 323 und 326.

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Das Verbot, das gelobte Land zu betreten, geht auf einen Fehler zurück, der darin bestand, zu schlagen, anstatt zu sprechen 14 . Genauer darin, beim Sprechen zu schlagen. Die Szene ist folgende: Nach dem Tod Miriams, der Schwester Moses und Aarons, fehlt es dem Volk, das am Rand der Wüste angekommen ist, an Wasser. Wie so oft schon bedauert es, die ägyptische Gefangenschaft verlassen zu haben. Gott befiehlt Mose und Aaron, die Gemeinde vor einem Felsen zu versammeln und vor aller Augen zum Felsen zu sprechen, „daß er sein Wasser hergebe". Mose spricht also zum Volk Israel: „Hört doch, ihr Widerstrebenden! Sollen wir aus diesem Felsen euch Wasser heraufführen?" Sodann schlägt er den Fels zweimal - „heraus fuhr viel Wasser..." 15 . Dies wird der einzige Fehler im Leben Moses gewesen sein. Der einzige Fehler bestand also darin, einen Satz ausgesprochen und ausgeführt zu haben, der die Gabe nicht achtete. Denn er tut, als stünde es in seiner Macht, das Wasser fließen zu lassen, den Felsen sein Wasser geben zu lassen. Als ob es möglich wäre zu geben, indem man sagt, „ich mache, ich gebe". Als ob diese Symmetrie zwischen geben und tun in der Gabe nicht zu Bruch ginge. Die Gabe: schon, deja ein Bruch der Symmetrie; und dieses schon, dieses deja sagt hier die Gabe einer seltsamen Vergangenheit: die Gabe dessen, was Levinas la passee, die Vorübergegangene und die Vorübergegangenheit 16 nennt, von der der Absender einer Postkarte Folgendes schreibt: „Le 21 aoüt 1979 [...] Vers cette rencontre de rencontre, je m'achemine a rebours [...]. Tu m'as ferme les yeux et les yeux fermes je vais ä ta rencontre, ä la rencontre de toi. Qui, moi? [...] Je vais ä ta rencontre, c'est tout ce que je sais en moi, mais aussi que je ne te rejoindrai jamais, que jamais tu ne m'arriveras: c'est cela, tu vois, qui deja m'est arrive et dont je ne peux que m'essouffler ä tenir compte. Tu es passee, tu n'est pas une passante, mais la passee que j'attendrai toujours [...] Le 22 aout 1979 Le compte ä rebours s'accelere, je suis d'un calme terrifiant. Jamais pourtant je n'ai tant pleure. [...]

14 Vgl. ebd., S. 270. 15 Die fünf Bücher, a. a. O.: Das Buch In der Wüste, 20,10-11, S. 424^25. 16 „la passee" heißt auch „Fährte". Hier wird mit „Vorübergegangenheit" übersetzt, um die „Vergangenheit" (le passe) anklingen zu lassen. Vgl. E. Levinas, ζ. B. Autrement, a. a. O., S. 215, sowie Jacques Derridas Kommentar, „Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich", aus d. Frz. von E. Weber, in: Parabel. „Levinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie", hg. von M. Mayer und M. Hentschel, Gießen 1990, S. 53.

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Le 22 aoüt 1979. tu n'aurais pas aime que je collectionne tes lettres. Suppose qu'un jour je t'aie dit ,ta centieme lettre ...' Nous nous serions separes commme si la preuve etait faite (mais je n'en crois rien) que la liance n'etait pas d'or. [...]" „Den 21. August 1979 [...] Auf diese begegnende Begegnung bewege ich mich rückwärts zu [...]. Du hast mir die Augen geschlossen und mit geschlossenen Augen gehe ich zu Deiner Begegnung, zur Begegnung mit Dir. Wer ich? [...] Ich gehe zu Deiner Begegnung, das ist alles, was ich weiß in mir, aber auch, daß ich niemals aufholen werde, daß niemals Du mir ankommen wirst: das ist es, siehst Du, was mir dejä, schon angekommen ist und wovon ich nur außer Atem kommen kann, wenn ich's in Rechnung stelle. Du bist passee, vorbeigegangen, Du bist keine Passantin, sondern la passee, die ich erwarten werde immer [...] Den 22. August Der Countdown beschleunigt sich, ich bin von einer erschreckenden Ruhe. Nie jedoch habe ich so geweint. [...] Den 22. August Du hättest nicht gemocht, daß ich Deine Briefe sammle. Stell Dir vor, eines Tages hätte ich zu Dir gesagt, ,Dein hundertster Brief...' Wir hätten uns getrennt, als ob der Beweis geliefert worden wäre (aber ich glaube davon nichts), que la liance n'etait pas d'or, daß die Lianz nicht aus Gold war." 17 Es gibt eine seltsame Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Szenen, in denen sich einer auf eine Begegnung zubewegt, und diese Näherung geschieht beide Male im Modus eines Countdown, eines Rückwärtszählens. Die Schwelle, auf der Mose sich befindet, wenn er es denn noch ist, scheint sich unter den Zeilen des Absenders der Postkarten abzuzeichnen. Doch im Augenblick kündigt sich dies erst von ferne an. Ein Zug aber zeichnet sich bereits deutlich ab: diese sich bewegende Szene, in der einer auf die Begegnung der Begegnung zugeht, wird in dem Maße, wie das Rückwärtszählen sich beschleunigt, für Mose wie für das „ich" der Postkartenkorrespondenz ein O r t der Tränen. Das Rückwärtszählen wird nicht bei null ankommen. Der Tod Moses wie die Begegnung mit dem Anderen kennen keine Gegenwart. Im unmöglichen Zentrum der Szene der Allianz, der Tränen und des Todes geschieht eine unvordenkliche Vergangenheit, „la passee". U m dieser Szene näher zu kommen, soll im Folgenden 17 Derrida, La carte postale, a. a. O., S. 264-266 (Die Postkarte, S. 296 und 298). „La liance" ist homophon mit „l'alliance": Bündnis, Bund, aber auch Ehering.

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den verschiedenen Übersetzungen dieses Wortes, lapassee, in Jacques Derridas Werk nachgegangen werden.

II. La passee, die Vorübergegangene oder Vorübergegangenheit, läßt ihre Spur in anderen Texten und in anderen Wörtern. Beispielsweise gibt uns Glas von den ersten Seiten an die Fremdartigkeit von „dejä", schon, zu lesen, das, wie es heißt, seine Entzifferung erwartet. „Ii faut dechiffrer cet etrange de ja. Ce qui se fait representer [...] n'est rien, mais comme un passe qui n'a jamais ete present, jamais eu lieu. La mort nous ne l'attendons, ne la desirons que comme un passe que nous n'avons pas encore vecu, que nous avons oublie mais d'un oubli qui n'est pas venu recouvrir une experience, d'une memoire plus ample, plus capable et plus vieille que toute perception. C'est pourquoi il n'y a ici que des traces, des traces de traces sans trace [...]." 18 „Dieses fremdartige dejä muß entziffert werden. Was sich vergegenwärtigen läßt [...], ist nichts, aber als Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war, niemals stattgefunden hat. Wir erwarten, wir wünschen den Tod nur als eine Vergangenheit, die wir noch nicht gelebt haben, die wir vergessen haben, doch in einem Vergessen, das keine Erfahrung überdeckt, in einem weiteren, fähigeren und älteren Gedächtnis als jede Wahrnehmung es sein kann. Deshalb gibt es hier nur Spuren, Spuren von Spuren ohne Spurung [...]." 19 An einer anderen Stelle desselben Textes (S. 97), wo, wie en passant bemerkt sein mag, Mose nicht weit ist, ohne genannt zu werden, wird das „dejä" durch „derriere"20, übersetzt: „Etre derriere, c'est etre avant tout - en rupture de symetrie". „Dahinter sein, das ist vor allem - symmetriebrüchig sein". „Le Derriere et le Dejä me protegent, me rendent illisible, m'abritent au verso du texte." „Das Dahinter und das Schon schützen mich, machen mich unlesbar, bergen mich auf der Rückseite des Textes" (etwa wie Mose sich in einer Felskluft barg, bevor er Gott schaute - nur von hinten, so daß er nur seinen Rücken sah21). Wenn Jacques Derrida mit diesen Worten, dijä und derriere, unterzeichnet, so, weil sie schon im voraus jede Unterschrift vorzeich18 19 20 21

J. Derrida, Glas, Paris 1974, S. 92, siehe auch S. 26. Ebd., S. 92. Hinten, dahinter, hintenan, im Rücken. Ex. 30, 20-23, eine andere Ubersetzung gibt Drai, a. a. O., S. 152.

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nen und besiegeln. Und zwar in einem uneinholbaren Voraus, das jeder Symmetrie voraufgeht. Die Schrift ist die profane Szene par excellence dieses Dahinter, dieses Schon, dieses verso folio, dem kein recto folio entspricht. Der Bruch der Symmetrie unterbricht Levinas zufolge das Sein. Das wird vor dem Tod geschehen, das ist schon vor dem Tod geschehen. Aber es geschieht auch jedes Mal, wenn eine Gabe nicht zum Präsent wird, nicht als Geschenk an eine Gegenwart anknüpft22. Können wir jedoch einer solchen Gabe Rechnung tragen? Sicher nicht, es sei denn wir folgten der Spur, die sie in jener anderen Figur der passee läßt, im doppelten ja. Die Gabe vor jedem Präsent, vor jedem Geschenk (die jedoch Glas zufolge nichtsdestoweniger schon etwas wie den Ring ankündigt) ist die Gabe des ja, das beispielsweise die Szene von Ulysses Grammophon beherrscht, jenes ja, das „weder die Stimme noch die Symmetrie voraussetzt, sondern im voraus die Überstürzung einer Antwort, die schon fragt". „[...] wenn es anderes gibt, wenn es also ja gibt, läßt das andere sich nicht mehr vom Selben oder vom Ich erzeugen. Ja, Bedingung jeder Unterschrift und jeden Performativs, richtet sich an anderes, das es nicht konstituiert, und das es nur zu fragen anfangen kann, als Antwort auf eine immer vorgängige Frage, es zu fragen, ja zu sagen. Die Zeit erscheint erst von dieser singulären Anachronie her. Diese Verpflichtungen können fiktiv, trügerisch, immer umkehrbar bleiben, die Adresse teilbar oder unbestimmt, das ändert nichts an der Notwendigkeit der Struktur. [...] Das ja sagt nichts und fragt um nichts anderes als um ein anderes;«, dasja eines anderen, [...] das analytisch - oder durch Synthese α priori - in dem ersten ja enthalten ist. Dieses setzt sich, tritt vor, markiert sich nur im Anruf seiner Bestätigung, im;'*, ja."23 Wenn das ja derart zunächst doppelt ist, „zuerst ein zweites"24, so weil seine Struktur nicht die der Macht, sondern die des Begehrens ist. Die Frage der Macht und die des Begehrens „sind zweierlei, zwei Fragen, nicht eine" 25 . Daß es sich dort um zwei Fragen handelt, wird von dem „Schwur, der zwei Begehrende verbindet", bestätigt. Denn hier drückt sich eine Bindung aus, die die Symmetrie bricht, und eine Zeit, die sich als Anachronie oder, um mit Levinas zu sprechen, als Dia-Chronie beschreiben läßt.

22 Vgl. z.B. Derrida, Glas, a. a. O., S.271. 23 J. Derrida, Ulysses Grammophon, aus d. Frz. von E. Weber, Berlin 1988, S. 102-103. 24 J. Derrida, Psyche. Inventions de l'autre, Paris 1987, S.649. 25 P. Legendre, „Die Juden interpretieren verrückt". Gutachten zu einem klassischen Text, aus d. Frz. von A. Schütz, in: Psyche,43. Jahrg., Heft 1,Januar 1989, S.38.

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Elisabeth Weber „Von dem Schwur an, der zwei Begehrende verbindet, trägt jeder der beiden schon die Trauer um den anderen, ebenso wie er dem anderen seinen Tod anvertraut: wenn du vor mir stirbst, werde ich dich bewahren, wenn ich vor dir sterbe, wirst du mich in dir tragen, der eine wird den anderen bewahren, wird ihn schon von der ersten Erklärung an bewahrt haben. Diese doppelte Verinnerlichung wäre weder in der monadischen Innerlichkeit noch in der Logik der .objektiven' Zeit oder des,objektiven' Raums möglich. Und doch findet sie jedesmal statt, wenn ich liebe. Alles fängt also mit diesem Überleben an." 26

In diesem „Überleben" gibt es kein zählbares Zeitkontinuum, und wenn es eines gäbe, so liefe es rückwärts ab. Eben darum aber kann dieses „Überleben" nicht in Termini von Macht, Aufhebung und dialektischem Aufbewahren bestimmt werden. Das Bewahren des Begehrens ist also nicht das Bewahren der Macht. Von diesem entfernt jenes sich dort, wo das Begehren, „älter als der Anfang", sich als Begehren ereignet, „die Gabe jenseits des Geldes neu zu erfinden, den Gesang einer Unsterblichkeit ohne Beweis, das Gebet ohne Religion, die Tränen" 27 . Wenn das Begehren eine Gabe jenseits des ökonomischen Tausches kennen sollte, wenn es nicht darauf verzichten können sollte, die Unsterblichkeit im Herzen des schärfsten Wissens um die Endlichkeit zu wollen, wenn es nicht anders kann, als das Gebet außerhalb jeder Religion neu zu erfinden oder zu lernen, so ist seine Kraft von der der Macht getrennt, und zwar getrennt durch etwas wie den Riß der Zeit; getrennt durch das, was Levinas Dia-Chronie nennt (auch wenn Levinas wahrscheinlich die Annäherung solchen Begehrens an die Dia-Chronie ablehnen würde), getrennt vielleicht durch das, was Derrida die Gabe der Zeit nennt. Denn es ist die Gabe der Zeit, die das Begehren will und nicht nicht wollen kann. Gabe der Zeit, nicht nur in dem Sinne, in dem einer für den anderen Zeit aufbringt, ihm also Zeit gibt. Das Begehren gibt dem anderen seine Zeit - seine Zeit in den beiden möglichen Lesarten. Genau an diesem Punkt spricht der zitierte Text von den Tränen. Das Begehren, so heißt es, bricht an als „Begehren, [...] die Gabe jenseits des Geldes neu zu erfinden, den Gesang einer Unsterblichkeit ohne Beweis, das Gebet ohne Religion, die Tränen". Ökonomie, Beweis, Religion: drei verschiedene und unvermeidbare Figuren der Macht, der Bindung, der Zeit als Gegenwart. Die Tränen kommen hier zu diesen drei jeweils durch die Opposition eines „jenseits" oder eines „ohne" bestimmten Figuren hinzu: Zu-gabe jenseits von nichts, jenseits von jedem oppositionellen Term, ohne all dies. Mit anderen Worten, außerhalb der von den „jenseits" und den „ohne" markierten Grenzen, auch wenn sogar die Gabe, der Gesang und das Gebet eben diese Grenzen brauchen, um ihren Exzeß zu affirmieren.

26 J. Derrida, L'aphorisme a contretemps, in: Psyche, a. a. O., S. 524. 27 Derrida, in: Revue philosophique, Nr. 2, Avril-Juin 1991, S.272.

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Die Tränen: Zugabe und Überfluß. Überflüssig, zwecklos (nämlich ohne Zweck), unnötig (nämlich ohne Not) wie das doppelte;**. Aber Moses Tränen ebenso wie die des Postkartenschreibers markieren die Öffnung der Zeit auf die Begegnung der Begegnung hin. Entziffert man den Schauplatz der Schrift im allgemeinen von diesen Übersetzungen der „passee" her, so gleicht er mehr und mehr der Szene der Tränen Moses und seines Todes. Hieße das, man könne nur in Tränen schreiben? Und in der dritten Person, die erklärt, daß sie starb? Wäre dies eine Notwendigkeit? Schreiben, wäre dies notwendigerweise „rückwärts", „verkehrt herum" schreiben? Von jenem „dort starb er" ausgehend? Wäre alles, wie es in Glas heißt, „ecrit par derriere", „hinterrücks geschrieben" 28 , weil notwendigerweise eingeschrieben in ein „über-leben-schreiben" ? ,„Ecrire-sur-vivre': si on pouvait ecrire-sur-vivre, ecrirait-on ä la condition d'etre dejä mort ou encore de survivre? Est-ce une alternative?" „,Über-leben-schreiben': wenn man über-leben-schreiben könnte, würde man unter der Bedingung, bereits tot zu sein, schreiben oder unter der, noch zu überleben? Ist das eine Alternative?"29 In gewisser Weise ist dies genau die Frage, die die Tränen des Mose stellen. Aber es ist auch die Frage der Schrift überhaupt: die der Spur, der passee, die des Zeugnisgebens. In dem Maße, wie die Schrift Derridas immer wieder, beständig und unermüdlich diese Fragen stellt, muß die Einladung aus Glas ernst genommen werden: „dies hier wie ein neues Testament lesen. Aber auch wie eine Genesis" 30 . Dies hier lesen wie eine Frage zur Allianz, zum Bund, zur Notwendigkeit, zum Ring, zur „Striktur" der Allianz31. Diese ist nämlich auch die Notwendigkeit anzuknüpfen, fortzufahren, anzuschließen - im Innern des Anökonomischen des Begehrens, der Gabe, der Tränen.

28 Derrida, Glas, a. a. O., S. 97. 29 J. Derrida, Parages, Paris 1986, S. 121. 30 Derrida, Glas, a. a. O., S. 130: „lire ceci comme un nouveau testament. Mais aussi comme une genese." Das Wort „genese" hat im Französischen allerdings (wie das deutsche „Genese") nicht nur die Bedeutung von „Genesis". 31 Vgl. Anm. 17.

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III. In Derridas zweitem Text über Levinas ist die Rede von der „Notwendigkeit (noch ein anderes Wort, um das Band, das man nicht zerschneiden kann, zu sagen) der Striktur", von der „Notwendigkeit, die Momente, und seien sie Momente des Bruchs, zu verketten, und über die Kette zu verhandeln, und sei es auf undialektische Weise" 3 2 . Der Bruch, z u m Beispiel der mit der Tradition, der Metaphysik, kann nicht absolut sein, ohne sofort wieder anzuknüpfen. Daher die Notwendigkeit der ,£triktur",

die

die Verkettung der Brüche verhandelt und beispielsweise Aussagen, Sätze daraus hervorgehen läßt, indem sie das Risiko der Dialektik, der dialektischen Bewahrung eingeht, anders gesagt, das Risiko, die Gabe in ein Präsent, ein Geschenk, Kette und Ring, zu transformieren 3 3 . Dieses Moment der „Striktur", der Notwendigkeit der Striktur ist entscheidend für die Frage, die sich an die Allianz wendet. So heißt es in Glas: „Ce que je cherche ä ecrire - gl - ce n'est pas une structure quelconque, un systeme du signifiant ou du signifie, une these ou un roman, un poeme, une loi, un desir ou une machine, c'est ce qui passe, plus ou moins bien, par la stricture rythmee d'un anneau." 3 4 „Was ich zu schreiben suche - gl - ist nicht irgendeine Struktur, ein System des Signifikanten oder des Signifikats, eine Dissertation oder ein Roman, ein Gedicht, ein Gesetz, ein Begehren oder eine Maschine, sondern das, was schlecht oder recht durch die rhythmisierte Struktur eines Rings hindurchgeht." Die Einladung, „dies hier [im vorliegenden Fall Genets Text, aber warum nicht auch dies hier, das heißt, die Kolonne in Glas über Genet?] wie ein neues Testament [zu] lesen. Aber auch wie eine Genesis", wirft ausdrücklich die Frage der Allianz, des Bundes und der Vermählung auf, indem sie das Nachdenken auf das hin lenkt, „was [...] durch die rhythmisierte Striktur eines Rings hindurchgeht". Was geht dort hindurch außer dem Beschneidungsmesser, dem Gesetz des Sinai und der „Allianz", die der Ring symbolisiert? D o r t passiert auch, Ubersetzung des lateinischen strictura,

eine Justizgewalt,

genauer, eine Zwang ausübende Gewalt, zum Beispiel diejenige, die alles ins Werk setzte, um die Allianz zu brechen. Dieses Exempel ist exemplarisch. Denn welcher anderen Notwendigkeit müßte man folgen als der, die Allianz zu brechen? Die Striktur wäre ohne Zwangsausübung

und ohne den Zwang und die Drohung der

32 Derrida, Eben in diesem Moment, a. a. O., S. 61, Ubers, leicht verändert. 33 Derrida, Glas, a. a. O., S.271, setzt „cadeau", Geschenk, und „chaine" gleich. 34 Ebd., S. 125.

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Allianz nicht jene Verpflichtung, der niemand entkommt. Wenn aber die „Genesis" eine Geschichte von der Striktur, von treuloser Treue, von untereinander verknoteten Schnitten ist, so wird ein gewisses „neues Testament" gefordert haben, was mit Glas die Re-striktion der Striktur genannt werden könnte. Vielleicht kämpft Glas mit dieser doppelten Striktur: dem „(nicht dialektischen) Gesetz der Striktur" und der dialektischen Re-striktion der Striktur. Diese dialektische Re-striktion nahm zum Beispiel in Edikten der römisch-christlichen Macht Gestalt an. Es mußte ein Urteil gefällt und vor allem eine Rede abgeschnitten werden, radikal. Über den Weg seiner Gesetzgebung statuierte diese Macht im zweiten Jahrhundert n. Chr. eine Identität von Beschneidung und Kastration, so daß unter Kaiser Hadrian (117-138) „die von der lex Cornelia de siccariis, einem bekannten Gesetzestext für Mord, Giftmischerei und Verabreichung von Liebestränken angedrohten Strafsätze auch auf die Beschneidung angewandt [wurden]. Diese Angleichung löste bei den Juden des Reichs die größte Erbitterung aus; die Ruhe kehrte erst wieder ein, als Antonius Pius [138-161] die Beschneidung wieder straffrei stellte." Den Juden „vorbehalten", wurde die Beschneidung zur „jüdischen Narbe" 35 . Bekanntlich ist das römisch-christliche Recht in engster Abhängigkeit vom Lehramt des Kaisers, das heißt seiner Position als des unmittelbaren Mundes Gottes („Lex animata, viva vox iuris"36), entstanden, einem Lehramt, „das sich dann später in das Lehramt des Papstes verwandeln wird" 37 . Das bedeutet, daß jegliche Diskussion zwischen Judentum und Christentum, insbesondere bezüglich der „beiden Zugänge zum Gesetz", a fortiori eine Versöhnung zwischen beiden prinzipiell ausgeschlossen war. Bestimmte Texte der Kirchenväter, etwa des Hieronymus formulieren dies ausdrücklich38. Legendre: „Der römisch-christliche Zugang zum Gesetz ist auf die Wahrsprüche einer fleischgewordenen Macht [nämlich in Person des Kaisers, bzw. des Papstes] gegründet, der jüdische Zugang zum Gesetz auf die Vermittlung der Interpreten des Textes."39 Diese beiden Merkmale der römisch-christlichen Lehre, daß sie nämlich der Autorität einer fleischgewordenen Macht Folge leistet und die verabscheute Beschneidung in ihren Gesetzestexten der Kastration, einer offensichdichen Wahnsinnstat gleichsetzt, enthalten eine gemeinsame Aussage: die „Gleichsetzung des Realen und des Symbolischen"40. 35 Legendre,a.a.O.,S.36. 36 37 38 39 40

Ebd., S.33. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd. Ebd., S.38.

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Die Tatsache, daß die jüdische Textinterpretation sich keiner die Wahrheit garantierenden Autorität in Gestalt eines Kaisers oder Papstes zu unterwerfen hat, sondern auf der Unendlichkeit der Auslegung der Thora beharrt, einer Auslegung, deren Vielfältigkeit, wie die Tausende von Seiten des Talmud es bezeugen, Widersprüche und Paradoxien enthält, der keine auf den Werten „wahr" und „falsch" gründende Logik gewachsen ist, diese Tatsache also macht, wie Legendre feststellt, das „Spiel des Signifikanten als solchen autonomer, radikaler" (S. 34). Diesem Spiel der Signifikanten steht auf christlicher Seite ein oberster Signifikant entgegen, der in Gestalt des Papstes oder des Kaisers Fleisch geworden ist und das Signifikantenspiel stillstellt. Man sieht also, wer hier die „Kastration" fürchtet, von der die römisch-christliche Macht behauptet, sie sei das Ziel der jüdischen Interpretation des Textes. Die Behauptung, die Juden seien Sklaven des Buchstabens und interpretierten den Text „bis zur Kastration", nennt nur die Gefahr der Entlarvung der Anmaßungen einer Macht, die ihre Kontingenz, ihre Endlichkeit und damit das Nichts, an dem ihre Autorität hängt, mit der Anmaßung in Bann zu halten sucht, die Inkarnation, die lebendige Inkarnation der Macht selbst zu sein. Dem Unbewußten der Subjekte dieser Macht entgeht dabei nicht, (und dies wird den Juden doppelt übel genommen), daß im Gegensatz zur christlichen Dogmatik, die jene Gleichsetzung des Realen und des Symbolischen vollzieht, in der jüdischen Textauslegung und das heißt im Bezug zum Gesetz die Frage der Macht und die Frage des Begehrens nicht zu einer Frage verschmolzen wird. „... daß nämlich die Macht und das Begehren zweierlei sind, zwei Fragen, nicht eine." Genau das aber ist das Skandalon. Von dem Augenblick an, da die strictura als Verbot der Wunde der Allianz übersetzt wird, geht sie darauf aus, diese zu kappen. Da sie die mindestens so sehr symbolische wie reale Verletzung nicht erträgt, kappt und schneidet sie, und zwar zunächst unter der Drohung des Kastrationsphantasmas, sodann unter dem sich daraus ergebenden Zwang, direkte Verbindungen zu Mord und Liebestränken herzustellen. Sie fordert also ein fleischliches Opfer genau dort, wo gewissermaßen die Anerkennung und die Gabe eines Rings stattfindet, dessen Macht eben darin relativiert wird. Die Leere des Rings nicht ertragend will jene Striktur ihn mit Blut füllen. Die Spur der Einschreibung nicht ertragend, fordert sie sie sichtbar als Narbe einer Verstümmelung. Auf der anderen Seite der Allianz ersetzt sie damit das unmögliche Face-ä-face mit dem, den man nur hinter einer mehr oder weniger großen Anzahl von S c h l e i e r n 4 u n d jedenfalls nur von hinten sehen kann, durch die leibhaftige Gegenwart eines Theokraten, der in Gestalt des Kaisers und später des Papstes durch seinen Mund den göttlichen Willen, ihn selbst, ausspricht. Die römisch-christliche Legislation ist folglich die Epiphanie einer Macht, deren Edikte „für alle Zeiten unabänderlich festgesetzt" wurden. Das ist die Offenbarung einer fleischgewordenen Macht 42 . 41 Vgl. Maimonides, a. a. Ο., 3. Buch, 51. Kapitel.

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In diesem wahren, weil christlichen Sinn produzierenden Sinn fällt die Striktur in ihrer Form der christlichen Gesetzgebung mit der Legislation des römischen Reichs zusammen und stellt die Bewegung der Signifikanten still, um sie auf ein einziges Signifikat festzunageln. Diese Texte haben Europa erobert: sie liegen bis heute den Gesetzeswerken der westlichen Welt zugrunde. Es ist also nur folgerichtig, wenn im Jahre 553 Kaiser Justinian die berühmte Novelle 146 erläßt, in der wir durch die „lebende Stimme des Rechts (viva vox iuris)" erfahren, daß „die Juden verrückt interpretieren". Das christliche Denk- und Rechtssystem bietet sich an, der verrückten jüdischen Interpretation des biblischen Textes eine wahre spirituelle, weil christliche Interpretation entgegenzusetzen. Diese gründet sich seit Paulus auf den Ausschluß der Beschneidung, die mit der Kastration identifiziert wird. „Die Gleichsetzung von Kastration und Beschneidung beruht darauf, daß die Beschneidung, insofern sie Inskriptionsmodus ist, als kriminelle Verstümmelung oder radikale Wahnsinnstat gesehen wird." 43 Die subtilen Analysen in Glas zeigen, daß an diesem Punkt, dem der Beschneidung und folglich der jüdischen Frage, die Hegeische Dialektik ebenfalls kurzen Prozeß macht. Wie die Kaiser des römisch-christlichen Imperiums und wie Luther bringt Hegel die Beschneidung mit dem Wahnsinn (denn „nicht lieben zu wollen", was Hegel zufolge Abraham charakterisiert, ist eigentlich verrückt) und mit der Kastration in Verbindung, auch wenn seine Formulierungen vorsichtiger sind44. Einem in Glas ausgeführten Gesetz zufolge sieht sich die Dialektik jedoch gezwungen, das Ausgeschlossene oder das „vom System Erbrochene" an eine „strukturierende Position" zu setzen: „Dies wäre das (nicht dialektische) Gesetz der (dialektischen) Striktur, des Bandes, der Ligatur, der Würgschraube, des desmos überhaupt, wenn dieses einzuschließen und zu würgen kommt, um zum Sein zu bringen. Verschluß der Dialektik." 45 Die Striktur kann zur Würgschraube werden und erdrosseln, wenn nicht abschneiden, um zum Sein zu bringen. Das geschieht genau da, wo nunmehr die verabscheute Beschneidung als Kastration die „strukturierende Position" des Systems einnimmt. Dazu jedoch ist es nötig, auch die Zunge einzuschnüren oder abzuschneiden, die Sprache zu verstümmeln. Dieselbe bereits zitierte Novelle des Justinian untersagt den

42 Legendre, a. a. O., S. 29. Legendre fügt hinzu: „Unser Unbewußtes verstellt dieses ,für alle Zeiten' sehr genau. Das Unbewußte erkennt, daß es sich in unserer Formel aus der Novelle 146 [auf die hier im nächsten Abschnitt eingegangen wird] nicht um ein historisches Dokument handelt, das über ein historisches Ereignis berichtet, sondern um ein definitives Datum." 43 Ebd., S. 33 und 37. 44 Vgl. Derrida, Glas, a. a. O., S. 49ff. 45 Ebd., S. 272.

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Juden, „den Texten eine Interpretation zu geben, die sich von ihrem Sinn entfernt", was konkret dem Verbot des Talmud gleichkommt 46 , das heißt eben jenes Textes, der beispielsweise über die Tränen des Mose nachdenkt. Diese Maßnahme ging mit einer anderen einher, die sich einen Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinde zunutze machte, als nämlich eine Minderheit durchsetzen wollte, daß die verbindlich in hebräischer Sprache ausgeführte Bibellektüre durch eine Lesung in griechischer Sprache ersetzt würde. „Das Griechische wäre damit zur liturgischen Sprache geworden." „Justinian erlaubte den Juden, die dies wünschten, weiterhin die Bibellesung auf hebräisch, entschied aber, daß diejenigen unter den Juden, die es wollen, die Möglichkeit haben, an j edem Ort, wo Juden leben, die heiligen Bücher den in ihren Synagogen versammelten Personen auf griechisch oder in der Vatersprache, das heißt auf italisch, oder in jeder anderen Sprache, je nach der Ortschaft, zu lesen, damit die Lektüre von allen Anwesenden verstanden werde', unter Androhung von Leibesstrafen und der Konfiszierung der Güter der jüdischen Würdenträger - [ . . . ] für den Fall, daß sie diejenigen, die die Bücher in nicht hebräischer Sprache läsen, exkommunizierten oder in anderer Weise bestraften. [...] Justinian, der auf damit den Juden freistellt, die Bibel in jeder Sprache zu lesen, macht jedoch eine Ausnahme für die Juden, die sich der griechischen Sprache bedienen: Sie dürfen nur die Ubersetzung der Septuaginta oder die des Aquila benutzen. Die anderen griechischen Übersetzungen sind verboten." 47

IV. Die Notwendigkeit, die Mose vom Ort seiner Tränen und seines Sterbens aus „über-leben-schreiben" macht, der dies gewissermaßen auf der Rückseite der Zeit, gegenläufig zur Zeit tut, ist die Notwendigkeit der Zeugnisgabe: Die Tränen des Mose, die schwarzen Tränen, die Tlntenspur lassen sich als Abwesenheit des Orts entziffern, als Abwesenheit an dem Ort, von dem er Zeugnis gibt. (HaMakom, Der Ort, ist einer der göttlichen Namen 4 8 .) Es ist dies die Grenze, die die Schrift in dem Maße zieht, wie die Zeugnisgabe sie definieren könnte. „Für wen schreibt man, wer billigt oder lehnt ab? Für wen diese Gabe, die niemals P/präsent wird?" 4 9 46 J. Juster, Les Juifs dans l'Empire romain, Paris 1914, S. 372. 47 Ebd., S. 371-372. Von der Übersetzung Aquilas (2. Jh.) sind nur noch Fragmente erhalten. 48 Vgl. Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, aus d. Frz. von H.-D. Gondek, Wien 1989, S. 41. 49 Derrida, Glas, a. a. O., S. 94.

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Diese Frage hat eine andere Dimension angenommen von dem Ort eines anderen Sterbens und eines anderen Überlebens aus, eines Uberlebens, das das Verbrennen der Tränen gekannt hat. Denn in Wirklichkeit überleben wir einen solchen Ort. Dieser Ort ist also gewissermaßen auch der unsere, wenn dies sich noch von einem Ort sagen läßt, der alles aufgeboten hat, um das „wir" der Sprache zu zerstören, falls sich dieses „wir" als die „Antwort" beschreiben läßt, die immer schon dem „diskursiven Ereignis als solchem" vorausgeht, das seinerseits schon „den vom Versprechen eröffneten Raum" voraussetzt50. „Eine Spur hat stattgefunden. Selbst wenn die Idiomatizität notwendig verlorengehen oder sich kontaminieren lassen muß durch die Wiederholung, die ihr einen Code und eine Intelligibilität gewährt, selbst wenn sie es nur dahin bringt, sich zu verwischen, wenn sie nur im Verwischt-werden ankommt, wird die Verwischung stattgefunden haben, und wäre sie aus Asche. Es gibt da Asche." 51 Die Tränen könnten in analoger Weise beschrieben werden: sie kommen nur an, indem sie sich verwischen oder ausstreichen. Der Ort, den wir überleben, bedeutete die erbitterte Anstrengung, dies auszustreichen, auszumerzen: daß es dort Asche gibt, daß es unmögliches Zeugnisgeben gibt. Die Tränen waren dort unmöglich. Moses Tränen geben der Schrift lediglich den Ort einer Spur, die stattgefunden hat. Und von der Zeugnis abzulegen unmöglich und notwendig sein wird. Würde das Weinen-können, das gerade kein Können ist, das „Eigentümliche des Auges" nur enthüllen, wie in Memoires d'aveugle gefragt wird, um von der vom Anderen eingeschriebenen Spur zu zeugen52, also wieder vom doppelten ja, wieder von der Vorübergegangenheit und wieder und schon vom anderen? Nach der Einschreibung eines der Buchstaben des Namen Gottes (He) in den Namen Abram (der somit zu Abraham wird) und der Beschneidung, die darauf folgt, nach der Gabe des Gesetzes am Sinai, ist die Szene der Tränen Moses eine weitere Bestätigung der Allianz. Die Allianz beginnt also mit einer Spur, die im Eigennamen hinterlassen wird. In einer seiner Talmudlektüren erwähnt Levinas diesen Namenswechsel, der den Bund Gottes mit dem Volk Israel markiert. Der ersten Beschneidung, der Abrahams, gehen im Buch Genesis oder Im Anfang, zwei Namenswechsel voraus: fortan heiße Abram nicht mehr Abram, sondern Abraham; seine Frau heiße nicht mehr Sarai, sondern Sarah. Levinas kommentiert hier nur den Wechsel von Sarai zu Sarah: die Endung -yod stellt im Hebräischen die Possessivendung der ersten Person Singular dar, „Sarai" bedeutet also „meine Sara". Die Frau, die, so Levinas, in einer männlichen Welt stets Gefahr läuft, zu den Sachen, die man besitzt, zu zählen, wird aus dieser Seinsordnung 50 Derrida, Wie nicht sprechen, a. a. O., S. 25. 51 Ebd., S. 55, Ubers, leicht verändert. 52 Derrida, Memoires d'aveugle, a. a. O., S. 125.

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herausgenommen, indem Gott dem Ehegatten besagte „ontologische Korrektur" mitteilt53. Was den Namenswechsel von Abram zu Abraham angeht, so bedeutet das H, hebräisch He, das in Abrams Namen eingefügt wird, die Einschreibung des Gottesnamens, des Zeichens für den Namen Gottes (,he' Zeichen für „Haschern")54. Die Botschaft der „Offenbarung", die an Abraham ergeht, ließe sich also vielleicht folgendermaßen umreißen: ,Du gehörst einem Anderen, der oder das deiner Macht entzogen ist, aber Sarah, deine Frau, gehört dir nicht.' Mit anderen Worten: Abraham, dem der Buchstabe eines Hauchs in den Namen eingeschrieben wurde, besetzt fortan nicht mehr die Instanz des Gesetzes und besitzt fortan nicht mehr seine Frau. In seinen Namen und sein „Gemüt" wurde, um es mit Paul Celan zu sagen, ein „lebendige(s) Nichts" eingeschrieben, und dieser Hauch des „lebendige(n) Nichts" nimmt ihm die vermeintliche Macht über das Andere, den Anderen - und die Andere. Mit dieser Offenbarung, ,Du gehörst einem Anderen, der oder das deiner Macht entzogen ist, aber Sarah, deine Frau, gehört dir nicht', beginnt der Bund, die alliance, die Bund und Ehering heißt; mit jenem „he", beginnt Abrahams Bund mit Gott und endet eine Bindung mit seiner Frau, die auf Besitzansprüchen und -Verhältnissen beruht. Was „Offenbarung" heißt, wäre hier die Offenbarung einer Unterbrechung, die jedoch keinen Bruch bedeutet, sondern die, um es mit einem Terminus Levinas' zu sagen, „Dia-chronie" eines Bruchs-Nicht-Bruchs. Die „Definierung" des Geschlechterverhältnisses verläuft über eine Distanzierung und Differenzierung Abrams von sich selbst und Abrahams von seiner Frau. Distanz, Differenz, jedoch kein Bruch. Nicht entweder - oder, sondern ein Drittes, das weder Kompromiß noch dialektische Aufhebung bedeutet, ähnlich wie das He in Abrahams Namen beinahe einen Hiatus einführt, einen Hiatus, der aber noch verbindet, scheinbar gleichzeitig unterbricht Und verbindet, wobei diese Gleichzeitigkeit jedoch keine der meßbaren Zeit ist, sondern eine uneinholbare, ins Uneinholbare und Unerinnerbare versunkene Vergangenheit in die vermeintliche Selbstgegenwart einbrechen läßt. Das bedeutet Enteignung. Moses Tränen hinterlassen eine Art Hiatus im Text, der gleichzeitig unterbricht und verbindet. Die Bestätigung der Allianz verläuft über einen solchen paradoxalen Bruch, der Enteignung bedeutet ohne mögliche Wiederaneignung. Bruno Bettelheim bemerkte, daß „autistische Kinder weder lachen noch weinen. [...] Weinen ist, stärker noch als das Lächeln, eine Gefühlsäußerung, die darauf abzielt, eine Reaktion auszulösen"55: Eine Anwort auszulösen. Ein ja erbittendes ja, das ein ja erwartet. Die Tränen sind möglicherweise Dankbarkeit für dieses erwartete, erbe-

53 E. Levinas, A l'heure des Nations, Paris 1988, S.99. 54 Für diesen Hinweis danke ich Amir Eshel. 55 B. Bettelheim, Die Geburt des Selbst, The Empty Fortress, aus d. Engl, von E. Ortmann, Frankfurt a.M. 1983/1990, S. 106.

Schwarze Tränen, Tintenspur

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tene, geforderte;^, das dort noch auf ein anderes ja wartet, wo es sich schenkt (wie so viele Texte Derrida es zu lesen geben). Gabe der Tränen: Gabe eines anderen ja ... Jedoch soll in diesem Kontext nicht der Bruch jeden Kontextes verschwiegen werden, von dem Bettelheim am Ende des ersten Teils von The Empty Fortress, plötzlich und unvermittelt berichtet: „Daß Weinen mit dem tatsächlich erlebten Leid oder Elend nur wenig zu tun hat, lehren uns die Konzentrationslager. Die Häftlinge weinten sehr selten und sie weinten nur dann, wenn sie sicher waren, ein teilnahmsvolles Publikum zu haben. ,Muselmänner' aber weinten nie." 56 Das wird von anderen Zeugnissen bestätigt57. Diejenigen, die „Muselmänner" hießen58, diejenigen, die sich buchstäblich auf der Grenze von Leben und Tod befanden, lebendige Tote waren, weinten nicht mehr. Die Gabe der Tränen ist die Gabe des anderen, des anderen in mir, des anderen ja. Die hypothetischen Tränen Moses finden in einem kurzen Text Jacques Derridas ein Echo. Dort ist die Rede von dem „Schicksal, das den Juden interpelliert und ihn zwischen Stimme und Chiffre stellt; und er beweint die verlorene Stimme mit schwarzen Tränen, Tintenspur"59. Welche Stimme beweint er? Beweint Mose die seine oder die göttliche Stimme? Oder noch eine andere, etwa die des ersten ja, das nur in einem immer schon zweiten nachhallt? ,[...] UND ER BEWEINT DIE VERLORENE STIMME MIT SCHWARZEN TRÄNEN, TINTENSPUR" - das bedeutet, von der Vorübergegangenheit der Allianz zu zeugen, zu schreiben. Die Tränen Moses entfernen ihn, so scheint es, von seinem Schreiben. Und dennoch, so scheint es, schrieb er, immer noch vom anderen zeugend, weinend. Wie wenn er einer in ihren jas vorübergegangenen Stimme gehorchte, die ungefähr dies gesagt hätte: „Ich wollte deine Erinnerung selbst verführen, sie bewohnen bis in die Momente hinein, in denen ich nicht da war für dich." 60 56 Ebd. 57 Vgl. S. ex.: „Die Häftlinge pflegten nicht zu weinen. Ich habe nie gesehen, daß das Lager einer von uns Frauen auch nur eine Träne entlockt hätte." M. Chylinska, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Die Auschwitz-Hefte, Weinheim 1987, Bd. 1, S. 117. 58 Die Herkunft dieser Bezeichnung ist ungewiß. Es handelt sich um diejenigen Häftlinge, die sich völliger Passivität überließen und durch ihre extreme Apathie und die Abwesenheit jeglichen Widerstandes gegen die ihnen zugefügte Behandlung von den anderen Häftlingen um so entschiedener verstoßen wurden. Vgl. Z. Ryn und S. Klodzinski, An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des „Muselmanns" im Konzentrationslager, in: Die Auschwitz-Hefte, a. a. O., S. 89ff. 59 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, aus d. Frz. von R. Gasche, Frankfurt a.M. 1976, S. 113, Übers, leicht verändert. 60 Derrida, in: Revue philosophique, a. a. O., S. 282.

Das Schibboleth der Ethik Derrida und Celan1

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Eine der tragfähigsten Untersuchungen zur paradoxen Natur der poetischen Singularitäten von Sprache, ohne die alle, beispielsweise philosophischen, ästhetischen oder ethischen Erfahrungen bedeutungs- oder wirkungslos blieben, findet sich in Derridas Lektüre der idiomatischen Sprache von Paul Celans Lyrik, Prosa und Poetik. Im vorliegenden Beitrag werde ich mich auf lediglich einen wichtigen Aspekt dieser Analyse konzentrieren, nämlich auf die Frage: Wie wird die Singularität - das Schibboleth, das Datum und, was sich als dasselbe herausstellen wird, das Gespenst und die Asche - solcher Philosopheme, ethisch-politischer Tropen und auch Theologeme in Paul Celans Dichtung und Poetik figuriert und entstellt (disfigured) ? In welchem Sinn erforscht Derridas Lektüre dieser Gedichte, wie auch der Poetik, die sie begleitet eine Lektüre, die ihrerseits idiomatisch ist und die Anerkennung einer Verpflichtung darstellt: das heißt ein Schibboleth, für Paul Celan2 - die elementare Struktur von Schuld, Widerstand und Pflicht, wie sie von allen philosophischen, ästhetischen, ethisch-politischen und religiösen Kategorien vorausgesetzt (aber auch verdunkelt) wird? Und in welchem Sinn könnte man behaupten, Celans Dichtung oder Poetik veranschauliche oder konkretisiere, was Derrida in einer frühen Studie über das Werk von Emmanuel Levinas eine „Ethik der Ethik" nannte? Sie tut dies, um es vorweg zu sagen, durch eine Analyse der Struktur singulärer Erfahrung von „Zeitlichkeit", die, laut Celan, jedes Gedicht in sich einschreibt oder 1 Eine frühere (französische und englische) Version dieses Textes wurde auf dem Symposion L'Ethique du dort am 7. Dezember 1990 in Royaumont und auf der Jahresversammlung der Modern Language Association am 28. Dezember 1990 in Chicago vorgetragen. 2 J. Derrida, Schibboleth. Pour Paul Celan, Paris 1986 (dt.: Schibboleth. Für Paul Celan, aus d. Frz. von W.S. Baur, Graz/Wien 1986); die Seitenzahlen des frz. Originals werden im folgenden in Klammern hinter denen der Ubersetzung nachgewiesen. Vgl. auch Ph. Forget, Neuere Daten über Paul Celan. Zu Jacques Derrida: „Schibboleth. Pour Paul Celan", in: Celan-Jahrbuch, hg. von H.M. Speier, Heidelberg 1987, Bd. 1, S. 217-222.

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die vielmehr darin eingeschrieben ist. Und es ist diese, wie wir sehen werden, paradoxe oder eher aporetische Struktur, die gleichermaßen die „innere Logik" der Philosopheme und Theologeme in Celans lyrischem und poetologischem Werk enthüllen wird und die ihren ethisch-politischen Figuren deren eigentümliche Form und Kraft verleiht. Was noch wichtiger ist: die besondere (Re-)Figuration dieser Zeitlichkeit der poetischen Erfahrung, die auch diejenige einer radikalen Diachronie ist, kann nach Derrida gelesen werden als das „Paradigma" der „performativen" Äußerung im allgemeinen3. Gewiß: Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von absolut singulärer Bedeutung ist in vielen früheren Texten Derridas eingehend untersucht worden: die Begriffe des Parergons, der Spur, des Eigennamens, der Anrede, um nur einige Beispiele eines inzwischen vielleicht allzu vertrauten Vokabulars zu nennen, ließen sich alle bezeichnen als „Beispiele" ein und derselben Beschäftigung mit der singulären Struktur der Differenzen wie auch mit dem Prozeß der Verzeitlichung und Verräumlichung, der differance, welche sie hervorbringt. Nirgends aber, so scheint es, wird das supplementäre aber nicht minder dringende Problem, wie nämlich - den Vorrang einer ursprünglichen Unentscheidbarkeit vorausgesetzt - Entscheidungen eigentlich getroffen werden (mit anderen Worten: wie man einen Unterschied macht), deutlicher als in der Untersuchung über die „Schibboleths" in Celans Dichtung und Poetik. Ist Derridas Studie über diese idiomatischen Aspekte von Celans poetischer Sprache wie auch über die ethisch-politischen „Implikationen", die sie beinhalten, ein Zeichen für die Verschiebung der Aufmerksamkeit - weg von der quasi-transzendentalen Frage, die sein früheres Werk beschäftigte und die damals einen allzu hastigen und naiven Ubergang von der differance zur singulären Differenz versperrte? Markiert Schibboleth eine Kehre"', eine Abwendung vom Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit (oder der Ethizität) von Ethik zugunsten einer Ethik in einem eingeschränkteren - und strengeren - Sinne? Müssen wir vielleicht hier anfangen zu schauen, um den Ubergang besser zu verstehen, der stattfinden sollte zwischen den eher formalen grammatologischen Forschungen und der neuerdings in Angriff genommenen Aufgabe einer Pragrammatologie ? Nun, da die Dekonstruktion (gleich dem „Ich" in Celans Gedicht „Schibboleth") in die Mitte des Marktplatzes geschleift

* Hier wie im folgenden: im Original dt.

3 Vgl. W. Hamacher, Die Sekunde der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte, in: W. Hamacher und W. Menninghaus (Hg.), Paul Celan, Frankfurt a.M. 1988, S. 81-126, hier S. 94: „Was Kant von der Zeit sagt, gilt in unvermindertem Umfang von der temporalen Sprache bei Celan: sie ist die formale Bedingung a priori der Vorstellung überhaupt. Insofern sprechen Celans Gedichte f...] von den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit. Sie benennen nicht etwas Bestimmtes, sondern bringen den Bestimmungsgrund des Sprechens selbst zur Sprache: seinen Zeitigungscharakter."

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und dazu gezwungen wird, eine Fahne zu grüßen, auf die sie nie einen Eid schwor4, ist die Antwort auf diese Frage nicht ohne Bedeutung. Und doch wären wir voreilig, zögen wir diesen Schluß. Denn Derridas Lektüre Celans ist auch der Aufschub dieses Ubergangs, der eine Grenzüberschreitung mit eigenem Recht ist, da sie sich immer wieder zu dem zurückwendet, was als eine jeder solchen Ethik der Differenzen vorausgehende Dimension erscheint. Denn die genannte Ethik ist auch situiert in einem Denken des Ortes und der Geste (eher als des Aktes) der Gabe, in deren Licht (oder Schatten) die Konturen solcher Schibboleths ermöglicht werden. Zeitweilig und bis zu einem gewissen Punkt scheint diese grundlegende Problematik (sofern dies noch der richtige Ausdruck ist) die Analyse dieser poetischen Singularitäten gar abzulösen. Ich werde versuchen, diese unterschiedlichen Ebenen in Derridas Text so sorgfältig wie möglich zu rekonstruieren und sie mit einem starken aber fragwürdigen Gegenbeispiel konfrontieren: Heideggers Interpretation des Verhältnisses von Datum* und Gabe bei Hölderlin. Schließen werde ich mit einer kurzen Diskussion der Frage, ob und inwiefern Heideggers Versuch, das Datum im Licht der Gabe des Seins zu verstehen, zu einer Jiekundarisierung" der Singularität des poetischen Datums führt, wie es in Celans Werk offenbart (und von Derrida gelesen) wird. Wird das poetische Datum in Heideggers Analyse, anstatt in der Ellipse seiner Repräsentation respektiert zu werden, nicht in Wahrheit einer Eklipse überlassen? Um diese Frage richtig zu stellen, geschweige denn eine plausible Antwort auf sie zu vorzubereiten, ist ein großer Umweg vonnöten. Die Beobachtung, Celans Dichtung und Poetik stelle für das Ziel der Hermeneutik, Bedeutung wiederherzustellen, die wohl größte Herausforderung dar, ist beinahe zum Gemeinplatz geworden. Celans Ausdruck des Dunkels ist, wie oft bemerkt wurde, charakterisiert von einer unverkennbar „modernen" Zurückweisung realistischer, dokumentarischer wie auch symbolischer Aspekte früherer Dichtung. Indem sie Syntax und Semantik zerbröselt und zerbröckelt, läuft diese lyrische Dichtung sogar Gefahr, „nichts als" die Unlesbarkeit der Literatur zu exponieren. Celans Texte ziehen sich zunehmend von der Narration und Figuration zurück bis zu dem Punkt, an dem sie sich selbst in einer „Geste" aufgeben, für die es keine angemessenen literarischen, ästhetischen, rhetorischen und philosophischen Kriterien mehr gibt. Durch den extensiven Gebrauch persönlicher Daten und begrifflicher Umkehrungen sind seine „Sprachfiguren" nicht länger Beispiel für eine mimetische „mise-en-intrigue" der Erfahrung „in" der Sprache, sondern vielmehr für die reine „mise-en-abime" der 4 „Mitsamt meinen Steinen, / den großgeweinten / hinter den Gittern, // schleiften sie mich / in die Mitte des Marktes, / dorthin, / wo die Fahne sich aufrollt, der ich / keinerlei Eid schwor." (Paul Celan, Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. von B. Allemann und S. Reichert unter Mitwirkung von R. Bücher, Frankfurt a.M. 1986, Bd. I, S. 131; im folgenden GW mit Bandnummer und Seitenzahl).

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Sprache als solcher. Philosopheme, Theologeme und alle anderen Zitate werden so zu Tropen eines Schreibens, das die einfache Dichotomie zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Existenz und Nichtigkeit, überwindet und uns mit nichts als einem einfachen - emphatischen, enigmatischen und idiomatischen - Sagen zurückläßt. Dieses gleitet dabei jedoch niemals ab in einen schieren Ästhetizismus, noch reduziert es die poetische Sprache auf ein willkürliches, aber selbst-referentielles Spiel der Signifikanten. Selbst die „extremsten" Äußerungen in Celans Werk lassen ihre Leser des Grades bewußt werden, in dem eine Passivität - oder gar eine Passion, um ein Wort Derridas zu verwenden - sich selbst in die Sprache einschreibt, ohne sie zu komplettem Schweigen zu verurteilen. Aus diesen und anderen Gründen konnte Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie Celan als den „bedeutendsten Repräsentanten hermetischer Dichtung der zeitgenössischen deutschen Lyrik" 5 bezeichnen und zugleich klarstellen, daß sich in diesem Werk der Erfahrungsgehalt des Hermetischen (definiert in der Epoche der „Kunstreligion*" und des „Jugendstils''") umkehrt. Diese Umkehrung, so legt Adorno nahe, sei nicht länger denkbar in Begriffen einer weiteren Abdichtung*" des Gedichtes gegen die gesellschaftspolitische und historische Welt. Sie wird im Gegenteil hervorgebracht von der reinen Kontraktion des poetischen Wortes, heimgesucht von den Spuren (der Asche) eines Leids*, welches das Leben seiner Vitalität beraubt, die Kategorien möglicher Erfahrung überschreitet und die Tropen ihrer mimetischen Transfiguration oder Sublimierung* zerstört. Celans Gedichte, so schließt Adorno, „wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. Ihr Wahrheitsgehalt selbst wird ein Negatives. Sie ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen der Menschen, ja aller organischen nach, die des Toten von Stein und Stern. Beseitigt werden die letzten Rudimente des Organischen; zu sich selbst kommt, was Benjamin an Baudelaire damit bezeichnete, daß dessen Lyrik eine ohne Aura sei." 7 Somit gäbe es, wie das Gedicht „Mit wechselndem Schlüssel" beschreibt8, keine prästabilierten Kriterien oder Regeln, die bei der „Entzifferung" dieser Dichtung von Nutzen sein könnten. Im Gegenteil seien nicht nur die Bedingungen der „Erfindung" des dichterischen Wortes, sondern auch diejenigen ihrer möglichen Interpretation wesentlich instabil. Und diese Unbestimmtheit bezeichnet eine Verwundung, einen Einschnitt, eine Beschneidung9 des Wortes - und nicht nur 5 Th.W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt a.M. 1972, S. 477. Vgl auch: Th. Sparr, Celans Poetik des hermetischen Gedichts, Heidelberg 1989 6 Ebd., S. 475. 7 Ebd., S. 477. 8 „Mit wechselndem Schlüssel" ist auch der Titel einer der „Epizykel" des Buches Von Schwelle zu Schwelle, in dem auch das Gedicht „Schibboleth" zu finden ist. 9 Die Verwendung dieses Wortes in Schibboleth sollte natürlich im Lichte von Derridas neuerer „Circonfession", in: G. Bennington und J. Derrida, Jacques Derrida, Paris 1991, gelesen werden. Leider kann ich im Zusammenhang dieses Beitrages die Schnittpunkte und Resonanzen zwischen diesen beiden wichtigen Texten nicht weiter erforschen.

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des Wortes sondern auch des Fleisches (in Celans Worten: des Auges, Mundes oder Ohres) - welches einem jeden möglichen, absichtlichen oder kalkulierten Risiko, das dem vorgeblich bewußten Prozeß hermetischen Verschlüsseins oder Codierens entspringt, immer schon vorausgegangen sein wird. „MIT WECHSELNDEM SCHLÜSSEL Mit wechselndem Schlüssel schließt du das Haus auf, darin der Schnee des Verschwiegenen treibt. Je nach dem Blut, das dir quillt aus Aug oder Mund oder Ohr, wechselt dein Schlüssel. Wechselt dein Schlüssel, wechselt das Wort, das treiben darf mit den Flocken. Je nach dem Wind, der dich fortstößt, ballt um das Wort sich der Schnee." (GW 1,112) Dichterische Sprache wäre dann weder die Sprache im Fluß, die Heidegger Hölderlin zuschreibt - ein Sagen, welches direkt dem Wesen der Sprache (d. h. dem Haus* des Seins) entströmt - , noch wäre sie die hermetische Abwesenheit alles Sagens oder Gesagten. Der „Schnee des Verschwiegenen" und die „Flocken", in denen das dichterische Wort sein Element findet, sind im Gegenteil von einer fraktionierten Kristallisierung des Sagbaren und des Unsagbaren, von Sinn und Unsinn, gekennzeichnet. Es scheint beinahe, als verkehre und verschiebe Celan somit die poetologischen Anmerkungen, mit denen Heidegger seine Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung eröffnet. Heidegger notiert dort, ein Bild des späten Hölderlin in Erinnerung rufend und interpretierend: „Die Gedichte sind im Lärm der,undichterischen Sprachen' wie eine Glocke, die im Freien hängt und schon durch einen leichten, über sie kommenden Schneefall verstimmt wird. [...] Vielleicht ist jede Erläuterung dieser Gedichte ein Schneefall auf die Glocke." 10 Dieser Devise folgt Celan nicht. Im Gegenteil, die oben zitierte Stelle wie auch die Poetik, die sie zu erläutern scheint, beanspruchen etwas anderes: daß das Gedicht in seiner Reinheit oder Absolutheit, weit entfernt oder unberührt vom Geräusch des unechten Geredes*, keinerlei Sinn oder Bedeutung hätte. Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir in allgemeinen Begriffen über die Bedeutungsfülle des Gedichtes sprechen könnten. Was wir in einer „gegebenen Situation" zu erkennen (und auszusprechen) in der Lage sein müßten, ist das Schibboleth oder 10 M. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1971, „Vorwort zur zweiten Auflage", S. 7f.

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auch das Schlüsselwort* des Gedichtes. Da überdies der „hermeneutische Schlüssel" sich wandeln muß, damit das Gedicht - die Glocke, um Heideggers Bild zu verwenden - klingen kann, ist jede thematische Lektüre, die eine bestimmte Symbolik, Metaphorik oder Semantik hervorzuheben versucht, zum Scheitern verurteilt wie auch jede Interpretation, die den Versuch macht, einige allgemeine, wesentliche oder gar ontologische Züge dieser lyrischen Dichtung anzusprechen. Denn diese vorgebliche Information kann nicht länger als der dichterischen Äußerung oder ihrer Interpretation vorausgehend gelten11. Folglich birgt das Gedicht kein bestimmtes Geheimnis oder - in Derridas Worten - „keinen semantisch festmachbaren Inhalt, der darauf wartete, von einem hinter der Tür stehenden Schlüsselträger aufgedeckt zu werden"12. Und dieser Umstand berührt auch die Interpretation dieses „programmatischen" Gedichts. Man könnte an dieser Stelle wiederum Adorno zitieren, der in seinen Aufzeichnungen zu einem Autor, der von Celan sehr verehrt wurde, nämlich Kafka, etwas notiert, das man auch von den Gedichten und der Prosa des ersteren behaupten könnte. Sie sind eine „Dichtung*", oder soweit es seine Prosa (z.B. das Gespräch im Gebirg) betrifft, eine „Parabolik*", „zu der der Schlüssel entwendet ward; selbst der, welcher eben dies zum Schlüssel zu machen suchte, würde in die Irre geführt"13. Aus analogen Gründen wird Derrida in seiner Analyse von Celans Gedicht „Schibboleth" bemerken, daß keinerlei Historizismus, Psychologismus, Soziologismus oder Empirismus vollends den „Ort" bestimmen kann, von dem aus poetische Singularitäten, welche wohlgemerkt „an und für sich" bedeutungslos sind, plötzlich (und immer vorläufig) einen gewissen Sinn gewinnen - mit einem doppeldeutigen Einschlag von Glück und Schrecken. In diesem Gedicht gedenkt Celan der Niederlage der Ephraimiten gegen die Armee von Jephthah (die Männer von Gilead), von der im Buch der Richter berichtet wird, und erinnert an die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um jene davon abzuhalten, ihr Leben zu retten, indem sie versuchten den Jordan zu überqueren: „Wenn nu sprachen die flüchtigen Ephraim / Las mich hin über gehen / So sprachen die Menner von Gilead zu jm / Bistu ein Ephraiter ? Wenn er denn antwortet / Nein / So hiessen sie jn sprechen / Schiboleth / So sprach er / Siboleth / vnd kunds nicht recht reden / So griffen sie jn und schlugen jn." 14 Das Gedenken dieser biblischen Szene ist nicht denkmalhaft, abgeschoben in ein Archiv. In Celans Gedicht kehrt es zurück zum Leben im Heraufbeschwören des spanischen Bürgerkrieges, wo die Parole der Republikanischen Truppen, no pasardn, als ähnliches Zeichen für Bündnis und Ausschluß dient und auf diese Weise die diakritische 11 Vgl. J. Greisch, Zeitgehöft und Anwesen, La diachronie du poeme, in: M. Broda (Hg.), Contre-jour. fitudes sur Paul Celan, Paris 986, S. 167-183, hier S. 176 12 176 Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 72 (61) 13 Th.W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976, S. 302-342, hier S.304. 14 Richter 12,5-6 (D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft (1545), hg. von H. Volz, München 1974, Bd. I, S. 477f.).

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Funktion des Schibboleth „wiederholt". Diese „Wiederholung" zeigt somit, daß dieses „Wort" mehr ist als eine Figur, deren Ursprung und Bedeutung historisch, geographisch oder gar politisch bestimmt werden könnte: „Ein Schibboleth, das Wort Schibboleth, wenn es denn eines ist, bezeichnet im weitesten und allgemeinen Sinn seiner Verwendung jedes nicht bedeutungstragende, willkürliche Merkmal, so zum Beispiel den phonematischen Unterschied vonschiund si, wenn dieser unterscheidend (idiscriminant), entscheidend (decisif) und scheidend (coupant) wird. Dieser Unterschied hat keinerlei Bedeutung an sich, aber er wird zu dem, was man erkennen und vor allem markieren können muß, um den Schritt zu tun."iS Dieses (Wieder-)Erkennen und Aussprechen des Schibboleths eröffnet oder verweigert nicht nur den Zugang zu einer linguistisch definierten Gemeinschaft, es setzt auch immer schon eine solche Zugehörigkeit voraus. Und die Fähigkeit (oder Unfähigkeit), ein solch lebenswichtiges Schlagwort wahrzunehmen und zu äußern hat nichts zu tun mit prästabilierten, ζ. B. biologischen oder ontologischen Eigenschaften oder Kategorien. Es ist im Gegenteil die Fähigkeit, „einen Unterschied zu machen", die weniger ein dekonstruierbares „Sagen- Wollen" als vielmehr ein „Sagen-Können" ist, das in gewissem Sinne die endgültige Unentscheidbarkeit der linguistischen Bedeutung suspendiert oder unterbricht und so „zwischen Fremd und Fremd" unterscheidet (GW III, 196). Diese Geste, dieser Versuch sozusagen, den richtigen Ton zu treffen, findet Resonanz nur innerhalb eines gegebenen kulturellen Rahmens, ohne je vollkommen reduzierbar zu sein auf die Koordinaten, d. h. die Topographie und Topologie dieses Raumes. Und diese wesentliche Diskrepanz verunmöglicht die simple Identifizierung der genannten Geste mit einem performativen Sprechakt, als welcher sie gemeinhin definiert wird: eine Äußerung, die nur in Form bestimmter Ubereinkünfte denkbar (oder erfolgreich) wäre und selbst nicht unser Festhalten an ihr (oder unseren Widerstand gegen sie) ins Leben ruft oder begründet. Zusammengefaßt: Die Singularität des Schibboleths (oder des Datums) eröffnet („donne lieu ä") den Raum der Berechenbarkeit, ohne selbst in irgendeiner denkbaren Ökonomie berechenbar zu sein: „Hierin liegt die Gabe des Gedichts und des Datums, ihre aus Verzweiflung und Hoffnung bestehende Bedin«16

gung. An sich selbst, in seiner Isolation betrachtet, ist das Schibboleth, obwohl es ein schrecklich diskriminierendes Zeichen ist, welches Freund und Feind scheidet, bedeutungslos, nicht mehr als eine immer mögliche Verwirrung in der Sprache. Da sie aber Krieg und Partisanentum leitet, kann diese linguistische Differentialität - an sich bedeutungslos - als der Anfang aller Bedeutsamkeit betrachtet werden: „der bedeutungs-lose Unterschied als Bedingung für die Bedeutung" 17 . Und das erklärt, warum der diakritische Wert eines Schibboleth in einer gegebenen Situation immer auch auf 15 Derrida, Schibboleth, S. 58 (50). 16 Ebd, S. 87 (72). 17 Ebd, S. 63 (54).

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den Kopf gestellt werden kann; warum es in seiner Zirkulation und Kommunikation mit anderen verzerrt werden kann zu einem Zeichen diskriminierenden Ausschlusses statt eines solidarischen und emanzipatorischen Bündnisses; warum es schließlich entwertet oder trivial zu werden vermag. Es gibt immer ein Element der Tragödie in diesem Wechsel der Töne oder in dem Entgleisen des rechten Tons18 in dem Sinn, daß es sich der Intention entzieht, der Entscheidung genauso wie dem politischen Geschick der beteiligten Individuen und Kollektive. Das Schibboleth, das no pasardn, wird in all den Ereignissen, auf die Celan anspielt, denn auch vergebens ausgesprochen oder -gerufen. So verwundert es kaum, daß die vierte Strophe des Gedichtes „Schibboleth" eine weniger triumphale Flagge ehrt und befiehlt: „Setz deine Fahne auf Halbmast, Erinnrung. Auf Halbmast für heute und immer." (GW 1,131) In dieser tragischen Zweideutigkeit nun „veranschaulicht" das Schibboleth eine „allgemeine Struktur" - und diese Worte müssen mit großer Vorsicht verwendet werden die wahrnehmbar ist in jedem Idiom, das sich in die Sprache eingraviert (oder sie durchschneidet). Insofern man behaupten kann, dieser Aspekt des dichterischen Schreibens bilde das Paradigma der „performativen" Aussage im allgemeinen, kennzeichnet er auch die Natur eines jeden möglichen Philosophems, Theologems oder ethisch-politischen Imperativs. Wie das Gedicht, wie jedes Schibboleth, zeigen sie ineins die unauslöschliche Duplizität eines möglichen Öffnens oder Schließens. Es ist kein Zufall, daß Celan in seinem „Brief an Hans Bender" diese Singularität des Gedichtes mit „nichts als" einer Geste, genauer mit einem Händeschütteln, identifizierte. Überdies wird die eher „performative" als konstative Sprache des Gedichtes, d.h. seine Kommunikation der Kommunikation „als solcher" anstatt irgendeiner in dieser Kommunikation beinhalteter Information, mit einer Gabe an alle Aufmerksamen verglichen. Die Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960 mit dem Titel „Der Meridian" entwickelt dieses Moment weiter, indem sie hervorhebt, daß eine gewisse Aufmerksamkeit und Konzentration (eine Wachsamkeit und Wachheit) eher als jeder thematische Inhalt die formalen Kenn18 Derrida bezieht sich an diesem Punkt auf das Hölderlinsche Motiv des Wechsels der Töne'', welches auch ein Leitmotiv* ist in: La carte postale. De Socrate ä Freud et au-delä, Paris 1980 (dt.: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und Jenseits, autorisierte Ubers, von H.-J. Metzger, 1. Lieferung Berlin 1982,2. Lieferung Berlin 1987) und D'un ton apocalyptique adopte naguere en philosophie, Paris 1983 (dt: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: Apokalypse, aus d. Frz. von M. Wetzel, Graz/Wien 1985, S. 9-90).

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zeichen des Gedenkens, der Trauer oder der Segnung durch das poetische „Subjekt" definieren. Somit ist, wenn Celan schreibt: „Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, ,poetisiert' nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen" (GW III, 167-168), diese beinahe geometrische Präzision einer „prosaischen" (eher denn ästhetischen oder bloß unklaren) Bedeutung selbst nicht „einfach gegeben". „Was" sie, wenn überhaupt etwas, gibt, gibt sie nur denjenigen, die aufmerksam genug sind, um wahrzunehmen19. Denn die zuvor zitierte Passage fährt mit der Feststellung fort: „Freilich ist hier niemals die Sprache selbst, die Sprache schlechthin am Werk, sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht." Aber wenn die poetische Geste des Schreibens, Sprechens, Lesens oder Hörens und Wahrnehmens nichts als eine absolut singuläre Geste ist, wie könnten wir jemals hoffen, das relative Gewicht der Philosopheme, Theologeme und ethisch-politischen Figuren in Celans lyrischer Dichtung zu isolieren und zu bestimmen? Wie könnten wir jemals erfolgreich sein beim Messen der genauen Verschiebung, der sich ihr vorgeblich ursprünglicher Sinn unterzogen hat? Und was würde es schließlich bedeuten, wenn Celan in der Rede anläßlich der Entgegennahme des Preises der Stadt Bremen schreibt: „Das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen - durch sie hindurch, nicht über sie hinweg" (GW III, 186)? An diesem Punkt müssen wir die paradoxe oder vielmehr aporetische Struktur des Datums diskutieren, seinen „Uhrzeigersinn": das verwickelte Verhältnis seiner Einzigartigkeit und Wiederholbarkeit. Derrida fragt: „Wie soll man etwas datieren, das sich nicht wiederholt, wenn die Datierung sich auf irgendeine Form der Wiederkehr beruft [...]? Wie aber soll man etwas Anderes als das, was sich nie wiederholt datieren?"20 Alle Modalitäten des Datums (die Uhr, der Kalender und sogar die Toponomie) folgen derselben paradoxen Struktur. Sie alle verweisen auf eine Zeitlichkeit, die weder eine unteilbare Gegenwart oder „jetzt" ist, auch nicht ein Moment einer rückblickenden Retention oder vorwegnehmenden Protention, noch auch deren völlige Auslöschung. Jedes Datum „präsentiert", d. h. es markiert eine Zeit, die diese scheinbaren Extreme der Annäherung, Projektion und des völligen Vergessens umgeht oder durchschneidet. Das Datum - aber wir könnten hier auch von der Signatur des Dichters oder des Gedichts (wie auch vom Leser und dem Lesen) sprechen, kurz: von jedem Zeichen - wäre nichts, wenn nicht ein absolut 19 Celan zitiert Benjamins Essay zu Kafka, in dem wiederum Malebranche zitiert wird: „Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele." Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1980, Bd. II, 2, S.432. In diesem Essay beschrieb Benjamin das Gesamtwerk Kafkas als einen „Kodex von Gesten" (ebd., S. 418). 20 Derrida, Schibboleth, a.a.O., S. 11 (13).

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singuläres „Ereignis". Zugleich jedoch hat das Datum in seiner Besonderheit eine weitreichende allgemeine (und - vielleicht - universale) Tragweite, Absicht oder Tenor. Es ist etwas „Absolutes" im etymologischen Sinne des Wortes: abgelöst von jedem bestimmbaren Zusammenhang. Celan beschwört dieses Paradox in „Der Meridian", indem er ausruft: „Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber - es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache. Aber [...] es [gehört] von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts [...], gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen - wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache" (GW III, 196). Das Gedicht spricht, obwohl es - streng gesagt - keinen Referenten besitzt. Es spricht eine Leerstelle, ein Anderssein, eine leere Transzendenz an, die noch freigesetzt werden muß, und die dennoch immer schon dem Gedicht zugewandt ist. In der reinen Irre seines Ziels, sogar während es sich an Niemanden* (der existiert) oder an Nichts* (bestimmtes) wendet21 - eine Bestimmung, welche an die Tradition der Mystik und der Negativen Theologie der Kabbala, an Meister Eckhart und vielleicht sogar an Heidegger22 erinnert - , findet die Anrede dennoch irgendwie, irgendwo, irgendwann statt. Diese Geste „ist" nicht nichts, sie „ist" kein Effekt einer abstrakten Negation oder Leugnung, auch bezeichnet sie keinen leeren nihilistischen Akt 23 . Im Gegenteil, das Gedicht kann nicht nicht sprechen, kann das Sprechen nicht vermeiden. Die destinerrance oder clandestination sind die Bedingung der Möglichkeit seiner Bedeutung, seiner (dichterischen) „Bedeutsamkeit". Schibboleth gibt somit das Thema des „Gebets" wieder, welches detaillierter im Jerusalemer Vortrag „Comment ne pas parier" 24 diskutiert wird: „Sich an jemanden richten heißt nicht exakt, sich an niemanden richten. Bedeutet zu jemandem sprechen - mit dem Risiko, jedesmal auf einzigartige Weise, daß es da niemanden gibt, den es zu segnen gälte - nicht die einzige Möglichkeit für eine

21 Siehe J. Derrida, Glas, Paris 1974, S. 92, rechte Spalte: „Le glas n'est de personne." 22 Denn beschreibt nicht Heidegger den „Ruf der Sorge" bereits in Begriffen, die auf den ersten Blick sehr ähnlich zu sein scheinen? Der „Rufer", die Stimme des „Gewissens" (d.h. des Daseins* selbst) ist „weltlich gesehen,Niemand'" (M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 278). Zur Frage des „Mystischen" siehe: H. de Vries, Anti-Babel: The „Mystical Postulate" in Benjamin, de Certeau and Derrida, in: Modern Language Notes 107,1992, S. 441-477. 23 Siehe M. Broda, ,An Niemand gerichtet'. Paul Celan als Leser von Mandelstamms Gegenüber, in: Hamacher/Menninghaus, a. a. O., S. 209-221, hier S. 214f.: „Man darf diese provokante Geste, die ,niemand' betrifft, [...] nicht mit einer Nicht-Anrede verwechseln.,Niemand' führt in das dialogische Verhältnis eine Dissymmetrie ein, durch die es problematisch, aber nicht annulliert wird." Und diese Transzendenz stößt den Dialog an seine Grenzen - und vielleicht über sie hinaus: „Sie stellt die Bedingung dar für das, was Celan ,Begegnung' nennt. Aber ist eine Begegnung, die eine solche absolute Dissymmetrie der Plätze voraussetzt, noch ein Dialog·"' (ebd., S. 215; Hervorhebungen von mir, HdV). 24 Dt.: J. Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, übers, von H.-D. Gondek, Wien 1989.

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der Ethik

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Segnung? Für einen Akt des Glaubens? Was wäre eine Segnung, die sich ihrer selbst sicher wäre? Ein Urteil, eine Gewißheit, ein Dogma."25 Ich kehre nun zu meiner ursprünglichen Fragestellung zurück. Wie enthüllt die Struktur des Datums - oder, angenommen so etwas wäre möglich, der Daten im allgemeinen - die Modalität der ethisch-philosophischen Aspekte von Celans Dichtung, der diesem Werk gewidmeten literarischen Kritik wie auch des politischen Engagements, das es hervorrufen oder vielmehr provozieren und problematisieren könnte? Die Antwort auf diese Frage kann in der merkwürdigen Weise gefunden werden, in der singuläre Einschreibung und universelle Bedeutung gemeinsam stattfinden, oder, um genauer zu sein, einander voraussetzen. Denn das Datum ist kein unsichtbares hic et nunc, kein atomistischer Punkt in Raum und Zeit. Von Anfang an wird das Datum die Stille einer reinen Singularität immer schon gebrochen haben. Wie kann das geschehen? Das Paradox der gegenseitigen Voraussetzung von Singularität und Universalität kann, so Derrida, nicht gemeistert werden von einer Dialektik, welche - wie die Hegeische Phänomenologie des Geistes in ihrer Analyse der sinnlichen Gewißheit, des „dies" und des Meinens - die Bewegung rekonstruierte, in der die punktuelle und deiktische Empfindung (oder, unter Berücksichtigung des Textes, das syntaktische Material oder die Metaphern und Tropen) negiert und in eine wißbare, begriffliche (oder lesbare) Allgemeinheit oder Erfahrung aufgehoben wird. Und doch wird es, folgen wir dieser Analyse, schwierig, wenn nicht unmöglich, auf der Antwort oder sogar auf der Frage „Was ist ein Datum?" zu bestehen. Nicht nur, weil keine eindeutige Antwort möglich scheint, sondern auch, weil jegliches solches Fragen genau das voraussetzt, was in Frage steht. In ihrer bloßen Allgemeinheit ist die formale Struktur dieser Fragestellung an sich selbst datiert (ge-)worden: „In erster Linie hat die Fragestellung ,Was ist...?' eine eigene Geschichte, einen Ursprung, sie ist von einem Ort, einer Zeit, einer Sprache oder einem ganzen Netz von Sprachen - mit anderen Worten von einem Datum, über dessen Wesen diese Frage nur mehr beschränkte Macht und beschränktes Recht ausübt, wenn ihre Bedeutung nicht gar bestreitbar ist bezeichnet, bestimmt und von ihnen verpflichtet."26 Wenn wir ihre beharrliche Legitimität dennoch anerkennen, wie wir wohl müssen, so sollte uns diese Unzulänglichkeit etwas über die Begrenzungen des philosophischen Diskurses als solchen (oder zumindest der Ontologie als solcher) lehren. Und es ist diese Einsicht, die Derrida dazu zwingt, die „performative Modalität" der dichterischen Singularität eher als deren möglichen denotativen „Inhalt" ins Zentrum seiner Argumentation zu rücken. Diese „performative Modalität" der Daten des Gedichts - selbst eine singuläre Konstellation von Singularitäten - wird als eine (und mit einer) Geste beschrieben, als eine (und mit einer) Anrede und wieder als Gabe: „Werden uns Geschenk oder 25 Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 91 (76); Ubers, verändert. 26 Ebd, S. 33 (31).

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Zuneigung über die Frage, die in der Form ,Was ist... ?' enthalten ist, hinauszutragen vermögen? [...] dann gibt es vielleicht ein Datum - und auch wenn ein solches nicht existiert." 27 Derrida schlägt also keine fundamentale oder gar quasi-ontologische Erläuterung dieser Gabe oder Anrede des Gedichts vor. Noch reduziert er das Datum auf einen ästhetischen (oder in diesem Fall meta-ethischen) Aspekt der Dichtung. Der in Betracht stehende Text wie auch sein Thema durchkreuzen solche disziplinären Unterscheidungen. Wichtig ist an dieser Stelle, daß diese Analyse für immer unsere Versuche kompliziert, die klaren, systematischen, d. h. philosophischen oder ethischpolitischen Auswirkungen eines jeden literarischen, narrativen, lyrischen oder anderen Textes zu isolieren. Denn in diesem Licht gesehen würde der literarische Text nicht einfach einen bereits existierenden systematischen Gedanken illustrieren oder veranschaulichen, welcher vor den rhetorischen Figuren und Tropen und ohne deren Hilfe konstituiert wäre. Noch könnte umgekehrt der systematische Inhalt eines Textes auf die disseminativen Effekte dieser dichterischen Aspekte des Gedankens reduziert werden, welche als solche wiederum nicht existieren. Das absolute Gedicht in seiner Reinheit ist unmöglich. Mit seinen Figuren, Bildern, Daten und Anreden hat das Gedicht immer schon eine gewisse Grenze überschritten. Deshalb zerschneidet die dichterische Singularität von Anfang an die Opposition dessen, was gemeinhin entweder als wesentlich oder empirisch, notwendig oder zufällig, heilig oder profan angesehen wird. Und hiermit wird die Unterscheidung zwischen Philosophie (Ethik und Ästhetik) auf der einen Seite und Dichtung auf der anderen unscharf, wenn auch nicht vollends beseitigt. Die Erfahrung dieser ursprünglichen und produktiven Komplikation von Ab-, Be,- und Eingrenzungen ist, so bemerkt Derrida, entgegen den Argumenten der „Separatisten", keine andere als die der Philosophie selbst. So wie wir nicht hoffen können, Celans theoretische, systematische oder poetologische Bemerkungen zum Thema des Datums trennen zu können von seiner dichterischen Praxis der Einführung von Daten, so können wir die Philosophie nicht trennen von ihrer singulären raum-zeitlichen Einschreibung. Was also jede philosophische Interpretation eines literarischen Textes zu ermöglichen scheint - die paradoxe Struktur seiner poetischen, idiomatischen Bedeutung, welche in ihrer Singularität nichts, niemanden und alle anredet - , bildet auch eine Schranke gegenüber jedem Versuch, die poetische „Performanz" zu formalisieren. Es gibt keine Methode - keinen Weg, dem wir folgen können - , welche uns dem Geheimnis des dichterischen Sinns näherbringen könnte: „La poesie, eile aussi, brüle nos etappes." (GW III, 194) Dieser Umstand läßt die eher formale Analyse, die von jeder philosophischen Hermeneutik und Poetik vorausgesetzt wird, nicht notwendigerweise obsolet werden. Sie bringt statt dessen dem Interpreten den vergessenen gemeinsamen „Grund", „Ursprung" oder die Bedingung der Möglichkeit dieser unterschiedlichen Disziplinen zu Bewußtsein, die beide stehen und fallen mit dem 27 Ebd., S. 37 (33); Übers, verändert.

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Versuch, eine idiomatische Sprache der Daten, Orte, Situationen und Eigennamen zu thematisieren, welche sie nicht meistern, kontrollieren oder metalinguistisch, metahistorisch, transzendental re-konstruieren können. In diesem Sinne beginnen Philosophie, Hermeneutik und Poetik mit dem Unbekannten, genauer gesagt, mit dem Unerkennbaren. Was sie zu unserem Wissen und unserer Erfahrung beitragen, beginnt in gewisser Weise mit einem Vergessen weniger einer neutralen Dimension oder eines Horizontes des Seins, getrübt von einem verdinglichten Denken, welches von Seiendem präokkupiert ist, wie Heidegger es fassen würde. Vergessen wird vielmehr ein „konkretes" Idiom, welches an und für sich immer schon Gefahr läuft, dem Vergessen anheimzufallen. Denn die begriffliche „Gewalt" des Vergessens, welche die Philosophie und alle andere Systematisierung begründet (und welche niemals ohne Beziehung zur Gewalt im empirischen Sinn ist), wird der Erinnerung, welche die Sprache der Stille und der Dichtung charakterisiert, nicht einfach oder brutal auferlegt. Die Sprache ist, wie die Philosophie und die formale Poetik, von innen affiziert durch ein Vergessen, das nicht bloß zufällig ist, sondern der Struktur dessen, was es vergißt, zugehört und das deshalb als für das Gedächtnis der Daten selbst konstitutiv bezeichnet werden kann. Indem es zu einem lesbaren, erinnerbaren, bemerkbaren Zeichen wird, kann das Datum nicht anders, als sich vom „Stigma" der Singularität, derer es gedenken möchte, zu emanzipieren. Es Uberlebt das, woran es erinnert, nur, indem es zu einer gewissen Idealität wird. Und diese Treue durch Verrat findet nicht a posteriori statt (als könnte sie auch nicht stattgefunden haben): „Von einem Datum selbst bleibt nichts übrig, nichts von dem, was es datiert [...]. Es bleibt α priori niemand übrig. Dieses ,nichts' und .niemand' stößt dem Datum nicht nachträglich zu, wie etwa der Verlust von etwas oder jemand." Darüber hinaus wird nicht nur der „Ursprung" des Datums, sondern ebenso sein zukünftiges Eingedenken immer geteilt und bedroht sein. Denn ein einzelnes Datum kann nicht nur an verschiedene getrennte Ereignisse erinnern (je unfaßbarer ein Datum ist, desto zahlreicher sind die Ereignisse, deren es eingedenkt). In der Abwesenheit eines Zeugen, mit der es einmal unausweichlich konfrontiert sein wird, bezeichnet das Datum ebenso einen verlassenen Ort oder ein Niemandsland: d. h. es wird zu einem Datum von niemanden und nichts. Folglich kann das Datum nur ins Leben treten und wiederkehren als gespenstischer Wiedergänger dessen, was es „war". Wäre diese Möglichkeit nicht konstitutiv für jedes Datum, so wäre sein Gedenken niemals ein „Akt" (oder „Passion") der Erinnerung sondern im Gegenteil die programmierte mechanische Wiederholung kodierter Information, die irgendwie, irgendwo in einem Archiv oder einer Datenbank gespeichert ist. Um eine ab-solute Singularität zu bezeichnen, müssen Daten deshalb - zur selben Zeit und mit derselben Geste - diese Singularität annullieren: „Sie haben nur in dem Maße die Fähigkeit zu markieren, wie ihre Lesbarkeit vermag, die Möglichkeit einer Wiederkehr anzukündigen. [...] aber die gespensterhafte Wiederkehr dessen, was 28 Ebd, S. 87f. (73).

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einmalig auf der Welt ist und deshalb nicht wiederkehren kann. Ein Datum ist ein Gespenst."29 Jedes Datum beinhaltet ein Idiom, welches den Gedanken wie auch das Gedenken und den Segen herbeiruft. Hiermit weist es über sich selbst hinaus und entzieht sich, denn es bezieht sich auf ein Ereignis oder auf eine Folge von Ereignissen, die zu unterscheiden sind vom besonderen Moment seiner Einschreibung oder Unterschrift. Somit enthüllt das poetische Datum in dieser Teilung, welche wie zuvor nicht bloß äußerlich oder zufällig ist, von Beginn an eine metonymische Struktur. Jedoch hat dieser Bezug (um das Wort Referenz zu vermeiden) nur wenig gemeinsam mit jeglicher symbolischen Repräsentation oder metaphorischen Ersetzung, die immer Gefahr laufen, eine vergangene (oder zukünftige) Identität von Signifikant und Signifikat zu behaupten, und somit eine illusionäre Gleichheit der Sprache mit „ihrem Anderen" nahelegen. Der Bezug kennzeichnet im Gegenteil die Bewegung, in der sich das poetische Datum selbst verliert und die Allegorie, d. h. eine endlose dezentrierte narrative Sequenz, berührt. Insofern diese besondere Bewegung poetischer Figuren der Sprache beispielhaft für die Verschiebung philosophischer und ästhetischer Figuren im allgemeinen ist, kann man sagen: „Die Philosophie befindet sich, findet sich also wieder im Umkreis des Dichterischen, kurz in dem der Literatur. Sie findet sich dort deshalb wieder, weil die Unentschiedenheit dieser Grenze möglicherweise das ist, was sie am meisten dazu herausfordert nachzudenken."30 Was man somit in Hinsicht auf die Philosopheme sagen kann, kann genauso für die Theologeme und die ethisch-religiösen Tropen gelten. Sie sind keine Figuren des Denken, welche einer bereits existierenden Sinn-Konstellation entliehen wären, sondern im Gegenteil gespenstische Bilder fiktionalen oder sagenhaften Ursprungs. Da sie vom' Gedicht erfunden und gegen den Kanon gewendet werden, erzeugen sie in einer antinomischen Wende oder Rückkehr, welche weder eine Verwerfung noch eine reine Wiederholung ist, die Tradition neu. Derridas Kontemplation über das Datum als so etwas wie ein zeitgenössisches „Midrasch" zu Celans Text zu bezeichnen (wie es von den Herausgebern einer früheren englischen Version von Schibboleth31 vorgeschlagen wurde), scheint deshalb trivial zu sein, solange es nicht die seltsame Modalität von Zugehörigkeit und Leugnung, von Wirkungsgeschichte* und Teilung, kurz: von „Teilhabe" und „Teilung" (partage) der Tradition analysiert. Denn all die 29 Ebd., S. 42 (37); das Wort revenant (derjenige, der wiederkehrt; Gespenst) wird in Emmanuel Levinas, Autrement qu'etre ou au-delä de l'essence, Den Haag 1974, verwendet, um die Modalität der Erscheinung des Anderen wie auch die beharrliche Wiederholung des „performativen Widerspruchs" eines Diskurses anzuzeigen, der - wie der Skeptizismus - bezeichnet (oder sagt und schreibt), was nicht gesagt oder geschrieben werden kann. Vgl. H. de Vries, Theologie im pianissimo & Zwischen Rationalität und Dekonstruktion. Die Aktualität der Denkfiguren Adornos und Levinas', Kampen (Niederlande) 1989, S. 264ff. 30 Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 95 (80). 31 Vgl. die Einleitung von Geoffrey Η. Hartmann und Stanford Budick zu: Midrash and Literatur, New Häven/London 1986.

Das Schibboleth der Ethik

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Philosopheme, Theologeme, ethisch-politischen Tropen, die an uns gerichtet sind, verlieren sich nicht nur wie die dichterischen Daten im Prozeß der Affirmation, Negation oder Wiedereingliederung und -einschreibung, dem wir sie unterwerfen. Wichtiger ist, daß sie immer schon verloren waren. Es gibt keine Konfession außer der „Circonfession"i2. In genau diesem Sinn unterstreicht Derrida bei der Lektüre des Prosastücks Gespräch im Gebirg die Resonanzen des Ausdrucks „und der Juli ist kein Juli" (GW III, 170). Dieser Dialog über die Natur des Jüdischseins, über das Verhältnis zwischen der Natur und dem Juden, dessen Eigennamen, wie man sagt, „unaussprechlich" ist, weist auf, daß, was einem Juden eignet, ist, keine Eigenschaft und kein Wesen zu haben. „Jüdisch ist nicht Jüdisch." 33 Die Affirmation des Judentums in Celans (und Derridas) Texten scheint also demselben formalen Schema zu gehorchen, welches beim Datum aufgewiesen werden kann. Es enthüllt eine Verpflichtung, die weder Bewußtsein oder Akzeptanz einer Tatsache des Lebens noch umgekehrt eine willkürliche Entscheidung ist sondern eine singuläre Verantwortung für ein singuläres Schicksal, welches dem „Ich", das „ja" (oder „ja, ja") sagt und wiederholt, immer schon vorausgeht. Gleichermaßen enthüllt sich die Struktur des Gebets, des Flehens, des Segens (oder jeder anderen Geste des Glaubens) nur in der Flüchtigkeit der dichterischen Aussage, in der Beschwörung des Restes, der zu singen bleibt (der „Gesang eines Rests ohne Sein"34). Zudem notiert Derrida in einer Überlegung zu Celans Assoziationen über „Wann, wannwann, / Wahnwann, ja Wahn" (in dem Gedicht „Huhediblu"): „Und wir sind verrückt nach Daten. Nach diesen Aschen, welche die Daten sind. [...] Vielleicht [beginnt] [...] eine Religion dort, vor aller Religion, mit der Segnung der Daten, der Namen und der Überreste". 35 Daß man unüberwindbaren Problemen gegenübersteht, wenn man die genannten Philosopheme (oder Theologeme) einem bestimmten wohldefinierten Gedanken (oder religiösen Glauben) zuschreiben will, der ihrer Einschreibung vorausginge, ihren ursprünglichen Sinn erhellte und ihre vorgebliche Verschiebung in den Blick brächte, wird offensichtlich, wenn man den Blick auf das Verhältnis zwischen dem Werk Celans und dem von Denkern richtet, die ihm extrem nahe zu stehen und sich dabei zugleich in beinahe entgegengesetzte Richtungen zu bewegen scheinen. Ich werde mich hier, wie angekündigt, auf eine wichtige Parallele und einen wichtigen Kontrast zwischen Celan und Heidegger konzentrieren, die eine wesentliche wenn auch zum großen Teil implizite Rolle spielen in der Lektüre, die ich als Wegweiser gewählt habe: Derridas Schibboleth. Indem er das Datum in eine allgemeinere Überlegung über die Gabe einbezieht, folgt Derrida einem anderen Weg als Heidegger. Derridas Lektüre bedeutet eine radikale Verschiebung weg von Heideggers Analyse 32 Siehe Anm. 9. 33 Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 76 (64); Übers, verändert. 34 Ebd, S. 89 (74). 35 Ebd, S. 81f. (68).

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des Verhältnisses von Denken*

und Dichtung'.

Gewiß schreibt Celan im Brief an

Hans Bender: „Gedichte, das sind auch Geschenke - Geschenke an die Aufmerksamen. Schicksal mitführende Geschenke." ( G W III, 177f.) Aber auf welche Weise erhellt oder berührt nun der Begriff der Gabe die paradoxe Struktur des Datums, so wie wir sie rekonstruiert haben? W o wird der Unterschied zwischen Celan und Heidegger bezüglich der Gabe des Gedichts am deutlichsten sichtbar? In seinen erhellenden Bemerkungen über die singuläre zeitliche Struktur, die Diachronie, des Gedichtes von Celan erinnert Jean Greisch daran, daß Heidegger Gefahr läuft, den Widerstand des dichterischen Worts gegenüber jeglichem hermeneutischen Horizont zu praktisch tilgen, indem er den Begriff der Gabe mit dem des Datumsso

wie er in

Hölderlins H y m n e n erscheint, verschmilzt. Ich zitiere die in Frage stehende Passage (die auch in Derridas Schibboleth

zitiert wird), in der Heidegger im Hinblick auf die

erste Zeile von Hölderlins H y m n e „Der Ister" - „Jezt komme Feuer" - schreibt: „Für das J e z t ' seiner Dichtung gibt es kein kalendermäßiges Datum. Auch bedarf es hier überhaupt keines Datums. Denn dieses gerufene und selbst rufende J e z t ' ist selbst, in einem ursprünglicheren Sinne ein Datum, will sagen - ein Gegebenes, eine Gabe; gegeben nämlich durch Berufung." 3 6 U n d dennoch, meint Greisch, verpflichtet uns Celans Dichtung, in der Hölderlins ,JPallaksch, Pallaksch" wie auch die caesura oder die „gegenrhythmische

Unterbrechung*"

verschiedene Formen annehmen und immer

intensiver widerhallen 3 7 , dazu, das verwickelte Verhältnis zwischen Datum und Gabe auch oder sogar zunächst

in einem umgekehrten Sinn zu lesen. Denn anstatt den

Primat der Berufung'zu

(re-)affirmieren, wie Heidegger nahelegt, „muß die ur-

36 M. Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister", Gesamtausgabe Bd. 53, Frankfurt a.M. 1984, S. 8. Vgl. auch Derrida, Schibboleth, a. a. O., S. 14 (121). Der Passage geht eine präzise Antwort auf die Befragung des Wesens und der Zeitlichkeit des Gedichts („Was ist das - Dichten?" und „Wie kann das Dichten eine Zeit bestimmen, ein Jetzt' auszeichnen?") unmittelbar voraus. Ich zitiere die gesamte Stelle, die einen ausgiebigen Kommentar verdiente, den ich im Zusammenhang dieses Beitrags nicht leisten kann: „,Dichten' - lateinisch dictare - heißt niederschreiben, für das Niederschreiben vor-sagen. Etwas sagen, was vorher noch nicht gesagt worden. Im dichterisch Gesagten liegt daher ein eigener Beginn. Dann gäbe es so etwas wie eine der Dichtung entstammende und sie bestimmende Zeit - eine dichterische Zeit. Ihre,Zeitpunkte' lassen sich nicht nach dem Kalender festlegen - nicht,datieren'. Wir können zwar bisweilen das Jahr und den Tag, sogar die Stunde in Zahlen der Zeitrechnung angeben, da eine Dichtung ,verfaßt' und abgeschlossen wurde. Aber diese Zeitordnung des dichtenden Tuns ist nicht ohne weiteres das gleiche oder gar dasselbe, was der Zeitraum des Gedichteten ist. Überdies ist die dichterische Zeit auch jeweils wieder verschieden je nach der Wesensart der Dichtung und der Dichter. Denn jede wesentliche Dichtung dichtet ja auch das Wesen der Dichtung selbst ,neu'. Von Hölderlins Dichtung gilt dies noch in einem besonderen und einzigen Sinn. Für das Jezt' seiner Dichtung ..." (ebd.). 37 Siehe Ph. Lacoue-Labarthe, La poesie comme experience, Paris 1986. Ich zitiere aus der Übersetzung des ersten Teiles des zweiten Kapitels dieses Buches mit dem Titel „Katastrophe", in: Hamacher/Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, a. a. O., S. 31-60.

Das Schibboleth der Ethik

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sprünglich gebende Zeitlichkeit ihrerseits auf unvergeßliche ,historische' Daten verwiesen werden"38. Somit kann das Herbeirufen (das dictare), das, wie Heidegger annimmt, die Dichtung begleitet, nicht länger als Antwort auf den Ruf des Seins bestimmt werden, der auf irgendeine Weise dem Schreiben vorausgeht (als für das Niederschreiben Vor-Sageri'). Das Gedicht ist im Gegenteil zumindest „gleichzeitig" mit diesem Ruf und kommt vielleicht sogar zuerst39. Wenn letzteres tatsächlich der Fall ist, so wäre dieser „Primat" überdies fundamentaler, „ursprünglicher" als jegliche angenommene „ontische" Priorität. Es ist jedoch wichtig, die Tatsache zu unterstreichen, daß das entscheidende Adjektiv im vorliegenden Zitat („historisch") in Anführungszeichen steht. Denn was bei dieser „Referenz" des Datums* zur Datierung auf dem Spiel steht, ist eine „Zeit", die weder auf die Koordinaten irgendeiner kosmischen oder physikalischen Zeit reduziert werden noch in einer sozio-historischen Konstruktion einer Kalender-Zeit objektiviert werden kann. „Jänner", „Februar" (und „Feber") lassen verschiedene Ereignisse zugleich Wiederaufleben. Sie erinnern nicht nur an Büchners Lenz, der durch das Gebirge wanderte, sondern auch an die Wannsee-Konferenz; nicht nur an den Arbeiter-Streik in Wien sondern auch, so mutmaßt Derrida, an die Pariser Protest-Demonstrationen gegen die Grausamkeiten, die mit dem Algerien-Krieg verbunden waren. Wie der Imperativ der dritten Strophe des Gedichtes „Schibboleth" beschreibt, ist das Datum zumindest ein doppeltes, das von seinem Doppelgänger oder Zwilling* begleitet wird: „Flöte Doppelflöte der Nacht: denke der dunklen Zwillingsröte in Wien und Madrid." (GW 1,131) 40

38 Greisch, „Zeitgehöft und Anwesen", S. 180; vgl. auch S. 183. 39 Daß die Struktur des dictare sehr problematisch ist - nicht nur im philosophischen Erbe (von Sokrates bis Piaton), sondern auch im vorgeblich ursprünglicheren Geschick * des Denkens* und Dichtens*, mit dem Heidegger die philosophische Tradition zu überwinden hoffte - kann man aus den zahlreichen Analysen von „dictee" in: Die Postkarte, a. a. O. S. 25 und passim., schließen. 40 Und diese ursprüngliche oder sogar originäre Duplizität wird vom (christlichen Symbol) für die coincidentia oppositorum nicht überwunden, wie das Wort „Einhorn''" wohl nahelegen könnte: „Einhorn: / du weißt um die Steine, / du weißt um die Wasser, / komm, / ich führ dich hinweg / zu den Stimmen / von Estremadura" (GW 1,131f.). Dieser Name, von dem die letzte Strophe des Gedichts spricht, sollte auch als die Anrede an einen Eigennamen - Erich Einhorn gelesen werden, an den Freund, mit dem Celan seine revolutionären Sympathien teilte. Vgl. I. Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt a.M. 1983, S. 114.

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Über die vielfältige Interpretierbarkeit dieser kalendarischen Hinweiszeichen hinaus ist die Diachronie, von der (aus) das Gedicht spricht, eine „Kalenderlücke" ( G W II, 321), mit anderen Worten: eine Zeitlichkeit, welche nichts weniger - nichts mehr „ist" als eine Gegen-Zeit („contre-temps" 41 oder, in Celans Worten, Unzeit*42).

Wenn

man jedoch behaupten könnte, ein solcher Begriff der „Zeit" „existiere" oder mache sich „spürbar", so könnte er nicht anders als den traditionellen Begriff des nuncstans, jede denkbare Modifikation einer verweilenden Gegenwart oder ewigen Zeit wie auch deren begriffliche und figürliche Repräsentation oder Erzählung durchbrechen 43 . Zudem, und dies ist für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse, könnte man sagen, diese Unzeit „sei" von einer vollkommen anderen „Ordnung" als die ursprüngliche Zeitlichkeit, die vom Ereignis entborgen wird. Sie würde dem Ereignis der Aneignung, das nach Heidegger jegliche abgeleitete und vulgäre Zeitlichkeit ermöglichen würde und das durch Hölderlins „jezt" bezeichnet wäre (denn dies ist genau das, was in Heideggers Lektüre von „Der Ister" auf dem Spiel steht: „Das ,Jezt' nennt ein Ereignis" 4 4 ), vorausgehen, es überschreiten und sogar „sekundarisieren". Greisch skizziert die Effekte der anderen „Ordnung", der „Zeit des Anderen" von Celans Dichtung und Poetik in unmißverständlich Levinasschen Begriffen: „Die Zeit des Anderen untersagt es, stillschweigend den existierenden Bund zwischen gewissen ,Daten' und dem »Geschick' zu übergehen. Wenn die ursprüngliche' Zeitlichkeit existiert, dann kann sie solchen Daten gegenüber nicht indifferent sein." 45 An diesem 41 Greisch, „Zeitgehöft und Anwesen", a. a. O., S. 182 42 Vgl. die Gedichte „Und mit dem Buch aus Tarussa", in: Die Niemandsrose, und „Nacht", in: Sprachgitter. Werner Hamacher hat die verwickelten Resonanzen des Gegenbegriffs der Unzeit* detaillierter erforscht in einer Studie mit dem Titel DES CONTREES DES TEMPS, in: G.Ch. Tholen und M.O. Scholl (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Echtzeit und Endzeit, Weinheim 1990, S. 29-36. Die von Greisch gegebene Analyse weist jedoch in eine andere Richtung, in der sich ein grundlegender Aufsatz von Levinas (der weder bei Hamacher noch bei Greisch erwähnt wird) widerspiegelt, nämlich „La realite et son ombre", erstmals veröffentlicht in: Les Temps modernes 38, 1948, S. 771-789. In diesem frühen Text wird die „ästhetische" Erfahrung - welche an diesem Punkt der Entwicklung von Levinas noch nicht deutlich von dem unterschieden ist, was er später das Sagen (Dire) nennen wird - als Unterbrechung einer „Zwischen-Zeit" („entre-temps") gesehen. 43 So beschreibt das Gedicht „Die Posaunenstelle", das im sogenannten Zyklus der Jerusalemer Gedichte in Zeitgehöft zu finden ist, die Metonymie einer zugleich heiligen und profanen Offenbarung in Form einer Aussetzung der Zeitlichkeit wie auch der Erzählung. Die Stelle der Posaune „ist" die eines virtuellen Un-Ortes: ihr Klang ist Echo - findet statt - „tief im ... / Leertext", „im Zeitloch" (GW III, 104). Vgl. die detaillierte Analyse von S. Moses, Patterns of Negativity in Paul Celan's ,The Trumpet Place', in: S. Budick und W. Iser (Hg.), Languages of the Unsayable. The Play of Negativity in Literature and Literary Theory, New York 1989, S. 209-224. 44 Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister", a. a. Ο., S. 9. 45 Greisch, „Zeitgehöft und Anwesen", a. a. Ο., S. 180.

Das Schibboleth der Ethik

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Punkt wird deutlich, wie weit auch Derrida sich von den problematischsten und beunruhigendsten Aspekten in Heideggers Nachdenken über das Verhältnis von Datierbarkeit, ursprünglicher Zeitlichkeit und der Gabe im Licht einer massiven Interpretation der epochalen Geschichte der Onto-Theologie, Metaphysik und Technologie distanzieren wird. Die stillen „axiomatischen", „axiologischen" und „axiopoetischen"46 Voraussetzungen von Heideggers Destruktion der Geschichte wurden ausdrücklich problematisiert in „Ousia et gramme"47, „Chora" 48 , den Essays in Geschlecht49 und in De l'esprit, um die wichtigsten Texte zu nennen. Man kann mutmaßen, daß die Argumentationsstränge, die Derrida in diesen Lektüren entfaltet, nicht ohne Bedeutung für die Frage der Singularität wie den Mangel des Datums an Singularität sind. Gewiß, so meint Derrida, offenbart Heideggers Einsicht - „Die Zeitlichkeit ,ist' überhaupt kein Seiendes. Sie ist nicht, sondern zeitigt sich" 50 - , daß die Zeit, wie sie in Sein und Zeit erfragt wird, der transzendentale Horizont jeglicher plausiblen Wiederholung der Frage nach dem Sein ist. Heidegger hat auch gezeigt, daß Zeit weder als Bewegung der Folge von Dingen in der physischen Natur, d. h. als atomistische Jetztfolge* oder Jetzt-Zeit*S1, wie Aristoteles sie fassen würde, interpretiert noch auf die leere Form der (inneren) Anschauung des (transzendentalen) Subjekts - wie bei Kant und Husserl - reduziert werden darf, schließlich auch nicht als die offene Dimension gesehen werden kann, in der sich der Hegeische Geist dynamisch entfaltet. Und obwohl Heidegger sogar in überzeugender Weise gezeigt hat, daß das Problem der Zeit nicht an das der Natur oder der Seele, das von Objektivität oder Subjektivität delegiert werden kann, sind diese klassisch-modernen Koordinaten (von „außen" und „innen") wie auch die Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, dennoch - zumindest in Sein und Zeit - nur minimal verschoben worden52. Denn die bloße Unterscheidung einer ursprünglichen und einer abgeleiteten Konzeption der Zeitlichkeit, wie sie die De(kon)struktion dieser traditionellen und „vulgären" Begriffe ermöglichen sollte, setzt voraus, was sie zu demontieren versucht. Die Idee eines lapsus (eines Fallens* und Verfallens*) von einer eigentlichen in eine uneigentliche Zeidichkeit ist undenkbar ohne den Vorrang gerade des linearen Begriffs der Dauer, den sie zu überwinden trachtet, undenkbar ohne die Interpretation der Zeit als offenen, homogenen Raumes 46 Diese Begriffe werden von Derrida unter gewissen Vorbehalten verwendet in: De l'esprit. Heidegger et la question, Paris 1987, S. 23 und 32 (dt.: Vom Geist. Heidegger und die Frage, übers, von A. Garcia Düttmann, Frankfurt a.M. 1988, S.22). 47 Dt.: Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in Sein und Zeit, in: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 53-84. 48 Dt.: Chora, übers, v. H.-D. Gondek, Wien 1990. 49 Dt.: Geschlecht (Heidegger), aus d. Frz. von H.-D. Gondek, Wien 1988. 50 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 328. 51 Ebd, S. 421-423. 52 Vgl. Derrida, De l'esprit, a. a.O., S.46ff., bes. S.50f. (Vom Geist, S.41ff., bes. S. 45)

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(ein Vorhandenes*), in dem Dinge oder Ereignisse erscheinen oder in dem wir sie beherrschen bzw. berechnen. Das erklärt, warum Heidegger, indem er diesen metaphysischen Topos wiederholt - also in eine Metaphysik der Präsenz zurückfällt auch bei der Bestimmung der singulären Natur des (poetischen) Datums zu kurz greifen muß 53 . Im Unterschied zur diachronen Zeitlichkeit, wie sie sich in so vielen Gedichten Celans darstellt, wäre die vorgeblich ursprüngliche Zeit, die Heidegger in Sein und Zeit nachzeichnet, irreversibel 4. Deshalb könnte man nirgendwo in seinem Werk eine Verkehrung finden wie die, welche die folgenden Zeilen der ersten Strophe des Gedichtes „Brunnengräber im Wind" heimsucht: „Dies Jahr rauscht nicht hinüber, es stürzt den Dezember zurück, den November, es gräbt seine Wunden um" (GW II, 336) Für Heidegger könnte die Zeit, sofern sie dem Dilemma, entweder in ihrer Objektivierung verdinglicht zu werden oder in ihrer Subjektivierung zu verschwinden, entflieht, niemals zu solch einem Gespenst (oder Phantom, um Heideggers eigenen Ausdruck zu verwenden 55 ) werden. Wenn die Zeit nicht zu dem gehört, was vorhanden ist, d. h. wenn Heidegger von der Zeit schreibt, sie sei „früher als jede Subjektivität und Objektivität, weil sie die Bedingung der Möglichkeit selbst für dieses ,früher' darstellt", so bleibt dieser Primat dem untergeordnet, was (zu dieser Zeit) eine ontologische Hypothese darstellt. Die Zeit wäre in einem bestimmten Sinn „,sei ender' als jedes mögliche Seiende"56. Die hermeneutische Artikulation des ,jetzt' würde einen anderen Diskurs voraussetzen - einen, der nicht länger in den Begriffen einer astronomischen Zeit oder von kalendarischen Daten spricht sondern die Erforschung dieser abgeleiteten Weisen der Datierbarkeit in Richtung auf „die ursprünglichste Zeitangabe" 57 vorantreibt. Die andere Zeitlichkeit (die Zeit des Anderen), die sich in Celans lyrischer Dichtung der Nachkriegszeit in die Sprache eingraviert und nichts hinterläßt als eine Spur von Trauer und Asche - eher ein Schicksal* als eine großzügige 53 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. 0.,S. 407, stellt die Frage, „ob sich die Datierung faktisch mit Rücksicht auf ein kalendarisches,Datum' vollzieht", und fährt fort: „Auch ohne solche,Daten' sind die jetzt', ,dann' und damals' mehr oder minder bestimmt datiert." 54 Ebd., S. 426. 55 In einem Zusammenhang (der den Begriff des Geistes in der Lektüre Trakls in Unterwegs zur Sprache betrifft) schreibt Derrida: „Revenant [...] ist kein Wort, das Heidegger gebraucht; es würde ihm auch mißfallen, daß man es ihm aufdrängt: er würde sogleich die negativen, metaphysischen oder parapsychischen Konnotationen des Wortes ausmachen und anprangern." (Derrida, Vom Geist, a. a. O., S. 107 [De l'esprit, S. 142f.].) 56 Heidegger, Sein und Zeit, S. 419. 57 Ebd., S. 408.

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Gabe (Begriffe, die der späte Heidegger zu verschmelzen scheint) - wäre undenkbar vor dem Hintergrund eines fluoreszierenden und fließenden Gebens, in dem die eigentliche Zeitlichkeit nach Sein und Zeit verortet wird. Gewiß: Wie die Zeitlichkeit, die in der ursprünglichen Zeitangabe* enthüllt wird, ist auch die Beschneidung des poetischen Wortes nicht in der Zeit, in Raum und Geschichte zu datieren oder zu situieren. In einem bestimmten Sinn hat das Gedicht kein eigenes Datum (oder Alter), aber es „gibt dem Datum statt"58. Hiermit stellt das poetische „Datum" die Eröffnung einer jeden Geschichte des Seins wie auch ihrer aufeinanderfolgenden epochalen Interpretationen (der Philosophie, der Onto-Theologie) dar. Der Status dieser Gabe (in Celans Worten: dieses Geschenks*) des Gedichtes ist kaum derjenige der Heideggerschen Gabe des Seins {es gibt*) oder Geschicks"'. Die Verrücktheit des Datums, eher Monstrosität als Großzügigkeit, seine Eigenart, immer schon anders zu sein als es „ist", und zum Nichts(-Sein) bestimmt zu sein, „läßt keine Seinsart, keinen Sinn des Seins erkennen"59. Die Erinnerung der Daten bei Celan begründet oder feiert kein Andenken* des Seins. Celans Schritte sind hier weit davon entfernt, „heidegängerisch" (GW II, 356) zu sein. Das Gedicht, der Ort*, an dem alle Tropen und Metaphern über sich hinaus bis zum Punkt der Absurdität getrieben werden, gestattet im Gegenteil seinen Adressaten nicht länger, „dichterisch auf der Erde zu wohnen". Während die Gedichte, wie Celan fordert, das Utopische ansprechen („Sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit." [GW III, 186]), darf man diesen Begriff nicht als regulative Idee, als messianisches Telos oder als irgend eine andere eigentliche Erfahrung der Zeitlichkeit denken. Jede solche Interpretation setzt einen Zeitraum voraus, den es gilt zu (er)füllen oder sich anzueignen - im Fortschreiten oder direkt. Im letzten Kapitel seines Buches La parole heureuse hat Greisch die Demarkationslinie zwischen dem Dichter und dem Denker sogar noch schärfer gezogen: „Daß die in Frage stehenden ,Daten' für Celan gleichermaßen Gaben sind, versteht sich von selbst; im Gegensatz zu Heidegger ist das Datum aber nicht zugunsten der Gabe und der reinen Gebunj* des Ereignisses* vergessen, es ist im Gegenteil das Datum, das die Gabe bestimmt. u Ob wir diesen Formulierungen und dem Primat des Datums über die Gabe, auf den sie verweisen, zustimmen oder nicht, ist an diesem Punkt unserer Lektüre nicht entscheidend. Ich werde am Ende des Beitrags zu dieser Frage zurück58 Derrida, Schibboleth, a.a.O, S. 135 (112); Herv. H.d.V. 59 Ebd, S. 82 (68). 60 J. Greisch, La parole heureuse. Martin Heidegger entre les choses et les mots, Paris 1987, S. 345. Siehe auch Lacoue-Labarthe, Katastrophe, a. a. O., S. 53 (La poesie comme experience, S. 97): „Celan sagt wohlgemerkt nicht: die Zeit, sondern, vom Andern sprechend, das jedes Mal anders Anderes ist: dessen Zeit. Der dichterische Akt (das Gedicht) ist eine singulare Erfahrung, jedes Gespräch ist ein singuläres Gespräch. Und eben darin ist die Dichtung, auch (und gerade) wo sie denkt, vom Denken im engeren Sinn, von der Übung und Ausübung des Denkens, unterschieden."

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kehren. Hervorgehoben werden sollte an dieser Stelle jedoch, daß der Begriff des Datums wahrscheinlich weder einseitig vom Gedanken der Gabe freigelegt wird noch ihm einfach nachfolgt. Die caesura des Datums durchschneidet diese Alternative. Das Datum „ist" vielmehr „das", was umgekehrt die Gabe ermöglicht, ihr Erscheinen hervorlockt, herbeiruft und somit ihrem In-die-Anwesenheit-Kommen vorausgeht und es entbirgt. Die Folgen einer solchen Interpretation könnten weitreichend sein. Ich zitiere ein weiteres Mal Greisch: „Man kann sich offensichtlich fragen, ob diese Dialektik oder diese Spannung der Datierung und der Gebung nicht ihrerseits zu einem anderen Denken der Differenz verpflichtet, das nicht einfach in der Ubereinstimmung zwischen Ereignis* und Differenz bestünde." 61 Man sollte also auch fragen, ob die Geste des Denkens oder des sich auf das Denken Vorbereitens, ob diese Gabe nicht gerade eine solche mit eigenem Datum darstellt - immer schon datiert ist. Folglich wäre der scheinbar umfassende Charakter der Gabe (ihre Einheit oder Einfachheit) - die Behauptung, sie bekunde ein einzelnes Geschick des Seins* jenseits allen begrifflichen (lies: metaphysischen) und figürlichen (lies: ästhetischen) Zugriffs nichts anderes als eine unvermeidliche (in Kants Worten: transzendentale) Illusion. Sie wäre „nichts als" die quälende Idee, wir könnten von einer Dimension (der Gabe, dem Ereignis*), die von der fortwährenden linguistischen Verschiebung der Formen und Inhalte unserer Erfahrung vorausgesetzt wäre, reden oder gar auf sie verweisen, ohne die absolut singuläre „Performativität" dieser Anrede ipso facto zu verraten. Bisweilen scheint Derrida trotz der de-transzendentalisierenden Geste seines Textes - das heißt seines Schibboleths, für Paul Celan - zu behaupten, daß die diakritische Funktion einer solchen Anrede wie eines jeden anderen Schibboleths nur im Licht einer Situation (oder im Kontrast zu dieser) Form annehme und diesem „Sagen" des „Gesagten" einen Ort zuweise. Dieser Ort oder diese Situation wären also, ohne selbst Teil einer unterscheidbaren linguistischen Konstellation (oder reduzierbar auf sie) zu sein, die Eröffnung, in der (oder durch die?) alle pragmatischen Konventionen vorläufige und entscheidende Bedeutung erhielten: „Unter einem Ort verstehe ich ebensogut den Bezug zu einer Grenze, ein Land, ein Haus, eine Schwelle, wie auch jedwede Landschaft, jede Situation, von welcher her sich praktisch und pragmatisch die Bündnisse knüpfen, die Kontrakte, die Codes und die Konventionen sich etablieren, welche dem Bedeutungs-losen Bedeutung geben, die Losungswörter instituieren, die Sprache zu dem hinformen, was über sie hinausgeht, die aus ihr einen Gestus, eine Gebärde des Schreitens machen, sie auf eine sekundäre Ebene heben ..." 62 Es mag beinahe so scheinen, als folge Derrida unabsichtlich Heidegger darin, einem quasitranszendentalen - offenen und nicht-subjektiven - Horizont, in dessen Licht oder Schatten allein jegliche Singularität möglich (denkbar, sagbar oder „performabel") würde, einen gewissen Vorrang zuzuschreiben. Sollen wir daraus schließen, Derrida 61 Greisch, La parole heureuse, a. a. O., S. 360. 62 Derrida, Schibboleth, a.a. O., S. 63 (55).

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selbst „sekundarisiere" das Datum zugunsten eines umfassenderen Begriffs des Ortes, jeglicher Situation im allgemeinen, und schrecke somit davor zurück, deren Schibboleth auszusprechen? Dieser voreiligen Mutmaßung wird jedoch von einer anderen, weniger doppeldeutigen Aussage widersprochen, welche den unmißverständlich heideggerianischen Unterton der soeben zitierten Passage umkehrt und verschiebt. Derrida sagt nämlich über das Gedicht etwas, das für jedes Schibboleth (Philosophem, Theologem, ethisch-politische[n] Topos oder Trope) gilt: „Nun ist dieses Jenseits-derabsoluten-Einmaligkeit, also die Chance für die Ausrufung des Gedichts, nicht etwa gleichbedeutend mit der simplen Auflösung eines Datums ins Allgemeine, sondern seine Löschung angesichts eines anderen Datums." 6 3 Sicher mag der Versuch zur Formalisierung der Erfahrung einer solchen singulären Bedeutung unvermeidlich sein. Eine bestimmte minimale Abstraktion markiert den Beginn und die transzendentale Illusion allen Denkens zumindest im selben Ausmaß wie die Erfahrung einer ursprünglichen Unentscheidbarkeit. Dieser scheinbare „Transzendentalismus" könnte uns jedoch leicht vergessen lassen, daß jedweder Diskurs, über das Schibboleth der Ethik beispielsweise, auch eine zusätzliche Erwägung des transzendentalen Schematismus, der Einbildungskraft und schließlich des Gesetzes der Gattung dessen erfordert, was sich paradoxerweise jeglicher Gattung widersetzt 6 4 . Wenn überhaupt etwas, so scheint die Erfüllung dieser Aufgabe, dieser Übersetzung, dieses Übergangs oder dieser Übertragung die gesuchte „Ethik" der Ethik zu sein, die singuläre (d.h. bemerkenswerte und „einzige") Bedingung ihrer Möglichkeit. So müssen wir, wann auch immer das Datum oder das Schibboleth im Licht oder im Schatten der Gabe oder aus dem Blickwinkel eines Ortes oder einer Situation betrachtet werden, die Frage stellen: Was ist es denn, das in dieser Öffnung selbst mit einer Spur versehen, eingeschrieben, eingekerbt (und gewiß: ausgelöscht) wird ? Und wenn - zugegebenermaßen - die Frage „Was ist?" sich als unzulänglich, da überdeterminiert von einer bestimmten Metaphysik der Präsenz, herausstellt, so läßt sich dasselbe hinsichtlich einer anderen Formulierung, die auf die Anrede des Anderen (oder vielmehr auf unser Immerschon-vom-Anderen-angesprochen-Sein) verweist, nicht so einfach behaupten, der Frage nämlich: „Wer?" Derrida scheint dies zu verdeutlichen, indem er seiner Lektüre Celans eine beinahe Levinassche Wende verleiht 65 : „Das Schibboleth ist durch mich (durch mein Wort*) dem einzigartigen Anderen gegeben oder versprochen ..." 6 6 Folgen wir dieser Lektüre, so bedeutet die poetische Passage hin zu einer besonderen, beispielsweise ethischen, Tonalität weniger die immanente linguistische Verwirrung

63 Ebd., S. 24 (23). 64 Vgl. ebd., S.28(26). 65 Beinahe, denn bereits die Frage „Wer?" sollte von so vielen Vorsichtsmaßnahmen wie irgend möglich begleitet werden; vgl. J. Derrida, ,11 faut bien manger'. Entretien (avec J.-L. Nancy), in: Confrontation 20,1989, S. 91-114. 66 Derrida, Schibboleth, a.a. O., S. 129 (108).

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von Referentialität als solcher67. Gewiß jedoch können wir sie auch nicht mit dem Echo eines unzweideutigen (z.B. Kantischen) transzendentalen und in einem bestimmten Sinn transzendenten Imperativs identifizieren. Der Augenblick (moment) wie auch der Impuls (momentum) des ethischen Urteils oder der ethischen Entscheidung würde im Gegenteil immer eine „Geschichte" bezeichnen, die von philosophischen oder hermeneutischen „Kategorien" allein nicht auszuschöpfen wäre. Statt uns mit einer Theorie der Aneignung praktischer Weisheit auszustatten, statt an eine (neu interpretierte) reflexive Urteilskraft zu appellieren, verleiht uns Derridas Schibboleth einen anderen, möglicherweise angemesseneren, Blick auf die „Struktur" (oder sollten wir sagen „Striktur"68) einer singulären Sensibilität für singuläre Fälle und scheinbar zufällige Daten, die uns aufrufen, das richtige Wort auszusprechen und „das Richtige zu tun". In diesem Sinne befindet sich die Untersuchung zur Kontingenz von Entscheidung, von angemessener Urteilsfällung, von Ethik und Politik im Zentrum {im Herz[en]* [GW I, 131] oder im Herzmund* [GW I, 270]) der Dekonstruktion. Sie macht deutlich, daß eine Ethik nur in dem Maße als „Vor-Schrift*" (um einen Ausdruck aus dem Gedicht „Wirk nicht voraus" zu verwenden) fungieren kann, wie sie den Status eines Schibboleth besitzt und zur Ordnung des Undurchdringlichen (oder Unlesbaren) gehört. Insofern und solange sie vorschreibt, bleibt sie etwas Ungeschriebnesvor dem Gesetz, und steht dennoch unter der Forderung eines entscheidenden Schrittes, eines „Schrittes des (nicht) Schreibens" (pas d'ecrituref^. Übersetzt von Michael Scholl

67 Vgl. P. de Man, Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven 1979, S.206. 68 Vgl. Derrida, Die Postkarte, a. a. O., 2. Lieferung, S. 10 (278); sowie Glas, a. a. O., S. 271f., linke Spalte. 69 Im Text spricht Derrida von „ohne Geschriebenes", „ungeschrieben" und „Nicht-Geschrieben" (Derrida, Schibboleth, a.a.O., S. 12 [13]). In Die Postkarte zitiert Derrida die Anfangsstrophe des Gedichtes „Mit Brief und Uhr" aus der Sammlung Sprachgitter, „Wachs, / Ungeschriebnes zu siegeln, / das deinen Namen / erriet, / das deinen Name / verschlüsselt (GW I, 154; vgl. Derrida, Die Postkarte, a.a. Ο., 1. Lieferung, S. 242 [213], Siehe auch Schibboleth, S. 43f. [38f.])

Von der Gabe des Gedichts zur Vergebung für den Dichter? Der Sagetrieb Ezra Pounds Jean-Michel Rabate Kann man von der Dichtung ausgehen, um aus dem Werk Derridas das abzuleiten, was sie an Geheimnisvollem, an Erstaunlichem zu denken gibt? Gäbe es dort [Y aurait-il], wie zum Beispiel bei Heidegger, eine Art Privileg, das der Weissagungskraft der lyrische Rede eingeräumt wird, die aufgrund ihrer Komplizenschaft mit der Schrift ein differentielles Erzittern heraufbeschwörte, das die Philosophie sich anstrengte und erschöpfte, in den Griff zu bekommen? Von Mallarme zu Ponge, von Artaud zu Baudelaire, von Valery zu Shelley, von Jabes zu Pound würde sich quasi ein Weg quer durch eine post-romantische Tradition hindurch abzeichnen, der einerseits die großen Linien einer Praxis des Ideogramms entwerfen, andererseits jenem, so besonderen Genre die Aufgabe überlassen würde, eine besondere Gabe zu bewerkstelligen: Die Gabe des Gedichts als Zueignung gibt tatsächlich „une lettre ä manger", „einen Buchstaben zum Verzehr", in der Form einer Einverleibung, welche die Literalität des Buchstabens zur Sprache bringt. Nicht zufällig ist der Name Pounds gefallen, insofern er in der Grammatologie zitiert wird, im Zusammenhang mit dem fesselnden Essai Fenollosas über das chinesische Ideogramm als Poetik betrachtet, und sein Name erscheint sogleich als der des Autors einer der gelungensten Versuche, eine graphische Poetik begründen zu wollen, welche mit der abendländischen Tradition bricht. Und dies in einem Kontext, in dem es darum geht, die Bedingungen der Möglichkeit einer Grammatologie zu verifizieren, die als „positive Wissenschaft" konzipiert ist - eine, strenggenommen, fast unmögliche Wissenschaft, da sie von vornherein jede Art von Positivismus, jede Positivität eines Ereignisses, das auf die Manifestation einer Bedeutung oder ihres Seins reduziert wäre, verwirft. „Es ist durchaus einsichtig, daß der Durchbruch von der Seite der Literatur und der Poetik sicherer und tiefdringender war; verständlich auch, daß er als erstes, wie bei Nietzsche zu sehen ist, die transzendentale Autorität und die beherrschende Kategorie der episteme - das Sein - angriff und ins Wanken brachte. In diesem Sinne arbeitete Fenollosa, dessen Einfluß auf Ezra Pounds Poetik hinreichend bekannt ist. Pounds unabdingbar graphische Poetik brach, zusammen mit der Stephan

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Jean-Michel Rabate Mallarmes, zum ersten Mal mit den Grundfesten der abendländischen Tradition. Erst in diesem Kontext wird die Faszination, die das chinesische Ideogramm auf Pound ausübte, in ihrer historischen Reichweite verständlich."1

Im Sinne der grammatologischen Lektüre Derridas schließt Pound mit der Verwerfung des Logozentrismus an Mallarme an, indem er die Betrachtungen des Coup de des [Würfelwurf] über das Weiße2 und die Verräumlichung der Schrift durch eine historische Verschiebung, eine konzertierte Dezentrierung, hin zu einem sicherlich imaginären Orient vollzieht - imaginär, da sich, wie alle Linguisten bestätigen, die Theorie Fenollosas nur um den Preis einer groben Vereinfachung des Schriftsystems der chinesischen Sprache entfaltet (Fenollosa legt nahe, daß alle Ideogramme Piktogramme sind, was nur für eine Minorität unter ihnen stimmt, denn die Mehrheit der Ideogramme ist aus einem phonetischen Anteil zusammengesetzt, der an einen Stamm gebunden ist, dessen Etymologie nicht unbedingt visuell sein muß). Wichtig ist hierbei weniger die „positive" Wahrhaftigkeit der Theorie, als die Aufbrüche, die sie Pounds eigenem poetischen Schreiben erlaubt hat. Man kann andererseits (jedoch) nicht ignorieren, was der dezentrierende Gestus Pounds im übrigen an politisch Verdächtigem in sich trug, da die Entdeckung des Ideogrammes für ihn sogleich mit der Vervollkommnung eines ideologischen Systems einherging, das vom Denken Konfuzius' beherrscht war - eines Konfuzius, der in den dreißiger Jahren die moralische Kaution für die Politik Mussolinis (bereit)stellte. Und das erste Auftauchen der Ideogramme selbst in den Cantos ist zeitgleich mit einer elliptischen und historischen Schreibweise, welche der berühmten „ideogrammatischen Methode", die noch die Grundlage der Objekt-Symbole der ersten Cantos bildet, nur wenig schuldet3. Derridas Bemerkung über die „historische Reichweite" des Gestus Pounds erhält wenn auch verschüttet von unvermeidbaren Verblendungen und Widersprüchen ihre ganze Wirkkraft allein dadurch, daß man das Ereignis verfolgt, das im „Herzen" des großen epischen Gedichts, das die Cantos darstellen, Gestalt annimmt: Die Niederlage Italiens, die Erschießung des Duce, das Scheitern des faschistischen Traumes und die Inhaftierung in einem Gefangenenlager nahe bei Pisa lösen im poetischen Tagebuch, das die Pisaner Cantos darstellen, einen zweiten Bruch mit den Ausgangsthesen aus. Sie bringen den Dichter dazu, in systematischer Weise Schrift und aktive Erinnerung zu vermischen, so daß Pound schließlich über die Spur nachdenkt, nicht 1 J. Derrida, Grammatologie, übers, von H.-J. Rheinberger und H. Zischler, Frankfurt a.M. 1974, S. 166-167. Vgl auch den Text von Fenollosa (Das chinesische Schriftzeichen als Organ für die Dichtung) in: Ezra Pound - Ernest Fenellosa - Serge Eisenstein, No - Vom Genius Japans, übers, von W.L. Fischer, Zürich 1963, S. 223-261. 2 A. d. Ü.: Im Original: le blanc, auch im Sinne von „Leerstelle", „Lücke" zu verstehen. 3 Vgl. hierzu auch E. Hesse, Ezra Pound: Von Sinn und Wahnsinn, München 1978, und J.-M. Rabate, Language, Sexuality and Ideology in Ezra Pound's Cantos, London 1986.

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nur über diejenige seines Schreibens, sondern über diejenige aller Einschreibung historischer Ereignisse in ihm: Als er sich dann am Rande des Todes sieht, wie Villon (dem er eine Oper gewidmet hatte) sein Testament redigierend, muß er nur die Spuren der vergangenen Ereignisse reaktivieren: „Ed ascoltando al leggier mormorio trat neue Bezauberung von Augen in mein Zelt, ob geistig oder gegenständlich, doch was die Augenbinde birgt oder im Karneval und kein Paar zeigte Zorn Sah nur die Augen und die Augenstellung, Farbe, Diastase, unachtsam oder achtlos, daß es nicht das ganze Zelt einnahm auch war nicht Raum dort für den vollen Eidos durchdringen, ineinanderdrängen das erst jenseits der andern Lichter Schatten wirft Himmelslicht Meer der Nacht Grün des Bergsees strahlt aus maskenlosen Augen im Halbmasken-Abstand. Was du innig liebst, ist beständig, Der Rest ist Schlacke Was du innig liebst wird dir nicht weggerafft Was du innig liebst ist dein wahres Erbe Wessen Welt? Meine? Ihre? Oder ist sie von niemand? Erst kam Erblicktes, also das tastbare Elysium, obwohl in Vorhallen der Hölle, Was du innig liebst ist dein wahres Erbe Was du innig liebst wird dir nicht weggerafft

Die Ameise ist Kentaur in ihrer Drachenwelt. Laß ab von Eitelkeit, nicht schuf der Mensch Den Mut, schuf Ordnung oder Schönheit, Laß ab von Eitelkeit, sag ich, laß ab. Lerne von grüner Welt erkennen wo dein wahres Maß

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An Erfindungsgabe oder rechtem Können, Laß ab von Eitelkeit, Paquin, laß ab! Der grüne Grashelm hat dich ausgestochen."4 Diese ergreifende Passage aus den Pisaner Cantos geht zurück auf eine Übersetzung des Canzone de Cavalcanti, in dem die vom Sehen abgeleitete Liebe (durch ein Wortspiel, das Eros mit „vois" [sieh], oras verbindet, und das man schon bei Plotin findet) erzeugt wird durch eine Vision, welche so viele materiellen Spuren in einem Herzen hinterläßt, das gleichsam zu einem wahrhaftigen Aufzeichnungsraum wird. Der von Pound gebrauchte Ausdruck des „that formed trace in his mind" wird in den folgenden Cantos wie ein Leitmotiv wieder aufgenommen. Hier nun der Kontext des Canto XXXYI, das sich wie eine Ubersetzung von Cavalcanti liest: „Sie lenkt das Auge auf die inn-gewordene Spur, Dann, voll Aufruhr, schlägts aus in lichter Glut. (Nur der, der weiß, wie's tut, macht sich ein Bild.) Sie selber holt, kraft ihrer Stille, zu sich alles herein Und läßt weder ein auf eitel Wohlsein, Noch ist erpicht auf Einsicht Irgendeiner Art, ob groß, ob klein."5 Es ist erstaunlich festzustellen, daß dieselbe Entwicklung hin zu einem „Herzen" als Sammelbecken von Spuren sich auch im Werk Derridas bemerken läßt. In einem kurzen, erst kürzlich erschienenen Text, der die Frage „Was ist Dichtung?" zu beantworten sucht, bringt er die Idee vor, daß sich die Dichtung von den anderen literarischen Weisen allein durch eine Aufforderung [injonction] unterscheidet, einem fundamentalen Wunsch des „donner ä apprendre par coeur" [etwas „von Herzen" zu lernen geben6]. Der Text Derridas stellt diese These - die, so könnte es scheinen, bei oberflächlicher Lektüre an einen unverfrorenen [ehonte] Logozentrismus wiederanknüpft - nicht ohne etwas Hintersinn und Umsicht auf. Ich zitiere die Prosopoeia [Personifizierung] der Dichtung selbst, welche Folgendes spricht: „Ich folge einem Diktat, ich bin ein Diktat, als Diktat bin ich eins, verkündet die Dichtung, lerne mich auswendig (apprends moi par coeur), schreibe mich (ins 4 Ezra Pound Lesebuch, Dichtung und Prosa, hg. von E. Hesse, Zürich 1985, S. 161. 5 Ebd., S. 162. 6 Auswendig [A. d. Ü.: apprendre par coeur wird im Deutschen mit „auswendig lernen" übersetzt] hat hier nicht den gewünschten Widerhall, den man im Englischen mit by heart erhält.

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Reine), wache bei mir und schütze mich, sieh mich an, diktiert, als Diktat, vor deinen Augen: Tonspur, wake, Lichtschweif, Photographie der Feier, die trauert."7 Die Dichtung wird sich zunächst der „Poetik" beugen, was die Umbesetzung des Genres hin zu einer spezifischen „Erfahrung" ermöglicht - und Derrida denkt hier sicherlich an das schöne Buch von Philippe Lacoue-Labarthe, Die Dichtung als Erfahrung und an dessen Bemerkungen zu Celan8 - die Erfahrung eines Voranschreitens und eines Uberschreitens, dem der Vers - ob monosyllabischer oder biblischer Vers - Gestalt verleiht, denn die Welle ungleicher oder gleicher Länge bricht sich immer über derselben Mauer des Schweigens: „das zufällige Unterwandern eines Wegs, einer Strecke, die Strophe, die kreist und dennoch nie zu einem Diskurs zurückführt, auch zu sich selbst nicht, nie zumindest schränkt sie sich auf die Dichtung ein - sei es auf die niedergeschriebene, die gesprochene oder gar die gesungene."9 Von einem mündlichen (Er)Lernen des poetischen Textes zu sprechen, der, selbst in dem, was er besingt, die irreduzible Räumlichkeit eines Auf-der-Stelle-Drehens, einer Rückkehr zum Anderen heraufbeschwört, setzt einen verstärkten Bezug zum Ereignis voraus. Das Ereignis ist nicht nur der präzise Kontext, der das Gedicht umschlingt, und der ihm manchmal - wie es bei bestimmten, in Schibboleth kommentierten Texten Celans der Fall ist - seinen ganzen Sinn zu verleihen scheint. Es ist die Einzigartigkeit einer persönlichen Gabe. Denn wenn sich die Dichtung an die Erinnerung in der ihr eigenen Ordnung, dem aus dem Herz herrührenden Pathos richtet, so „gibt" [erschließt] sich diese Erinnerung mir, wie wenn sie aus mir und für mich käme: „Fabel, die du erzählen könntest, als wäre sie die Gabe des Gedichts; es handelt sich um eine emblematische Geschichte: Jemand schreibt dir, an dich, von dir, über dich. Nein, eine an dich gerichtete, dir überlassene, dir anvertraute Markierung wird von einer Weisung begleitet; in Wahrheit richtet sie (sich in) jene(r) Ordnung ein, die dich konstituiert, die dir deinen Ursprung zuweist, die dich hervorbringt und dir einen Ort, einen Aufenthalt gewährt: Zerstöre mich, oder vielmehr verhalte dich so, daß meine Unterstützung, daß die Grundlage, die Unterlage, die ich dir liefere, daraußen in der Welt unsichtbar werden (das ist schon ein Zug aller Auflösungen, aller Trennungen, die Geschichte der Transzendenzen); bewirke in jedem Fall, daß die Herkunft der Markierung in Zukunft unkenntlich ist und sich nicht ausfindig machen läßt; versprich es: Sie soll entstellen, verklären, mit Un7 J. Derrida, Was ist Dichtung?, übers, von A. Garcia Djittmann, Berlin 1990, ohne Seitenangabe. 8 Vgl. Ph. Lacoue-Labarthe, La poesie comme experience, Paris 1986. 9 Derrida, Was ist Dichtung?, a. a. O., ohne Seitenangabe.

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Jean-Michel Rabate bestimmtheit schlagen (lassen), und zwar in ihrem Hafen (en son port): darunter wirst du sowohl das Ufer der Abreise als auch den Referenten, dem die Ubertragung sich zuträgt, verstehen. Verzehre, trinke, verschlinge meinen Buchstaben (meinen Brief), trage ihn, transportiere ihn in dir wie das Gesetz einer Schrift, die zu deinem Körper geworden ist: die Schrift an - in sieb."10

Nach der Vorstellung Pounds ist der poetische Traum derjenige einer einmaligen und einzigartigen Schrift, und dennoch wiederholbar, da (selbst) schon Wiederholung einer Wiederholung, die sich direkt in den Körper einschreibt, in das, was der Körper an Intimstem in sich trägt, das Herz. In diesem Sinne würde sich das Dichterische von einer gewissen, der Literatur eigenen Idealität absetzen. Man weiß, daß die erste Arbeit Derridas in einem Projekt zur phänomenologischen Untersuchung über die „Idealität des literarischen Objekts" bestand. Die Dichtung wäre weniger „Literatur" als Rhythmus und Ereignis, Diktat eines Auswurfs von Literalität. „Buchstäblich [Litteralement]: Du möchtest (von Herzen) eine absolut einzigartige Form auswendiglernen und behalten können, ein Ereignis, dessen unberührbare Besonderheit die Idealität, den idealen Sinn, wie man sagt, nicht mehr vom Körper des Buchstabens trennt. Der Wunsch nach dieser absoluten Nicht-Trennung, das nicht-absolute Absolute, das absolute Nicht-Absolute; darin atmest du den Ursprung des Dichterischen."11 Und Derrida ersinnt das Gleichnis eines Gedichts, das wie ein Igel auf eine Autobahn geworfen wäre, wobei jedem Autofahrer freigestellt ist, ihn zu überfahren oder zu verschonen, ihn mit Vorsicht aufzunehmen, so sehr er sich verteidigt, zur Kugel eingerollt in seine Stacheln. Diese nicht rückführbare Eigentümlichkeit wäre zum Beispiel das, was Pound dazu führt, Paquin, diese berühmte Pariser Schneiderin der „Belle epoque", deren Name sich zudem auf „fauquin" reimt, zu beschimpfen, in der Absicht, ein herabsetzendes Adjektiv in Erinnerung zu rufen, wie „coquin" [Schurke, Spitzbube] oder „maraud" [Schlingel, Bengel, Schuft]. In seinem „Buch der Spuren", so bevölkert von einzelnen und fast unverständlichen Erinnerungen, insofern sie die Gestalt der tausend Leiden des von New York nach London, dann von Paris nach Rapallo und nach Pisa ausgewanderten Dichters annehmen, war sich Pound wohl bewußt, daß er sich vorgewagt hatte, zwischen das Unvergeßliche und das Unverzeihliche - und zwar in dem Maße, wie er tatsächlich eine mündliche Tradition wiederbelebt hat, er allein, dank der beharrlichen Bemühungen seiner Poetik, aber auch in dem Maße, wie er die Entgleisungen dieses Jahrhunderts unmittelbar nachgeahmt hat, indem er in die Falle des Antisemitismus, des 10 Ebd., ohne Seitenangabe. 11 Ebd., ohne Seitenangabe.

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Faschismus, der fanatischen Denunziation einer „Usura", eines Wuchers ging, der von den Juden selbst als Mißachtung der jüdischen Gesetzgebung erkannt wurde. Aus diesem Grunde vollendet er den grandiosen rhetorischen Aufschwung dadurch, daß er die vorher zitierte Passage nicht mit einem Eingeständnis, und keineswegs der Bescheidenheit, sondern mit dem Ausdruck eines rechtmäßigen Stolzes beendet: „Doch daß man tat, statt nichts zu tun dies ist nicht Eitelkeit Mit Anstand an die Tür gepocht zu haben Daß ein Blunt sie öffne Zu lesen aus der Luft lebendige Uberliefrung und aus dem Greisenaug die unbesiegte Flamme Dies ist nicht Eitelkeit. Der Fehler liegt im Nicht-tun U n d in dem Kleinmut, der nichts wagte [...]" 12 Auch u m auf seine langjährige Idee zurückzukommen, den Tempel wieder zu errichten: denjenigen von Malatesta in Rimini natürlich, aber auch den Tempel von Jerusalem, der die Gebote aufrecht erhielt, die der wahrhaften ökonomischen Gerechtigkeit Gestalt verleihen: „Sodaß in der Synagoge von Gibraltar der Sinn f ü r H u m o r anscheinend die Oberhand hatte während der Einleitung zum Dingsbums doch respektieren sie immerhin die Thorarollen durch Gesetz, nach Gesetz, Erlösung ä $ 8,50, ä $ 8,67 kaufe den Acker mit dargewogenem Geld nicht unrecht handeln mit der Elle, mit Maß [von Preisen] und die Christen brauchen gar nicht so tun, als hätten sie Levitikus geschrieben vor allem Kapitel X I X Zion mit Recht nicht dadurch, daß man D o n Fulano u m den Augenzahn neppt oder Caio e Tizio; Warum es nicht wieder errichten?" 1 3

12 Ezra Pound Lesebuch, a. a. O., S. 162. 13 E. Pound, Pisaner Cantos, LXXIV-LXXXIV, hg. von E. Hesse, Zürich 31985, S.63.

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Diese letzte Aufforderung („Warum nicht den Tempel von Zion wieder errichten?") mag in Anbetracht dessen, was ich in bezug auf den Antisemitismus Pounds gesagt habe, paradox erscheinen. Weil er gleichzeitig das Konzept eines einzigen und eifersüchtigen Gottes, für ihn die wahrhafte Antizipation des kapitalistischen Wucherers, mit dem Heiligen auf der Erdoberfläche bekämpfen mußte und den Sinn eines ethischen Fundaments zu durchdringen suchte, das ohne das Gesetz undenkbar ist. Dieses Gesetz, das die Wahrheit der Ökonomie in Worte fassen (das gerechte Verhältnis der Preise, ohne Ausbeutung noch Verlust) und folglich den Gesellschaftskörper begründen sollte, ist auch - wie man sich gedacht haben wird - das Gesetz, das die poetische Gabe beherrscht. Denn wer auch immer in sich die (ge)rechten Rhythmen der unfreiwillig(erweise) auswendig gelernten Erinnerungen wiedererklingen läßt, wird aufmerksam werden auf diese Wahrheit der Zeit, wird in sich die Zeit als reine Schenkung erklingen hören. Pound wird den Begriff des Sagetriebs erfinden, um einen solchen Antrieb zum poetischen Sagen [Dire] zu definieren. Aber er kann das ethische Gesetz der Schenkung von Zeit mit der polytheistischen Ahnung von der Rückkehr der Götter auf Erden nur auf dem Wege eines wahrhaftigen Widerrufs [Palinodie], einer Selbstkritik versöhnen, die am Rande des Schweigens innehält: „Die Höllen laufen zyklisch um, kein Mensch kann sein Ende absehen. Die Götter kehrten nicht wieder. ,Sie haben uns nie verlassen.' Sie kehrten nicht wieder." 14 Die letzten Fragmente der Cantos vollbringen diesen äußersten Aufschrei der Stimme, die sich in Text und Buchstaben verwandelt - um den Preis der Lesbarkeit: chih und kein chih da ist und keine Wurzel Bunting und Upward übergangen, wer immer gegen den Stachel gelockt, totgeschwiegen, Aus dem Wrack und Ruin der Zeit geborgen, diese Fragmente wieder mein Scheitern aufgedämmt, und die Sonne

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neu mit dem neuen Tag." Die Mallarmesche „Gabe des Gedichts", die dem Hörer eine zu hütende Erbschaft anvertraut, würde also hinführen zu einer unmöglichen „Vergebung", die die Gabe 14 E. Pound, Letzte Texte, hg. und übertr. von E. Hesse, Zürich 1975, S.23.

Von der Gabe des Gedichts zur Vergebung für den Dichter? gleichzeitig widerruft und widmet - denn to forgive, vergeben, reimt sich im Englischen auf to give, geben, aber auch auf to forget, vergessen: „Let the Gods forgive what I have made Let those I love try to forgive what I have made." (Canto CXX), oder in der Version von Eva Hesse: "Ich versuchte, ein Paradiso zu schreiben Rühre dich nicht Laß den Wind reden so ist das Paradies. Laß die Götter mir nachsehn, was ich hervorgebracht

Laß die, die ich liebe, mir nachsehn was ich hervorgebracht." 15 Ich werde die inneren Widersprüche und grundlegenden Ambiguitäten Pounds nicht kommentieren; es soll in diesem Zusammenhang genügen, eine Diagnostik festzuhalten, die er vom europäischen Denken im allgemeinen liefert - in seiner Allgemeinheit, die künstlich und gefährlich ist, gerade weil sie einen Glauben an die allgemeinen Ideen enthält - , vor allem, insofern Europa sich bis an die Grenzen Amerikas wagt, und wieder zurückkehrt zu einem Deutschland, in dem die Quellen transzendentalen Denkens sich nicht von einer Besorgnis um das Vaterland lösen können. Nicht umsonst zitiert Pound „In meiner Heimat" im folgenden Fragment in deutscher Sprache: „Die Wissenschaftler packt das Grauen und das europäische Denken steht still Wyndham Lewis wählte Blindheit auf daß sein Verstand nicht still stünde. Nacht unterm Wind in den Nelken, die Nelkenrüschen fast reglos Mozart, Linnaeus, Sulmona, 15 Pound, Letzte Texte, a. a. O., S.47.

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Jean-Michel Rabati Wenn unsere Freunde aneinander geraten wie soll da Frieden sein auf der Welt? Ihre Ausfälligkeiten erheiterten mich in meiner grünen Zeit. Eine Spelze, die's umtreibt, nicht mehr doch das Licht singt allewege ein Wetterleuchten über den Marschen wo der Strandhafer zur Flutwelle zischelt Zeit, Raum, weder Leben noch Tod ist die Lösung. Und der Mensch, aufs Gute bedacht, der das Böse bewirkt. ,In meiner Heimat' wo die Toten gewandelt sind und die Liebenden aus Pappmache waren." 16

Kann man, muß man Ezra Pound vergeben? Vielleicht läßt sich auf diese Frage nur in poetischer Form eine Antwort geben 17 . Ich wollte und konnte nicht mit einer wesentlichen Frage schließen: Weder die Gabe, noch die Poetik sind auf Fragen rückführbar, die sich in der Form von „Was ist x?" stellen lassen. In diesem Sinne weist Derrida zum Schluß seines der Dichtung gewidmeten Essais auf sie hin: „,Was ist...?' beweint das Verschwinden des Gedichts - eine andere Katastrophe. Indem sie das, was so ist, wie es ist, ankündigt, begrüßt eine Frage die Geburt der Prosa." 18 Aus dem Französischen von Lisa Müller

16 Ebd., S.35. 17 Ich habe eine solche in dem Gedicht „Lethiques" versucht zu geben (vgl.: Le Chat Messager Nr. 6, „L'Oubli", Montpellier 1990, S. 21-23). 18 Derrida, Was ist Dichtung?, a. a. O., ohne Seitenangabe.

II. Ethik des Tausches: Von der Gabe zur Verausgabung

Wenn es Gabe gibt - oder: „Das falsche Geldstück" 1 Jacques Derrida

„Während wir uns von dem Tabakladen entfernten, begann mein Freund, die verschiedenen Münzsorten seines Geldes sorgfältig zu sondern; die kleinen Goldstücke wanderten in die linke, die kleinen Silberstücke in die rechte Westentasche, in die linke Hosentasche ließ er eine größere Menge Kupfermünzen gleiten, und in die rechte endlich ein silbernes Zweifrankenstück, das er einer besonderen Prüfung unterzogen hatte. ,Was für eine wunderliche umständliche Art, sein Geld auf sich zu verteilen', sprach ich bei mir selbst. Wir begegneten einem Armen, der uns zitternd seine Mütze hinhielt. - Ich kenne nichts Quälenderes als die stumme Beredsamkeit dieser flehenden Augen, aus denen für den fühlenden Menschen, der darin zu lesen versteht, soviel Demut und zugleich so viele Vorwürfe sprechen. Er gewahrt dort etwas, das an Έ ε ί ε der vieldeutigen Empfindung nahekommt, wie sie in den tränenden Augen geschlagener Hunde liegt. Die Spende meines Freundes war sehr viel ansehnlicher als die meine, und ich sagte zu ihm: ,Nächst dem Vergnügen, sich überraschen zu lassen, gibt es kein größeres, als einem anderen eine Überraschung zu bereiten.' - ,Es war das falsche Geldstück', antwortete er gelassen, als wollte er seine Freigebigkeit rechtfertigen. In meinem elenden Gehirn aber, das immer damit beschäftigt ist, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen (welche beschwerliche Gabe hat die Natur mir da verliehen!), entstand alsbald die Vorstellung, ein solches Verhalten meines Freundes sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, in dem Leben dieses armen Teufels ein Ereignis zu schaffen, vielleicht gar die verschiedenen möglichen Folgen zum Schlimmen oder Guten festzustellen, die ein falsches Geldstück in der Hand eines Bettlers nach sich ziehen kann. Konnte es sich nicht in echten Geldstücken 1 A. d. U.: Der Vortrag Derridas in Royaumont vom 8.12.1990 ist wiederaufgenommen in: Donner le temps. 1. Lafausse monnaie, Paris 1991 (Zeit geben, dt. Ubers, vorauss. München 1993). Derrida setzt darin die Problematik fort, die er in seinem Kasseler Vortrag (vgl.: Die Zeit (der Ubersetzung) geben, protokolliert von E. Weber, in: Zeit-Zeichen, hg. v. Ch.G. Tholen und M.O. Scholl, Weinheim 1990) eröffnet hat.

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Jacques Derrida vervielfältigen? Konnte es ihn nicht auch ins Gefängnis bringen? Ein Schankwirt, ein Bäcker etwa würden ihn vielleicht als Falschmünzer oder als jemand, der Falschgeld verbreitet, verhaften lassen? Ebensogut aber könnte das falsche Geldstück für einen armen kleinen Spekulanten zum Grundstock eines kurzfristigen Reichtums werden. Und so ließ ich meiner Phantasie die Zügel schießen, lieh meinem Freunde Geistesflügel und zog alle nur denkbaren Schlüsse aus allen nur denkbaren Hypothesen. Jäh aber unterbrach mein Freund mich in meinem Sinnieren, und meine eigenen Worte aufgreifend, sagte er: J a , Sie haben recht; es gibt kein süßeres Vergnügen, als einen Menschen dadurch zu überraschen, daß man ihm mehr gibt, als er erwartet.' Ich blickte ihm tief in die Augen, und sah mit Entsetzen, daß seine Augen von unbestreitbarer Treuherzigkeit leuchteten. Da erkannte ich denn, daß er zugleich ein Almosen geben und ein gutes Geschäft machen wollte; zwanzig Groschen und Gottes Herz dazu gewinnen, das Paradies erknausern und zuletzt noch kostenlos als ein Wohltäter dastehen wollte. Ich war fast bereit gewesen, ihm das Verlangen nach dem verbrecherischen Vergnügen zu verzeihen, dessen ich ihn soeben für fähig gehalten hatte; ich hätte es merkwürdig, seltsam gefunden, daß er sich einen Spaß daraus machte, den Armen Ungelegenheiten zu bereiten; aber seine törichte Berechnung werde ich ihm nie verzeihen. Man ist niemals entschuldbar, wenn man böse ist, aber es liegt ein gewisses Verdienst darin, zu wissen, daß man es ist; und es ist das ärgste von allen unheilbaren Lastern, das Böse aus Dummheit zu begehen."2

Was ist also Falschgeld 3 ? Wann gibt es [y a-t-il] Falschgeld? Wann gibt man [donne-t-on] Falschgeld? Und was wird, unter diesem Titel: Das falsche Geldstück, gegeben? Das Falschgeld soll für echtes Geld genommen werden und soll sich daher für ordentlich gemünztes [titree]4 Geld geben.

2 A. d. Ü.: Ch. Baudelaire, Das falsche Geldstück ( L a f a u s s e monnaie, in: Le spieen de Paris Petits poemes en prose, Oeuvres completes, hg. von C . Pichois, Bd. I, Paris 1975, S. 323), dt. von F. Kemp, in: Sämtliche Werke/Briefe, hg. von F. Kemp und C . Pichois, Bd. 8, München 1985, S. 221/223. Im folgenden wird nach dieser Ubersetzung zitiert, die nur in bestimmten Kontexten abgewandelt wird. 3 A. d. U.: In dem französischen Ausdruck lafausse monnaie oszilliert monnaie zwischen den Bedeutungen „ G e l d " im allgemeinen und „Münze, Geldstück" im besonderen (auch in der Bedeutung von „Kleingeld, Wechselgeld"). Im Folgenden wird die ausdrückliche Zitierung des Titels von Baudelaires Erzählung nach der Ubersetzung von Kemp mit „das falsche Geldstück" wiedergegeben, während sonst von „Falschgeld" die Rede ist. 4 A. d. Ü.: Das französische Verb titrer leitet sich in dieser Verwendung von der übertragenen Bedeutung des Substantivs titre her, das nicht nur „Titel" (im Sinne von Überschrift und Name), „Dokument" oder „Anrecht", sondern auch den Feingehalt an Edelmetallen in Münzen bezeichnet. So spricht man v o m titre des monnaies als dem „Münzfuß" und in der Chemie vom „Titrieren" als Bestimmen des Grades einer Legierung oder einer Mischung.

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Über Baudelaires Meisterwerk, diese sehr kurze „Erzählung", die den Titel Das falsche Geldstück trägt, ist damit noch wenig gesagt. Wir haben in diesen Vorlesungen über „Zeit geben"5 von Anfang an mit ihrer Hilfe viel Zeit gewonnen [temporise], und wir werden sie ein weiteres Mal lesen. Wir werden sie beim Wort nehmen, und ich möchte beinahe sagen, Wort für Wort. Zunächst [d'abord] werde ich schlicht das Naheliegendste, die Umrandungen [bordures] streifen, das, was sich als Rahmen, als System von Rändern, von Marginalitäten, von Grenzen ergibt, denjenigen einer Erzählung, die in vielen Zügen Poes Der gestohlene Brief ähnelt6. Unter all diesen Zügen der Umrandung und der Einrahmung gibt es, noch vor dem ersten Wort, den Titel. Der Titel, dessen Struktur äußerst komplex ist, lautet: „Das falsche Geldstück". Als Titel bildet er keinen Satz, sagt er nicht, worauf er sich bezieht, und sein referentieller Zug, auch sein Referent, bleibt relativ unbestimmt. Die referentielle Struktur eines Titels/Gehalts7 ist immer sehr verwickelt. Es versteht sich hier im konventionellen Sinne, daß der Titel nicht zur Erzählung gehört. Er stellt kein Element der Erzählung dar, die folgt. Er gehört nicht zu denjenigen Sätzen, die der Erzähler zum Ausdruck bringt. Die ganze Erzählung ist angesiedelt in der Stimme eines Erzählers, der ich sagt. Dieses ich nimmt teil an dem, was es erzählt. Indem es darin eine Rolle spielt, schreibt es sich darin ein, engagiert es sich darin, bindet es sich darin und verschuldet sich durch einen Freundschaftsbund (es sagt stets: „mein Freund") mit der anderen Person, das heißt derjenigen, die Falschgeld für echtes ausgibt. Aber der Erzähler ist selbstverständlich nicht Baudelaire, und es versteht sich von selbst, entsprechend der Konvention, daß der Titel nicht zum erzählerischen Diskurs gehört. Der Erzähler ist nicht dessen Autor. Der Autor ist Baudelaire, der als real angenommene Autor, der Autor des Buches. Damit ist keineswegs gesagt, daß der Titel, der nicht zur erzählerischen Fiktion gehört, im erzählerischen Moment der Fiktion 5 A. d. Ü.: Das Buch Donner le temps gibt den Text von vier Vorlesungen wieder, die auf ein Seminar von 1977/78 zurückgreifen und 1991 an der Universität von Chicago gehalten wurden. 6 Bezüglich des Titels wie generell der Schwelle und der Umrandungen des Textes erlauben wir uns noch, auf frühere Texte zu verweisen, vor allem auf: La verite en peinture [Paris 1987, dt.: Die Wahrheit in der Malerei, übers, von M. Wetzel, Wien 1992], La carte postale [Paris 1980, dt.: Die Postkarte, übers, von H.-J. Metzger, 1. Lieferung, Berlin 1982, 2. Lieferung, Berlin 1987] (insbesondere „Der Facteur der Wahrheit"), Parages [Gefilde, Paris 1986], Prejuges - devant la loi [Vorverurteilt - vor dem Gesetz], in: La faculte de juger [Die Urteilskraft], Paris 1985. Was die mehr begrenzte, aber bedeutsame Analogie zwischen Das falsche Geldstück und Der gestohlene Brief anbelangt, und zwar genau im Verhältnis zur Gabe, so werden wir darauf mehrmals zurückkommen. Aber halten wir schon jetzt eine Koinzidenz fest, von der man denken mag, daß sie Poe „würdig" sei, wenn immer sich das von einer Koinzidenz sagen läßt: „The purloined letter" wurde erstmals in einer Zeitschrift veröffentlicht, deren Name [titre] schlicht Gift lautete. 7 A. d. Ü.: Im Sinne der monetären Legierung von Münzen.

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Jacques Derrida

jeglicher Fiktion fremd sei. Er ist ebenfalls fiktiv, vom Autor frei gewählt, erfunden. (Die Verleger denken, daß der reale Autor bei seinen Titeln, die einen Teil des Buches oder der Novelle ausmachen, die Wahl habe, selbst wenn der Titel kein integrales Element, kein homogener Teil des übrigen Buches ist.) Was man über den Titel dieser kurzen Erzählung sagt, läßt sich auch über den Titel des Buches sagen, obgleich er davon nur einen Teil, ein kleines Stück 8 betitelt. Was kann unter diesen Umständen „Das falsche Geldstück" bedeuten? Der Titel „Das falsche Geldstück Für was 9 gibt er sich? Wie kann oder soll man ihn nehmen? Sein Platz und seine Struktur als Titel lassen hier eine große Unbestimmtheit und eine weite Möglichkeit an Trugbildern [simulacres], die gerade dem falschen Geldstück das Feld öffnen. Der Titel kann bedeuten [vouloir dire], und so versteht man ihn im allgemeinen, auf naive Weise: Hier haben wir eine Geschichte von Falschgeld, unter diesem Titel wird man Ihnen eine Geschichte erzählen, in der es um Falschgeld geht. In diesem Moment, bei dieser flüchtigen 10 , unvermittelten, durch so viele etablierte und feste Konventionen erleichterten Lektüre teilt sich bereits der Titel Das falsche Geldstück, verrät er sich und verschiebt sich. Er hat zwei Referenten: 1. das, was man Falschgeld nennt und 2. diesen Text hier, diese Geschichte des falschen Geldstückes. Er hat zwei Referenten, die ihn alle beide betiteln, ihm Gehalt verleihen - so wie man Münzgeld nach seinem Gehalt bestimmt [titre] und ihm Garantie verleiht: Der eine ist das Falschgeld selbst, der andere ist die Erzählung, die als Referenten oder als Inhalt das falsche Geldstück hat, jene Geschichte des falschen Geldstückes. Diese erste Teilung läßt fortan viele weitere Aufspaltungen entstehen, gleichsam ins Unendliche. Denn wenn dieser Titel doppelt, ein Double 1 ist, wenn er sich zugleich auf die Sache und auf die Erzählung, auf den Text der Erzählung bezieht, was folgt daraus ? Erinnern wir uns zunächst daran, daß die Sache - als Falschgeld - nicht eine Sache wie andere ist; es ist ein Zeichen und ein in seinem Titel/Gehalt schlecht bestimmtes Zeichen, ein Zeichen ohne Wert, wenn nicht gar ohne Bedeutung. Ferner, die Erzählung ist eine Fiktion, und zwar eine Fiktion des Fingierens 12 , eine Fiktion aufgrund eines Fingierens, sogar die Fiktion eines Fingierens. Es ist eine Fiktion Baudelaires, betitelt und 8 A. d. Ü.: Das französische Wort piece ist neben der Bedeutung „Stück, Bruchstück, Teil" auch im metonymischen Sinne als Begriff für „Münze, Geldstück" gebräuchlich (zur Konnotation von piece vgl. auch: J. Derrida, Lektüre von M.-F. Plissart/B. Peeters: Recht auf Einsicht, übers, von M. Wetzel, Wien 1985). 9 A. d. Ü.: Im Original: Pour quoi, was, als ein Wort gelesen, auch: „Warum" bedeuten kann. 10 A d. Ü.: Im Original: courante, was in bezug auf Geld auch „in Umlauf befindlich", „geltend" heißt. 11 A. d. Ü.: Im Original: double, was als Substantiv auch „Doppelgänger" heißen kann. Das entsprechende Adjektiv bedeutet übertragen auch „doppelzüngig", „zweideutig", „falsch". 12 A. d. Ü.: Das französische fiction hat nicht nur die Bedeutung von „Erdichtung", sondern auch von „Trugbild", also auch einer Weise des Fälschens, die hier mit „Fingieren" übersetzt wird.

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geschrieben von Baudelaire, aber es ist eine Fiktion, die eine Erzählung nicht der Feder Baudelaires unterstellt, sondern in den Mund eines fiktiven Erzählers legt, der nicht Baudelaire ist und dessen Rede im Prinzip nicht durch den Autor verantwortet wird. Diesem, als immer nur mutmaßlichem Autor, wird nicht unterstellt, daß er die Äußerungen des Erzählers verantwortet, daß er sie auf seine Rechnung [compte] nimmt oder, wie man im Französischen von Bargeld [argent comptant] sagt, einlöst. Nicht mehr als wir. Die fiktive Erzählung wird (als nicht fiktive, als selbst redend nicht fiktive) von einem fiktiven Erzähler vorgebracht13, das heißt von einem, der vorgibt, es nicht zu sein - in der von Baudelaire signierten Fiktion. Diese Erzählung berichtet von der Geschichte einer Fiktion, eines fiktiven Geldstücks, eines Geldstücks, das keinen Titel, das heißt nicht seinen legitimen und authentischen Gehalt hat. Dieser „mit Geschichten ausgeschmückte", erzählte und ausgeführte Inhalt beschreibt folglich den ganzen Text, der größer ist als er, obgleich er nur ein umrandeter, eingerahmter und eingefügter Teil zu sein scheint. Das Kleinste ist metonymisch größer als das Größte. Hinsichtlich dieses Moments wird der Titel „Das falsche Geldstück" Titel des fiktiven Textes. Er besagt nicht allein: Hier ist eine Geschichte von Falschgeld. Sondern: Die Geschichte ist - vielleicht - selbst als Literatur Falschgeld, eine Fiktion, über die man sich - letztlich immer bereit, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen14 - all das sagen kann, was der Erzähler (der von der Natur bedacht worden ist, die ihm, wie er sagt, die beschwerliche Gabe zum „Geschenk" gemacht hat, „sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen") über das falsche Geldstück seines Freundes wird gesagt haben können, über die Intentionen, die er seinem Freund zuschreibt, über die Berechnung und all die Tauschverhältnisse, die so durch das Ereignis angestiftet werden, das sein Freund selbst mit seinem falschen Geldstück hervorgerufen hat. Alles, was sich in der Geschichte und über Falschgeld (und in der Geschichte über das falsche Geldstück) sagen läßt, wird man von der Geschichte sagen können, vom fiktiven Text, der diesen Titel trägt. Dieser Text ist auch das Stück, ein falsches Geldstück, das ein Ereignis hervorruft und sich für jeden Schauplatz des Trugs, der Gabe, der Vergebung und der Nicht-Vergebung hergibt. Alles geschieht, als ob der Titel der Text selbst wäre, dessen Erzählung insgesamt nur die Glosse oder eine lange Fußnote zum Falschgeld des Titels, unten auf der Seite, wäre. Wenn der Titel genügend zwiespältig und abgründig ist, um all dies zu besagen (den Inhalt der Erzählung, die Erzählung selbst als Fiktion, als Falschgeld, das ich des Erzählers als falsche Signatur, usw.), muß man dem noch einen supplementären Nachtrag von „Falschgeld" hinzufügen. Welchen? Der Titel besagt mit einem Wort 13 A. d. Ü.: Im Original: avance, was auch „vorgeschossen", „im voraus bezahlt" heißen kann. 14 A. d. Ü.: Hier wird die Ubersetzung des Baudelaire-Textes von F. Kemp übernommen für das letztlich unübersetzbare Idiom chercber midi a quatorze heures (wörtlich: „zwölf Uhr Mittags um 2 Uhr suchen").

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[en somme]: Da ich soviele Dinge zugleich sage, da ich den Anschein habe, dieses zu betiteln, während ich zugleich jenes betitele, da ich eine Referenz vortäusche und, daß meine Referenz als fiktive keine authentische Referenz ist, daß sie nicht legitim ist, nun, so bin ich, als Titel, (aber er sagt es nicht...) das falsche Geldstück. Er (ich) tituliert und „autonominiert" sich, ohne es aber zu sagen, ohne ich zu sagen (ohne das würde er es nicht tun: um es zu tun, ist es notwendig, daß er es nicht sagt; und um es nicht zu tun, müßte er es sagen). Das falsche Geldstück ist der Titel/Gehalt des Titels, der Titel (ohne Titel/Gehalt) des Titels. Der Titel ist der Titel/Gehalt des Textes. Aber gibt er seinen Titel/Gehalt an, indem er sagt: Ich bin Falschgeld? Nein, denn Falschgeld ist nur falsch, wenn es seinen Titel/Gehalt nicht angibt. Der Titel Das falsche Geldstück ist oder mag Falschgeld sein. Das falsche Geldstück ist als solches niemals Falschgeld. Sobald es ist, was es ist, anerkannt als solches, hört es auf, als Falschgeld zu wirken und zu gelten. Es ist nur, wenn es sein kann, möglicherweise [peut-etre], was es ist. Unter Berücksichtigung [compte tenu] dieser irreduziblen Modalität und in dem Maße, wie der Titel dem Rechnung tragen kann15, verpflichtet er Sie. Er verpflichtet Sie zunächst, sich zu fragen, was Geld ist, echtes, falsches, falsches echtes oder echt falsches - und Nicht-Geld, das weder echt noch falsch ist, usw. Die andere Umrandung, über die man vielleicht auch ein Wort fallen lassen sollte, ist das, was man die Widmung nennt. Die Widmung situiert, und zwar indem sie ihr Nachdruck verleiht, den verleihenden [datif] oder stiftenden [donateur] Anstoß, der den Text voranbringt. Es gibt nichts in einem Text, das nicht geweiht oder gewidmet wäre, nichts, das nicht bestimmt [destine] wäre, und die Bestimmung dieser Verleihung [datif] beschränkt sich nicht auf die explizite Widmung. Der Name des die Widmung Empfangenden - oder des Beschenkten - ist genausowenig Beweis für die tatsächliche Widmung, wie der Familienname des (juristisch durch das bürgerliche Recht identifizierbaren) Unterzeichners die tatsächliche Signatur abdeckt, wenn es sie denn gibt. Wir werden später den verleihenden Anstößen im Innern der Erzählung Das falsche Geldstück folgen. Im Augenblick situieren wir die zumindest scheinbare Widmung des Buches Le Spleen de Paris, von dem Das falsche Geldstück gerade in seiner Einheit, in seiner irreduziblen Identität, nur ein herausgelöster Teil, ein Stück, ein Stummel, Geprägtes [monnayage] eines Ganzen ist. Was nun dieses Ganze anbelangt, so ist es schwierig zu sagen, ob diese Widmung als Umrandung daran Teil hat oder nicht. In das Buch eingefügt, eingeschrieben zwischen dem Namen des Autors und dann dem Titel einerseits und der ersten Erzählung andererseits, scheint das Widmungs-Schreiben nicht zur Fiktion zu gehören, von der Das falsche Geldstück nur ein Stück, eine Münze ist. Aber ist das so sicher? Anders gesagt, wie soll man die Widmung nehmen? Handelt es sich noch um Fiktion? Signiert Baudelaire sie, wie er 15 A. d. U.: Im Original: en relever, was „zugehörig sein, herrühren von" bedeutet, in diesem Kontext aber an den Ausdruck releve de compte, d. h. „Kontoauszug" erinnert.

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das Buch signiert, im gleichen Modus? Ist es Falschgeld? Unter welchem Titel, mit welchem Anspruch, welchem Gehalt soll man es empfangen ? Es ist eine entscheidende Frage, die umso schwieriger klar zu entscheiden [trancher] ist, als diese Widmung zugleich diese Frage zum Ausdruck bringt, die Frage des Titels/Gehalts, die Frage des Ganzen und des Teils, die Frage selbst des Schnitts [tranche], des Münzrandes, und des „Zerschneidens". Sie tut es, indem sie die Figur der Schlange beschwört - es ist eine Schlange, als was das Buch gegeben wird - , einer Schlange aus Stücken, eines länglichen, nicht greifbaren und in Stücke zerfallenden Teres, das Baudelaire, wie er sagt, seinem Freund „ganz" widmen will. Was tut man, wenn man eine Schlange widmet - ganz oder zerstückelt ? Man könnte manchen Korpus entrollen, mit anderen Texten Baudelaires könnte der Anfang gemacht werden, um dieser Frage eine vielstimmige [polylogue], unermeßliche Antwort zuteil werden zu lassen und sie zum Singen zu bringen. Lassen wir diese zum Singen zu bringende Frage der Schlange in der Schwebe. Wir haben es hier mit der Widmung in zwei Fassungen zu tun, der eigentlichen und der im Entwurf. Denn die Frage des Ttels stellt sich, unter ihrem Namen, nur im Entwurf. Aber die definitive Fassung stellt die Logik dessen auf, was wir die Eifersucht der Gabe16 nennen können, die in ihrer Modernität die Intrige selbst von Das falsche Geldstück zu lesen gibt. Und dies gerade in dem Augenblick, wo Baudelaire zugleich mit seiner „Eifersucht" erklärt, daß er spricht, um „die Wahrheit zu gestehen". „An Arsene Houssaye Lieber Freund, hier schicke ich Ihnen ein kleines Werk, von dem sich, ohne ihm unrecht zu tun, nicht sagen ließe, es habe weder Kopf noch Schwanz, da vielmehr alles daran, abwechselnd und wechselseitig, Kopf und Schwanz ist. Bedenken Sie bitte, welche wunderbaren Bequemlichkeiten diese Kombination uns allen bietet, Ihnen, mir und dem Leser. Jeder kann einhalten, wo er mag, ich in meiner Träumerei, Sie beim Druck, der Leser bei seiner Lektüre; denn ich lasse dessen widerspenstigen Willen nicht am unabsehbaren Faden einer überflüssigen Intrige zappeln. Nehmen Sie einen Wirbel heraus, und die beiden Teile dieser gewundenen Folge kleiner Phantasiestücke werden sich mühelos wieder zusammenfügen. In der Hoffnung, daß einige dieser Stummel lebendig genug sind, um Ihnen zu gefallen und Sie zu unterhalten, wage ich es, Ihnen die ganze Schlange zu widmen. Ich muß Ihnen ein kleines Geständnis machen. Während ich, gewiß zum zwanzigsten Mal, in dem berühmten Gaspard de la nuit von Aloysius Bertrand blätterte 16 Was den Gedanken der Eifersucht [jalousie] anbelangt, der Beziehung zwischen Gabe und Eifersucht, eines „dejälouser" [unübersetzbares Wortspiel aus dejalouser im Sinne von „ent-eifersüchtigen" und de ja, „schon"] jenseits der Eifersucht - und des Ubermaßes an Eifer, verweise ich auf den bemerkenswerten Text von Peggy Kamuf, Reading between the Blinds, New York 1991.

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(ein Buch, das Sie, ich und einige unserer Freunde lieben, darf doch wohl zu Recht berühmt genannt werden?), verfiel ich darauf, etwas Ahnliches zu versuchen und auf die Schilderung des modernen Lebens, oder vielmehr eines Aspektes des modernen und sehr viel abstrakteren Lebens, das Verfahren anzuwenden, dessen er sich bedient hat, um das höchst pittoreske Leben der Vergangenheit zu malen. Wer von uns hätte nicht, in den Tagen seines Ergeizes, von dem Wunder einer poetischen Prosa geträumt, einer musikalischen Prosa ohne Rhythmus und Reim, schmiegsam genug, doch auch uneben und rauh genug, um sich den lyrischen Regungen der Seele anzupassen, den Wellenbewegungen der Träumerei, den jähen Ängsten des Gewissens? Vor allem der Aufenthalt in den riesigen Weltstädten, wo unzählige Beziehungen sich kreuzen, läßt dieses quälende Ideal entstehen. Sie selbst, lieber Freund, haben Sie nicht versucht, den durchdringenden Ruf des Glasers in ein Chanson zu übersetzen, und in lyrischer Prosa all jene trostlosen Vorstellungen auszudrücken, die dieser Ruf durch den dichtesten Nebel der Straßen bis zu den Dachstuben hinaufträgt? Um jedoch die Wahrheit zu gestehen: ich fürchte, meine Begier, mit Ihnen zu wetteifern, hat mir kein Glück gebracht. Kaum hatte ich mit der Arbeit begonnen, da bemerkte ich, daß ich nicht nur hinter meinem geheimnisvollen und brillanten Vorbild weit zurückblieb, sondern mehr noch, daß ich da etwas machte (falls dies ein Etwas genannt werden darf), das davon seltsam abwich - ein unerwartetes Ergebnis, das jeden anderen außer mir gewiß mit Stolz erfüllen würde, das aber nur danach angetan ist, einen Geist aufs tiefste zu demütigen, der es für die höchste Ehre des Dichters erachtet, genau das zustande zu bringen, was er sich vorgenommen hat. Ihr herzlich ergebener C.B." 1 7 Die Variante: "Für Houssaye. Titel. Widmung. Ohne Schwanz noch Kopf. Alles Schwanz und Kopf. Bequem für mich. Bequem für Sie. Bequem für den Leser. Wir können alle einhalten [couper], wo wir wollen, ich in meiner Träumerei, Sie beim Druck, der Leser bei seiner Lektüre. Und ich lasse nicht den widerspenstigen Willen am unabsehbaren Faden einer überflüssigen Intrige zappeln. Ich habe nach Titeln gesucht. 66. Wenngleich indes dieses Werk, das an die Windung und das Kaleidoskop grenzt, gut und gerne zugespitzt werden kann bis zum Kabbalistischen 666 und sogar 6666 ... 17 Baudelaire, a. a. O., S. 1 1 5 / 1 1 7 (Oeuvres completes, a. a. Ο., S.275f.).

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Das ist mehr wert als eine Intrige von 6000 Seiten; man möge mir also dankbar sein für meine Bescheidenheit. Wer von uns hat nicht von einer eigentümlichen und poetische Prosa geträumt, um die lyrischen Schwingungen des Geistes zu übersetzen, die Wellenbewegungen der Träumerei und die [ängstlich jähen] Zuckungen des Bewußtseins [Gewissens]? Mein Ausgangspunkt war Aloysius Bertrand. Das, was er für das altertümliche und pittoreske Leben gemacht hat, wollte ich für das moderne und abstrakte Leben machen. Und dann vom Prinzip an, daß ich etwas anderes machte, als das, was ich nachahmen wollte. Worauf ein anderer stolz wäre, was mich aber demütigt, der ich glaube, daß der Dichter immer genau das machen soll, was er machen will. Anmerkung über das Wort berühmt. Schließlich kleine Stümpfe, die ganze Schlange." 18 Im Namen [titre] des Falschgeldes sind wir an anderer Stelle von einem Satz Marcel Mauss' ausgegangen. („Wir bitten um Nachsicht, daß wir uns verpflichtet gesehen haben, zu diesen allzu weitläufigen Fragen Stellung zu nehmen. Aber sie berühren engstens unser Sujet, und es bedurfte der Klarheit.") 19 Wir hatten uns dann gefragt, welche Bedeutung einer „Stellung-nahme" bei einer theoretischen Ausarbeitung und bei jeder Problematik der Gabe zukommt. Kann man die Gabe denken, über ihr Sujet sprechen oder schreiben, ohne dazu zu verpflichten zu geben, ohne wenigstens Unterpfänder oder Zeichen zu geben? Es bleibt das Problem bestehen zu wissen, ob man Unterpfänder gibt und ob man gibt, wenn man Unterpfänder oder Zeichen oder Trugbilder gibt. Wie in der Rechtfertigung seiner „Stellung-nahme", schien Mauss jene Berechnung zu reproduzieren, die der Erzähler von Baudelaires Das falsche Geldstück sich so schwer tut, seinem Freund zu vergeben - eine Berechnung, die darin besteht, „das Paradies erknausern" zu wollen - , alles geschieht für uns so, als ob die Erzählung, der Baudelaire den Titel Das falsche Geldstück gegeben hat, im voraus all die Bewegungen, die - theoretisch und praktisch - möglichen, eines Versuchs [essai] über die Gabe im allgemeinen enthielte, eines jeden Versuchs über die Gabe und eines jeden Versuchs von Gabe, wobei die Erzählung den Versuch enthält, der sie seinerseits enthält, wie eine Fußnote über das Stück oder das Stück einer Fußnote. 2 0 18 Baudelaire, Oeuvres completes, a.a.O, S. 365f. [eigene Übers., M.W.] 19 A. d. Ü.: Derrida bezieht sich hier auf: Donner le temps. 1. La fausse monnaie, a. a. O., S. 82, wo er von diesem Zitat des Textes von: M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, in: Soziologie und Anthropologie Bd. II, hg. von W. Lepenies und H. Ritter, Frankfurt a.M. 1978, ausgeht, das allerdings in der deutschen Übersetzung fehlt. 20 A. d. Ü.: Entsprechend der konnotativen Vielfalt der beiden französischen Begniie piece und note kann es sich hier auch um den „Teil", die „Münze" oder das „Belegstück" eines „Zeugnisses", einer „Rechnung" oder einer „Note" im diplomatischen bzw. im musikalischen Sinne handeln.

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Das falsche Geldstück Baudelaires anzugehen [aborder], wenn man so sagen kann, ist um so schwieriger: Von Anfang an [des l'abord] haben wir es erahnt, und schon beim Titel scheint sich der Rand zu entziehen, sich zu teilen oder zu vervielfältigen, zu delinearisieren. Gewiß erschüttert die Delinearisierung die rechtwinklige und kreisförmige Kontinuität einer Linie, aber sie kompromittiert auch die Identität und die Unteilbarkeit des linearen Zugs, seine Konsistenz selbst als in sich zusammengezogener (kontraktierter) Zug, seine Einheit als Zug. Was ist nun ein Rand oder ein Zugang [abord], wenn fortan die Unteilbarkeit des Zuges nicht mehr garantiert ist? Die Gabe, wenn es sie gibt, wird stets ohne Rand [bord] sein. Was will hier „ohne" 21 besagen? Eine Gabe, die nicht überbordend ist, eine Gabe, die sich in einer Bestimmung einschließen und durch die Unteilbarkeit eines identifizierbaren Zuges begrenzen ließe, wäre keine Gabe. Sobald sie sich abgrenzt, ist eine Gabe der Berechnung und dem Maß, der Beherrschung und der Bemessung, der Obhut von Kontrolle und subjektivierender Wiederaneignung preisgegeben. Die Gabe sollte, wenn es sie gibt, den Rand überborden, sicherlich in Richtung auf das Übermaß und die Maßlosigkeit; aber man sollte auch ihr Verhältnis zum Rand und selbst ihr überschreitendes Verhältnis zur Linie oder zum zerstückelbaren Zug eines Randes außer Kraft setzen. Das „ohne" ist nicht einfach nur das „darüber hinaus" oder das „jenseits". Die vorübergehende Konsequenz aus dieser „Logik" eines „ohne", die weder negativ noch überschreitend ist, lautet: Uberall, wo es Kastration und die Problematik der Kastration gibt (wie sie die Widmung über die Schlange, das Ganze und den Teil nahelegt), gibt es die Rationalität des Randes und gibt es keine Gabe und nicht einmal die mögliche Problematik der Gabe. Wer aber sagt, daß es Gabe und Problematik der Gabe geben müsse? Sicherlich nicht die Vernunft oder ein Vernunftsprinzip im allgemeinen. Es ist die Frage nach der Vernunft, die uns hier gestellt wird, zweifellos nicht weniger nach der praktischen Vernunft als nach der theoretischen oder spekulativen Vernunft, umso mehr als eine bestimmte Spekulation die Moral und das Gewissen immer heimsuchen wird. Lassen wir die ganze Weite dieser Fragestellung beiseite, aber erinnern wir uns, daß, wenn immer man argumentieren muß, indem man Gründe [raisons] gibt, es niemals Grund zum Geben geben kann (wenn es solchen gäbe, so wäre, noch einmal, die Gabe keine solche mehr, sondern eine Berechnung oder ein Tausch); was diejenige Frage - als eine ganz andere - offen läßt, nämlich zu wissen, was passiert, wenn man dem anderen recht [raison] gibt, ein Akt, der ebenfalls die Ordnung der theoretischen Vernunft auf Seiten der Werte von Unrecht und Vergebung überbordet. Was heißt es schließlich, recht zu haben und, in der idiomatischen Wendung des Französischen, „avoir raison de", d.h. „zu siegen über" den anderen? 21 A. d. Ü.: Im Original sans, was sich in buchstäblicher und lautlicher Hinsicht neben seiner direkten Bedeutung auch als sang („Blut") und als sens („Sinn") lesen läßt (vgl. hierzu Derrida, Le sans de la coupure pure, in: Parergon, in: La verite en peinture, a. a. O.).

Wenn es Gabe gibt-oder: „Das falsche Geldstück"

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All diese Themen oder Motive sind, mehr oder weniger sichtbar, in Das falsche Geldstück am Werk, dem von Baudelaire signierten Text, dessen Ränder man verlaufen oder nachgeben gesehen hat. Zunächst auf seiten des Titels {Das falsche Geldstück), der sich selbst auf eine unbestimmt nachträgliche und abgründige Weise überbordet, sobald er sich zu lesen gibt. Wir wollen uns hier nicht auf eine allgemeine Theorie der Struktur, der textuellen Typologie und Topologie von Titeln einlassen. Da wir es an anderer Stelle zu tun versucht haben 22 , fassen wir einige Ergebnisse dessen für diesen Titel hier zusammen. Aufgrund [en raison de] seiner referentiellen Struktur und seines topos, seiner Situation als in und über dem Text, den er betitelt, in der Schwebe gehalten, weder in ihm noch außerhalb von ihm befindlich, teilt sich der Titel Das falsche Geldstück, teilt er seinen Zug durch eine doppelte Referenz. 1. Er verweist auf das, was man geläufig Falschgeld nennt (als thematische, naive und direkte Referenz auf das, worum es in der Erzählung geht). 2. Er verweist auf die Erzählung selbst in dem Maße, wie der Titel Das falsche Geldstück der Titel der Erzählung ist, der Eigenname der Erzählung, die zum Inhalt und zum Thema eine Geschichte von Falschgeld hat. Bereits verdoppelt und entzweit, betitelt der Titel zweimal zugleich, wobei er so mit der ganzen Spannweite an Unentschiedenheit eine zwiespältige Frage stellt, die man - zwischen den Redezeichen und den Schriftzeichen spielend (eine der mutmaßlich wesentlichen Möglichkeiten des Falschgeldes) - betiteln könnte: „Was ist ein Titel wie (das) falsche Geldstück?", aber genauso, indem man Notiz nimmt von dem, was eine Klammer auslöscht oder aufhebt: „Was ist ein Titel als Falschgeld}" Die erste Teilung erzeugt eine Serie weiterer, die sie als Keim in sich trägt. Halten wir diese generativen oder genealogischen Figuren fest. Eine Art Fortpflanzung durch Teilung [scissiparite] enthält das, was sie erzeugt, als eingeschachtelte Gene, quasi unendlich. Als doppelter bzw. als Double benennt der Titel zugleich die „Sache" (das falsche Geldstück als Sache/Ding) und die Erzählung der Geschichte sowie den Erzählakt selbst (die Narration) der Erzählung der Geschichte. Daher ist die fragliche „Sache", die thematisierte Sache, der Gegenstand der als Falschgeld definierten Erzählung, genau genommen, im eng bestimmten Sinn von Sache, keine Sache wie andere; sie ist „etwas" [quelque chose] als ein Zeichen, und selbst ein falsches Zeichen, dessen Signifikat letztlich (aber das macht die ganze Geschichte aus) nichts zu entsprechen oder gleichwertig zu sein scheint, ein fiktives Zeichen ohne gesicherte Bedeutung, ein Trugbild [simulacre], das Double eines Zeichens oder eines Signifikanten. Sodann ist der zweite Referent des Titels - die Erzählung - eine Erzählung, die sich für fiktiv ausgibt, auf jeden Fall von seiten des Autors und unter dem Namen von Literatur, aber nicht von seiten des Erzählers. Es handelt sich folglich um eine Fiktion, deren Sujet eine fingierte Münze ist, eine fingierte Fiktion, und wenn die 22 A. d. Ü.: Vgl. Anm. 6.

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erzählte Fiktion das erzählerische Fingieren selbst besagt (wenn sie es durch emblematische oder metonymische, aber auch reflexive oder spiegelnde [speculaire] Figurationen zu denken aufgibt), kommt die Spekulation zu keinem Ende mehr. Gemäß dem bürgerlichen Recht des Eigentums an literarischen Werken wird die Fiktion dem Unterzeichner, Baudelaire, zugeschrieben und durch ihn betitelt. Aufgrund und kraft desselben Rechts - des so genannten Autorrechts - , legt diese Fiktion die Erzählung nicht in den Mund, die Feder oder den Verantwortungsbereich des Autors, sondern wohlverstanden des Erzählers. Dieser ist selbst fiktiv: Es handelt sich um eine Fiktion des Autors, und beim Diskurs des Erzählers, seiner Erzählung, seinen Überlegungen, den Schlüssen aus seiner Überlegung (insbesondere wenn er wissen will, ob er seinem Freund vergeben kann, der einem Bettler Falschgeld gegeben hat), müssen wir immer annehmen, daß Baudelaire sie nicht notwendigerweise rechtmäßig auf sich nimmt: Er nimmt sie nicht für bare Münze. Genausowenig wie wir, wiederholen wir es. Die (fiktive) Erzählung wird rechtmäßig durch den fiktiven Erzähler vorgebracht 23 ; aber ebenso wie der Erzähler ist die Erzählung nur zwischen Baudelaire und uns, wenn man so sagen kann, fiktiv, denn der fiktive Erzähler bringt seine Erzählung als wahre Erzählung vor, und genau darin besteht die Fiktion - oder das vom Autor zum Vorschein gebrachte Trugbild. Genau das scheint sie mit dem Phänomen des Falschgeldes zu teilen (eine Fiktion als „wahre" durchgehen zu lassen). Aber da die Konvention es uns erlaubt, wissen wir, Baudelaire und wir, die Leser, daß diese Fiktion eine Fiktion ist, daß es da kein Phänomen von „Falschgeld" gibt, d. h. von Vertrauensmißbrauch, der Falsches als wahr durchgehen läßt. Es bleibt, daß die Möglichkeit des Falschgeldes, die Möglichkeit der Auswirkung von Falschgeld, dieselbe allgemeine Bedingung teilt: eine Fiktion als „wahre" durchgehen zu lassen. Die Unaufrichtigkeit oder das Vergehen haben gewiß keinen Platz im Literarischen, im „Innern" des in seinen Umrandungen durch Konventionen begrenzten literarischen Phänomens. Baudelaire lügt nicht, er täuscht uns nicht. Außerhalb der Literatur, aber im Leben, so wie es vorgestellt, imaginiert, in einer Erzählung wie Das falsche Geldstück erzählt wird, implizieren falsche Moral und Vergehen die Lüge, die Absicht zu täuschen, das Wissen also auf Seiten des in Umlauf Bringenden [agent emetteur] oder des Fälschers allein und unter Ausschluß des Kassierers [receveur] und der „Betrogenen" (des Bettlers, zum Beispiel, oder des Erzählers bis zum Geständnis seines Freundes und - außerhalb der Erzählung, in einem heterogenen Raum - auf Seiten des Lesers, jedenfalls auch bis zum Geständnis; aber der Leser wird nicht im selben Sinne „getäuscht" oder „betrogen" wie der Erzähler: In Wirklichkeit ist sein Nicht-Wissen nicht von der Art des Getäuscht-Seins; es ist die Erfahrung eines

23 A. d. Ü.: Im Original:produit, wobei die Bedeutung dieses Wortes neben der technischen Dimension des „Produzieren" und dem buchstäblichen „(Her)Vorbringen/Vorführen" auch ein „Zum-Vorschein-Bringen" umfaßt.

Wenn es Gabe gibt-oder:

„Das falsche

Geldstück"

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Geheimnisses ohne Tiefe, eines Geheimnisses ohne Geheimnis, auf das wir zum Schluß zurückkommen werden). Betrachten wir jetzt diese Erzählung. Sie ist wahrhaft fiktiv, wird aber in der von Baudelaire signierten und ersonnenen 4 Fiktion als wahre Erzählung durch den fiktiven Erzähler vorgebracht: So erzählt sie uns die Geschichte einer anderen Fiktion, eines fiktiven Geldstücks. Dieses Geldstück hat keinen Gehalt (Titel, wie man im Französischen aber auch im Englischen sagen kann), es trägt nicht seinen legitimen und authentischen Titel; es hat nur einen unechten Tltel/Gehalt [faux titre] oder vielmehr einen „falschen" Utel/Gehalt [titre „faux"], da „faux titre" noch etwas anderes bedeutet, nämlich „Schmutztitel". Diese Geschichte (dieser Erzählinhalt) erzählt also in ein und demselben Atemzug - aber auf figürliche und zweideutige Weise, als Falschgeld-, Fiktions- oder Trugbildgeschichte - sowohl die (erzählende) Erzählung [recit] als auch das (erzählte) Erzählen [narration]. Die Geschichte ist Teil ihrer selbst, sie ist Teil, aufgebrochen25, ein Teil ihrer selbst, sie schließt in ihrem Körper oder Innern gerade das ein, wovon sie ein Teil ist, den Text mit dem Titel Das falsche Geldstück. Eingerahmt, eingefaßt, umrandet und überbordend, wird das Kleinste metonymisch größer als das Größte - das es umrandet und es einrahmt. Ein solcher Rahmen fixiert den Raum und die Zeit, die gegeben, das heißt durch eine Konvention eingesetzt werden, eine Konvention durch unwiderrufliche Ubereinkunft. Aber diese Struktur ist vielmehr eine Bewegung, welche die codierte Sprache der Rhetorik überbordet, das heißt hier die Metonymie als identifizierbare Figur. Denn die Identität der Figuren selbst unterstellt stabile Verhältnisse zwischen Teil und Ganzem. Diese relative Stabilisierung scheint zwar immer möglich zu sein und ermöglicht die Rhetorik und den Diskurs über die Rhetorik. Aber da keine natürliche Stabilität jemals gegeben ist, da es nur laufende26, das heißt wesentlich schwankende Stabilisierung gibt, muß man wohl „frühere", nicht gerade ursprüngliche, aber kompliziertere und instabilere Strukturen voraussetzen. Und wir schlagen hier vor, sie Strukturen zu nennen, sie sogar als solche in literarischen Prozessen zu untersuchen, denn sie sind nicht notwendigerweise chaotisch. Ihre relative „Vorzeitigkeit" oder ihre größere Komplexität ist nicht Zeichen reiner Unordnung. Von nun an kann der Titel Das falsche Geldstück sich entfalten, steht es in seiner Macht, zweifach in einem - wenn man so sagen kann - zu bezeichnen und sich in zwei Richtungen der Verweisung zu teilen: Einerseits haben wir eine Falschgeldgeschichte, 24 A. d. U.: Im Original: forger, was wörtlich „schmieden", übertragen aber auch „ersinnen/erdichten" sowie auch „fälschen" heißt. 25 A. d. U.: Im Original partie, was als Substantiv gelesen werden kann („Teil", „Partie", „Partei") oder als Partizip vonpartir, „fortgehen", „aufbrechen" (vgl. die A. d. U. in: Derrida, Recht auf Einsicht, a. a. O.). 26 A. d. Ü.: Im Original: en cours, d. h. im „Verlauf" oder „Umlauf" befindlich, „kursierend" auch im Sinne eines jeweils aktuellen (Geld-)Kurses.

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andererseits ist die Geschichte aber auch, mag sein, Falschgeld (mag sein [peut-etre]: Dieses mag sein/möglicherweise an dieser Stelle bleibt wesentlich, denn: damit es Falschgeld gibt, ist es notwendig, daß das falsche Geldstück sich nicht sicher als Falschgeld gibt; und dieses möglicherweise ist auch die intentionale Dimension, das heißt der Kredit, der Glaubensakt, der das ganze Geldwesen strukturiert, jede Erfahrung mit oder jedes Bewußtsein von Geld, echtem oder falschem). Die Geschichte ist möglicherweise Falschgeld, eine Fiktion, von der man ihrerseits - im äußersten Fall, indem man „sich in abwegigen Vermutungen ergeht" - alles das wird sagen können, was der Erzähler darüber wird gesagt haben können, befähigt wie er es ist durch die Natur, die ihn beschenkt hat - ein Geschenk, ohne das nichts von dieser Geschichte möglich wäre - mit der beschwerlichen Gabe, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen. Uber das Sujet ihrer selbst, ihres „eigenen" Textes, sagt die Geschichte alles, was der Erzähler über das falsche Geldstück seines Freundes wird haben sagen können, über die Absichten, die er seinem Freund zuschreibt, leiht [prete] (so lautet sein Wort, wie wir sehen werden), über die Berechnung, die er ihm zuschreibt/anrechnet, das heißt die er ihm gutschreibt [credite], und über all die Tauschverhältnisse, die so durch Falschgeld bewirkt werden, als ob der Erzähler gewissermaßen von den „Intentionen des Autors", nämlich Baudelaires, spräche, als ob Baudelaire der Freund des Erzählers wäre, als ob er „sich" insgesamt vorstellte, ohne sich zu zeigen, verborgen hinter den Zügen des Freundes des Erzählers, den er sprechen läßt, als ob er den Erzähler (anstelle des Lesers oder des Kritikers) die möglichen Motive und Auswirkungen des Falschgeldes, das der Text ist, die möglichen Auswirkungen von Das falsche Geldstück analysieren ließe: „[...] - ,Es war das falsche Geldstück', antwortete er gelassen, als wollte er seine Freigebigkeit rechtfertigen. In meinem elenden Gehirn aber, das immer damit beschäftigt ist, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen (welche beschwerliche Gabe hat die Natur mir da verliehen!), entstand alsbald die Vorstellung, ein solches Verhalten meines Freundes sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, in dem Leben dieses armen Teufels ein Ereignis zu schaffen, vielleicht gar die verschiedenen möglichen Folgen zum Schlimmen oder Guten festzustellen, die ein falsches Geldstück in der Hand eines Bettlers nach sich ziehen kann. Konnte es sich nicht in echten Geldstücken vervielfältigen? Konnte es ihn nicht auch ins Gefängnis bringen? Ein Schankwirt, ein Bäcker etwa würden ihn vielleicht als Falschmünzer oder als jemand, der Falschgeld verbreitet, verhaften lassen? Ebensogut aber könnte das falsche Geldstück für einen armen kleinen Spekulanten zum Grundstock eines kurzfristigen Reichtums werden. Und so ließ ich meiner Phantasie die Zügel schießen, lieh meinem Freunde Geistesflügel und zog alle nur denkbaren Schlüsse aus allen nur denkbaren Hypothesen."

Wenn es Gabe gibt-oder:

„Das falsche Geldstück"

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Zunächst aber, soll man einem solchen Freund Vertrauen [credit] schenken? Soll man, wie es der Erzähler noch zu tun scheint, ihm aufs Wort glauben, wenn er sagt: „Das war ein falsches Geldstück" ? Und wenn er noch mehr Falschmünzerei betriebe, als es der Erzähler glaubt? Und wenn er - wie in einem Trugbild eines Geständnisses - echtes Geld als falsches in Umlauf brächte? Lassen wir diese Frage im Schritt der Freunde voranschreiten, die aus einem „Tabakladen" treten. Später werden wir noch einmal auf sie stoßen. Dieser Text ist also auch das Stück, möglicherweise ein falsches Geldstück, nämlich eine Maschine, um Ereignisse zu bewirken: Zunächst das Ereignis des Textes, der dasteht als Erzählung, die sich der Lektüre übergibt oder ihr dargeboten wird (dieses Ereignis hat stattgefunden und findet weiter statt, es gibt Zeit und braucht seine Zeit, es gibt sich anscheinend Zeit), aber auch und konsequenterweise - hiervon ausgehend, im Sinne der Ordnung des offenen Möglichen und des Aleatorischen - ein Ereignis, das weitere bewirken kann, ohne daß sich ein Ende abzeichnet, in endloser Serie, ein Ereignis, das andere Ereignisse in sich trägt, wenngleich ihnen gemeinsam ist, daß sie immer günstig sind für jene Köderszene. Und der Köder ist Vernunftssache/Rechtsfrage [affaire de raison], nichts weniger, der Vernunft oder des Rechts, die oder das man hat bzw. die oder das man gibt. Was besagt „recht haben" ? Was besagt „recht geben" ? Warum sind diese Ausdrücke so idiomatisch und folglich so schlecht übersetzbar? Warum rühren das Recht-Haben und das Recht-Geben in diesen beiden Fällen nicht von der theoretischen oder spekulativen Vernunft her? Warum ist die Spekulation, die in ihnen weiter wirkt, nicht mehr spekulativ im Sinne der spekulierenden oder kalkulierenden Vernunft? Als Vernunfts-/Rechtssache ist der Köder auch Sache der Gabe, der Entschuldigung, der Vergebung oder Nicht-Vergebung für eine Nicht-Gabe oder vielmehr für eine immer unwahrscheinliche Gabe. Alles geschieht, als ob der Text so nur mit seinem Titel spielen ließe: als ob das sein Gegenstand wäre. Alles geschieht, als ob der Körper des Textes Titel des Titels würde, der folglich zum wahren Körper, zum fälschlich-echten Körper, wenn man so sagen kann, des Textes, zu seinem falschen-echten Korpus, seinem Körper als Phantom eines treuhänderischen27 Zeichens, zu einem Körper auf Kredit würde. Alles ist ein Glaubensakt, ein Phänomen von Kredit und Vertrauen, von Glaubwürdigkeit und konventioneller Autorität in diesem Text, der möglicherweise etwas Wesentliches über das sagt, was hier die Literatur an die Glaubwürdigkeit bindet, an den Kredit und folglich ans Kapital, an die Ökonomie und auch an die Politik. Die Autorität wird durch die Akkreditierung geschaffen, zugleich im Sinne der Legitimierung als Auswirkung der Glaubwürdigkeit oder der Leichtgläubigkeit und des Bankkredits, der in Kapital verwandelten Zinsen. Das erinnert an einen gehaltvollen Ausspruch Montaignes, der all dies bereits wußte: „Unsere Seele schwingt meist nur mit erborgter 27 A. d. Ü.\ Im Original fiduciaire, was in Verbindung mit Geld auch „Noten" bzw. „Papiergeld" bezeichnet.

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Bewegung [ne branle qu'ä credit]; sie ist abhängig von Anregungen, die von außen [d'autruy] kommen, sie ist sklavisch gefesselt an die Lehre des Vorbilds [authorite]."28 Denn so akkreditiert, ist ein „wahrer/echter" Korpus immer noch, möglicherweise, Falschgeld, kann er ein Phantom sein oder ein Geist, der Geist des Körpers und des Kapitals (denn ein Titel, ein Briefkopf, ist ein Kapital). Man kann daraus alle Konsequenzen für die Institution eines Körpers und eines Korpus ziehen und für die Phänomene der Kanonisierung, die daraus folgen, sowie für das, was man Geist nennt. Es gäbe dabei kein Problem des Kanons, wenn diese ganze Institution natürlich wäre. Es ergibt sich aber, weil sie, wie Montaigne sagt, nur „mit erborgter Bewegung schwingt" und an die „Lehre des Vorbildes" gefesselt ist. In der Tat, wenn Das falsche Geldstück ein ziemlich zwiespältiger, heimtückischer und abgründiger Titel ist, um ohne es zu sagen - all das und den Rest (den Inhalt der Erzählung, das heißt die Geschichte, die Erzählung selbst als Fiktion, als Falschgeld, das Ich des Erzählers als fiktive Signatur) zu besagen, muß man, kann man - möglicherweise - ihm eine zusätzliche Falschgeldwirksamkeit hinzufügen. Welche? Der Titel gibt mit einem Wort [en somme] zu lesen, er gibt sich, um folgendes (vielleicht) zu sagen oder besagen zu wollen, und das wäre seine Intention: „Da ich so viele Dinge zugleich sage, nenne und benenne; da ich den Anschein erwecke, dieses zu betiteln, während ich zugleich - indem ich mit der einen Hand zurückziehe, was ich mit der anderen gebe - überdies jenes betitele, da ich Referenz und Benennung fingiere; da meine Referenz als fiktive nicht wirklich [vraiment] eine Referenz ist, jedenfalls nicht die richtige; weil sie zwar eine Referenz ist, aber möglicherweise mit einem illegitimen Gehalt [titree] versehen bleibt; weil ihr Referent nicht notwendigerweise derjenige ist, für den man ihn hält, bin ich, als Titel, nun also Falschgeld." Aber natürlich sagt er es nicht, sonst brächte er sich in Mißkredit, er sagt es, ohne es zu sagen, er sagt nicht „ich", „ich bin" oder „ich bin nicht"; er überbordet die Ordnung der Behauptungen oder Selbstsetzungen, die vom Typus des „sum" oder des „cogito sum" abgesichert werden: sonst gäbe es kein mögliches Falschgeld mehr. Aber zugleich muß er, damit es Falschgeld gibt, sprechen und sagen: Das also bin ich, ich lüge nicht, oder ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich lüge. Der Titel betitelt sich, autonomiert sich, aber ohne es zu sagen, ohne „ich" zu sagen, bzw. indem er es sagt, ohne es zu sagen, wobei das ohne hier irreduzibel ist. Das ganze Spiel [jeu] des „ich" [je] akkreditiert damit seine Autorität. Das falsche Geldstück, so sagten wir zusammenfassend, ist der Titel/Gehalt des Titels, der Titel ohne Titel/Gehalt des Titels (ohne Titel/Gehalt). Der Titel ist der Titel des Textes und des Titels/Gehalts. Aber er gibt nicht seine Titel, indem er sagt: „Ich bin (das) Falschgeld(stück)", wobei Falschgeld nur das ist, was es ist, wenn es sich nicht als solches gibt und nicht als solches erscheint, nicht seine Titel/Gehalte zur Schau stellt. In dem Maße, wie es verpflichtet, verpflich28 M. Montaigne, Essais, in: Oeuvres Completes, hg. von A. Thibaudet und M. Rat, Paris 1962, S. 150 (dt.: Die Essais, ausgewählt u. übertragen von A. Franz, Leipzig 1953, S. 53).

Wenn es Gabe gibt - oder: „Das falsche Geldstück "

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tet es uns freilich, uns wieder und zumindest zu fragen, worum es sich handelt und ob es Geld, echtes, falsches, falsches echtes und echt falsches gibt. • Eine andere Umrandung teilte sich bereits in unbestimmt nachträgliche Abgründigkeiten. Die verleihende Bewegung der Widmung verschob den Text, überantwortete oder befreite ihn von einem Platz her, der - wie wir erinnern - , weder innerhalb der Fiktion („Das falsche Geldstück" oder Der Spleen von Paris als Ganzes) noch einfach außerhalb dieser Fiktion ist. Das Widmungs-Schreiben (in zwei Versionen) von Baudelaire an „Meinen lieben Freund" (Arsene Houssaye) bearbeitete gewiß in jedem Sinne die Frage des Ganzen und der Teile, des Modells (A. Bertrand, etc.). Aber wenn es zum Beispiel eine Figur der Schlange zu dechiffrieren gibt („In der Hoffnung, daß einige dieser Stummel lebendig genug sind, um Ihnen zu gefallen und Sie zu unterhalten, wage ich es, Ihnen die ganze Schlange zu widmen"), kann man wiederum versucht sein, Baudelaire mit Mauss zu lesen. Halten wir es hier an diesem Übergangsort fest, denn die in dieser Hinsicht bemerkenswerteste Passage assoziiert in derselben Szene den Clan der Schlangen und eine gewisse Opfergabe des Tabaks. Nun werden wir Das falsche Geldstück sogleich neben anderen Intrigen als eine Tabakgeschichte lesen. Die Passage von Mauss betrifft ein Zeremoniell, das „in allen nordamerikanischen Indianerkulturen" verbreitet ist. Der Geist, die Geister, die Phantome sind beim Fest mit dabei, sie sind die ersten Gäste der Festmahlzeit, an der sie teilnehmen: „Anläßlich des Clanfestes kocht jeder Clan Essen für die Vertreter des anderen Clans und bereitet Tabak für sie. Zur Illustrierung hier einige Auszüge aus den Reden der Häuptlinge des Schlangenclans: ,Ich grüße euch; es ist gut; wie könnte ich es anders sagen? Ich bin ein armer Mann ohne Wert, und ihr habt euch meiner erinnert. Das ist gut ... Ihr habt an die Geister gedacht, und ihr seid gekommen, euch mit mir hinzusetzen ... Bald werden eure Teller gefüllt sein, und ich grüße euch nochmals, euch Menschen, die ihr den Platz der Geister einnehmt...' Wenn einer der Häuptlinge gegessen hat, wird ein Tabakopfer in das Feuer gelegt, und die Schlußformel bringt die moralische Bedeutung des Festes und all jener Leistungen zum Ausdruck: ,Ich danke euch, daß ihr gekommen seid, diesen Sitz einzunehmen, ich bin euch dankbar. Ihr habt mich ermutigt... Die Wohltaten eurer Großväter (die Offenbarungen hatten und die ihr verkörpert) sind denen der Geister gleich. Es ist gut, daß ihr an meinem Fest teilgenommen habt.'" 29 Wie stellt sich die Frage der Gabe und der Verleihung in Das falsche Geldstück ? Wer gibt den scheinbar beendeten und zerlegbaren Text? Wer gibt die Raum-Zeit oder die Verräumlichung, die den Titel Das falsche Geldstück trägt? Wer gibt sich dem hin? Wer findet sich dabei gegeben? Wer gibt? Und wem? Was und wem? Vergessen wir zunächst nicht eine triviale und greifbare Selbstverständlichkeit. Sie bildet das elementare Milieu von dem, was sich hier zu denken gibt, das heißt, daß der Text - der scheinbar fertig und zerlegbar ist, dieses stückhaften Korpus mit dem Titel 29 Mauss, a. a. O., S. 129.

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Das falsche Geldstück - für uns etwas Gegebenes ist. Er ist vor uns da, die wir ihn lesen und folglich beginnen, ihn aufzunehmen. Wenn er die Struktur von etwas Gegebenem hat, so nicht allein, weil wir zunächst ihm gegenüber in einer rezeptiven Situation sind, sondern weil er uns gegeben worden ist. Von dem Moment an, wo er ihn publizierte und selbst wenn er ihn nicht publiziert hätte, von dem Moment an, wo er ihn schrieb und ihn konstituierte, indem er ihn „seinem Freund" widmete, ließ der mutmaßliche Unterzeichner (Baudelaire oder wer auch immer hat tatsächlich diesen Text unter der patronymischen und beglaubigten Signatur Baudelaires signiert - denn seien wir nicht so leichtgläubig zu denken, daß der tatsächliche Unterzeichner von diesem sich auf einen Charles Baudelaire bringen läßt, ebensowenig wie der Widmungsempfänger beim Namen Arsene Houssaye aufhört) ihn sich als System von Spuren konstituieren, gab er ihm eine Bestimmung, gab er ihn nicht allein einem anderen oder allgemein anderen als seinem „lieben Freund" Arsene Houssaye, sondern setzte ihn - und darin bestand das Geben - über jeden Empfänger, Beschenkten oder bestimmten Erben hinweg (wir sprechen hier von einer unbewußten Figur, die durch einen „lieben Freund" repräsentiert wird oder durch eine bestimmbare, umrandete Konfiguration von Publikum und Lesern). Der beglaubigte Unterzeichner setzte ihn einer Dissemination ohne Rückkehr aus. Warum ohne Rückkehr? Welche Geschichte, welche Zeit und welchen Raum bestimmt ein solches „ohne Rückkehr" ? Welche Rückkehr dadurch auch immer zu Baudelaire, durch Baudelaire, hat gefunden oder berechnet werden können: die Struktur als Spur oder Vermächtnis dieses Textes - wie von allem, was überhaupt sein kann - überbordet das Phantasma von Rückkehr und markiert den Tod des Unterzeichners oder die Nicht-Rückkehr des Vermächtnisses, den Nicht-Nutzen, also eine gewisse Bedingung für Gabe in der Schrift selbst. Aus diesem Grund gibt es eine Problematik der Gabe erst im Anschluß [ä partir] an eine Folgeproblematik der Spur und des Textes. Es kann sie niemals im Anschluß an eine Metaphysik der Präsenz geben, selbst des Zeichens, des Bezeichnenden, des Bezeichneten oder des Wertes. Das ist einer der Gründe, weshalb wir bei der Ausarbeitung dieser Problematik immer von Texten ausgehen, von Texten im geläufigen und traditionellen Sinne der buchstäblichen Schrift, auch der Literatur, oder von Texten im Sinne ,differäntieller', aufschiebender Spuren gemäß einem Konzept, das wir an anderer Stelle entwickelt haben. Und wir können nicht umhin, von den Texten auszugehen [partir], und von den Texten, insofern sie von Anfang an [des le depart] aufbrechen [partent] (sich von sich selbst und ihrem Ursprung, von uns abtrennen). Wir können nicht umhin, selbst wenn wir es wollten oder zu tun glaubten. Wir sind nicht mehr so leichtgläubig zu meinen, daß wir von den Dingen selbst ausgehen, indem wir die „Texte" umgehen, einfach indem wir vermeiden zu zitieren oder den Anschein des „Kommentierens" zu erwecken. Die scheinbar direktesten, auf direkteste Weise konkreten, persönlichen und angeblich unmittelbaren Zugriff auf die „Sache selbst" habenden Schriften sind „auf Kredit": der Autorität eines Kommentars oder einer Wiederauflage unterworfen, die sie selbst unfähig sind zu lesen.

Wenn es Gabe gibt - oder: „Das falsche Geldstück"

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Aber wenn allein eine Problematik der Spur oder der Dissemination die Frage der Gabe und der Vergebung stellen kann, impliziert das nicht, daß die Schrift freigebig oder das schreibende Subjekts ein gebendes Subjekt ist 30 . Als identifizierbares, umrandetes und festgestelltes Subjekt, geben der Schriftsteller und seine Schrift niemals etwas, dessen Wiederaneignung, Austausch oder zirkuläre Wiederkehr sie nicht, bewußt oder unbewußt, berechnen - und per definitionem dessen Wiederaneignung als Mehrwert, als eine bestimmte Kapitalisierung. Wir werden uns nicht scheuen, darin die Definition des Subjekts als solchen zum Ausdruck zu bringen. Man kann es nur als Subjekt dieser Operation des Kapitals verdeutlichen. Aber vermittels oder trotz dieser Zirkulation und dieser Produktion von Mehrwert, trotz dieser Arbeit des Subjekts, kann dort, wo es Spur und Dissemination gibt, allein wenn es sie gibt, eine Gabe stattfinden, zusammen mit dem überbordenden Vergessen oder dem vergeßlichen Uberborden, das - wir haben darauf bestanden - darin grundsätzlich impliziert ist. Der Tod der gebenden Instanz (wir nennen hier Tod die Fatalität, die eine Gabe dazu bestimmt, zur gebenden Instanz 30 Bestehen wir darauf: Wenn man in Erinnerung ruft, daß allein eine Problematik der Spur und folglich der Dissemination die Frage der Gabe und der Vergebung aufkommen lassen kann, heißt dies, das Konzept der Schrift zu verschieben. Das heißt, auf etwas ganz anderes hinzuweisen als die traditionelle Gegenüberstellung einer (lebendigen) Rede und einer (toten) Schrift. Auf diesen Gegensatz hat, wie man weiß, die griechisch-christliche Tradition ihre Interpretation der Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden gestützt. Die Gabe, die Vergebung, wenn es sie gibt, und die Spur, die es immer gibt, wären also etwas anderes als die Themen eines Gegensatzes, wie er passiv aufgegriffen und überstürzt und zwanghaft beglaubigt wird - durch jemanden wie Leon Bloy zum Beispiel, wenn er in seiner gewöhnlichen, diabolischen und bisweilen fast sublimen Schimpfkanonade schreibt: „Durch sie hat diese Algebra von Schändlichkeiten, die sich Kredit nannte, endgültig die alte Ehre ersetzt, mit der sich die ritterlichen Seelen beschieden, um alles zu erfüllen. Und als ob dieses befremdliche Volk, dazu verdammt - was auch immer geschieht - , immer gewissermaßen das Volk Gottes zu sein, nichts tun könne, ohne auf der Stelle einen Widerschein seiner ewigen Geschichte erscheinen zu lassen, wurde die lebendige und barmherzige REDE der Christen, die einst den unparteiischen Ubereinkünften genügte, erneut in all den Geschäften voller Ungerechtigkeit der rigiden SCHRIFT, unfähig zur Vergebung, geopfert. Ein unendlich entscheidender Sieg, der den universalen Zusammenbruch bestimmt hat." (Das Heil durch die Juden [Le Salut par les Juifs], Mercure de France, 1905/06, S. 192f.) Als ob die REDE - insbesondere in den „unparteiischen Übereinkünften"! - weder Zeit noch Spur oder Kredit erforderte. Als ob die Grenze zwischen dem Glauben, der Glaubwürdigkeit und dem Kredit sicher wäre. Das Heil durch die Juden ist nicht sehr weit entfernt von Baudelaire, den zu lesen wir erst beginnen. Es bedürfte gerade in diesem Zusammenhang einer geduldigen Analyse namendich all dessen, was die Figur des Armen, des „wahren Armen" (S. 61) betrifft: Jesus Christus. Die Juden werden dabei auch als „Gläubiger eines unvergänglichen Versprechens, das die Kirche als erfüllt betrachtete [...]" (S. 84), beschrieben.

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nicht zurückzukehren) ist kein natürlicher, der gebenden Instanz äußerlicher Zufall; er ist nur denkbar im Anschluß an die Gabe. Damit ist nicht einfach gesagt, daß allein der Tod oder Totes geben kann. Nein, allein das „Leben" vermag zu geben, aber ein Leben, in dem diese Ökonomie des Todes sich darstellt und sich überborden läßt. Weder der Tod noch das unsterbliche Leben können jemals geben, sondern allein ein einzigartiges Überleben31. Das ist der Grundstoff dieser Problematik. Der Text, der Baudelaire gutgeschrieben ist und den wir gerade erst zu lesen beginnen, gehört einer Schrift-Szene an, also dem Schauplatz einer für kein Subjekt denkbaren Gabe. Im Innern dieses überfrachteten und überbordenden Schauplatzes, seiner Bestimmung und seiner Schickung ohne identifizierbaren Empfänger und ohne gesicherten Sender, hebt sich unser Korpus ab. In dem Maße aber, wie er eine Geschichte der Gabe erzählt, verfällt dieser Korpus darauf, „an" sich selbst, „von" selbst das Uberborden zum Ausdruck zu bringen, das ihn einrahmt und das seinen Rahmen überbordet. Er wird diese absolute Dissemination in abgründiger Nachträglichkeit nach-zeichnen 32 , die den Text dazu bestimmt, in Asche oder Rauch aufzugehen. Zum Beispiel von Tabak. Es ist nicht unbedeutend, daß der Laden, von dem aus sich diese Szene der Gabe und des Falschgeldes entfaltet, das ist, was man in Frankreich einen Tabakladen [bureau de tabac] nennt. Im „ersten Satz", dem incipit der Erzählung, die so tut, als ob man nach einer Unterbrechung fortfahre, haben wir schon den ganzen Fortschritt eines infiniten Sprungs über den Abgrund zweier Sätze, die keine strukturelle Identität aufweisen, des Titels und des Anfangs der Erzählung: „Während wir uns von dem Tabakladen entfernten, begann mein Freund, die verschiedenen Münzsorten seines Geldes sorgfältig zu sondern." Der Tabakladen ist augenscheinlich Abzeichen oder Wahrzeichen der Modernität, dieser „Schilderung des modernen Lebens", auf die Baudelaire, wie er gerade in seiner Widmung an Arsene Houssay sagt, das „Verfahren" eines anderen „anwenden" will. Aber im Wahrzeichen dieser Modernität gibt es die ältere Institution des Tabaks, die der Szene als wesentlicher Schmuck dient. Sie haben soeben Tabak gekauft - ihn sich geleistet - , und die ganze Ökonomie der Erzählung - wie die Erzählung der Ökonomie - nimmt ihren Ausgang von einem Rest, vom zurückgegebenen Geld, vom Wechselgeld, das von diesem Kauf übrigbleibt. Im Französischen zumindest besagt ein und dasselbe Wort monnaie (und das Wort ist ein Geldstück [piece de monnaie]) zugleich die Geld-Sache im allgemeinen und den Rest einer Geldoperation, zum Beispiel das Wechselgeld, das man zurückgibt, oder das „Kleingeld" (change im Englischen). Was die Ökonomie der Erzählung und die Erzählung der Ökonomie anbelangt, so haben wir flüchtig den Grund eingesehen, aus dem die Gabe, wenn es sie gibt, zugleich 31 Zum Konzept des Uberlebens vgl.: Survivre [„Uberleben"], in: Parages, a. a. Ο. 32 Α. d. Ü.: Im Original: re-marquer, was soviel wie „wieder-kennzeichnen", „unter-streichen"·, zusammengeschrieben aber auch „bemerken" heißt.

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die Möglichkeit der Erzählung einfordert und ausschließt. Die Gabe gehört zur Bedingung der Erzählung, gleichzeitig aber zur Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Erzählung. Die Ökonomie dieser Falschgeldgeschichte wird durch einen Rest in Umlauf gebracht, aber auch in einen Rest Geld nach einem Tabakkauf eingeschlossen. Die Zeit der Erzählung beginnt, wenn das Geld einmal zurückgegeben wird, und herausgegeben auf eine luxuriöse Verschwendung: eine zumindest dem Anschein nach - unproduktive Verschwendung für den Erwerb eines Luxusprodukts, das heißt reiner Konsumierung, das anscheinend ohne Rest verbrennt. Die beiden Freunde sind anscheinend in dieser Szene durch die gemeinsame Möglichkeit verbunden, daß sie rauchen, anders gesagt, daß sie als reinen Verlust, für das rein auto-affektive Vergnügen, ganz ähnlich wie die Stimme und ihr ganz nahe, dieses natürliche Produkt verschwenden, das der Tabak ist. Wenn wir der oft unwiderstehliche Versuchung erlägen, diese Lektüre sich grenzenlos ausdehnen zu lassen, würden wir uns hier auf einen Diskurs über den Tabak einlassen - und zwar zumindest über den Tabak und den Rausch bei Baudelaire.

Aber beharren wir auf dem Tabak und zwar aus Gründen, die strenger genommen für Das falsche Geldstück immanente sind. Man würde in der Tat einen der sichersten, wenn nicht sichtbarsten Zugänge zum Einsatz dieses Duells verfehlen, wenn man den Kontrakt oder den Bund zwischen dem Erzähler und dem, den er jedesmal „mein Freund" nennt, vernachlässigte; und wenn man folglich das Zentrum dieser Geschichte dem Anschein entsprechend zwischen dem Bettler und dem ansiedelte, der ihm Falschgeld gibt, anders gesagt, der ihm Geld anbietet oder reicht, ohne ihm etwas zu geben, auf jeden Fall ohne ihm etwas zu geben, das auf legale oder legitime Weise verbürgt wäre. Es gibt dort eine Szene der Gabe und der Vergebung, einer Gabe, die nichts zu geben scheint, und einer Vergebung, die sich letztlich verweigert: doppelte Annullierung, doppelter Zirkel und doppelter Ring der Annullierung. Der agonalen Szene wird eine starke libidinöse Besetzung zwischen dem Erzähler und seinem Freund verliehen, im Innern oder ausgehend von einer Freundschaft, einer Übertragung, einem Bund, einem Kontrakt - zu denen der Tabak den Ton anzugeben scheint. Er tut es vor allem: Er scheint vor dem Anfang dazusein. Vor dem ersten Akt, vor dem Wort gibt es, gab es, wird es Tabak geben. So der Aufbruch, der Beginn, bzw. die erste Teilung: Alles geht davon aus, alles ist daraus hervorgegangen, alles entsteht daraus wie aus dem logos, dessen Ursprung dies bereits ist, und man kann von dort aus nur aufbrechen, das heißt davon herkommen, das heißt sich davon entfernen: „Während wir uns von dem Tabakladen entfernten ..." Ein Verrat, vielleicht ein Meineid, bedroht die Teilung, den Kontrakt oder die geschworene Treue vom ersten Schritt an, der die beiden vom Tabakladen entfernt. Ihre Schritte, ihr Gang, ihr Spaziergang machen die rhythmisierte Geschichte dieser

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Bedrohung durch Verrat aus. Eine Lesehypothese wäre: Das, was verdächtigt, angeklagt, verurteilt wird, ist nicht so sehr der Akt selbst, nämlich der Mißbrauch, der darin besteht, den Bettler zu täuschen, obgleich dieser Akt in der Tat das Zentrum der Erzählung beherrscht. In Wahrheit wäre es der Verrat des Erzählers durch seinen Freund, der unverzeihlich bleibt. Genauer genommen wird es von demjenigen als unverzeihlich beurteilt, für unverzeihlich gehalten, der „ich" sagt. Aber worin besteht dieser Verrat? Was wird letztlich nicht vergeben? Was sind die Gründe für den Urteilsspruch? Das bleibt im Dunkeln. Nicht allein dunkel, weil es äußerst schwierig zu bestimmen wäre, sondern dunkel, weil die Bedingungen der Bestimmbarkeit selbst nicht in der (formalen oder thematischen) Struktur dieser Szene gegeben werden können. Die Beweisführung, die auf eine Nicht-Vergebung für eine Nicht-Gabe erkennt, ist verwickelt; sie beruft, um sich zu rechtfertigen, eine ganze Philosophie, deren Mittagstunde (der schattenlose Stand der Sonne) äußerst elliptisch ist 33 . Dem Erzähler gegenüber - und nicht dem Bettler, dem stummen Zeugen gegenüber - hat es der „Freund" an der Gabe fehlen lassen. In der Gabe des falschen Geldstücks (wenn er denn getan hat, was er sagte), hätte der Freund sein Versprechen verfehlt, mit ihm gebrochen, hätte er jemanden betrogen, das Vertrauen von jemandem getäuscht, hätte er verraten, aber was und wen? Um auf diese Frage eine Antwort zu versuchen, muß man sich ein wenig aus dem Zentrum entfernen. Man muß das scheinbare Herdfeuer einer Erzählung verlassen, deren Alchimie so schön, mangels Sinn, wie Mallarme sagen würde, Ästhetik und politische Ökonomie verschmilzt, „Kredit" und „Kapital" und das „Geld" 3 4 .

33 A. d. Ü.: Derrida spielt hier auf die idiomatische Wendung chercher midi a quatorze heures an, die gleichsam das Bild einer elliptischen Verzerrung der Mittagsstunde evoziert. 34 „Einige Hochachtung, besser, dem erloschenen Laboratorium des großen Werks gegenüber, bestünde darin, ohne Herd die Manipulationen, Gifte - anders erstarrt als zu Edelsteinen wiederaufzunehmen, um mit der einfachen Intelligenz fortzufahren. Da für die geistige Forschung insgesamt nur zwei Wege offen sind, an denen sich unser Bedürfnis, mithin die Ästhetik einerseits und auch die politische Ökonomie verzweigt: so war in dieser letzten Hinsicht prinzipiell die Alchimie der glorreiche, frühreife und undeutliche Vorläufer. Alles, was als selbst, rein, als Mangel eines Sinns, vor der Erscheinung, j etzt der Menge, dem sozialen Bereich wiedererstattet werden muß. Der nichtige Stein, genannt der philosophische, träumt vom Gold: Aber er kündigt, im Finanzwesen, den zukünftigen Kredit an, wobei er dem Kapital vorausläuft oder es auf die Unterwürfigkeit von Geld reduziert! Mit wieviel Unordnung wird das um uns her gesucht, und wie wenig begriffen!" (S. Mallarme, Magie, Oeuvres Completes, hg. von H. Mondor und G. Jean-Aubry, Paris 1974, S. 399f. [eig. Übers.])

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Machen wir kehrt [revenons sur nos pas] und kehren wir zu dem zurück, was das Ereignis an die Gabe bindet: Keine Gabe [pas de don] ohne das Eintreten eines Ereignisses, kein Ereignis ohne die Überraschung einer Gabe. Was dem Bettler und dem Freund des Erzählers geschieht, was insgesamt zwischen ihnen gereicht wird oder passiert, scheint zunächst das zentrale Ereignis der Erzählung zu bilden. Aber der Widerhall dieser Geste erscheint nur in einem Diskurs. Das triumphierende Bekenntnis des Freundes sagt zum Erzähler: „Es war ein falsches Geldstück." Der ganze Rest ist dann in der Tat durch eine Art inneren Monologs beherrscht: die privaten Uberlegungen des Erzählers. Dieser spricht in der ersten Person. Er tut es stets, er spricht ununterbrochen bei sich und gibt es bisweilen, wie mit einer aus dem Innern ertönenden lauten Stimme zu bedenken, wenn er zum Beispiel uns sagt, was er bei sich sagt: ,„Was für eine wunderlich umständliche Art, sein Geld auf sich zu verteilen', sprach ich bei mir selbst." Die wesentliche Bewegung der Erzählung als solcher, das, was sie voranschreiten läßt, hängt zunächst, man könnte sagen allein, von dem ab, was dem Erzähler unter diesen Umständen geschieht. Und das, was ihm geschieht, ist das, was in seiner Freundschaft eintritt, was dieser Freundschaft zustößt, um sie überraschenderweise zu befremden. Aber noch genauer reduziert sich das Ereignis nicht auf das, was dem Erzähler unter diesen Umständen zustößt, um seine Freundschaft zu berühren. Es nimmt die Form eines Grübelns über das Ereignis an, und zwar eines von Spitzfindigkeit und Spekulation nicht freien Grübelns. Der Erzähler spekuliert über/auf eine Spekulation, über/auf dieses Ereignis, das, insofern es in einer Gabe besteht (der Gabe eines Geldstücks, das sich als falsch erweist, wenn man so sagen kann35), wohl das Ergebnis einer Spekulation sein könnte, das seinerseits, auf kapitalisierende Weise, weitere spekulative Ereignisse erzeugt. Das Ereignis insgesamt ist das, was das „Ich" dazu antreibt, sich zu fragen: „Was geschieht mir?" „Was ist gerade geschehen?" Und: „Was ist ein Ereignis?" Was besagt „geschehen'7„ankommen" [arriver]? Kann man ein Ereignis schaffen? Kann man die Geschichte machen, eine Geschichte machen, kann man generell ausgehend oder mit Hilfe von einem Trugbild etwas machen - hier Falschgeld? Der Erzähler sagt, er sagt bei sich in einem bestimmten Augenblick zu Anfang seiner Spekulation: „ein solches Verhalten meines Freundes sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, in dem Leben dieses armen Teufels ein Ereignis zu schaffen". Was aber gereicht wird und passiert, und zwar durch eine Ubertragungsbewegang, besteht darin, daß das Ereignis im Leben des Erzählers selbst geschaffen wurde; es hat das Gewebe der Beziehung [relation] selbst betroffen, der Relation als Erzählung oder

35 A. d. Ü.: Derrida spielt hier auf die Etymologie des französischen Wortes averer an, das als voir vrai („[als] wahr sehen") hier im Widerspruch zu „falsch" steht.

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Bericht, wie sich von selbst versteht36, zunächst aber der Beziehung zwischen dem Erzähler und seinem Freund. Was durch das geschieht, was passiert, das geschieht dem Erzähler und seiner Freundschaftsbeziehung: den anderen nicht freisprechen zu können, unfähig zu sein, ihm zu vergeben, ihm nach dem Ereignis seine Vergebung zu erteilen, das er vielleicht provoziert haben wird, indem er Falschgeld darbot. Der Erzähler sagt uns mit einem Wort - und man muß es eher im Erzählakt als im Inhalt der Geschichte oder der Erzählung vernehmen (um sich noch dieser drei Kategorien zu bedienen) - : Das ist es, was mir geschieht, das ist es, was uns geschieht, meinem Freund und mir. Ich kann ihm nicht meine Vergebung erteilen, in Wahrheit schulde ich ihm nicht diese Vergebung, ich muß sie ihm sogar verweigern - stillschweigend, denn indem er diesem Armen nicht wirklich gegeben hat, hat er mir nicht gegeben. Gegeben was ? Die Frage ist durch zu viele Umwege und Schlichen verschaltet [relayee], als daß eine einzige und unmittelbare Antwort ihr gleich jetzt gerecht werden könnte. Versuchen wir im Augenblick nur, einen Ort [lieu]37 des Ereignisses herauszustellen, der es wagt, im Hintergrund der Geschichte und der Erzählung selbst zu bleiben. Das Ereignis findet in der strukturierten Dichte der Erzählung statt [lieu], im Stoff der erzählerischen Relation, die den Erzähler mit seinem Freund verbindet. Denn sogar die Beziehung als Bund oder als Religion der Freundschaft zwischen ihnen nimmt ebenfalls - zwischen ihnen - die manifeste Form der erzählerischen Relation an. Wenn der Freund dem Erzähler nicht erzählt hätte, was tatsächlich passiert ist, („... - ,Es war das falsche Geldstück', antwortete er gelassen, als wollte er seine Freigebigkeit rechtfertigen"), wenn der Freund nicht erzählt hätte, was in Wahrheit passiert ist, wenn er nicht - so ganz den Anschein erweckend, als ob er sich dessen rühmte - die Wahrheit eingestanden, gesagt, erschaffen hätte, wäre nichts dem Erzähler und in der Erzählung geschehen. Was für verdrehte und verwickelte Motivierungen man auch immer dem Freund unterstellen mag, wenn er dem Erzähler die Wahrheit sagt (und wir werden darauf zurückkommen): man hat allen Grund [lieu] zu denken, daß er auf den Erzähler einwirken wollte. Diese Wirkung sollte dem Erzähler geschehen oder der Freundschaft, die ihn mit dem Erzähler verbindet. Auch auf dieser Seite geht es darum, „ein Ereignis zu schaffen". Wenn man die Dinge mit Mühe in diese Richtung vorantreibt, kann man sich vorstellen, daß der Freund, wäre er mit dem Bettler allein gewesen, vielleicht kein Falschgeld gegeben hätte: Er hat es nur in Gegenwart des Erzählers getan und um den Erzähler mit seinem Bekenntnis zu provozieren. Denn ein Bekenntnis steht im Zentrum dieses Umlaufs oder dieser 36 A. d. Ü.\ Das französische Wort relation hat übertragen auch die Bedeutung „Bericht, genaue Erzählung". 37 A. d. Ü.\ Das französische Substantiv lieu verbindet gleichsam in den beiden Ausdrücken avoir lieu („stattfinden") und donner lieu („Grund/Anlaß geben") die Dimensionen des Grundes und des Ereignisses.

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Ökonomie, ein Bekenntnis ohne Reue und ohne Erbarmen, aber ein Bekenntnis, durch das der Schuldige (der sogenannte oder mutmaßliche Schuldige, der Angeklagte) sich, indem er die Wahrheit liefert, dem Erzähler-Freund ausliefert. Indem er sich so ausliefert (im Namen der Wahrheit oder der Freundschaft), gibt er sich zwar hin, erweckt er zumindest den Anschein sich hinzugeben, sich zur Schau zu stellen, sich zu erkennen zu geben, sich dem Urteil zu stellen, aber wir werden sehen, daß der Erzähler diese Gabe keineswegs anrechnen wird und darauf jedenfalls nicht mit einer Vergebung antworten wird. Wenn der Freund den Erzähler hat provozieren wollen, wozu wollte er ihn drängen? Und wie? Wir werden es vielleicht sehen, vorausgesetzt, daß es etwas zu sehen gibt und daß die Relation (-Ferenz, Referenz, Differenz, differance, Transfer oder Erzählung) nicht da wäre, um das Sagen so zu sagen, wie es vom Sehen ablenkt. Etwas geschieht also, kommt vor; ein Ereignis findet statt. Wo findet es statt? Wo passiert es ? Wem geschieht es ? Worin besteht es ? Was hier geschieht, ist nicht der Inhalt einer Geschichte: jene Ereignisse, von denen eine erzählerische Beziehung [relation] allgemein berichtet. Was geschieht, geschieht der Erzählung, den Elementen der Erzählung selbst, angefangen mit der Fiktion ihres unterstellten Sujets. Man denkt allgemein, daß der erzählerische Diskurs von Ereignissen berichtet, die außerhalb und vor ihm stattfinden. Die erzählerische Beziehung, so denkt man, erzählt sich nicht selbst, sie berichtet von einem Inhalt, der außerhalb und vor ihr gegeben ist. Hier - das müssen wir berücksichtigen - geschieht das, was geschieht, dem Erzähler und der Erzählung; was geschieht, provoziert den Erzähler und die Erzählung; und die Komponenten der Erzählung sind es, ohne welche das Ereignis sicherlich nicht stattfände. Es ist, als ob die erzählerische Bedingung der Grund der erzählten Sache wäre: als ob der Bericht das Ereignis erzeugte, von dem er angeblich berichtet. Unter der Bedingung des Berichtes würde das erzählte Ereignis stattfinden, wird es stattfinden. Der Bericht als Grund und Bedingung der Sache ist der Bericht, der die Möglichkeit der erzählten Sache gibt, die Möglichkeit der Geschichte als Geschichte einer Gabe oder einer Vergebung, aber auch und dadurch selbst die Möglichkeit der Unmöglichkeit der Gabe und der Vergebung: „Ich werde ihm nie verzeihen ...", schließt der Erzähler. Halten wir es vorübergehend fest: In jeder Situation, in der die Möglichkeit des Berichtes die Bedingung der Geschichte, des historischen Ereignisses ist, müßte man sagen können, daß die Bedingung für oder das Begehren nach Wissen (episteme, historia verum gestarum, Geschichtswissenschaft) Gelegenheit zur Geschichte selbst gibt (res gestae, Geschehen*, Geschichte''), was wohl Argumentationen des hegelschen oder heideggerschen Typs komplizieren, wenn nicht letztlich widersprechen könnte, die immer eine umgekehrte Ordnung zu fordern scheinen (keine Geschichtswissenschaft ohne Geschichte*); aber es stimmt, daß man damit die Möglichkeit des Berichts oder der Wissensbeziehung zuvor in diejenige des Ereignisses integriert hat. Von solcher Art wäre die gegebene Zeit, von solcher Art wäre der gegebene Raum, von solcher Art wäre die befremdliche Struktur der Verräumlichung von Das falsche

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Geldstück, von dem Augenblick an, wo die beiden Freunde - deren einer der Erzähler ist - sich voneinander entfernen und zunächst beide vom Tabakladen. Verräumlichung: Sie entfernen sich gleichen Schritts, aber mit einem Schritt, der auch ganz anders sein muß. Dieser Schritt skandiert die Zeit der Geschichte, er schreitet von einem gegebenen Moment zum nächsten voran. Es muß Ereignis geben - folglich Erzählungsappell und Erzählungsereignis - , damit es Gabe gibt und es muß Gabe geben oder Phänomen der Gabe, damit es Erzählung und Geschichte gibt. Und dieses Ereignis, Bedingungsereignis und Ereignisbedingung, muß auf eine bestimmte Weise unvorhersehbar bleiben. Die Gabe, wie das Ereignis, als Ereignis, muß unvorhersehbar bleiben, es aber bleiben, ohne sich zu bewahren. Sie muß sich durch den Zufall [alea] strukturieren lassen; sie muß zufallsbedingt erscheinen, auf j eden Fall als solche erlebt werden, als das intentionale Korrelat einer Wahrnehmung aufgefaßt werden, die absolut von der Begegnung mit dem überrascht wird, was sie jenseits des Horizontes ihrer Antizipation wahrnimmt: was schon phänomenologisch unmöglich scheint. Wie auch immer es mit dieser phänomenologischen Unmöglichkeit steht, eine Gabe und ein Ereignis, die vorhersehbar, notwendig, bedingt, programmiert, erwartet, berechnet sind, würden weder als Gabe noch als Ereignis erlebt werden - was ebenfalls von einer zugleich semantischen und phänomenologischen Notwendigkeit gefordert wird. Aus diesem Grunde ist die gemeinsame Bedingung der Gabe und des Ereignisses eine gewisse Unbedingtheit* (lassen wir hier das deutsche Wort in der Schwebe; es sagt etwas über das Ding* und über das Nicht-Ding; wir werden es an anderer Stelle, ausgehend von Heidegger, neu lesen und Heidegger zurückgeben). Das Ereignis und die Gabe, das Ereignis als Gabe, die Gabe als Ereignis müssen einfallartig, unmotiviert - zum Beispiel interesselos sein. Als entscheidende müssen sie die Verkettung [trame] zerreißen und das Kontinuum einer Erzählung unterbrechen, zu der sie gleichwohl aufrufen; sie müssen die Ordnung der Kausalitäten stören: augenblicklich. Sie müssen augenblicklich, auf einen einzigen Schlag, das Glück, den Zufall, das Wagnis, die tyche mit der Freiheit des Würfelwurfs, mit dem Gabenwurf des Gebers oder der Geberin in Verbindung gebracht werden. Die Gabe und das Ereignis gehorchen nichts außer Prinzipien von Unordnung, das heißt Prinzipien ohne Prinzip. Auf jeden Fall, wenn die Gabe oder das Ereignis, wenn das Ereignis der Gabe einem System wirksamer Ursachen gegenüber unerklärlich bleiben soll, dann ist dies nicht die Auswirkung von nichts; es ist überhaupt keine Wirkung mehr, selbst wenn es, im doppelten Sinne dieses Wortes, Gabeneffekte gibt: zum Beispiel die aleatorischen Ereignisse, die durch die Gabe eines falschen Geldstückes geschaffen werden und auf/über die insgesamt beide Partner spekulieren. Und dennoch - Wirkungen reinen Zufalls werden niemals eine Gabe bilden, eine Gabe, die den Sinn einer Gabe hätte, wenn es in der Semantik des Wortes Gabe impliziert scheint, daß die gebende Instanz die Intention zu geben frei habe, daß sie durch ein Geben-Wollen und zunächst durch das Besagen-Wollen bewegt sein soll,

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durch die Intention, der Gabe ihren Sinn als Gabe zu geben. Was wäre eine Gabe, durch die ich geben würde, ohne geben zu wollen und ohne zu wissen, daß ich gebe, ohne explizite Intention zu geben, sogar mir zum Trotz? Das ist das Paradox, auf das wir uns von Anfang an eingelassen haben. Es gibt keine Gabe ohne Intention zu geben. Die Gabe kann nur eine intentionale Bedeutung haben - im doppelten Sinne dieses Wortes, das ebenso auf die Intention wie auf die Intentionalität verweist. Indessen bedroht auch alles, was aus dem intentionalen Sinn hervorgeht, die Gabe damit, sich zu bewahren, noch in der Verausgabung bewahrt zu werden. Von daher die rätselhafte Schwierigkeit, die dieser gebenden Ereignishaftigkeit innewohnt. Es bedarf des Zufalls, der Begegnung, des Unwillkürlichen, sogar des Unbewußten oder der Unordnung; es bedarf der intentionalen Freiheit und dessen, daß diese beiden Gründe - auf wundersame und angenehme/unentgeltliche Weise [gracieusement] - einer mit dem anderen übereinstimmen. Dieses Element von tyche legt sich über Das falsche Geldstück als Doppelbelichtung [se surimprime], es zeichnet sich selbst nach [re-marque]. U m hierin dem Erzähler Glauben zu schenken, hätte der Freund nur „entschuldbar" sein können (derjenige, der „ich" sagt, scheint nicht ausdrücklich zwischen Entschuldigung und Vergebung zu unterscheiden) durch das „Verlangen", „ein Ereignis zu schaffen"; nicht allein durch das Verlangen, ein von seinen Gründen und seinen Bedingungen her unvorhersehbares Ereignis mit einem Glücksschlag zu produzieren, sondern ein in seinen Konsequenzen unvorhersehbares Ereignis zu „schaffen" [creer]: „In meinem elenden Gehirn aber, das immer damit beschäftigt ist, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen (welche beschwerliche Gabe hat die Natur mir da verliehen!), entstand alsbald die Vorstellung, ein solches Verhalten meines Freundes sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, in dem Leben dieses armen Teufels ein Ereignis zu schaffen, vielleicht gar die verschiedenen möglichen Folgen zum Schlimmen oder Guten festzustellen, die ein falsches Geldstück in der Hand eines Bettlers nach sich ziehen kann. Konnte es sich nicht in echten Geldstücken vervielfältigen? Konnte es ihn nicht auch ins Gefängnis bringen? Ein Schankwirt, ein Bäcker etwa würden ihn vielleicht als Falschmünzer oder als jemand, der Falschgeld verbreitet, verhaften lassen? Ebensogut aber könnte das falsche Geldstück für einen armen kleinen Spekulanten zum Grundstock eines kurzfristigen Reichtums werden. Und so ließ ich meiner Phantasie die Zügel schießen, lieh meinem Freunde Geistesflügel und zog alle nur denkbaren Schlüsse aus allen nur denkbaren Hypothesen." Indem er bei sich spricht, indem er reflektiert - und die ganze Erzählung ist erfüllt vom Echo dieses Spiegels - , spekuliert der Erzähler auf/über die Spekulation wie ein Maler des modernen Lebens. Er spekuliert auf/über das, was dem Kapital in einer Kapitale im Zeitalter des Geldes, genauer des Wertes als Geldzeichen geschehen kann:

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Der Umlauf des falschen Geldstücks kann, selbst bei einem „kleinen Spekulanten" die realen Zinsen eines echten Kapitals erzeugen. Ist so die Wahrheit des Kapitals, insofern es Zinsen ohne Arbeit erzeugt, indem es, wie man sagt, von alleine arbeitet, nicht fortan das Falschgeld? Gibt es hier eine echte Differenz zwischen echtem und falschem Geld, sobald es Kapital gibt? Und Kredit? Alles hängt vom Akt des Vertrauens und dem Erborgten [credit] ab, von dem wir, Montaigne folgend, sprachen. Dieser Text Baudelaires handelt insgesamt von den Beziehungen zwischen der Fiktion im allgemeinen, der literarischen Fiktion, und dem Kapitalismus, so wie man eine entsprechende Szene im Herzen der modernen Kapitale photographieren könnte. Kehren wir zu den Orten dieser Szene zurück, man könnte auch sagen zu den Tatorten. Diese Erzählung entpuppt sich in der Tat als durch und durch Diskurs der Anklage und Gegenanklage. Es muß ein Verbrechen stattgefunden haben. Die tyche der Gabe, oder sagen wir eher das scheinbar aleatorische Ereignis der Spende, dient der Unterstreichung [remarquer] einer anderen tyche, die sie, ihr vorausgehend, möglich macht. Aber diese Bedingung der Möglichkeit wird niemals einen ausreichenden Grund ausmachen. Die Bedingung nimmt hier die Form eines Ereignisses als Begegnung an, die Begegnung mit dem Armen: „Wir begegneten einem Armen, der uns zitternd die Mütze hinhielt. [...]" „Während wir uns von dem Tabakladen entfernten, begann mein Freund, die verschiedenen Münzsorten seines Geldes sorgfältig zu sondern; die kleinen Goldstücke wanderten in die linke, die kleinen Silberstücke in die rechte Westentasche, in die linke Hosentasche ließ er eine größere Menge Kupfermünzen gleiten, und in die rechte endlich ein silbernes Zweifrankenstück, das er einer besonderen Prüfung unterzogen hatte. ,Was für eine wunderliche umständliche Art, sein Geld auf sich zu verteilen', sprach ich bei mir selbst. Wir begegneten einem Armen, der uns zitternd seine Mütze hinhielt. [...]" Nichts wäre passiert, nichts hätte stattgefunden ohne diese „Begegnung", ohne diesen begegnenden Armen, ohne diese schicksalshafte Begegnung. Wir übersetzten hier tyche mit „schicksalhaftes Vermögen" [fortune] 38 . Dieser Arme der Begegnung ist das schicksalhafte Vermögen der Geschichte. Anscheinend wäre nichts passiert, weder die Geste der Gabe noch das Geständnis noch das Argument der verweigerten Vergebung, ohne den Glücksfall dieser Begegnung, ohne den glücklichen Zufall [la bonne fortune], den dieser Bettler in den Weg der Freunde legt, und zwar der begüterten [fortunes] Freunde, die zumindest über Geld für einen Kauf verfügen, einen Rest an Geld. Denn offensichtlich - und wir übersetzen tyche mit „schicksal38 A. d. Ü.: Im Französischen hat dieses Wort eine Bedeutungsweite, die vom „Glück(sfall)" über „Los/Schicksal" bis hin zum ganz materiellen „Vermögen" als „Reichtum" reicht.

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haftes Vermögen", um damit zu spielen - ist der Spieleinsatz, derjenige des Zufalls, des Geschicks [sort] (fors, fors fortuna), das diesen ganzen Essai über die Gabe und die Vergebung leitet [preside], diesen Versuch [essai] zu geben und zu vergeben. Das Geschick (fors), das Los, die Lotterie, die ihn leiten und die die allgemeine Bedingung der Szene darstellen, siedeln sich sicherlich noch vor dem Würfelwurf [alea] des Ereignisses an, das möglicherweise (möglicher-weise: fors, forte; forsan,forsit,forsitan, fortasse) durch die Spende des falschen Geldstücks geschaffen wurde, noch vor dem Würfelwurf der Begegnung mit einem Armen durch Zufall und mit Glück (forte). Noch vor diesen beiden zufälligen [fortuites] Bedingungen oder Bedingungen für Zufälligkeit muß man eine andere und ganz anfängliche Bedingung annehmen. Sie taucht vom ersten Paragraphen an auf, wenn von den beiden Müßiggängern die Rede ist, die sich vom Tabakladen entfernen und die über genug Geld für all das verfügen: Diese erste Bedingung ist die soziale Lage [condition sociale] der beiden Partner: Es ist ihnen gegeben, begütert zu sein, vom Schicksal genügend begünstigt zu sein, um beabsichtigen zu können, diesen Überschuß zu geben, dieses Zusätzliche oder Uberflüssige. Wie Auguste Dupin in Der gestohlene Brief (er ist „beschränkt" auf die „Armut", lebt aber angemessen auf Kredit, by courtesy of his creditors, und kann sich sogar den Luxus von Büchern leisten39), sind die beiden Freunde nicht notwendigerweise reich, aber sie können sich den Luxus leisten, Almosen zu geben. Da nichts über den Ursprung dieses Reichtums gesagt wird, noch über die Umstände dieser sozialen Lage, passiert alles, als ob es natürlich wäre, als ob die Natur über diese Zugehörigkeit zur sozialen Klasse entschieden hätte. Das schicksalhafte Vermögen, das ist die Natur. Sie gibt gratis denen, die über die Gunst verfügen, von ihr diese Gabe zu empfangen, sie gibt ihnen eine Gabe, die ihnen etwas zum Geben gibt. Diese Einheit von Natur und schicksalhaftem Vermögen wird weiter unten im Text betont, wenn der Erzähler gesteht: „In meinem elenden Hirn aber, das immer damit beschäftigt ist, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen (welche beschwerliche Gabe [faculte, Vermögen, anders gesagt Gabe als gift: sie ist begabt, gifted] hat mir die Natur da verliehen!), entstand alsbald die Vorstellung, ein solches Verhalten meines Freundes sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, [...] ein Ereignis zu schaffen [...]." (Ich unterstreiche diese Beziehung zwischen der Unentgeltlichkeit der Gabe und der einfallartigen Plötzlichkeit des Gedankens.) Es ist also die Natur, die ihm dieses schicksalhafte Vermögen zum Geschenk gemacht hat. Sie hat ihm diese Gabe geschenkt, auf beschwerliche Weise an der Suche nach dem zu arbeiten, was sich nicht an dem Orte findet, wo es sich natürlicherweise befinden sollte. Die Natur hat ihm diese Gabe verliehen zu suchen, was nicht natürlicherweise seinen Platz einnimmt. Hier haben wir eine Art von wider-natürlicher Gabe der Natur, um gegen die natürliche Tendenz zu streben, das heißt auszufragen, anzufragen, zu 39 Vgl.: Le facteur de la verite, in: La carte postale, Paris 1980, S. 515 (dt. von H.-J. Metzger: „Der Facteur der Wahrheit", in: Die Postkarte, 2. Lieferung, a. a. O., S. 271).

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fordern und zu begehren. Dieser Zufall, dieser Glücksfall der Geburt erweist ihm die zufällige Gunst, scheinbar gegen die Natur anzugehen, und zwar auf artifizielle, arglistige und mühselige, das heißt hart arbeitende Weise. Es gibt an dieser natürlichen Gabe der Wider-Natur ein zusätzliches Paradox: Am Ende einer mühseligen Beschäftigung seines Geistes, der „immer damit beschäftigt ist, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen", kommt ihm „alsbald" ein Gedanke. Er überkommt ihn nicht als Frucht der Arbeit, sondern auf vielmehr unerwartete, unvorhersehbare Weise, die sich diskontinuierlich zu der ihr vorausgehenden Mühe verhält. Er wird unentgeltlich und zufällig gegeben, wie ein zufälliges Zusammentreffen: „In meinem elenden Gehirn aber, das immer damit beschäftigt ist, sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen (welche beschwerliche Gabe hat mir die Natur da verliehen), entstand alsbald die Vorstellung, ein solches Verhalten meines Freundes sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, in dem Leben dieses armen Teufels ein Ereignis zu schaffen, vielleicht gar \fors, forte ...] die verschiedenen möglichen Folgen zum Schlimmen oder Guten festzustellen, die ein falsches Geldstück in der Hand eines Bettlers nach sich ziehen kann. [...]" Im Zeichen dieses vielleicht entfalten sich unter diesen Umständen all die unvorhersehbaren Konsequenzen des Ereignisses, das durch das falsche Geldstück seines Freundes provoziert wurde. Diese Einheit von schicksalhaftem Vermögen und Natur, von Geschick (fors) und dem, was freigiebig bei der Geburt (der Natur, vielleicht der Nation) gibt, ist ein Bund, der den ganzen Diskurs des Erzählers beherrscht und in ihm die paradoxesten Effekte provoziert. Da wir von „Paradox" sprechen, rufen wir uns in Erinnerung, daß Baudelaire den Plan hatte, eine Novelle „Das Paradox des Almosens" zu nennen, und daß einige seiner Herausgeber geneigt sind, darin den ersten Titel für Das falsche Geldstück zu sehen. All diese Paradoxa sind programmiert im Begriff (in der Geschichte des Begriffs) von Natur und zunächst von physis. Die Geschichte dieses Begriffs von Natur steht in wesentlicher Beziehung zur Gabe. Und das auf zwei Weisen: Als naturierende, ursprüngliche und produzierende physis vermag die Natur einerseits die große, freizügige und geniale Geberin sein, auf die alles zurückgeht, so daß alles der Natur gegenüber andere (Kunst, Konvention, Gesetz (nomos, thesis), Freiheit, Gesellschaft, Geschichte, Geist etc.) auf sie zurückgeht, noch sie selbst als differance ist; und andererseits, sagen wir nach einer „cartesianischen" Epoche, kann die Natur die Ordnung der natürlich genannten Notwendigkeiten sein - genau genommen im Gegensatz zur Kunst, zum Gesetz {nomos), zur Freiheit, zur Gesellschaft, zur Geschichte, zum Geist etc.: Das Natürliche ist unter diesen Umständen noch auf die Gabe bezogen, diesmal aber in der Form des Gegebenen. Wir werden hier nicht über dieses Schema hinausgehen können40. Mit dem Begriff von physis läßt 40 Diese „Logik" und „Aporetik" der Gabe entfalten hier diejenigen der differance. Die Frage der Gabe war dem Text eingeschrieben, der diesen Titel trägt (La Differance (1968), in: Marges - de la philosophie, Paris 1972, S. 27; dt. in: Randgänge der Philosophie, übers, von

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sich auch derjenige von Produktion verbinden. Wie derjenige der Arbeit kann sich der Begriff von Produktion bisweilen dem abgeleiteten (nach-"cartesianischen") Sinn von Natürlichkeit widersetzen und bisweilen auch dem Wert als Gabe: Das Produkt ist nicht das Gegebene, und das Produzieren scheint so die Schenkung auszuschließen. Aber ist das phyein der physis nicht die Schenkung von dem, was Leben schenkt, die ursprüngliche Produktivität, die erzeugt, wachsen und gedeihen läßt, an den Tag und zum Erblühen bringt? Ist sie nicht das, was Form gibt und, indem es die Dinge der Phänomenalität des Tages überführt, die Wahrheit von dem enthüllt oder entwickelt, was sie gibt? Von dem selbst, was sie gibt, und der Tatsache, daß sie ergiebig41 ist? In dieser gebenden Produktivität stehen sich das schicksalhafte Vermögen (Geschick, Glück, Zufall, fors, Zufälligkeit) und die Notwendigkeit nicht als Gegensatz gegenüber, sie gehen im Gegenteil eine Verbindung ein. Wie soll man sich hinsichtlich dieser ursprünglichen Produktivität verhalten, die Glück und Notwendigkeit der schenkenden Natur darstellt, das ist hier die - sozusagen zugleich physische und ethische - Frage, die Das falsche Geldstück beherrscht. Der Erzähler trägt dazu seine Antwort bei, eine mögliche Antwort. Von der Natur aber damit begabt, „sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen", wird seine Antwort auch elaboriert sein. Diese Elaboriertheit hat nur den Sinn, sich auf einen schematischen Entwurf zu beziehen (auf ein Schema im kantischen Sinne), der die produktive Natur mit der moralischen Natur durch das Mittel der Gabe verbindet. Wo es um die rätselhafte Einheit des schicksalhaften Vermögens (des fors) mit der produktiven Natur geht, sei - ohne daraus ein Argument abzuleiten - darauf verwiesen, daß der Littre fors,fortuna auf ferre zurückführt (fero, ferre; griechisch: phero), was tragen, erzeugen bedeutet, zum Beispiel von Früchten oder von Ernten (fruges). Fero bedeutet auch „ich erstatte Rapport" im Sinne von erzählen, im Sinne von Relation als Erzählung (latum als Partizip Perfekt von ferre), der Relation als Bericht oder der Relation E. Pfaffenberger-Brückner, Frankfurt a.M. 1976, S. 34f.). Es ging damals in Erinnerung an den Satz Heideggers {„Die Gabe von Anwesen ist Eigentum des Ereignens*", Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Tubingen 1969, S. 22) darum zu unterstreichen, daß es „kein Wesen der differance" gibt, daß sie das ist, „was sich in dem als solches ihres Namens oder ihres Erscheinens nicht aneignen lassen kann, sondern was überdies die Autorität des als solches [...] bedroht". Das ist es, was hier insgesamt über die Gabe gesagt wird, und man muß unter diesen Umständen zögern zu sagen: von der Gabe als solcher. Damals wurde die „Notwendigkeit eines zukünftigen Weges" markiert: „Die differance ist keine ,Art' der Gattung ontologische Differenz. Wenn ,die Gabe von Anwesen [...] Eigentum des Ereignens ist', ist die differance kein Eignungsprozeß in irgendeinem Sinne. Sie ist weder dessen Setzung (Aneignung) noch dessen Negation (Enteignung), sondern das andere. Demnach wäre sie aber wir markieren hier nur die Notwendigkeit eines zukünftigen Weges wie es scheint, ebensowenig wie das Sein eine Art der Gattung Ereignis." 41 A. d. Ü.: Donner hat im produktionslogischen Sinne auch die Bedeutung von „geben/ergeben", „hervorbringen", bei Bäumen ζ. B. „tragen".

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als socius. Ist es nötig zu unterstreichen, daß diese Problematik des Falschgeldes uns unaufhörlich mitten hinein in die großen Fragen der Referenz und der Differenz trägt und zurückträgt? Wo ist der echte Referent von Das falsche Geldstück? Was heißt es, sich auf Geld, auf ein Geldzeichen beziehen? Und wenn sich das Geld oder die Münzen dematerialisieren (Schecks, Kreditkarten, Geheimnummern etc.), was wird dann aus dem Akt des Gebens, zum Beispiel den Armen auf der Straße zu geben? Was ist „borgen [credit]" in diesem Fall - um noch einmal Montaigne zu zitieren? Was ist Glauben? Was der Kredit im Literarischen? Kann man die Geschichte des Geldes erzählen? Und macht diese Geschichte irgendwelche Literatur aus? Kann man Geld zitieren? Kann man einen Scheck zitieren, und was ist das wert?

Mangels Zeit (es gibt Zeit nicht, man braucht Zeit, man muß anhalten, man muß sondieren) halten wir allein einige Motive fest: 1. Das Verlangen, durch die Spende von Falschgeld „ein Ereignis zu schaffen", vermag nicht zu entschuldigen, einen entschuldbaren verbrecherischen Genuß verschafft es nur, wenn es Verlangen gewesen ist, ein Ereignis zu schaffen. An sich wäre dieses Verlangen gut, es wäre das Verlangen, schlicht und einfach etwas zum Leben zu geben, mehr zum Leben zu geben, ja sogar Leben zu schenken („[...] ein solches Verhalten meines Freundes sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, in dem Leben [Hervorh. von mir] dieses armen Teufels ein Ereignis zu schaffen [...]"). 2. Die Chance dieses Ereignisses beschränkt sich nicht auf die Erfahrung, die unmittelbar dem überraschten armen Teufel zuteil wird. Sie schließt die möglichen aleatorischen und unberechenbaren Konsequenzen des falschen Geldstücks in sich. Man vermag nur nach Maßgabe des Unberechenbaren zu geben, sagten wir, und folglich würde allein eine Falschgeld-Hypothese die mögliche Gabe zurückgeben. Man gibt niemals echtes Geld, das heißt ein Geldstück, dessen Auswirkungen man angeblich berechnen kann, mit dem man rechnen kann und im voraus die Ereignisse erzählen, die man sich daraus errechnet. Es sei denn, daß dieser Gegensatz von echtem und falschem Geld hier seine Relevanz verliert - und das wäre eine der Beweisführungen dieser literarischen Erfahrung, dieser Sprache als immer auch möglichen Falschgelds. Diese aleatorischen Konsequenzen gehören also zum genetischen Typus, entsprechend den Figuren der Empfängnis, der Erzeugung und des Keimens (unterstreichen wir: „[...] die verschiedenen möglichen Folgen zum Schlimmen oder Guten, die ein falsches Geldstück in der Hand eines Bettlers nach sich ziehen [engendrer, „erzeugen"] kann [...]", und weiter unten: „Ebensogut aber könnte das falsche Geldstück für einen armen kleinen Spekulanten zum Grundstock [germe, „Keim"] eines kurzfristigen Reichtums werden."). Die Spekulation des Erzählers, die über/auf die wahrscheinliche Spekulation seines Freundes in bezug auf die mögliche Spekulation des armen Teufels spekuliert, wird durch das Falschgeld hindurch zu einem ovulatorischen oder seminalen

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Kapital, das echtes Geld erzeugt. Im Prinzip ohne zuweisbare42 Grenze. Hier kündigt sich die Unendlichkeit oder vielmehr die Unbestimmtheit als „schlechtes Unendliches" an, die die Geldsache (echtes oder falsches Geld) und alles charakterisiert, an was sie rührt, alles, was sie kontaminiert (das heißt, per definitionem, alles). Hier kündigt sich das Quasi-Automatische ihrer Akkumulation an und folglich das Verlangen, das sie beruft oder erzeugt. Das ist es sicherlich, was Aristoteles im Auge hatte, wenn er zwischen Chrematistik und Ökonomie unterschied. Erstere, die darin besteht, Güter auf dem Wege des Handels, also durch Geldverkehr oder -austausch zu erwerben, kennt von Rechts wegen keine Grenzen. Die Ökonomie dagegen, das heißt die Führung des oikos, des Haushaltes, der Familie oder der Hausgemeinschaft, beschränkt sich auf die zum Leben notwendigen Güter. Sie bewahrt sich vor der Illusion, das heißt vor der chrematistischen Spekulation, die Reichtum und Geld vermengt43. Wohl verstanden, handelt es sich bei Aristoteles dabei um eine ideale und wünschenswerte Grenze, um eine Grenze zwischen dem Begrenzten und dem Unbegrenzten, zwischen dem wahrhaften und begrenzten Gut (dem Ökonomischen) und dem illusorischen und unbestimmten Gut (dem Chrematistischen). Diese Grenze wird hier verwischt, denn die Kontamination, von der wir sprechen, affiziert α priori das familiale Gut. Sie affiziert zugleich die Grenze zwischen der unterstellten Endlichkeit des Bedürfnisses und der angeblichen Unendlichkeit des Verlangens, der Transzendenz des Bedürfnisses durch das Verlangen. Sobald es Geldzeichen und zunächst Zeichen gibt, das heißt Differenz und Kredit, ist der oikos offen und kann nicht über seine Grenze herrschen. An der Schwelle ihrer selbst stehend, kennt die Familie nicht mehr ihre Grenzen. Das ist zugleich ihr ursprünglicher Verfall und die Chance für all die Gastfreundschaften. Es ist, wie das falsche Geldstück, die Chance für die Gabe selbst: die Chance des Ereignisses. Nichts kann zwar ohne Familie und ohne Ökonomie passieren, aber es kann auch nichts im Familienbereich passieren, im Familienbereich, das heißt in der abgekapselten und andererseits unvorstellbaren Geschlossenheit der beschränkten Ökonomie, die absolut beschränkt ist, ohne den geringsten chrematistischen Taumel. Wenn man sagt, daß nichts ohne irgendwelche Chrematistik passieren kann, daß nichts geschehen kann, für das Chrematistisches passe ist oder das nicht Chrematistisches passiert, so verliert man vielleicht Aristoteles aus dem Auge. Was nicht unbedingt stimmt. Aber man erinnert auf j eden Fall - passierend - daran, daß, wenn chrema auf das Geldzeichen, auf die Güter, das schicksalhafte Vermögen und den Reichtum hinweist, es auch und zunächst sogar in der geläufigen Sprache die Sache und das

42 A. d. Ü.: Im Original assignable, was mit dem Begriff assignat für „Papiergeld" spielt. 43 Vgl. Aristoteles, Politik, 1257b, 1258a, [dt. von F. Susemihl, Hamburg 1965, S. 25f.]. Ich danke Egide Berns, daß er mir diese Passage in Erinnerung gerufen hat. Mauss spielt auf sie an (vgl. a. a. O., S. 131). Vgl. auch M. Shell, The Economy of Literature, Baltimore 1978, S. 92, und natürlich Marx (Zur Kritik der politischen Ökonomie, K. Marx und F. Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1974, S.52, 96 u. 115).

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Ereignis bezeichnet, die Sache, mit der man sich beschäftigt, und das Ereignis, das geschieht, alles, „was der Fall ist", mit einem Wort die Gelegenheit [occurence]. U m es in einem Zuge zu sagen, wir sind hier, mit Das falsche Geldstück, inmitten einer literarischen Erfahrung all der semantischen und ultra-semantischen Geldquellen [ressources], der Wahrheit ohne Wahrheit, des Gesetzes ohne Gesetz, des Sollens ohne Müssen, die sich im Rätsel des ehre, des chrema, des chraomai, des tö chreon und dieser ganzen „Familie" verdichten und verlieren: man muß, brauchen, ermangeln, begehren, bedürftig oder arm sein, sodann Sollen, Notwendigkeit, Verpflichtung, Bedürfnis, Nützlichkeit, Interesse, Sache, Ereignis, Fatalität, Geschick, Anspruch, Wunsch, Bitte, etc. 4 4 . Wenn man fragt: ti tö chrema, dann ist das, als ob man - die Frage in der 44 Hier würde sich eine Relektüre von Heideggers Der Spruch des Anaximander (1946 in: Holzwege, Frankfurt a.M. 1950) anbieten insbesondere der letzten, dem tö chreon gewidmeten Seiten, das vor allem, vor aller anderen Übersetzung (zum Beispiel durch „Notwendigkeit") Heidegger zufolge das Anwesen des Anwesenden* (ebd., S. 334) benennen würde. Erinnern wir im Augenblick allein daran, daß sich hierin auf innige Weise die Motive der Gabe, der Hand und des logos überkreuzen und verweben, die hier für uns von so großer Wichtigkeit sind. Es trifft sich dabei schon die Formel, deren Gebrauch sich bei Lacan analysieren läßt: „geben, was man nicht hat". 1. Die Gabe. Im Zusammenhang der Überlegungen zu einem bestimmten didonai diken des Anaximander, schreibt Heidegger: „Was heißt hier geben? Wie soll das Je-Weüige, das in der Un-Fuge west, Fuge geben können? Kann es geben, was es nicht hat?* Wenn es gibt, gibt es dann die Fuge nicht gerade weg? Wohin und wie geben die jeweiligen Anwesenden Fuge? [...] Wie soll Anwesendes als solches* die Fuge seines Anwesens geben? Das hier genannte Geben kann nur in der Weise des Anwesens"' beruhen. Geben ist nicht nur Weggeben*. Ursprünglicher ist das Geben im Sinne des Zugebens. Solches Geben läßt einem anderen das gehören, was als Gehöriges ihm eignet*. [...] Das didonai nennt dieses Gehörenlassen"'" (ebd., S. 329). Eine Analyse des gleichen Typs findet sich in einem Seminar über Heraklit wieder, worauf ich in einem im Erscheinen begriffenen Text zurückkomme (Geschlecht IV, Philopolemologie, L'oreille de Heidegger). 2. Die Hand. „Man pflegt das Wort chreon durch .Notwendigkeit' zu übersetzen. Man meint damit das Zwingende, das unentrinnbare Müssen*. Doch wir irren, wenn wir uns ausschließlich an diese abgeleitete Bedeutung halten. In chreon liegt chrän, chraomai. Daraus spricht e cheir, die Hand; chrän sagt: ich be-handele etwas, lange danach, gehe es an und gehe ihn an die Hand*. So bedeutet chrän zugleich: in die Hand geben, einhändigen und so aushändigen, überlassen einem Gehören*. Solches Aushändigen aber ist von der Art, daß es das Überlassen in der Hand behält* und mit ihm das Überlassene" (ebd., S. 337). Ich bin an diese Passage von einem anderen Gesichtspunkt aus herangegangen, aber ebenfalls im Verhältnis zur Erfahrung der Gabe zwischen Hand und Gabe, in: Heideggers Hand (in: Psyche, Inventions de l'autre, Paris 1987, dt. von H.-D. Gondek in: Geschlecht (Heidegger), Wien 1988, oder in: Vom Geiste, Heidegger und die Frage, übers, von A.G. Düttmann, Frankfurt a.M. 1988). Ich hatte angemerkt, daß zumindest in den Werken, auf die ich mich bezog (das Seminar über Parmenides, 1942-43, und Was heißt Denken?, 1951-52), Heidegger es an einer „im kantischen Stil gehaltenen Anspielung auf das Spiel der Differenz zwischen der Rechten und der

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Geburtsstunde aller durch alle möglichen Kontexte bestimmbaren Fragen - fragte: Was ist das? Was passiert? Worum geht es? Was soll ich tun? Was bedeutet das? Warum? Hinsichtlich wessen? Worum, wovon? Das genetische Vokabular („ein falsches Geldstück erzeugen", der JKeim eines kurzfristigen Reichtums") könnte, ganz genauso wie diese unaushaltbare Unterscheidung zwischen Ökonomie und Chrematistik, uns zu Aristoteles und Piaton zurückführen. Erinnern wir uns mit wenigen Worten daran, daß das Gute in Der Staat in den Zügen des Vaters hervortritt, aber auch des Kapitals, das zu Sprößlingen und zu Zinsen Anlaß gibt (tokon te kai ekgonon ton agathou)45. Was es gibt, indem es Leben gibt oder im Licht zu sehen gibt, das gibt es von einem Ort aus, der, ohne zu sein, jenseits Linken auf dem Spiegel oder auf ein Paar Handschuhe" fehlen läßt (a. a. O., S. 81). Ich hätte präzisieren sollen, wie man mir seither zu verstehen gegeben hat, daß Heidegger hierin mehr eine Anspielung, als notorische Sache, auf § 23 (S. 109) von Sein und Zeit gemacht hat. Um in diesem Kontext die Frage der Gabe und der Hand im Verhältnis zur Geldsache (bei der es sicherlich bezeichnend ist, das Heidegger von ihr so wenig spricht) zuzuspitzen, fragen wir uns zumindest, welcher Zwang durch die Tatsache auf die Erzählung Das falsche Geldstück ausgeübt wird, daß Geld gerade von Hand zu Hand „gegeben" werden muß. Was passiert, wenn das Geld ausreichend dematerialisiert ist, um nicht mehr in der Form von Bargeld von Hand zu Hand zu zirkulieren? Was wäre ein falsches Geldstück ohne Hand? Und das Almosen im Zeitalter der Kreditkarten oder der Geheimzahlen? 3. Der logos. In dem Moment, wo Heidegger an den einzigen Namen, an das „einzige Wort" für das Sein appelliert, wird er dazu geführt, eine Art von Äquivalenz zwischen chreön und logos anzukündigen: „Die im Wesen des Anwesens selbst waltende Beziehung zum Anwesenden ist eine einzige. Sie bleibt schlechthin unvergleichbar mit jeder anderen Beziehung. Sie gehört zur Einzigkeit des Seins selbst. So müßte denn die Sprache, um das Wesende des Seins zu nennen, ein einziges, das einzige Wort* finden. Daran läßt sich ermessen, wie gewagt jedes denkende Wort ist, das dem Sein zugesprochen wird''. Gleichwohl ist dieses Gewagte nichts Unmögliches; denn das Sein spricht überall und stets durch alle Sprachen hindurch. Die Schwierigkeit liegt weniger darin, im Denken das Wort des Seins* zu finden, als vielmehr das gefundene Wort rein im eigentlichen Denken einzubehalten''." Diese Bewegung, in bezug auf die ich einige Perplexität zugestanden hatte (vgl. die Schlußformel in: Die Difference (1968), in: Randgänge der Philosophie, a. a. O., S. 36), setzt sich unter diesen Umständen bis dahin fort, daß sie in derselben Versammlung to chreön, den logos des Heraklit, und das En und die Moira (die Teilung des gegebenen Teils, das Erteilen des Anteils'') des Parmenides versammelt (a. a. O., S. 337-340). 45 Piaton, Politeia, VI, 506e [in: Piaton, Sämtliche Werke, dt. von F. Schleiermacher, Bd. 3, Hamburg 1958, S. 219]. Ich hatte diese Problematik, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Ware, des Geldes und des Falschgeldes, angegangen in: La pharmacie de Piaton. 2. Le peredu Logos, in: La dissemination, Paris 1972, S. 91-94: „,Hütet euch jedoch', sagt Sokrates (507a), ,daß ich euch nicht wider Willen mit einer verfälschten Rechnung über diese Zinsen hintergehe (kibdelon apodidous ton logon tou tokou).' Kibdeleuma ist verfälschte Ware. Das Verb (kibdeleuö) bedeutet, Geld oder Waren verfälschen und, im weiteren Sinne, unaufrichtig sein" (S. 94 [eigene Übers.]). (Über Geld und politische Ökonomie vgl. auch ebd., S. 294ff.)

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der Präsenz bleibt, j enseits des Seins in der Präsenz (epekeina tes ousias). In Das falsche Geldstück hingegen handelt es sich um Kinder (legitime vielleicht, man wird es nie wissen) oder um Zinsen (echte und gute vielleicht), die nicht von einer Idee her erzeugt werden, gar der Idee des Guten, des echten Kapitals oder des wahren Vaters, noch selbst von einer Kopie der Idee, einer Ikone oder eines Idols, zum Beispiel eines Zeichens (eines konventionellen oder artifiziellen Geldzeichens), sondern von einem Trugbild, einer Kopie von Kopie (phantasma). Das Phantasma sieht sich in der Situation, daß man ihm Kraft zuerkennt, zumindest die Kraft oder Möglichkeit - ohne die geringste fest-stellende [arraisonnante]46 Gewißheit, ohne mögliche Versicherung - zu produzieren, zu erzeugen, zu geben. Dieses Phantasma, genauer der Ort selbst aller Chrematistik, ist übrigens selbst durch die „Phantasie" des Erzählers erzeugt („Und so ließ ich meiner Phantasie die Zügel schießen [...]"). Aber wir schenken der Serie „produzieren, erzeugen, geben" nicht zuviel Vertrauen, und auch nicht der unausrottbaren Axiomatik, die die Gabe mit der Freigebigkeit, mit der genialen, also natürlichen und ursprünglichen Zeugungsmacht verbindet. Eine Gabe, die von einer natürlichen Macht, von einer ursprünglichen Fähigkeit zu geben ausginge, wäre das eine Gabe? Wir kommen gleichzeitig darauf, die Gabe von der Freigebigkeit zu sondern. Es handelt sich um ein Paradox, dessen Strenge es bis zum Ende durchzuhalten gilt. Wenn man nicht einem Programm folgen soll, auch wenn es der physis eingeschrieben ist, so darf eine Gabe nicht freigebig sein. Die Freigebigkeit darf nicht ihr Motiv oder ihr wesentlicher Charakter sein. Man kann mit Freigebigkeit geben, aber man darf nicht aus Freigebigkeit geben, um diesem ursprünglichen oder natürlichen Antriebe zu gehorchen, den man Freigebigkeit nennt, das heißt dem Bedürfnis oder Verlangen zu geben, welche Ubersetzung oder welches Symptom auch immer man darin entziffert (dieser Satz wäre einer des kantischen Typs, wenn die Natürlichkeit, mit der es hier durch die Gabe zu brechen gilt, allein die Natürlichkeit oder die Kausalität der sinnlichen Welt wäre; aber wir sprechen hier von physis im allgemeinen Sinne). Die Gabe, wenn es sie denn gibt, muß gegen oder ohne die Natur gehen und gleichfalls, im gleichen Augenblick, mit jeder Ursprünglichkeit, mit jeder ursprünglichen Authentizität brechen. Folglich ebensosehr mit deren Gegenteil, dem Artifiziellen, etc. In diese Richtung hätten wir einige Vorbehalte wesentlichen Motiven Heideggers gegenüber zu markieren, da es darum geht, dasjenige zu bestimmen, was dem Sein, der Zeit und der Gabe ursprünglich eigen ist, oder zu der aller ursprünglichsten Gabe vorzudringen. Wir werden diese Kultur nicht im Zustand des Pflänzchens lassen - und es handelt sich um die Kultur der Natur selbst, die Kultur als ursprüngliche Natur ohne,

46 A. d. Ü.: Der Begriff verweist konnotativ seit der Übersetzung von Heideggers Aufsatz „Die Fragenach der Technik" durch A. Preau (vgl.: Essais et conferences, Paris 1958, S. 26) auf den Terminus des „Gestells".

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vorübergehend dieselben potentiellen Fragen einschreibend, das solare, revolutionäre und überreichliche Motiv, die Freigebigkeit (in Trauer darüber, unbetrauerbar zu sein und an nichts Mangel zu haben) des Mittags von Zarathustra zu evozieren - von Nietzsche bis Bataille und darüber hinaus. 3. U m all dieses entschuldbar zu machen, leiht der Erzähler es seinem Freunde. („Und so ließ ich meiner Phantasie die Flügel schießen, lieh meinem Freunde Geistesflügel und zog alle nur denkbaren Schlüsse aus allen nur denkbaren Hypothesen.") Er leiht seinem Freund, er räumt ihm mit all diesen Berechnungen Kredit ein, er streckt ihm all diese Würfelwürfe vor, die eine H o f f n u n g auf Gabe im Herzen einer Berechnung tragen. Sein Freund nun zeigt sich dieser Leihgabe gegenüber nicht gleichgültig, er erweist sich als unfähig, den Kredit zu honorieren, der ihm auf der Basis oder unter dem Vorbehalt eines Freundschaftsvertrages eingeräumt wird. So zumindest denkt der Erzähler, und (vielleicht) aus diesem Grunde wird dem anderen nicht vergeben. Man wird ihm nicht vergeben, weil er nicht gegeben hat, was man von ihm erwartete, noch selbst zurückgegeben hat, was man ihm so geliehen hat. Aber was beweist, daß er dieser Vergebung nicht würdig ist? U n d m u ß man einer Vergebung würdig sein? Man kann einer Entschuldigung würdig sein, aber muß eine Vergebung sich nicht über die Würdigkeit hinaus erstrecken? M u ß eine echte Vergebung (eine Vergebung in echtem Geld) nicht vom Fehler und vom Verbrechen freisprechen, selbst wenn letztere bleiben, was sie sind? Die verwickeltsten Knoten dieser Kasuistik mehren und häufen sich in diesem letzten Abschnitt und im Fall der Geschichte. Er folgt der Geschichte des Auges, der wir seit längerem folgen. In dem Moment, w o der Erzähler dem Freund in die Augen blickt, ins Weiße der Augen, sieht er, glaubt er, die Wahrheit dessen zu sehen, was der andere „hatte machen wollen". Aber dieser Augenblick markiert vielleicht die Blindheit selbst, von der der Diskurs des Erzählers ausgeht. Wenn man den Blick des anderen kreuzt, sieht man entweder sehende Augen oder gesehene, also sichtbare Augen. Wenn man den anderen sehen sieht und die sehenden Augen des anderen, dann sind die sehenden Augen des anderen einfach gesehen. D a sie gesehen sind, das heißt sichtbar und nicht sehend, werden sie unsichtbar als sehende und sondern, in dieser Hinsicht, die Blindheit des Zuschauers ab oder umschließen sie. Umgekehrt, wenn man die Augen sieht, wenn diese als solche sichtbar werden, sieht man sie nicht mehr sehen, sieht man sie nicht mehr sehend. Von daher der Gedächtnis- bzw. Rechnungsakt 4 7 und, noch einmal, der Akt von Vertrauen, von Kredit, von Kreditwürdigkeit, sogar von Leichtgläubigkeit, der sich der unmittelbarsten Anschauung des gekreuzten Blicks einschreibt. Wenn der Erzähler sagt, daß er dem Freund „ins Weiße des Auges" blicke, wenn er sagt, „daß seine Augen von unbestreitbarer Treuherzigkeit leuchteten", und wenn er „klar" dieses oder jenes sieht,

47 A. d. Ü.: Im Original: acte de memoire, wobei letzteres unentscheidbar zwischen la memoire, d. h. „Gedächtnis", „Erinnerung" und le memoire („Rechnung", „Bericht", „Gutachten") oszilliert.

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gesteht er seine eigene Treuherzigkeit ein, und daß er glaubt, gesehen zu haben, auf gut Glauben oder aus dem Gedächtnis, das, wovon er sagt, daß er es sieht, wovon er sagt, daß es „mit Entsetzen zu sehen war". Der Ort des Erzählers ist der Ort der Leichtgläubigkeit selbst. Es ist auch derjenige, von dem her das moralische Urteil gefällt wird. Es ist unwiderruflich: „Ich blickte ihm tief in die Augen, und sah mit Entsetzen, daß seine Augen von unbestreitbarer Treuherzigkeit leuchteten. Da erkannte ich [klar] denn, daß er zugleich ein Almosen geben und ein gutes Geschäft machen wollte; zwanzig Groschen und Gottes Herz dazu gewinnen, das Paradies [ökonomisch] erknausern und zuletzt noch kostenlos als Wohltäter dastehen wollte. Ich war fast bereit gewesen, ihm das Verlangen nach dem verbrecherischen Vergnügen zu verzeihen, dessen ich ihn soeben für fähig gehalten hatte; ich hätte es merkwürdig, seltsam gefunden, daß er sich einen Spaß daraus machte, den Armen Ungelegenheiten zu bereiten; aber seine törichte Berechnung werde ich ihm nie verzeihen. Man ist niemals entschuldbar, wenn man böse ist, aber es liegt ein gewisser Vordienst darin, zu wissen, daß man es ist; und es ist das ärgste von allen unheilbaren Lastern, das Böse aus Dummheit zu begehen." (Hervorhebung von mir, J. D.) Das ist der Schluß, und es ist zu spät, es bleibt keine Zeit mehr: Der Erzähler hat unwiderruflich sein letztes Wort gesagt. Das Ausbleiben eines Einspruchs im Sinne des juristischen Urteils, aber auch im weiteren Sinne des Anrufes an den anderen, darin besteht die schulmeisterliche Signatur des Erzählers. Schulmeisterlich durch die Situation, jene Dummheit atmend, von der er spricht und die er glaubt anklagen zu können, die aber immer einen Spruch oder ein Urteil umschiffen wird, hat der Erzähler natürlich immer das letzte Wort, was vielleicht die schwerwiegenste Lehre dieses Stücks Literatur ist. Weder der Bettler noch der Freund, weder der absolute Kläger noch der Angeklagte sehen sich imstande, das Recht auf die Rede zu geben noch eine Redezeit, die ihrem Recht angemessen wäre. Nichts autorisiert sie, Einspruch zu erheben. Geben wir uns noch etwas Zeit. Riskieren wir einen Schritt darüber hinaus, verdoppeln und überholen wir die Freunde auf ihrem Spaziergang nach Verlassen des Tabakladens. Wir werden es nicht verbergen, es geht hier darum, beim Lesen, Kommentieren, Reflektieren, Interpretieren eine andere Novelle zu schreiben, deren Fiktionsstruktur nicht radikal annulliert werden könnte. Behandeln wir also zwischen den Zeilen alles, was Gegenstand einer unendlichen Spekulation werden könnte. Was vergibt der Erzähler seinem Freund nicht? Treuherzigkeit? Torheit? Dummheit? Er verweigert ihm nicht die Vergebung für das Verbrechen, das er begangen hat, um des Vergnügens willen, das er gesucht hat, für die doppelte Berechnung, durch die er auf beiden Ebenen spielen und gewinnen wollte. Er hätte ihm das verbrecherische Vergnügen „fast" vergeben, sagt er, aber kaum ganz (gibt es bei der Vergebung Grade?);

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er hätte ihm einen gewissen Verdienst darin gefunden, sich böse zu wissen, als ob das Wissen um das Böse, das man tut, schon ein Selbstbekenntnis wäre und folglich Reue. Das Nichtvergebbare, das Nichtwiedergutzumachende, das Nichtbehebbare - das, wovon man nicht freigesprochen werden kann - ist, das Böse „aus Dummheit" zu begehen. Dieser Ausspruch ist paradox genug, um bei ihm zu verweilen. Der Erzähler wirft seinem Freund nicht eine Bösartigkeit oder ein teuflisches Laster [diabolisme] vor - das, was Kant so genannt hätte und was darin besteht, freiwillig und mit Bewußtsein das Böse um des Bösen willen zu tun und den Gegensatz zum Gesetz in den Rang eines Grundes zu erheben (eine Möglichkeit, die Kant für den Menschen ausschließt) 48 . E r wirft ihm nicht wesentlich eine schlechte Absicht oder eine Böswilligkeit vor, ein radikal Böses, eine natürliche Neigung, von der Kant sagen würde, daß sie dazu diene, einen im wesentlichen guten, aber der Zerbrechlichkeit der menschlichen Natur ausgesetzten Willen zu verkehren. Nein, der Erzähler wirft seinem Freund die Beschränktheit seines Verstandes und eher seines intellektuellen Bewußtseins als die seines moralischen Bewußtseins vor. Im allgemeinen beschuldigt man jemanden nicht, verweigert man ihm nicht aus solchen Gründen eine Vergebung. Die intellektuelle Grenze wird im allgemeinen als eine angeborene Gabe der Natur betrachtet, als ein bei Geburt gemachtes Geschenk. Was gibt es aber dann an Bösem zu vergeben? Worauf zielt er ab mit den Worten: „das Böse aus Dummheit zu begehen" ? Notwendigerweise etwas Moralisches und Intentionales, auf jeden Fall etwas der Ordnung des Begehrens, wenn nicht des Willens, das der Dummheit innewohnt: etwas der Ordnung eher des Chrematistischen als der Ökonomie, um sich noch einmal dieser unhaltbaren, aber bequemen Unterscheidung zu bedienen. 48 Zu den kantischen Unterscheidungen vgl. insbesondere I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. VIII, Wiesbaden 1956, S.674ff. Da die „Dummheit" [betise], deren der Erzähler seinen Freund anklagt, vor allem nicht mit der Herheit [bestialite] zu verwechseln ist, ist es hier angebracht, an die Weise zu erinnern, in der Kant den Menschen und das radikal Böse im Menschen situiert: zwischen der Tierheit und dem Teuflischen. Was die mitdere Situation des Menschen und selbst des radikal Bösen betrifft, was diese absolut ursprüngliche Situation zwischen Tier und Teufel betrifft, so besteht darin gerade nach Kant die praktische Vernunft, das heißt das, was an einen fundamentalen Anthropologismus bindet. Das falsche Geldstück geht damit nicht notwendigerweise konform. Weder die Blume des Bösen noch Baudelaire im allgemeinen. Was uns dabei vielleicht nahegelegt wird, ist das Böse (das Unverzeihliche, also das einzige, was Vergebung genannt werden kann) in der Art einer teuflischen Dummheit, anders gesprochen dieser satanischen Grausamkeit, von der Kant nichts wissen will. Da wir oft die konkurrierende Nähe zwischen Baudelaire und Poe unterstrichen haben, da man hier einmal mehr auf eine Lektüre von Benjamins Baudelaire nicht verzichten kann, erinnern wir an das, was letzterer über den Flaneur sagte (vgl. W. Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Schriften, hg. von H. Schweppenhäuser und R.TCedemann,Bd. I, Frankfurt a.M. 1974, S. 545).

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Die Dummheit [betise] ist im Prinzip nicht der Charakter eines Tieres [bete]. Man sagt im Französischen nicht von einem Tier [bete], daß es dumm [bete] sei. Es gibt dumme Tiere, zum Beispiel die „gemeinen Hunde" der Bourgeoisie, die Baudelaires Analogie oder Anthropomorphismus den „guten Hunden", den Armen und den Dichtern, gegenüberstellt. Nichts ist weniger dumm als die „geschlagenen Hunde", deren „tränende Augen" die unendliche Bitte aussprechen: In dieser Geschichte des Auges würde die Wahrheit der Gabe - als des Auges - ent/ver-hüllt eher durch den Tränenschleier als durch den Blick. Die Dummheit ist hier, zumindest in den Augen des Erzählers, dem Menschen eigen, einem vernünftigen Ter, das seine Vernunft nicht benutzen will, das sich seiner zu bedienen nicht wollen kann oder nicht können will: wie ein Mensch, der, wie Kant sagen würde, die Macht oder die Kraft nicht hätte, zur Aufklärung gelangen zu wollen, das heißt die Mehrheit [majorite] der Menschen. Dieser Mensch wäre verantwortlich für seine Unverantwortlichkeit und dafür, daß er noch nicht mündig [majeur] ist, während er es schon ist oder sein kann. Er hätte nicht den Mut zu wagen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und zunächst die Devise der Aufklärung zu verstehen: Sapere aude! Die Dummheit des Freundes hängt in den Augen des Erzählers davon ab, daß er nicht verstehen will, und nicht allein davon, daß er nicht verstehen kann. Er könnte verstehen, er sollte verstehen, er hätte verstehen können. So zynisch oder berechnend, wie er bei der Suche nach einem ökonomischen Kompromiß gewesen ist, so hinterhältig, gerissen oder aberwitzig, so verurteilungswürdig und verbrecherisch seine Berechnung gewesen ist, wäre ihm fast vergeben worden, wenn er wenigstens getan hätte, was er konnte, was er können sollte oder sollen könnte, um das entsprechende Bewußtsein und die Intelligenz zu haben: folglich schon den Anfang eines Gewissensbisses. Das setzt voraus, daß der Ubergang zwischen Bewußtsein und Geständnis notwendig ist und daß das Bekenntnis zur Ordnung der bekannten Wahrheit bzw. der - theoretischen oder praktischen - Vernunft [raison] gehört, woran wir allen Grund [toutes les raisons] haben zu zweifeln: Das Geständnis besteht nicht wesentlich darin, zum Wissen des anderen beizutragen. Man kann den anderen über ein Verbrechen informieren, das man begangen hat, ohne daß dieser Akt darin besteht zu gestehen oder zu bekennen. Die intentionale Bedeutung des Geständnisses setzt also voraus, daß man nicht gesteht um zu informieren, um mitzuteilen oder zu unterrichten, um wissen zu lassen. Die Konsequenz ist: Die eidetische Reinheit des Geständnisses erscheint besser, wenn der andere bereits in der Lage ist zu wissen, was ich gestehe. Aus diesem Grunde fragt sich Augustinus so oft, warum er sich Gott gegenüber bekennt, der doch alles weiß. Der Freund hat nicht das getan, was er sollte, um zu wissen, daß er böse ist, das heißt, um es wissen zu lassen und um es sich einzugestehen. Und diesen Prozeß muß man lesen, diese Anklage, die man unter dem Wort Dummheit vernehmen muß, sobald diese als Grund des Bösen, des „Bösen aus Dummheit", unheilbar genannt wird. Die Dummheit ist kein Zustand, kein Charakter, keine genetische Grenze, keine natür-

Wenn es Gabe gibt - oder: „Das falsche Geldstück"

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liehe, ursprüngliche, angeborenen Gegebenheit, keine konstatierbare Schwäche. Die Dummheit hat in diesem Kontext die Reichweite eines bestimmten Verhältnisses, es handelt sich um eine bestimmte Relation, ein bestimmtes Verhalten hinsichtlich eines intellektuellen Vermögens oder allgemeiner eines hermeneutischen Vermögens, das uns durch die Natur als ein genetisches Kapital eingeschrieben ist, allen anteilmäßig mit der Geburt gegeben als eine Art von universellem ,bon sens' oder von ingenium, das immer zur Verfügung stehen sollte. Die Perversion der Dummheit des Freundes, das „Böse aus Dummheit", bestand nicht darin, Böses zu tun oder nicht zu begreifen, sondern darin, unrecht zu tun, indem er nicht alles tat, was er hätte tun können, um das von ihm angetane Böse zu begreifen, das er aber tat, indem er nicht alles tat, was er hätte tun können, um das von ihm angetane Böse zu begreifen, das er aber genau deshalb tat. In diesem Zirkel - oder vielmehr in der Weise, wie sich dieser Text in den Schwanz beißt [morsure caudale], dieser Textausschnitt [morceau de texte], dieser Schlangenabschnitt [morceau de serpent] - wird der Freund letztlich angeklagt, den Kontrakt nicht geachtet zu haben, der ihn mit der Gabe der Natur verband. Die Natur hat ihm, wie aller Welt, für die Gegenwart [au present] und auf Kredit, eine Gabe [present] zum Geschenk gemacht, das Kapital eines Verstandeskraft. Sie hat ihn folglich mit Hilfe von echtem Geld verschuldet, einem natürlichen und folglich nicht gemünzten, absolut ursprünglichen und authentischen Geld. Der Fehler des Freundes, sein nicht wiedergutzumachender und „das Böse aus Dummheit" genannter Fehler, besteht darin, daß er sich als der ihm von der Natur verliehenen Gabe nicht gewachsen erwiesen hat: Er wußte den Kontrakt nicht zu würdigen, der ihn auf natürliche Weise mit der Natur verband, er hat sich nicht seiner Schuld entledigt. Einer natürlichen Schuld, folglich einer Schuld ohne Schuld im Sinne von Verpflichtung oder einer unendlichen Schuld. Es ist gewissermaßen, als ob der andere den Kredit nicht gewürdigt hätte, den sein Freund, der Erzähler, ihm eingeräumt hatte, indem er seinem Geist „Flügel lieh". Er hat ihm Flügel geliehen, der andere hat sie ihm nicht zurückerstattet. Zurück bleibt dieses Rätsel: Der Erzähler nimmt hier den Platz der Natur ein, er läßt sich durch sie repräsentieren oder repräsentiert sie, er hält sich für die Natur (seines Freundes). Da der Erzähler auch den Ursprung der Literatur repräsentiert, indem er hier, in der Form eines „ich" oder eines trugbildhaften Spiels, an die Stelle des „wahren" Unterzeichners, Baudelaire, tritt, nehmen wir vielleicht an etwas teil, das der Geburt der Literatur gliche. Strenger genommen, wird die Differenz tragend: Es gliche nicht einer (folglich natürlichen) Geburt der Literatur, noch ihrem Ursprung, sondern dem Moment einer Naturalisierung der Literatur, einer Interpretation der Literatur und einer fiktionalen Literatur als Natur, einer Interpretation, die vielleicht genauso fiktiv ist wie das Falschgeld, derer sie sich bedient. Denn indem er einen naturalistischen und schulmeisterlichen Erzähler in Szene setzt, indem er die Fiktion einer Naturalisierung der Literatur zur Schau stellt, schreibt Baudelaire, der weder ein Detektiv noch der Erzähler ist (aber vielleicht ein Geldliebhaber, das heißt ein

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Jacques Demda

Kenner in Sachen Falschgeld, das heißt ein Experte für die UnUnterscheidbarkeit auf diesem Gebiet), vielleicht diese Naturalisierung einer Literatur genannten Institution ein. Unter diesen Umständen erinnert er uns vielleicht an den institutionellen Charakter dieser Institution, aber einer Institution, die nur darin bestehen kann, sich als natürliche zu geben. Vielleicht lädt er uns dazu ein, die alte Entgegensetzung von Natur und Institution, physis und thesis, physis und nomos, Natur und Konvention, Wissen und Vertrauen (Glauben), Natur und allem anderen, am Ende einer Frage in der Schwebe zu lassen. Wir sagen fortwährend vielleicht [peut-etre]. Denn das Geheimnis bleibt gewahrt über das, was Baudelaire, der Erzähler oder der Freund sagen oder tun wollten, vorausgesetzt, daß sie selbst es wußten; und das ist nicht einmal für den Freund gewiß: Dieser, so vermutet man, scheint zu wissen, er allein oder besser als irgendwer sonst, ob und warum er Falschgeld gegeben hat. Aber abgesehen davon, daß er sich selbst auf tausend Weisen getäuscht haben kann, nimmt er eine Position des Nicht-Wissens ein oder muß er sich vielmehr aufjeden Fall in einer solchen in bezug auf die mögliche Spekulation des Bettlers halten, das heißt die Auswirkungen dessen, was er gegeben hat, und folglich in bezug auf die Frage zu wissen, was er in Wahrheit gegeben hat, und folglich, ob er in Wahrheit gegeben hat. Ein solches Geheimnis tritt in der Literatur auf, wird durch die Möglichkeit der literarischen Institution konstituiert, wird durch sie auch in seiner Möglichkeit als Geheimnis nur in dem Maße enthüllt, wie es alle Abgeschlossenheit und Dichte, alle Tiefe verliert. Es wird absolut gewahrt, unentsiegelbar, unverletzbar nur in dem Maße, wie es durch eine nicht-psychologische Struktur gebildet wird. Diese Struktur ist nicht subjektiv oder subjektivierbar, obgleich sie für die allerradikalsten Effekte von Subjektivität und Subjektivation verantwortlich ist. Sie ist oberflächlich, ohne Substanz, unendlich privat, weil durch und durch öffentlich. Sie dehnt sich auf der Oberfläche der Seite aus, ebenso vordergründig [obvie] wie ein entwendeter Brief, eine Postkarte, eine Banknote, ein Scheck, ein „Beglaubigungsschreiben" - oder ein „silbernes Zweifrancstück". Es gibt keine Natur, sondern allein Naturwirkungen: Denaturierung oder Naturalisierung. Die Natur, die Bedeutung von Natur wird nachträglich wiederhergestellt ausgehend von einem Trugbild (zum Beispiel der Literatur), für dessen Ursache man sie hält. Denn die Natur, die der Erzähler hier repräsentiert und die er folglich in Rechnung stellt [decompte] und auch erzählt [raconte], ist eine Natur, die nicht in dem Maße gibt, wie sie verleiht. Die mehr verleiht, als sie gibt. Sie schenkt Vertrauen/räumt Kredit ein [fait credit]. Und wenn sie jemandem die „beschwerliche Gabe" schenkt, „sich in abwegigen Vermutungen zu ergehen", so damit er seinerseits, Gabe gegen Gabe, stiehlt/fliegt [vole]49, „indem er dem Geist Flügel leiht".

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A. d. Ü.\ Das französische Wort voler bedeutet homophon fliegen und stehlen.

Wenn es Gabe gibt - oder: „Das falsche Geldstück"

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Denken wir darüber nach. Erinnern wir uns an Ikarus - der Sonne entgegen, unter dem mittäglichen Auge. Wäre denn diese Geschichte - unter anderen - die ganze Geschichte? Jedenfalls und zumindest eine bestimmte Geschichte der Philosophie. Ikarus, ein Ikarus klagt auch darüber, daß er nicht zu signieren vermag. Er wird nicht seinen Namen geben, nicht einmal dem Begräbnis, das andere ihm zuschreiben möchten. Wo er doch nicht einmal seinen Namen zu geben, sich einen Namen zu geben, seinem Ende einen Namen zu geben vermag, wie sollte er behaupten zu geben? Zu geben wissen? Sich zu geben wissen, was immer es auch sei? Er hat kein Begräbnis und folglich keinen Eigennamen: genau genommen, weil er schreibt, und dadurch Schiffbruch erleidet - nicht auf Grund läuft, sondern in den Abgrund stürzt. Ikarus signiert nicht, er klagt darüber, daß er nicht einmal sich selbst beklagen kann. Eine Gabe signiert sich nicht, sie rechnet nicht, nicht einmal mit einer Zeit, die ihr Recht geben würde. Es ist heute etwas seltenes, und die „Modernität" Baudelaires besitzt die schöne Unverschämtheit, uns noch daran zu erinnern; er glaubt nicht mehr an das Erhabene, er schenkt ihm keinen Glauben mehr, räumt ihm keinen Kredit mehr ein. Das Erhabene: Spekulation, Falschgeld, das man, nach einer „sorgfältigen Sonderung", an die Stelle der verzweifelnden, der grausamen, der prostituierenden, der tötenden „Liebe zum Schönen" setzen möchte. Ikarus stirbt daran, daß er „Wolken umarmt" hat, dort, wo „Die Liebhaber der Prostituierten / Glücklich sind, aufgeräumt und satt". So könnten wir, indem wir uns in abwegigen Vermutungen ergehen, wieder - und das wird der finale Absturz50 sein - Lesplaintes d'un Icare [Die Klagen eines Ikarus] lesen, den Schlußabsturz - genau genommen - des Gedichtes, seine absolute Unterwürfigkeit, und zwar mit so tiefer Stimme wie möglich:

mes yeux consumes ne voient Que des souvenirs de soleils. [·.·] Sous je ne sais quel oeil de feu Je sens mon aile qui se casse;

50 A. d. Ü.: Im Original: chute, was neben „Fall", „Sturz", auch „Verstummen" und „Schluß" bedeutet.

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Jacques

Denida

Et brül6 par l'amour du beau, Je n'aurai pas l'honneur sublime De donner mon nom ä l'abime Qui me servira de tombeau." 51

Aus dem Französischen von Michael Wetzel

51 Baudelaire, Oeuvres completes, Bd. I, a.a.O., S. 143 [in freier Übertragung: „... meine verbrauchten Augen sehen nichts / Als Sonnenerinnerungen. / ... Unter ich weiß nicht welchem Feuerauge / Fühle ich meinen Flügel zerbrechen; / Und verbrannt von der Liebe zum Schönen, / Werde ich nicht die erhabene Ehre haben / Meinen Namen dem Abgrund zu geben / Der mir als Grabmal dienen wird."]. Dieses Gedicht, das der Ausgabe von 1868 hinzugefügt wurde, ist von verschiedenen, aber, wie mir scheint, nicht widersprüchlichen Gesichtspunkten aus von Benjamin (a. a. O., S. 583) und von Deguy im Verlauf einer seiner bewunderungswürdigen Lektüren von Baudelaire interpretiert worden: Le corps de Jeanne. Remarques sur le corps poetique des Fleurs du Mal [Der Körper von Jeanne. Bemerkungen zum poetischen Körper der Blumen des Bösen], in: Poetique, 1970,3, S. 338. Michel Deguy ist auch der Dichter von Donnant Donnant [Gabe gegen Gabe] (Paris 1981): „Donnant Donnant est la formule l'echange sans marche oü la valeur d'usage ne serait que Pechange du don oü le commun n'est pas meme cherche, foison des incomparables sans mesure prise en commun, un troc oü la fleur d'ail se change en ce qui n'est pas de refus Que desirez-vous donner C'est le geste qui compte." [Gabe / Gegen Gabe ist die Formel / der Tausch ohne Markt, auf dem der Gebrauchswert nur der Austausch der Gabe wäre, wo das Gemeinsame nicht einmal gesucht wird, Uberfluß des Unvergleichlichen ohne gemeinschafdiches Maß, ein Tauschhandel, in dem sich die Knoblauchblüte in das verwandelt, was nicht abgeschlagen werden kann. / Was wünschen Sie zu geben / Es ist die Geste, die zählt.]

Die Wahrung der Gabe1

Rene Major

Was werde ich wohl geben können? Eine Rede, einen Gedanken, eine Schrift? D o c h sobald sie unterzeichnet ist, verwahrt/verwehrt sich die Schrift in genau demselben Maße wie sie sich gibt. Sie gibt nur das, was ihr Autor nicht besitzt und selbst gerne erhalten würde. E s bedürfte einer anonymen Schrift, die abhanden gekommen und so geartet wäre, daß ein j eder sie sich aneignen wollte. Der Erhaltende würde, im N a m e n des unbekannten Empfängers, all jenen verpflichtet, die seinen Besitz oder seine Verteilung begehrt hätten. Wie auch ihre singuläre Erscheinungsform sein mag, in der sie sich dem Phratiarchen 2 darbietet, scheint die Gabe mit einer Reihe von Verpflichtungen einherzugehen, die den Austausch z u m Wohle einer Gemeinschaft regeln, sei sie beschränkt auf diejenige einer gegebenen Gesellschaft oder unbeschränkt auf diejenige, welche 1 Der Vortrag „Die Wahrung der Gabe" (frz.: „La garde du don") auf dem Kolloquium „Ethik der Gabe" zu Ehren Derridas und unter seiner Mitwirkung ist in seiner französischen Fassung zwischenzeitlich veröffentlicht in: R. Major, Lacan avec Derrida. Analyse differentielle, Paris 1991. Die Anmerkungen wurden für die Publikation hinzugefügt. Ohne sie gelang es im mündlichen Vortrag von Derrida zu sprechen - und ihn sprechen zu lassen - , ohne ihn jemals zu nennen. Was nicht heißen will, daß eine Wiedererkennung nicht möglich gewesen wäre. Denn diese war nicht nur vorausgesetzt, sondern gewiß. Der Vortrag war jedoch so gestaltet, daß er diese Gewißheit destabilisieren mußte. Die jetzige Lesart, mit Zitaten in Anführungszeichen, kann die befremdende Wirkung nicht wiederherstellen, die sie an jenem Tage hervorrief. Sie ist eine völlig andere. \Vorbem. d. Ü.: Die Mehrdeutigkeit des Titels bezieht sich zum einen auf das französische Wort garde, das im Sinne von „(Auf-)Bewahrung", „Verwahrung", „Gewahrsam", wie auch im Sinne von „Bewachung", „Wache" in Gebrauch ist, aber auch „Schutz", „Vorbehalt" bedeuten kann. Zum anderen erfährt der Begriff garde in bezug auf don [Gabe] durch die Verwendung des doppelten Genitivs eine Doppeldeutigkeit, die den gesamten Text wie ein Leitmotiv durchzieht: als Gabe, die bewahrt, verwahrt, bewacht oder mit Vorbehalt genommen wird, aber auch als Gabe, die sich bewahrt, verwahrt/verwehrt, oder sich (etwas) vorbehält.] 2 A. d. U.: „Phratrie" [gr.]: „Bruderschaft", altgriech. Sippengemeinschaft.

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Rene Major

die Leser eines Textes bilden. Die Gabe scheint einen Vertrag zu erfüllen, selbst wenn dieser Vertrag denen, die daran teilnehmen, unbekannt ist, geheim oder implizit bleibt. Sind wir an einem Ort versammelt, um die Gabe eines Geburtstages zu unterstreichen [marquer], so sind wir zu einem Potlatsch eingeladen, in dem sich Ehre, Glaube und das „Mana" bezeugen, das durch die Anwesenheit bei einer solchen Gelegenheit verliehen wird; die Anwesenheit eines Ereignisses, das als solches unwiederholbar ist und einer kollektiven Freude Raum gibt, sich jedoch gleichzeitig als Verpflichtung zeigt, die erhaltenen Gaben zu erwidern, wobei sich die Magie des Mana, seine geistige Kraft verflüchtigt. Im System der ausgetauschten Gaben im Laufe eines solchen Podatsch, verbinden sich, wie Marcel Mauss bemerkt hat, drei Verpflichtungen: geben, erhalten und erwidern. Aber die Akte des Gebens, Erhaltens und Erwiderns verpflichten erneut, weshalb der Gebende sich im selben Maße der Bescheidenheit bedient, wie der Beschenkte Mißtrauen zeigt. Die Leistungen des Podatsches bewahren immer ein offensichtlich oder versteckt agonales Verhalten. Was also werde ich dem geben oder erwidern können, der selbst verpflichtet haben wird, indem er über einen anderen, über sich oder sein Werk redet, um zu sagen: „Er (oder Sie [Elle], E.L., Emmanuel Levinas) wird verpflichtet haben."3 Unter ähnlichen Umständen hat er also mitgeteilt, was er bei entsprechender Gelegenheit erwartete. Er sagte es in einer Situation, in der er sagen mußte, wozu die Situation verpflichtet. - Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, hatte man ihm gesagt, und verdoppelte durch die Verneinung nur die Verpflichtung, an die er sich schon gehalten fühlte. Und, auf einmal, verpflichtet, seinerseits zu verpflichten, hatte er seine Stimme erhoben, um verstehen zu geben, was er nicht zu geben (oder anzunehmen) verstand. „Eine Rede, ein Gedanke, eine Schrift? Nein, das gäbe immer noch Anlaß zu Tausch, Handel, ökonomischer Wiederaneignung. Nein, ihm das Geben selbst des Gebens geben"4, hatte er zu versichern und zu behaupten gewagt. Das ist es, was er erwartet. Aber kann man jemals geben, was der andere erwartet? Und wenn ich ihm zufällig etwa das gäbe, was er zu erwarten meint, wäre er nicht in der Erwartung von etwas anderem als dem, was er erwartet, enttäuscht? „Ihm das Geben selbst des Gebens geben", sagte er. Was kann dies wohl bedeuten? Wenn Du es gelesen hat, wirst Du bemerkt haben - da dies durch einfaches Zuhören unentscheidbar ist - , daß er nicht das Substantiv „Gegebenes" [donne], das Gegebene gebraucht hat: Was sich dem Geist unmittelbar darbietet gegenüber dem, was konstruiert oder ausgearbeitet ist. Nein. Dreimal hat er das Verb im Infinitiv gebraucht: „Das Geben selbst des Gebens geben"5. Er hat „ad infinit(iv)um"6 gegeben, um die Entscheidung über dessen imperative oder optative Gültigkeit offen zu halten. 3 J. Derrida, Eben in diesem Moment in diesem Werk findest Du mich, aus d. Frz. von E. Weber, in: Parabel, Band 12: Levinas, Gießen 1990, S. 43 (Original in: Psyche, Inventions de l'autre, Paris 1987, S. 164). 4 Ebd., S.47.

Die Wahrung der Gabe

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- „Das Geben selbst des Gebens geben" könnte eine Losung sein, von der man die allerrealste Wirkung des Symbolischen erwarten würde. Die Formel dessen zu besitzen, ist das sicherste Mittel, um dem Tode zu entrinnen und von einer lebenden Gemeinschaft anerkannt zu werden, selbst wenn diese, durch das Geheimnis gebunden, beschränkt bliebe. - Ja, doch würde dies ihm jegliche Bedeutung entziehen und insbesondere diejenige, welche das Supplement der Gabe verleiht. Dieses Supplement verliert sich, wenn man das Soziale einzig und allein mit einem symbolischen System oder einer Wirkung von Sprache [effet de langage] gleichsetzt. Die Erfahrung des Austausches räumt, wie Mauss beschrieben hat, auch dem Platz ein, was es überbordet und desorganisiert, dem, was es nicht vollständig in einem System von Äquivalenzen aufgehen läßt, sei es das „Heilige", wie zweifelsohne der Autor des Essaiüberdie Gabe dachte, sei es der „flottierende Signifikant", wie ihn Levi-Strauss in seinem Bemühen, den Vorrang des Symbolischen über alle Manifestationen des sozialen Lebens zu begründen, sich wünschte. Was beispielsweise in der Gesetzgebung der Maori über den spekulären Austausch hinaus verpflichtet, ist, daß die ausgetauschte Sache selbst eine Seele hat, und daß sie, selbst wenn sie vom Gebenden (ausgegeben wird, nicht aufhört, etwas von ihm zu sein, das auf den neuen Inhaber Einfluß ausübt. Dieses Seelen-Supplement hat einen Namen: Es ist das hau. (Das Wort bezeichnet, wie das lateinische spiritus, gleichzeitig den Hauch und den Geist, die Seele und die spirituelle Kraft der Dinge). - Du wirst also damit beginnen, zu uns vom hau zu sprechen. - Ich gebe das Wort einem der besten Berichterstatter von Eisdon Best, so wie es uns von Mauss überliefert ist: „Das hau ist nicht der Wind, der bläst. Ganz und gar nicht. Stellen Sie sich vor, Sie besitzen einen bestimmten Gegenstand (taonga) und geben ihn mir; Sie geben ihn mir ohne festgesetzten Preis. Wir handeln nicht darum. N u n gebe ich diesen Gegenstand einem Dritten, der nach einer gewissen Zeit beschließt, irgend etwas als Zahlung dafür zu geben (utu), und er schenkt mir irgend etwas (taonga). Dieses taonga nun, das er mir gibt, ist der Geist (hau) des taonga, das ich von Ihnen bekommen habe und das ich ihm gegeben habe. Die taonga, die ich für die anderen, von Ihnen stammenden taonga erhalten habe, muß ich Ihnen zurückgeben. Es wäre nicht recht (tika) von mir, diese taonga für mich zu behalten, ob sie nun begehrenswert (rawe) oder unangenehm (kino) sind. Ich muß sie Ihnen geben, denn sie sind ein hau des taonga, das Sie mir gegeben haben. Wenn ich dieses zweite taonga für 5 A. d. £/.: Die deutsche Übersetzung kann die dreimalige Verwendung des Infinitivs („donner le donner du donner") nicht in gleicher Weise wiedergeben. 6 A. d. U.: Im Original: „il a donne dans l'infinitif", in dem die Doppeldeutigkeit eines Gebens ins Unendliche [l'infini] mitschwingt.

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mich behalten -würde, könnte mir ernstlich Böses oder sogar der Tod daraus entstehen."7 Wenn ich in Anbetracht dieses hau die Gabe nicht wiedererstatte, so fehle ich in der Anerkennung des Anderen, dessen, was ihn seinerseits verpflichten würde; aber wenn ich restlos wiedererstatte, so fehle ich in der Verpflichtung, innerhalb der Gabe verpflichtet zu bleiben. Man könnte dies weiterhin die Seele der Gabe nennen, vor allem, wenn man unter „Seele" nicht nur das geistige Prinzip versteht, sondern auch an das kleine Holzstäbchen [Stimmstock] denkt, das unter dem (Geigen)Steg zwischen Decke und Boden einer Violine angebracht ist, oder auch - um das Gefährliche an ihr ins Gedächtnis zu rufen - an das ausgehöhlte Innere der Schußwaffe, die Seele des Gewehrlaufs. Und da wir jetzt schon bei einem so vieldeutigen Verzeichnis sind, könnte man von der Wahrung [garde] der Gabe sprechen, um gleichzeitig das heraufzubeschwören, was sich verwahrt [ce qui se garde], indem es sich gibt, was die Gabe begleitet, und das, was am Griff eines Degens die Verblendung bezeichnet, welche die Hand schützt [„la garde d'une epee"8]. Die Hand, die gibt (der Anstoß [,,le coup d'envoi"]) oder die Hand, die erhält (die „Gabe" des Degens). Die Gabe bewahrt sich davor, selbst ohne Schutz zu sein9. In seiner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, dem grundlegenden Werk der strukturalen Analyse, in der sich die Vorherrschaft des Signifikanten über das Signifikat in einer Beziehung der Nichtentsprechung behauptet, erkennt Levi-Strauss die Bedeutung des Supplements für dieses hau an, indem er bestätigt, daß „es nicht der letzte Grund des Austausches" ist, sondern „die bewußte Form, in welcher die Menschen einer bestimmten Gesellschaft [...] eine unbewußte Notwendigkeit erfaßt haben, deren Grund anderswo liegt" 10 . Gleichwohl wirft er Mauss vor, daß er das Problem nur in den Begriffen der klassischen Logik zu erfassen vermochte und sich nicht von der Rolle des Begriffes des hau in der Theorie der Gabe gelöst habe, die derjenigen, welche die Kopula in einem Satz spielt, entspricht.

7 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, übers, von E. Moldenhauer, in: Soziologie und Anthropologie, Band II: Gabentausch, Todesvorstellung, Körpertechniken, hg. von W. Lepenies und H. Ritter. Frankfurt a.M./ Berlin/Wien 1978, S.24. 8 A. d. U.: Der französische Ausdruck „la garde dune epee" bezeichnet den Handschutz am Degen oder Florett [„Glocke"]. 9 A. d. Ü.: Original: „Le don se garde d'etre depourvu de garde." Das Wortspiel se garder [sich schützen, sich in Acht nehmen, sich vorbehalten] und garde läßt sich im Deutschen nicht gleichermaßen wiedergeben. IOC. Levi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, übers, von H. Ritter, in: M. Mauss, Soziologie und Anthropologie, Band I, hg. von W. Lepenies und H. Ritter, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1978, S. 31.

Die Wahrung der Gabe

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Was sagt seinerseits der Autor (um seinen Namen in Erinnerung zu rufen ohne ihm einen Namen zu geben) vom „Supplement der Kopula", wenn es um die Frage des „Gebens selbst des Gebens geben" geht? Ein Geben, sagt er, „das nicht einmal mehr gegenwärtiger Gegenstand oder Gesagtes wäre, da doch jede Gegenwart in der ökonomischen Sphäre des Selben verbleibt, auch kein unpersönlicher Infinitiv (das ,geben' muß also hier das grammatische Phänomen durchstoßen, das von der geläufigen Interpretation der Sprache beherrscht wird), noch irgendeine Ausführung oder Handlung, die genügend identisch mit sich selber wäre, um auf dasselbe herauszukommen. Dieses ,geben' darf weder ein Ding noch ein Akt sein: es muß gewissermaßen jemand(in) sein, der/die nicht ich wäre: noch er (,er'). Seltsam, nicht, diese Ausschreitung [exces], die in jedem Augenblick der Sprache die Sprache überbordet und sie dennoch ersucht, sie in unaufhörliche Bewegung versetzt in eben dem Moment, da sie sie durchmißt." 11 - In genau diesem Augenblick war ich dabei, mich zu fragen, was meine Aufmerksamkeit auf diesen Begriff des hau im Text von Mauss hatte ziehen können, dieses Wort, das das Anwachsen oder das Übermaß [exces] der Gabe zum Ausdruck bringt, und mir plötzlich erschien, als wäre es das Objekt eines übermäßigen Privilegs meinerseits. Ich hatte auch das Gefühl, ohne es noch anders als dadurch belegen zu können, daß sie [ M Ä » S S und Levi-Str