»Es war einfach nothwendig, so und nicht anders zu schreiben«: Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister (1812-1890) und seine Zeit
 9783737002424, 9783847102427, 9783847002420

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Bonner Schriften zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte

Band 6

Herausgegeben von Thomas Becker, Dominik Geppert, Mathias Schmoeckel, Joachim Scholtyseck und Heinz Schott

Michaela Hoffmann-Ruf (Hg.)

»Es war einfach nothwendig, so und nicht anders zu schreiben« Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890) und seine Zeit

Mit 19 Abbildungen

V& R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0242-7 ISBN 978-3-8470-0242-0 (E-Book) Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890), Universitätsmuseum Marburg (Aufnahme Nr. 222.238) Ó Bildarchiv Foto Marburg (www.fotomarburg.de) Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michaela Hoffmann-Ruf Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890) – seine Person, sein Werk, seine Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Maria Hermes »Bremer Bürger zu sein ist höchste Ehre.« Bremen und Bremens Bürgertum im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieter Hein Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert . . . .

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Ulf Morgenstern »Wer schreibt noch solche Briefe?« Briefkultur in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Becker Die Universität Bonn im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rüdiger Ham Monarchisches Prinzip vs. bürgerliche Freiheit – Das Kurfürstentum Hessen in der Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Helmut Rönz Gildemeister und die Konfessionen im Rheinland . . . . . . . . . . . . . 133 Sabine Mangold-Will Gildemeisters Ort in der deutschen Orientalistik . . . . . . . . . . . . . . 161 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Vorwort »Es war einfach nothwendig, so und nicht anders zu schreiben.« – Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890) und seine Zeit.

Im Bonner Universitätsarchiv befindet sich ein Teil des Nachlasses von Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890), der an der dortigen Universität als Professor für Orientalistik gewirkt hat. Dieser Bestand umfasst insgesamt 914 Schreiben, die zurzeit im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts vollständig ediert werden. Im Kontext dieses Projekts fand anlässlich des 200sten Geburtstags von Gildemeister im Juni 2012 eine Tagung statt, die speziell dem historischen Umfeld gewidmet war, in dem die Briefe entstanden sind. Diese Zielsetzung spiegelt sich in dem vorliegenden Buch wider, das aus der Tagung hervorgegangen ist. Ansetzend an den verschiedenen Lebensphasen Gildemeisters, wie auch an einzelnen sehr spezifischen historischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts (darunter die Trierer Heilig-Rockwallfahrt) leisten die darin enthaltenen Aufsätze einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der Briefe und ihres historischen Rahmens. Eine allgemeine Vorstellung von Johann Gustav Gildemeister, seinem Werk und dem Briefbestand insgesamt beinhaltet der Beitrag von Michaela Hoffmann-Ruf. Maria Hermes gibt einen Überblick über die politische, ökonomische und soziale Situation in Bremen, der Heimatstadt Gildemeisters, und beleuchtet die im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgenden gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen. Im Zentrum ihrer Darstellung stehen das bremische Bürgertum und dessen Beitrag zu dieser Entwicklung. Ausführlich berichtet sie auch über den sogenannten »Bremer Kirchenstreit«, in den Gildemeister involviert war. Der Aufstieg des modernen Bürgertums und der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft bilden den Fokus von Dieter Heins Untersuchung. Er zeichnet die wesentlichen Entwicklungslinien nach und zeigt auf, inwieweit Johann G. Gildemeister und seine Familie geradezu beispielhaft für diese Entwicklung stehen. In seinem Beitrag zu Briefkultur verweist Ulf Morgenstern auf die Bedeutung von Briefen als historischer Quelle und belegt deren soziale Bedeutung als »wichtigstes Medium überlokaler Kommunikation« im 19. Jahrhundert. Auf Stadt und Universität Bonn im

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Vorwort

19. Jahrhundert, wo Gildemeister den größten Teil seines Lebens verbrachte, konzentriert sich Thomas Becker. Er gibt einen Überblick über die Anfänge der Universität, die nach Berliner Vorbild gemäß Humboldt’schen Reformvorstellungen gegründet wurde, und verfolgt deren Entwicklung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Sein Augenmerk gilt insbesondere den universitären Besonderheiten, wie beispielsweise der s.g. Parität, d. h. der Gleichstellung der beiden großen christlichen Konfessionen, aber auch verschiedenen gelehrten Vereinigungen, die in Gildemeisters Leben eine Rolle spielten. Mit der politischen Situation in Kurhessen, wo Gildemeister rund 14 Jahre seines Lebens verbrachte, beschäftigt sich der Beitrag von Rüdiger Ham. Im Fokus stehen der kurhessische Verfassungskonflikt und die folgende Bundesintervention der Jahre 1850/51, Ereignisse, von denen Gildemeister persönlich betroffen war und die entsprechend in seinen Briefen Widerhall fanden. Über die konfessionelle Situation im Rheinland zur Zeit Gildemeisters mit besonderer Berücksichtigung des Wallfahrtswesens berichtet Helmut Rönz. Dabei geht er ausführlich auf die Trierer Rockwallfahrt des Jahres 1844 ein und beleuchtet deren religiöse und politische Implikationen sowie die Rolle Gildemeisters innerhalb der daraus resultierenden heftigen Kontroverse. Im Zentrum des abschließenden Beitrags von Sabine Mangold-Will steht erneut die Person Johann G. Gildemeisters. Sie untersucht seine Rolle innerhalb der Orientalistik und seinen Beitrag zur Entwicklung des Fachs, zu der Zeit als die orientalische Philologie begann auf ihre Etablierung als eigenständige Disziplin hinzuwirken. Damit bietet der vorliegende Band einen sehr guten historischen Überblick über zentrale Abschnitte und Ereignisse in Gildemeisters Leben und ermöglicht dem Leser ein tieferes Verständnis von dessen Lebenssituation. Zugleich gibt jeder Beitrag für sich allein Auskunft über zentrale Entwicklungstendenzen und Einzelereignisse des 19. Jahrhunderts. Allen Teilnehmern der Konferenz und Autoren des Tagungsbandes möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Danken möchte ich insbesondere Prof. Stephan Conermann und Dr. Thomas Becker, die für die Finanzierung der Tagung verantwortlich sind. Die Universität Bonn ermöglichte den Druck, wofür ihrem Kanzler an dieser Stelle ausdrücklich gedankt sei. Ebenso gilt mein Dank Veruschka Wagner M.A., die durch ihre tatkräftige Unterstützung maßgeblich zum reibungslosen Ablauf der Tagung beigetragen hat. Bei der Redaktion der Texte ist mir Marius Gnauk eine wertvolle Hilfe gewesen, dem ich an dieser Stelle gleichfalls danke.

Michaela Hoffmann-Ruf

Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890) – seine Person, sein Werk, seine Briefe

Zum Wintersemester 1859/60 trat Johann G. Gildemeister (1812 – 1890) die Nachfolge seines ehemaligen Lehrers G. Freytag auf dem Lehrstuhl für Orientalische Sprachen und Literatur in Bonn an, wo er bis 1889, d. h. rund 30 Jahre lehrte. Seine lange Zeit von der Familie verwahrten Briefe, die Gegenstand dieses Beitrags sind, wurden dem Universitätsarchiv Bonn zur Verwahrung und Publikation überlassen. Sie enthalten wichtige Informationen zur Entwicklung der Orientalistik in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts und sind darüber hinaus wertvolle Zeitzeugnisse. Zur Einführung und Vorstellung der Person, die das Bindeglied zwischen den thematisch doch sehr verschiedenen Beiträgen ist, folgen einige biographische Details. Angaben zum Briefbestand insgesamt bilden den nächsten Punkt der Ausführungen, gefolgt von Anmerkungen und Überlegungen zur Briefedition und den damit verbundenen Problemen. Im Anschluss daran wird das wissenschaftliche Werk Gildemeisters vor dem Hintergrund seiner Biographie und seiner Briefe beleuchtet und dabei die enge Verbindung zwischen dem jeweiligen politischen und sozialen Umfeld und seiner wissenschaftlich-literarischen Produktion dargestellt. In mehr als nur einem Fall manifestierte sich die persönliche Auseinandersetzung Gildemeisters mit den sozialen und politischen Geschehnissen seiner Zeit in Publikationen, die Gegenreaktionen und Gegenpublikationen hervorriefen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, in welcher Form sich dies in der privaten Korrespondenz widerspiegelt und inwieweit diese zum Verständnis seines Handelns beiträgt. Die Analyse der Briefe steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Hierbei geht es um eine vorläufige Bewertung der Briefe als historische Quelle (ZeitZeugnis) wie auch als Quelle zur Person des Verfassers (Selbst-Zeugnis). Die drei zentralen Aspekte hierbei sind erstens die Entwicklung der deutschen Orientalistik im 19. Jh. (Fachgeschichte), zweitens die Universität Bonn in jener Zeit (Institutionsgeschichte) und drittens die Person Gildemeisters im Spiegel seiner Briefe.

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Ein Brief ist »als Quelle über den Autor zu lesen« und zugleich »öffnet er sich zur Welt«1. Briefe geben Auskunft über ein historisches Individuum und über dessen subjektive Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit den objektiven Gegebenheiten (historischen Rahmenbedingungen). Briefe sind (daher) eine ideale Grundlage für mikrohistorische Untersuchungen, wie zahlreiche Studien der vergangenen Jahrzehnte belegen. Entsprechend wird es auch bei den Gildemeister-Briefen darum gehen aufzuzeigen, in welchem Umfang diese im Hinblick auf die genannten drei Aspekte eine Ergänzung und Vertiefung der bekannten makrohistorischen Darstellungen bilden.

Zur Biographie Gildemeisters Der Rahmen: Charakteristika Bremens im 19. Jh. Die Stadt Bremen des 19. Jahrhunderts weist eine Reihe von Merkmalen auf, die das Selbstbewusstsein und die Haltung ihrer bürgerlichen Bewohner in bedeutendem Maße prägten2. Hierzu gehören zum einen ihr Status als Freie Reichsstadt und ihre politische Struktur mit dem Senat an der Spitze. Weiterhin ist von Bedeutung, dass Handel den wichtigsten ökonomischen Faktor darstellte und beinahe jeden Aspekt des (alltäglichen) Lebens beeinflusste. Und nicht zuletzt muss bedacht werden, dass der weitaus größte Teil der Bevölkerung protestantischen Glaubens war. Die politische Struktur Seit dem 12. Jahrhundert war Bremen freie Reichsstadt. Die Verwaltung der Stadt erfolgte durch einen Rat, später Senat genannt. Dieser setzte sich aus 24 Ratsherren (Senatoren) zusammen, je sechs aus einem der vier altstädtischen Kirchenspielquartiere. Hinzu kam je Viertel ein Bürgermeister, so dass sich die Gesamtzahl der Ratsmitglieder auf 28 Mitglieder belief3. Diesem Rat oblag die Regierung und Verwaltung Bremens, die er weitgehend unabhängig von der Bürgerschaft durchführte. Das Hauptvertretungsorgan der Bürger stellten die Bürgerkonvente da. Die Teilnahme an den Bürgerkonventen war indes beschränkt auf Bürger, die das s.g. 1 Michael Maurer, Briefe, in: Ders. (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 349 – 372, hier S. 350. 2 Die Stadt Bremen und ihre Bevölkerung sind das Thema des Beitrags von Maria Hermes, weshalb darauf nicht ausführlicher eingegangen wird. 3 Ausführlich zum Senat und der Wahl der Senatoren siehe Andreas Schulz, Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750 – 1880, München 2002, S. 37 – 41.

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›große‹ Bürgerrecht (Bürgerrecht mit Handlungsfreiheit) besaßen und über ein bestimmtes (Mindest-) Vermögen verfügten. Innerhalb des Bürgerkonvents kam dem Kollegium der Ältermänner, d. h. der Standesvertretung der Kaufleute, besondere Bedeutung zu. Sie stellten 60 % oder mehr der Konvents-Teilnehmer, womit sie bedeutenden politischen Einfluss besaßen4. Die übrigen Bewohner Bremens – der Mittelstand und die unteren Bevölkerungsschichten – waren nicht an der Regierung beteiligt. Sicher nicht zu Unrecht bezeichnet Schaefer Bremen als »eine Stadtrepublik mit einer oligarchischen Regierungsform«5. (See-)Handel Handel stellte seit jeher den wichtigsten ökonomischen Faktor Bremens dar. Nach einem Einbruch während der französischen Besatzungszeit in den Jahren 1810 bis 1813 erlebte der Handel einen bedeutenden Aufschwung, der durch die Gründung Bremerhavens im Jahr 1827 noch maßgeblich gefördert wurde. Bremen und Bremerhaven entwickelten sich zu einem der wichtigsten Seehandelsplätze in Europa und erlangten insbesondere als Auswanderungshafen (nach Nordamerika) Bedeutung. Viele der bremischen Handelshäuser hatten Niederlassungen in anderen Ländern Europas und/oder in Übersee. Hierbei spielten familiäre Bindungen eine wichtige Rolle, da es vielfach Mitglieder der meist weit verzweigten Familien waren, die in der Fremde agierten. Eng verbunden mit dem Überseehandel war die Reederei. Schulz zufolge gingen alle Bremer Großreedereien, die in den 1830er und 1840er Jahren entstanden, aus dem Handelsverkehr mit Nordamerika hervor6. Weitreichende Handelskontakte, internationaler Warenverkehr und die damit verbundene Notwendigkeit sich den permanent verändernden Marktbedingungen anzupassen, bewirkten eine Weltläufigkeit innerhalb der Bremer Kaufleute und Offenheit gegenüber Neuerungen, durch die sie sich von den anderen Bevölkerungsgruppen unterschieden. Die konfessionelle Situation Die protestantische Bevölkerung Bremens untergliederte sich in Angehörige des reformierten Bekenntnisses und Lutheraner. Andere Konfessionen – Katholiken, Juden – waren von marginaler Bedeutung. Im 19. Jh. hatten Bekenntnisstrei4 Ausführlich zum bremischen Bürgerrecht und seinen sozialen Implikationen siehe Ebd., S. 28 – 36; zum Bürgerkonvent Ebd. S. 39 – 41. 5 Hans-Ludwig Schaefer, Bremens Bevölkerung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 25), Bremen 1957, S. 132. 6 Schulz (wie Anm. 3), S. 99.

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tigkeiten zwischen Reformierten und Lutheranern weitgehend an Bedeutung verloren. Stattdessen gewann ein anderer Gegensatz an Bedeutung, der das religiöse Leben in der Stadt prägte und zu heftigen Kontroversen führte. Dies war der Gegensatz zwischen der neu entstandenen pietistischen Orthodoxie und den s.g. Rationalisten. Die zum Teil sehr heftig ausgefochtenen Streitigkeiten begannen um 1830 und zogen sich bis in die 1850er Jahre hinein7. Gesellschaftliches Leben Ein wichtiger Aspekt des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der bürgerlichen Oberschicht Bremens stellten die zahlreichen Vereine dar. In ihnen trafen sich die Mitglieder abends nach Beendigung der Alltagsgeschäfte zum geselligen Beisammensein oder zur Zeitungslektüre. Die eigentliche Intention dieser Vereinigungen ging aber weit über diese Annehmlichkeiten hinaus, denn ihr erklärtes Ziel war die Bildung ihrer Mitglieder, »die lehrreiche und zugleich unterhaltende Kommunikation zwischen gleichgesinnten, gebildeten Bürgern«8. Mittel zum Zwecke waren u. a. Vorträge, welche die Mitglieder für- oder voreinander hielten, wobei die Themen stark variieren konnten, solange sie »populären Inhalts«, d. h. nicht zu stark wissenschaftlich geprägt waren9. Die beiden wichtigsten Vereine, in denen sich die Elite Bremens traf, waren die »Erholung« und das »Museum«, letzteres mitbegründet von Arnold Wienholt, Gildemeisters Großvater mütterlicherseits10.

Die Familie Gildemeister Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890) entstammte einer bekannten und wohlhabenden Bremer Kaufmannsfamilie. Die Familie gehörte zur städtischen Elite, aus ihr kamen eine Reihe von Ratsherren und Bürgermeister. Der Kaufmannsberuf hatte in dieser Familie eine lange Tradition. Der Großvater Johann Gildemeister (1753 – 1837)11 übernahm 1776 die väterliche Tuchhandlung. Zugleich war er äußerst aktiv im politischen und sozialen Leben der Stadt. Von 1788 7 Ausführlich hierzu Schaefer (wie Anm. 5), S. 127 – 131; Otto Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen. Vorgeschichte, Geschichte und theologischer Gehalt der Bremer Kirchenstreitigkeiten von 1830 bis 1852, Bonn 1966. 8 Schulz (wie Anm. 3), S. 124. 9 Schulz (wie Anm. 3), S. 67 – 68. 10 Schulz (wie Anm. 3), S. 88 – 89; hierzu auch Hermes im vorliegenden Band. 11 Zur Person des Großvaters, Johann G. (1753 – 1837) siehe Alfred M.H. Gildemeister, Die Familie Gildemeister. Auszug aus der Familiengeschichte 1675 – 1875, in: Der Club zu Bremen (Hg.), 150 Jahre Bremer Clubleben, Bremen 1933, S. 243 – 299, hier S. 289; Sabina Cournoyer, Gildemeister Chronik, Amherst (Selbstverlag) 1991, S. 74 – 131.

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bis 1837 übte er das Amt eines Senators aus und engagierte sich stark im Bereich des Wasser- und Deichbaus. Besondere Bekanntheit erlangte er durch die trigonometrische Vermessung des Bremer Gebietes, die er von 1790 bis 1798 zusammen mit dem Bürgermeister Christian A. Heineken (1752 – 1818) durchführte. Der Vater, Johann (1784 – 1844), erlernte gleichfalls den Kaufmannsberuf und versuchte sich zunächst im Leinengeschäft. Später erwarb er ein Gut in Klein-Siemen12 in Mecklenburg, das er über mehrere Jahre hinweg bewirtschaftete. Nach der Rückkehr nach Bremen arbeitete er dort als Redakteur der Bremer Zeitung und beschäftigte sich in seiner Freizeit u. a. mit genealogischer Forschung. Er ist der Verfasser des ältesten Teils, der s.g. Gildemeister-Chronik, was ihm den Beinamen »der Chronist« eintrug13. Im Jahr 1811 erfolgte die Eheschließung mit Marianne Wienholt (1786 – 1856), der ältesten Tochter des bekannten Bremer Arztes Arnold Wienholt (1749 – 1804)14. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor, Johann Gustav (1812 – 1890) und Martin Wilhelm Eduard (1814 – 1893). Letzterer führte die kaufmännische Tradition fort. Er durchlief eine kaufmännische Ausbildung und wurde später Teilhaber der Firma Gildemeister & Co. in Bremen.

Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890) Johann Gustav wurde am 20. Juli 1812 auf dem Gut Klein-Siemen / Mecklenburg geboren, verbrachte aber den weitaus größten Teil seiner Kindheit und Jugend in Bremen, da sein Vater schon bald nach seiner Geburt das Gut verpachtete und mit seiner Familie nach Bremen zurückzog. Dort besuchte er das Gymnasium und erhielt von Pastor Friedrich A. Krummacher (1767 – 1845)15, ehemals Professor für biblische Exegese an der aufgehobenen Universität Duisburg, seinen ersten Unterricht in Hebräisch. Im Herbst 1832 begann Gildemeister mit dem Studium der evangelischen Theologie und orientalischen Philologie in Göttingen. Einer seiner Lehrer war 12 Heute Teil der Stadt Kröpelin im Landkreis Rostock in Mecklenburg-Vorpommern. 13 Zu Johann G. (1784 – 1844) siehe Gildemeister (wie Anm. 11), S. 271 – 286; Cournoyer (wie Anm. 11), S. 134 – 143. 14 Zu Arnold Wienholt siehe Eduard Gildemeister, Dr. med. A. Wienholt. Ein Lebensbild von seinem Urenkel, in: Der Club zu Bremen (wie Anm. 11), S. 171 – 204. 15 Krummacher, Friedrich Adolph (1767 – 1845) – ev. Theologe und religiöser Schriftsteller ; Studium der Theologie und Philologie in Halle; 1801 Promotion in Theologie und Übernahme einer theologischen Professur in Duisburg; ab 1824 Pfarrer an St. Ansgarii in Bremen. Er war der Vater von Friedrich Wilhelm K. (1796 – 1868), der 1840 durch seine Predigten gegen den Rationalismus den Bremer Kirchenstreit auslöste, in den auch Gildemeister involviert war. Zu den Personen Krummacher Vater und Sohn sowie dem Ausbruch des Streits siehe Wenig (wie Anm. 7), S. 221 – 253, 268 – 285.

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der Theologe und Orientalist Georg Heinrich Ewald (1803 – 1875), einer der Göttinger Sieben16. Zum Sommersemester 1834 wechselte Gildemeister nach Bonn. Obwohl dies zunächst nur als zeitlich begrenzter Aufenthalt gedacht war, hat er dort sein Studium beendet. Zu seinen Lehrern in Bonn zählte unter anderem August Wilhelm von Schlegel (1767 – 1845)17, der Begründer des Fachs Indologie an der Bonner Universität, bei dem er Sanskrit studierte. Außerdem besuchte er Vorlesungen des Indologen Christian Lassen (1800 – 1876)18. Sein Lehrer im Arabischen wurde der Arabist Georg W. Freytag (1788 – 1861)19, der seinerseits bei dem berühmten Orientalisten Silvestre de Sacy in Paris studiert hatte. Das Studium beendete Gildemeister im Jahr 1836, die Promotion erfolgte Ende 1838. Von November 1838 bis September 1839 unternahm er eine Reise nach Leiden und Paris zur Arbeit in den dortigen Bibliotheken. Nach seiner Rückkehr, im Herbst 1839, erfolgten die Habilitation und der Beginn seiner Tätigkeit als Privatdozent. Eine bedeutende Wende im Leben Gildemeisters markiert das Jahr 1844, das mit seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor in Bonn begann. Über diese – wie damals üblich unbezahlte – Stelle schrieb er in einem Brief an seine Eltern:

16 Ewald, Georg Heinrich August (1803 – 1875) – Theologe, Orientalist und Politiker ; Studium der Theologie und Orientalistik in Göttingen (u. a. bei Eichhorn); ab1827 außerordentlicher, ab 1831 ordentlicher Professor für Altes Testament an der philosophischen Fakultät in Göttingen. E. gehörte zur Gruppe der »Göttinger Sieben« und musste aufgrund dessen von 1837 bis 1848 Göttingen verlassen; von 1838 bis zu seiner Rückkehr nach Göttingen lehrte E. an der Universität Tübingen, wo er zunächst der philosophischen, ab 1841 der theologischen Fakultät angehörte. Willibald Kirfel, Georg Heinrich August von Ewald, in: NDB 4 (1959), S. 696 – 697; Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, S. 167. 17 Schlegel, August Wilhelm von (1767 – 1845) – Philologe, Übersetzer, Literaturhistoriker ; Sch. studierte zunächst Theologie, später Philologie in Göttingen; ab 1798 Professor für Philosophie in Jena; 1818 Ruf nach Bonn, wo er Literatur und Kunstgeschichte lehrte; Herausgeber der Zeitschrift »Indische Bibliothek«, von der zwischen 1820 und 1830 drei Bände erschienen (Bonn 1.1820/23, 2.1824/27, 3,1.1830). Johannes John, August Wilhelm von Schlegel, in: NDB 23 (2007), S. 38 – 40. 18 Lassen, Christian (1800 – 1876) – Indologe, norwegischer Abstammung; ab 1822 Studium in Heidelberg und Bonn; 1823 – 1825 Aufenthalt in Paris und London zu Vorarbeiten für die Ausgabe des Ra¯ma¯yana durch A.W. v. Schlegel (Ramayana id est carmen epicum de Ramae rebus gestis. 2 Bde., Bonn 1828, 1838); 1827 Promotion in Bonn; ab 1830 außerordentlicher, ab 1840 ordentlicher Professor der altindischen Sprachen in Bonn. Als sein Hauptwerk gilt »Indische Altertumskunde« (4 Bde., Bonn 1847 – 1861); ein weiteres Forschungsgebiet bildeten die die altpersischen Inschriften von Persepolis. Friedrich Wilhelm, Christian Lassen, in: NDB 13 (1982), S. 673. 19 Freytag, Georg Wilhelm (1788 – 1861) – ev. Theologe und Orientalist; Studium der Theologie und Philologie in Göttingen; 1815 Aufenthalt in Paris und Studium bei Silvestre de Sacy ; ab 1819 Professor für orientalische Sprachen in Bonn; F. ist v. a. bekannt durch sein arab.-lat. Wörterbuch »Lexicon Arabico-Latinum« (4 Bde., Halle 1830 – 1837). Fück (wie Anm. 16), S. 166.

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»Ich will, obgleich es schon zwei Uhr ist, nicht versäumen, Euch noch anzuzeigen, daß ich endlich glücklich eine Professur geschnappt habe, wie, weiß ich selbst noch nicht, und das Verfahren dabei ist so unbegreiflich, daß es aufs Neu die Eichhornische20 Wirthschaft bestens charakterisirt.«21

Im selben Jahr schrieb er – zusammen mit dem Historiker Heinrich von Sybel22 (1817 – 1895) eine Abhandlung23 über die Ausstellung des Hl. Rocks in Trier und die damit verbundene Wallfahrt, die nach einer Pause von 34 Jahren erstmals wieder stattfand. Diese Schrift rief starke katholische Gegenreaktionen hervor. Zugleich erhielt sie auch Beifall, von protestantischer wie von katholischer Seite. Der Schlagabtausch zwischen den Kritikern der Wallfahrt um Gildemeister und Sybel einerseits und ihren Befürwortern andererseits schlug sich in einer Reihe von Publikationen mehr oder minder polemischen Charakters nieder24. Diese Fehde, die sich bis ins Jahr 1845 hinzog, rief überregionales Interesse hervor und zog unter anderem die Aufmerksamkeit des Kurprinzen von Hessen Friedrich Wilhelm (1802 – 1875, 1831 bis 1847 Prinzregent, danach Kurfürst von Hessen) auf sich. Sie war der Anlass für die Berufung Gildemeisters als Ordinarius für Theologie und Orientalische Sprachen an die Universität Marburg zum Wintersemester 1845/46. Privat hatte er – gleichfalls im Jahr 1844 – einen schweren Verlust hinzunehmen, da sein Vater am 03. November 1844 starb, d. h. noch vor der Berufung. Gildemeister blieb rund 14 Jahre in Marburg. Auf die beruflichen Aspekte dieser Zeit wird noch ausführlicher einzugehen sein. Die wichtigsten privaten Ereignisse dieser Zeit sind seine Eheschließung mit der Kusine Anna Martha 20 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich (1779 – 1856) – preußischer Staatsmann; 1840 Berufung zum preußischen Kultusminister (Minister der geistlichen, Unterrichts- und MedizinalAngelegenheiten) als Nachfolger Altensteins; ein Charakteristikum seiner Amtszeit war sein häufiges Eingreifen in die Besetzung von Lehrstühlen. Stephan Skalweit, Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, in: NDB 4 (1959), S. 376 – 377. 21 Gildemeister-Brief 1844 – 03 (12.–13. 02. 1844) 22 Sybel, Heinrich von (1817 – 1895) – Historiker ; Studium in Berlin; 1838 Promotion und 1840 Habilitation in Bonn; danach Dozent ebendort; 1844 Ernennung zum außerordentlichen Professor ; 1845 Berufung als ordentlicher Professor der Geschichte in Marburg; 1856 Berufung nach München; 1861 Ruf nach Bonn als Nachfolger von Dahlmann. Paul Bailleu, Heinrich von Sybel, in: ADB 54 (1908), S. 645 – 667. 23 Johann Gildemeister/Heinrich v. Sybel, Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern heiligen ungenähten Röcke. Eine historische Untersuchung, Düsseldorf 1844. 24 Einen Überblick über die Fehde und die in ihrem Kontext entstandenen Schriften gibt Michael Embach, Die Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt von 1844 im Spiegel ihrer literarischen Rezeption, in: Erich Aretz (Hg.), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1996, S. 799 – 836. Zu Gildemeister und der Ausstellung des Hl. Rocks in Trier siehe auch Christoph Waldecker, »Natürlich hat man Ursache, die nähere Untersuchung zu scheuen.« Johann Gustav Gildemeister und die Ausstellung des Heiligen Rockes zu Trier 1844, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 48 (1996), S. 391 – 406.

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Johanna, genannt Hanne (1831 – 1909) im Jahr 1852, die Geburt von vier der insgesamt sieben Kinder, sowie der Tod der Mutter im Jahr 1856. Im Herbst des Jahres 1859 trat Gildemeister die Nachfolge von Gustav Freytag – seinem ehemaligen Lehrer – auf dem Lehrstuhl für Orientalische Sprachen und Literatur in Bonn an, wo er bis 1889 lehrte.

Beschreibung des Bestandes und Anmerkungen zur Brief-Edition Beschreibung des Bestandes – Umfang, zeitlicher Rahmen, Art der Schreiben, Adressaten Zu den herausragenden Merkmalen des Briefkorpus zählen sein Umfang und seine Geschlossenheit. Der Bestand umfasst insgesamt 914 Schreiben. Hierzu gehören Briefe, die den weitaus größten Teil bilden, aber auch Postkarten und einige wenige Briefentwürfe. Die beiden frühesten Briefe stammen aus dem August des Jahres 1831, der letzte Brief ist auf den 18. September 1888 datiert. Damit umspannt der Bestand einen Zeitraum von rund 57 Jahren. Einen Überblick über die Verteilung der Briefe auf den genannten Zeitraum gibt das Diagramm. [vgl. Abb. 1] Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1856 nimmt die Anzahl der Briefe deutlich ab; in den frühen 1860er Jahren kommt es zu einem erneuten Hoch. Das Diagramm sagt aber natürlich nichts aus über die Länge der Briefe und damit den tatsächlichen Umfang der einzelnen Brief-Jahrgänge.

Abb. 1: Verteilung der Briefe

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Umfang der Korrespondenz wie auch die Länge der Schreiben hängen verständlicherweise stark von den Ereignissen des jeweiligen Jahres ab. Der Tod von Hannes Vater im Jahr 1866 beispielsweise führt zu einer umfangreichen Korrespondenz bezüglich des Erbes. Weitere Anlässe, die zu einem verstärkten Briefwechsel führen, sind die Hochzeitsvorbereitungen im Jahr 1852 und die Reise nach Paris im August des Jahres 1865, wohin sich Gildemeister begab um in der dortigen Bibliothek zu arbeiten. Bei den Adressaten handelt es sich ausschließlich um Familienangehörige; in den Jahren bis zur Heirat 1852, sind es vor allem die Eltern. Nach deren Tod wurde sein Bruder Edu der wichtigste Korrespondenzpartner. Nach der Eheschließung mit Hanne erweiterte sich die Gruppe der Adressaten um deren Eltern, August Wilhelm (1791 – 1866) und Auguste Gesine (1805 – 1890) Gildemeister25. Im Jahr der Eheschließung sind diese Briefe besonders zahlreich und vielfach von Hanne mit Zusätzen versehen. [Vgl. Abb. 2] Anlass zum Briefwechsel zwischen den Eheleuten bildeten zum einen ihre häufigen Besuche in Bremen und zum anderen seine Reisen zu den s.g. Philologenversammlungen.

25 August Wilhelm G. war ein jüngerer Bruder von des Verfassers Vater. Hanne entstammte dessen erster Ehe mit Johanne Henriette Gertrud (1807 – 1831) Nettmann. Bei seiner zweiten Ehefrau Auguste Gesine handelt es sich um die ältere Schwester der Verstorbenen.

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Abb. 2: Brief 1852 – 18 (20.–25. 09. 1852), an die Familie, Bremen; sechsseitiger Bericht über die Hochzeitsreise in die Schweiz; hier Seite 4 (oben) mit dem Beginn von Hannes Einschub und Seite 6 (unten) mit der Fortsetzung

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Äußeres Erscheinungsbild der Briefe Die Briefe sind mit Tinte auf Papier geschrieben. Der Verfasser bediente sich überwiegend der deutschen Kurrentschrift mit gelegentlichen Einschüben – Worten oder einzelnen Sätzen – in lateinischer Schrift. Daneben existieren auch fremdsprachige Einfügungen, darunter Arabisch, Hebräisch, Griechisch und Sanskrit. Für die meist mehrseitigen Schreiben verwendete Gildemeister Papier von unterschiedlichem Format, in einigen, wenigen Fällen, mit aufgedrucktem Briefkopf. Vielfach erstrecken sich die Schreiben über mehrere Tage in der Art eines Tagebuchs. Teilweise existieren Zusätze von anderer Hand, wie in den zuvor erwähnten Briefen aus dem Jahr 1852 oder jenen aus dem Jahr 1836, als Gildemeister zusammen mit seinem Bruder eine längere Reise in die Schweiz unternahm, von der sie ausführlich an die Eltern berichteten. Der Brieftext ist meist klar in mehrere Abschnitte gegliedert, die inhaltlichen Aspekten Rechnung tragen. Ausnahmen stellen Briefe dar, die in großer Eile geschrieben wurden, was sich auch im Schriftbild niederschlug. Beim Datum, das entweder am Anfang des Briefes oder am Ende steht, fehlt häufig die Jahreszahl.

Anmerkungen und Überlegungen zur Edition Stand der Arbeit bei Beginn des Projektes Vor Beginn des Projektes waren die Briefe bereits ansatzweise geordnet und gesichtet worden. Vom Großteil des Bestandes lagen zu diesem Zeitpunkt auch schon handschriftliche und maschinenschriftliche Transkriptionen sehr unterschiedlicher Qualität vor. Die in den 1970er und 1980er Jahren von studentischen Hilfskräften angefertigten handschriftlichen Versionen waren größtenteils gut, wenn auch infolge fehlender fachspezifischer (orientalistischer) Kenntnisse mit Verständnisfehlern behaftet. Die maschinenschriftlichen Transkripte wiesen zusätzlich zahlreiche Flüchtigkeitsfehler auf. Entsprechend verhält es sich mit der ersten, darauf basierenden Computer-Datei aus dem Jahr 2004, die aber ohnehin nur die Jahre 1831 bis 1845 umfasste. Erste Überlegungen und Arbeitsschritte Einer der ersten Arbeitsschritte bestand darin, grundsätzliche Überlegungen zur Form der Edition anzustellen. Die Editionsrichtlinien gleich zu Anfang möglichst exakt festzulegen, erschien in Anbetracht des Umfangs des Bestandes absolut notwendig, um spätere aufwändige Nachbesserungen und Korrekturen

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so weit wie möglich zu vermeiden. Um den Besonderheiten des Materials bei der Ausarbeitung der Richtlinien Rechnung zu tragen, erfolgte parallel das Kollationieren der vorhandenen Datei. Briefeditionen stellen insbesondere in der Germanistik einen wichtigen Arbeitsbereich dar. Der weitaus größte Teil der fachtheoretischen Literatur stammt von dort. Doch auch in der Orientalistik wurden in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Briefwechsel prominenter Vertreter des Fachs publiziert. Ein Vergleich von Beispielen aus beiden Fächern zeigte, dass diese hinsichtlich der angewandten Editionsrichtlinien stark variieren. Die Maßstäbe der meisten germanistischen Briefeditionen erwiesen sich in vieler Hinsicht als zu detailliert. Zahlreiche dort relevante Aspekte, wie z. B. der Standort, Regesten etc. sind für den Gildemeister-Briefbestand bedeutungslos. Die meisten orientalistischen Brief-Editionen sind dagegen deutlich einfacher. Worauf dort beispielsweise vielfach verzichtet wird, ist das Briefverzeichnis. In Anbetracht der großen Anzahl der Gildemeister-Briefe erscheint ein solches jedoch sinnvoll und notwendig. Ein weiterer heikler Punkt sind die in den Briefen erwähnten Personen und Werke. Die entsprechenden Anmerkungen sollten auch für einen orientalistisch nicht vorgebildeten Leser ausreichend und verständlich sein. Ausgehend von dem erwähnten Material (germanistische und orientalistische Briefeditionen, fachtheoretische Literatur) galt es Richtlinien auszuarbeiten, die sowohl den Anforderungen des Lesers wie auch der Besonderheit des Materials gerecht werden und als Grundlage für die weitere Arbeit an der Gildemeister-Edition dienen konnten. Dabei waren auch einige grundlegende Fragen zu beantworten, wie z. B. die Auflösung von Kürzeln (Währungen, Maße, Gewichte) oder der Umgang mit undatiertem Material, Briefentwürfen, Skizzen und Zeichnungen, die Gildemeister an einigen Stellen dem Text zur Erklärung beigefügt hatte. Kompromisslösungen erwiesen sich als sinnvoll. Die Interpunktion beispielsweise wurde der besseren Lesbarkeit wegen falls nötig ergänzt, die originale Orthographie hingegen wurde beibehalten. Auch die räumliche Grobstruktur der Briefe folgt dem Original, während Anrede, Datum und Schlussfloskeln eine Vereinheitlichung erfuhren. Ziemlich klar war auch die Entscheidung für eine Kopfzeile, in der die Nummer des Briefes sowie einige grundsätzliche Informationen wie Datum, Adressat und Ort aufgeführt sind. Diese dient zum einen zur schnellen Orientierung für den Leser, zum anderen als Grundlage für das Briefverzeichnis, das jedem Band der Edition vorangestellt werden soll. Diesen Vorgaben folgend erhielt jeder Brief eine Kopfzeile und eine einheitliche Formatierung. Im Folgenden ein Beispiel für die Skizzen, mit denen Gildemeister manche seiner Schreiben illustrierte. Hier die Zeichnung zu der Beschreibung einer

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Wanderung durch die Eifel in Begleitung seines Freundes Karl Ludwig von Urlichs (1813 – 1889). [Vgl. Abb. 3]

Abb. 3: Brief 1843 – 07 (29.09.–04. 10. 1843), an J. Gildemeister, Bremen; Skizze von Gemündener Maar und Totenmaar

»Neben ihm, nur durch einen Damm getrennt, über den der Weg ging, nicht viel breiter als der Weg, jedoch wenigstens 400 Fuß tiefer in der Ebene lag ein anderer, etwas größerer See26, über den weg wir nach den Moselgebirgen hin sahen; eine sehr merkwürdige Gegend davon das Profil etwa so ist, die Dimensionen unbeachtet gelassen: Der Hut, welcher da fliegt, ist Urlichs Strohhut, den der Wind beinah hinabgeführt hätte, den wir aber noch glücklich vor seinem gänzlichen Hinabsturz wieder erhaschten.«27

Gildemeisters Werk vor dem Hintergrund seiner Biographie und seiner Briefe Die wissenschaftliche Produktion Gildemeisters ist – gemessen an seinem von vielen Fachgenossen betonten umfangreichen Wissen – relativ gering, sowohl in Anzahl wie in Umfang28. Beiträge in Zeitschriften machen einen großen Teil derselben aus. Willibald Kirfel beschreibt die literarische Produktion sehr zutreffend. Ihm zufolge lassen sich die Publikationen Gildemeisters nach zwei Gesichtspunkten charakterisieren: (1) literarisch-philologische und (2) konfessionell-polemische29. Der Schwerpunkt der erstgenannten Gruppe lag auf der indischen und semitischen Philologie: Diese Werke waren oftmals dadurch charakterisiert, dass sie sich – wie Kirfel es beschreibt – »auf dem Grenzgebiet zweier philologischer 26 Dies ist das Gemündener Maar, das nur durch einen schmalen Sattel vom Totenmaar getrennt, tief unterhalb desselben liegt. 27 Gildemeister-Brief 1843 – 07 (29.09.–04. 10. 1837) 28 Hierzu Willibald Kirfel, Johannes Gustav Gildemeister, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Bd. 8: Sprachwissenschaften, Bonn 1970, S. 305 – 308, hier S. 306; Paul Schmidt, Erinnerungen an Johann Gustav Gildemeister, in: Bonner Geschichtsblätter 29 (1977), S. 146. 29 Kirfel (wie Anm. 28).

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Disziplinen«30 bewegten, d. h. Kenntnisse erforderten, die mehr als nur ein Wissensgebiet betrafen. Beispielhaft hierfür kann bereits die Dissertation genannt werden, die sich mit der Beschreibung Indiens im Werk von al-Mas‘u¯dı¯, einem arabischen Historiker und Geographen des 10. Jahrhunderts, beschäftigt. Weitere Beispiele sind »De evangeliis in Arabicum e simplici Syriaca l. translatis« (1854) und »Sexti sententiarum recensiones Latinam, Graecam, Syriacas conjunctim exhibuit J.G.« (1873). Diese, ebenso wie seine in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft publizierten Aufsätze, geben einen Eindruck von der Breite seines Wissens31. Die »Bibliothecae Sanskritae«, ein bibliographischer Überblick über alle Publikationen innerhalb der Indologie, der 1847 in Bonn erschien, zählen zu Gildemeisters bedeutendsten Werken in diesem Fachbereich32. Zugleich zeigen sie bibliographische Arbeiten als einen weiteren Interessen- und Arbeitsschwerpunkt Gildemeisters. Hiervon zeugen auch seine Katalogisierungsarbeiten an der Universitätsbibliothek Marburg, wo er 1848 zum 2. Bibliothekar33 ernannt wurde und sein Katalog der Bonner Orientalischen Handschriften34. Außerdem der Katalog der arabischen Handschriften des Franziskaner-Klosters Frauenberg bei Fulda, den Gildemeister im Herbst 1847 innerhalb weniger Tage erstellte35. In der ihm eignen nüchternen Art äußert sich Gildemeister über sein bibliographisches Interesse folgendermaßen: »Ich hatte diese Tage alle Hände voll zu thun mit der Catalogisirung von dem orient. Theil von Schlegels Bibliothek, die ich übernehmen mußte, und die mich auch ganz gut amüsirte, denn dies langweiligste Geschäft auf Erden Bücher zu catalogisiren ist für mich das amüsanteste.«36

Die (2) konfessionell-polemischen Arbeiten sind das Resultat von Gildemeisters Auseinandersetzung mit konkreten Ereignissen seiner Zeit und müssen entsprechend in ihrem historischen Kontext betrachtet werden. 30 Kirfel (wie Anm. 28), S. 306. 31 Einen Überblick über die Aufsätze Gildemeisters enthält der Generalindex zur Zeitschrift der deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Band 1 – 100. 32 Johann Gildemeister, Bibliothecae Sanskritae sive recensus librorum sanskritorum hucusqve typis vel lapide exscriptorum critici specimen, Bonn 1847. 33 Zur Ernennung siehe Gottfried Zedler, Geschichte der Universitätsbibliothek zu Marburg von 1527 – 1887, Marburg 1896. 34 Der Bonner Handschriftenkatalog, Catalogus librorum manu scriptorum orientalium qui in Bibliotheca Academica Bonnensi servantur, erschien zwischen 1864 und 1876 in 7 Teilen. 35 Eine ausführliche Beschreibung seines Aufenthaltes und der Arbeit an den Handschriften enthalten die Gildemeister-Briefe 1847 – 11 (29.09.–06. 10. 1847) und 1847 – 12 (11.–13. 10. 1847). 36 Gildemeister-Brief 1845 – 14 (01. 07. 1845)

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Die Fehde mit Hoefer 1840 und der Bremer Kirchenstreit des Jahres 1841 Am Beginn dieser Arbeiten stehen die Gegenschrift gegen Albert Hoefer im Jahr 1840 und seine Ausführungen zum Begriff ›Anathema‹ (Verfluchung, Kirchenbann) im Rahmen des s.g. Bremer Kirchenstreits im Jahr 1841. Die ›Fehde‹ mit Hoefer hatte ihren Ursprung in der Rezension Hoefers zu Lassens Sanskritanthologie. In seiner Schrift »Die falsche Sanskritphilologie, an dem Beispiel des Herrn Dr. Hoefer in Berlin aufgezeigt« (Bonn 1840) setzte sich Gildemeister minutiös mit dieser Rezension auseinander und kritisierte sie seinerseits aufs Schärfste; insbesondere warf er Hoefer philologische Ungenauigkeit vor. Dem Vater, der offenbar Bedenken hinsichtlich der Schärfe der Kritik geäußert hatte, antwortete Gildemeister am 11. Oktober 1840 lapidar : »Es war einfach nothwendig, so und nicht anders zu schreiben. Das verlangte die Wissenschaft, gegen die wir nichts machen können.«37

Dass das Vorgehen Gildemeisters gegen Hoefer nicht allein von dem Wunsch nach Wissenschaftlichkeit beeinflusst war, sondern möglicherweise auch andere, persönliche Interessen existierten, zeigt der Beitrag von Sabine MangoldWill38. Um philologische Ungenauigkeit ging es auch in den Schriften zum Bremer Kirchenstreit. Bei diesem handelt es sich um die Auseinandersetzung zwischen den Pastoren C.F.W. Paniel und F.W. Krummacher in den Jahren 1840 – 1842. Diese war Ausdruck der Konflikte zwischen der rationalistischen und der pietistischen Strömung innerhalb der reformierten Gemeinden Bremens. Die Vertreter beider Seiten machten ihren jeweiligen Standpunkt in einer Reihe von Schriften publik, deren Ton stark polemisch war39. Einen zentraler Punkt des Konflikts bildete die Interpretation des Begriffes ›Anathema‹, im Galaterbrief des Apostel Paulus (Gal. 1,8) als Bann statt Fluch von Seiten der rationalistischen Partei. Hierbei handelt es sich um eine prinzipielle theologische Frage. Gildemeister machte sich an eine Darstellung des Anathema im Alten Testament, erörterte die rabbinische Exkommunikation und lieferte eine Geschichte der Auslegung des Begriffes. In den Briefen ist erstmals Ende Dezember 1840 davon die Rede, als er klagte: »Denn warum schickt Ihr mir die Balgschriften? So wenig ich anfangs davon erwartete, so haben sie mich doch in große Aufregung versetzt, nicht als ob der Streit irgendwelchen wissenschaftlichen Werth hat, sondern nur durch die Art, wie er in Beziehung auf den gelehrten Beweis geführt ist. […] aber diese Verdrehung und Mißhandlung hat 37 Gildemeister-Brief 1840 – 08 (11. 10. 1840) 38 Siehe den Beitrag von Sabine Mangold-Will. 39 Zu Entstehung und Verlauf des Streits siehe Wenig (wie Anm. 7), S. 210 – 343; außerdem Schaefer (wie Anm. 5), S. 172 – 131.

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mich so in Harnisch gebracht, daß ich meine schönen Ferienarbeiten ganz habe liegen lassen und bis auf diese Stunde nichts gethan als im Talmud wühlen und die betreffenden Schriften nachschlagen, um mir die Schlechtigkeit der beiden Schufte recht anschaulich zu machen.«40

Die Wallfahrt zum Hl. Rock im Jahr 1844 Mit Sicherheit eines seiner bekanntesten Werke ist »Der heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern heiligen ungenähten Röcke: eine historische Untersuchung« (Düsseldorf 1844), das er zusammen mit seinem langjährigen Freund und Kollegen Heinrich von Sybel verfasste. Anstoß zu dieser Schrift gab die Ausstellung des s.g. Hl. Rocks zu Trier und die damit verbundene Wallfahrt des Jahres 184441. Die Wallfahrt kann – ohne Übertreibung – als das religiöse Großereignis des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden42. Im Umfeld dieser Wallfahrt entstand eine heftige Debatte über Reliquiengläubigkeit im Allgemeinen und die Echtheit der Reliquie im Besonderen, an der der Verfasser aktiv beteiligt war. Gildemeister erwähnte das Ereignis im August 1844 zum ersten Mal: »In Trier ist jetzt großer Spectakel, da haben sie einen alten Lappen ausgehängt, den sie für den »ungenähten Rock Christi« ausgeben und Tausende strömen von nah u fern 40 Gildemeister-Brief 1840 – 10 (31. 12. 1840 – 16. 01. 1841). Eine Liste der Publikationen, die im Kontext dieses Konfliktes entstanden, findet sich bei Wenig (wie Anm. 7), S. 662 – 665. 41 Bei dem »Hl. Rock« zu Trier handelt es sich um eine s.g. Gewandreliquie, die der Legende zufolge Fragmente der »Tunika Christi« enthalten soll, welche gemäß dem Johannes-Evangelium (Joh 19, 23 – 24) nach der Kreuzigung unter den römischen Soldaten verlost worden war. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Hl. Rock zu Trier am 01. Mai 1196 im Kontext der Weihe des Hochaltars im neu errichteten Ostchor des Trierer Domes, als die Reliquie darin eingeschlossen wurde. Im Jahr 1512 wurde auf Verlangen von Kaiser Maximilian I, der anlässlich des Reichstages nach Trier gekommen war, der Altar geöffnet und die Reliquie hervorgeholt. Da auch die Bürger Interesse daran zeigten, erfolgten ab Ende Juni desselben Jahres noch mehrere »Zeigungen« der Reliquie. In den folgenden Jahren fanden regelmäßig »Zeigungen« und damit verbunden Wallfahrten statt, bis 1517 in jährlichem, danach bis 1545 in siebenjährigem Rhythmus. Von 1784 bis 1810 wurde der Rock in Augsburg aufbewahrt. Seine »Rückkehr« nach Trier bot dann erneut Anlass zu einer Wallfahrt. Ausführlich zur Geschichte der Reliquie und der Wallfahrt siehe den Sammelband Aretz (wie Anm. 24). 42 Die Angaben zur Anzahl der Pilger, die die Wallfahrt durchführten, variieren beträchtlich. Lange Zeit wurde von rund 1 Million Teilnehmern ausgegangen; in den letzten Jahren wurde diese Zahl jedoch deutlich nach unten korrigiert. Im Allgemeinen ist heute von rund 500 000 Pilgern die Rede, die in den 7 Wochen (ab Sontag, den 18. August 1844), meist in Gruppen organisiert, nach Trier reisten und dort an der Reliquie vorbei geleitet wurden. Der überwiegende Teil der Pilger entstammte den sozialen Unterschichten (Bauern, Moselwinzer). Doch auch unter Angehörigen des Adels fanden sich zahlreiche begeisterte Wallfahrer. Ausführlich hierzu Bernhard Schneider, Wallfahrt, Ultramontanismus und Politik. Studien zu Vorgeschichte und Verlauf der Trierer Hl.-Rock Wallfahrt von 1844, in: Aretz (wie Anm. 24), S. 237 – 280, hier S. 256, 262 f., 266 – 277.

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dahin. Hier finden sich Leute, die für andere dahin gehen, für 20 Silbergroschen den Tag, so daß der Bezahlende das Verdienst u der Gehende den Verdienst hat.«43

Im selben Brief benachrichtigte er seine Familie von seinem Vorhaben eine Reise durch das Moseltal zu unternehmen und dabei auch in Trier Station zu machen um sich einen Eindruck des Geschehens zu verschaffen44. Zum Verständnis ihrer politischen und religiösen Bedeutung ist es notwendig die Wallfahrt des Jahres 1844 im Kontext der Veränderungen in der preußischen Religionspolitik zu betrachten45. Hauptverantwortlich für die Wallfahrt zeichnete Wilhelm Arnoldi (1798 – 1864), dessen Inthronisation als Bischof von Trier nach einigen Schwierigkeiten 1842 erfolgt war46. Er unterstützte die kirchliche Erneuerungsbewegung und war bestrebt dem Geist des Rationalismus entgegenzuwirken. Daher wird die Wallfahrt des Jahres 1844 sicher nicht zu Unrecht als »Manifestation der wiedererstarkten katholischen Kirche und Ausdruck lebendiger Gläubigkeit der katholischen Bevölkerung«47 in den preußisch (d. h. protestantisch) regierten Rheinprovinzen gewertet. Dass es sich bei der Wallfahrt nicht allein um ein religiöses Ereignis handelte, war aber auch bereits den Zeitgenossen klar, darunter Gildemeister, der konstatierte: »Übrigens würde man sehr irren, wenn man dabei allein den religiösen Gesichtspunct festhalten wollte; die Geschichte ist vor allen Dingen als ein politisches Ereigniß zu betrachten, hoffentlich glaubt der Bischof selbst nicht an die Ächtheit des Lappens. Ausgeheckt soll der Plan zuerst von der Glaubensarmee in Coblenz gewesen sein und der Zweck dabei ein doppelter, erstens eine Demonstration gegen Berlin (sie mögen sich schon mocquirt haben) um zu zeigen: seht das ist die Armee über die wir verfügen; richtet euch danach.«48 43 Gildemeister-Brief 1844 – 12 (21. 08. 1844) 44 Eine ausführliche Beschreibung der Reise nach Trier enthalten die Gildemeister-Briefe 1844 – 15 (12. 09. 1844) und 1844 – 16 (28. 09. 1844). Zu Gildemeister und der Ausstellung des Hl. Rocks in Trier siehe auch Waldecker (wie Anm. 24). 45 Ausführlich zum historischen Kontext der Trierer Wallfahrt und der Situation der Katholiken und Protestanten im Rheinland siehe den Beitrag von Helmut Rönz. 46 Arnoldi, Wilhelm (1798 – 1864) – Bischof von Trier; Besuch des Priesterseminars in Trier ; ab 1821 Professor für Altes Testament und Homiletik ebendort; 1826 Pfarrer in Laufeld, 1831 Pfarrer und Dechant in Wittlich, 1834 Domkapitular und Domprediger in Trier. Die Wahl zum Bischof 1839 wurde von der Regierung nicht bestätigt; nach Verzichtleistung, Wiederwahl und Bestätigung erfolgte 1842 die Inthronisation. Aloys Thomas, Wilhelm Arnoldi, in: NDB 1 (1953), S. 390 – 391. 47 Schneider (wie Anm. 42), S. 237. 48 Gildemeister-Brief 1844 – 16 (28. 09. 1844); mit der s.g. »Glaubensarmee in Coblenz« ist die katholische Bewegung in Koblenz um den Kaufmann und Stadtrat Josef Diez gemeint, der auch Joseph Görres anfangs angehörte, eine frühe ultramontan orientierte Bewegung im Rheinland. Siehe hierzu Johannes Schuth, Der Koblenzer katholische Kreis und der Koblenzer Klerus in ihrem gegenseitigen Verhältnis, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 2 (1950), S. 318 – 325; außerdem den Beitrag von Helmut Rönz.

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Am 20. Oktober, d. h. kaum einen Monat nach der Reise, schrieb er, dass bald »ein Früchtchen vom Stapel laufen wird«, das so Gildemeister »Lärm machen soll« und bereits am 30. November verschickte er Freiexemplare an seine Familie und sonstige Bekannte in Bremen49. Über die Reaktion auf dieses Werk äußerte er sich knapp 2 Wochen später indem er bemerkte: »Das Buch ist hier wie ein Schlag unter die Leute gefahren und hat großes Glück gemacht; die vielen, die wohl von vorn herein von der Ächtheit des Rockes nicht viel hielten, aber sich aus Mangel der nöthigen Kenntnisse u der Umstände nicht entschieden aussprechen konnten, thun jetzt den Mund auf und verwundern sich über den argen Betrug.«50

Die Debatte um den »Heiligen Rock« dauerte bis weit ins Jahr 1845. Es erschienen zahlreiche Verteidigungsschriften, darunter eine des Bischof Arnoldi, über die sich Gildemeister folgendermaßen äußerte: »Der Bischof Arnoldi hat einen sehr finstern Hirtenbrief erlassen, der ganz gegen die Feinde seines Rockes gerichtet ist; auch nach uns schlägt er, doch ziemlich gedeckt. Wir werden bloß als die gelehrten Bekämpfer bezeichnet. Wenn man so etwas in eine Zeitung bringen könnte, würde ich ihm einen Hirtenbrief unterschieben, in welchem er die dritte Person der Trinität wegstriche und befähle künftig in seiner Diöcese zu sagen Vater Sohn und heiliger Rock.«51

Die Bekanntheit, die Gildemeister und Sybel durch ihre Schrift gegen den Hl. Rock erlangten, hatte noch eine andere, durchaus positive Konsequenz, nämlich die Berufung auf einen Lehrstuhl nach Marburg. Hierüber schrieb er an seine Familie: »Es ist die Stelle von Hupfeld und der Grund ist, merkwürdig genug, das Rockbuch, welches, so viel ich höre, der Churprinz [Friedrich Wilhelm (1802 – 1875)] von Hessen gelesen und so bewundert hat, daß er gleich beschlossen hat, die beiden Juwelen für sein Reich zu erwerben, jedenfalls aber mich. Sybel waren ungünstigere Bedingungen gestellt, und es ist zweifelhaft, ob er dahin gehn wird, da diese wohl nicht geändert werden. So kann man gelehrte Bücher schreiben und Niemand fragt danach, und solche dumme Spaßmacherei verhilft einem zu Professuren.«52

Marburg und die Hessische Katechismus- und Bekenntnisfrage Zur Gruppe der religiös-polemischen Schriften können auch die gezählt werden, die Gildemeister während seiner Marburger Zeit im Kontext der Diskussion um die »Hessische Katechismus- und Bekenntnisfrage« verfasste. Anlass hierzu war, 49 50 51 52

Gildemeister-Briefe 1844 – 17 (20. 10. 1844), 1844 – 22 (30. 11. 1844) Gildemeister-Brief 1844 – 23 (12.–13. 12. 1844) Gildemeister-Brief 1845 – 03 (28.–29. 01. 1845) Gildemeister-Brief 1845 – 11 (31. 05. 1845)

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dass eine Partei innerhalb der hessischen Kirche – an deren Spitze der Konsistorialrat Vilmar (1800 – 1868)53 – sich gegen den reformierten und für den lutherischen Charakter derselben aussprach. Von der theologischen Fakultät in Marburg wurde infolgedessen ein Gutachten zu zwei Fragen angefordert: 1. Ob das kurhessiche Kirchenrecht bestimmt, dass der Heidelberger Katechismus in den reformierten Schulen Kurhessens verwendet werden soll und 2. Ob die im hessischen Katechismus dargelegte Lehre eher lutherisch oder eher reformiert ist. Das von Gildemeister verfasste Gutachten, das zunächst ohne Nennung seines Namens 1855 in Marburg erschien, sprach sich gegen die lutheranische Partei aus54. Ähnlich dem Bremer Kirchenstreit kam es auch hier zu einer Kontroverse, die zur Publikation einer Reihe von Schriften und Gegenschriften führte. Bonn und die Macarius-Fragmente Ein letztes Mal ließ sich Gildemeister im Jahr 1866 in Bonn auf eine wissenschaftliche Fehde ein. Der katholische Theologe Heinrich Joseph Floß (1819 – 1881)55 hatte eine Schrift publiziert, worin er angeblich bislang unbekannte Fragmente aus dem Werk des Kirchenvaters Macarius präsentierte56. Dies veranlasste Gildemeister zur Abfassung einer Broschüre, in der er aufzeigte, dass es sich bei den »angeblich unbekannten und noch niemals edierten« Macarius53 Vilmar, August (1800 – 1868) – Gymnasialdirektor, Theologe, Germanist; Studium der Theologie und Philologie in Marburg; ab 1833 Direktor des Gymnasiums in Marburg; Gründer der Zeitung »Hessischer Volksfreund« (1848 – 1851); 1850 Ernennung zum Ministerialreferent für geistliche und Schulfragen im konservativen (zweiten) Ministerium von Hassenpflug, mit dem er befreundet war; 1851 – 1855 Vertreter des Kasseler Superintendenten Ernst in Kassel. Nach dem Tod von Ernst im April 1855 wurde eine Neuwahl des Superintendenten notwendig, die V. mit einer bedeutenden Mehrheit gewann. Die Bestätigung dieser Wahl durch den Kurfürsten wurde von diesem zunächst verzögert und später abgelehnt, wobei er sich u. a. auf ein Gutachten der Universität Marburg stützte, an dem J. Gildemeister maßgeblich mitgewirkt hatte. Karl Wippermann/Edward Schröder, August Vilmar, in: ADB 39 (1895), S. 715 – 722; Uwe Rieske-Braun, August Vilmar, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie 35 (2003), S. 99 – 102; Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild, Marburg 1913. 54 Gutachten der theologischen Facultät zu Marburg über die hessische Katechismus- und Bekenntnißfrage, Marburg 1855. 55 Floß, Joseph Heinrich (1819 – 1881) – katholischer Theologe, Kirchenhistoriker ; ab 1847 Privatdozent, ab1854 außerordentlicher Professor für Historische Theologie und Neues Testament in Bonn; ab 1858 ordentlicher Professor der Moraltheologie ebendort; Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der Katholiken an der Universität Bonn. Otto Wenig, Verzeichnis der Professoren und Dozenten der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818 – 1968, Bonn 1968, S. 77; Robert Haaß, Joseph Heinrich Floß, in: NDB 5 (1961), S. 255 f. 56 Heinrich Joseph Floß (Hg.), S. Macarii fragmenta duo e codice ms. Berolinensi nunc primum edita et Latine reddita, Bonn 1866.

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Fragmenten um bereits bekannte und mehrfach edierte Stücke des Kirchenvaters Ephraim handelte57. Auch in diesem Fall entstand daraus ein längerer Schlagabtausch, bei dem sich die beiden Kontrahenten in einer Reihe von Publikationen äußerten58. Der bereits zitierte Satz aus dem Jahr 1840 »Es war einfach nothwendig, so und nicht anders zu schreiben. Das verlangte die Wissenschaft, gegen die wir nichts machen können.« zeigt sehr deutlich die Haltung Gildemeisters, die sein Wirken maßgeblich prägte. Mit seiner Bereitschaft sich in ein wissenschaftliches Duell zu stürzen und hierbei auch vor polemischen Äußerungen nicht zurückzuschrecken stand er indes nicht allein, sondern handelte gemäß einer allgemein anerkannten und vielfach geübten wissenschaftlichen Praxis59.

Die Analyse der Briefe Die Analyse von Briefen kann an verschiedenen Punkten ansetzen. Der Germanist Peter Bürgel hat sich intensiv mit dem Wesen von Briefen und den diversen Ansatzpunkten auseinandergesetzt und daraus ein Modell entwickelt, das für ein methodisches Vorgehen hilfreich ist, wenngleich sein Fokus auf germanistischen Gesichtspunkten liegt60. Die Auswertung der GildemeisterBriefe konzentriert sich auf die historische Dimension, d. h. die Briefe als Zeugnisse ihrer Zeit; zugleich werden sie als Quelle zum Verfasser persönlich, d. h. als Selbst-Zeugnisse betrachtet61. Im Fokus der historischen Analyse standen bislang einerseits die Geschichte der deutschen Orientalistik im 19. Jahrhundert und andererseits die Universität Bonn in jenem Zeitraum. Die Betrachtung der Briefe als Selbst-Zeugnisse zielte darauf ab, Erkenntnisse über Gildemeisters Selbstwahrnehmung (und Darstellung) innerhalb seiner historischen Umgebung und seine Auseinandersetzung mit derselben zu erlangen. Auf eine Untersuchung der Briefe in sprachlicher Hinsicht wird generell verzichtet, auch wenn diese gleichfalls Aufschluss über das Wesen des Verfassers 57 Johann Gildemeister, Über die an der königl. preussischen Universität Bonn entdeckten neuen Fragmente des Macarius, Leipzig 1866. 58 Heinrich Joseph Floß, J. Gildemeister und das Bonner Universitätsprogramm zum 3. August 1866: eine kritische Würdigung der aus der Berliner Handschrift Nr. 18 veröffentlichten griechischen Fragmente, Freiburg i.Br. 1867; Johann Gildemeister, Über die in Bonn entdeckten neuen Fragmente des Macarius. Zweites Wort, Elberfeld 1867. 59 Siehe hierzu den Beitrag von Sabine Mangold-Will. 60 Peter Bürgel, Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 281 – 297. 61 Zur engen Verbundenheit dieser beiden Ebenen siehe Bürgel (wie Anm. 60), S. 292 – 296; Maurer (wie Anm. 1), S. 350 – 351.

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und seine Zeit geben könnte62. Ebenso wird das Thema »Briefkultur« nicht weiter behandelt63.

Fachgeschichte Die Briefe Gildemeisters müssen im Kontext des in den letzten Jahrzehnten neu erwachten Interesses an der Geschichte der Orientalistik gesehen werden. Hiermit verbunden ist das Bedürfnis nach der Erschließung neuer Quellen, das sich in einer Reihe von Editionen der Korrespondenzen bekannter Orientalisten manifestierte, darunter beispielsweise die Briefwechsel von Ignaz Goldziher mit seinen Kollegen Martin Hartmann und Theodor Nöldeke64. Während diese dem späten 19. Jh. entstammen, liegen uns mit den Gildemeister-Briefen Zeugnisse aus der Mitte des 19. Jahrhunderts vor, d. h. aus einer Zeit, in der sich das Fach Orientalistik als »Philologie der Orientalischen Sprachen«65 noch in seiner Entstehung befand. Gildemeister ist jener frühen Generation moderner Orientalisten zuzurechnen, die maßgeblich daran beteiligt waren die orientalische Philologie aus ihrer (geistigen und institutionellen) Abhängigkeit von der Theologie zu lösen und auf ihre Etablierung als eigenständige Disziplin hinzuwirken66. Er begann sein Studium in Göttingen, wo Georg Heinrich Ewald (1803 – 1875) zu seinen Lehrern zählte, wechselte 1834 aber nach Bonn, um unter anderem bei dem bekannten Arabisten Georg W.F. Freytag (1788 – 1861) zu studieren. Hierdurch vereinte Gildemeister in seiner Person die Ausbildung in den beiden wichtigsten deutschen Orientalistik-Schulen des frühen 19. Jahr-

62 Hierzu Bürgel (wie Anm. 60), S. 289 – 292. 63 Zum Thema Briefkultur im 19. Jahrhundert und dem Wert einer historischen Untersuchung von Briefen siehe den Beitrag von Ulf Morgenstern. 64 Beide wurden von Ludmilla Hanisch herausgegeben. Ludmilla Hanisch (Hg.), Islamkunde und Islamwissenschaft im Deutschen Kaiserreich. Der Briefwechsel zwischen Carl Heinrich Becker und Martin Hartmann (1900 – 1918), Leiden 1992. Dies. (Hg.), »Machen Sie doch unseren Islam nicht gar zu schlecht.« Der Briefwechsel der Islamwissenschaftler Ignaz Goldziher und Martin Hartmann 1894 – 1914, Wiesbaden 2000. 65 Stefan Heidemann, Maria Pawlowna und der Umbruch in der Orientalistik. Die Gründung des Großherzoglichen Orientalischen Münzkabinetts, in: Joachim Berger/Joachim von Puttkamer (Hg.), Von Petersburg nach Weimar. Kulturelle Transfers von 1800 bis 1860 (Jenaer Beiträge zur Geschichte 9), Frankfurt am Main 2005, S. 221 – 260, hier S. 228. 66 Ausführlich zu diesen Bestrebungen und den daran Mitwirkenden siehe Sabine Mangold, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 78 – 115; außerdem Heidemann (wie Anm. 65), S. 221, 224, 228; zu dieser Entwicklung am Beispiel der Universität Jena siehe Stefan Heidemann, Zwischen Theologie und Philologie. Der Paradigmenwechsel in der Jenaer Orientalistik 1770 bis 1850, in: Der Islam 84 (2008), S. 140 – 184.

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hunderts67. Ewald, dem Vertreter eines eher als historisch-philologisch zu bezeichnenden Ansatzes oder wie Sabine Mangold es nennt einer »Sachphilologie«, stand in Freytag ein Schüler von Silvestre de Sacy gegenüber, der wie jener sich auf die Sprache als »den eigentlichen Erkenntnisgegenstand der Orientalischen Studien«68 konzentrierte (und dies auch ganz klar von seinen Studenten forderte). Trotz aller Unterschiede und gegenseitigen Kritik waren sich die beiden Richtungen innerhalb der Orientalistik jedoch in einem zentralen Punkt einig und zwar in ihrer klaren Abgrenzung von der Theologie. Die Briefe Gildemeisters an seine Eltern erscheinen vielfach wie eine Art von Rechenschaftsbericht. Der Verfasser lieferte darin ausführliche Schilderungen seiner Lebens- und Arbeitsumstände zunächst als Student in Göttingen und Bonn, später als Dozent in Marburg und Bonn. Aufgrund dessen bilden seine Schreiben für zahlreiche Aspekte der Fachgeschichte eine sehr gute und relativ umfassende Quelle. Studium In vieler Hinsicht kann Gildemeister als ein typischer Vertreter seiner Zeit gelten, sowohl im Hinblick auf sein Studium wie auch auf seine spätere Lehrtätigkeit. Infolge der geringen Institutionalisierung waren sowohl das Studienangebot wie auch die späteren Berufsmöglichkeiten starken Einschränkungen unterworfen. Die Orientalisten jener Zeit zeichneten sich daher durch ihre breit angelegten Studien und ihre meist geringe Spezialisierung aus. Einen Eindruck von der Bandbreite seiner Studien vermittelt ein an die Eltern gesandter Studienplan aus dem Jahr 183369. Diesem Brief zufolge hatte der Autor ein Pensum von deutlich mehr als 30 Wochenstunden an Vorlesungen und Seminaren zu bewältigen, eine Zahl, die selbst bei großem Fleiß außerordentlich hoch erscheint. Hinzu kam, wie er in einem anderen Brief berichtete, noch eine Reihe von Privatstudien, die er mit einigen Kommilitonen betrieb70. Beide Schreiben vermitteln den Eindruck eines außerordentlich fleißigen Studenten, der außer seinen Studien keine weiteren Interessen zu haben schien. Dass dieser Eindruck möglicherweise täuscht, zeigt der Vergleich mit den Briefwechseln anderer Orientalisten des 19. Jahrhunderts. Ähnliche Aussagen über umfängliche Studien lassen sich in den Briefen von Heinrich Leberecht Fleischer (1801 – 1888), einem Zeitgenossen und geschätzten Kollegen Gildemeisters, an seinen Vater finden, wie auch in der Korrespondenz von Carl 67 Ausführlich zur Schule von Silvestre de Sacy in Paris und der Göttinger Schule um Ewald siehe Mangold (wie Anm. 66), S. 38 – 42, 95 – 100. 68 Mangold (wie Anm. 66), S. 40. 69 Gildemeister-Brief 1833 – 09 (23. 05. 1833) 70 Gildemeister-Brief 1834 – 16 (17. 10. 1834)

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Heinrich Becker (1876 – 1933) mit seiner Familie71. Es scheint sich hierbei also eher um eine stereotype denn um eine realistische Äußerung über das Arbeitspensum zu handeln, die vermutlich der finanziellen Abhängigkeit von den Eltern und deren Interesse am Studienerfolg geschuldet war. Dies führt zu der generellen Frage, inwieweit die in den Briefen enthaltenen Informationen als objektive Wahrheit gewertet werden können. Es gilt zu berücksichtigen, dass es sich bei einem Brief immer um einen performativen Akt, d. h. um ein Mittel zur Selbstdarstellung handelt. Nicht zu Unrecht bringt Rutz die Frage auf, inwieweit Briefe das historische Ich, d. h. den Menschen in der Geschichte tatsächlich dokumentieren oder lediglich Ich-Konstruktionen darstellen72. Briefe sind »adressatenorientiert«73, d. h. die Selbstdarstellung, -charakterisierung orientiert sich an den Erwartungen des Adressaten und kann daher je nach Situation stark variieren74. Dementsprechend ist bei ihrer Analyse Vorsicht geboten und die Aussagen des Verfassers sollten nicht völlig unkritisch akzeptiert werden. Im Vergleich mit dem obigen Brief deutlich glaubwürdiger erscheint die Liste der von ihm besuchten Veranstaltungen aus dem Jahr 1834, die der Autor von ihm unterschrieben(!) einem Brief an den Vater beifügte75. Gildemeisters Hauptinteresse galt den Orientalischen Studien, daran lassen Umfang und Ausführlichkeit seiner diesbezüglichen Schilderungen, wie auch der darin erkennbare Enthusiasmus, keinen Zweifel76. Seine Schwerpunkte bildeten hierbei neben Sanskrit, Arabisch und Persisch. Abgesehen davon interessierte er sich für alles, was er in dem von ihm sehr weit verstandenen Sinne der Orientalistik zurechnete, wie z. B. das Malaiische und das Javanische77. Parallel hierzu verfolgte er jedoch auch seine theologischen Studien. Da es kaum Stellen für »reine« Orientalisten gab, war es im Hinblick auf eine spätere Anstellung dringend notwendig, sich alle (Berufs-) Möglichkeiten offen zu halten – d. h. sowohl als Theologe wie als Orientalist wirken zu können. Wie sehr 71 Mitteilung von Sabine Mangold-Will (zu H.L. Fleischer) und Ulf Morgenstern (zu C.H. Becker) auf der Gildemeister-Tagung im Sommer 2012. Beiden möchte ich an dieser Stelle für diese Hinweise herzlich danken. 72 Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: Zeitenblicke 1, 2 (2002), Abschnitt 10. (http://www.zeitenblicke.de/2002/02/index.html, 19. 02. 2013) 73 Maurer (wie Anm. 1), S. 371. 74 Rutz (wie Anm. 72), Abschnitte 12 – 14. 75 Gildemeister-Brief 1834 – 16 (17. 10. 1834): Neben den von einem Studenten der Theologie und orientalischen Sprachen zu erwartenden Fächern wie Arabisch (bei Freytag), Sanskrit (bei von Schlegel) und »biblische Theologie des alten und neuen Testaments« (bei Nitzsch) werden darin auch Vorlesungen über Anthropologie und Psychologie (bei Windischmann) aufgeführt, was ein weiterer Beleg für die Bandbreite seiner Studien ist. 76 »Wenn doch die Menschen alle so dächten wie ich, dann sollte die orientalische Literatur schon auf den Strumpf kommen!« Gildemeister-Brief 1834 – 18 (23. 11. 1834), an die Mutter. 77 Gildemeister-Brief 1838 – 12 (15.–19. 12. 1838)

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diese Notwendigkeit zur mehrgleisigen Ausbildung Gildemeister und seiner Umgebung bewusst war, belegt ein Brief aus dem Jahr 1835, worin er berichtete, dass der Historiker Carl Friedrich Hüllmann (1765 – 1846), mit dem er wiederholt über sein Studium diskutierte, ihm dazu riet, »neben der philos. Promotion ja nicht die theologische Licentiatenpromotion zu versäumen.«78 Trotz seiner Begeisterung für die Orientalistik und seinem Wunsch, sich auf diese zu konzentrieren, leistete Gildemeister diesem Rat ganz pragmatisch Folge und legte 1838 neben der philosophischen auch die theologische Promotionsprüfung ab. Seine Berufung zum Ordinarius für Theologie und Orientalische Sprachen an die Universität Marburg zum Wintersemester 1845 zeigt, dass diese Entscheidung durchaus sinnvoll und richtig war. In Marburg, ebenso wie zuvor und danach in Bonn, unterrichtete Gildemeister sowohl theologische als auch orientalistische Fächer79. Ein Aspekt des Studiums, der immer wieder zur Sprache kommt und der durchaus charakteristisch für jene Zeit war, ist die Notwendigkeit zum Selbststudium, resultierend aus dem vielfach beschränkten Lehrangebot infolge von Mangel an entsprechend ausgebildeten Lehrkräften. Gildemeister schrieb darüber : »denn die Beschaffenheit meiner Studien und meiner Zwecke bringt es mit sich, daß ich das, was ich lerne, in Colleg. entweder gar nicht, oder doch lange nicht so gut lernen kann, als wenn ich es von mir selbst lerne. So bin ich bes. auf mein Privatoxen verwiesen.«80

Und wenn er auch an anderer Stelle davon schwärmte, dass im Bereich der Orientalistik noch so viele Entdeckungen zu machen sind, weshalb er und seine Fachkollegen sich als Pioniere verstehen können81, so wird doch auch deutlich wie viel Selbstdisziplin und Mühen dieses Studium erforderte. Nicht zuletzt muss auch noch die finanzielle Seite des Studiums angesprochen werden. Da waren zunächst Studiengebühren und Lebenshaltungskosten, für die aufgekommen werden musste. Im Fall von Gildemeister, der hier stellvertretend für andere stehen kann, kamen aufgrund seiner »Spezialisierung« noch weitere Kosten hinzu. Für den (im Vergleich mit anderen Studien) deutlich höheren finanziellen Aufwand, den das Studium der Orientalistik erforderte, waren zum 78 Gildemeister-Brief 1835 – 01 (11. 01. 1835) 79 »und nun weiß ich bestimmt, daß ich nächsten Donnerstag um 3 Uhr das eine Arabische Colleg, um 7 das über die messian. Weissagungen, am Freitag um 1 das Sanskrit, um 3 das Syrische und um 4 das andere Arabische Colleg schließen […] werde.« Gildemeister-Brief 1844 – 05 (07. 03. 1844), an die Mutter. 80 Gildemeister-Brief 1834 – 01 (18. 01. 1834) 81 »Das ist eben das Mühsame, aber auch das Herrliche der or. Studien, daß man bei ihnen nur äußerst wenig vorgearbeitet findet, sondern sich Alles selbst schaffen muß«. GildemeisterBrief 1833 – 02 (23. 01. 1833), an die Mutter.

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einen eine längere Studiendauer82 und zum anderen die Kosten für Fachliteratur verantwortlich. Da die meisten Universitätsbibliotheken – wenn überhaupt – dann nur über einen sehr eingeschränkten Bestand an Orientalia verfügten, kamen die Studenten nicht umhin sich grundlegende Werke persönlich anzuschaffen. In Auktionen, eine damals weit verbreitete Praxis und von Gildemeister vielfach genutzte Möglichkeit zum Erwerb von Büchern, waren Orientalia nur selten vertreten. Viele der orientalischen Werke waren nur im Ausland erhältlich, daher schwierig zu beschaffen und entsprechend teuer. Demzufolge gestaltete sich der Bucherwerb als ein nicht wenig kompliziertes und kostspieliges Unterfangen. In den Briefen kam Gildemeister immer wieder auf die von ihm als notwendig erachteten orientalistischen Werke, darunter Lexika, aber auch historische Literatur, zu sprechen. Dass er zu deren Erwerb – insbesondere, wenn der Preis hoch war – regelmäßig die Erlaubnis der Eltern einholte und diesen ausführlich die Besonderheit des betreffenden Werkes darlegte, macht deutlich, dass es sich hierbei um keine alltägliche Angelegenheit handelte. Ein sehr anschauliches Beispiel für die langwierigen Überlegungen, die – aufgrund der damit verbundenen Kosten – mit dem Erwerb von Fachliteratur verbunden waren, stellt der Kauf eines Persisch-Lexikons dar, der sich von September 1834 bis zum April 1836 hinzog83.

82 Im Jahr 1835 äußerte sich Gildemeister gegenüber seinem Vater wiederholt zu den Umständen, die seine Studienzeit verlängerten, so z. B. im Januar, als er schrieb »Du fragst, ob ich dies Semester über meine festen Universitätsjahre noch überher haben wollte, oder ob es mit darin eingeschlossen sein solle? Nein es sollte mit darin eingeschlossen sein, aber wir haben überhaupt noch Nichts über die Dauer meiner Universitätsjahre festgesetzt. Du kannst darunter nicht 3 Jahre verstehn, da mein triennium Ostern abgelaufen ist, und Du leicht einsiehst, daß, wenn die meisten Theologen u Juristen 4 Jahre gebrauchen, meine Studien gewiß ebenso viel verlangen.« Gildemeister-Brief 1835 – 01 (11. 01. 1835) Weitere Erläuterungen folgten im September : »Die Orientalisten besonders haben einen harten Stand, denn da die meisten gegen dies Fach aufsätzig sind, so werden wir in Philol. z. B. fast eben so scharf hergenommen, wie einer der bloß Philol studirt was bei der Schwierigkeit und dem Umfange dessen, was wir zu lernen haben, eine große Ungerechtigkeit ist. Mit diesem Examen wird für mich noch das pro venia docendi, für die Erlaubniß des Docirens verbunden, d. h. das eigentliche Dr examen wird noch geschärft. Als schlechter Jurist wollte ich in einem Jahre promoviren; bloß für das philos. Examen komme ich mit 4 Jahren schon früh genug, bin vielleicht unter allen die hier promovirt haben der frühste. Jetzt macht ein bloßer Philolog nach 7jährigem Studium sein Examen und ein oriental. Freund von mir, der Senior unseres sanskritischen und arabischen Kleeblatts, der 2 Jahre länger studirt hat als ich, kommt nur etwa ein Vierteljahr früher. Und zu allem diesem habe ich speciell nun noch ein zweites Examen in einer ganz anderen Wissenschaft, das jenem ersten bald genug folgt und wo ebenfalls alle theol. Disciplinen selbst praktische Theol. erfordert wird.« Gildemeister-Brief 1835 – 10 (06.–11. 09. 1835) 83 Gildemeister-Briefe 1834 – 14 (13.–14. 09. 1834), 1836 – 05 (01.–02. 04. 1836)

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»Leider bin ich in meinen persischen Studien wieder sehr beschränkt. Da ich alles, wozu kleinere Lexica existiren, durchgelesen habe, so scheint mich der Mangel eines persischen Lexicons in meinem Fortgange ganz zu hemmen, was sehr betrübt ist; von der Bibl. ist keins zu bekommen. Das einzige brauchbare u noch zu erhaltende persische (englische) Lex. das von Richardson-Wilkins-Johnson84, kostet 9 £, 9 s. also 60 Thaler in London, da man leider den ziemlich unnützen zweiten Theil (es sind 2 große Quartbände) mitbezahlen muß. Ich habe halb die Idee gehabt, von den 100 Thaler, die ich Vaters Güte verdanke, einen Theil dazu zu verwenden, allein, so nöthig das Ding auch sein mag, ist der Preis doch gar zu hoch, und ich mag daher kaum um die Erlaubniß dazu bitten.«85

Auch wenn Gildemeister gelegentlich leicht abfällig von »Brotcollegia« oder auch vom »Brotstudium«86 sprach, zur Bezeichnung von Veranstaltungen bzw. einer Ausbildung, mit denen Geld zu verdienen ist, lassen seine Briefe keinen Zweifel daran, dass ihm die ökonomischen Aspekte seines Studiums durchaus bewusst waren. Wie sehr ihn die finanzielle Abhängigkeit von seinen Eltern beschäftigte und wie sehr ihm daran lag, diese zu beenden, macht ein Brief des Jahres 1835 deutlich: »Indeß kann ich nicht umhin, bei dieser Gelegenheit zu bekennen, wie sehr mich oft die Sorgen für meine Zukunft drücken; mein Wunsch mich dem akademischn [sic] Katheder zu widmen, kommt in Collision mit dem Umstande, den Du wohl kennen wirst, daß diese Laufbahn zunächst gar keine Subsistenzmittel gewährt, und da weiß ich noch gar nicht, welchen Entschluß ich fassen soll, um Dir nicht noch länger auf dem Beutel zu liegen, nachdem meine Studien Dir schon soviel kosten.«87

Gildemeister profitierte vom Wohlstand und der Großzügigkeit seiner Familie, die ihn bis weit in die Zeit seiner ersten Berufstätigkeit hinein unterstützte. Im Hinblick auf das Orientalistik-Studium liegt es daher nahe zu fragen, inwieweit 84 John Richardson/Sir Charles Wilkins/Francis Johnson, A dictionary, Persian, Arabic, and English; with a dissertation on the languages, literature, and manners of the eastern nations. Die erste Auflage dieses Werks (2 Bde., Oxford 1778 – 1780) war das Alleinwerk von John Richardson. An der folgenden, erweiterten Auflage (2 Bde., London 1806 – 1810) waren Charles Wilkins und Francis Johnson beteiligt; eine nochmals überarbeitete und erweiterte dritte Auflage erschien 1829 in London unter der Beteiligung von Francis Johnson. Gildemeister bezieht sich offenbar auf diese letztgenannte Ausgabe. Was Form und Inhalt des Lexikons angeht irrt er sich jedoch. Die beiden ersten Auflagen waren zweibändig (Bd. 1: Persian, Arabic and English; Bd. 2: English, Persian and Arabic), wobei die Bände unabhängig voneinander verkauft wurden. Das deutlich größere Interesse an Band 1 hatte zur Folge, dass die Buchhändler auf dem zweiten Band meist sitzen blieben. Die Ausgabe von 1829 war daher nur einbändig (Persian, Arabic and English). Der Irrtum Gildemeisters ist wohl darauf zurückzuführen, dass er das Lexikon noch nicht persönlich gesehen hat. Clarke 1806, S. 273 – 275; Zenker, Bd. 1, 1846, S. 13. 85 Gildemeister-Brief 1834 – 14 (13.–14. 09. 1834) 86 Siehe beispielsweise die Gildemeister-Briefe 1839 – 16 (05.–07. 07. 1839) oder 1845 – 20 (18.–20. 08. 1845). 87 Gildemeister-Brief 1835 – 01 (11. 01. 1835)

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auch Studenten aus weniger begüterten Familien sich ein so kostspieliges Studium leisten konnten und wollten, zumal die Berufsaussichten für reine Orientalisten wenig vielversprechend waren. Arbeitsbedingungen Die Briefe vermitteln einen guten Einblick in die vielfach schwierigen Arbeitsumstände eines Orientalisten jener Zeit. Nicht nur dass sie – wie zuvor schon geschildert – die Schwierigkeiten und Mühen bei der Beschaffung der notwendigen Fach-Literatur aufzeigen, ganz zu schweigen von den damit verbundenen Kosten. Ebenso machen sie die Notwendigkeit deutlich, Manuskripte zur weiteren Bearbeitung handschriftlich zu kopieren oder verweisen auf die Schwierigkeit passende und gute Schrifttypen für den Druck zu erhalten. Im Jahr 1839 beispielsweise berichtete Gildemeister von dem Problem armenische Schrifttypen zu finden, welches er dadurch löste, dass er sie selbst schnitt88 ! Aus seinen Schilderungen wird zudem erkenntlich wie stark der Einzelne von der Kooperation mit anderen Gelehrten abhängig war, wenn es um die Beschaffung von Quellenmaterial ging und man nicht selbst in der Lage war, umfangreiche Reisen zu unternehmen. Zu den wissenschaftlichen kamen vielfach auch noch andere, äußere Probleme hinzu, mit denen der Einzelne zu kämpfen hatte. In Marburg zählte hierzu beispielsweise die Organisation und der Unterhalt eines Auditoriums, wofür die Dozenten selbst verantwortlich waren: »Man schickt jedesmal seinen Dienstboten mit einer Tracht Holz unter dem Arm hin, um heizen zu lassen; […]. Erleuchtung muß man natürlich auch selbst besorgen.«89

Deutsche Morgenländische Gesellschaft und Deutscher Palästina-Verein Ein weiterer Aspekt der Fachgeschichte, der in den Gildemeister-Briefen wiederholt zur Sprache kommt, betrifft die Institutionalisierung der Orientalistik im außeruniversitären Bereich. Im Oktober 1845 wurde in Darmstadt die Deutsche Morgenländische Gesellschaft (DMG) gegründet, die erste orientalistische Fachvereinigung im deutschsprachigen Raum. In dieser außeruniversitären Vereinigung fanden sich orientalistisch Gebildete und am Orient interessierte »Laien« zusammen mit dem Ziel die orientalistischen Studien zu fördern. Der wissenschaftliche Austausch innerhalb der deutschsprachigen Orientalistengemeinschaft wie auch mit Fachkollegen im Ausland zählte zu den vorrangigen Anliegen der neugegründeten Gesellschaft. Die Gildemeister-Briefe zeigen deutlich, welche Bedeutung ihr Verfasser 88 Gildemeister-Briefe 1838 – 08 (29. 09. 1838), 1838 – 09 (31. 10. 1838) 89 Gildemeister-Brief 1845 – 26 (29 – 31. 10. 1845)

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dieser neuen, orientalistischen Vereinigung beimaß, deren Entstehung er von Anfang an mit großem Interesse verfolgte. Beginnend im Juni 1845 erwähnte der Autor wiederholt die Philologenversammlung in Darmstadt90 und äußerte mehrfach seine Absicht daran teilzunehmen91. Im Brief vom 08. September erwähnte er erstmals auch die Deutsche Morgenländische Gesellschaft: »Am 29 u 30 Sept. sind dort die Berathungen über die neue orientalische Gesellschaft denen ich aus vielen Gründen sehr gern beiwohnte.«92

Als dann, nach rund einjähriger Vorbereitung vom 30. September bis zum 02. Oktober 1845 in Darmstadt die Gründungsveranstaltung der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft stattfand, befand sich Gildemeister unter den 35 Teilnehmern93. An der jährlich stattfindenden Generalversammlung der DMG nahm Gildemeister in regelmäßig-unregelmäßigen Abständen teil, das letzte Mal zwei Jahre vor seinem Tod94. Wiederholt wurde er in den Vorstand gewählt, z. T. auch in seiner Abwesenheit, wie beispielsweise 1875 in Rostock, was er in der ihm eigenen Art kommentierte:

90 Während der Vorbereitungen zur Gründung der DMG in den Jahren 1843 und 1844 kam die Idee auf, sich dem seit 1837 existierenden »Verein deutscher Philologen und Schulmänner« anzuschließen. Dieses Vorhaben wurde 1844 mit Erfolg umgesetzt. Die vorbereitende Sitzung zur Gründung der neuen orientalischen Gesellschaft am 30. September 1844 war an die siebte »Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner« angegliedert. Seitdem war von der »Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten« die Rede. Im Jahr darauf fand die Versammlung vom 01. bis 04. Oktober 1845 in Darmstadt statt und darin eingebunden die Gründungsveranstaltung der DMG. Hierzu Verhandlungen der Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten 8 (1846); außerdem Holger Preissler, Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, in ZDMG 145,2 (1995), S. 241 – 327. 91 Siehe Gildemeister-Briefe 1845 – 15 (09. 07. 1845), 1845 – 20 (18.–20. 08. 1845), 1845 – 21 (08. 09. 1845), 1845 – 22 (16.–18. 09. 1845), 1845 – 23 (23.–24. 09. 1845), 1845 – 27 (09. 11. 1845) 92 Gildemeister-Brief 1845 – 21 (08. 09. 1845); mit der »neuen orientalischen Gesellschaft« ist die Deutsche Morgenländische Gesellschaft (DMG) gemeint, die sich am 02. Oktober 1845 in Darmstadt konstituierte. Zu deren Gründung siehe Preissler (wie Anm. 90); Mangold (wie Anm. 66), S. 176 – 217. 93 Auf der Teilnehmerliste ist er unter der Nummer 53 aufgeführt; siehe: Verhandlungen der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 8 (1846), S. 115. 94 Die Teilnahme Gildemeisters an den Generalversammlungen der DMG ist belegt für Hamburg (1855), Frankfurt/Main (1861), Heidelberg (1865), Würzburg (1868), Innsbruck (1874), Tübingen (1876), Wiesbaden (1877), Gera (1878), Trier (1879), Karlsruhe (1882), Dessau (1884), Gießen (1885) und Zürich (1887); außerdem für die Generalversammlung des Jahres 1888 in Halle, auf der er zum Ehrenmitglied der DMG ernannt wurde. Die Teilnahme an der Versammlung in Halle 1888 ist in den Gildemeister-Briefen nicht dokumentiert, sondern geht nur aus dem Protokoll hervor; siehe ZDMG 42 (1888), S. 169. Da die Briefe des Jahres 1888 nur bis in den September reichen, die Versammlung aber Anfang Oktober stattfand, ist nicht auszuschließen, dass Schreiben verloren gegangen sind, in denen dieses Ereignis erwähnt wird.

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»Es wurde mir sehr kurz angezeigt, u ich weiß den Zusammenhang nicht; ob es von einer Oppositionspartei durchgesetzt ist, oder man mich eben wegen einer Opposition über die moabitischen Fälschungen von der andern Seite unschädlicher machen will, oder ob es gar keinen Zusammenhang hat.«95

Seine Bereitschaft, sich für die DMG zu engagieren, wie auch seine Beiträge zu deren publizistischem Organ, der ZDMG, belegen sein bis ins hohe Alter andauernde Interesse an dieser Institution96. Die Briefe, die er von den jeweiligen Versammlungsorten an seine Frau Hanne oder seinen Bruder Edu schrieb, vermitteln einen guten Eindruck vom Ablauf dieser Zusammenkünfte, dem wissenschaftlichen wie dem geselligen Teil. Ebenso wurden darin aber auch die negativen Aspekte, wie interne Konflikte und Auseinandersetzungen thematisiert. Beispielhaft hierfür ist die Auseinandersetzung um die s.g. »moabitischen Tongefässe«, die die Versammlungen der Jahre 1874 und 1876 prägte97. Auch der 1877 gegründete Deutsche Palästinaverein (DPV) wird in den Briefen erwähnt, nimmt allerdings keine so prominente Stellung ein wie die DMG98. Lehrer und Kollegen Bemerkenswert sind die zahlreichen Bemerkungen über seine Lehrer und Fachkollegen, in Gildemeisters Briefen, bei denen auffällt, dass sie häufig wenig schmeichelhaft waren. Sein Lehrer Georg Wilhelm Freytag (1788 – 1861), der Verfasser des berühmten arabisch-lateinischen Wörterbuchs, war seiner Beschreibung zufolge »ein großer dicker Mann mit groben Gesichtszügen, ohne Feinheit im Benehmen«99. Gustav Leberecht Flügel (1802 – 1870), den Herausgeber des Korans (der s.g. »Flügelschen Edition«100), beschrieb er als »ein kleines putziges Männchen« und Johann August Vullers (1803 – 1880), den Verfasser des berühmten persisch-lateinischen Wörterbuchs, nannte er »eine traurige 95 Gildemeister-Brief 1875 – 17 (06. 10. 1875) 96 Hierin gleicht er seinen Kollegen und Freunden H.L. Fleischer (1801 – 1888) und Eduard Reuß (1804 – 1891); vgl. Gildemeister-Briefe 1877 – 08 (27. 09. 1877) und 1882 – 03 (04. 10. 1882). 97 Siehe Gildemeister-Briefe 1874 – 18 (29.09.–01. 10. 1874), 1874 – 19 (05. 10. 1874), 1876 – 09 (26. 09. 1876) und 1876 – 10 (04. 10. 1876); außerdem 1877 – 02 (05.–06. 03. 1877); hierzu auch ZDMG 29 (1875), S. VI – VII; zu den historischen Begebenheiten auch Charlotte Trümpler, Die moabitischen Fälschungen, in: Dies. (Hg.), Das grosse Spiel. Archäologie und Politik, Köln 2008, S. 104 – 113. 98 Siehe z. B. Gildemeister-Brief 1884 – 09 (30.09.–01. 10. 1884); zur Geschichte dieses Vereins sieh Markus Kirchhoff, Deutsche Palästina Wissenschaft im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Die Anfänge und Programmatik des Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas, in: Dominique Trimbur (Hg.), Europäer in der Levante. Zwischen Politik, Wissenschaft und Religion (19.–20. Jahrhundert), München 2004, S. 31 – 55. 99 Gildemeister-Brief 1834 – 07 (29.04.–09. 05. 1834) 100 Gustav Leberecht Flügel, Corani textus arabicus, Leipzig 1834.

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Figur«101. Völlig anders ist sein Urteil über den bekannten Leipziger Orientalisten Heinrich L. Fleischer (1801 – 1888), mit dem er freundschaftlich verbunden war. In seinem Bericht über die Philologenversammlung des Jahres 1850 in Berlin sagte er über diesen: »Fleischer, jetzt der erste Deutsche Arabist, ist ein sehr forscher Kerl«102. Auffallen ist, dass Gildemeister seinen ehemaligen Lehrer Heinrich Ewald (1803 – 1875) außer in den Briefen aus der Zeit seines Studiums in Göttingen, niemals erwähnte, obwohl dieser ebenfalls in der DMG aktiv war und regelmäßig an den Treffen teilnahm. Insgesamt können die Äußerungen zu Lehrern und Fachkollegen als ein gutes Beispiel dafür gelten, wie sehr der Inhalt der Briefe die subjektive Meinung des Autors wiedergibt und deshalb bei Beund Auswertung der Briefe Vorsicht geboten ist.

Institutionsgeschichte – Geschichte der Universität Bonn im 19. Jh. Gildemeister verbrachte einen Großteil seines Lebens – als Angehöriger der dortigen Universität – in Bonn, von 1834 bis zu seiner Berufung nach Marburg im Jahr 1844 als Student und Dozent (nur unterbrochen von seiner Studienreise nach Leiden und Paris) und dann erneut ab 1859, als er die Nachfolge Freytags als Ordinarius für Orientalische Sprachen und Literatur antrat bis zu seinem Tod im Jahr 1890. Trotz dieses langen Zeitraums sind die Briefe im Hinblick auf Informationen zum Alltag der Bonner Universität weitaus weniger aussagekräftig als anfangs erwartet. Das mag auf den ersten Blick erstaunen, lässt sich aber dadurch erklären, dass zum Zeitpunkt von Gildemeisters Berufung nach Bonn seine Eltern – anfangs die wichtigsten Adressaten – bereits verstorben waren, und die Korrespondenz mit dem Bruder, seinem späteren Hauptkorrespondenten, von anderen Interessen geleitet war. Wie Maurer anmerkt sind Briefe generell »adressatenorientiert« , d. h. »auf einen Briefempfänger hin konzipiert […], dessen Wahrnehmungshorizont und Vorwissen, dessen Interessen« den Inhalt bestimmen103. Informationen zu größeren universitären Ereignissen fehlen weitgehend oder sind sehr fragmentarisch. Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Denkmal zu Ehren von Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860), von dem er wiederholt berichtete, beginnend mit der Planung im Jahr 1860 bis zur Aufstellung im Jahr 1865104. Daneben kamen Begebenheiten zur Sprache, die Gildemeister unmittelbar 101 102 103 104

Gildemeister-Briefe 1839 – 21 (29.–30. 07. 1839), 1846 – 11 (05.–19. 07. 1846) Gildemeister-Brief 1850 – 11 (01.–02. 10. 1850) Maurer (wie Anm. 1), S. 360, 371. Gildemeister-Briefe 1860 – 03 (24. 03. 1860), 1860 – 07 (12. 04. 1860), 1860 – 08 (29.–30. 04. 1860), 1865 – 10 (06. 07. 1865), 1865 – 11 (21.–22. 07. 1865), 1865 – 12 (03. 08. 1865)

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persönlich betrafen, wie z. B. die Neubesetzung der Stelle des Oberbibliothekars an der Universitätsbibliothek Bonn, die durch den Wechsel von Friedrich Wilhelm Ritschl (1806 – 1876) nach Leipzig im Jahr 1865 vakant geworden war. Zunächst war Gildemeister als dessen Nachfolger im Gespräch, neben den Juristen Friedrich Blume (1797 – 1874) und Eduard Böcking (1802 – 1870), was vom Kurator Beseler offenbar befürwortet wurde. Aufgrund von Gildemeisters bekanntermaßen regierungskritischer Haltung entschied sich die Regierung jedoch gegen ihn105.

Briefe als Ego-Dokumente Briefe sind Ego-Dokumente oder noch präziser Selbst-Zeugnisse106, d. h. Texte, in denen ein Autor in der Ich-Form über sein eigenes Handeln und Fühlen und über Dinge und Vorgänge, die ihn persönlich betreffen, berichtet. Sie geben Auskunft über die Selbstwahrnehmung eines Individuums innerhalb seiner historischen Umgebung; zugleich reflektieren sie den persönlichen Blick des Autors auf die Geschehnisse seiner Zeit, seine Beurteilung derselben wie auch seine Auseinandersetzung damit. Die bisherige Analyse der Briefe als Selbstzeugnisse, d. h. als subjektiver Bericht über das eigene Handeln und Denken, erwies sich als ähnlich gewinnbringend wie ihre Nutzung als Quelle zur Fachgeschichte. Klar lassen sich die Vorstellungen Gildemeisters von sich und seiner Umgebung erkennen und seine Erwartungen an beide. Dies gilt für sein Leben als Student und Dozent aber auch als Familienoberhaupt. Darüber hinaus spiegeln sie seine Wahrnehmung verschiedener historischer Begebenheiten und deren Bewertung. Obgleich er Theologie studiert hatte und theologische Vorlesungen zu seinem Repertoire gehörten, wird aus den Schreiben unzweifelhaft ersichtlich, dass 105 Ausführlich hierzu Wilhelm Erman, Geschichte der Bonner Universitätsbibliothek (1818 – 1901), Halle a. d. Saale 1919, S. 205 – 209; vgl. Gildemeister-Briefe 1865 – 20 (04. 10. 1865), 1865 – 21 (13. 10. 1865) und 1866 – 15 (06. 06. 1866). 106 »Der Begriff Ego-Dokumente bezeichnet Texte, die Aussagen oder Aussagepartikel enthalten, die – wenn auch in rudimentärer oder verdeckter Form – über […] Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde etc. Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen […] reflektieren, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und –erwartungen widerspiegeln.« Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«, in: Ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, S. 11 – 30, hier S. 28. Die Bezeichnung Selbstzeugnisse wird heutzutage für jene Gruppe der Ego-Dokumente verwendet, die »selbst verfaßt, in der Regel auch selbst geschrieben (zumindest diktiert) sowie aus eigenem Antrieb entstanden sind«, d. h. Briefe, Tagebücher, Memoiren etc. Hierzu Rutz (wie Anm. 72).

Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister

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Gildemeister sich in erster Linie als Orientalist verstand und als solcher handelte. Bereits im Jahr seiner Dissertation 1838 wird dies deutlich als er an seine Eltern schrieb: »Mein früherer Plan in beiden Fakultäten zu lesen, ist daran gescheitert, daß es einem Privatdocenten nicht gestattet wird, ds zu thun, sondern bloß Professoren. Ds ist gesetzlich und um so weniger eine Ausnahme von Seiten der Fakultät zu erwarten. Mir bleibt nun dieser Weg über. Ich fange in der philos. an zu lesen, wo ich ohnehin alttestamentliche Exegetika nach Lust lesen kann, u gehe von dieser nach einem oder einigen Semestern in die theologische über. So wahre ich mir den Namen als Orientalist, u man wird später keine Schwierigkeit machen, meine orientalischen Collegien in der theol. Fakultät fortzulesen, was mir von vornherein gelegt werden würde.«107

Sein Selbstverständnis bzw. Selbstbewusstsein als Orientalist zeigte sich auch deutlich in seiner Aktivität in der DMG und dem Deutschen Palästinaverein, wo er in beiden Fällen zu den frühesten Mitgliedern zählte. Die Besonderheit des Forschungsgebietes, das von vielen als eigenartig und exotisch betrachtet wurde, ebenso wie die damit verbundenen außergewöhnlichen Anforderungen und Mühen, führten innerhalb der Orientalisten-Gemeinschaft zur Entwicklung eines deutlich erkennbaren elitären Selbstbewusstseins. Dieses drückt sich in den Gildemeister-Briefen u. a. darin aus, dass er auf den »Philologenversammlungen« stets darum bemüht war für diese einen gemeinsamen Tisch zu reservieren oder ein gemeinsames Treffen an einem separaten Ort zu organisieren. So beispielsweise 1846 in Jena: »Wir hielten sehr zusammen und kamen mit der übrigen philol. Welt wenig in Berührung.«108 Vergleichbares berichtete er 1850 aus Berlin: »Auf heute Abend hatten wir Orientalisten ein separates Souper in einem andern Local eingerichtet.«109 Briefe reflektieren indes nicht nur die Eigenwahrnehmung des Autors sondern ebenso seine individuelle Auseinandersetzung mit den historischen Rahmenbedingungen, wie zuvor schon erwähnt. Innerhalb des Gildemeister-Briefkorpus gilt dies insbesondere für die Briefe aus Marburg, die vor dem Hintergrund des kurhessischen Verfassungskonfliktes und der folgenden Bundesintervention geschrieben wurden110. An ihnen wird das deutlich, was Maurer als das individuelle »Erleben und Erleiden von Geschichte« beschreibt, das sich in Briefen manifestiert und insbesondere in Schreiben, die in Zeiten von Krisen und / oder Kriegen verfasst wurden111. Im November 1850, im Rahmen der Bundesintervention erfolgte der Ein107 108 109 110

Gildemeister-Brief 1838 – 09 (31. 10. 1838) Gildemeister-Brief 1846 – 18 (16. 10. 1846) Gildemeister-Brief 1850 – 12 (03.–05. 10. 1850) Zu Hintergrund und Verlauf des kurhessischen Verfassungskonfliktes und seinen Folgen siehe den Beitrag von Rüdiger Ham. 111 Maurer (wie Anm. 1), S. 351.

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marsch von 10.000 bayrischen und österreichischen Soldaten in Kurhessen. In Marburg, wie in anderen kurhessischen Städten, wurden diese Truppen in privaten Haushalten einquartiert. »Bevorzugt« wurden hierbei Personen, die als regierungskritisch galten. Neben den räumlichen Problemen, die mit der Einquartierung verbunden waren, bedeutete diese auch eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung, die von den Betroffenen oftmals kaum getragen werden konnte, vielfach deren Mittel auch überstieg. Gildemeister war persönlich von Einquartierung betroffen, scheint das aber eher gelassen hingenommen zu haben, als eine Art unvermeidbares, alle betreffendes Übel. »Die nächste Unbequemlichkeit daran ist die Einquartierung, ich habe 3 Mann, die ich auswärts legen mußte da mein Wirth 12 hat und sie nicht mehr lassen kann. Kostet p Person und p Tag 48 Grote: gerade soviel als mein Gehalt.«112

Weitaus stärker bewegten ihn hingegen die finanziellen Belastungen, die die Einquartierung für die einfachen Leute bedeutete. Hierüber schrieb er am 23. November 1850 an seine Mutter : »Die Mutter eines meiner Collegen die in Fulda wohnt hat schon alle ihre Wintervorräthe an Gemüsen aufzehren müssen; zwei alte Schwestern eines hiesigen Eisenbahnbeamten, die in Fulda ein eigenes kleines Haus bewohnen, haben dies im Stich gelassen und sind hierher gekommen, da sie 9 Mann Einquartierung hatten, die sie rein auffraß.«113

Beispiele wie dieses finden sich zahlreiche in den Gildemeister-Briefen. Über die Jahre hinweg nahm Gildemeister immer wieder, mehr oder minder ausführlich, Stellung zu Ereignissen in seiner unmittelbaren oder ferneren Umwelt, wie z. B. dem s.g. »Kölner Ereignis«, den Göttinger Sieben oder dem Bremer Kirchenstreit. Dabei machte er seine persönliche Position zumeist sehr deutlich, wie beispielsweise in jenem Brief, den er im Juli 1870, kurz vor Beginn des deutschfranzösischen Krieges, verfasste: »Aber was sind das noch immer für Zustände, daß der Ehrgeiz u die Privatinteressen einiger gekrönter Schädel die Völker um Dinge, die sie gar nichts angehn, in unabsehbare Verwirrung zu stürzen ohne Weiteres im Stande ist.«114

112 Gildemeister-Brief 1850 – 17 (12. 12. 1850) 113 Gildemeister-Brief 1850 – 16 (23. 11. 1850) 114 Gildemeister-Brief 1870 – 16 (12.–13. 07. 1870)

Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister

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Fazit Wie eingangs angemerkt ist ein Brief zum einen »Quelle über den Autor lesen« und zugleich »öffnet er sich zur Welt«115. Im Hinblick auf die eingangs genannten Untersuchungsschwerpunkte hat sich (bislang) Folgendes ergeben: Die Informationen zur allgemeinen Fachgeschichte finden sich insbesondere in den Briefen aus der Zeit des Studiums und der Berufung, wie auch in jenen von den »Philologenversammlungen«. Besonders detailliert und aussagekräftig sind die Mitteilungen über die persönliche Arbeitssituation während Studienund Lehrtätigkeit. Sie enthalten viele Einzelinformationen, die Vorhandenes ergänzen, bestätigen oder auch relativieren. Über den Verfasser selbst geben die Briefe ebenfalls in vielerlei Hinsicht Auskunft. Sie reflektieren den persönlichen Blick des Autors auf die Geschehnisse seiner Zeit, seine Beurteilung derselben wie auch seine Auseinandersetzung damit und erlauben dadurch Rückschlüsse auf seine individuellen Lebenszusammenhänge und seine Wahrnehmung. Sie ermöglichen sozusagen einen Blick von »unten« / »innen« – aus dem Blickwinkel der Akteure – auf die größeren historischen Prozesse und Ereignisse seiner Zeit. Wie erhofft macht die mikrohistorische Analyse der Briefe »Details des (historischen) Ganzen« erkennbar, die bislang unbekannt waren, wodurch eine qualitative Verbesserung bestehender makrohistorischer Darstellungen erreicht wird. Zugleich wird an ihnen erkennbar, dass eine solche Analyse ohne Bezug auf einen größeren historischen Rahmen / Kontext weder möglich noch wirklich nutzbringend ist116. Die Relevanz von mikrohistorischen Untersuchungen ist erst im Bezug zum makrohistorischen Rahmen erkennbar, wie van Dülmen zu Recht anmerkt117. Dies trifft in hohem Maße auch auf die Gildemeister-Briefe zu. Der fragmentarische Charakter vieler Informationen – wie er für Briefe typisch ist118 – ebenso wie die subjektive Prägung der Aussagen machen die Grenzen des Materials deutlich und zeigen, dass eine allein darauf basierende Darstellung / Rekonstruktion der (historischen / Lebens-) Situation weder umfassend noch objektiv sein kann. Daher ist eine detaillierte Betrachtung der Briefe vor ihren respektiven politischen und sozialen Hintergründen unabdingbar, d. h. ihre Kontextualisierung. Der Blick des Individuums auf die umgebenden Ereignisse und die eigene subjektive Auseinandersetzung mit denselben, wie sie die Briefe widerspiegeln wird erst verständlich und interpretierbar vor dem Hintergrund der 115 116 117 118

Maurer (wie Anm. 1), S. 350. Hierzu Richard van Dülmen, Historische Anthropologie, Köln 2011, S. 52 – 55, 104 – 106. Hierzu van Dülmen (wie Anm. 116), S. 54. Hierzu Rutz (wie Anm. 72), Abschnitt 08.

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objektiven, makrohistorischen Strukturen und Prozesse. Erst die Vernetzung von Makro- und Mikroebene erlaubt ein wirkliches Verstehen und eine Interpretation der in den Briefen enthaltenen Aussagen und Darstellungen. Ein Aspekt der bei der inhaltlichen Auswertung bislang wenig beachtet wurde, ist der Wert der Briefe als Quelle zur bürgerlichen Lebenswelt im 19. Jh. Die Informationen zum alltäglichen Leben einer bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts sind gleichfalls meist fragmentarisch und dadurch nicht leicht greifbar. Dennoch sind interessante Einblicke zu erlangen in Bereiche wie beispielsweise das gesellschaftliche Leben in Marburg und Bonn, die Erziehung und Ausbildung der Kinder und nicht zuletzt den Umgang mit Krankheit und Tod. Auch wichtige technisch-administrative Veränderungen wie z. B. der Ausbau des Eisenbahnnetzes und des Postwesens finden ihren Widerhall in den Briefen und erlauben Rückschlüsse auf die Wahrnehmung, Bewertung und den Umgang des Verfassers mit denselben. Das Erstarken des Bürgertums und eine zunehmende Alphabetisierung führten zu einer starken Veränderung der traditionellen Kommunikationsstrukturen. Im Hinblick auf den Brief, dem damals wichtigsten »Medium überlokaler Kommunikation« wie Morgenstern dies treffend beschreibt, bedeutete dies eine qualitative wie auch quantitative Ausweitung des Briefverkehrs119. Viele dieser Veränderungen spiegeln sich in den Briefen Gildemeisters und beeinflussen sein Verhalten, wie z. B. sein Bemühen, seine Briefe mit den Abgangszeiten der Postwagen zu koordinieren. Entsprechend bieten die Briefe auch in dieser Hinsicht die Möglichkeit, individuelles Verhalten und historische Entwicklung miteinander zu verbinden und damit zu einem umfassenderen Verständnis zu gelangen.

119 Ulf Morgenstern, Briefe als schriftliche Selbstvergewisserung? Zur Bedeutung der Briefkultur im Rahmen intergenerationeller Tradierungen und persönlicher Verortungen in einer Gelehrtenfamilie zwischen Altem Reich und Bundesrepublik, in: Julia Paulus/Marion Röwekamp (Hg.), Briefe einer Soldatenheimschwester an der Ostfront, Münster [im Druck]; Rainer Baasner, Briefkultur im 19. Jh. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders. (Hg.), Briefkultur im 19. Jh., Tübingen 1999, S. 1 – 36.

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»Bremer Bürger zu sein ist höchste Ehre.«1 Bremen und Bremens Bürgertum im 19. Jahrhundert

In der Mitte des 19. Jahrhunderts lenkte ein Ereignis die Augen der gesamten naturwissenschaftlichen Welt Deutschlands auf Bremen: In jenem Jahr fand hier im September die 22. »Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte« statt. An mehreren Tagen traf sich die zeitgenössische (Natur-)Wissenschaftswelt, um sich über Themen aus Naturforschung und Naturgeschichte auszutauschen. Die Organisatoren Johann Smidt und Gustav Woldemar Focke verschickten bereits ein Jahr zuvor an Gelehrte, Kapitäne von Schiffen und weitere Personen die folgende Aufforderung: »Die unterzeichneten Geschäftsführer veranlassen, begünstigt durch Bremens Lage und vielseitige Verbindungen mit den entlegensten Ländern, bei der diesjährigen Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte eine öffentliche Ausstellung und Versteigerung von Naturalien, welche sich zu wissenschaftlichen Untersuchungen und zur Aufstellung in öffentlichen oder Privatsammlungen besonders eignen und zum grössten [sic] Theile durch bremische Schiffe angebracht wurden.«2

Die Planungen dieser Ausstellung hatten einen einfachen Grund: Die Stadt an der Weser war das erste Mal Gastgeberin dieser naturwissenschaftlichen Großveranstaltung und wollte sich ihren Besuchern möglichst positiv präsentieren. Hierzu bemühte man sich zum einen, den Gästen in wissenschaftlicher Hinsicht einiges zu bieten; in diesem Kontext ist die Ausstellung von Naturalien als Herzstück der Versammlung zu verstehen. Zum anderen wollte Bremen darüber hinaus einen positiven Eindruck erwecken ob des Lebensgefühls und der Errungenschaften der Stadt. Dieses Lebensgefühl des bremischen Bürgertums ist Schwerpunkt dieses Beitrags, in dem drei für die bremische Geschichte im 19. Jahrhundert bedeutende Themen angesprochen werden: Bremen und der 1 Bernhardine Schulze-Smidt, Bürgermeister Johann Smidt. Das Lebensbild eines Hanseaten, Bremen 1914. 2 Johann Smidt/Gustav Woldemar Focke (Hg.), Amtlicher Bericht über die zweiundzwanzigste Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Bremen im September 1844. Erste Abtheilung, o.O. [Bremen] 1844, S. 13.

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Handel – Religion und Religions- resp. Kirchenstreitigkeiten – das kulturelle und hier primär das Vereinsleben in der Hansestadt. So entsteht eine Skizze Bremens als der Stadt, in der Johann Gustav Gildemeister einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Lebens verbrachte und die ihn in mancherlei Hinsicht prägte.

Handel und Schifffahrt – Grundlagen bremischer Wirtschaft und hanseatischen Lebensgefühls Die Organisation des Großereignisses der »Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte« war umfangreich und aufwendig. Bereits im Jahr vorher wurden die zitierten Zeilen zur Vorbereitung an Kapitäne, Gelehrte und weitere Personen geschickt mit dem Ziel, eine Sammlung an Mineralien, Pflanzen und Tierpräparaten zusammenzustellen, die dann ausgestellt und schließlich versteigert wurde. Dass es notwendig war eine solche Sammlung erst zusammenzustellen ist aufschlussreich: Denn Bremen war keine Universitätsstadt, naturwissenschaftliche Studien- oder Privatsammlungen waren nach Auffassung der Organisatoren hier nicht in hinreichender Quantität oder Qualität vorhanden. In der Ankündigung der Versammlung wurde nun betont, die Naturalien seien »zum grössten [sic] Theile durch bremische Schiffe angebracht« worden. Damit stellten Smidt und Focke nicht nur eine Stärke Bremens in den Vordergrund: Die florierende Schifffahrt und die guten Handelsbeziehungen. Sie machten auch deutlich, dass sie den Mangel der Stadt an Gelehrten – hier an naturwissenschaftlichem Wissen und Forschern – als weniger bedeutend als ihre größte Stärke einschätzten. Handel und Kaufmannschaft kam hier stets das Primat gegenüber der Wissenschaft und den Gelehrten zu3. Bremen lebte vom Handel, hier arbeiteten die meisten Menschen, hier wurde das wirtschaftliche Vermögen generiert, politische Beziehungen, die politische Unabhängigkeit und auch das kulturelle Leben Bremens beruhten auf dem Handel. Nicht zufällig wurde mit der Navigationsschule im Jahr 1798 eine Hochschule eingerichtet, die den praktischen Bedürfnissen von Seefahrern entgegen kommen sollte. Eine Universität fehlte hingegen: Das Gymnasium Illustre, das einer Universität noch am nächsten kam, schloss seine Pforten zu Beginn des Jahrhunderts. Das Fehlen einer Universität bedeutete zugleich das Fehlen eines gewissen akademischen Geistes in der Hansestadt. Auch war der durch den Handel bestimmte Wertekanon prägend für so manchen Bereich bürgerlichen Alltags. 3 Dementsprechend gibt es kaum Darstellungen bremischer Gelehrter. Vgl. zu diesem Thema jüngst Thomas Elsmann, Im Schatten des Kaufmanns. Bremer Gelehrte 1600 – 1900, Bremen 1812.

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Auch nach der französischen Zeit zwischen 1810 und 1813 war Bremen eine freie Reichsstadt. Und auch in wirtschaftlichen Fragen wurde das Selbstverständnis des Stadtbürgertums geprägt vom Bewusstsein der und der Forderung nach Unabhängigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Autonomie vom Umland4. Dies wird beispielsweise deutlich an der Freihandelspolitik, die sich auch in der langjährigen Weigerung der Stadt zeigt, dem deutschen Zollverein beizutreten – trotz daraus resultierender hoher Zölle. Als 1854 Hannover und Oldenburg dem deutschen Zollverein beitraten, dem Bremen nicht angehörte, sahen sich die hanseatischen Kaufleute beim Export ihrer Produkte mit hohen Zöllen konfrontiert: Die Waren mussten nun doppelt verzollt werden. Dennoch bestand die bremische Kaufmannschaft auf der Unabhängigkeit der Stadt. Erst 1888 trat Bremen dem Zollverein bei. Der Zollanschluss und eine Weserkorrektion führten nun erst zum Aufschwung des Handels. Industriezweige unterschiedlicher Art entstanden daher vor den Toren der Stadt, so die Jutespinnereien in Hastedt und Hemelingen, die Bremer Wollkämmerei in Blumenthal, die Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei in Delmenhorst. Für die Ökonomie Bremens war die Industrie jedoch ohne Bedeutung, da deren wichtigsten Grundlagen fast das ganze Jahrhundert hindurch Schiffbau, Handel und Seefahrt blieben. Die seit jeher auf Import bedachte bremische Wirtschaft trug daher durch die französische Kontinentalsperre und die britischen Gegenmaßnahmen zu napoleonischen Zeiten große Schäden davon. Im Anschluss kam es in der Stadt zu einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, die auf eine wirtschaftliche Blüte zwischen 1803 und 1806 folgte. Erst 1830 erreichte die Anzahl der bremischen Flotte mit 172 Schiffen wieder den Stand von 1806. – Gegen Ende des Jahrhunderts wandelte sich die Wirtschaft, nun kam zum Handel der Faktor der Auswanderung hinzu. Die 1827 gegründete Stadt Bremerhaven wurde systematisch zum Auswandererhafen ausgebaut. Während die bremischen Schiffe zuvor auf ihrem Weg zum amerikanischen Kontinent ohne Fracht gefahren waren und nur zurück Waren transportierten, nahmen sie nun die »Ware Auswanderer« auf dem Hinweg mit sich. 1849 entstand in der Seestadt ein großes Auswandererhaus, 1857 erfolgte in Bremen die Gründung des norddeutschen Lloyd, die eng mit der Auswanderung verbunden war. Die bremische Wirtschaft blieb Handel und Schifffahrt das ganze 19. Jahrhundert über eng verbunden5. Der mit der Weigerung, dem deutschen Zollverein beizutreten, verbundene Wunsch nach Eigenständigkeit ist Ausdruck des Selbstverständnisses des han4 Vgl. Andreas Schulz, Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750 – 1880, München 2002, S. 9. 5 Vgl. aus zeitgenössischer Perspektive Christian Abraham Heineken, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Franzosenzeit, Bremen 1812.

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seatischen Bürgertums, das sich mit dem Insistieren auf freiem Wort und freiem Handel von den deutschen Bundesgenossen abgrenzen wollte6.

Stadt und Stadtbild Die hohe Bedeutung des Handels für bremische Geschichte im Untersuchungszeitraum kommt auch darin zum Ausdruck, dass die meisten Mitglieder des Senats entweder Kaufleute oder Juristen waren. Die juristische Ausbildung, meist in Göttingen oder Jena, ermöglichte neben der medizinischen auch »fremden«, d.i. nicht in Bremen geborenen Personen den sozialen Aufstiegs innerhalb der städtischen Gesellschaft. Die Sozialstruktur der städtischen Gesellschaft spiegelte sich im Stadtplan wider : Die Altstadt war bis weit in das Jahrhundert hinein das Zentrum aller politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Aktivitäten7. Fünf Stadttore umschlossen sie, hier wohnten etwa 50 % der Bevölkerung. Die Bevölkerung Bremens entwickelte sich im 19. Jahrhundert im Vergleich zu anderen Städten jedoch langsam: Wohnten 1744 noch etwa 22.000 Personen in der Altstadt und 6.000 in der Neustadt, so waren es im Jahr 1812 in Bremen insgesamt 35.806; 1866 lebten 72.000 Personen hier und 1900 waren es 161.0008. Dies entspricht einem Anstieg von etwa 300 %, während die Bevölkerung anderer Städte in diesem Zeitraum um bis zu 3.000 % anstieg9. Dieser im Vergleich zu anderen Städten geringe Anstieg ist auf die späte Industrialisierung in der Stadt zurückzuführen: Handel statt Industrie hieß hier die Devise. Erst ab 1890 stieg die Bevölkerung dann sprunghaft an. Die bremischen Kaufleute lebten überwiegend in der Nähe der Martinikirche, wo auch Speicherhäuser und die Ladestelle der Schlachte, des alten Bremer Hafens, lagen; hier griff die Trennung zwischen Lebens- und Arbeitswelt erst gegen Ende des Jahrhunderts10. In der St. Ansgarii-Kirchengemeinde wohnten überwiegend Handwerker. Im Stephaniviertel war die Bevölkerung heterogener, 6 Vgl. Andreas Schulz, Wirtschaftlicher Status und Einkommensverteilung. Die ökonomische Oberschicht, in: Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft (Historische Zeitschrift 16), München 1994, S. 249 – 272, hier S. 268 et al. 7 Vgl. Schulz (wie Anm. 4), S. 21; sowie Der Club zu Bremen (Hg.), Der Club zu Bremen 1783 – 2008. 225 Jahre in vier Jahrhunderten, Bremen 2009. S. 20. 8 Vgl. Hans-Ludwig Schaefer, Die Bevölkerung Bremens in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, Bremen 1957, S. 35. 9 Vgl. Ralf Roth, Bevölkerungsentwicklung, Konfessionsgliederung und Haushaltsanteile, in: Gall (wie Anm. 6), S. 17 – 50, hier insb. S. 21 – 24. 10 Vgl. Andreas Schulz, Kultur und Lebenswelt des Bremer Bürgertums zwischen Aufklärung und Vormärz, in: Klassizismus in Bremen. Formen bürgerlicher Kultur (Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 33), Bremen 1994, S. 52 – 56, hier S. 52.

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Abb. 1: Karte der Stadt Bremen im Jahr 1811 (Staats- und Universitätsbibliothek Bremen)

hier wohnten Angehörige des mittleren Bürgertums, also Handwerker, Höker, Detailhändler und Spediteure sowie städtische Bedienstete, Lehrer, aber auch Hafenarbeiter. Arbeiter wohnten sonst meist in der Neustadt und in den Vorstädten. Das gehobene Bürgertum, Senatoren, weitere Würdenträger wie Gerichtssekretäre, auch Ärzte, Anwälte und Lehrer höherer Schulen, wohnte in der Gegend um den Dom11. Dieser Aufteilung entsprach der bauliche Charakter der Stadtviertel: »Die Häuser an Wall, Markt, Domshof und in der Langenstraße erregten durch regelmäßige Anlage, Wohlstand und Reinlichkeit die Bewunderung der Fremden«12. Die Straßen waren in der Altstadt so schmal, dass oftmals keine zwei Wagen einander passieren konnten. Erst ab der Mitte des Jahrhunderts wurde die Altstadt baulich umgestaltet, anstelle der kleinen bremischen Häuser entstanden nun vermehrt repräsentative klassizistische Bauten. Dieses »Bremer Haus« ist sprichwörtlich geworden: »Der eigene bürgerliche Hausstand galt als Ausweis solider Lebensumstände, der dauerhaften Seßhaftigkeit und damit der Verwurzelung in der Stadt«13. In Bremen gab es die Sitte, im eigenen Haus zu wohnen. Die vier Altstadtquartiere waren nach Kirchen benannt: Liebfrauen, Martini, St. Ansgarii und Steffenstadt. Hinzu kam der St. Petri-Dom, der bis 1802 nicht zu Bremen gehörte. Auch in konfessioneller Hinsicht hatte er eine Sonderstellung: Zur Dom-Gemeinde gehörten alle lutherischen Altstadtbürger, sofern sie sich nicht zuvor einer anderen Gemeinde aus topographischen Gründen zugeordnet hatten. Denn das calvinistische Bekenntnis prägte das Leben in der Hansestadt. Senatoren und die bedeutenden Politiker waren stets reformierten Glaubens, auch wurden zunächst nur Reformierte in den Bürgerconvent gewählt. Ab der Jahrhundertwende verlor die Konfessionszugehörigkeit jedoch an Bedeutung. 11 Schaefer (wie Anm. 8), S. 49. 12 Schaefer (wie Anm. 8), S. 23 – 24. 13 Schulz (wie Anm. 10), S. 54.

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Die Streitigkeiten um die Zugehörigkeit zum reformierten, lutherischen oder katholischen Glauben wurden abgelöst vom Bremer Kirchenstreit, in den auch Johann Gildemeister involviert war.

Religion und Gesellschaft: Die Bremer Kirchenstreite Beim sogenannten Bremer Kirchenstreit – besser : den Bremer Kirchenstreiten – ging es im Kern um die Frage, wie rationalistisch das Christentum auszulegen sei. Erstmals kam das Thema um die Jahrhundertwende auf, doch erst um 1840 fanden jene Streitigkeiten statt, die als Bremer Kirchenstreit auch in der überregionalen Presse Aufsehen erregten. Im Geiste der Aufklärung war in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts eine neue rationalistische Auslegung des Christentums entstanden; Johann Jakob Stolz, Pastor an St. Martini, galt als Begründer dieser neuen Richtung in Bremen. Neben seinen Predigten gab er beispielsweise eine Übersetzung des Neuen Testaments heraus, in der er den Text rationalistischen Überlegungen anpasste. Auch war er Mitherausgeber eines neuen Bremer Gesangbuchs, in dem die Texte alter Lieder »umgedichtet« und neue Lieder hinzugefügt wurden. Ausgerechnet sein Nachfolger Gottfried Menken wurde zu seinem Gegenspieler. Er und die weiteren Vertreter der nun einsetzenden Erweckungsbewegung bemühten sich um die Etablierung eines pietistischen Glaubensideals. Menken verstand sich als Biblizist und ließ einzig und allein den Bibeltext als Grundlage des Christentums gelten14. Im Jahr 1811 ging Stolz in den Ruhestand. Die Streitigkeiten schliefen ein, ohne entschieden zu werden, doch Menken predigte bis 1825 mit großem Erfolg in St. Martini. In den folgenden Jahren standen wirtschaftliche und kulturelle Probleme in der Stadt stärker im Vordergrund als die kirchlichen15. Der Bremer Kirchenstreit lebte ab 1840 wieder auf, als sich Friedrich Adolph Krummacher in seiner Funktion als Pastor in St. Ansgarii an zwei aufeinander folgenden Sonntagen von seinem Sohn, Friedrich Wilhelm Krummacher, vertreten ließ, der auf Besuch in Bremen war. Letzterer vertrat einen strikt pietistischen Standpunkt, der umso deutlicher zum Vorschein kam, als unmittelbar vor ihm

14 Zu den Biographien von Stolz und Menken siehe Eberhard Hagemann, Die St. MartiniPastoren im Spiegel der Bremischen Kirchengeschichte – ein protestantisches Drama – 1525 – 2011, Bremen 2011, S. 121 – 142. 15 Vgl. Otto Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen. Vorgeschichte, Geschichte und theologischer Gehalt der Bremer Kirchenstreitigkeiten von 1830 bis 1852, Bonn 1966, hier S. 81. Zu den Bremer Kirchenstreitigkeiten siehe auch Karl-Heinz Schwebel, Die Bremische Evangelische Kirche 1800 – 1918, in: Andreas Röpcke (Hg.), Bremische Kirchengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Bremen 1994, S. 15 – 176.

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Carl Friedrich Wilhelm Paniel in entgegengesetzter Weise gepredigt hatte. Paniel predigte: »Wir sollen, wir dürfen die geistigen Gaben und Güter, welche uns durch die Gnade des Himmels zuteil geworden sind, niemals den Angriffen Verblendeter oder Böswilliger ohne Widerstand preisgeben. […] Rein und gottergeben sei Euer Wandel, auf daß die Leute eure guten Werke sehen.«16

Krummacher antwortete ihm, nur in einem seien die guten Werke zu sehen, in Christus. Gegen den Vernunftglauben habe man sich zu wehren17. Die Differenzen wurden im Folgenden mit Streitschriften, Abdrucken von Predigten sowie einer regelrechten Broschürenflut ausgetragen18. Eine Predigt Krummachers wenige Wochen später wurde zum Tagesgespräch: »Diese Lehre, ›Rationalismus‹ genannt, oder ›vernünftiges Christentum‹; oder ›Naturalismus‹ oder ›speculative Theologie‹, oder was sie für Namen trage; bald erscheinend in kunstreicher biblisch gleißender Verhüllung, bald in schamloser Blöße; bald halb scheu, halb frech; halb verdeckt und doch immer erkenntlich genug; diese Lehre, sage ich, fällt also unverkennbar unter das Anathema unsers Apostels. Verflucht ist sie, und verflucht sind die, die zu ihr schwören, so lange sie es tun. Verflucht sind die Predigten, die mit dieser Lehre das Volk vergiften! Verflucht die Schriften, in denen diese Lehre verkündet wird! Verflucht die Capellen, die über dem Fundamente dieser Lehre gegründet stehen! Verflucht die Lehrvorträge, Catechismen, Liederbücher, die sich zu dieser Lehre bekennen!«19

Der Streit schlief wiederum ergebnislos ein, nur um wenige Jahre später, 1844, von neuem auszubrechen, wobei diesmal auch die St. Stephani- und die St. Remberti-Kirche mit den Pastoren Friedrich Mallet und Wilhelm Nagel involviert waren. Hier vertrat Mallet die Position der Erweckungsbewegung. Sein Kontrahent Nagel vertrat eine rationalistische Position unter dem Einfluss der »Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte«; für ihn endete die Episode mit seinem Ausschluss aus der Kirche20. Bei den Streitigkeiten ging es nur zum Teil um spezifisch theologische Fragen, sie hatten auch eine gesellschaftspolitische Dimension. So predigte Krummacher : »In dieser Welt sind sie (die oberen Stände) das Faktotum, sie sitzen in der Höhe und pfeifen uns an, und wir tragen den Hut in den Händen. […] Seid die Erben und sitzt oben an! Denn wer gönnt es dem Ochsen nicht, der morgen zur Schlachtbank geht, daß

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Schaefer (wie Anm. 8), S. 127 – 128. Vgl. Wenig (wie Anm. 15), S. 271 et al. Vgl. Wenig (wie Anm. 15): S. 299. Wenig (wie Anm. 15), S. 275 – 276. Vgl. Wenig (wie Anm. 15), S. 138 – 139.

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er heute noch einmal die Tröge voll habe, und mit roten und bunten Bändern geschmückt, von Buben umjauchzt, seinen Triumphzug durch die Gassen halte.«21

Der einzige Unterschied zwischen Menschen bestünde, so hingegen Paniel, im Glauben an Christus. Eine Gefahr der Streitigkeiten wurde damit im »Aufwiegeln der unteren Stände« gesehen22. Schulz hat daher darauf hingewiesen, die Bezeichnung Bremer Kirchenstreite treffe nur oberflächlich zu, da die entsprechenden Streitigkeiten »tief in die Bevölkerung hinein[wirkten], sie stehen in direktem Zusammenhang mit der zweiten Phase des Verfassungskonflikts zwischen Senat und Bürgerschaft 1831 – 1837.«23 Johann Gildemeister, der sich mit zwei Schriften beteiligte, argumentierte jedoch ausschließlich auf einer theologisch-inhaltlichen Ebene. Er konzentrierte sich auf eine philologische Erörterung des Anathemas. Paniel versuchte er, Übersetzungsfehler in den griechischen Quellen und unsauberes wissenschaftliches Arbeiten durch Übernahme von fremden Gedankengängen – einschließlich deren Fehler – ohne Angabe von Quellen nachzuweisen. Seine eigene Position im Kirchenstreit beurteilte er folgendermaßen: »Somit ist es vollkommen richtig, daß ich es mit keinem der beiden Theile ›halte‹ und so frei bin, gar keiner ›Partei‹ anzugehören, sondern daß ich vielmehr einzig und allein für die Wahrheit in der Sache gezeugt habe.«24

Der Bremer Senat entschied die Angelegenheiten mit einem Spruch vom 30. Juli 1845, es sei jedem Geistlichen in Bremen gestattet, seine Überzeugung darzulegen, ein Glaubensgericht bestehe hier nicht25. Die zugrundeliegenden Strukturen der Bremer Kirche hatten den Kirchenstreit erst ermöglicht: Die eigenständigen Gemeinden standen zwar unter der Oberaufsicht des Senats, dieser hielt sich jedoch in theologischen Fragen zurück. Die Pastoren ihrerseits beriefen sich auf ihre Glaubens-, Gewissens und Lehrfreiheit26. Die hier deutlich werdende Politik einer »mittleren Linie« war ein oftmals vom Senat an den Tag gelegtes Verhalten.

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Schaefer (wie Anm. 8), S. 128. Vgl. Schaefer (wie Anm. 8), S. 165. Schulz (wie Anm. 4), S. 286. Johann Gildemeister, Beiträge zu dem Bremischen Magazin der Herren Paniel, Weber und Paulus. Nebst einem kritischen Excurs über Paniels Geschichte der christlichen Beredsamkeit, Bremen 1842, S. 62. Vgl. auch Wenig (wie Anm. 15), S. 265 – 266, sowie 329 – 333. 25 Vgl. Schaefer (wie Anm. 8), S. 129. 26 Hagemann (wie Anm. 14), S. 122.

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Abb. 2: Johann G. Gildemeister, Beiträge zu dem Bremischen Magazin der Herren Paniel, Weber und Paulus. Bremen 1842

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Bürgerlicher Alltag: Vereinsleben im 19. Jahrhundert Religion und Konfession waren auch für einen weiteren Bereich bürgerlichen Alltagslebens im Untersuchungszeitraum nicht irrelevant: Das Vereinsleben. Die zahlreichen Clubs und Vereine prägten den bürgerlichen Alltag in dieser Zeit. Hatte das gesellige Leben im 18. Jahrhundert noch vorwiegend in Familien und somit im – zumindest teils – privaten Raum stattgefunden, prägten seit der Jahrhundertwende Vereine das gesellige Leben außerhalb der berufsständischen und kirchlichen Versammlungsorte27. In Bremen gab es ihrer diverse. 1829/31 schrieb der Schauspieler und Schriftsteller August Lewald über die Hansestadt: »In keiner deutschen Stadt ist wohl die Sucht, Clubs zu organisieren, weiter verbreitet als hier. Jeder Stand, jede Classe hat den ihrigen: von den ersten Kaufmannsfamilien und Ratsherren bis hin zu den Handwerkern; ja selbst die Dienstboten glauben, ohne Club nicht leben zu können.«28

Die Vereine trafen sich in Schenken, Caf¦s oder bei Privatleuten. Sie waren das »zentrale gesellschaftliche Ordnungsmodell des Bürgertums, das Prinzip der freien Assoziation, der selbstbestimmten Organisation von Interessen und Reformaufgaben sollte vom Verein auf die Gemeinde und von der Bürgergemeinde auf Staat und Gesellschaft übertragen werden.«29 In ihnen setzte »das Bürgertum öffentlich und für alle sichtbar seine Forderung nach Gleichberechtigung« um30. Die bedeutendsten Vereine des bremischen Bürgertums in der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren die »Union«, die »Erholung« und die »Gesellschaft Museum«31. Letztere, in der auch Johann Gildemeister zu Vorträgen angehalten wurde, wird im Folgenden vorgestellt. 1783 offiziell gegründet, handelte es sich bei der Gesellschaft Museum im 19. Jahrhundert um einen alteingesessenen Verein. Der in Bremen gegebene 27 28 29 30 31

Vgl. Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 23. Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 133. Schulz (wie Anm. 4), S. 10. Vgl. Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 24. Diese drei Vereine spielten im geselligen Leben Bremens eine unterschiedliche Rolle. Die »Union« hatte sich in Opposition zum »Museum« entwickelt, denn ihr Vorsitzender Hermann Hinrich Bolte (1783 – 1850) durfte als Getreidegroßhändler und Präses im Collegium Seniorum der Kaufmannschaft die Gesellschaft »Museum« nicht besuchen. Es handelt sich bei der »Union« somit zunächst um eine berufsständische Vereinigung von Kaufleuten, der Schwerpunkt ihrer ab 1802 aufgebauten Bibliothek lag nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf schöngeistiger Literatur. Seit 1807 wurden hier Vorlesungen abgehalten, ab 1810 gab es Konzerte. 1869 verband sich die »Union«, die 1835 bereits 800 Mitglieder zählte, mit dem Kaufmännischen Verein von 1869. 1803 wurde die Gesellschaft »Erholung« gegründet. Hier trafen sich Gleichgesinnte der führenden Kreise, um dem Gemeinwohl dienende Anliegen zu besprechen, in einem angenehmen bürgerlichen Ambiente. Die »Erholung« existierte bis 1866. Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 135 – 136.

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Hang zur Privatisierung von Bildung wird an ihm besonders deutlich: Selbst erklärtes Ziel der Gesellschaft Museum war die Bildung der Mitglieder in naturwissenschaftlichen Themen, die in der Hansestadt nicht in einer Universität erfolgte. Die Ansätze aus der Franzosenzeit zur Einrichtung einer Universität und damit die entsprechenden Modernisierungstendenzen hatte man hier nicht fortgeführt. Die Vereinstätigkeit hatte begonnen mit einem Treffen einiger weniger literaturinteressierter Bürger, die sich gemeinschaftlich Bücher anschafften, sie untereinander austauschten, weitere Bücher anschafften und sich schließlich gemeinsam trafen, um sie zu lesen und über sie zu debattieren, somit als Lesekabinett. Seit der Jahrhundertwende traf man sich in einem eigenen Vereinshaus. Hier waren Räume vorhanden, in denen die Vereinsmitglieder für sich die neuesten Zeitungen und Zeitschriften aus Deutschland sowie international lesen konnten, eine umfangreiche Bibliothek existierte – 1811 waren bereits 12.000 Bände vorhanden – auch ein Naturalienkabinett gab es. In einem eigenen Raum fanden Vorträge statt: Man bemühte sich, möglichst viele bedeutende zeitgenössische Gelehrte als Referenten zu gewinnen, auch die Vereinsmitglieder selbst referierten. Allein die Vorträge des Arztes und Astronomen Wilhelm Olbers zeigen das Spektrum von Themen, die in diesem Kreis verhandelt wurden: Diese umfassen mathematische, astronomische, physikalische, medizinische und meteorologische Themen. Dabei wurden auch neue Erfindungen wie Luftpumpe und Elektrisiermaschine vorgeführt32. Das Museum avancierte bald zu einer Sehenswürdigkeit für Reisende. Der Theologe Johann Gottfried Hoche beschrieb es 1798: »Das Museum zählte, als ich die Ehre hatte eingeführt zu werden, 220 Mitglieder. Alle Gelehrte, Geschäftsmänner und denkende Kaufleute nehmen Theil an dieser Gesellschaft. Hier ist der nervus rerum gerendarum [die treibende Kraft aller Handlungen]. […] Man hat dem lutherischen Waisenhause ein großes Gebäude abgemiethet. Hierin ist ein großer Saal zur Konversation bestimmt, wo sich die Mitglieder alle Tage versammeln, Thee trinken, und bei einer Pfeife Tabak lesen. Es ist ein frappanter Anblick, wenn man eingeführt wird, und an der langen Tafel und an den Seitentischen die Lesenden siehet. Keiner lässt sich stören, und keiner bekümmert sich um den andern, der eine kommt, der andere gehet. Kurz, man ist völlig zwangfrei. In einem Fächerrepositorium sind alle inländischen und die interessantesten ausländischen Journale, in einem andern aber sind die Zeitungen. Unterdem liegen auf den Tischen Auszüge aus den interessantesten Briefen der Kaufleute und Gelehrten. Jeder theilt das mit, wovon er glaubt, dass es andern nützlich oder angenehm sei. Neben diesem Saale ist das Naturalienkabinett, welches vielleicht bald zu den wichtigsten in Deutschland gehören kann, wenn der Eifer, es zu vervollkommnen, so anhaltend bleibt. Die Konchiliologien 32 Vgl. Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 70; sowie Olbers-Nachlass in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen.

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[d.i. die Muschel- und Schneckensammlung] sind schon ziemlich vollständig, und aus dem Mineralreiche findet man die seltensten Stücke. Wo die Kasse nicht hinreicht, da beeifern sich die reichen Kaufleute durch Geschenke solcher Seltenheiten, die sie durch ihre Handelsbeziehungen erhalten, sich der Gesellschaft nützlich zu machen. So liefert Asien, Amerika und Afrika Produkte für das Museum.«33

Eine Besonderheit der Gesellschaft Museum war die konfessionelle Offenheit: Dass der erwähnte Wilhelm Olbers, einer der berühmtesten Bremer seiner Zeit, einem bremischen Verein angehörte, war nicht selbstverständlich, denn er war Lutheraner : Die Gesellschaft Museum war einer der wenigen Vereine, die Lutheraner zuließen – diese Einschränkung war bei anderen Vereinen freilich nicht offiziell34. Trotz der Offenheit bei der Konfessionszugehörigkeit handelte es sich bei der Gesellschaft Museum um einen elitären Verein, der sich auf das Handelsbürgertum und den Gelehrtenstand beschränkte und sich dem mittleren Bürgertum nur begrenzt öffnete. Die Gründungsmitglieder stammten zur Hälfte aus bedeutenden bürgerlichen Gelehrten- oder Kaufmannsfamilien, auch später waren die Mitglieder etwa zur Hälfte Kaufleute. Wie in den anderen beiden großen Gesellschaften wurden recht hohe Eintrittsgelder und Mitgliedsbeiträge erhoben und die Ballotage, d. h. die geheime Wahl mit Zweidrittelmehrheit gepflegt; wirtschaftliche und soziale Eignungskriterien spielten damit eine Rolle bei der Aufnahme. Ausländische, d. h. nicht bremische Bürger mussten in das Vereinsleben eingeführt werden, meist durch Empfehlung eines Verwandten oder Geschäftspartners35. Erst nach der Revolution von 1848 kam es allgemein zur Öffnung der bremischen Vereinslandschaft für breitere Bevölkerungskreise. Die Prinzipien der Gleichheit und der demokratischen Organisation wurden damit wie zeitgenössisch üblich lediglich innerhalb des Vereins angewandt. Die meisten Mitglieder der Gesellschaft Museum waren auch Mitglieder anderer Vereinigungen, die mehr dem Spiel und Spaß zugewandt waren oder sich mit anderen Themen des Alltags befassten; im »Museum« wurde das Konzertverbot hingegen erst nach 1848 gelockert. Zahlreiche private Lesegesellschaften gab es in der Stadt – gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren es so viele, dass auch in der zeitgenössischen Literatur darauf hingewiesen wurde36. So schrieb die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung 1791: »Zur Charakteristik von Bremen 33 Johann Gottfried Hoche, Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland, Ostfriesland und Groningen, Bremen 1800, S. 520 – 522 34 Vgl. Elisabeth Klatte (Hg.), »Du bist in jedem Brief mir neu!« Braut- und Ehebriefe aus der bremischen Familie Gildemeister 1815 – 1839, Bremen 2003, S. 20 et al. 35 Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 136. 36 Vgl. zur Entwicklung der Lesefähigkeit in Bremen Britta Siegert, Bildung und Lesefähigkeit. Voraussetzung der Zeitungslektüre, in: Astrid Blome/Holger Böning (Hg.), Täglich neu! 400 Jahre Zeitungen in Bremen und Nordwestdeutschland, Bremen 2005, S. 144 – 147.

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gehört wohl, dass sich hier 36 verschiedene große und kleine Lesegesellschaften in allen Fächern und mancherley Sprachen gefunden haben.«37 Es entstanden Musikgesellschaften, die auch öffentliche Konzerte organisierten, ein Kunstverein entstand (die Gründung erfolgte hier 1823) und auch ein Schauspielhaus wurde gegründet. Das Interesse an Wissenschaft und Kunst verband die verschiedenen Sozialgruppen des bremischen Bürgertums und begründete eine gemeinsame Lebenswelt38. Durch die vielfältigen personellen Verknüpfungen befruchteten sich die Vereine gegenseitig. So schenkte im Jahr 1856 Johann Heinrich Albers seine 15.000 Blätter umfassende graphische Sammlung dem Kunstverein; er war zugleich Mitglied der Gesellschaft Museum und Gründungsmitglied des Kunstvereins. Dieser hatte sich in Anlehnung an die Gesellschaft Museum aus dem Bemühen einiger Mitglieder entwickelt, die Kunst besser im »Museum« zu verankern, doch Kunst und der Ankauf von Kunstwerken wurde nicht als Zweck jener Gesellschaft begriffen. Albers wiederum war zu Reichtum und damit auch zu seiner graphischen Sammlung durch den Indigohandel gekommen. Dieses ist nur ein Beispiel dafür, wie der Handel durch das auf ihm basierende Mäzenatentum auch das kulturelle Leben in der Hansestadt prägte39. Diese Vereine waren zum einen Orte der Zerstreuung, Erholung, der Unterhaltung, aber auch wie das Museum der ernsthaften Debatten und Vorträge. Zum anderen fungierten sie als Kontaktbörse und nicht selten als Heiratsmarkt, da zumindest bei Festivitäten auch Frauen teilnahmen; für diese existierten sonst eigene Vereine. Die Vereine waren damit »Knotenpunkt im kommunikativen Netzwerk der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft«40. Am Beispiel der Gesellschaft Museum wird deutlich, dass es zahlreiche Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen des bremischen Stadtbürgertums gab: Das gehobene Bürgertum traf sich in eigenen, nur bedingt der Allgemeinheit zugänglichen Lokalen, die mittleren Stände besuchten die Clubhäuser und Kegelbahnen, auch Frauen blieben in ihren Teegesellschaften und Vereinen unter sich. Damit waren hier diejenigen Selektionsmechanismen wirksam, die das bürgerliche Zeitalter insgesamt bestimmen sollten. Insbesondere durch die selektiven Aufnahmepraxen »prägten sich in der kulturellen Alltagspraxis des Bürgertums normative Standards aus, die sich an den sozialen Leitbildern dieser bürgerlichen Elite orientierten«41. Im informellen Rahmen der Vereine debattierten die Mitglieder neben den eigentlichen Inhalten über gesellschaftlich und politisch bedeutsame Themen. 37 38 39 40 41

Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 30. Vgl. Schulz (wie Anm. 10), S. 55. Vgl. Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 159 – 160. Vgl. Schulz (wie Anm. 10), S. 53. Schulz (wie Anm. 10), S. 53.

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So wurden private Mitteilungen in den relevanten Kreisen öffentlich verhandelt und erhielten dadurch verbindlichen Charakter42. Doch war Bremen im 19. Jahrhundert eine verhältnismäßig kleine Stadt, man begegnet in den einzelnen Vereinen somit immer wieder den gleichen Familien, die zugleich Angehörige der politischen Eliten waren43. Bürgerliche Vereinsstrukturen und politische Entscheidungen gingen damit oft Hand in Hand. Diese Prägung der politischen Geschehnisse und Mentalitäten durch Angehörige führender bürgerlicher Familien bezeichnet Schaefer als »familienhafte[n] Zug im bremischen Gemeinwesen«44 : Das Prinzip der verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen prägte die politischen Geschehnisse der Stadt. Durch Bremens geringe Größe reduziert sich dies zudem auf einige wenige Familien, die jedoch eine anschauliche Größe erreichen konnten; dies veranschaulichen auch die sogenannten Familientage beispielsweise der Familie Gildemeister oder der Familie Krummacher45. Insbesondere Nicola Wurthmann hat die herausragende Bedeutung familiärer und freundschaftlicher Beziehungen für die Konstituierung und langfristige Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen für Bremen aufgezeigt. Sie bezeichnet diese Besonderheit als »Herrschaft durch Familie«: Die Zugehörigkeit zur »richtigen« Familie war neben Leistung und Protektion Voraussetzung für politische Herrschaft in Bremen. Demnach besitzen Freundschaften unter Herrschenden politische Qualität46. Auch rekrutierte sich der Bremer Senat im Großen und Ganzen aus sich selbst (s. u.). Berechtigt, über den Senat und den Bürgerconvent am politischen Leben der Stadt teilzunehmen, waren nur wenige Personen. Das bremische Bürgerrecht teilte die Einwohner der Stadt ein in solche der Vor- und Neustadt sowie Altstadtbürger ohne bzw. mit Handlungsfreiheit. Dieses vierfach gestufte Bürgerrecht wurde zeitnah nach 1813 wieder etabliert und blieb – mit Abstufungen 1820 bzw. 1864 – bis nach dem Ersten Weltkrieg bestehen. Auch dies ist eine Besonderheit Bremens, denn in anderen Städten wurden die Modernisierungstendenzen der Franzosenzeit eher aufgenommen. Nur die Personen, die das große Altstadtbürgerrecht erworben hatten, hatten die Möglichkeit der politischen Betätigung und der freien Berufswahl, d. h. sie konnten den Beruf des 42 Zum Zusammenhang von Freundschaft und Herrschaft in Bremen siehe Nicola Wurthmann, Senatoren, Freunde und Familie. Herrschaftsstrukturen und Selbstverständnis der Bremer Elite zwischen Tradition und Moderne (1813 – 1848), Bremen 2009, S. 465 et al. 43 Vgl. hierzu die Listen der Vereinsmitglieder und -vorsitzenden in Der Club zu Bremen (wie Anm. 7), S. 401 – 410. Der Name Gildemeister gehört hierzu, auch die Namen Albers, Castendyk, Deneken, Droste, Duntze, Gondela, Heineken, Focke, Meier, Olbers, Oelrichs, Smidt etc. 44 Schaefer (wie Anm. 8), S. 79. 45 Vgl. zu Familientagen in Bremen Wurthmann (wie Anm. 42), S. 420 – 421. 46 Vgl. Wurthmann (wie Anm. 42), S. 466 – 467 et al.

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Kaufmanns, Arztes, Brauers oder Rechtsanwalts ausüben. Um 1800 betrug die Zahl der Betroffenen 400 Personen und war damit sehr überschaubar. Von den zum Bürgerconvent eingeladenen Personen erschienen zu Beginn des Jahrhunderts jeweils nur etwa 60 – 70 zu den Sitzungen47. Voraussetzung für den Erwerb des großen Altstadtbürgerrechts waren persönliche Unbescholtenheit, berufliche Unabhängigkeit und ein entsprechendes, meist familiäres, Vermögen, das in Bremen oft aus dem Handel stammte. Bis in die 1830er Jahre betrug die Gebühr zum Erwerb des großen Altstadtbürgerrechts die hohe Summe von 500 Reichsthalern. Dies verhinderte, dass sich die Anzahl der Vollbürger allzu schnell erhöhte. In der sozialständischen Hierarchie waren damit begüterte Kaufleute und die führenden Akademikerberufe (Advokaten, Notare, Ärzte und Professoren) begünstigt48. Die Männer, die dieses vorweisen konnten, gehörten zur wirtschaftlichen, intellektuellen und politischen bürgerlichen Elite49. Damit gab es in der Stadt eine personelle Übereinstimmung von gesamtbürgerlicher und politischer Elite. Anders herum bedeutete dies: Bei entsprechender Zielsetzung gelangte ein erfolgreicher Bremer Kaufmann innerhalb kurzer Zeit in ein politisches Führungsamt oder überließ es einem seiner Söhne, ein solches Amt zu bekleiden50. Kaufmann und Jurist waren demnach die häufigsten Berufe bremischer Senatoren im 19. Jahrhundert; diese waren übrigens bis zur Mitte des Jahrhunderts ausnahmslos gebürtige Bremer und zumeist reformiert51. Dafür, dass dies so blieb, sorgten die Strukturen des Senats selbst: Nach dem Kooptationsprinzip wurden die 24 zunächst auf Lebenszeit gewählten Mitglieder des Senats in diesen ergänzt. Die Bremer wurden damit von einer sich selbst rekrutierenden städtischen Elite regiert. Erst die Einverleibung der Stadt in das französische Reich sollte hieran zumindest formal etwas ändern, doch kehrte man anschließend bald zur alten Ordnung zurück52. – Diese Einheit von Bürgertum und Elite in Bremen ist Schulz zufolge eine wichtige Ursache für die Stabilität der inneren Ordnung in der Stadt. Die bürgerlichen Eliten Bremens waren nicht zu äußeren Kompromissen gezwungen, wodurch die Legitimität ihrer Herrschaft an den gesellschaftlichen Konsens der ganzen Bürgergemeinde gebunden blieb53.

47 48 49 50 51 52 53

Vgl. Wurthmann (wie Anm. 42), S. 17 et al. Vgl. Schulz (wie Anm. 4), S. 31. Schulz (wie Anm. 4), S. 9. Vgl. Wurthmann (wie Anm. 42), S. 18. Vgl. Schulz (wie Anm. 4), S. 31. Vgl. Wurthmann (wie Anm. 42), S. 57 et al. Vgl. Wurthmann (wie Anm. 42), S. 25.

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Seinem Anspruch zufolge sollte die freistädtische Verfassungstheorie mit dem städtischen Bürgerecht eine Rechtsgleichheit bereitstellen und forderte diese Gleichheit auch von den Bürgern ein. Diese Einheit wurde immer wieder auch nach außen dargestellt. Bremer Bürgern war es beispielsweise untersagt, »durch fremde Anträge, als durch fremde Titel, oder durch den Adel irgend eine Befreyungen oder Vorzüge vor Andern […] reell oder personell«54 anzunehmen. Bremer Bürger zu sein sollte höchste Ehre sein. Die innere Gleichheit, die Selbständigkeit des Stadtstaats und das Bewusstsein, die Geschicke der freien Bürgerrepublik weitgehend selbst lenken zu können, waren Bande, die die sozial und ökonomisch differenzierten Bewohner der Stadt zusammen hielten. Doch entgegen seinem Anspruch konstituierte das vierfach abgestufte städtische Bürgerrecht faktisch »eine privilegierte Gesellschaft männlicher Aktivbürger, die nach zeitgenössischer Vorstellung den Kern der bürgerlichen Gesellschaft bildeten«55. Bremer Bürger waren damit untereinander alles andere als gleich. Die bürgerliche Gesellschaft prägte im Laufe des Jahrhunderts auch räumlich das Bild der Stadt entsprechend dem wachsenden Bedürfnis nach Luft und Erholung. Ab der Mitte des Jahrhunderts wurde die bauliche Umgestaltung forciert, wozu auch die Anlage von Parks gehörte: Bereits zu Beginn des Jahrhunderts war die Umgestaltung der Wallanlagen zu einer öffentlichen Parkanlage erfolgt. Im Jahr 1866 wurde der Bürgerpark nördlich des Bahnhofs angelegt. Auch der zunehmende Ankauf von Häusern außerhalb der ehemaligen Stadtmauern für die Sommerfrische zeugt von diesen Bemühungen. Doch erst im Verlaufe des Jahrhunderts lösten die Bremer ihre traditionellen Stadtstrukturen auf und gingen langsam über die engen Grenzen der Altstadt hinaus. Bei der Umwandlung der ehemaligen Befestigungsanlagen in eine Parkanlage 1803/1806 war bürgerliches Engagement entscheidend. Das Projekt wurde von Bürgern initiiert, die freilich Handwerker und Arbeiter verpflichteten. Grund dieser Umwandlung war neben dem schwindenden militärischen Nutzen der Befestigungsanlagen der Wunsch, dass die Abtragung der Wallanlagen als Element der Neutralitätspolitik begriffen wurde, »um als freie Kaufmannstadt zwischen Preußen, Frankreich und England zu überleben«56. Um die Mitte des Jahrhunderts schließlich gehörte ein Spaziergang in den Wallanlagen einem populären Reiseführer zufolge zu dem Schönsten, was ein Besucher in Bremen erleben könne: Nicht nur die Parkanlage, auch die prächtigen klassizistischen Bürgerhäuser jenseits des Stadtgrabens seien zu bewundern57. Damit waren spezifisch bürgerliche Errungenschaften und (kulturelle) Anlagen das Schönste, 54 Schulz (wie Anm. 10), S. 52. 55 Schulz (wie Anm. 4), S. 9. 56 Uta Müller-Glaßl, Klaus Rautmann, Die Bremer Wallanlagen. Von der Dauerhaftigkeit eines Konzepts, in: Klassizismus in Bremen (wie Anm. 10), S. 73 – 84, hier S. 73. 57 Vgl. Schulz (wie Anm. 10), S. 52.

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was die Stadt zu bieten habe; gewissermaßen Ausdruck einer städtischen Elite, die sich nicht nur aus sich selbst rekrutierte, sondern auch die Stadt für sich selbst gestaltete und in ihrem Selbstverständnis auch nach außen für das gesamte Bremen stand.

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Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister (1812 – 1890) entstammt einer führenden Bremer Bürgerfamilie. Nach der Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren die Gildemeisters im Tuchhandel schnell aufgestiegen. Bereits Johann Gustavs Urgroßvater hatte Mitte des 18. Jahrhunderts mit seiner Wahl in den Senat die Spitze der städtischen Gesellschaft erklommen, eine Position, die die Familie dann über weit mehr als ein Jahrhundert zu behaupten vermochte1. Johann Gustav Gildemeisters Herkunft steht damit geradezu paradigmatisch für den Ausgangspunkt, von dem aus sich seit dem späten 18. Jahrhundert der Aufstieg des modernen Bürgertums und der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft vollzogen haben. Denn gerade die Hansestädte repräsentierten mustergültig das seit dem Mittelalter ausgebildete Modell der sich selbst verwaltenden Bürgerstadt, mit mehr oder minder weit definierten Autonomierechten und dem rechtlich abgegrenzten Personenverband der Bürger als ihrem Träger2. Auch am Ende des 18. Jahrhunderts sah sich insbesondere das Bürgertum der großen Reichsstädte hier in einer ungebrochenen Traditionslinie, die es nach Ansicht einer breiten Mehrheit der Bürger unbedingt fortzuführen galt. Ungeachtet dieses Willens zur Kontinuität hatte auch in den traditionsori1 Vgl. Alfred M.G. Gildemeister, Die Familie Gildemeister. Auszug aus der Familiengeschichte, 1675 – 1875, in: 75 Jahre Familienforschung in Bremen. Festschrift zum 75jährigen Jubiläum der »Maus«, Gesellschaft für Familienforschung e.V., Clausthal-Zellerfeld 1999, S. 149 – 179, u. Elisabeth Klatte (Hg.), »Du bist in jedem Brief mir neu«. Braut- und Ehebriefe aus der bremischen Familie Gildemeister 1815 – 1839, Bremen 2003. 2 Vgl. zu Bremen v. a. Andreas Schulz, Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750 – 1880. München 2001. Zu Hamburg nach wie vor klassisch Percy Ernst Schramm, Hamburg, Deutschland und die Welt. Leistung und Grenzen hanseatischen Bürgertums in der Zeit zwischen Napoleon I. und Bismarck. Ein Kapitel deutscher Geschichte, 2. bearb. Aufl., Hamburg 1952. Übergreifend Andreas Schulz, Weltbürger und Geldaristokraten. Hanseatisches Bürgertum im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 259 (1994), S. 637 – 670.

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entierten Bürgerstädten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein fundamentaler Wandel eingesetzt. Die leitenden Ideen des Wandels waren vor dem Hintergrund einer langanhaltenden wirtschaftlichen Erholungsphase und eines allmählich sich beschleunigenden Bevölkerungswachstums und in kritischer Auseinandersetzung mit der Politik des absolutistischen Staates in langen aufklärerischen Diskursen entworfen worden3 : Ausgehend von dem Leitbild des vernunftgeleiteten Individuums sollte ein nach den Prinzipien der Vernunft, der Bildung und der individuellen Leistung sich regelnder und von staatlichen Eingriffen weitgehend freier gesellschaftlicher Raum geschaffen werden. Dabei ruhten die Hoffnungen der Reformkräfte auf jenem Stand der traditionalen Ordnung, der von seiner gesellschaftlichen Position und wirtschaftlichen Potenz zur Konkurrenz mit dem Adel als bislang herrschendem Stand am ehesten befähigt zu sein schien: auf dem Bürgertum. Auch in der Rationalität der Wirtschaftsgesinnung und Lebensführung und in seiner antiabsolutistischen, auf Partizipation gegründeten politischen Kultur entsprach er am meisten den Forderungen der Aufklärung oder schien doch zumindest in dieser Richtung entwicklungsfähig zu sein. In diesem Sinne sollte sich aus dem bisherigen Bürgerstand der neue allgemeine Stand der bürgerlichen Gesellschaft bilden, einer stände- und klassenlos gedachten, eben allein aufgrund persönlicher Leistung differenzierten Gesellschaft4. Damit aber vollzog sich eine entscheidende, für die ganze weitere Entwicklung charakteristische Veränderung im Wortverständnis von »Bürger«. Indem der Bürger zum eigentlich entwicklungsfähigen Typus der ständischen Gesellschaft erklärt wurde, traten nämlich die normative und die sozial-deskriptive Seite des Begriffs immer stärker auseinander5. Er beschrieb zum einen stets noch die jeweilige soziale Realität, doch zum anderen wurden mit ihm nun politische und soziale Erwartungen und Ansprüche formuliert, wurden umfassende Zielprojektionen für die künftige Entwicklung von Staat und Gesellschaft entworfen – sei es im absolutistisch-bürokratischen Sinne als »staatsbürgerliche« Gleichheit aller Untertanen, sei es im liberalen Sinne als allmähliche Ausdehnung des Bürgerstatus auf die Gesamtgesellschaft, also mit dem Ziel einer »klassenlosen Bürgergesellschaft«, sei es auch im radikaldemokratischen Sinne als Gleichheit aller Menschen, wie sie in den Deklarationen der Französischen Revolution

3 Vgl. Lothar Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, München 1993, bes. S. 12 – 15. 4 Lothar Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324 – 356. 5 Vgl. hierzu v. a. Lothar Gall, »… ich wünschte ein Bürger zu sein«. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 601 – 623.

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gefordert wurde und im »Weltbürger«-Begriff anklingt6. Darin manifestierten sich der dezidierte Anspruch des Bürgertums auf gesamtgesellschaftliche Gestaltungsmacht und die wachsende Resonanz, auf die dieser Anspruch stieß. Zugleich aber wurde der werbend-veredelnde Zusatz »Bürger« oder »bürgerlich« nun für höchst unterschiedliche, miteinander konkurrierende Zukunftsentwürfe in Dienst genommen. Seither können in gewisser Weise zwei Geschichten von Bürgertum geschrieben werden, die des realen und die des prospektiven. Und diese Differenz hat auch die seit den 1980er Jahren intensiv vorangetriebene sozial- und kulturhistorische Erforschung des Bürgertums entscheidend geprägt. Die eine Richtung, vor allem aus Bielefeld initiiert und mit den Namen von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka verbunden, nahm als Ausgangspunkt die Zielprojektionen, denen die Herausbildung des modernen Bürgertums folgte7. Als »Bürger« im neuen Sinne wurden daher jene identifiziert und herausgestellt, die das Ensemble bürgerlicher Werte entwarfen und propagierten und die dem Katalog der »Bürgerlichkeit« als erste in ihrer Lebensgestaltung entsprachen. Damit rückten die weder zum Adels- noch zum Bürgerstand gehörenden neuen Berufsgruppen der Gebildeten in den Fokus, die die aufklärerischen Reformdiskurse trugen: Pfarrer, Schriftsteller, Professoren, Lehrer und andere, meist juristisch vorgebildete Staatsdiener. Das am Ausgang des 18. Jahrhunderts real vorhandene, in den Städten lebende und vorwiegend rechtlich abgegrenzte Bürgertum galt hingegen als traditionsverhaftet und innovationsarm. Das alte Stadtbürgertum blieb also aus dieser Sicht auf dem Weg zu einem modernen Bürgertum gewissermaßen am Wegesrand zurück8. Genau hier setzte die zweite Richtung an, die ihren Schwerpunkt in Frankfurt am Main hatte und von Lothar Gall angeführt wurde. Sie lenkte den Blick zurück auf die sowohl für das alte wie das neue Bürgertum konstitutive Verbindung von Stadt und Bürgertum. Ausgehend von einer genauen Bestandsaufnahme der Merkmale, die das Bürgertum am Ende des 18. Jahrhunderts charakterisierten und zu einer sozialen Einheit formten, versuchte sie exemplarisch für einzelne Städte den Übergang zum modernen Bürgertum zu beschreiben und dabei die jeweilige Beteiligung der einzelnen bürgerlichen Gruppen zu erfassen9. 6 Manfred Riedel, Art. Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Geschichtliche Grundbegriffe 1 (1972), S. 672 – 725. 7 Hans-Ulrich Wehler, Geschichte und Zielutopie der deutschen »bürgerlichen Gesellschaft«, in: Ders., Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 241 – 255. 8 Vgl. aus der Fülle der Veröffentlichungen v. a. Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, u. Peter Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986 – 1997), Göttingen 2000. 9 Vgl. bes. die Beiträge in Lothar Gall (Hg.), Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleu-

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Als Ergebnis der beiden Forschungsansätze, die nicht nur gegeneinander gerichtet waren, sondern sich in vielen konkreten Untersuchungen durchaus ergänzten, verfügen wir heute über ein sehr viel umfassenderes und zugleich differenzierteres Bild der Konstituierungsphase des modernen Bürgertums und seiner weiteren Entwicklung im 19. Jahrhundert10. Neu bewertet wurde vor allem die Bedeutung, die den Städten auch für das moderne, nachständische Bürgertum zukam. Denn die Stadt bildete weit mehr als eine Bühne, auf der die in zunehmendem Maße durch überlokale, später auch nationale Klassen- und Interessenbindungen, durch übergreifende Werthaltungen und politische Orientierungen verbundenen Bürger konkret agierten. Der Kommunikations- und Handlungsraum Stadt wirkte vielmehr als strukturbildender Faktor, der durch die Lebenszusammenhänge, die er stiftete, und durch die längerfristigen Kontinuitäten, in denen er stand, den Zusammenhalt der verschiedenen bürgerlichen Gruppen, ihr Wertesystem und ihre politischen Optionen nachhaltig beeinflußte. Unübersehbar ist ferner, dass die stärkere Berücksichtigung des städtischen Aktionsraumes dazu geführt hat, mehr Licht auf das wirtschaftende Bürgertum fallen zu lassen und seine Stellung in der Gesamtformation im Vergleich mit der dominierenden Rolle, die zuvor für Deutschland den bildungsbürgerlichen Gruppen zugeschrieben wurde, erheblich höher zu gewichten. Deutlich trat hervor, dass das Wirtschaftsbürgertum in den beiden bereits seit längerem intensiver erforschten Gruppen, den industriellen Unternehmern als einer dezidiert neuen bürgerlichen Fraktion und dem Handwerk als dem Kern des alten, nun mehr und mehr absinkenden Bürgertums, keineswegs aufging. Bankiers, Kaufleute, Gastwirte, auch Handwerker aus den wirtschaftlich besser gestellten Gewerben stellten vielmehr in den meisten Städten die ökonomische Führungsschicht – und zwar ohne scharfe Grenzziehung zur breiten Mehrheit der Gewerbetreibenden. Dass diese wirtschaftlich führenden Kreise darüber hinaus auf der lokalen Ebene zumeist auch gesellschaftlich und kulturell, vor allem über die zahlreichen von ihnen quantitativ wie qualitativ beherrschten Vereine, und politisch, durch ihre dominierende Position in den städtischen Selbstverwaltungsorganen, den Ton angaben, hat zugleich nachhaltig die bisherige Sicht des deutschen Bildungsbürgertums in Frage gestellt. Ihm hatte man – mit Blick auf ropäische Stadt im Umbruch 1780 – 1820, München 1991, u. Ders. (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993. 10 Vgl. als zusammenfassende Berichte Jonathan Sperber, Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft. Studies of the German (Upper) Middle Class and Its Sociocultural World, in: The Journal of Modern History 69 (1997), S. 271 – 297, u. John Breuilly, The Elusive Class. Some Critical Remarks on the Historiography of the Bourgeoisie, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 385 – 395, sowie Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005.

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seine überragende Präsenz in der bürgerlichen Öffentlichkeit sowie in nationalen Vereinen, Parteien und Parlamenten und die von ihm dort formulierten und vertretenen bürgerlichen Zielsetzungen – lange Zeit eine im internationalen Vergleich einzigartige Ausprägung und Ausstrahlungskraft zugesprochen11. Stattdessen verstärkten die neueren Untersuchungen die Zweifel, ob das Bildungsbürgertum überhaupt als eine einheitliche soziale Gruppe verstanden werden kann. Sie markierten in der Regel scharf die Unterschiede zwischen dem beamteten Bildungsbürgertum im engeren Sinne und den freien Berufen sowie den zwar staatlich besoldeten, aber dennoch oft unabhängig auftretenden Gruppen wie den Pfarrern oder den Professoren. Ihre gesellschaftlichen und politischen Optionen differierten stark, je nach den städtischen Rahmenbedingungen, in denen sie agierten. In den Haupt- und Residenzstädten kooperierten sie mit dem staatlichen Beamtentum und waren auch lebensweltlich eng mit diesem verflochten. Doch in der großen Zahl der wirtschaftsbürgerlich dominierten Städte schlugen sie sich auf die Seite der dortigen Mehrheit und traten als deren Vordenker und Sprecher auf12. Alles das lässt sich auch an einer traditionsorientierten Bürgerstadt wie Bremen hervorragend aufzeigen13 : das wachsende Interesse der bürgerlichen Führungsschichten an den aufklärerischen Debatten und Reformideen, ihre Öffnung für den modernen Bildungsgedanken, ihr großes Engagement in den neuen Vereinen und Initiativen, die wirtschaftliche Dynamisierung speziell in der bewegten Umbruchszeit um 1800, auch die wachsende Politisierung, ausgelöst sowohl durch die Französische Revolution als auch durch den Kampf um die Erhaltung der städtischen Freiheit. Den Söhnen der führenden Bremer Kaufmannsfamilien eröffneten sich damit neue, wesentlich erweiterte Betätigungsfelder, und es spricht auf den ersten Blick Einiges dafür, dass Johann Gustav Gildemeister auf seinem Lebensweg von diesen neuen Möglichkeiten erheblich profitiert hat. Was machte nun die neue, die bürgerliche Gesellschaft aus? Sicher zunächst einmal, dass sie eine Gesellschaft der Bürger in dem neuen emphatischen Sinne sein und dass diesen die Führungsrolle in ihr zukommen sollte. Aber als eine Vergesellschaftung mündiger und selbständiger Bürger musste sie auch vollkommen anders strukturiert sein als die ältere ständische Ordnung: An die Stelle der alle Lebensbereiche umfassenden Standeszugehörigkeit trat der freiwillige 11 Vgl. etwa Hans-Ulrich Wehler, Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive – Elemente eines »Sonderwegs«?, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 4: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 215 – 237. 12 Lothar Gall, Adel, Verein und städtisches Bürgertum, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770 – 1848, München 1994, S. 31 – 43, hier 39 – 40. 13 Dazu ausführlich Schulz (wie Anm. 2), passim.

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Zusammenschluss der freien, unabhängigen Individuen zu je verschiedenen Zwecken in Vereinen. Dieses Prinzip der Assoziation bildete das wichtigste dynamische Element der neuen bürgerlichen Gesellschaft, speziell auch auf dem Wege zu ihrer Durchsetzung14. Assoziationen waren zum ersten ausschlaggebend für den Wandel der Bürger selbst, für ihre Fortbildung zu dem neuen Bürgertypus. Von den frühen Aufklärungsgesellschaften über die Lesegesellschaften und die geselligen Vereine der Zeit um 1800 bis hin zu den Musik- und Kunstvereinen folgten alle diese Zusammenschlüsse der Idee gemeinschaftlicher Selbstbildung. Immer ging es darum, dass sich die Mitglieder intellektuell wie ästhetisch, in den Werten und Ideen, an denen sie sich orientierten, sowie in ihrem sozialen Handeln gemeinsam fortbildeten und bestätigten. Damit eng verbunden war zum zweiten das Bestreben, die führenden Kreise einer Stadt als neue bürgerliche Elite zu konstituieren und dann auch zu repräsentieren15. Diese Elitenformierung war in ihrer ersten Phase bis etwa 1820 überständisch ausgerichtet, im Sinne der Zusammenführung von Adel, Militär, Beamten, Gebildeten und Kaufleuten in gemeinsamen Assoziationen. Sie war also primär ein Vehikel des Aufstiegs, des Bemühens der neuen Führungsgruppen, die Gleichberechtigung mit den alten Eliten zu erreichen. Danach wurden jedoch die Vereine immer stärker durch die im engeren Sinne bürgerlichen Gruppen, durch das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, dominiert. Und zum dritten machten die Vereine die neue bürgerliche Gesellschaft handlungsfähig und damit auch konkurrenzfähig gegenüber den alten Gewalten16. Denn viele Aufgaben, die bislang allein der Monarch bzw. der Staat bewältigen konnte, wurden nun von gemeinschaftlichen Initiativen der Bürger übernommen: kulturelle Angebote, wissenschaftliche Institutionen, Bildungsinitiativen, auch Infrastrukturprojekte oder Wirtschaftsunternehmen in der Form der Aktiengesellschaft oder – wie die Zeitgenossen sagten – des »Aktienvereins«. Die Assoziationen waren ein lokales Phänomen. Sie bildeten sich jeweils 14 So schon klassisch: Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 174 – 205, 439 – 447. Ergänzend jetzt unter Einbeziehung der neueren Forschung: Ralf Roth, Verein und bürgerliche Gesellschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Thomas Nipperdeys Thesen zur Vereinsbewegung, in: Werner Plumpe/Jörg Lesczenski (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 121 – 135. 15 Vgl. bes. Dieter Hein, Soziale Konstituierungsfaktoren des Bürgertums, in: Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang (wie Anm. 9), S. 151 – 183. 16 Ralf Roth, Das Vereinswesen in Frankfurt am Main als Beispiel einer nichtstaatlichen Bildungsstruktur, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 64 (1998), S. 143 – 210; Ders. (wie Anm. 14), S. 132 – 134.

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unabhängig voneinander und organisatorisch eigenständig zunächst in den größeren Städten und nach deren Vorbild dann auch in den mittleren und kleineren Kommunen. Aber indem schließlich praktisch überall ein ähnlich strukturiertes Tableau von Vereinen existierte, boten sich vielfältige Möglichkeiten der Kooperation über den lokalen Rahmen hinaus: man denke nur an die gesamtdeutschen Sänger- und Turnfeste der 1830er und 1840er Jahre17. In unserem Zusammenhang ist jedoch noch wichtiger, dass sich so jeder gebildete Bürger, der in eine fremde Stadt kam, sofort heimisch fühlen konnte; immer traf er die gleichen Vergesellschaftungs- und Kommunikationsformen an; und besonders der führende allgemeine gesellige Verein – in Bonn die schon 1787 gegründete Lesegesellschaft, die sich 1820 zur Lese- und Erholungsgesellschaft erweitert hatte18 – eröffnete einem frisch an eine Universität berufenen oder dort aufgestiegenen Professor wie Gildemeister binnen kurzem den Kontakt mit den wichtigsten Persönlichkeien einer Stadt und die Aufnahme in die städtische Elite. Die Bereitschaft zur Integration und die Offenheit für jedermann, der die notwendige geistige und materielle Unabhängigkeit mitbrachte, gehörten auch allgemein zu den zentralen Kennzeichen, die das Leitbild der bürgerlichen Gesellschaft ausmachten. Letztlich gingen die Erwartungen dahin – es wurde bereits angedeutet –, dass im Zuge sich verbreitender Bildung und wachsenden Wohlstandes nach und nach jeder die Chance erhalten werde, zum Bürger aufzusteigen, dass also das Bürgertum der allgemeine Stand der bürgerlichen Gesellschaft sein werde. Gerade an der Zusammensetzung der Vereine lässt sich besonders gut ablesen, welche Fortschritte auf dem Weg der Integration erzielt wurden und welchen Realitätsgehalt die Zielutopie aufwies19. Geht man von der ursprünglichen Zusammensetzung des rechtlich abgegrenzten traditionalen Stadtbürgertums aus, das de facto nur die selbständigen Gewerbetreibenden aus Handel und Gewerbe umschloss, so lag der erste Integrationsschritt auf dem Wege zur neuen bürgerlichen Gesellschaft in der Überwindung der ständischen Grenzen, also der zwischen Adel und Bürgertum und der zwischen den städtischen Bürgerrechtsinhabern und den eximierten Gruppen, also vor allem zu den Offizieren und den staatlichen Beamten. Das schloss dann auch die wichtigsten bildungsbürgerlichen Berufsgruppen wie Pfarrer, Professoren, Lehrer, Anwälte, Ärzte und Ingenieure ein, die zwar in den

17 Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808 – 1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München 1984. 18 Vgl. Thomas Mergel, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland, 1794 – 1914, Göttingen 1994, S. 65 – 70. 19 Vgl. u. a. Roth (wie Anm. 14), S. 127 – 128.

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Reichsstädten über das Bürgerrecht verfügten, in den Territorialstaaten aber zunächst noch zum staatlichen Rechtskreis zählten. Zeitlich parallel hierzu verlief die Überwindung der konfessionellen Scheidelinien, war doch bislang in vielen Städten den Angehörigen der christlichen Minderheiten nur ein minderer Status zugestanden worden. Oft deutlich später – und zwar in den Haupt- und Residenzstädten in der Regel früher als in den traditionsreichen Handels- und Gewerbestädten – öffneten sich die Vereine dann für die jüdische Minderheit20. Wie spannungsgeladen dennoch das Verhältnis gerade auch zwischen Protestanten und Katholiken in vielen Städten blieb oder besser : wieder wurde, dafür bietet die Universitätsstadt Bonn ein hervorragendes Beispiel21. Denn während die Stadtbevölkerung um 1840 noch zu rund 86 % katholisch war – dazu kamen 10 % Protestanten und knapp 4 % Juden –, waren die meisten Professoren evangelisch. Die Universität und ihre Professoren bemühten sich zwar in aufgeklärter Tradition, konfessionelle Konflikte nicht aufkommen zu lassen. Aber es lässt sich leicht ausmalen – ohne dass ich hier näher darauf eingehen kann –, welche Aufregung in der Stadt und in ihren führenden bürgerlichen Kreisen geherrscht haben muss, als 1844 im Zusammenhang mit der Trierer Rockwallfahrt ausgerechnet Gildemeister zusammen mit seinem berühmten Historikerkollegen Heinrich von Sybel mit einer auflagenstarken Streitschrift als Wortführer von protestantischer Seite hervortrat22. Katholischer Glaube und kirchlicher Selbstbehauptungswille einerseits, protestantische Wissenschaftsrationalität und liberaler Offensivgeist andererseits standen sich hier unversöhnlich und mit völligem Unverständnis für die jeweils andere Seite gegenüber. Bereits hier kündigte sich an, dass das für die Idee der bürgerlichen Gesellschaft konstitutive Integrationskonzept in Deutschland nicht zuletzt an den konfessionellen Konflikten scheitern werde, wie es dann in den Kulturkämpfen der 1860 bis 1880er Jahre endgültig eintrat23. Nicht zufällig standen hinter den konfessionellen Auseinandersetzungen immer auch soziale Konflikte24. Die eindrucksvolle Mobilisierung der katholi20 Vgl. Roth (wie Anm. 16), S. 166 – 169. 21 Vgl. Mergel (wie Anm. 18), S. 56 – 57, 375, u. Dietrich Höroldt, Die konfessionelle Entwicklung der Stadt Bonn im 19. Jahrhundert bis zum Vorabend des Kulturkampfes, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 188 (1985), S. 150 – 173. 22 Johann Gustav Gildemeister/Heinrich von Sybel, Der heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern heiligen ungenähten Röcke. Eine historische Untersuchung, Düsseldorf 1844. Vgl. dazu Christoph Waldecker, »Natürlich hat man Ursache die nähere Untersuchung zu scheuen«. Johann Gustav Gildemeister und die Ausstellung des Heiligen Rockes zu Trier 1844, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 48 (1996), S. 391 – 406. 23 Mergel (wie Anm. 18), S. 253 – 271; Ralf Roth, Katholisches Bürgertum in Frankfurt am Main 1800 – 1914. Zwischen Emanzipation und Kulturkampf, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 46 (1994), S. 207 – 246. 24 Wolfgang Schieder, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844, in: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), S. 419 – 454.

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schen Bevölkerung, die 1844 in den Wallfahrten nach Trier erreicht wurde, gründete eben auch darauf, dass der von bürgerlich-liberaler Seite propagierte wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierungsprozess keineswegs allen Bevölkerungsschichten in gleichem Maße zugute kam. Nicht nur in der katholischen Landbevölkerung, sondern auch in kleinbürgerlichen Kreisen und in den Unterschichten der Städte zeigten sich in den 1840er Jahren erste Widerstände. Die mit den Gewerbe-, den Gesang- und den Turnvereinen einsetzende Erweiterung des sozialen Einzugsbereichs bis an den unteren Rand des Bürgertums und vereinzelt darüber hinaus ließ die immanenten Grenzen und Schwächen des Integrationskonzepts in zweifacher Weise offenkundig werden: Viele der jetzt aufgenommenen Vereinsmitglieder konnten nicht mehr das Entreebillett in die bürgerliche Gesellschaft, nämlich geistige und materielle Unabhängigkeit, vorweisen. D. h., an die Stelle des allgemein erwarteten harmonischen Miteinanders traten zunehmend Verteilungskonflikte, die wiederum die Gefahr politischer Radikalisierung in sich bargen. Und die neu angesprochenen Gruppen waren nicht länger bereit, die bildungs- und wirtschaftsbürgerliche Hegemonie in den Vereinen zu akzeptieren, sondern beanspruchten, das Instrument des assoziativen Zusammenschlusses selbstbestimmt für ihre eigenen Ziele zu nutzen25. Die sozialen Probleme und politischen Spannungen, die daraus resultierten, traten in dem Augenblick offen hervor, als die bürgerlich-liberale Bewegung in der Revolution 1848/49 auf dem Höhepunkt ihrer Macht zu sein schien und im Begriff stand, den ersehnten Nationalstaat nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Die Revolution wurde so zur entscheidenden Wegscheide in der Entwicklung des deutschen Bürgertums26. Die gewaltsame Bedrohung bürgerlicher Herrschaft in Stadt und Staat durch Teile der städtischen und sogar der stadtbürgerlichen Bevölkerung ließ kaum noch Zweifel an dem Scheitern des bisher verfolgten Integrationskonzeptes zu. Als einzige realistische Integrationsperspektive überstand die Idee der staatsbürgerlichen Gleichheit relativ unbeschadet die Ereignisse von 1848/49; sie blieb auch für die unteren Schichten attraktiv, war aber vielfältig – sogar gegen die bürgerlich-liberale Bewegung – instrumentalisierbar. Zu den nachhaltigen Wirkungen der Revolution zählte ferner die Erfahrung des Scheiterns: Fortschrittsoptimismus und politischer Offensivgeist des Bürgertums wurden nicht völlig verdrängt, wohl aber überlagert durch eine betont nüchterne, realistische Sicht der Dinge. Fundamental veränderte sich schließlich das Verhältnis zwischen Bürgertum und Staat: 25 Roth (wie Anm. 14), S. 128 – 129. 26 Vgl. Dieter Hein, Die Revolution von 1848/49, 4. Aufl., München 2007, u. Rüdiger Hachtmann, Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848/49, Tübingen 2002.

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Dieser, auch der vorhandene, monarchisch-bürokratisch verfaßte, gewann eine neue Position als Garant der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Das beeinflußte nicht nur die politische Strategie der bürgerlich-liberalen Bewegung zutiefst, sondern warf auch einen langen Schatten auf deren Staatskonzeption. Mit dem vollen Durchbruch der Industrialisierung in den 1850er und 1860er Jahren verschärfte sich der soziale Differenzierungsprozeß in den Reihen des Bürgertums. Während sich mit der endgültigen Einführung der Gewerbefreiheit und dem schrittweisen Übergang zur Einwohnergemeinde die überkommene Einheit des Stadtbürgertums zusehends auflöste, wurde eine immer größere Vielfalt primär nach Beruf und wirtschaftlicher Stellung, jedoch ebenso nach Einkommen, Bildung und sonstiger Lebenslage unterschiedener bürgerlicher Gruppen freigesetzt. Als ein dominierender Entwicklungstrend zeichnete sich dabei die prekäre wirtschaftliche Lage der kleinen und mittleren Gewerbetreibenden ab, deren formale Selbständigkeit vielfach keine gesicherte Existenz mehr garantierte. Soweit sie nicht mit dem Verlust ihrer ökonomischen Selbständigkeit ganz aus dem Bürgertum herausfielen und in der sich neu bildenden Arbeiterschaft aufgingen, wurden sie nun mehr und mehr unter dem neuen Begriff des »Kleinbürgertums« zusammengefaßt und von dem eigentlichen Bürgertum der Besitzenden und Gebildeten unterschieden27. Noch ganz in den Anfängen steckte hingegen die längerfristig überaus bedeutsame Formierung eines »neuen Mittelstandes«, d. h. einer sozialen Gruppe, deren Mitglieder aufgrund ihrer unselbständigen Beschäftigung als Angestellte oder Beamte keine Bürger im herkömmlichen Sinne waren, die aber von ihrem Einkommen, ihrer relativen materiellen Sicherheit und ihrem Bildungsgrad her die Grundvoraussetzungen für eine bürgerliche Lebensführung aufwiesen28. Von beiden Gruppen deutlich abgehoben konnten die bürgerlichen Eliten von Besitz und Bildung ihre Stellung nach der Jahrhundertmitte festigen, ja, ausbauen – nicht zuletzt auf der Basis einer signifikanten Steigerung ihrer Einkommen und Vermögen. Dabei gewannen in der wirtschaftsbürgerlichen Oberschicht die industriellen Unternehmer gegenüber dem bislang dominierenden Handelsbürgertum zunehmend an Gewicht29. Gestützt auf ein Klassen27 Hans-Ulrich Wehler, Die Geburtsstunde des deutschen Kleinbürgertums, in: Hans-Jürgen Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur, Göttingen 1991, S. 199 – 209; Heinz-Gerhard Haupt/Geoffrey Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998. 28 Vgl. Jürgen Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850 – 1980. Vom Privatbeamten zum angestellten Arbeitnehmer, Göttingen 1981, u. Günther Schulz, Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, München 2000. 29 Vgl. u. a. Dirk Schumann, Wirtschaftsbürgertum in Deutschland: segmentiert und staatsnah. Bemerkungen zu den Erträgen, Problemen und Perspektiven der neueren deutschen Unternehmensgeschichte, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3

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oder Zensuswahlrecht erreichte diese besitzende und gebildete Klasse in den meisten Städten einen beherrschenden Einfluß auf die kommunalpolitischen Entscheidungen. Auch auf der einzelstaatlichen und nationalen Ebene nahm ihr politisches Gewicht weiter zu und erreichte einen vorläufigen Höhepunkt im Jahrzehnt nach der Reichsgründung, doch blieb dem Bürgertum die volle politische Macht unter den konstitutionellen und konfessionellen Bedingungen des von Bismarck geschaffenen Kaiserreiches versagt30. Den tiefgreifenden Veränderungen im mitteleuropäischen Bürgertum entsprach wiederum ein unübersehbarer begrifflicher Wandel31. Wenn vom Bürger in einem allgemeinen Sinne gesprochen wurde, war nun immer häufiger der Staatsbürger und nicht der Stadtbürger traditioneller Art gemeint. Vor allem aber verstärkte sich die soziale Komponente des Wortes, wurde der Bürger- zu einem Klassenbegriff. Unabhängig davon transportierte der Bürgerbegriff jedoch immer noch, ja vielleicht stärker als je zuvor, ein kaum noch zu überschauendes Bündel an Idealen und Erwartungen. Die emphatische Beschwörung bürgerlicher Leitbilder, die in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung gegen das reale Bürgertum der Zeit ins Feld geführt wurden, trug allerdings angesichts der Tatsache, daß die Ideale wie die Selbständigkeit längst ausgehöhlt oder wie die Bildung formalisiert waren, einen dezidiert ideologischen Charakter bzw. war eindeutig interessengeleitet. Zugleich bildete die Differenz zwischen sozialem Gehalt des Bürgers und idealen Ansprüchen an den Bürger sowohl die Grundlage für das Krisenbewußtsein, das um 1900 weite Kreise des Bürgertums erfaßte, als auch für die vehemente antibürgerliche Kritik jener Epoche, die ihre prominentesten Wortführer bekanntlich unter den durchweg aus dem Bürgertum selbst stammenden Künstlern und Literaten hatte32. Nicht wenige gingen so weit, die einen, weil sie die Restabilisierung der von vielen Seiten bedrohten bürgerlichen Ordnung erhofften, die anderen, weil sie von einer Befreiung aus der Erstarrung bürgerlicher Konventionen träumten, auf ein reinigendes Gewitter in einem großen Krieg zu setzen. Dieser brachte (1992), S. 375 – 384; Hartmut Berghoff/Roland Möller, Unternehmer in Deutschland und England 1870 – 1914. Aspekte eines kollektivbiographischen Vergleichs, in: Historische Zeitschrift 256 (1993), S. 353 – 386; Dolores L. Augustine, Patricians and Parvenus. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, Oxford/Providence 1994. 30 Wolfgang Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiserreichs, in: Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. München 1990, S. 19 – 64. 31 Vgl. dazu Dieter Langewiesche, Stadtbürger – Staatsbürger : Grundmuster bürgerlicher Interessenpolitik im 19. Jahrhundert, in: Hans Eugen Specker (Hg.), Einwohner und Bürger auf dem Weg zur Demokratie. Von antiken Stadtrepubliken zur modernen Kommunalverfassung, Ulm 1997, S. 162 – 174; ferner wiederum Riedel (wie Anm. 6), bes. S. 719 – 722. 32 Dazu nach wie vor bes. erhellend: Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988, S. 63 – 73.

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dann freilich den völligen Untergang der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Die Epoche der Kritik und Krise und das Ende im Weltkrieg aber hat Johann Gustav Gildemeister, dessen Lebenszeit – übrigens ähnlich wie die Bismarcks – nahezu das gesamte 19. Jahrhundert, das bürgerliche Zeitalter, umgreift, nicht mehr erlebt.

Ulf Morgenstern

»Wer schreibt noch solche Briefe?« Briefkultur in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts

Das Thema »Briefkultur im 19. Jahrhundert« ist noch immer ein eher von germanistischer als von geschichtswissenschaftlicher Seite erforschter Gegenstand1. Die Ursachen für diesen Befund haben in erster Linie mit dem Verlauf, der Ausrichtung und den spezifischen Erkenntnisinteressen der bürgertumsgeschichtlichen Forschung, weniger mit den Briefquellen selbst zu tun. Ohne näher auf die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der Mittelpunkte der bürgertumsgeschichtlichen Forschung Frankfurt und Bielefeld einzugehen2, kann doch konstatiert werden, dass die Untersuchung einzelner kultureller Praktiken des Bürgertums nicht zu den bevorzugten Themen zählte3. Solche »weichen« Gegenstände wurden durch abseits des Kreises um Lothar Gall und des Bielefelder Sonderforschungsbereichs forschende Einzelkämpfer untersucht4. Das 1 Vgl. stellvertretend den Aufsatz des Germanisten Rainer Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders. (Hg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1 – 36. Auch knapp 15 Jahre später scheint sich an der eher literarischen Fokussierung auf das Medium Brief wenig geändert zu haben, vgl. etwa die Schwerpunkte des Forschungsverbundes »Epistola. Der Brief auf der Iberischen Halbinsel und im lateinischen Westen. Tradition und Wandel einer literarischen Gattung (4. bis 11. Jahrhundert)«, der auf deutscher Seite von dem Erlanger Mediävisten Klaus Herbers geleitet wird. 2 Siehe den Beitrag von Dieter Hein in diesem Band. 3 Eine Ausnahme war aus dem Bielefelder Forschungsumfeld etwa die Arbeit von Rebekka Habermas, Männer und Frauen des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 – 1850), Göttingen 2000, die außer auf mehr als einem Dutzend Tagebüchern auch auf der Auswertung von rund 5000 Briefen gründet und sich so notwendigerweise mit dem Medium Brief auseinandersetzen musste. 4 Einen knappen Forschungsaufriss, auch der nach und außerhalb der Bielefelder und Frankfurter Großprojekte entstandenen Arbeiten, bietet die Einleitung bei Ulf Morgenstern, Bürgersinn und Familientradition. Die liberale Gelehrtenfamilie Schücking im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2012, S. 15 – 23. Siehe weiterhin die Angaben bei Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums. Einführung, Köln 2009. Einen detaillierten Überblick der Forschungen liefert Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (EDG 75), München 2005. Lesenswert in Bezug auf Konzeption und Umsetzung sind auch Peter Lundgreen, Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz

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mag erstaunen, denn obwohl Briefe die mengenmäßig am häufigsten überlieferte Quellenart der neuzeitlichen Geschichte sind und für historische Fragestellungen unterschiedlichster Art nicht selten die qualitativ entscheidenden Informationen liefern, ist der Gedanke an gesonderte Untersuchungen zu Briefen und dem Briefeschreiben, auch durch die neuerlichen kulturgeschichtlichen Verschiebungen innerhalb der Geschichtswissenschaft, noch nicht erkennbar beflügelt worden. Anders gewendet: Den Brief, losgekoppelt von seinem jeweiligen Schreiber und dem durch ihn vermittelten Inhalt, als solchen selbst zum Gegenstand von gesellschaftsgeschichtlichen Überlegungen zu machen, erscheint offenbar als zu profan. Vergegenwärtigt man sich, wie viel Zeit im 19. Jahrhundert mit dem Schreiben von Briefen und Briefkonzepten, dem Warten des Empfängers auf ihr Eintreffen, der Beantwortung und dem Übermitteln der Antwort verbracht wurde, wird deutlich, welchen prozentualen Anteil der Lebensinhalt »Brief« im täglichen Ablauf hatte5. Und zwar bei all jenen, die oberhalb der auf vor allem mündliche und lokale Kommunikation konzentrierten unter- und kleinbürgerlichen Schichten und unterhalb der nicht selten diktierenden obersten Oberschicht (und auch diese brachte intime Belange selbst zu Papier) ihre Briefe selbst schrieben. Sicherlich erreichte das Briefeschreiben nur bei wenigen vielschreibenden Ausnahmen jenes zeitliche Quantum, das andere Praktiken der Geselligkeit (Spiel, Konzert, Kränzchen, Spaziergang usw.) oder das Lesen von Romanen und Zeitschriften innerhalb der freien Zeit einnahmen. Rechnet man aber das berufliche Schreiben hinzu, sei es geschäftlicher, wissenschaftlicher oder künstlerischer Natur, wird deutlich, welches Gewicht das Medium Brief im Leben der schreibenden Bürger des 19. Jahrhundert hatte. Da Papier, Kuverts, Tinte, Griffel, Siegelwachs und später auch Briefmarken hergestellt, vertrieben und verkauft werden mussten und Briefe trotz der Hilfe von Pferdekraft und Eisenbahn von Menschenhand vom Absender zum Empfänger befördert werden mussten, waren außer den Schreibern noch unzählige Andere in den auch wirtschaftlich wichtigen Kreislauf des Briefeschreibens eingebunden. Die Frage, was das neuzeitliche Schreiben von Briefen abseits des noch heute in Editionsprojekten im Mittelpunkt stehenden Inhalts der Dokumente historisch relevant macht, ist kultur-, sozialdes Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986 – 1997), Göttingen 2000, sowie Thomas Mergel, Bürgertumsforschung nach 15 Jahren. Für Hans-Ulrich Wehler zum 70. Geburtstag, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 515 – 538. 5 Pars pro toto sei eine Briefstelle aus den Brautbriefen Levin Schückings und Louise von Galls angeführt, wo es am 21. Februar 1843 heißt: »Meine teure, süße, herzige Louise, […] ich […] komme zu nichts; nicht dazu einmal, Dir zu schreiben; das ist schon seit Freitag abend, den 18-ten so gegangen und da ich weiß, wie schrecklich mir das Warten auf Deine Briefe ist, so kann ich Dich nicht länger auf diese Zeilen warten lassen, die der Bote um 8 34 verlangt, und jetzt ist es schon 7 Uhr.« Reinhold Muschler (Hg.), Briefe von Levin Schücking und Louise von Gall. Mit einer biographischen Einleitung von Levin Ludwig Schücking, Leipzig 1928, S. 168.

Briefkultur in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts

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und eben auch, so überholt der Begriff mittlerweile zu sein scheint: bürgertumsgeschichtlicher Natur6.

Abb. 1: Kuvert eines in Straßburg aufgegebenen Briefes an Bismarcks Hausarzt und Sekretär Rudolf Chrysander (Bismarck-Nachlass, Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh)

Kaum eine andere Quellenart überliefert uns einerseits durch ihren Nachrichtencharakter mehr über das 19. Jahrhundert7, und birgt andererseits durch 6 Vgl. die diesbezüglichen brieftheoretischen Einordnungen, die den Brief schon seit Jahrzehnten als einen Germanisten, Historikern, Kultur- und Kommunikationswissenschaftlern gemeinsamen Forschungsgegenstand betrachten. Burckhard Dücker, Brief, in: Walther Killy (Hg.), Literaturlexikon, Bd. 13, Gütersloh/München 1992, S. 124 – 129; Reinhard M. G. Nickisch, Brief, Stuttgart 1991; Gustav Hillard, Vom Wandel und Verfall des Briefes, in: Merkur 23 (1969), S. 343 – 351; Jochen Golz, Brief, in: Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin/New York 1997, S. 251 – 255; Michael Maurer, Briefe, in: Ders. (Hg.), Aufriß der historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 349 – 371. 7 Am nächsten kommen dem Brief in Bezug auf die Intimität und Informationsdichte des Geschriebenen Tagebücher, s. Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung, Darmstadt 1990. Diese sind durch eingeklebte Briefe als kompositorische Spezialität nicht selten eine hermeneutische Herausforderung für nachgeborene Leser, vgl. dazu Gustav Ren¦ Hocke, Der Brief im Tagebuch. Doppelgang im intimen Bekenntnis, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1975, S. 100 – 106. Ohne eingeklebte Briefe kamen die jüngst in einer kritischen Edition erschienenen Tagebücher eines deutschen Kaisers aus. Winfried Baumgart (Hg.), Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866 – 1888, Paderborn 2012. Ein weiteres adliges Beispiel ist Victor Franz von AndrianWerburg, »Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der

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die Art und Weise ihrer Entstehung, ihrer Distribution und ihrer Tradierung ein weiteres Spektrum an Informationen in sich als der Brief8. Der folgende Beitrag soll zudem verdeutlichen, wie lange die elaborierte und standardisierte Praxis des Briefeschreibens noch in die Moderne und Postmoderne hinein weiterwirkte. Denn schließlich wird das 19. Jahrhundert nicht grundlos als langes, von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg dauerndes Jahrhundert bezeichnet. Das anschließende 20. wird nicht selten ein kurzes, nur vom Versailler Vertrag bis zum Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989/90 dauerndes Jahrhundert genannt9. Misst man die Jahrhundertlänge nicht mit politik-, sondern mit kulturgeschichtlichen Maßen, kann das 19. Jahrhundert auch bis in die 1950er Jahre oder noch darüberhinaus andauern. Denn mit dem Blick auf die Kommunikationsform des Briefeschreibens, die im Grunde eine ganz eigene Kulturtechnik ist, wird man eine Epochenwende erst mit der flächendeckenden Verbreitung des Telefons, und später, in den ausgehenden 1990er Jahren, mit der Einführung des uns heute Tag und Nacht in Schach haltenden Email-Verkehrs erkennen können. Bis dahin war der Brief das Medium der überlokalen Kommunikation schlechthin. Zwischen der immer vollständigeren Alphabetisierung Deutschlands und Europas am Ende der Frühen Neuzeit und dem Einzug des Telefons in die Privathaushalte mögen Milliarden von Briefen, Briefkarten, Billets, Visitenkarten, Postkarten10 geschrieben und befördert worden sein11, wozu in den krieWüste«. Tagebücher 1839 – 1858, 3 Bde., Wien 2011. Nicht selten werden Tagebücher gemeinsam mit Briefwechseln publiziert, vgl. Giacomo Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher 1824 – 1864, 8 Bde., Berlin 1959 – 2006. Auf Tagebücher, Autobiographien und andere Ego-Dokumente sowie deren Quellenkritik wäre gesondert einzugehen, vgl. noch immer einschlägig Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996. 8 Philatelistische Details kommen hinzu, schließlich sind die im 19. Jahrhundert aufkommenden Briefmarkensammler nichts anderes als Historiker mit einem seriellen, ikonographischen Untersuchungsschwerpunkt. 9 Während einige Autoren den Begriff noch immer apostrophieren, etwa Franz J. Bauer, Das »lange« 19. Jahrhundert (1789 – 1917). Profil einer Epoche, Stuttgart 2004; Nils Freytag/ Dominik Petzold (Hg.), Das »lange« 19. Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven, München 2007, weisen mittlerweile schon Handbücher in ihren Titeln auf die mehr als zehn Jahrzehnte umspannende Dauer des 19. Jahrhunderts hin, vgl. Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (B. Gebhardt (Hg.), Handbuch der deutschen Geschichte 13). 10. völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2002. Eingeführt hat den die longue dur¦e der Epoche betonenden Terminus der englische Historiker Eric Hobsbawn als Titel seiner weltgeschichtlichen Trilogie der Jahre 1789 bis 1914. 10 Auf die gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Massenphänomen neben die Briefe tretenden Postkarten einzugehen, ist hier nicht der Ort. Eine sehr frühe Arbeit informiert gewissermaßen aus zeitgenössischer Sicht über das Thema, vgl. Franz Kalckhoff, Die Erfindung der Postkarte und die Korrespondenzkarten der Norddeutschen Bundespost, Leipzig 1911. Den gegenwärtigen Stand der Forschung dokumentiert Otto Wicki, Geschichte der Post- und Ansichtskarten, Bern 1996.

Briefkultur in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts

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Abb. 2: Visitenkarte eines Tübinger Studenten, eingesandt an Otto von Bismarck (BismarckNachlass, Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh)

gerischen Katastrophenjahren zwischen 1870 und 1945 im deutschen Sprachraum noch dreimal Tonnen von Feldpostkarten und -briefen kamen. Allein zwischen Juli und Dezember 1870 wurden auf deutscher Seite zehn Millionen Feldpostbriefe befördert12.

11 Allein im Jahr 1895 waren es 2,038 Milliarden Sendungen, vgl. Baasner (wie Anm. 1), S. 11. 12 [Staatsekretär] Unger, Geschichte der Postkarte mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands, in: Archiv für Post und Telegraphie 12 (1881), S. 357. Dass Feldpost nicht nur ein philatelistisches oder genuin militärgeschichtliches Sammelgebiet ist, sondern in jüngster Zeit immer stärker in den Fokus der insgesamt in kulturgeschichtlichere Fahrwasser schwenkenden allgemeinen Geschichtswissenschaft rückt, verdeutlicht eindrücklich der Band Veit Didczuneit/Jens Ebert/Thomas Jander (Hg.), Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011. Auf die ältere Spezialliteratur zu dem Thema wäre gesondert einzugehen.

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Abb. 3: Postkarte zweier Leipziger Studenten an Otto von Bismarck, Mai 1892 (BismarckNachlass, Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh)

Als alltägliche Handlung war das Briefeschreiben zwar bereits ein »daily routine« der Eliten des 17. und erst recht des 18. Jahrhunderts13, seine nachromantische Breitenwirkung erreichte der Brief aber erst mit der hochkomplexen Gemengelage aus der Entdeckung des Ichs, dem industrialisierungsbegleitenden Ausbau der Post(transport-)wege und dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft im später sprichwörtlichen »bürgerlichen 19. Jahrhundert«14. Dabei 13 So explizit dazu Hermann Bausinger, Die alltägliche Korrespondenz, in: Klaus Beyrer/HansChristian Täubrich (Hg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Frankfurt am Main 1996, S. 294 – 303. 14 Vgl. den Beitrag von Dieter Hein in diesem Band.

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wandelte sich der Charakter von Briefen erheblich15, woran im Laufe des 18. Jahrhunderts der Ausbau des Zeitschriftenwesens, im Laufe des 19. Jahrhunderts dann der des Zeitungswesens entscheidenden Anteil hatte16. Um Neuigkeiten aus fernen Gegenden zu erfahren, wurden zuvor von dort gesandte Briefe herangezogen, die oft von Hand zu Hand gingen (was dem gegenwärtigen »Weiterleiten« von SMS, Emails oder Internet-Links entspricht)17. Am Ende der Frühen Neuzeit professionalisierte sich diese Praxis mit der Etablierung des Korrespondentenwesen, das unter dem Titel »Korrespondenznachrichten« in den Tageszeitungen des 19. Jahrhunderts einen festen Platz eroberte und wie die »Leserbriefe« bis heute zu den Printmedien gehört. Der handschriftliche Brief an einen Adressaten wurde natürlich weiterhin geschrieben, allerdings war sein Inhalt nun häufiger als zuvor privater Natur : »Der Brief wird – dort, wo er nicht Geschäfts- oder offizielles Schreiben ist – zur exklusiven Privatsache«18. Aber ist das in jedem Fall zu trennen? Einem, der 1888 noch im 19. Jahrhundert geboren worden war, und dessen 15 Vgl. dazu u. a. Jean Am¦ry, Der verlorene Brief. Vom Niedergang einer Ausdrucksform des Humanen, in: Schweizer Rundschau 75 (1976), S. 21 – 24; Johannes Anderegg, Stilwandel und Funktionswandel. Zum Brief in der Goethezeit, in: Ulla Fix/Gotthard Lerchner (Hg.), Stil und Stilwandel, Frankfurt am Main 1996, S. 9 – 25; Johannes Anderegg, Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830, Göttingen 2001; Lothar Bluhm/Andreas Meier (Hg.), Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition, Würzburg 1993; Peter Bürgel, Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 281 – 297; Helmut Hartwig, Zwischen Briefsteller und Bildpostkarte. Briefverkehr und Strukturwandel bürgerlicher Öffentlichkeit, in: Ludwig Fischer (Hg.), Gebrauchsliteratur, Stuttgart 1976, S. 114 – 126. 16 Vgl. etwa Angelika Ebrecht, Brieftheoretische Perspektiven von 1850 bis ins 20. Jahrhundert, in: Angelika Ebrecht/Regina Nörtemann/Herta Schwarz (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart 1990, S. 239 – 256; Norbert Oellers, Der Brief als Mittel privater und öffentlicher Kommunikation in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Alexandru Dut¸u u. a. (Hg.), Brief und Briefwechsel im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung, Bd. 1, Essen 1989, S. 9 – 36; oder Wolfgang Kessler, Brief und Briefwechsel im 18. und 19. Jahrhundert als Quelle der historischen Kulturbeziehungsforschung, in: Ebd., S. 341 – 348. 17 Die Literatur über wirtschaftliche, politische oder wissenschaftliche Korrespondenznetze der Frühen Neuzeit ist umfangreich, behandelt aber vordergründig Einzelbeispiele. Eine kultur- oder kommunikationshistorische Synthese fehlt bisher. Aus der Fülle einzelner Studien sei etwa verwiesen auf Martin Stuber, Binnenverkehr in der europäischen Gelehrtenrepublik. Zum wissenschaftlichen Austausch zwischen »Deutschland« und der »Schweiz« im Korrespondenznetz Albrecht von Hallers, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 26 (2002) 2, S. 193 – 207; Katrin Keller, Kommunikationsraum Altes Reich. Zur Funktionalität der Korrespondenznetze von Fürstinnen im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 31/2 (2004), S. 205 – 230; oder Hans Bots, Exchange of letters and channels of communication. The epistolary networks in the European republic of letters, in: Regina Dauser (Hg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts, Berlin 2008, S. 31 – 45. 18 Vgl. Baasner (wie Anm. 1), S. 6.

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Weltbild und Habitus sich noch elementar aus den Ideen und der Atmosphäre dieser Epoche speiste, ist die Frage »Wer schreibt noch solche Briefe?« in der Überschrift entliehen. Um das Pferd chronologisch einmal von der anderen Seite aufzuzäumen, sei der greise Historiker Gerhard Ritter zitiert, der im April 1967, wenige Monate vor seinem Tod, einen Brief von seinem ehemaligen Freiburger Kollegen Gerd Tellenbach (1903 – 1999) bekam. Der 63jährige Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom Tellenbach schrieb darin dem 79jährigen Emeritus Ritter : »Sehr verehrter lieber Herr Ritter! Mitte April haben wir hier ein Gespräch italienischer und deutscher Historiker über den Kriegseintritt Italiens 1915 und seine Vorgeschichte gehabt. Bei der Vorbereitung trieb ich einige Literaturstudien und dabei habe ich wieder grosse Teile aus Ihrem Werk ›Kriegsführung und Politik‹ gelesen, besonders den 3. Band. Ich war wieder tief beeindruckt davon; dieselbe Klarheit, Darstellungskunst und Kraft des Herzens, die mich vor nun 45 Jahren bei der Lektüre Ihres ›Luther‹ zuerst so stark berührt hat, wiederzufinden. […] Sie haben kein Jubiläum, und ich habe keinen besonderen Anlass, Ihnen dies zu schreiben, als nur diese neue unmittelbare Erfahrung. Und ich hatte einfach das Gefühl, es wäre schade, wenn ich es Ihnen nicht wieder einmal sagte. Mit herzlichen Grüssen auch von meiner Frau an Sie und Ihre stets verehrte Gattin Ihr G. Tellenbach.«19

Der Umschmeichelte antwortete prompt: »Lieber Herr Tellenbach! Was ist das für ein reizender Brief! Welcher Kollege schreibt [noch] solche Briefe! Das ist mehr als Kollegenschaft, das ist Freundschaft! Sehr herzlichen Dank! Wie ärmlich ist doch meistens das Echo, wenn man Bücher verschenkt! Einer der hiesigen engsten Fachkollegen hat mir bis heute weiter nichts darüber gesagt, als dass der III. Band leider sehr viele Druckfehler enthielte – was übrigens richtig ist. Die meisten finden gar nicht die Zeit, meine Bücher zu lesen. Und Sie, dem ich das Buch nicht einmal geschenkt habe, schreiben so erfreuend und verständnisvoll!«20

Was von den beiden Historikern hier noch in den 1960er Jahren als Blumenstrauß hin- und hergereicht wurde, eignet sich durch Form und Inhalt, um die Gattung Brief in ihren Ausprägungen während des 19. Jahrhunderts vorzustellen. Tellenbach und Ritter waren nicht nur geübte Briefeschreiber – das waren in ihren Generationen noch die allermeisten – sondern sie brachten als Verfasser gut lesbarer Wissenschaftsprosa auch besondere Neigungen zum Formulieren21 19 Gerd Tellenbach an Gerhard Ritter am 27. April 1967, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Gerhard Ritter (N 1166), Nr. 356. 20 Gerhard Ritter an Gerd Tellenbach am 3. Mai 1967, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Gerhard Ritter (N 1166), Nr. 356. 21 Die Neigung zum Formulieren ist ein Spezifikum gelehrter Briefwechsel, das diese etwa mit

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mit auf das nur scheinbar private Feld des Briefeschreibens22. Eine ähnliche stilistische Sicherheit in privaten Briefen findet sich sonst nur bei der zweiten großen Gruppe der beruflichen Schreiber, den Dichtern und Schriftstellern, deren Briefwechsel daher auch zu den mit Vorliebe untersuchten bzw. edierten gehören23. Übertriebenes Lob, ja teils regelrechte Schmeicheleien waren vor allem bei diesen »Profis« Teil der differenziert eingesetzten, sicher zu beherrschenden Stilmittel der brieflichen Kommunikation. Eine ähnliche Funktion erfüllen seit geraumer Zeit die »Emoticons«, jene aus der elektronischen Kurzdenen von Schriftstellern oder Künstlern gemeinsam haben. Darüber hinaus sind sie eine Quelle allerersten Ranges für das Verständnis des sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker »professionalisierenden« Wissenschaftsbetriebs. Vgl. paradigmatisch für diese beiden Aspekte Stefan Rebenich/Gisa Franke (Hg.), Theodor Mommsen und Friedrich Althoff. Briefwechsel 1882 – 1903, München 2011. Nur als Beispiele seien aus der Fülle publizierter Gelehrtenbriefe genannt Ludwig Dehio/Peter Classen (Hg.), Friedrich Meinecke. Ausgewählter Briefwechsel, Stuttgart 1962; Anneliese Thimme (Hg.), Friedrich Thimme 1868 – 1938. Ein politischer Historiker, Publizist und Schriftsteller in seinen Briefen, Boppard 1994; Bärbel Pusback, Bildungsbürgerliche Familienbeziehungen im männlichen Blick. Die Briefe des Nationalökonomen Wilhelm Seelig (1821 – 1906) an seine Frau, in: Elke Kleinau (Hg.), »Denken heißt Grenzen überschreiten.« Beiträge aus der sozialhistorischen Geschlechterforschung. Eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Marie-Elisabeth Hilger, Hamburg 1995, S. 121 – 138 oder Guenther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800 – 1950. Mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001. Einen systematischen Blick auf das Genre wirft Christoph Friedrich, Briefe im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Quelle. Dargestellt am Beispiel des Briefwechsels des Apothekers A.P.J. Menil (1777 – 1852), in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 14 (1991), S. 181 – 195. 22 Zum Briefschreiber Ritter vgl. Klaus Schwabe/Rolf Reichardt (Hg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard am Rhein 1984; sowie die umfangreiche, auch diesen Aspekt hinreichend behandelnde Biographie von Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter, Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001. Zu Tellenbach siehe Gerd Tellenbach, Aus erinnerter Zeitgeschichte, Freiburg 1981. 23 Als kleine, ihres Eklektizismus bewusste Auswahl von wissenschaftlichen Untersuchungen von Briefen von Dichtern und Schriftstellern des 19. Jahrhunderts seien hier angeführt Sabine Oehring, Spuren verlorener Briefe Clemens Brentanos aus den Jahren 1808 – 1812, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1995, S. 90 – 117; Edda Pohlheim (Hg.), Marie von Ebner-Eschenbach. Briefwechsel mit Theo Schücking. Frauenleben im 19. Jahrhundert, Tübingen 2001; Wolfgang Rasch (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Levin Schücking 1838 – 1876, Bielefeld 1998; Levin Ludwig Schücking, Vier Briefe Justinus Kerners an Levin Schücking. Mit ungedruckten Versen und einer Zeichnung, in: Nord und Süd 87 (1898), S. 106 – 118; Levin Ludwig Schücking, Sechs Briefe Heinrich Christian Boies, in: Euphorion 8 (1901), S. 659 – 676; Holger Schwinn, Kommunikationsmedium Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano in den Jahren 1801 bis 1816, Frankfurt am Main 1997; Christa Stöcker, Die Korrespondenz zwischen Heinrich Heine und Franz List. Mit einem ungedruckten Brief Heines, in: Jochen Golz (Hg.), Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896 – 1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv, Köln 1996, S. 337 – 346; Michael Wetzel, Private dancer. Korrespondenzen zwischen Bettine Brentano, Goethe und anderen, in: Athenäum 5 (1995), S. 71 – 99; oder Winfried Woesler (Hg.), Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe, 13 Bde., Tübingen 1980 – 2000, worin die Briefe an und von der Droste den Großteil ausmachen.

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nachrichten-Kommunikation stammenden Satzzeichenkombinationen, die Gefühlszustände verbildlichen sollen. Diese ersetzen in der syntaktischen verknappten Handykommunikation die konventionelle Gefühlsbeschreibung des Briefzeitalters, sind dabei aber nicht weniger konventionell als die Sprachregelungen des 19. Jahrhunderts. So wundert es nicht, dass man die Nuancierungen zwischen :( und =( nur noch mit Hilfe von tabellarischen Übersichten verstehen kann24, deren Vorgänger getrost in der breiten Kniggeliteratur des 19. Jahrhunderts gesucht werden können. Diese behandelte neben Tanzschritten und Bekleidungsregeln schließlich auch Briefkonventionen und inkorporierte damit die zuvor besonders bei Studenten verbreiteten »Briefsteller«. Briefsteller waren im 17. und 18. Jahrhundert eine eigene Kategorie der Ratgeberliteratur gewesen, die sich allein dem Briefeschreiben widmete und sowohl den noch unkundigen wie auch den fortgeschrittenen Schreiber über die do’s und dont’s der Form- und Inhaltsvorgaben beim Briefeschreiben belehrte25. Mit der Ausweitung der schreibenden Kreise im Laufe des 19. Jahrhunderts wanderten die Inhalte der Briefsteller als fester Teil der Benimm- und Anstandsregeln in die breit rezipierte Kniggeliteratur. Bis weit ins 20. Jahrhundert26 hinein existierte der Briefsteller jedoch auch noch weiter als eigene Kategorie innerhalb der Ratgeberliteratur. Einleitend findet sich etwa in einem Beispiel aus dem Jahr 1875 die schöne Formulierung, wonach das Buch neben dem Unterrichtsgebrauch auch »dem aus der Schule Entlassenen und dem Bürger ein Rathgeber bei Abfassung aller in seinem Kreise nöthigen Briefe und Geschäftsaufsätze« sein solle. Und weiter : »Briefeschreiben ist heutzutage eine unumgänglich nothwendige Kunst; die Fähigkeit, seine Gedanken kurz und klar, deutlich und fehlerfrei niederzuschreiben, muß ganz entschieden jeder, sei er wer immer, erlernen – und wer nicht vorwärts geht, geht rückwärts!«27 24 Vgl. das Piktogramm Nr. 201 in: So geht das! Das ultimative Anleitungsbuch. 500 Dinge und wie man sie macht, Rastatt 2009. 25 Reinhard M. G. Nickisch, Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474 – 1800), Göttingen 1969. 26 Schreibtipps und stilistisch saubere Wendungen konnte der Verfasser als Schüler in der DDR der 1980er Jahre auch dem weitverbreiteten Buch »Briefe an Freunde – @Ybm]Q UadXmp], Berlin (Ost) 1987« entnehmen. Dieser Briefsteller ganz eigener Art sollte die im Russischunterricht vermittelten Brieffreundschaften erleichtern und so schon den jüngsten Bürgern persönliche Kontakte zu gleichaltrigen Angehörigen des russisch sprechenden und schreibenden Brudervolkes möglich machen und damit dauerhaft die deutsch-sowjetische Freundschaft fördern. Die sozialistische Theorie scheiterte allerdings in den meisten Fällen an der Schreibfaulheit ostdeutscher und osteuropäischer Jugendlicher. Geahnt hatten das die Macher des agitatorischen Bändchen wohl von Anbeginn: In das Kapitel III nahmen sie ganze neun Entschuldigungsformeln für verspätete Antworten auf! 27 Alois Josef Ruckert, Briefsteller für Volks- und Fortbildungsschulen. Anleitung zum richtigen Briefschreiben mit mehr als 200 ausgearbeiteten Briefen und Geschäftsaufsätzen,

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Das Briefescheiben unterlag also formellen und stilistischen Konventionen, die von den meisten Schreibern eingehalten und je nach Adressat angepasst wurden. Man schrieb Briefe also nicht als spontanen Akt, nicht ad hoc, sondern als eine, einem fest umrissenen Set von Spielregeln unterworfene Mitteilungsform, die wohlüberlegt ad hominem umgesetzt wurde28. Wie selbstverständlich und wie oft an die unterschiedlichsten Korrespondenzpartner geschrieben wurde, verdeutlicht das schöne Beispiel der nicht gerade durch Understatement gekennzeichneten Schlußzeile aus einem Brief des Orientalistikprofessors und späteren preußischen Kultusministers Carl Heinrich Beckers an seine Mutter. Der 1876 – also noch im 19. Jahrhundert – geborene, seit 1913 in Bonn lehrende Islamwissenschaftler fügte nach seiner Abschiedsformel am 15. März 1914 ganz profan hinzu: »Dies ist mein 929ter Brief in diesem Jahr.«29 Tatsächlicher Fleiß und bewusste Inszenierung eines selbstbewussten, seine Bedeutung für die Nachwelt ahnenden oder sich eine solche zumindest wünschenden Briefeschreibers gehen hier freilich Hand in Hand. Becker schrieb wie viele seiner Zeitgenossen auch für die Historisierung der eigenen Person, also für das Archiv30. Sicherlich war der familiär, wissenschaftlich und kulturell überdurchschnittlich vernetzte Bildungsbürger Becker eine Ausnahme, aber auch wenn Vielschreiber wie er die Minderheit darstellten, war der Brief im Laufe des 19. Jahrhunderts doch zu der Massenquelle schlechthin für künftige Historiker geworden. Die Tatsache, dass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Briefmarken als den wachsenden Briefverkehr normierende und effektivierende, sichtbar bezahlte Beförderungsgebühren auf Briefen klebten, Briefkästen zum Bestandteil des öffentlichen Raumes wurden und die infrastrukturellen Verflechtungen, die in Jürgen Osterhammels Opus Magnum unter der Kapitelüberschrift »Netze: Würzburg 1875, S. 3 f. Ein Beispiel an großen Briefen der Vergangenheit nehmen, sollten sich auch die Leser von Georg Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 2 Bde., Berlin 1889 – 91, Nachdruck Zürich 1969. 28 Selbstverständlich reizte das Vorhandensein von Konventionen auch zum Unterlaufen derselben, wie etwa zu bewusst benutzten falschen Anreden usw. Diese in Briefen gewitzter Schreiber nicht selten ironisch eingesetzten Regelbrüche bestätigen durch erwartete Entschlüsselung durch den Adressaten die sonstige Akzeptanz der Konventionen umso mehr. 29 Carl Heinrich Becker aus Bonn an seine Mutter in einem Brief vom 15. März 1914, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nachlaß Carl Heinrich Becker. 30 Vgl. zum dem Phänomen der nicht selten erkennbaren Überlieferungsintention bei schreibenden Gelehrten, Künstlern, Politikern usw. den Sammelband Detlev Schöttker (Hg.), Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, München 2008. Siehe dazu auch Detlev Schöttker, Archive der Subjektivität. Modelle brieflicher Überlieferung bei Goethe, Ernst Jünger und Walter Kempowski, in: Ebd., S. 21 – 36, S. 21; sowie am Rande auch Annette Anton, Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995; Baasner (wie Anm. 1), S. 1 – 36; oder Gert Mattenklott, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Deutsche Briefe 1750 – 1950, Frankfurt a.M. 1988, S. 7 – 8.

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Reichweite, Dichte, Löcher«31 behandelt werden, immer engmaschiger wurden, gehören zum Allgemeinwissen und erhellen auch dem Laien den seinerzeitigen Professionalisierungsschub des Briefverkehrs. Schriftliche Kommunikation erfolgte durch die zunehmende Verflechtung der Gesellschaft in einer ganz neuen Quantität und machte durch die Ausweitung der Kontaktnetze die frühe Globalisierung erst möglich bzw. bedingte sich mit dieser gegenseitig. Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand die rasante Entwicklung der Postpraxis von der noch auf der Pferdekraft basierenden Distribution durch das Haus Thurn und Taxis bis ca. 185032 bis zum durchorganisierten Reichspostwesen und dem erst durch Eisenbahnen und Motorschiffe zu seiner Entfaltung gekommenen Weltpostverein unter dem Minister Heinrich von Stephan statt33. Diese Fortschritte im Briefbeförderungswesen korrespondierten nicht nur mit der quantitativen, sondern auch mit der qualitativen Zunahme des Briefeschreibens und damit auch der Verbreitung, Ausweitung und Ausdifferenzierung der Briefkultur. Dabei waren Briefe damals wie heute »performative Akte«. Egal ob Handwerksmeister oder Ministergattinnen zur Feder griffen, jeweils galt es sich selbst auf eine gewünschte Weise in dem willkürlichen Kommunikationsakt zu präsentieren und auf eine klar intendierte Weise ein abwesendes Gegenüber anzusprechen. Wie in der mündlichen Kommunikation war auch die geschriebene Sprache in Briefen ein »Medium bürgerlicher Repräsentationskultur«, in das das jeweils als situativ adäquat angenommene sprachliche Niveau kalkuliert eingebracht wurde34. Zur Briefkultur gehörten deshalb in der aus postmoderner Sicht insgesamt noch stark von Normen und Konventionen geprägten Epoche – wie erwähnt – Kompositionsspielregeln. Das feste Set an Anreden, Einleitungs-, Gruß- und Schlussformeln, also die formalen Eingangs- und Ausgangskonventionen von Briefen. Sie waren Teil des kommunikativen Rüstzeugs, das ein Briefschreiber sicher beherrschen musste. Auf die Veränderungen hin zu unserer teilweise nahezu formlosen Gegenwart, in der »Hallo« oder »Guten Tag« als Formeln der gesprochenen Umgangssprache Eingang in die schriftliche Kommunikation gefunden haben, braucht kaum hingewiesen werden, um den riesigen Unter31 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, Kapitel XIV »Netze: Reichweite, Dichte, Löcher«, S. 1010 – 1055. 32 Vgl. die Standardmonographie zur Geschichte des Hauses Thurn und Taxis und des durch dieses privilegiert durchgeführten Postverkehrs Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen, München 1990. 33 Den rasanten Wechsel des Postverkehrs, nicht erst seit der Reichsgründung, verdeutlichen die Beiträge und Abbildungen des Ausstellungskataloges Klaus Beyrer (Hg.), Kommunikation im Kaiserreich. Der Generalpostmeister Heinrich von Stephan, o.O. 1997. 34 Vgl. diesbezüglich die mündliche Konversation untersuchende Arbeit Angelika Linke, Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1996.

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schied zu den Verbindlichkeiten des Briefzeitalters zu verdeutlichen. Unabhängig ob man Klassen, Schichten, Milieus oder andere soziale Distinktionsklassifikation bevorzugt, wird man im 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen Hierarchien auch in den Anreden in Briefen ablesen können. Einfach an einen »sehr verehrten Herrn« zu schreiben, ggf. noch unter Hinzufügen des akademischen Titels, war in einer Zeit, als noch zwischen einem Herrn und einem Mann oder einer Dame und einer Frau unterschieden wurde, unmöglich. In den Kanzleien und Büros wußten die Sekretäre beim Verfassen der Ausfertigungen von Diktaten und Konzepten genau, welche konkrete Anrede aus dem abkürzenden »Ew. pp.« werden sollte; und private Schreiber kannten die Konventionen in den allermeisten Fällen nicht weniger gut. Falls nicht, konnten sie sich in Ratgebern informieren. Zwar liest man gelegentlich die Ironie heraus, mit der schon die Zeitgenossen die Titulatur-Hierarchisierungen betrachteten: »Je nach dem Stande, der Würde und dem Range, den jemand in der Gesellschaft einnimmt, gibt man ihm verschiedene Benennungen; diese sind die Titel, deren viele bereits abgeschafft oder als nicht mehr zeitgemäß außer Gebrauch gesetzt sind. Aber immerhin gibt’s eitle Leute genug, die sehr titulirt sein wollen, und hat man sich in Acht zu nehmen, hiegegen nicht zu verstoßen.«35

Aber selbst nach diesen spöttischen Zeilen folgten in dem 1875 erschienenen Ratgeber noch vier Seiten mit möglichen Titulaturen vom Kaiser über den Bataillonsarzt bis zur Klosterfrau. Einige Beispiele aus dem Nachlass Otto von Bismarcks zeigen, dass es im streng hierarchisierten Kaiserreich, an dessen Ende Heinrich Mann nicht ohne Grund seinen »Untertan« schrieb, aber auch devote Spielräume gab. So beginnen Briefe an den Reichskanzler u. a. mit den Formeln »Durchlaucht«, »Durchlauchtigster Fürst«, »Durchlauchtigster Fürst! Allergnädigster Fürst und Herr!«, »Durchlauchtigster Fürst! Hochverehrter, hoher Herr!«, »Durchlauchtigster Fürst und Herr! Euer Durchlaucht!« oder »Durchlauchtigster Fürst und Herzog! Gnädigster Fürst, Herzog und Herr!«36. In der bürgerlichen Sphäre waren die gängigen Formeln »Hochwohlgeboren« und »Wohlgeboren«, die in früheren Jahrhunderten dem Adel vorbehalten gewesen waren, im Laufe des 19. Jahrhunderts aber auch immer häufiger in Schreiben an akademisch Graduierte verwendet wurden. Theodor Mommsen wurde etwa von seinem Professorenkollegen Eduard Wölfflin »Herrn Professor Dr. Mommsen Hochwohlgeboren ganz ergebenst«37 angeschrieben. Üblicher 35 Ruckert (wie Anm. 27), S. 16. 36 Bismarcks Antwortschreiben sind wie seine sonstige dienstliche Post in diesem Zusammenhang wenig ergiebig, da der viel beschäftigte Fürst die Anreden, wie eben erwähnt, meist nicht selbst formulierte, sondern nur ein prosaisches »Ew. pp.« schrieb oder diktierte. 37 Rebenich/Franke (wie Anm. 21), S. 666.

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und weniger unterwürfig waren der »Verehrteste«, der »Verehrteste Herr«, der »Hochverehrte Herr«, etwas darunter der »Geehrteste« oder der »Geehrteste Herr«. Das weite Feld der Übersetzung von Titeln, also der (wirklichen) Geheimen Räte, Direktoren, Professoren, Assessoren in die dazugehörigen Anreden (»Geehrtester« usw.) wirkt auf uns Nachgeborene so kompliziert, dass man scheinbar die Protokollausbildung des Auswärtigen Amtes durchlaufen haben muss, um die Anredespielregeln verstanden und verinnerlicht zu haben. Stilistisch breiter und weniger genormt waren die Verabschiedungsmöglichkeiten also die Schlussformeln. Häufig waren Partizip-I-Konstruktionen wie »Auf Deine Antwort hoffend« , »Ihnen von Herzen dankend« oder etwa – wieder an Bismarck – »ersterbend«. Nach diesen Satzanfängen ging es nicht selten weiter mit »verbleibe ich Ihr….«, »schließe ich als Ihr…« oder profaner »bin ich Ihr«, »ganz ergebener…«, »treuer…«, »treuer Diener…«. Vielfach verwendet wurden auch die Wendungen: »ergreife ich gern diesen Anlaß zur erneuten Versicherung meiner Hochachtung«38, »verbleibe ich mit der Hoffnung…«, oder »verbleibe ich als …«. Vor oder nach dem ganz ähnlichen »bin ich Ihr« las der Empfänger häufig starke Ausdrücke wie »Ehrerbietigst« »Hochachtungsvoll«, »Hochachtungsvoll ergebenst«, »Verehrungsvoll«, »Verehrungsvollst«, »gehorsamst«, »allzeit getreu«, »dankbar« oder, heute schon fast den Straftatbestand des Stalkings erfüllend, »in starker Anhänglichkeit« oder etwas milder »in unauslöschlicher Dankbarkeit«, »in tiefster Ehrfurcht verharrend«, oder in der Langversion »in treuer und aufrichtiger Ergebenheit, Liebe und Verehrung bis zum Tode«39. Allerdings wurden abseits des offiziellen Schreibgebrauchs auch die uns heute noch vertrauten Formeln, »Liebe […], Dein […]« benutzt. Denn obwohl das 19. Jahrhundert noch unübersehbar von überkommenen höfischen Umgangsformen geprägt war, zu denen trotz der langsamen Ausbildung der zivilen Bürgergesellschaft im wilhelminischen Obrigkeitsstaat sogar noch neue hierarchisch-autoritäre und militärische Züge traten, wäre es völlig unzureichend, die Epoche mit dem Bild einer Kadettenanstalt wiedergeben zu wollen. Einfache, modern anmutende Formeln wie »Herzliche Grüße« oder »Beste Grüße Deines« oder »Ihres« sowie das schlichte »Lebe wohl« finden sich fast ebenso oft wie heute. In Wegfall geraten sind in unserer Gegenwart jene französischen Anreden, die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch noch üblich waren. Man gefiel sich, wenn auch nicht mehr so stark wie im 17. und 18. Jahrhundert, beim Schreiben von 38 Der General-Consul des Norddeutschen Bundes in New York in einem Brief vom 22. Juni 1870 an Alfred Schücking in Washington, in: Westfälisches Literaturarchivamt im Westfälischen Archivamt Münster, Nachlass Schücking, Best. 1010, Alfred Schücking, Nr. 22. 39 Die Beispiele stammen aus dem Bestand »Huldigungsbriefe« im Bismarck-Nachlass, Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung.

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»Ma chÀre…«, »Cher…« oder »Sire…«. »õ bientút«, »— Dieu« (Gott befohlen) wurden aber nicht selten schon durch englische Wendungen wie »Dear…« oder »Yours« verdrängt, ohne dass man allerdings schon beim heutigen »Hi« angekommen wäre.

Abb. 4: Briefpapier für Kinder, Vorderseite eines Briefbogens, an Emma Becker (1868 – 1922), aus dem Jahr 1896 (Privatbesitz Gustav Michaelis, Ulla bei Weimar)

Über oder neben den Anreden befand sich auf Briefbögen vielfach der eingedruckte Namenszug des Schreibers. Die zahlreichen gängigen Variationen von erhaben eingeprägten Initialen bis farbig eingedruckten Namenszügen mit oder ohne die Absenderadresse am Kopfende des ersten Schreibogens verdeutlichen das gesellschaftlich-kommunikative Gewicht, welches man dem Medium Brief beimaß. Durch die Mechanisierung der Papierherstellung und den Zuwachs des Schriftverkehrs wurden vorher unbekannte Produktionsquoten erreicht, so dass das 19. Jahrhundert zweifellos den Höhepunkt der standardisierten Briefbeschreibstoffe zwischen Feldpostbögen und handgeschöpftem Büttenpapier

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darstellt. Dass zu den Briefbögen auch in Farbe, Papierstärke und ggf. aufgeprägten Namenszügen abgestimmte Kuverts gehörten, verstand sich für die Schreiber von selbst und eröffnete einer eigenen Designsparte Verdienstmöglichkeiten. Die erst am Ende des 20. Jahrhunderts von den Büromaterialmärkten aufgesogenen Schreibwarenläden manifestierten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Ausdifferenzierung in einem kaufmännisch tragfähigen Sortiment.

Abb. 5: Vorderseite eines Briefbogens, Paulus Modestus Schücking aus Bremen an seine Tochter Pauline, Palmsonntag 1850 (Literaturarchiv im Westfälischen Archivamt Münster, Nachlass Schücking, Best. 1010)

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Unterhalb der Ebene von Briefen und Karten fanden ab den 1880er Jahren auch die zunächst nur militärisch genutzten Telegramme als Kurzbriefe Eingang in die Sphäre des privaten Schreibens. Telegramme blieben aber wie bis in die jüngste Vergangenheit die Ferngespräche verhältnismäßig teuer und wurden daher, bis sie in den späten 1980er Jahren verschwanden, nur zu besonderen Anlässen verwendet, etwa um huldvoll an Bismarck zu schreiben.

Abb. 6: Telegramm der Ober-Prima der Dreikönigsschule Dresden an den in Bad Kissingen weilenden Otto von Bismarck, Juni 1892 (Bismarck-Nachlass, Archiv der Otto-von-BismarckStiftung, Friedrichsruh)

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Das Briefeschreiben war eine elementare Form gepflegten gesellschaftlichen Umgangs. Als einzige Möglichkeit des Informationsaustauschs von einem Ort zum anderen war es zwischen zwei oder mehreren Briefpartnern ein ständig perpetuiertes schriftliches Gespräch, bei dem nur die Pausen variierten. Das Empfangen und rasche Beantworten eines Briefes war den Zeitgenossen fast so wichtig wie die echte Konversation. Es bestimmte die eigene soziale Eingebundenheit und damit den Status innerhalb einer Kommunikations- d. h. Konversationsgruppe. Briefe dienten der gediegenen Unterhaltung, beileibe nicht nur dem Nachrichtenaustausch. Das heute ungebräuchlich gewordene Wort Plauderbrief charakterisiert diese Funktion40. Wie in einer mündlichen Kommunikation kam es aber auch im schriftlichen Austausch zu Stockungen, zu Verschiebungen, dazu, dass einer häufiger schrieb als der andere und – das ist Bestandteil fast jeden Briefwechsels – zu Klagen über ausbleibende Antworten, nicht nur zwischen Liebenden41. Und diese Klagen waren, ist man sich unseres Informationsüberflusses durch Radio, Fernsehen, Internet und deren neuester Omnipräsenz auf den immer am Mann oder an der Frau befindlichen SmartPhones bewusst, durchaus berechtigt. Briefe befriedigten wie die mehrmals täglich erscheinenden Zeitungen die wachsende Neugier der sich medial beschleunigenden Welt und verhinderten Langeweile. Sie dienten also der Unterhaltung und, wie in jeder gehobenen Unterhaltung, waren die Gesprächspartner an einer möglichst gewinnenden Präsentation ihrer selbst interessiert42. Dass in einer Zeit, als die alten Sprachen noch fester Bestandteil der Bildungskanons waren, nicht nur Gelehrtenbriefe zwischen Professoren vor Latinismen und Graecismen strotzten, wie es heute allerorten mit Anglizismen zu beobachten ist, wundert da nicht. 40 Vgl. zur unterhaltenden Funktion von Briefen die Ausführungen bei Bürgel (wie Anm. 15), S. 281 – 297. 41 Vgl. allgemein Renate Stauf (Hg.), Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin-New York 2008. Briefe dienten sowohl der Eheanbahnung (vgl. Muschler, wie Anm. 5), verkürzten also die Verlobungszeit, als auch der überlokalen Kommunikation von im immer mobiler werdenden 19. Jahrhundert räumlich öfter voneinander getrennten Ehepartnern. Zur stilistischen und inhaltlichen Bandbreite von Briefen zwischen Liebenden vgl. in Auswahl die edierten Briefwechsel Michael Epkenhans (Hg.), Mein lieber Schatz! Briefe von Admiral Reinhard Scheer an seine Ehefrau. August bis November 1918, Bochum 2006; Ursula Herrmann (Hg.), August und Julie Bebel. Briefe einer Ehe, Bonn 1997; Ludger Lütkehaus (Hg.), Die Schopenhauers. Der Familien-Briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und Johanna Schopenhauer, Zürich 1991. 42 Vgl. zur Intensität und Intimität des Schreibens beispielsweise Reinhold Muschler (Hg.), Briefe von Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking, Leipzig 1928; Barbara Breysach, »Die Persönlichkeit ist uns nur geliehen«. Zu Briefwechseln Rahel Levin Varnhagens, Würzburg 1989; Jutta Desel/Walter Gödden (Hg.), Katharina Busch-Schücking 1791 – 1831. Werke und Briefe, Bielefeld 2005; Margarete Dierks, »…denn sie ist ganz natürlich«: Louise von Gall. Aus Biographie, Briefen und Werken. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 1996.

Briefkultur in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts

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Abb. 7: Brief dreier Leipziger Studenten in griechischer Sprache an Otto von Bismarck, Johannistag 1892 (Bismarck-Nachlass, Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh)

Abgesehen von den Stilmitteln findet sich in den oft engbeschriebenen Seiten der Briefwechsel soviel, mal mehr, mal weniger kunstvoll aufbereitete Information, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die heute vor allem in der anglophonen Welt noch beliebte, eigene Biographieform »Life and Letters« herausbildete43. Wollte man einen Menschen biographisch proträtieren, 43 Vor allem im englischsprachigen Wissenschaftsraum ist »Life and Letters« eine seit jeher anerkannte biographische Annäherungsform, deren hauptsächlicher Nachteil, der aus der Perspektive nur einer Quellengattung verengte Blick auf die Persönlichkeit, dort stets weniger wog als der Vorteil des besonders intensiven, »authentischen« Blicks aus der nahesten Nähe. Deutsche Germanisten und Historiker hingegen stellen auffällig oft hervor, dass das aus den Schreiben einer Person gewonnene biographische Wissen immer nur eine Sedimentschicht von vielen ist, vgl. etwa die diese Einschränkung schon in ihren Titel aufgreifenden Arbeiten Paul Raabe, Die Briefe Hölderlins. Studien zur Entwicklung und Persönlichkeit des Dichters, Stuttgart 1963; Hans-Joachim Fortmüller, Clemens Brentano als

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griff man posthum in seine Briefkiste44. Die gedruckten Briefwechsel prominenter Zeitgenossen spielten dabei mit der Neugier des Lesepublikums, wie es im 18. Jahrhundert die Briefromane getan hatten, die jedoch von Tagebuchromanen und den fingierten Autobiographien verdrängt worden waren. Trotz der Vernichtung durch Kriege, Flucht und Vertreibung oder den schnöden Papierfraß sind in Deutschland und Europa Berge von Briefen erhalten45. Auch und besonders jene mit heiklem Inhalt, die mit Formulierungen schlossen, wie »lassen Sie [mich] wissen, […] ob [dieser Brief] in Ihre Hände gekommen ist, und dann noch die Bitte, ihn gleich zu vernichten.«46 Sie warten darauf erschlossen zu werden. Es vergeht kein Monat, in dem nicht Arbeiten erscheinen, die auf neuentdeckten oder unter neuen Fragestellungen durchgearbeiteten Briefkonvoluten beruhen, und unser Bild von dem Jahrhundert erweitern, das in der schönen Osterhammelschen Formulierung »die Welt verwandelt« hat. Hier wurden die Weichen gestellt, für das unser Bewusstsein noch lange prägende, katastrophenreiche 20. Jahrhundert, das auf dem bürgerlichen 19. sattelt und ohne vertiefte Kenntnisse von diesem nicht zu verstehen ist. Das Medium Brief gehörte elementar zur bürgerlichen Gesellschaft und verdient ungeachtet seiner Inhalte stärkere Beachtung durch die historische Forschung. Briefschreiber, Frankfurt am Main 1977; Liselotte Reber-Liebrich, Hebel als Briefeschreiber, in: Basler Hebel-Stiftung (Hg.), Johann Peter Hebel. Wesen, Werk, Wirkung, Basel 1990, S. 67 – 81; Helmuth Nürnberger, Fontanes Briefstil, in: Wolfgang Frühwald/Hans-Joachim Mähl/Walter Müller-Seidel (Hg.), Probleme der Briefedition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schloß Tutzing am Starnberger See 8.–11. September 1975, Boppard 1977, S. 163 – 186; Breysach (wie Anm. 42); oder Manfred Schoencke, Karl und Heinrich Marx und ihre Geschwister. Lebenszeugnisse, Briefe, Dokumente, Bonn 1993. Im 19. Jahrhundert selbst waren »Life and Letters«-Annäherungen auch im deutschen Sprachraum eine verbreitete und publikumswirksame Veröffentlichungsform, vgl. etwa Wilhelm Bucher (Hg.), Ferdinand Freiligrath. Ein Dichterleben in Briefen, 2 Bde., Lahr 1888; Theo Schücking (Hg.), Briefe von Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking, Leipzig 1898, oder die ungezählten Bände mit Bismarck-Briefen. 44 Die Wissenschaft tut das unter Einhaltung strenger editorischer Standards ja noch heute. Vgl. etwa Hans-Georg Aschoff/Heinz-Jörg Heinrich (Bearb.), Ludwig Windthorst. Briefe 1834 – 1880, Paderborn 1995; Hans-Georg Aschoff (Bearb.), Ludwig Windthorst. Briefe 1881 – 1891. Um einen Nachtrag mit Briefen von 1834 bis 1880 ergänzt, Paderborn 2002; Alfred Doppler, Adalbert Stifter als Briefschreiber. Dargestellt vor allem an den Briefen an Amalia Stifter, in: Werner M. Bauer/Johannes John/Wolfgang Wiesmüller (Hg.), »Ich an Dich«. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen, Innsbruck 2001, S. 133 – 146. 45 Eine Schätzung des in privaten und öffentlichen Archiven aufbewahrten Briefbestandes aus dem 19. Jahrhundert ist unmöglich. Schon eine vollständige Bibliographie der in verschiedenen wissenschaftlichen oder künstlerischen Aspekten als besonders aussagekräftig befundenen und daher gedruckten Briefe wäre eine herkulische Aufgabe, an die sich seit mehr als 40 Jahren niemand mehr gewagt hat. Vgl. zuletzt Fritz Schlawe, Die Briefsammlungen des 19. Jahrhunderts. Bibliographie der Briefausgaben und Gesamtregister der Briefschreiber und Briefempfänger 1815 – 1915, Stuttgart 1969. 46 Katharina Schücking an Anton Mathias Sprickmann in einem Brief vom 9. November 1821, in: Desel/Gödden (wie Anm. 42), S. 220 – 223, Zitat 223.

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Die Universität Bonn im 19. Jahrhundert

Johann Gildemeister, der weitgereiste sprachgewandte Protestant, kam in seinem Leben dreimal ins kleine katholische Bonn, das so ganz anders war als seine bremische Heimat, einmal als Student, dann nach seinem Auslandsaufenthalt als Habilitand und ein letztes Mal als hochdotierter Ordinarius. Bonn wurde gewissermaßen sein Schicksal, auch wenn es nicht der Charme der ehemaligen kurfürstlichen Residenzstadt am Rhein war, der ihn anzog, sondern die kosmopolitische Welt der Wissenschaft. Bonn hat es dem jungen Studenten, der von der hochgeachteten und anerkannten Georgia Augusta in Göttingen kam, zunächst einmal nicht einfach gemacht. Eine Bleibe fand er, wie fast alle neu eintreffenden Studenten, in der Josephstraße, die sich in der Nähe der heutigen Kennedy-Brücke im rechten Winkel vom Rhein fortbewegt. Auch Karl Marx oder Heinrich Heine haben in ihrem ersten Bonner Semester dort gewohnt1. Seine »Kneipe«, wie Gildemeister sein möbliertes Zimmer in guter Studentenmanier bezeichnet, liege ziemlich weit vom Universitätsgebäude entfernt2. Dabei sind es zu Fuß damals wie heute nicht einmal fünf Minuten, die man zu gehen hat. Aber es mag die Ernüchterung über seine neue Wahlheimat gewesen sein, die ihn zu einem solchen Fehlurteil

1 Zu den Studentenbuden in der Josephstraße s. Hans-Henning Herzberg/Dietrich Höroldt, Stadtraum und Universität, in: Dietrich Höroldt (Hg.), Stadt und Universität. Rückblick aus Anlaß der 150-Jahr-Feier der Universität Bonn, Bonn 1969, S. 133 – 213, hier S. 193 – 213. Zu Marx s. Ingrid Bodsch, Karl Marx und Bonn 1835/36 und 1841/42, in: Ingrid Bodsch (Hg.), Dr. Karl Marx. Vom Studium zur Promotion – Bonn, Berlin, Jena. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Stadt-Museums Bonn in Kooperation mit dem Archiv der Friedrich-SchillerUniversität Jena, Bonn 2012, S. 9 – 28, hier S. 10. Zu Heine s. Ingrid Bodsch, Heinrich Heine und die Bonner Universität bei Aufnahme seines Studiums im WS 1819/20, in: Dies. (Hg.), Harry Heine stud. juris in Bonn 1819/29. Zum ersten Studienjahr Heinrich Heines (1797 – 1856) und zur Bonner Stammbuchblätterfolge von ca. 1820 des stud. med. Joseph Neunzig (1797 – 1877), Bonn 1997, S. 9 – 35, hier S. 12. 2 Gildemeister-Brief 1834 – 06 (25. 04. 1834)

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verleitet, denn Bonn stehe, so klagt er seinen Eltern in seinem Brief, »hinsichtlich der Bequemlichkeit, die hier geboten wird, weit hinter Göttingen zurück«3. Bonn hatte zum Zeitpunkt von Gildemeisters Immatrikulation 1834 seine glanzvollen Zeiten als Residenzstadt weit hinter sich. Die Stadt war durch den Zusammenbruch des kurkölnischen Staates 1794 in seiner wirtschaftlichen Entwicklung schwer getroffen worden. Verfall und Verarmung waren die Folgen4. Das Bonner Gewerbe blieb in der Franzosenzeit weitgehend vom Handwerk bestimmt, Industrien siedelten sich auch später nicht an. In den Jahrzehnten vor der Revolution nahm die Zahl der einfachen Handwerker immer mehr zu, doch hatten die meisten nur wenig Einkommen. Bei der Gewerbesteuerveranlagung von 1840 wurden von insgesamt 672 Betrieben in der Stadt nur 237 berücksichtigt5. Bei den Kaufleuten hatte die Konsolidierung der Stadt seit der preußischen Regierungsübernahme die Geschäfte stabilisiert, was sich aus den Steuerlisten ablesen lässt6. Der wieder ansteigende Wohlstand der Stadt hing daher im Verlauf des 19. Jahrhunderts von zwei Faktoren ab. Das eine war der aufkeimende Tourismus durch die Rheinromantik, die vor allem zahlungskräftige Engländer nach Bonn zog. Der andere und wirtschaftlich bedeutendere Faktor war die Gründung der Universität. Professoren und Studenten sorgten für mehr als ein Viertel des Gesamtumsatzes in der Stadt. Dabei war die Institution noch sehr klein. Von den ca. 16.000 Einwohnern, die Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts in Bonn wohnten, stellte die Universität nur etwa 600 Studenten und ca. 100 Dozenten, die zusammen jedoch ca. 300.000 Taler an Gehältern und Wechseln der städtischen Wirtschaft zuführten7. 3 Ebd. 4 Der spätere Bonner Professor für Chirurgie Carl Wilhelm Wutzer erlebte die Stadt 1814 als Regimentsarzt der heranrückenden Preußen; er urteilte damals: »die uns auf den Straßen begegnenden Einwohner erschienen uns im Verhältnis zum Umfang der Stadt und der Zahl nach spärlich; im äußeren Auftreten zeigten viele unter ihnen etwas auffallend Gedrücktes. Mit einem Wort – die Stadt befand sich im augenfälligsten Zustand des Rückschritts.« Carl Wilhelm Wutzer, Über die Salubritätsverhältnisse der Stadt Bonn, in: Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande und Westfalens 15 (1858), S. 211 – 282, hier S. 216. 5 1849 gab es in Stadt und Kreis Bonn 20 Brennereien und Ziegeleien, 3 Hüttenwerke mit insgesamt 217 Arbeitern, 3 Porzellan-Fabriken mit 167 Arbeitern, 4 chemische Betriebe mit insgesamt 59 Arbeitern. Dies muß ins Verhältnis gesetzt werden zu einer Gesamtzahl von 55.872 Einwohnern, davon ca. 16.000 in Bonn selbst. S. dazu Dietrich Höroldt, Bonn im Vormärz und in der Revolution (1814 – 1849), in: Dietrich Höroldt (Hg.), Bonn. Von einer französischen Bezirksstadt zur Bundeshauptstadt (1794 – 1989) (Geschichte der Stadt Bonn IV), Bonn 1989, S. 73 – 186, hier S. 109. 6 Ebd. S. 112. 7 Nach dem Rechenschaftsbericht des Rektors Friedrich van Calker zur Rektoratsübergabe am 14. 12. 1848 waren im WS 1846/47 671 und im SS 1847 676 Studenten eingeschrieben. Im WS 1847/48 stieg die Zahl auf 701 und im SS 1848 auf 734 Studenten. Universitätsarchiv Bonn (künftig zitiert als UAB), Rektorat U 15; vgl. Max Braubach, Bonner Professoren und Stu-

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Was war das für eine Universität, die einen evangelischen Kaufmanns-Sohn ins katholische Rheinland zog? Bonn war zum Zeitpunkt von Gildemeisters Immatrikulation eine der jüngsten deutschen Universitäten. Sie war eine Frucht der Befreiungskriege, auch wenn die Universität Bonn, anders als ihre ältere Schwester Berlin, nicht unmittelbar aus den Kriegsnöten heraus geboren war8. Berlin war das Ergebnis der preußischen Reformwut, die nach der katastrophalen Niederlage gegen Napoleon in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt zu einem beispiellosen gesellschaftlichen Umbauprogramm gehörte, mit dem Männer wie Stein oder Hardenberg durch rigorose Modernisierung von Staat und Gesellschaft die enormen Verluste des Friedens von Tilsit zu kompensieren versuchten. Bekanntlich hatte der Abteilungsleiter im preußischen Innenministerium, Wilhelm von Humboldt, in nur wenig mehr als einem Jahr den Geist dieser Reformen in den Bildungssektor getragen. Es ist hier nicht die Stelle, darüber zu raisonnieren, ob es sich bei der viel gepriesenen »Humboldt’schen Reform« um eine eigene Schöpfung oder um ein Konglomerat von vorher schon fertigen Reformideen von Fichte, Schelling, Savigny und vor allem Schleiermacher handelte. Mit der preußischen Universitätsreform verhält es sich nämlich wie mit dem Ei des Kolumbus: Es kommt nicht darauf an, darüber nachzusinnen, wie man das Universitätswesen reformieren kann, es kommt darauf an, es zu tun. Und dass Humboldt in Berlin beherzt diese Reform durch Zusammenfassung des Forschungsimperativs der Akademie mit dem Ausbildungsauftrag der Universität in die Tat umsetzte, ist ja eigentlich bis heute nicht strittig. Was dagegen durchaus heute weitaus kritischer gesehen wird, ist die Breitenwirkung dieser Humboldt-Schleiermacherischen Reform9. denten in den Revolutionsjahren 1848/49, Köln/Opladen 1967, S. 11. Eine Übersicht über die Entwicklung der Studentenzahlen bei Paul Metzger, Die Studenten- und Einwohnerzahlen, 1821 – 1968, in: Höroldt (wie Anm. 1), S. 346 – 350. 8 Rüdiger vom Bruch, Die Gründung der Berliner Universität, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Humboldt international. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, S. 53 – 73. 9 Die Zahl der Beiträge zu diesem Thema nimmt ständig zu. Hier nur einige Titel in Auswahl: Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Universitäten, Wien 1999; Sylvia Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183 – 205; Dies., Verbreitete sich ein ›Humboldt’sches Modell‹ an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert?, in: Schwinges (wie Anm. 8), S. 75 – 104; Dieter Langewiesche, Die ›Humboldtsche Universität‹ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universitäten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53 – 91; Ders., Das deutsche Universitätsmodell und die Berliner Universität, in: Ilka Thom/Kirsten Weining (Hg.), Mittendrin. Eine Universität macht Geschichte. Eine Ausstellung anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 24 – 33; Ders., Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011) S. 15 – 37; Martin Eichler, Die Wahrheit des Mythos Humboldt, in: Historische Zeit-

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Schaut man aber einen Moment genauer hin, zeigt sich, dass die Berliner Gründung nicht alleine geblieben ist. In einem Zug mit Berlin wurden zwei weitere preußische Universitäten gegründet, die beide gemeinsam mit Berlin in einer bestimmten Epoche ihrer Geschichte den Namen »Friedrich-WilhelmsUniversität« trugen: Breslau und Bonn10. Breslau war gleich nach Berlin im Jahre 1811 gegründet worden, nicht mehr als patriotische Großtat, um, wie es im berühmten Königswort von Memel heißt, durch die geistigen Kräfte zu ersetzen, was er an physischen verloren habe, sondern als pragmatische Entscheidung, in einer räumlich günstigen Verteilung zu den anderen Standorten Berlin und Königsberg eine weitere Ausbildungsstätte zu errichten11. Dass dieser neuen schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität die altehrwürdige Viadrina in Frankfurt an der Oder geopfert wurde, hat in Berlin damals genau so wenig Bedauern hervorgerufen wie die wenige Jahre später erfolgte Aufgabe von Duisburg zugunsten Bonns. Bonn nämlich war die dritte dieser preußischen Reformuniversitäten, die in einem Zuge gegründet worden waren. Sie war nicht aus einer pragmatischen Beamtenerwägung erwachsen und noch weniger eine Frucht des patriotischen Wiederaufbauwillens der preußischen Reformzeit. Sie war vielmehr der Gegenstand einer groß angelegten Public Relations-Geste des preußischen Königs. Nachdem die Diplomatie des Wiener Kongresses die ehemaligen rheinischen Fürsten- und Kurfürstentümer dem Königreich Preußen zugeschoben hatte, das eigentlich gar kein Interesse daran gezeigt hatte, war es nun am König, seinen rheinischen Untertanen mit einem Versprechen entgegen zu kommen, das ihre ablehnende Haltung dem neuen Landesherrn gegenüber zu überwinden half. Und so versprach König Friedrich Wilhelm III. schon in der Urkunde, mit der er seine Besitzergreifung der rheinischen Gebiete bekundete, seinen neuen Untertanen die Errichtung einer eigenen Universität12. Nun ist es nicht so, dass das Rheinland in der Vergangenheit keine Universitäten gehabt hätte. Die Kölner Alma Mater war sogar eine der ältesten auf deutschem Boden gewesen. Aber die Franzosen hatten während ihrer fast 20jährigen Herrschaft alle linksrheinischen Hochschulen geschlossen, und die schrift 294 (2012), S. 58 – 78; Markus Huttner, Der Mythos Humboldt auf dem Prüfstand. Neue Studien zu Wirklichkeit und Wirkkraft des (preußisch-)deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ders., Gesammelte Studien zur Zeit- und Universitätsgeschichte, Münster 2007, 219 – 230. 10 Thomas Becker, Diversifizierung eines Modells? in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010, S. 43 – 69. 11 Ebd. S. 46 – 49. 12 Kurt Düwell, Das Schul- und Hochschulwesen der Rheinlande, in: Franz Petri/Georg Droege, Rheinische Geschichte in drei Bänden, Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1979, S. 465 – 552, hier S. 499.

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einzig verbliebene rechtsrheinische Universität in Duisburg war bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft und praktisch nicht mehr vorhanden13. Die Rheinländer nahmen die Nachricht von der bevorstehenden Universitätsgründung auch begeistert auf. Es entstand ein heftiger Konkurrenzkampf unter den rheinischen Städten um den Standort der künftigen preußischen Rhein-Universität, den Bonn schließlich für sich entscheiden konnte. Ganz wesentlich spielte dabei das Vorhandensein zweier großer Schlösser eine Rolle, die dem Staat gehörten und völlig ungenutzt waren. Sie boten das Potential, das nötig war, um eine Universität zu schaffen, wie sie den Beamten im preußischen Kultusministerium vorschwebte, das nun als neue Errungenschaft der preußischen Staatskunst die Geschicke der Bildung lenkte14. Der Kultusminister Altenstein, der zweifellos auch eigene Vorstellungen von Universitätsreform und Hochschulbildung entwickelte, blieb anders als Humboldts unmittelbare Nachfolger den Humboldtschen Ideen einer forschungsorientierten und auf wissenschaftlicher Leistung aufbauenden Universität verpflichtet. Auch wenn es nicht gelang, den Mathematiker Gauss oder die Brüder Grimm nach Bonn zu holen, so gelang Altenstein es doch, mit August Wilhelm Schlegel, Barthold Georg Niebuhr oder dem Botaniker Christian Daniel Nees von Esenbeck glänzende Wissenschaftler nach Bonn zu locken, die durchaus in der Lage waren, begabte junge Männer an den Rhein zu ziehen, die hier die wissenschaftlichen Forschungen ihrer Meister durch Spezialisierung und Intensivierung immer weiter zu treiben vermochten15. Gerade in Gildemeisters eigenem Fachgebiet, der Orientalistik, zeigt sich das sehr deutlich mit dem Wirken von Christian Lassen, der sich von den Sanskrit-Studien des Universalgelehrten Schlegel anstecken ließ und sich völlig auf Sanskrit-Studien verlegte16. Ein anderer Schüler Schlegels tat es ihm gleich, nur dass er sich nicht für indische Literatur interessierte, sondern für altfranzösische. Die Rede ist von Friedrich Diez, den man den Erfinder der Romanistik nennt17. Lassen wäre dann gleichsam der Erfinder der Indologie. Die Liste der Begründer von Spezialfächern ließe sich weiterführen. Es ist kein Zufall, dass Gildemeister, der sich allem Anschein nach nicht 13 Thomas Becker, Die Schließung der Universität Duisburg und die Anfänge der Universität Bonn, in: Dieter Geuenich/Irmgard Hantsche (Hg.), Zur Geschichte der Universität Duisburg 1655 – 1818. Wissenschaftliches Kolloquium, veranstaltet im Oktober 2005 anläßlich der Gründung der alten Duisburger Universität (Duisburger Forschungen 53), Duisburg 2007, S. 253 – 269. 14 Becker (wie Anm. 10), S. 51. 15 Christian Renger, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein, Bonn 1982. 16 Willibald Kirfel, Christian Lassen 1800 – 1876, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Sprachwissenschaften, Bonn 1970, S. 296 – 299. 17 Willi Hirdt (Hg.), Romanistik, eine Bonner Erfindung. Teil I. Darstellung. In Zusammenarbeit mit Richard Braun und Birgit Tappert, Bonn 1993.

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wegen der Humboldt’schen Reformideologie nach Bonn gewandt hatte, hier auf Professoren traf, die seinem ungehemmten Forscherdrang entsprachen. Auch wenn bei weitem nicht alle Professoren, die nach Bonn berufen worden waren, die idealistische Auffassung einer »Idee der Universität« teilten, so waren es doch gerade die »Seiteneinsteiger« wie Schlegel oder Niebuhr, die sich ihr Wirken an der Universität nur als Weiterstreben in der Forschung vorstellen konnten. August Wilhelm von Schlegel thematisierte das im Wintersemester 1819/20 in einer Vorlesung »über das akademische Studium«: »Der progressive Geist des Zeitalters in den Wissenschaften muß sich so viel möglich [sic] den Lehranstalten mittheilen. Mitten in der allgemeinen intellektuellen Regsamkeit der heutigen civilisierten Welt, dürfen keine verhärteten Gewohnheiten, kein Schlendrian, kein passives Nachbeten weder bey Lehrern noch Schülern Statt finden. Forschen, denken, prüfen ist die allgemeine Losung. […] Keine hindernden Vorschriften, von Lehrbüchern, von Cursen pp. Ein edler Wetteifer der Lehrenden und Lernenden muß deren Stelle vertreten.«18

Die neue Bonner Universität wurde zunächst vom Berliner Ministerium aus gesteuert. Alle Reglements wurden entweder von der Berliner Universität entlehnt oder direkt vom Ministerium verordnet19. Aber der liberale Kultusminister Altenstein wollte die Universität keineswegs ihrer Autonomie berauben. Er ließ durch den Kurator eine Verfassungskommission einberufen, die den Auftrag bekam, eine eigene Satzung für die Bonner Universität auszuarbeiten, nach der sie sich dann in den gesetzlich gebotenen Grenzen selbst verwalten konnte. In dieser Kommission waren Professoren versammelt, die in den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands gearbeitet hatten und daher zahlreiche Erfahrungen mit unterschiedlichen Universitätsverfassungen hatten. Auch gab das Ministerium keineswegs eine Linie vor, sondern man legte im Gegenteil Wert darauf, dass sich die Kommission Statuten ganz verschiedener Universitäten, vor allem außerhalb Preußens, gründlich ansah. Das zu betonen ist wichtig, denn als die Kommission zusammentrat, hatte sie nichts Eiligeres zu tun als unter einander Kopien der Berliner Statuten zu verteilen, um deren Paragraphen einen nach dem anderen auf die Bonner Verhältnisse anzupassen und zu übernehmen. Die Universität Bonn ist also, was ihren Aufbau und ihre innere Verfassung angeht, ein Spiegelbild der neuen Berliner Universität, und zwar aus freien Stücken, weil die Professoren, die zur Ausarbeitung ihrer grundlegenden

18 Frank Jolles (Hg.), August Wilhelm Schlegel. Vorlesungen über das akademische Studium, Heidelberg 1971, S. 45 f. 19 Karl Theodor Schäfer, Verfassungsgeschichte der Universität Bonn 1818 bis 1960, mit Anhang Bonner Kuratoren 1818 bis 1933 von Gottfried Stein von Kamienski, Bonn 1968, S. 17 – 25.

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Bestimmungen versammelt waren, im Berliner Vorbild das optimale Muster für eine moderne Universität im nachnapoleonischen Zeitalter sahen20. Eine Besonderheit gab es allerdings, in der sich die Bonner Universität vom Berliner Vorbild unterschied, und das war die sogenannte Parität. Gemeint ist damit die Gleichberechtigung der beiden großen christlichen Konfessionen. Genau wie die andere nach Berliner Modell geschaffene preußische Universität, die in Breslau nämlich, erhielt die Universität Bonn zwei Theologische Fakultäten, eine evangelische und eine katholische. Dies war ein Entgegenkommen des evangelisch ausgerichteten preußischen Staates der katholischen rheinischen Bevölkerung gegenüber. Aber die Zugeständnisse gingen noch weiter : Weil der preußische Staat, sozusagen im Gegenzug gegen die wissenschaftliche Freiheit und ökonomische Unabhängigkeit, die sich Humboldt für seine Reformuniversitäten ausbedungen hatte, sich das Prüfungsmonopol bei Gymnasiallehrern, Juristen, Ärzten und Pharmazeuten gesichert hatte, konnte die katholische Kirche für ihre Priesteramtskandidaten keine eigenständige Ausbildung mehr bieten. Auch die angehenden Pfarrer mussten nun auf einer staatlichen Universität studieren, und sie konnten dies nicht nur in den theologischen Fakultäten tun, sondern sie mussten für Kollegien in Philosophie und Kirchenrecht die Dienste der anderen Fakultäten in Anspruch nehmen. Darin sahen die Bischöfe durchaus eine Gefährdung für die Rechtgläubigkeit ihrer Theologiestudenten. Daher wurde den Katholiken von der preußischen Regierung die Konzession gemacht, dass in den paritätischen Universitäten Breslau und Bonn je ein Lehrstuhl in Philosophie und einer in Kirchenrecht mit einem praktizierenden Katholiken zu besetzen sei21. Das sind die sogenannten »Konkordatslehrstühle«, zu denen Ende 19. Jahrhunderts noch einer in neuerer Geschichte hinzukam, damit auch die Lehre von der Reformationszeit den jungen Priesteramtskandidaten nicht in evangelischer Weise eingetrichtert würde22. Am Anfang der Universität war dieser katholische Konkordatslehrstuhl in Geschichte noch nicht vorhanden, das Fach wurde vielmehr neben dem braven und konfessionell eher indifferenten Hüllmann von dem dezidiert evangelischen Publizisten und politischen Feuerkopf Ernst Moritz Arndt vertreten23. Aber 20 Becker (wie Anm. 10), S. 56 – 60. 21 Schäfer (wie Anm. 19), S. 52. 22 Zu den Konkordatslehrstühlen s. Konrad Tillmann, Die sogenannten Konkordatsprofessuren. Geschichtliche Entwicklung und heutige Rechtsproblematik, Freiburg i.Br. 1971; s. auch Stefan Grill, Konfession und Geschichtswissenschaft. Konflikte um die Besetzung und Einrichtung historischer Professuren an der Universität Freiburg im 19. und frühen 20. Jahrhundert, München 2008, S. 36 f. 23 Renger (wie Anm. 15), S. 87. Zu Arndts Engagement in der evangelischen Gemeinde in Bonn s. Günther Ott, Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten, Bonn 1966, besonders S. 241 – 257. Zu Arndt als Publizist s. auch Karl Heinz Schäfer, Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist, Bonn 1974.

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nicht lange. Arndt war noch vor Eröffnung der Universität eingestellt worden und er hatte um ein Haar dafür gesorgt, dass es diese Eröffnung gar nicht gegeben hätte. Mit dem dritten Band seiner Schrift »Geist der Zeit« hatte er nämlich in gerade dem Sommer einen massiven Angriff auf die polizeistaatlichen Züge der preußischen Monarchie gestartet, in dem die Gründung der Bonner Universität vorbereitet wurde. Der König war über Arndts Streitschrift so erbost, dass er von dem ganzen Plan einer neuen Universität gar nichts mehr wissen wollte. Es bedurfte aller Überredungskunst des Kultusministers Altenstein und des Staatsministers von Hardenberg, um den König doch am Morgen des 18. Oktobers 1818 zur Unterschrift unter eine in der Nacht noch schnell verfasste Gründungsurkunde zu setzen24. Die später so renommierte Universität Bonn wurde damit völlig unzeremoniell ohne Eröffnungsfeier oder irgendeinen zeremoniellen oder symbolischen Akt ins Leben gerufen. Nicht einmal einen Namen erhielt sie, denn der König verweigerte ihr das Recht, seinen Namen zu tragen oder gar eine Rektorkette mit seinem Konterfei anfertigen zu lassen. Beides erhielt sie erst Jahre später zugestanden25. Ein Jahr nach diesen peinlichen Gründungsumständen war Arndt ohnehin aus dem Universitätsbetrieb entfernt. Das allerdings hatte nichts mit Bonn zu tun, sondern es war eine Auswirkung der Karlsbader Beschlüsse. Die Ermordung des monarchiefreundlichen Dichters Kotzebue durch den Burschenschafter Sand führte bekanntlich zu den düsteren Zeiten der Demagogenverfolgung. In Bonn gehörte Arndt zu den prominentesten Opfern, da er wegen seiner Schriftstellerei ohnehin unter polizeilicher Beobachtung stand und nun suspendiert und dann für 20 Jahre mit Lehrverbot belegt wurde26. Andere verließen freiwillig den preußischen Universitätsdienst, weil es ihnen in der Maulkorb-Atmosphäre der Demagogenzeit zu eng wurde27. Am meisten getroffen von den neuen Bestimmungen waren aber die Studenten, die sich in Bonn wie an vielen anderen Orten gerade in einer allgemeinen Burschenschaft zusammengetan hatten. Da alle Studentenverbindungen – gleich welcher Art – verboten wurden, konnte sich auch diese erste Burschenschaft nicht halten. Die Burschenschafter, wie auch die sich gleichzeitig etablierenden ersten studentischen Corps, gingen daraufhin in den Untergrund. Für die kommenden zwei

24 Friedrich von Bezold, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität von der Gründung bis zum Jahr 1870, Bonn 1920, S. 80 – 87; s. auch Renger (wie Anm. 15), S. 87 – 90. 25 Schäfer (wie Anm. 19), S. 125 f. 26 Edith Ennen, Ernst Moritz Arndt 1769 – 1860, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 9 – 35, hier S. 25 – 28. 27 So z. B. der Chemiker Kastner. S. dazu Martin Kirschke, Liebigs Lehrer Karl W. G. Kastner (1783 – 1857). Eine Professorenkarriere in Zeiten naturwissenschaftlichen Umbruchs, Berlin 2001, S. 276 – 280.

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Jahrzehnte führten sie in Bonn ein seltsames Leben im Verborgenen28. Seltsam deswegen, weil ihre Existenz eigentlich zu allen Zeiten allen bekannt war. Vor allem die Corps der Rhenanen, Borussen, Saxonen und Guestphalen, die sich in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts als erste gegründet hatten, waren durch ständige Provokationen der universitären Obrigkeit andauernd öffentlich präsent, auch wenn sie die Verbote des Farbentragens und des gemeinsamen Kneipens de jure respektierten. Sie konnten der heimlichen Sympathie des Universitätsrichters Bergmann sicher sein, so wie sich die Burschenschafter der Sympathie des Kurators erfreuten, der als Regierungsbeauftragter eigentlich für die polizeiliche Überwachung der Studenten und die Unterdrückung der Verbindungen zuständig war. Es ist interessant, dass Gildemeister von diesen Vorgängen, die das Studentenleben an der Universität Bonn nachhaltig prägten, überhaupt nichts erwähnt. Es ist nicht auszuschließen, dass er von eventuellen Kontakten zu Corps oder Burschenschaften aus Sicherheitsgründen nichts schrieb, damit ihm die Briefzensur nicht auf die Schliche kommen konnte. Aber sehr glaubhaft ist das nicht. Es gibt im Gegenteil keinerlei Hinweise darauf, dass Gildemeister nach seiner Überwechslung von Göttingen mit einem Corps oder auch nur einer satisfaktionsfähigen Kneipgemeinschaft in Verbindung gestanden hätte. Schon in Göttingen, wo die Landsmannschaften, die sich später Corps nannten, eine bedeutende Rolle im Studentenleben spielten und etwa einen Heinrich Heine sogleich in ihren Bann zogen, scheint Gildemeister für ihre Art des Kneipens und andauernden Duellierens nicht viel übrig gehabt zu haben. In Bonn weisen weder seine Briefe noch die Akten des Bonner Universitätsrichters in die Richtung, dass er sich einem Corps angenähert habe. Denn praktisch jeder, der sich in den Jahren, in denen Gildemeister sein Studium in Bonn fortsetzte, in einem Corps engagierte oder doch zumindest in den Sympathisantenkreis gehörte, landete irgendwann im Karzer, meist, wie etwa Karl Marx, wegen Trunkenheit und nächtlichen ruhestörenden Lärmens29. Dass Gildemeister auch nicht als heimlicher Burschenschafter oder auch nur als Anhänger der burschenschaftlichen Ideale anzusehen ist, kann man dagegen seinen Briefen durchaus entnehmen. Nichts Gutes scheint er an den Idealen der Burschenschaft gefunden zu haben. Im August 1834, gerade seit einem Vierteljahr in Bonn, erklärt Gildemeister in einem Brief an seine Eltern die Ferien28 Thomas P. Becker, Bonner Studentenverbindungen in den ersten zwei Jahrzehnten nach Gründung der Universität Bonn, in: Verein alter Bonner Alemannen e.V. (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Burschenschaft Alemannia zu Bonn 2009, S. 9 – 19, hier S. 13 – 17; vgl. auch Michael Hacker/Waltraud Rexhaus, Geschichte der Burschenschaft Alemannia zu Bonn – Kurzdarstellung, in: Ebd., S. 20 – 44, hier S. 21 f. 29 Eine entsprechende Bemerkung befindet sich auf der Rückseite des Abgangszeugnisses von Karl Marx, das sich im Universitätsmuseum der Universität Bonn befindet.

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regelungen an den preußischen Universitäten, und er äußert sich verächtlich über die »burschenschaftlichen Umtriebsmeinungen«, die 1818 zu einer Verschärfung der Ferienregelungen geführt hätten, um die politisch aktiven Studenten am allzu vielen Umherreisen zu hindern30. Auch als Gildemeister einige Jahre später in Paris auf Hoffmann von Fallersleben trifft, der 1818/19 einer der engagiertesten Bonner Burschenschafter gewesen war, äußert er sich sehr abfällig über ihn: »Derselbe ist ein großer sehr robuster Kerl ungefähr gekleidet wie ein Burschenschafter vom Jahr 1818, schimpft weidlich auf die Franzosen und benimmt sich über die Maßen täppisch.«31 Es ist kaum anzunehmen, dass jemand, der sich so über Burschenschafter äußert, einmal einer der ihren gewesen sein könnte. Nein, Gildemeister hat sich offensichtlich aus den meisten Fährnissen und Händeln der Studentenschaft heraus gehalten. Er war also allem Anschein nach nicht korporiert, sondern das, was man in Studentenkreisen damals ein »Kamel« nannte32. Vielleicht zeigt sich auch hierin ein Zug zur Orientalistik. Konflikte, die zwischen der Universitätsleitung und den Studenten entstehen, etwa die Zwistigkeiten wegen des Mitbringens von Renommierhunden und des Rauchens der langen Tabakspfeifen während der Vorlesungen, werden von ihm mit keinem Wort erwähnt, ja sie sind ihm vermutlich nicht einmal aufgefallen33. Dafür ist er viel zu sehr mit seiner Wissenschaft beschäftigt. Allerdings vergisst er über den Büchern nicht die schönen Seiten des Lebens in Bonn, und das ist vor allem das Wandern in der Eifel und im Siebengebirge. »Bonn ist ein Paradies« schreibt Gildemeister wenige Wochen nach seiner Ankunft an seine Eltern in Bremen nach einer Woche mit Wanderungen zur Ruine Heisterbach und auf den Drachenfels34. Ein Paradies auch deswegen, weil er hier mit Schlegel, Freytag, Lassen und Nitzsch auf Professoren trifft, die ihn zugleich fördern und fordern und ihm seinen weiteren beruflichen Weg in die akademische Laufbahn vorzubereiten helfen. Daher bekommt Gildemeister auch viel mehr von dem mit, was die Professoren bewegt, als von dem, was seine Kommilitonen umtreibt. Der 30 Gildemeister-Brief 1834 – 13 (03.–13. 08. 1834) 31 Gildemeister-Brief 1839 – 19 (12. 07. 1839) 32 Unter »Kamel« verstand man einen Studenten, der kein »burschikoses« Leben führte, in den Jahren nach der Gründung der Urburschenschaft und nach der Umwandlung der traditionellen Landsmannschaften in die modernen Corps einen Studenten, der keiner Studentenverbindung angehörte. Vgl. Friedhelm Golücke, Studentenwörterbuch. Das akademische Leben von A–Z, Graz/Wien/Köln 1987, S. 243. 33 Zum Konflikt wegen der Mitnahme von Hunden s. Jens Müller, Mit Porzellanpfeife und Hund im Hörsaal, in: forsch. Bonner Universitätsnachrichten, November 2007, S. 36. Zu Renommierhunden generell s. Barbara Krug-Richter, Hund und Student – eine Mentalitätsgeschichte (18.–20. Jahrhundert.), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10 (2007), S. 77 – 104. 34 Gildemeister-Brief 1834 – 07 (29.04.–09. 05. 1834)

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Hermesianismus-Streit etwa, der gerade in der Zeit von Gildemeisters Bonner Studien eskalierte, wird in den Briefen an die Eltern durchaus erwähnt. Der hochgeachtete katholische Dogmatiker Georg Hermes, 1820 an die Universität Bonn berufen, hatte in seiner Lehre versucht, die Lehren Immanuel Kants mit der überlieferten Lehre der katholischen Kirche zu vereinen. Nach seinem 1831 erfolgten Tod hatten seine Schüler seine Lehre weitergetrieben und auch teilweise radikalisiert. Dagegen wandte sich der Kölner Erzbischof, was 1835 zu einer Verurteilung des Hermesianismus als Irrlehre führte35. Gildemeister berichtet darüber ausführlich an die Bremer Verwandten36. Ein zweites Mal kommt Gildemeister nach seinen Studien in Paris und Leiden nach Bonn zurück. Aber für ihn ist das nun eine andere Universität, denn er war noch vor seiner Abreise promoviert worden und hatte mit seiner Antrittsvorlesung kurz nach seiner Rückkehr nach Bonn 1839 die Voraussetzungen für die Habilitation erfüllt, sodass er nun in den Kreis der Privatdozenten aufgenommen war und seine Vorlesungen in Theologie und Orientalistik anbieten konnte. Ausdruck seines neuen Status sind einerseits Einladungen bei seinen alten Förderern und Gönnern wie Schlegel, Sack, Nitzsch oder Hüllmann, aber auch neue Bekanntschaften unter Professoren und Privatdozenten, zu denen z. B. der Marx-Vertraute Bruno Bauer gehörte. Auf diese Weise wird Gildemeister auch sehr bald in eines der damals überall entstehenden Professoren-Kränzchen aufgenommen. Es handelt sich um das »Lungenzimmer«, in das sich der Indologe Christian Lassen, der Romanist Friedrich Diez, der Philosoph Bruno Bauer, der Jurist Eduard Böcking und der Musikwissenschaftler Heinrich Carl Breidenstein allabendlich zum gemeinsamen Abendessen zurückziehen37. Sie sind alle Junggesellen und erklärte Nichtraucher, was auch den Namen der Gesellschaft erklärt. Gildemeister wird von ihnen gebeten, ihrem LungenzimmerKreis beizutreten, was dieser auch gerne tut. Das allerdings ist einigermaßen 35 Eduard Hegel, Geschichte des Erzbistums Köln. Band 5. Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts 1815 – 1962, Köln 1987, S. 468 – 474; Ders., Georg Hermes 1775 – 1831, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Katholische Theologie, Bonn 1968, S. 13 – 25. 36 Appendix (undatiert) zum Gildemeister-Brief 1837 – 8 (01. 06. 1837); desgleichen die Briefe 1837 – 14 (19. 08. 1837), 1837 – 16 (08. 09. 1837), 1842 – 01 (08.–09. 05. 1842), 1842 – 04 (08. 10. 1842), 1843 – 03 (12. 04. 1843). 37 »Jetzt muß ich noch vom Lungenzimmer erzählen. Dies ist eine halb geschlossene Gesellschaft, die alle Abend in einem eignen Zimmer im Casino ißt und aus verschiedenen der unverheiratheten Professoren, meinen beiden Stubennachbarn Diez u Breidenstein, Lassen, Böcking u andern, auch etwelchen ruhigen Beamten und Bürgern von Bonn besteht, und das Rauchen für die größte Sünde auf Erden hält (daher ihr Name). Sie haben mich sehr getreten zu ihnen zu kommen, was ich um so mehr thun muß, da dort keiner der übrigen lumpigen Privatdocenten hingeht, um mich von diesen zu unterscheiden. So werde ich nun wohl einige Abende die Woche dahin gehn, und es ist meist auch ganz unterhaltend da.« GildemeisterBrief 1839 – 30 (04.–12. 11. 1839)

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kurios, denn er hatte sich gerade wieder das Rauchen angewöhnt und seine Bremer Familie in einem Briefe um die Übersendung von mehr als 300 guten Zigarren und 10 Pfund Tabak gebeten38. Akademische Freundeskränzchen waren eine neue Erscheinung in der deutschen Gesellschaft. Man hatte in den letzten Jahrzehnten des Ancien R¦gime eine ganze Reihe von gelehrten Gesellschaften, Mittwochclubs, Lesezirkel und ähnlichen Vereinigungen gehabt, die sich alle dem Gedankengut der Aufklärung verschrieben hatten und zu einem nicht geringen Teil von Professoren mitgetragen wurden. Aber sie waren alle Ausdruck einer sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft und nicht auf die Universitäten beschränkt. ProfessorenKränzchen sind im Wesentlichen eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Das »Lungenzimmer«, das wohl auch nur wenige Jahre bestanden hat, kann als eines der ersten seiner Art in Bonn angesehen werden. Allerdings diente es – anders als die späteren Vereinigungen, die vor allem ein gemeinsames Bildungsinteresse zur Grundlage hatten – allem Anschein nach ausschließlich zum geselligen Beisammensein. Gildemeister gehörte aber, ohne dass der diesen Umstand in seinen zahlreichen Briefen an die Familie in Bremen erwähnt hat, noch zur Gründungsgeneration einer anderen Bonner Gelehrten-Vereinigung, die sich für ca. 20 Jahre großer Beliebtheit erfreute und hohe Achtung genoss: dem Schwanen-Orden. Auch er begann als Privatdozenten-Vereinigung. Der Historiker Heinrich von Sybel, der Jurist Bernhard Windscheid, der Philologe und gleichzeitige Konzertdirigent Friedrich Heimsoeth, alle drei so eng mit einander befreundet, das man sie als »Kleeblatt« bezeichnete, der Philologe Ludwig Urlichs und der Orientalist Johann Gildemeister, verstärkt durch den Mediziner Dr. Claus, bildeten den harten Kern eines Kränzchens, das sich unter den Bezeichnungen »Schwanen-Orden«, »Schwanen-Gesellschaft« oder einfach »Schwan« an jedem Samstag in der Gaststätte »Schwan« versammelte39. Dort wurde zunächst ein akademischer Vortrag gehalten, bevor man für ca. zwei Stunden über das Gehörte debattierte oder einfach bei Bier und Wein die Zeit verplauderte. Dies ist der Prototyp der Professorenkränzchen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer häufiger werden sollten. In der Literatur galt bisher das 1842 gegründete Bonner Freundeskränzchen des Altphilologen

38 Gildemeister-Brief 1839 – 29 ( 27. 10. 1839) 39 Volker Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht (1817 – 1861), Göttingen 1978, S. 36; zum Schwanen-Orden, allerdings unter Bezug auf einen Zeitraum, in dem Gildemeister schon nach Marburg berufen worden war, findet sich eine umfangreiche Schilderung in den Memoiren des Kunsthistorikers Anton Springer. S. Anton Springer, Aus meinem Leben. Mit Beiträgen von Gustav Freytag und Hubert Janitschek, Berlin 1892, S. 206 – 208. Nach seiner Aussage ging die Glanzzeit des Schwanen schon in den 1860er Jahren zuende.

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Friedrich Ritschl als die älteste Professoren-Vereinigung40. Auch dieser Kreis bestand nur einige Jahrzehnte, dagegen existiert an der Universität Bonn eine im November 1877 entstandene Vereinigung unter dem simplen Namen »Kränzchen« bis zum heutigen Tag41. Es war aber nicht nur so, dass der Status von Johann Gildemeister sich nach seiner Rückkehr nach Bonn verändert hatte. Auch die Universität war dabei, sich zu verändern. Das offizielle Verbot der Corps und Burschenschaften, das nach dem Frankfurter Wachensturm von 1833 für kurze Zeit sehr viel schärfer gehandhabt worden war, wurde durch das dreiste Verhalten der Bonner Studenten immer mehr zur Farce. Mit dem Tod Friedrich Wilhelms III. am 7. Juni 1840 war es de facto ganz abgeschafft. Ernst Moritz Arndt konnte mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. aus seinem Exil vor den Toren der Stadt befreit werden und wieder Vorlesungen abhalten. Spöttisch bemerkt Gildemeister dazu, dass der alte Mann wohl sehr gefeiert, seine Collegia aber nicht sonderlich geschätzt werden: »Wie es mit Collegien geht, die nicht gehört werden müssen, sieht man diesmal vortrefflich an Arndt; trotz all des Spectakels haben sich, höre ich, für seine neuere Geschichte nicht mehr als sieben Zuhörer gemeldet« schreibt Gildemeister im Dezember 1840 an seine Eltern42. Sofort nach dem Tod des Königs hatte sich 1840 eine neue Burschenschaft unter dem Namen »Frankonia« gebildet, die nun auch – wie die Corps – ganz offen agierte. In nur wenigen Jahren traten weitere Burschenschaften an ihre Seite43. Nicht zuletzt angeregt durch junge Dozenten wie Bruno Bauer oder Gottfried Kinkel wurden die Diskussionen in Studentenkreisen ernster und politischer. Dies galt vor allem für die Burschenschaften, die sich noch stärker als vorher gegen das Duellwesen wandten und in der Progressbewegung eine Strömung fanden, die ihren demokratischen Bestrebungen entgegen kamen. Gildemeister, der sich als Student noch ganz vom Verbindungswesen fern gehalten hatte, zeigt in einem Brief aus dem Jahre 1844 durchaus ein lebhaftes Interesse an diesen Entwicklungen, die er aber leider nicht ergründen kann. Er schreibt von einem Gespräch mit seinem Cousin Hermann Wienholt, der 1844 nach Bonn gekommen war um dort Medizin zu studieren:

40 Max Braubach, Wissenschaftliche Freundeskränzchen im Bonn des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Edith Ennen/ Dietrich Höroldt, Aus Geschichte und Volkskunde von Stadt und Raum Bonn. Festschrift Josef Dietz zum 80. Geburtstag am 8. April 1973, Bonn 1973, S. 418 – 438. 41 Das Bonner Wissenschaftliche Kränzchen. Reden zur Übergabe des Kränzchenbuches an das Archiv der Universität Bonn zu Händen des Rektors am 6. Januar 2010, gehalten von Wilhelm Barthlott, Jürgen Fohrmann, Josef Isensee, Bonn 2010. 42 Gildemeister-Brief 1840 – 09 (01.–03. 12. 1840) 43 Becker (wie Anm. 28), passim.

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»Es waren hier in diesem Semester Bewegungen unter den Studenten gewesen, die gegen das Duellwesen und Corpswesen gerichtet waren und eine große Spaltung herbeigeführt hatten; da das gerade noch in seinen Kreisen vorgefallen war, konnte er die Sache wissen, mußte sie wissen, aber er konnte mir durchaus nichts über die Motive, den Hergang etc. berichten, wußte nicht einmal, von wem es ausgegangen war u drgl.«44

Andere Studenten wie etwa der Baseler Patriziersohn Jakob Burkhardt, schlossen sich dem Kreis um das Ehepaar Gottfried und Johanna Kinkel an, die den sogenannten »Maikäferbund« gegründet hatten45. Dieser Kreis gab in den Jahren vor der Revolution eine kleine Literaturzeitschrift heraus, die sich durchaus kritisch mit den bestehenden Verhältnissen auseinander setzte46. Aus Burschenschaftern und Maikäferbund sollten sich in der 48er Revolution die Kräfte zusammensetzen, die bereit waren, für die radikale Sache der Demokratie die Waffe in die Hand zu nehmen47. Da allerdings war Gildemeister schon nach Marburg berufen worden. Die dritte und endgültige Rückkehr Gildemeisters nach Bonn fällt ins Jahr 1859, mithin also in die Zeit der Reaktion. Viele der revolutionären Kräfte oder auch nur unruhigen Geister hatten Bonn verlassen, so etwa Bruno Bauer oder Gottfried Kinkel, den Gildemeister überhaupt nicht leiden konnte. Von seinen alten Gönnern war Schlegel schon 1845 gestorben, Arndt folgte ihm ins Grab, nur wenige Monate nach Gildemeisters Rückkehr nach Bonn. Auch Dahlmann, dessen 1842 erfolgte Berufung nach Bonn Gildemeister vor seinem Weggang nach Marburg noch miterlebt hatte, starb Ende des Jahres 186048. Nitzsch war schon 1847 einer Berufung nach Berlin gefolgt. Zwar waren noch einige andere von Gildemeisters früheren Bonner Bekanntschaften, wie Lassen, Sack, Breidenstein oder Argelander, in Bonn geblieben, aber insgesamt fiel es den Gildemeisters doch schwer, wieder gesellschaftlichen Anschluss zu finden. In einem Brief vom Frühjahr 1860 an seinen Schwiegervater vergleicht Gildemeister wehmütig die Zustände in Bonn mit denen in Marburg: »namentlich gesellschaftliche Verbindungen sind hier nicht so leicht angeknüpft, als dort, und gerade die hiesige Art der Geselligkeit, geputzte Gesellschaften, worin ge44 Gildemeister-Brief 1844 – 12 (21. 08. 1844) 45 Klaus Schmidt, Gerechtigkeit – das Brot des Volkes. Johanna und Gottfried Kinkel. Eine Biographie, Stuttgart 1996, S. 31 – 39. 46 Ulrike Brandt/Astrid Kramer/Norbert Oellers/Hermann Rösch-Sondermann (Hg.), Der Maikäfer. Zeitschrift für Nichtphilister, 4 Bde., Bonn 1983; s. dazu vor allem Ulrike BrandtSchwarze, »Der Maikäfer«. Zeitschrift für Nichtphilister, Bd. 1 Jahrgang 1840 und 1841. Kommentar, Bonn 1992. 47 Thomas Becker, Universität und Revolution: Das Beispiel Bonn, in: Stephan Lennartz/Georg Mölich, Revolution im Rheinland. Veränderungen der politischen Kultur 1848/49, Bielefeld 1998, S. 199 – 216, hier S. 203. Vgl. auch Braubach (wie Anm. 7), S. 15 f. 48 Zu Dahlmanns Wirken in Bonn s. Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München 2010, S. 249 – 288.

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hörig aufgewichst wird, sind gar nicht nach unserem Geschmack. Die geselligen Kreise fallen hier auch sehr auseinander und keiner bekümmert sich viel um den andern, was uns später denn mehr zu Gute kommen wird. Die Universität ist eigentlich sehr im Verfall und Schlendrian, Ernennungen hängen gar zu viel von Verbindungen in Berlin ab und namentlich Geld will man oder kann man nicht anwenden.«49

Aber Gildemeisters Urteil war ungerecht. Die Bonner Universität hatte in der demotivierenden Ära der Reaktion in den 50er Jahren durchaus unter einer Phase der Stagnation gelitten, aber diese Zeit ging nun ihrem Ende entgegen. 1861 wurde Gildemeisters Mitstreiter in der Heilig-Rock-Angelegenheit, der Historiker Heinrich von Sybel, als Ordinarius nach Bonn zurück berufen50. Damit hatten Gildemeisters wieder eine andere Familie, mit der gesellschaftliche Unternehmungen möglich waren. Vor allem aber brachte Sybel von seiner Münchener Zeit eine neue Idee mit, die er Rankes privatissime-Seminaren in Berlin entlehnt hatte und die nun in kürzester Zeit die Universitäten erobern würde: die Gründung von Seminaren. Seminare waren freilich nichts Neues. Es handelte sich dabei um Einrichtungen für begabte Lehramts-Studenten, die für ihre Laufbahn im Gymnasialdienst intensiver mit wissenschaftlicher Methode vertraut gemacht werden sollte, als dies im normalen Lehrbetrieb möglich war. Es war keineswegs so, dass jeder Student Mitglied eines Seminars war, sondern es gab – je nach Satzung – nur ein bis zwei Dutzend Plätze, oft in zwei Stufen eingeteilt. Wer Mitglied werden wollte, musste eine Aufnahmeprüfung bestehen und durfte oft nur für zwei bis vier Semester teilnehmen, bevor er seinen Platz für den nächsten Kandidaten räumte51. Solche Seminare für Lehramts-Studenten gab es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, wo sie in Halle ihren Anfang genommen hatten, und sie waren zunächst ausschließlich auf Klassische Philologie beschränkt, was allerdings bald auf Theologie ausgeweitet wurde52. Seminare mussten beim Ministerium angemeldet werden und erhielten in der Regel ein kleines Budget, das bis Ende des 19. Jahrhunderts meistens dafür verwendet wurde, Geldprämien für besonders gelungene Seminararbeiten auszuloben. Bonn hatte eine Sonderentwicklung genommen, indem unter der Leitung des weitsichtigen Botanikers Nees von Esenbeck ein »Seminar für die gesammten Naturwissen49 Gildemeister-Brief 1860 – 03 (24. 03. 1860) 50 Paul Egon Hübinger, Das Historische Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Vorläufer – Gründung – Entwicklung. Ein Wegstück deutscher Universitätsgeschichte, Bonn 1963, S. 70 – 83. 51 Zur Seminar-Idee s. Gert Schubring, Das Bonner naturwissenschaftliche Seminar (1825 – 1887) – Eine Fallstudie zur Disziplindifferenzierung, in: Dietrich von Engelhardt/Andreas Kleinert/Johanna Bohley, Christian Gottfried Nees von Esenbeck. Politik und Naturwissenschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Leopoldina-Meeting am 20. und 21. Juni 2003 in Halle (Saale), Halle 2004, S. 133 – 148. 52 Becker (wie Anm. 10), S. 61 – 64.

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schaften« eingerichtet worden war. Aber ansonsten war an eine Seminargründung gar nicht zu denken. Doch mit dem Aufstieg der Geschichte zu einer Deutungswissenschaft im politischen Geschehen entstand auch der Gedanke, dass ein fähiger Gymnasiallehrer auch eine profunde historische Ausbildung haben müsse, ja, dass es vielleicht sogar denkbar sei, Gymnasiallehrer ausschließlich für bestimmte Fächer einzusetzen. Das Resultat war das Münchener Historische Seminar, dem nun 1861 in Bonn eine entsprechende Einrichtung folgte53. 1866 folgte die Mathematik diesem Beispiel mit einer eigenen Seminargründung54. Nun kamen Zug um Zug weitere Wissenschaften hinzu, auch solche, die – wie die Rechtswissenschaften – gar nichts mit der Lehrerausbildung zu tun hatten. Gildemeisters Orientalistik blieb davon allerdings frei. Erst unter Carl Heinrich Becker, dem späteren preußischen Kultusminister, wurde 1913 das Bonner Orientalische Seminar eingerichtet55. Der Seminar-Gedanke verbreitete sich in anderer Form auch unter den Naturwissenschaften. Medizin und Naturwissenschaften hatten in Bonn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen großen Aufschwung erlebt, wenn man von Friedrich Wilhelm Argelander absieht, der für seine grundlegenden astronomischen Forschungen 1842 eine hochmoderne Sternwarte vor den Toren Bonns beziehen konnte56. Die übrigen Wissenschaften in der naturwissenschaftlichen Sektion der Philosophischen Fakultät, mehr noch die Wissenschaften in der Medizinischen Fakultät, waren überwiegend vom Geist der Naturphilosophie und der spekulativen Wissenschaft geprägt57. Nur der junge Johannes Müller, der Wegbereiter der modernen Medizin, hatte einen Mittelweg zwischen spekulativer und empirisch arbeitender Forschung eingeschlagen, doch Müller war schon zu Beginn seiner akademischen Karriere nach Berlin gegangen. Wenige Jahre vor Gildemeisters Rückkehr nach Bonn war aber einer von Müllers Schülern, der Arzt und Physiker Hermann von Helmholtz, auf den anatomischen Lehrstuhl in Bonn berufen worden58. Schon 1858 zog es ihn nach Heidelberg, aber er hatte mit seinem dreijährigen Wirken eine Tür aufgestoßen. 53 Hübinger (wie Anm. 50) 54 Franz London/Otto Toeplitz, Das mathematische Seminar, in: Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn am Rhein, Bd. 2: Institute und Seminare 1818 – 1933, Bonn 1933, S. 324 – 334. 55 Paul Kahle, Das orientalische Seminar, in: Geschichte der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn am Rhein, Bd. 2: Institute und Seminare 1818 – 1933, Bonn 1933, S. 173 – 177. 56 Hans Schmidt, Astronomen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ihr Leben und Werk 1819 – 1966, Bonn 1990, S. 29 – 64. 57 Heinz Schott, Medizin um 1800 und die Pionierzeit der Bonner Fakultät, in: Ders., Medizin, Romantik und Naturforschung. Bonn im Spiegel des 19. Jahrhunderts, Bonn 1993, S. 11 – 36. 58 Herbert Hörz, Helmholtz und die Bonner Universität, Bd. 1: Helmholtz als Professor der Anatomie und Physiologie in Bonn (1855 – 1858), Berlin 1994.

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Die empirischen Methoden einer exakten Wissenschaft waren nun nicht mehr aufzuhalten und zogen in kurzer Zeit in die naturwissenschaftlichen Fächer ein. Darwins 1858 publizierte Thesen über die Entstehung der Arten wurden in Bonn aufmerksam registriert, was zu seiner Ernennung zum Ehrendoktor der Medizinischen Fakultät im Jahre 1868 führte59. Sichtbarer Ausdruck der Veränderung in der Auffassung von den Naturwissenschaften war das 1867 für Friedrich August Kekul¦ errichtete monumentale Chemische Institut. Wie der Seminargedanke in den Geisteswissenschaften hatte seit der fundamentalen Kritik von Justus Liebig an der akademischen Lehre im Fach Chemie die Idee eines Laboratoriums als Ort für eigenständiges experimentell gestütztes Lernen nun Früchte getragen. Ein naturwissenschaftliches Fach nach dem anderen gründete nun ein auf den neuen wissenschaftlichen Grundsätzen aufbauendes Institut. Gleichzeitig zogen die Universitätskliniken aus dem Hauptgebäude aus und bekamen eigene, speziell für ihre Bedürfnisse errichtete Klinikgebäude60. Beides kostete den preußischen Staat Unmengen an Geld. Diesen Umbau vom geruhsamen Gelehrtenstübchen zum wissenschaftlichen Großbetrieb hat Gildemeister nicht mehr zur Gänze erlebt, aber den Beginn dieser Bewegung konnte er in seinen Bonner Jahren durchaus verfolgen. Noch während seiner Dienstzeit zogen die Naturwissenschaftler und die Mediziner aus dem Hauptgebäude aus und begründeten in Poppelsdorf einen eigenen Campus. Übrig blieben nur die sog. »Buchwissenschaften«, die Theologien, die Rechtswissenschaften, die Staatswissenschaften und die Geisteswissenschaften. Die andere bedeutende Veränderung, die seit Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts allmählich mit der Universität Bonn vorgegangen war, hat Gildemeister in seinen Briefen gar nicht erwähnt, vermutlich, weil sie ihm als bremischem Liberalen eher zuwider war : Gemeint ist die Rolle der Universität Bonn als Prinzenuniversität. Seit dem Studium der beiden Söhne des Herzogs von Sachsen-Coburg und Gotha 1837/38 (also zur Zeit von Gildemeisters eigenem Bonner Studium) wurde Bonn als Universität für die Söhne von Fürsten regierender Häuser beliebt61. Da der eine von beiden, der junge Prinz Albert, wenige Jahre nach seinem Studium die englische Königin Victoria heiratete, stieg das 59 Franz Weiling, Die Ehrenpromotion von Charles Darwin zum 50jährigen Bestehen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn im Lichte der übrigen, aus dem gleichen Anlaß im naturwissenschaftlichen Bereich erfolgten Ehrungen, in: Bonner Geschichtsblätter 28 (1976), S. 167 – 199. 60 Hans-Paul Höpfner, Bonner Universitätskliniken 1818 – 1945, in: Heinz Schott (Hg.), Universitätskliniken und Medizinische Fakultät Bonn 1950 – 2000. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Neuanfangs auf dem Venusberg, Bonn 2000, S. 16 – 22. 61 Thomas Becker, Prinz Albert als Student in Bonn, in: Franz Bosbach/William Filmer-Sankey/ Hermann Hiery (Hg.), Prinz Albert und die Entwicklung der Bildung in England und Deutschland im 19. Jahrhundert. Prince Albert and the development of education in England and Germany in the 19th Century, München 2000, S. 145 – 156.

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Renomm¦e von Bonn vor allem bei Engländern ganz bedeutend. Seit 1843 studierten auch die Söhne des preußischen Königs in Bonn, z. B. der 80-Tage-Kaiser Friedrich III. Dadurch wurde die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität die zentrale Ausbildungsstätte des deutschen Hochadels, denn die Söhne anderer hochadeliger Häuser suchten die Nähe der Hohenzollern, die sie auch durch die gemeinsame Mitgliedschaft im Bonner Corps Borussia bekamen. In den letzten Lebensjahren Gildemeisters wurden daher die Corps insgesamt immer einflussreicher, vor allem nach dem Bonner Studium des späteren Kaisers Wilhelm II., der sich sogar mit Band und Stürmer des Corps Borussia malen und fotographieren ließ62. Der Senioren-Convent der Corps und schlagenden Burschenschaften beanspruchte die Alleinvertretung aller Studenten für sich, was auch seitens der Universität akzeptiert wurde. Dabei wuchs nach der Überwindung der Rezession der 1870er Jahre die Anzahl der Studenten, die in Bonn studierten, ganz immens, so dass der Prozentsatz der sogenannten »Freistudenten«, d. h. der Kamele, die nicht korporiert waren, trotz des steigenden gesellschaftlichen Renomm¦es der Studentenverbindungen immer weiter anstieg. Am Lebensende Johann Gildemeisters ist die Bonner Universität also längst nicht mehr die, die er einst als Student kennen gelernt hatte. Das klingt wie eine Binsenweisheit, aber es ist immerhin zu bedenken, dass die nach dem Humboldt’schen Modell geformte forschungsorientierte Gelehrtenrepublik sich viele Jahrzehnte lang unverändert gehalten hatte. Erst in der Zeit von Gildemeisters dritter Ankunft in Bonn, in den 60er und 70er Jahren, kündigte sich der Wechsel an, der dann nach der Reichsgründung in immer schnelleren Wendungen zur modernen Großuniversität mit ihrer enormen Ausdehnung an Ressourcen und Personal führte. Gildemeisters einst so erzählfreudige Briefe werden gegen Ende seines Lebens immer kürzer und oberflächlicher. Wenn man bedenkt, dass seine Wissenschaft und die Universität als ihr Ort seine wichtigsten Themen über Jahrzehnte hinweg gewesen sind, dann darf man wohl schließen, dass die Metamorphose »seiner« Universität ihn an seinem Lebensende nicht so recht glücklich gemacht hat.

62 Thomas Becker, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ansichten – Einblicke – Rückblicke, Erfurt 2004, S. 48.

Rüdiger Ham

Monarchisches Prinzip vs. bürgerliche Freiheit – Das Kurfürstentum Hessen in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Das Kurfürstentum Hessen und seine Verfassung vom 5. Januar 1831 Der Philipps-Universität, an der Gildemeister seit 1845 lehrte, verdankte die mittelhessische Kleinstadt Marburg ihre Rolle als eine der wichtigsten Städte des Kurfürstentums Hessen, auch wenn zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt nur etwa 200 bis 300 Studenten dort eingeschrieben waren1. Besondere Bedeutung erlangten neben Marburg nur der Bischofssitz Fulda, sowie Kassel und Hanau als die beiden größten Städte des Landes, die als einzige auch Ansätze einer modernen Gewerbe- und Industrieentwicklung aufwiesen2. Kurhessen selbst zählte mit einer Größe von knapp 10.000 km2 zu den Mittelstaaten des Deutschen Bundes. Aufgrund seiner geographischen Lage stellte das Kurfürstentum jedoch für die angrenzenden Staaten, allen voran Preußen, einen gewichtigen politischen Faktor dar, da das kurhessische Staatsterritorium die preußische Westprovinz vom östlichen Preußen trennte3. Von den rund 750.000 Kurhessen lebten gut drei Viertel auf dem Land und betrieben überwiegend Ackerbau, vereinzelt Handwerk und Handel. Die Lebensbedingungen auf dem Land waren schwer und von Armut geprägt, weshalb es kaum verwundert, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts viele Kurhessen auswanderten und in Amerika eine neue Heimat suchten4. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss hatte die Landgrafschaft Hessen1 Johann Caspar Blutschli/Karl Brater (Hg.), Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 5, Stuttgart/ Leipzig 1860, S. 164. 2 Otto Bähr, Das frühere Kurhessen. Ein Geschichtsbild, 2. Aufl., Kassel 1895, S. 47 – 52; Hellmut Seier, Zur Entstehung und Bedeutung der kurhessischen Verfassung von 1831, in: Walter Heinemeyer (Hg.), Der Verfassungsstaat als Bürge des Rechtsfriedens, Marburg 1982, S. 8. 3 Hellmut Seier (Hg.), Akten zur Entstehung und Bedeutung des kurhessischen Verfassungsentwurfs von 1815/16, Marburg 1985, S. XXIV; Karl Nass, Vom deutschen zum kurhessischen Verfassungskampf. Hassenpflugs Politik 1850/51, Marburg 1925, S. 21. 4 Karl Demandt, Geschichte des Landes Hessen, 2. Aufl., Kassel/Basel 1972, S. 555 f.

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Kassel kleinere territoriale Zugewinne und – was wichtiger schien – die Kurwürde erhalten. Anstatt aber zur Kür eines römischen Kaisers beizutragen, sah sich Kurfürst Wilhelm I. alsbald zur Flucht ins Exil gezwungen, nachdem er den Beitritt zum Rheinbund verweigert und französische Truppen 1806 im Krieg gegen Preußen das Kurfürstentum besetzt hatten. Ein Dekret Napoleons vom 18. August 18075 schlug das Kurfürstentum Hessen dem neu gegründeten Königreich Westphalen zu, das von Napoleons Bruder Jerome regiert wurde. Nach der Niederlage Napoleons bei Leipzig kehrte Kurfürst Wilhelm I. am 21. November 1813 unter dem Jubel von angeblich 40.000 Menschen aus seinem Prager Exil nach Kassel zurück6. Die von ihm auf den 1. März 1815 einberufene Ständeversammlung hatte zwar noch nicht den ausdrücklichen Auftrag erhalten, eine Verfassung auszuarbeiten, allerdings nährte auch in Kurhessen die Bestimmung des Art. 13 der Deutschen Bundesakte die Hoffnung auf die Einführung einer »landständischen Verfassung«7. Im Oktober 1815 berief der Kurfürst eine vierköpfige Kommission mit dem Auftrag, eine Verfassung für das Kurfürstentum auszuarbeiten8. Am 16. Februar 1816 wurde der ausgearbeitete Verfassungsentwurf der Ständeversammlung vorgelegt, die jedoch zahlreiche Änderungswünsche vorbrachte, auf die einzugehen der Kurfürst aber nicht geneigt war. Verärgert über die, wie er es sah, undankbare Haltung der Stände, brach Wilhelm I. die Verhandlungen ab und entließ die Stände am 10. Mai 1816 ohne Landtagsabschied9. Damit lagen die Verfassungsbemühungen für die nächsten rund 15 Jahre auf Eis. Erst die Juli-Revolution in Frankreich und deren Ausstrahlung auf das politische Leben in Deutschland führte auch in Kurhessen zu einer Wiederbelebung des Verfassungsgedankens. Auf eine von den Kasseler Bäckern vorgenommene Erhöhung der Brotpreise kam es am Abend des 6. September 1830 auch in der Landeshauptstadt des Kurfürstentums zu ersten »Krawallen«10, die bis Ende September das ganze Land erfassten. Am 15. September 1830 überreichte eine Delegation des Kasseler Magistrats dem Kurfürsten eine mit 1.400 Unterschriften versehene Bittschrift der Bürgerschaft, deren Hauptanliegen die Wiedereinberufung der Stände war11. Die daraufhin vom Kurfürsten auf den 16. Oktober 1830 einberufene Ständeversammlung wählte sogleich nach ihrem 5 Correspondance de Napol¦on Ier, Publi¦e par ordre de l’empereur Napol¦on III., Tome Quinzieme, Paris 1864, Nr. 13047, S. 508. 6 Philipp Losch, Geschichte des Kurfürstentums Hessen, 1803 – 1806, Marburg 1922, S. 78. 7 Seier (wie Anm. 3), S. XLI. 8 Losch (wie Anm. 6), S. 100. 9 Losch (wie Anm. 6), S. 104; Alexander Pfalzgraf, Der hessische Verfassungskampf in seiner Bedeutung für die deutsche Geschichte, Jena 1922, S. 3; Blutschli/Brater (wie Anm. 1), S. 168. 10 Losch (wie Anm. 6), S. 155. 11 Abdruck der Bittschrift bei Hellmut Seier (Hg.), Akten und Briefe aus den Anfängen der kurhessischen Verfassungszeit 1830 – 1837, Marburg 1992, Nr. 6, S. 13 – 15.

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Zusammentreten einen Verfassungsausschuss, der wiederum den Marburger Staatsrechtslehrer Sylvester Jordan zum Vorsitzenden wählte12. Unter seinem maßgeblichen Einfluss erarbeitete der Verfassungsausschuss einen Verfassungsentwurf, der am 25. November 1830 der Ständeversammlung vorgelegt wurde13. Auf Drängen der beiden vom Kurfürsten ernannten Landtagskommissare wurden jedoch in der Folgezeit noch manche Änderungen im Sinne der Regierung vorgenommen14, bevor der Kurfürst am 5. Januar 1831 die neue Verfassung unterzeichnete15. Mit der Verfassung vom 5. Januar 1831 war nun auch das Kurfürstentum Hessen, wie bereits die süddeutschen Staaten, zur Staatsform der konstitutionellen Monarchie übergegangen. Schon zahlreichen ihrer Zeitgenossen galt die Verfassung im Sinne von Liberalismus und Demokratie als die »freisinnigste« und »erste und beste« unter den deutschen Verfassungen16. An dieser Bewertung hat sich bis heute nicht viel geändert. So ist die Verfassung etwa nach Ansicht Hubers unter den Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus die radikalste, die zwar in ihren Grundzügen dem damaligen konstitutionellen Modell entsprach, an einigen entscheidenden Stellen jedoch eine extremere Linie verfolgte17. Dies gilt schon im Hinblick auf das Zustandekommen der Verfassung, die nicht vom Landesherrn einseitig oktroyiert wurde, sondern – wie schon die Württembergische Verfassung von 1819 – auf einer Vereinbarung mit den Ständen beruhte18. Ein echtes Novum stellte indes die Einführung des Einkammernsystems dar : Nach § 63 der kurhessischen Verfassung (khV) tagten die im konstitutionellen System üblicherweise in einer ersten Kammer versammelten Mitglieder von Adel und Klerus nunmehr gemeinsam mit den Abgeordneten der Städte und Landgemeinden in einer einzigen Kammer. Waren die Landstände nicht versammelt, schrieb § 102 khV die Einsetzung eines 12 Otto Müller, Studien zur Entstehungsgeschichte der kurhessischen Verfassung vom 5. Januar 1831, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 59/60 (1934), S. 181; Ludwig Müller, Der Kampf um die kurhessische Verfassung, Marburg 1895, S. 10. 13 Müller (wie Anm. 12), S. 193. 14 Seier (wie Anm. 2), S. 25. 15 Sammlung von Gesetzen, Verordnungen und Ausschreiben und sonstigen allgemeinen Verfügungen für Kurhessen, 1831, S. 1 – 17; Der Verfassungstext findet sich auch bei Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1978, Nr. 58, S. 239 – 262. 16 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Geschichtlich-politische Andeutungen über die neue Verfassung des Churstaates Hessen vom 5. Januar 1831, in: Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hg.), Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst, Leipzig 1831, S. 243. 17 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1988, S. 68. 18 Werner Frotscher, Verfassungsdiskussion und Verfassungskonflikt, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 107 (2002), S. 211; Rüdiger Ham, Bundesintervention und Verfassungsrevision, Darmstadt/Marburg 2004, S. 104.

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bleibenden ständischen Ausschusses vor, bestehend aus drei bis fünf Abgeordneten, der bis zur Wiedereröffnung des Landtages die landständischen Interessen wahrzunehmen hatte. Ebenso progressiv wie die Zusammensetzung der Ständevertretung fielen ihre Befugnisse aus, die sich im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren als ein erster Schritt zur Gewaltenteilung interpretieren lassen19. Neben dem üblichen Steuerbewilligungsrecht nach §§ 98 und 143 khV hatten die Stände nach § 95 khV auch das Recht, in allen übrigen Gesetzgebungsverfahren mit zu entscheiden. Da die Stände nach § 97 khVauch das Recht zur Gesetzesinitiative besaßen, standen sich Kurfürst und Stände auf dem Gebiet der Gesetzgebung – abgesehen vom Notverordnungsrecht des Kurfürsten nach § 95 Abs. 2 khV – prinzipiell gleichberechtigt gegenüber20. Eine weitere in der kurhessischen und deutschen Verfassungsgeschichte bis dahin einmalige Regelung enthielt § 60 khV. Danach hatten alle Staatsdiener, zu denen auch die Angehörigen des Militärs zählten, einen Eid auf die Beobachtung und Aufrechterhaltung der Landesverfassung zu leisten. Gegen Staatsdiener, die sich einer Verfassungsverletzung oder sonstigen Amtspflichtverletzung schuldig machten, konnten die Landstände nach § 61 khVeine gerichtliche Untersuchung einleiten. Das Pendant auf Ministerebene bildete hierzu § 100 khV, der den Ständen das Recht gab, Minister oder deren Stellvertreter im Falle einer Verfassungsverletzung vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen.

Kurhessen im Vormärz: Hassenpflug und die liberale Bewegung Mit den genannten Vorschriften ging die kurhessische Verfassung über den bis dahin üblichen Rahmen der vormärzlichen Verfassungsgebungen zum Teil weit hinaus. Dies warf nicht nur die Frage auf, ob die ausgesprochen liberalen und fortschrittlichen Bestimmungen der Verfassung mit dem konservativen Bundesrecht – niedergelegt in der Deutschen Bundesakte von 1815 und der Wiener Schlussakte von 1820 (WSA) – vereinbar waren21. Die mit den Verfassungsbestimmungen verbundenen Beschränkungen der monarchischen Souveränität waren vor allem auch dem neuen Kurprinz-Regenten Friedrich Wilhelm I., der am 1. Oktober 1831 die Regentschaft übernommen hatte, ein Dorn im Auge. Mit dem Ziel, die fürstliche Souveränität gegenüber den Landständen wieder zur Geltung zu bringen, berief Friedrich Wilhelm I. am 23. Mai 1832 ein neues

19 Frotscher (wie Anm. 18), S. 212. 20 Rüdiger Ham, Ludwig Hassenpflug. Staatsmann und Jurist zwischen Revolution und Reaktion, Hamburg 2007, S. 106. 21 Vgl. dazu ausführlich Ham (wie Anm. 18), S. 99 – 122.

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Ministerium mit dem als »ultrakonservativ«22 geltenden Hans Daniel Ludwig Hassenpflug an der Spitze. In den folgenden Jahren nahm Hassenpflug – ganz wie von Friedrich Wilhelm I. beabsichtigt – den Kampf gegen die »revolutionäre Bewegung« auf. Nur vier Tage nach der Ernennung Hassenpflugs begann das Hambacher Fest, dem in Kurhessen am 22. Juni 1832 eine Volksversammlung in Wilhelmsbad folgte. Ermutigt durch die vom Deutschen Bund vorbereiteten »Sechs Artikel« untersagte hierauf die kurhessische Regierung mit dem sogenannten Kokardenerlass vom 26. Juni 183223 das Tragen der Farben schwarz-rot-gold, dem am 29. Juni 1832 eine weitere Verordnung24 zum Verbot politischer Versammlungen folgte. Gestützt auf § 95 Abs. 2 khV publizierte die kurhessische Regierung schließlich am 18. Juli 1832 die »Sechs Artikel«25, um im Anschluss daran rigoros gegen die liberale Presse und gegen Oppositionspolitiker vorzugehen. So mussten zahlreiche politische Blätter ihr Erscheinen einstellen und bekannte liberale Wortführer, wie etwa Sylvester Jordan, sahen sich polizeilichen Untersuchungen ausgesetzt. Ganz im Sinne Friedrich Wilhelms I. gelang es der Regierung so, die öffentliche politische Meinungsbildung zu unterdrücken, während die landständische Opposition ihrerseits mit mehreren Ministeranklagen nach § 100 khV erfolglos versuchte, die Regierung zu stürzen. Zur Entlassung Hassenpflugs kam es erst am 11. Juli 1837 nach einer Reihe persönlicher Konflikte zwischen Minister und Kurprinz-Regent. Doch auch Hassenpflugs Nachfolger setzten die Repressionspolitik fort, die schließlich 1843 in einer Verurteilung Sylvester Jordans wegen Hochverrats gipfelte. Seines Amtes enthoben und mehrere Jahre in Festungshaft genommen, wurde der »Vater der kurhessischen Verfassung von 1831« erst 1845 freigesprochen. Gleichwohl ging dem Kurprinz-Regenten die von ihm eingeleitete Revision der Verfassung von 1831 noch nicht weit genug. Zum entscheidenden Schlag gegen die von ihm so verachtete liberale Verfassung konnte Friedrich Wilhelm I. aber erst ausholen, nachdem am 20. November 1847 sein Vater gestorben war und er dessen Nachfolge als Kurfürst angetreten hatte26. Schon die Neuvereidigung des Militärs, die am 6. Dezember 1847 erfolgte, sollte richtungweisend für die Absichten des neuen Kurfürsten werden. Denn anders als in § 60 khV vor22 Als »ultrakonservativ« bezeichnen Hassenpflug beispielsweise Ewald Grothe, Hassenpflug und die Revolution, in: Winfrid Speitkamp (Hg.), Beiträge zur modernen hessischen Geschichte, Marburg 1994, S. 53; Werner Frotscher/Uwe Volkmann, Geburtswehen des modernen Verfassungsstaates, in: Hans Eichel/Klaus Peter Möller (Hg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, Wiesbaden 1997, S. 31. 23 Abgedruckt bei Seier (wie Anm. 11), Nr. 63, S. 194 f. 24 Abgedruckt bei Seier (wie Anm. 11), Nr. 64, S. 195 f. 25 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), 1832, Nr. 217, S. 221 f. 26 Ham (wie Anm. 18), S. 127.

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gesehen, wurde nur der reine Fahneneid verlangt, ohne dass die Soldaten sich zur Beachtung der Verfassung verpflichten mussten27. Für seine weitergehenden Pläne, die Verfassung von 1831 ganz zu beseitigen, fand der neue Kurfürst jedoch zunächst weder in Wien noch in Berlin Unterstützung28. In der Folgezeit musste Friedrich Wilhelm I. aber nicht nur seine Pläne zur Verfassungsrevision aufschieben; ganz im Gegenteil sah er sich gegenüber der freiheitlichen Opposition nach der Revolution von 1848 zu noch weitergehenden Zugeständnissen gezwungen. Die Unruhen, die im März 1848 auch Kurhessen ergriffen, gingen von den südlichen Landesteilen, vor allem von der Stadt Hanau aus, und brachen mit unterschiedlicher Heftigkeit bald über das ganze Land herein. In Marburg äußerte sich der Protest zunächst, wie Gildemeister in einem Brief vom 8. März 1848 berichtete, in einer Auseinandersetzung von Studenten mit der Polizei, nachdem diese einen Kommilitonen verhaftet und misshandelt hatte. Infolge der Proteste lenkte die Polizei schließlich ein und die neu gewonnene Freiheit äußerte sich fortan vor allem »in Gestalt allgemeinen Rauchens auf der Straße«29. Weniger gemütlich ging es hingegen in der Hauptstadt zu. Am 7. bzw. 11. März 1848 hatte der Kurfürst bereits die Zensur für abgeschafft erklärt30, am 11. März 1848 überbrachte eine Deputation Hanauer Bürger dem Kurfürsten ihre Forderungen. Friedrich Wilhelm I. gab noch am selben Tage nach und sagte unter anderem zu, nunmehr nur solche Personen in das Ministerium zu berufen, die das allgemeine Vertrauen des Volkes besäßen31. Das hierauf berufene Märzministerium unter der Leitung des ehemaligen Oberbürgermeisters der Stadt Hanau, Eberhard32, nahm sogleich gemeinsam mit den Ständen zahlreiche Reformvorhaben in Angriff, die auch zu einigen wichtigen Verfassungsänderungen im Sinne der liberalen Ständemehrheit führten. Da diese jedoch weitere erhebliche Beschränkungen der monarchischen Souveränität mit sich brachten war absehbar, dass Friedrich Wilhelm I. sich damit auf Dauer nicht abfinden würde.

27 Losch (wie Anm. 6), S. 229; Marco Arndt, Militär und Staat in Kurhessen 1813 – 1866, Marburg/Darmstadt 1996, S. 129. 28 Ham (wie Anm. 20), S. 263 f. 29 Gildemeister-Brief 1848 – 04 (08. 03. 1848) 30 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), 1848, S. 21 und 31. 31 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), 1848, S. 32. 32 Huber (wie Anm. 17), S. 520.

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Die Rückkehr Hassenpflugs und der kurhessische Verfassungskonflikt Da bei der Ausschaltung von Regierung und Landtags-Mehrheit mit energischem Widerstand zu rechnen war, bemühte sich der Kurfürst zunächst um ausländische Unterstützung, bevor er gegen die Opposition in die Offensive ging. Österreich war hierzu im Frühjahr 1849 aufgrund der fortdauernden Kämpfe im eigenen Land offenbar nicht in der Lage, so dass Friedrich Wilhelm I. zunächst nur eine Anlehnung an Preußen blieb33. Da auch die Ständeversammlung eine Annäherung an Preußen befürwortete – wobei sie damit allerdings hoffte, nun doch noch einen Teil ihrer deutschlandpolitischen Ziele von 1848 verwirklichen zu können – trat das Kurfürstentum Hessen im vermeintlichen Einvernehmen zwischen Kurfürst und Ständen am 6. August 1849 dem Dreikönigsbündnis vom 26. Mai 1849 bei. Wie wenig jedoch Friedrich Wilhelm I. und seine Minister auf einer Linie lagen, sollte sich umgehend erweisen, als der Kurfürst schon am Tag nach der Unterzeichnung des Bündnisvertrages die Regierung Eberhard entließ. Allerdings gelang es dem Kurfürsten in der Folgezeit nicht, geeignete Nachfolger für die entlassenen Minister zu finden, so dass er sich zu dem peinlichen Schritt genötigt sah, das gerade erst entlassene Kabinett nahezu unverändert wieder einzusetzen34. Die fieberhafte Suche nach einem geeigneten Regierungschef führte Friedrich Wilhelm I. schließlich erneut zu Hassenpflug, der jedoch aufgrund der Erfahrungen aus den 30er Jahren keineswegs der Wunschkandidat des Kurfürsten war35. Am Morgen des 22. Februar 1850 entließ der Kurfürst das Märzministerium erneut, diesmal allerdings nicht ohne zugleich Hassenpflug zum neuen Ministerialvorstand zu ernennen36. Eine weitere einflussreiche Stelle übernahm Hassenpflugs Freund und Vertrauter August Vilmar, der als vortragender Rat im Innenministerium fungierte und dieses damit praktisch leitete37. Obgleich es zu Beginn des Jahres 1850 wiederholt zu Spekulationen über eine mögliche Ablösung des Märzministeriums durch ein konservatives Kabinett gekommen war, führte die Bekanntmachung des Regierungswechsels bei den liberalen Kräften

33 Pfalzgraf (wie Anm. 9), S. 12 – 13; Nass (wie Anm. 3), S. 9 f., 16 f. 34 Ham (wie Anm. 20), S. 267. 35 Pfalzgraf (wie Anm. 9), S. 21; Gerhard Müller, Die kurhessische Frage und ihre Bedeutung für die deutsche Krise 1850/51, München/Leipzig 1930, S. 8. 36 Die Ernennungsurkunde findet sich im Hessischen Staatsarchiv Marburg, Bestand 340 Hassenpflug, Rep. 77, Anlage 22. 37 Wilhelm Maurer, August Vilmar (1800 – 1868). Theologe, Politiker, Germanist, Schulmann, in: Ingeborg Schnack (Hg.), Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830 – 1930, Bd. 3, Marburg 1942, S. 381.

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zu Überraschung und Entsetzen. Gildemeister berichtete hierüber in einem Brief vom 5. März 1850: »Daß hier der Teufel los ist, in Gestalt des Hassenpflug habt Ihr hinreichend in der Zeitung gelesen. Das ganze Land ist dadurch electrisirt. Wie lange die Geschichte dauern wird und was sie für Folgen haben wird ist noch nicht abzusehn. Viel Werkzeuge unter den hiesigen findet er nicht.«38

Das neue Kabinett Hassenpflug/Vilmar trat mit dem innenpolitischen Ziel an, den »Kampf gegen die Revolution« aufzunehmen39 ; außenpolitisch bestand die Maßgabe des Kurfürsten, sein Land wieder vom Dreikönigsbündnis mit Preußen zu lösen, da auch die von dem preußischen Bündnis angestrebte Errichtung eines deutschen Bundesstaates mit einer erheblichen Beschränkung der kurfürstlichen Souveränität verbunden gewesen wäre. Dementsprechend hintertrieb Hassenpflug schon bei der Sitzung des Erfurter Verwaltungsrates im März 1850 die Pläne für eine unveränderte Annahme der vom Erfurter Parlament verabschiedeten Unionsverfassung40. Am 28. Juni 1850 erklärte Kurhessen schließlich seinen Austritt aus der Erfurter Union. Auf der anderen Seite suchte die neue kurhessische Regierung sogleich den Anschluss an das wieder erstarkte Österreich, das die Mitglieder des Deutschen Bundes zu einer »außerordentlichen Plenarversammlung« auf den 10. Mai 1850 nach Frankfurt geladen hatte. Innenpolitisch spitzte sich die Auseinandersetzung mit der oppositionellen Landtagsmehrheit im Sommer 1850 rasch zu. Am 12. Juni 1850 ließ Hassenpflug die Ständeversammlung auflösen, ohne dass ein neues Budget für die Jahre 1850/ 51 verabschiedet worden war. Nach Ablauf des Haushaltsjahres 1849 war gemäß § 147 khV die Forterhebung der Steuern nur noch für die ersten sechs Monate des Jahres 1850 zulässig. Da eine Neuwahl der Stände sowie deren Neukonstituierung und Beschlussfassung über eine Steuerforterhebung bis zum 1. Juli 1850 zeitlich gar nicht möglich war, beschwor Hassenpflug so die bevorstehende Finanz- und Staatskrise selbst herauf. Hierbei verfolgte die Regierung das Ziel, unter dem Vorwand einer Steuerverweigerung der Stände den Kriegszustand zu verhängen, in dessen Zuge es möglich werden würde, die oppositionelle Bewegung schlagkräftig zu unterdrücken41. Da die Regierung aus diesen Gründen ihrerseits an einer Verschärfung des Konfliktes mit den Ständen interessiert war, nahm sie auch die Zusammensetzung der am 22. August 1850 neu zusammengetretenen Landtagskammer mit Zufriedenheit zur Kenntnis, obwohl nunmehr die Demokraten in der Mehrheit waren und sich unter den neuen Abgeordneten 38 39 40 41

Gildemeister-Brief 1850 – 02 (20.–23. 01. 1850) Losch (wie Anm. 6), S. 260; Müller (wie Anm. 35), S. 8; Nass (wie Anm. 3), S. 98. Ham (wie Anm. 20), S. 282 f. Ham (wie Anm. 20), S. 276 f.

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kein einziger Anhänger des Ministeriums fand42. Auch der neuen Ständeversammlung legte die Regierung keinen Budgetentwurf sondern lediglich eine Gesetzesvorlage vor, mit der sie die einstweilige Forterhebung der Steuern bis zum 30. September 1850 beantragte43. Wie nicht anders zu erwarten, lehnte es die Ständeversammlung am 31. August 1850 jedoch ab, einer einstweiligen Forterhebung der direkten Steuern zuzustimmen44, woraufhin Hassenpflug am 2. September 1850 die gerade erst neu gewählte Ständeversammlung wieder auflösen ließ45. Am 4. September 1850 erließ die Regierung sodann, gestützt auf § 95 Abs. 2 khV, eine Verordnung »betreffend die Forterhebung der Steuern«46, die eine uneingeschränkte Forterhebung der Steuern und Abgaben seit dem 1. Juli 1850 auf der Grundlage des letzten Budgets vom 5. April 1849 dekretierte. Auf den Erlass der Steuernotverordnung reagierte der bleibende ständische Ausschuss mit einer Adresse an die Regierung vom 5. September 1850, in der er erklärte, er werde die verfassungswidrigen Unternehmungen der Regierung »mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln« bekämpfen47. Dem schlossen sich die obersten Finanzbehörden an, indem sie noch am selben Tag verfügten, dass die Verordnung vom 4. September 1850, als im Widerspruch zur Verfassung stehend, von den Finanzbehörden nicht zu vollziehen sei. Auf den allgemeinen Widerstand gegen die Steuernotverordnung reagierte das Ministerium am 7. September 1850, wiederum gestützt auf § 95 Abs. 2 khV, mit der Verhängung des Kriegszustandes48, verbunden mit dem Verbot von Volksversammlungen und einer weitgehenden Zensur politischer Zeitungen und Blätter. In ihrem »Kampf gegen die Revolution« hatte die Regierung damit ihr erstes Ziel erreicht. Unter Berufung auf das Kriegsrecht rechnete Hassenpflug nunmehr damit, wie schon in den 30er Jahren, effektiv gegen die liberale Presse und gegen Oppositionelle vorgehen zu können. War es auf diese Art und Weise gelungen, die Opposition zu unterdrücken, so das weitere Kalkül der Regierung, wäre bei den nächsten Wahlen zur Ständeversammlung eine regierungsfreundliche Mehrheit zu erwarten, mit deren Hilfe schließlich eine Veränderung der bestehenden Verfassung erfolgten sollte. In den folgenden Tagen zeigte sich jedoch, dass sich 42 Pfalzgraf (wie Anm. 9), S. 37; Nass (wie Anm. 3), S. 215. 43 Verhandlungen des kurhessischen Landtags, Kassel 1850, 2. Sitzung vom 26. August 1850, Sp. 14, Beilage 2. 44 Verhandlungen des kurhessischen Landtags, Kassel 1850, 6. Sitzung vom 31. August 1850, Sp. 53. 45 Verhandlungen des kurhessischen Landtags, Kassel 1850, 8. Sitzung vom 2. September 1850, Sp. 5 f. 46 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), S. 41 – 43; abgedruckt auch bei Huber (wie Anm. 15), Nr. 248, S. 612 f. 47 Hellmut Seier (Hg.), Akten und Dokumente zur kurhessischen Verfassungsgeschichte 1848 bis 1866, Marburg 1987, Nr. 59, S. 145. 48 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), S. 45 – 47.

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die Regierung bei ihrer Einschätzung, den Kriegszustand mit eigenen Mitteln durchsetzen zu können, gründlich geirrt hatte. Unmittelbare Folge der Verhängung des Kriegszustandes war nach § 1 der Verordnung vom 7. September 1850 der Übergang der Befehlsgewalt über das stehende Heer und sämtliche Zivilbehörden mit Ausnahme der Gerichte an den zur Vollziehung des Kriegszustandes ernannten Oberbefehlshaber, dem § 2 der Verordnung zudem die Ausübung der gesamten Staatspolizeigewalt übertrug. Tatsächlich jedoch ignorierten Behörden und Presse, nicht zuletzt mit Blick auf eine drohende Anklage nach § 61 khV, die Anordnung des Kriegszustandes. Selbst der zum Oberbefehlshaber ernannte alte General Bauer zögerte aus Furcht vor einer Anklage, die verfassungswidrig ergangenen Verordnungen vom 4. und 7. September 1850 durchzusetzen. Als am 12. September 1850 auch das Oberappellationsgericht in Kassel die Steuernotverordnung für verfassungswidrig und damit ungültig erklärte war klar, dass die Gerichte sich dem Widerstand gegen die Verordnungen vom 4. und 7. September 1850 anschließen würden und die Vollziehung der Verordnungen ohne Zwangsmaßnahmen nicht zu erreichen war. Auch wenn der Widerstand von Behörden und Gerichten bislang rein passiv geblieben und es zu keinerlei Ausschreitungen oder Gewaltakten gekommen war, drängte Hassenpflug den Kurfürsten nunmehr dazu, den Regierungssitz nach Wilhelmsbad zu verlegen. Noch in der Nacht verließen Friedrich Wilhelm I. und Hassenpflug Kassel, was ihnen in der Öffentlichkeit wenig überraschend als Flucht ausgelegt wurde49. So wenig notwendig die Verlegung des Regierungssitzes auf den ersten Blick schien, erfüllte sie dennoch gleichzeitig mehrere Zwecke. Zum einen brachte sie Hassenpflug und den Kurfürsten auch räumlich in die Nähe des in Frankfurt tagenden Bundestages; zum anderen konnte so ein Vorwand für ein militärisches Eingreifen in Kurhessen geliefert werden, da die Flucht des Kurfürsten aus Kassel in aller Öffentlichkeit die Notwendigkeit militärischer Bundeshilfe demonstrierte50.

Die Bundesintervention in Kurhessen Dementsprechend erstattete Hassenpflug unmittelbar nach der Ankunft in Wilhelmsbad der Bundesversammlung Bericht über die kurhessischen Zustände, verbunden mit dem Antrag, die Bundesversammlung möge feststellen, dass der Beschluss der Ständeversammlung vom 31. August 1850 eine Steuerver49 Friedrich Oetker, Lebenserinnerungen, Bd. 2, Stuttgart/Kassel 1878, S. 148 f.; Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., Bd. 1, München/Leipzig, 1889, S. 418. 50 Pfalzgraf (wie Anm. 9), S. 44.

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weigerung i. S. d. »Sechs Artikel« darstelle51. Die Bundesversammlung beschloss daraufhin am 21. September 1850 die kurhessische Regierung aufzufordern, alle ihr zustehenden Mittel anzuwenden, um die ernstlich bedrohte landesherrliche Autorität sicherzustellen52. Sollte ihr dies nicht gelingen, drohte die Bundesversammlung, gestützt auf das Recht zur Bundesintervention nach Art. 26 und 61 WSA, zugleich mit einem militärischen Eingreifen. Ermutigt durch den Bundesbeschluss unternahm die kurhessische Regierung noch einmal den Versuch, energisch gegen den Widerstand der Behörden und Gerichte vorzugehen. Am 28. September 1850 erging eine neuerliche landesherrliche Verordnung zur Verschärfung des Kriegszustandes53 ; gleichzeitig wurde der Oberbefehlshaber Bauer durch den aus dem Ruhestand zurückberufenen Generalleutnant Karl von Haynau ersetzt. Dieser forderte am 8. Oktober 1850 von den Offizieren die unbedingte Ausführung der kurfürstlichen Verordnungen vom 4., 7. und 28. September 185054, woraufhin jedoch etwa 80 Prozent aller Offiziere unter Berufung auf den von ihnen nach § 60 khV geleisteten Verfassungseid und aus Sorge vor einer Anklage nach § 61 khV um ihren Abschied ersuchten55. Mit dem Rücktritt des Offizierskorps war der kurhessischen Regierung die Durchsetzung der Septemberverordnungen mit eigenen Mitteln nunmehr endgültig unmöglich geworden. Die Abschiedsgesuche der Offiziere erregten deshalb im Kurfürstentum ebenso wie in ganz Deutschland großes Aufsehen und wurden von den Gegnern der Regierung als weitreichender Sieg gefeiert56. Ohne den Beistand von außen – das war unbestreitbar – wäre der Kurfürst nun zum Nachgeben und zur Entlassung seines Ministeriums gezwungen gewesen57. Am 15. Oktober 1850 richtete die kurhessische Regierung deshalb ein offizielles Hilfeersuchen an die Bundesversammlung58. Infolge des Abschiedsgesuchs der Offiziere, so die Begründung, sehe sich die Regierung aller Mittel beraubt, die landesherrliche Autorität aufrecht zu erhalten. Schon am darauffolgenden Tag beschloss die Bundesversammlung, dass zur Wiederherstellung der gesetzmäßigen Ordnung im Kurfürstentum Hessen »nach Anleitung des 51 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1850, 3. Sitzung vom 17. September 1850, S. 42. 52 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1850, 4. Sitzung vom 21. September 1850, S. 63. 53 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), S. 51. 54 Otto Gerland, Das Abschiedsgesuch der kurhessischen Offiziere im Oktober 1850, Kassel 1883, S. 51 f. 55 Arndt (wie Anm. 27), S. 246 – 273; Losch (wie Anm. 6), S. 277. 56 Heinrich Gräfe, Der Verfassungskampf in Kurhessen nach Entstehung, Fortgang und Ende historisch geschildert, Leipzig 1851, S. 240; Losch (wie Anm. 6), S. 277. 57 Ludwig Müller, Rückblick auf Kurhessen und das Ende des Kurfürstentums, 2. Aufl., Marburg 1890, S. 64. 58 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1850, 9. Sitzung vom 15. Oktober 1850, S. 117 – 119.

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Art. 26 und 31 f. der Schlußacte die erforderlichen Exekutionsmaßregeln […] in Anwendung zu bringen« seien. Mit der Vollziehung dieser Maßregeln beauftragte die Bundesversammlung die Regierungen von Bayern und Hannover, denen sie auch die Verpflichtung auferlegte, die notwendigen Interventionstruppen an der kurhessischen Grenze aufzustellen59. Nachdem Hannover sich weigerte, an der Bundesintervention mitzuwirken, beschloss die Bundesversammlung am 25. Oktober 1850, die Ausführung des Beschlusses vom 15. Oktober 1850 alleine Bayern zu übertragen60. Am Morgen des 1. November 1850 überschritten daraufhin 10.000 bayerische und österreichische Soldaten die kurhessische Grenze und rückten auf Hanau vor, wo sie gegen 13:00 Uhr eintrafen61. Der Einmarsch der Bundestruppen forderte jedoch nicht nur die kurhessische Opposition, sondern auch Preußen heraus. Eine Besetzung Kurhessens durch österreichische und bayerische Truppen war für die Regierung in Berlin schon allein deshalb nicht akzeptabel, weil die einzigen Verbindungsstraßen in die westlichen Gebietsteile des Königreichs durch Kurhessen führten. In politischer Hinsicht noch brisanter war jedoch der Umstand, dass der Fortbestand der Erfurter Union entscheidend von der Mitwirkung des Kurfürstentums Hessen abhing, das neben Preußen und zusammen mit dem Großherzogtum Hessen eines der wichtigsten verbliebenen Unionsmitglieder war62. Allerdings brachten gerade die Unionspläne die preußische Regierung in eine verzwickte Lage: Bezog man Stellung gegen Hassenpflug und seine österreichfreundliche Außenpolitik ergriff man nolens volens Partei für die kurhessische Opposition. Dass Österreich daraufhin den Vorwurf erhob, Preußen leiste zur Durchsetzung der Unionspläne der Revolution in Kurhessen Vorschub, überraschte auch in Berlin niemanden, traf aber die preußische Position in ihrem wunden Punkt63. Noch prekärer wurde die preußische Position durch die Haltung Russlands in der kurhessischen Frage. So erregten bereits die preußischen Unionspläne als solche das Missfallen des Zaren, da sie ein freundschaftliches Einvernehmen zwischen Österreich und Preußen störten. Da Preußen zur Durchsetzung dieser Pläne auch noch die kurhessische Opposition in ihrem Widerstand gegen den Kurfürsten unterstützte, war es letztlich keine Frage, dass der Zar in dem heraufziehenden 59 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1850, 10. Sitzung vom 16. Oktober 1850, S. 129 f. 60 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1850, 11. Sitzung vom 25. Oktober 1850, S. 133 f. 61 G. Müller (wie Anm. 35), S. 36; vgl. auch die Angaben Hassenpflugs in seinen Denkwürdigkeiten, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 340, Hassenpflug, Rep. 76, fol. 87. 62 G. Müller (wie Anm. 35), S. 9; Heinrich von Poschinger (Hg.), Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministers Otto Frhr. von Manteuffel, Bd. 1, Berlin 1901, S. 267 f. 63 Ham (wie Anm. 20), S. 331 f.

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Konflikt der beiden deutschen Großmächte eindeutig Partei für Österreich ergriff64. Aufgrund dieser machtpolitischen Konstellation blieb für die Regierung in Berlin letztlich kaum eine andere Wahl, als auf die in eine Sackgasse geratenen Unionspläne zu verzichten. Gleichwohl erhielten ebenfalls noch am 1. November 1850 rund 30.000 an der kurhessischen Grenze stationierte preußische Soldaten den Befehl, in Richtung Fulda und Kassel zu marschieren65. Am Abend des 8. November 1850 trafen die preußischen Truppen in Marburg ein. Gildemeister berichtete hierüber in einem Brief vom 13. November 1850, ein Bataillon mit 60 Lanzenreitern sei von Wetzlar herüberkommend eingerückt. Da man die preußischen Soldaten als Abwehr gegen die bayerischen Truppen betrachtete, seien die Soldaten zwar gern gesehene Gäste gewesen. Zugleich kommt in Gildemeisters Brief aber auch die Ungewissheit über die preußische Haltung in der kurhessischen Frage zum Ausdruck indem er fortfährt, man hätte die Preußen noch herzlicher empfangen, wenn man zu der preußischen Politik nur mehr Vertrauen hätte. Allgemein erwarte man jedoch, dass Preußen die Anliegen der kurhessischen Opposition nicht ernsthaft verteidigen werde. Nachdem die Truppen am Morgen des 13. November 1850 schließlich mit der Eisenbahn nach Berlin abgefahren waren, wuchs die Unsicherheit weiter und Gildemeister schrieb, man wisse »nun fürs erste nicht was weiter wird«66. Auch in Fulda waren preußische Truppen eingerückt und versperrten den Bundestruppen den weiteren Vormarsch nach Norden. In der Nähe des Dorfes Bronnzell kam es daraufhin am Morgen des 8. November 1850 zu einem Feuergefecht, das jedoch, da beide Seiten den Befehl hatten, einen Zusammenstoß mit dem Gegner tunlichst zu vermeiden, nach wenigen Schüssen beendet wurde67. Unter dem Eindruck des Gefechts und der damit offenkundig zu Tage getretenen Kriegsgefahr lenkte die preußische Regierung jedoch ein erstes Mal ein. Der kurz zuvor ernannte neue Ministerpräsident Manteuffel sagte zu, die preußischen Truppen auf die Besetzung der Etappenstraßen zurückzuziehen und beim Erfurter Fürstenkollegium die förmliche Aufhebung der Unionsverfassung zu beantragen68. Hierauf räumten die preußischen Truppen noch am 9. November 1850 Fulda und zogen wenig später – wie schon von Gildemeister berichtet wurde – am 13. November 1850 auch aus Marburg ab. Gleichwohl zögerte die preußische Regierung mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die bereits den beginnenden Rückzug als schwere Demütigung Preußens auffasste69, das Zurückweichen vor den Bundestruppen immer weiter 64 65 66 67 68 69

Ham (wie Anm. 18), S. 201 f. Gräfe (wie Anm. 56), S. 252. Gildemeister-Brief 1850 – 16 (13. 11. 1850) Zum Gefecht bei Bronnzell vgl. G. Müller (wie Anm. 35), S. 40; Pfalzgraf (wie Anm. 9), S. 64. Ham (wie Anm. 18), S. 210. Huber (wie Anm. 17), S. 919.

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hinaus. Am 24. November 1850 riss der österreichischen Regierung der Geduldsfaden und Fürst Schwarzenberg telegrafierte an den österreichischen Gesandten in Berlin, die preußische Regierung müsse binnen 48 Stunden die Garantie für einen ungehinderten Vormarsch der Bundestruppen nach Kassel abgeben70. Von diesem Ultimatum überrascht und alarmiert drängte nun Friedrich Wilhelm IV. auf eine Zusammenkunft Manteuffels mit Schwarzenberg, die am 28./29. November 1850 in Olmütz stattfand. Hier gab Preußen nun endgültig nach und verzichtete vorerst auf seine Pläne, die deutsche Frage im Rahmen eines kleindeutschen Bundesstaates unter Ausschluss Österreichs zu lösen. Noch weitergehend kehrte Preußen auf den Boden des alten Bundesrechts zurück, auch wenn über die weitere Zukunft Deutschlands erst noch auf einer in Dresden einzuberufenden Konferenz beraten werden sollte. Überdies sagte Preußen zu, sich der Bundesintervention in Kurhessen nicht mehr in den Weg zu stellen und sich selbst aktiv an den weiteren Interventionsmaßnahmen zu beteiligen71. Nachdem Preußen eingelenkt hatte, bestand auch für die renitenten kurhessischen Staatsdiener keine Aussicht mehr, sich mit Erfolg gegen Kurfürst und Regierung zu behaupten. Da sich der Widerstand der kurhessischen Beamten und Soldaten in erster Linie auf die Entscheidung des Oberappellationsgerichts vom 12. September stütze, kam es den Bundestruppen zur Beugung der Renitenz vor allem darauf an, die Gerichte zum Einlenken zu bewegen72. Darauf zielte bereits ein Erlass des österreichischen Bundeskommissars Rechberg vom 16. November 1850, der den Richtern androhte, sie bei fortgesetzter Renitenz nicht nur mit »militärischen Zwangsmaßregeln« zu belegen, sondern sie auch der persönlichen Haftung für die Folgen ihrer Widersetzlichkeit zu unterwerfen73. Bei den von Rechberg genannten »militärischen Zwangsmaßregeln« handelte es sich neben einer kriegsgerichtlichen Verfolgung in erster Linie um die sogenannte Einquartierung von Besatzungstruppen. Dabei wurden bei einem Beamten, der sich weigerte, die künftige Befolgung der Septemberverordnungen schriftlich zuzusagen, in dessen Privatwohnung bis zu 20, mitunter sogar bis zu 50 Soldaten einquartiert, die sich im Haus des Bequartierten aufhielten, von diesem zu versorgen waren und wegen Misshandlungen und Plünderungen keine Strafe zu erwarten hatten74. Da es sich bei den von den 70 Wiedergabe des Telegramms bei Heinrich Friedjung, Österreich von 1848 bis 1860, Bd. 2/1, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin 1912, S. 532. 71 Text der Olmützer Punktation bei Huber (wie Anm. 15), Nr. 223, S. 580 – 582. 72 Ulrich von Nathusius, Kurfürst, Regierung und Landtag im Dauerkonflikt. Studien zur Verfassungsgeschichte Kurhessens in der Reaktionszeit (1850 – 1859), Kassel 1996, S. 240. 73 Text des Erlasses bei Huber (wie Anm. 15), Nr. 259, S. 628. 74 Zu den Einquartierungen oder Dragonaden vgl. Volker Preiß, Die verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Einwirkungen Bayerns auf den kurhessischen Verfassungskonflikt,

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Bundestruppen einquartierten Soldaten meist um bayerische Truppen handelte, bezeichnete man diese bald abfällig als »Strafbayern«75. Auch Gildemeister war von diesen Zwangsmaßnahmen betroffen: Hatte er am 23. November 1850 noch berichtet, man lebe in der unbestimmten Erwartung, dass sich die Bayern auch hier einfinden könnten76, musste er am 12. Dezember 1850 vermelden: »Die große Räuberbande ist nun endlich auch zu uns gelangt, gestern und heute zogen 2500 Mann Baiern und Oesterreicher ein […]. Die nächste Unbequemlichkeit daran ist die Einquartierung, ich habe 3 Mann […], die sich aber ganz bescheiden und ordentlich«77 benommen hätten. Dies konnte Gildemeister indes nicht von allen Soldaten berichten: »so hörte man doch von vielen Klagen namentlich über die Gefräßigkeit und Pöbelhaftigkeit der Soldaten, viele auch komischer Art, z. B. daß sie allgemein die Butter mit den Fingern aufschmieren und in den Kaffee Butter machen. Ein solches Beispiel […] von der Doctorin Hupfeld, die ihrem Soldaten einen Topf mit Mus hinsetzt wovon er sich auf das Brot schmieren soll; als sie wiederkommt, hat er zu ihrem Schreck den Topf rein ausgegessen; die guten Leute nehmen ihn nachher, ich weiß nicht aus welchem Grunde, an ihren Tisch; sie haben ein Huhn welches der Dr. zerschneidet u höflich dem Soldaten präsentirt. Dieser bemächtigt sich aber des ganzen, ißt es auf und läßt sie zusehen.«78

Unter dem Eindruck der Einquartierungen, die nicht immer so vergleichsweise harmlos wie im Hause Gildemeister und Hupfeld verliefen, lenkten die renitenten Staatsdiener schließlich nach und nach ein. Um nicht, wie von ihnen gefordert, eine schriftliche Zusage geben zu müssen, die Septemberverordnungen künftig zu befolgen, zogen es zahlreiche Beamte und Richter vor, ihre Entlassung zu erbitten. Am 22. Dezember 1850 rückten die Bundestruppen schließlich in Kassel ein79. Schon zuvor hatte auch das Oberappellationsgericht eingelenkt und am 18. Dezember 1850 einen Beschluss gefasst, der die Septemberverordnungen de facto anerkannte. Gleichwohl erhielten die Oberappellationsgerichtsräte, ebenso wie andere renitente Staatsdiener, nach dem Einmarsch der Bundestruppen »Strafbayern« einquartiert, die erst am 31. Juli 1851 wieder aus der Landeshauptstadt abzogen. Noch am 22. Dezember 1850 verfügte der neue österreichische Bundeskommissar Leiningen zudem auch in der Landeshauptstadt die weiteren Interven-

75 76 77 78 79

Marburg 1972, S. 86 f.; L. Müller (wie Anm. 12), S. 66; Hellmut Seier, Das Kurfürstentum Hessen 1803 – 1866, in: Walter Heinemeyer (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 4/2, Marburg 1998, S. 135. Bähr (wie Anm. 2), S. 17; Preiß (wie Anm. 74), S. 1; Seier (wie Anm. 74), S. 135. Gildemeister-Brief 1850 – 16 (23. 11. 1850) Gildemeister-Brief 1850 – 17 (12. 12. 1850) Gildemeister-Brief 1850 – 18 (20. 12. 1850) Losch (wie Anm. 6), S. 281; Nass (wie Anm. 3), S. 286.

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tionsmaßnahmen: Die Auflösung von Vereinen, das Verbot von Versammlungen und Presserzeugnissen sowie die Entwaffnung der Bürgergarden80. Die Unterdrückungsmaßnahmen führten alsbald auch in der Hauptstadt zur Beugung des Widerstandes, woraufhin am 27. Dezember 1850 auch der Kurfürst und seine Regierung in die Landeshauptstadt zurückkehrten. Spätestens Ende Januar war der Widerstand auch in den übrigen Landesteilen gebrochen und damit die kurhessische Renitenz beendet81.

Die Verfassungsrevision Sein innenpolitisches Programm, das Hassenpflug seit seiner erneuten Berufung im Februar 1850 verfolgte, hatte er damit jedoch noch keineswegs vollständig umgesetzt. Die Unterdrückung der liberal-demokratischen Opposition mit Hilfe des Kriegszustandes, die er nunmehr mit Unterstützung der von Österreich betriebenen Bundesintervention erreicht hatte, sollte nur eine Etappe auf dem Weg zu einer nachhaltigen Revision der liberalen Verfassung von 1831 sein. Ganz im Sinne Hassenpflugs sahen auch die Bundeskommissare den Zweck der Intervention mit der Beugung der kurhessischen Renitenz noch nicht als erreicht an. Vielmehr erarbeiteten sie auf der Grundlage eines Beschlusses der Bundesversammlung vom 11. Juni 185182 mit der kurhessischen Regierung im Laufe des Jahres 1851 einen Entwurf für eine revidierte Verfassungsurkunde. Diese wurde schließlich aufgrund eines weiteren von der Bundesversammlung am 27. März 1852 gefassten Beschlusses eingeführt. Da die kurhessische Verfassung von 1831 mit den Grundgesetzen des Deutschen Bundes nicht vereinbar sei, so die Begründung, setzte die Bundesversammlung zunächst die Verfassung vom 5. Januar 1831 außer Wirksamkeit. Zugleich forderte sie den Kurfürsten auf, eine dem Resultat der Beratungen mit den Bundeskommissaren entsprechende neue, revidierte Verfassung in Kraft zu setzen83. Auf der Grundlage dieses Beschlusses oktroyierte der Kurfürst schließlich am 13. April 1852 die neue kurhessische Verfassung84. Diese orientierte sich in Aufbau und Text zwar weitgehend an der Verfassung von 1831; die Bestimmungen mit ausgesprochen 80 Abdruck der Verordnung bei Eduard Brinckmeier, Genealogische Geschichte des uradeligen, reichsgräflichen und reichsfürstlichen, standesherrlichen, erlauchten Hauses Leiningen und Leiningen-Westerburg, Bd. 2, Braunschweig 1891, S. 344 f. 81 Müller (wie Anm. 35), S. 55 – 57. 82 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1851, 10. Sitzung vom 11. Juni 1851, S. 56 – 59. 83 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1852, 9. Sitzung vom 27. März 1852, S. 432. 84 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), 1852, S. 3 – 30.

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liberalem oder gar demokratischem Charakter wurden jedoch ganz im Sinne der Reaktionspolitik Hassenpflugs geändert oder gestrichen. Auch wenn etwa zwei Drittel der Verfassungsvorschriften von 1831 unverändert blieben, betrafen die Änderungen so zentrale Vorschriften, dass die Verfassung vom 5. Januar 1831 inhaltlich nicht wieder zu erkennen war. Dies galt vor allem für die Zusammensetzung und Kompetenzen der Ständeversammlung, den Verfassungseid für Beamte und Offiziere sowie die Anklagemöglichkeit der Staatsdiener nach § 61 khV 183185. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die revidierte Verfassung von 1852 – im Gegensatz zu der in der Bevölkerung hoch geschätzten liberalen Verfassung von 1831 – keine breite Akzeptanz fand. Zwar erhob sich unter dem Eindruck der Bundesintervention auch kein nennenswerter Widerstand gegen ihre Einführung, doch führten weder die Zwangsmaßnahmen noch die Verfassungsrevision zu einem bleibenden Gesinnungswandel im Kreise der Beamtenopposition86. Rückenwind erhielt die liberale Bewegung, nachdem die preußische Regierung 1858 eine Kehrtwende zur Politik der »neuen Ära« vollzogen hatte und in der kurhessischen Verfassungsfrage die Forderung erhob, die Verfassung von 1831 mit Ausnahme der bundesrechtswidrigen Bestimmungen wiederherzustellen. Auf die Initiative Preußens beschloss die Bundesversammlung daraufhin am 24. März 1860, die Verfassung von 1852 zwar als rechtswirksam anzuerkennen, zugleich aber von der kurhessischen Regierung die Wiedereinführung der nicht bundesrechtswidrigen Vorschriften der Verfassung von 1831 zu verlangen87. Gestützt auf diesen Bundesbeschluss oktroyierte der Kurfürst am 30. Mai 1860 eine neue, revidierte Verfassung88, doch konnte auch das neue Verfassungswerk die kurhessische Verfassungsfrage nicht endgültig beruhigen. Einen Abschluss der Wirren versprach erst der Beschluss der Bundesversammlung vom 24. Mai 186289, mit dem die kurhessische Regierung aufgefordert wurde, die Verfassung von 1831 unter Wegfall der bundesrechtswidrigen Artikel wiederherzustellen. Hierauf ordnete ein kurfürstliches Ausschreiben vom 21. Juni 186290 die Wiederherstellung der Verfassung von 1831 an, die jedoch dem politischen Leben im Kurfürstentum keine entscheidenden Impulse mehr geben konnte. Da sich das Kurfürstentum im preußischösterreichischen Krieg 1866 auf die Seite des Deutschen Bundes und Österreichs 85 Frotscher (wie Anm. 18), S. 219; Ham (wie Anm. 20), S. 375. 86 Ham (wie Anm. 20), S. 374. 87 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1860, 11. Sitzung vom 24. März 1860, S. 215. 88 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), 1860, S. 25 – 43. 89 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung von 1862, 22. Sitzung vom 24. Mai 1862, S. 278 – 286. 90 Sammlung von Gesetzen (wie Anm. 15), 1862, S. 13 – 15.

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stellte, besetzten am 16. Juli 1866 preußische Truppen das Land, das schließlich von Preußen annektiert wurde und den Status einer preußischen Provinz erhielt91.

Vilmar und die Entlassung Hassenpflugs Hassenpflug konnte auf diese Entwicklung keinen entscheidenden Einfluss mehr nehmen. Nach zahlreichen Konflikten mit dem Kurfürsten, die im Wesentlichen dem monarchischen Anspruch auf Selbstregierung entsprangen, den Friedrich Wilhelm I. durch seinen mächtigen Minister beeinträchtigt sah, reichte Hassenpflug am 16. Oktober 1855 sein Entlassungsgesuch beim Kurfürsten ein. Vorausgegangen war ein heftiger Streit zwischen Kurfürst und Minister über die Wahl von Hassenpflugs Stellvertreter im Innenministerium August Vilmar zum Generalsuperintendenten der Diözese Kassel. Bereits seit dem 23. Mai 1851 vertrat Vilmar den erkrankten Generalsuperintendenten Ernst, der am 21. April 1855 schließlich starb92. Ebenso wie Hassenpflug hatte auch Vilmar sich der Erweckungslehre zugewandt, die in Ablehnung jeglicher Rationalisierung innerhalb der Theologie und des allgemeinen Denkens eine Hinwendung zum »lebendigen Glauben« erstrebte. Zwar hatte die Erweckungsbewegung damit eine breite antiliberale Strömung, zugleich lehnte sie jedoch ein Aufsichtsrecht des Staates über die Kirche strikt ab93. Damit trafen Hassenpflug und Vilmar aber auf den energischen Widerstand des Kurfürsten als Inhaber der obersten Kirchengewalt. Da Friedrich Wilhelm I. unter keinen Umständen zu einer Beschneidung seiner summepiskopalen Privilegien bereit war, betrachtete er die kirchenpolitischen Vorstellungen Vilmars als einen revolutionären Angriff auf seine Stellung als legitimer Landesherr von Gottes Gnaden. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass der Kurfürst den von Hassenpflug stets geförderten Aufstieg Vilmars unter allen Umständen zu verhindern suchte. Als Vilmar am 15. Mai 1855 mit großer Mehrheit zum Nachfolger des Superintendenten gewählt wurde, war der Konflikt zwischen Kurfürst und Minister vorprogrammiert. Während Friedrich Wilhelm I. die Bestätigung der Wahl verweigerte, verband Hassenpflug die Ernennung Vilmars zum Superintendenten mit seinem Schicksal als Minister. Die Regierungskrise zog sich über den gesamten Sommer des Jahres 1855 hin. In der Auseinandersetzung mit seinem 91 Frotscher (wie Anm. 18), S. 220. 92 Losch (wie Anm. 6), S. 299; Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild, Bd. 2, Marburg 1913, S. 252. 93 Zur Erweckungsbewegung vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Die Erweckungsbewegung. Studie zur Geschichte ihrer Entstehung und ersten Ausbreitung in Deutschland, Neuendettelsau, 1957.

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Minister ließ der Kurfürst schließlich mehrere Gutachten ausarbeiten – darunter ein Gutachten der theologischen Fakultät Marburg, an dem auch Gildemeister maßgeblich mitgewirkt hatte –, die seine Position stützten und die er seinem Minister genüsslich vorlas. Den hierauf entbrennenden Streit schildert Hassenpflug folgendermaßen: »Nach beendigtem Vorlesen sah sich der Kurfürst um, als wenn er einen Triumph gefeiert hätte. Ich brach zunächst die kurze Pause, indem ich bemerkte, daß in dem so eben verlesenen Gutachten der Punkt ganz übergangen sei, wie sich die Sache bei einer einstimmigen oder nahezu einstimmigen Wahl verhalte. Schnell fiel der Kurfürst mit den Worten ein: ›Ja, das sind lauter Dummköppe, wenn sie nicht ihrer Meinung sind!‹«94

Da unter der Geltung des monarchischen Prinzips, für dessen Verteidigung sich Hassenpflug auch während seiner zweiten Amtszeit mit Nachdruck eingesetzt hatte, der Monarch das letzte und entscheidende Wort hatte, stand Hassenpflug im Machtkampf mit dem Kurfürsten letztlich auf verlorenem Posten. Die Bestätigung der Wahl Vilmars blieb aus und der Kurfürst stellte Hassenpflug noch am 16. Oktober 1855 das Entlassungsreskript aus95. Während Hassenpflug sich nunmehr unversehens im Ruhestand befand, ernannte Friedrich Wilhelm I. Vilmar in einer Art »Strafversetzung« zum Professor an der theologischen Fakultät Marburg. Hierdurch geriet auch Gildemeister in unmittelbaren Kontakt mit Vilmar, ohne davon sonderlich erbaut zu sein. Am 16. November 1855 schrieb er an seine Mutter : »Liebe Ma, die Sorgen die Du Dir machst, sind sehr unnöthiger Art, denn wenn Vilmar mir das Leben sauer machen Trieb haben sollte, so würde er bei mir gleicher Neigung begegnen.«96

Dass die Sorgen seiner Mutter nicht ganz unbegründet waren, sollte sich jedoch alsbald erweisen. Verbittert über die nicht zuletzt auf der Grundlage des Marburger Gutachtens vereitelte Wahl zum Superintendenten veröffentlichte Vilmar 1856 eine Gegenschrift, über die Gildemeister an seine Mutter schrieb: »Es ist eine Ehre, daß er nicht weiter als allerlei kleine Mäkeleien u. Verdrehungen hat vorbringen können, mit soviel Gift verziert, als sich anbringen ließ, wenn er einigermaßen die Dehors wahrte. Ich werde des Publikums wegen dagegen schreiben, habe aber wenig Lust dazu, da es nur dieselbe Sache wiederkäuen ist.«97 94 Ewald Grothe (Hg.), Ludwig Hassenpflug. Denkwürdigkeiten aus der Zeit des zweiten Ministeriums 1850 – 1855, S. 374. 95 Entlassungsreskript vom 16. Oktober 1855, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 340, Hassenpflug, Rep. 1. 96 Gildemeister-Brief 1855 – 17 (16. 11. 1855) 97 Gildemeister-Brief 1856 – 09 (13. 03. 1856)

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Die fortdauernde Auseinandersetzung mit Vilmar prägte auch die letzten Jahre Gildemeisters in Marburg, bevor er 1859 das Kurfürstentum Richtung Bonn verließ.

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Gildemeister und die Konfessionen im Rheinland

Schon seit es das christliche Wallfahrtswesen gibt, ist es stets auch Stein des kirchenpolitischen, aber auch und vor allem des theologischen Anstoßes1. Dies war auch im innerkirchlichen Diskurs im (Erz-)Bistum Trier nicht erst in den 1840er Jahren so, sondern bereits im Ausgang des 18. Jahrhunderts, als mit Clemens Wenzeslaus von Sachsen ein dem Josephinismus nahestehender und der katholischen Aufklärung verpflichteter Kurfürst und Erzbischof in Trier bzw. Koblenz residierte, das Klosterwesen reformierte und das Wallfahrtswesen stark beschnitt, ebenso die Heiligenverehrung und die eucharistische Anbetung sowie andere Frömmigkeitsformen2. Clemens Wenzeslaus war stark dem Johann Nikolaus von Hontheim (»Justinus Febronius«)3 und den von Cornelius Jansen4 1 In seinen vertraulichen Gesprächen bedenkt Erasmus mit beißendem Humor und Sinn für Satire das Wallfahrtswesen, mehr noch Heiligenverehrung und Spendenpraxis seiner Zeit, etwa wenn er Maria einen Brief höchstselbst formulieren lässt oder mit der Frage des Menedemus, ob denn noch Spenden da seien, wenn die Bischöfe ihre ganze Befugnis zum Sündenerlass einmal bis zur Neige ausgeschöpft hätten. Vgl. Kurt Steinmann (Hg./Übers.), Erasmus von Rotterdam, Vertrauliche Gespräche, Zürich 2000, S. 172 – 222. 2 Zu den Kloster- und Wallfahrtsreformen vgl. u. a. BAT Abt. 63, 64 und 65. Eine detaillierte Arbeit zu diesem Thema steht bisher noch aus. Vgl. auch Andreas Schüller, Das Prozessionswesen im Trierischen vor der großen französischen Revolution, in: Pastor Bonus 50 (1939), S. 137 – 145. Vgl. auch Helmut Rönz, Der Trierer Diözesanklerus im 19. Jahrhundert. Herkunft – Ausbildung – Identität (Rheinisches Archiv 151), 2 Bde., hier Bd. 1, Köln/Weimar/ Wien 2006, S. 30. 3 Johann Nikolaus von Hontheim war einer der dienstältesten Weihbischöfe der trierischen Bistumsgeschichte. Von 1748 bis 1790 nahm er dieses Amt wahr. Er trat jedoch mehr durch sein literarisches Schaffen hervor, besonders durch ein Werk, das dem Episkopalismus das Wort redete und nach Erscheinen indiziert wurde, im Februar 1764 durch Rom, im Juli des gleichen Jahres durch Trier. Das Buch mit dem Titel »Jurisconsulti de statu ecclesia et legitima potestate Romani Pontificis liber singularis. Bullioni« veröffentlichte der Theologe unter dem Pseudonym »Justinus Febronius«. Nach diesem Pseudonym wurde die staatskirchliche Richtung des Febronianismus benannt, die noch bis weit in das 19. Jahrhundert besonders unter der alten Elite des Erzbistums viele Anhänger hatte. Zumindest wurden zahlreiche Kleriker von dieser Richtung inspiriert. Zum Werk: Justinus Febronius (Johann Nikolaus von Hontheim), Jurisconsulti de statu ecclesia et legitima potestate Romani Pontificis liber singularis. Reuniendos dissidentes in Religione Christianos compositus, Bullioni apud Guillel-

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geprägten Episkopalismus südwestdeutscher Prägung verbunden, einer Spielart »liberaler« und nationalkirchlicher Ekklesiologie zugleich, die bereits im Übergang von der Vormoderne in die Moderne ihre beste Zeit hinter sich hatte und deren Höhepunkt in den Koblenzer Beschlüssen von 1769 und der Emser Punktation von 1786 niedergelegt war. Es ging dabei um nichts weniger als um die Herausbildung eines deutschen Staatskirchentums, dem Episkopalismus, welcher von den geistlichen Fürsten der Germania Sacra getragen werden sollte5. Doch diese Zeit war im Prinzip bereits vergangen, als die Punktation formuliert wurde, und der Katholizismus, die konfessionelle Gemengelage, die Gildemeister im Rheinland vorfand, als er in Bonn lehrte, speiste sich längst aus anderen Strömungen und Ideen, welche sogar teilweise im Rheinland ihre Heimat hatten. Olaf Blaschke spricht nicht ohne Grund von einem »Zweiten konfessionellen Zeitalter«6, und Thomas Nipperdey erkennt nicht allein den Niedergang des christlichen Glaubens in einer zunehmend säkularisierten Welt, sondern vielmehr die Kirchen als Produkt und gestaltende Mächte dieses (des 19.) Jahrhunderts zugleich7. Aber wie sah nun die konfessionelle Struktur im Rheinland des 19. Jahrhunderts aus, welche Ideen bestimmten die Kirchen an Rhein und vor allem am Ort der Heilig-Rock-Wallfahrt? Mit dem Einmarsch der französischen Revolutionstruppen ins Rheinland ab 1794 war das Ende des alten Kirchenregiments sowohl für die Katholiken als auch für die Protestanten gekommen. Denn nicht mehr Hermelin und Kurwürde waren nach 1802 Spezifikum des Kirchenoberhaupts von Trier, sondern fortan nur noch die Soutane sowie Stab und Mitra. Die Kirche war nicht länger Adelskirche, Domkapitel und Bischofsämter fielen zwar mit zeitlicher Verzögerung und nicht abrupt mit dem Stichjahr 1802 aber dennoch nicht länger als lukrative Versorgungspositionen an die jüngeren Söhne des Hochadels. Als die Geschichtsschreibung das Konstrukt des »langen 19.

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mum Evrardi, [Frankfurt] MDCCLXIII (1763). Zu Geschichte und Rezeption des Febronius vgl. Leo Just, Zur Entstehungsgeschichte des Febronius, in: Jahrbuch für das Bistums Mainz 5 (1950), S. 369 – 382; Leo Just, Der Widerruf des Febronius (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 3), Wiesbaden 1960. Vgl. Otto Mejer, Febronius. Weihbischof Johann Nicolaus von Hontheim und sein Widerruf, Tübingen 1880; Volker Pitzer, Justinus Febronius. Das Ringen eines katholischen Irenikers um die Einheit der Kirche im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1976. Zu Jansen sowie zur entsprechenden Literatur vgl. Karin Groll, Jansen(ius), Cornelius d. J., in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Bd. 2, Hamm 1990, Sp. 1551 – 1552 (Artikelanfang). Zum Emser Kongress vgl. Ernst Hermann Münch, Geschichte des Emser Kongresses und seiner Punktate, Karlsruhe 1840. Vgl. Olaf Blaschke (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 403.

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Jahrhunderts« prägte, dachten die Protagonisten zumeist an staats- und wirtschaftspolitische, zuweilen auch gesellschaftspolitische Umwälzungen, die 1789 für Europa ihren Anfang nahmen und den alten Kontinent mit dem Jahr 1914 (oder 1913?) in die ambivalente Zerrissenheit der Moderne katapultierten. Doch hielt nicht unbedingt eine modernere Theologie mit den Franzosen Einzug in die altehrwürdigen Kathedralen. Im Gegenteil. Zunächst waren es nur die staatskirchenrechtlichen Rahmenbedingen, die eine neue Situation sowohl für die Protestanten als auch für die Katholiken schufen. Denn durch die Säkularisation der geistlichen Territorien, die militärischen Siege der französischen Revolutionstruppen und die Einnahme des linken Rheinlands bis 1794 und nicht zuletzt durch die nachfolgende Durchdringung der linksrheinischen, später auch der rechtsrheinischen Länder von den Ideen der Revolution, hielt das Prinzip der Religionsfreiheit Einzug in Politik und Staatsführung. Es kam zu einer Blüte evangelischen Gemeindelebens in ehemals katholischen Herrschaften und Regionen und umgekehrt. Wie auch für die katholische Kirche, so wurde auch für die Protestanten im linksrheinischen Raum eine völlig neue Kirchenstruktur nach staatlichen Maßgaben kreiert. Eine Struktur, die sich – so war die Meinung des revolutionären Staates – grundsätzlich nach »vernünftigen« Kriterien richten sollte. Historische Bindungen sollten dabei keine Rolle spielen8. Mit der Neuumschreibung der Bistümer im Rheinland ging eine Angleichung der pastoralen mit den kommunalen Strukturen einher, ein Pfarrsprengel richtete sich nach der Kantonsumgrenzung und Hilfspfarrsprengel nach denen der Mairien. Hinzu kam, dass nunmehr meist ein Bistum mit den Grenzen der Departements identisch war und so alte gewachsene Strukturen auseinander gerissen wurden9. So schrumpfte beispielsweise das altehrwürdige Erzbistum Trier auf das kleine und unzusammenhängende Saardepartement, und das Bistum Aachen wurde zu Lasten des Erzbistums Köln sowie des östlichen Teils des Erzbistums Trier auf Grundlage der Umgrenzung der Departements Roer und Rhein-Mosel neu geschaffen. Aachen war übrigens eines der wenigen Bis8 Vgl. hierzu Herbert Frost, Die Rechtstellung des Kirchenkreises der evangelischen Kirche im Rheinland, dargestellt an der Kirchenordnung vom 2. 5. 1952, unter Berücksichtigung der geistlichen und historischen Grundlagen, Bonn 1958, S. 38. Vgl. auch Brigitte Duda, Die Organisation der evangelischen Kirchen des linken Rheinufers nach den Organischen Artikeln von 1802, Düsseldorf 1971. Einen guten Überblick bietet auch Hermann-Peter Eberlein, Zwischen Dreißigjährigem Krieg und Preußenzeit (1648 – 1815), in: Joachim Conrad u. a. (Hg.), Evangelisch am Rhein. Werden und Wesen einer Landeskirche, Düsseldorf 2007, S. 55 – 73. Als weiterführende Mikrostudie ist zu empfehlen Helmut Rönz, Die evangelische Gemeinde zwischen Trikolore und Hakenkreuz (1794 – 1945), in: Margret Wensky/Helmut Rönz/ Jürgen Rosen (Hg.), Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Sonsbeck. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Brühl 2008, S. 63 – 104. 9 Vgl. hierzu und im Folgenden Rönz (wie Anm. 2), S. 29 – 32.

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tümer, welches sich über zwei Departements erstreckte, und dies war in der Tat eine Reminiszenz an den großen Frankenkönig Charlesmagne, in dessen Tradition sich Napoleon durchaus sah. Die Besetzung der kirchlichen Leitungsämter durch die Franzosen war hingegen weitaus weniger strukturiert und »modern«. In Aachen wurde MarcAntoine Berdolet Bischof des neugegründeten Bistums. Ein Mann Napoleons und des althergebrachten Gallikanismus aber wie sein Amtsbruder in Trier Charles Mannay nicht unbedingt neuen theologischen Denkweisen zugetan. So war es nicht verwunderlich, dass Mannay sich in Trier in der Theologenausbildung vor allem auf den altaufklärerischen Bestand des Clemens-Seminars sowie auf durch Säkularisierung freigewordene Thomisten stützte. Von ihnen war nicht viel Neues zu erwarten, eher das altbekannte episkopalistische und zugleich streng scholastische Denken, welches spätestens mit Trient für die Priesterausbildung festgeschrieben wurde10. Dies änderte sich für die Ausbildung der Theologie im Rheinland dramatisch mit der Ankunft der Preußen 1815. Mit dem Wiener Kongress 1815 und der vorhergehenden vollständigen Niederlage des französischen Kaiserreiches kam auch das Ende der Herrschaft Frankreichs am Rhein. Der Raum ging vollständig an die neu gegründeten Provinzen Herzogtum Niederrhein und Jülich-Kleve-Berg im siegreichen Königreich Preußen (ab 1822 Rheinprovinz). Wenn auch altbekannte Landesherrn an den Rhein zurückkehrten, so war doch die Situation 1815 eine vollständig andere als die im Jahre 1794. Nicht nur hinsichtlich der Verwaltungsstrukturen, sondern auch der Wirtschaft, der Rechtsordnung, der Besitzstrukturen und ganz besonders der von der französischen Herrschaft inspirierten Ideenwelt waren das Rheinland sowie die Pfalz und Rheinhessen vor 1794 und nach 1815 nicht mehr vergleichbar. Eine von den Franzosen eingeleitete Änderung war die Vereinheitlichung des territorial zersplitterten Kirchenwesens. Diese wurde in preußischer Zeit nach 1815 verstärkt fortgesetzt – doch diesmal nicht nur mit der Zielsetzung einer einheitlichen Gemeindegröße und -struktur. Das evangelische Rheinland war im Ausgang des 18. Jahrhunderts nicht nur territorial, sondern auch konfessionell stark differenziert. Es gab sowohl lutherische als auch calvinistische Gemeinden, oft nebeneinander in einem Ort, und häufig fand man Christen beider konfessionellen Richtungen in einer Gemeinde vor. Schon in französischer Zeit gab es erste, von staatlichen Regulierungsideen aber auch echten christlichen Vorstellungen gespeiste Versuche, eine Union der zahlreichen zuweilen im gleichen Dorf zerstrittenen protestantischen Gruppen herbei zu führen. Die französischen Verwaltungen taten dies, indem sie 10 Vgl. Ebd., S. 234 – 242.

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die Protestanten oftmals als eine Gruppe ansahen und ihnen entsprechend eine Kirche zuwiesen, die sowohl von Lutheranern als auch von Calvinisten genutzt werden musste11. Bekannte Beispiele sind etwa die Antoniterkirche in Köln und die Annakirche in Aachen. Ein Unionsversuch von Seiten der Kirchen erfolgte 1802 auf dem Hunsrück in Simmern und 1807 in Neuss, Köln und in Geldern. Und auch das Stolberger Gesangbuch von 1802 hatte die Grenzen der beiden Konfessionen zu überwinden versucht, blieb aber nur im Rahmen der Gemeinde wirksam12. Alle übergreifenden Versuche scheiterten am Verbot der französischen Verwaltung. Die staatliche Verwaltung wies dabei die kirchlichen Stellen auf das unterschiedliche Kirchenverständnis von Reformierten und Lutheranern hin. Doch der Gedanke war in der Welt und wurde nach 1815 für das gesamt Königreich Preußen wieder aufgegriffen: Denn vor dem Hintergrund der Entwicklung der vergangenen 30 Jahre und der allgemeinen, durch aufklärerische Ideen und dem gemeinsamen Erbe des Pietismus getragenen Überzeugung war der Boden bereitet. Aber auch harte machtpolitische Überlegungen und nicht zuletzt das persönliche religiöse Ringen des reformierten Herrschers Friedrich Wilhelm III. und seiner lutherischen Gemahlin Luise von Mecklenburg-Strelitz um den Glauben führten schließlich zu einem Durchbruch. So erging am 27. Mai 1816 eine Kabinettsordre, die für eine neue Kirchenverfassung in einer unierten evangelischen Kirche votierte13. Am 27. September des folgenden Jahres deklarierte der preußische König schließlich feierlich seinen Willen »für […] eine neu belebte evangelisch-christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters«. Sie beinhaltete jedoch nicht nur die theologische Dimension der Einheit von Calvinisten und Lutheranern im Königreich Preußen, sondern auch eine kirchenbzw. ordnungspolitische, die später im so genannten Agendenstreit eine besondere Rolle spielen sollte, denn die preußische Regierung war zunächst nicht in der Lage, die unglückliche Diskussion um die rechte Kirchenordnung von der Diskussion um die Union zu trennen. Die unierte Kirche im kirchlich-theologischen Sinne stieß ebenfalls nicht in allen Teilen Preußens und RheinlandWestfalens auf ungeteilte Zustimmung, auch wenn die kirchlichen und pastoralen Entwicklungen der vorangegangenen Jahrzehnte ihr den Boden bereitet hatten14. Die Duisburger Synode für Jülich-Kleve-Berg sowie die Oberlandsynode für Koblenz-Trier stimmten der Union 1818 bzw. 1819 zu. Die Oberlandsynode gar in überschwänglich formulierter Zustimmung. So war es auch vor allem der

11 Vgl. Eberlein (wie Anm. 8), S. 73. 12 Vgl. Rönz (wie Anm. 8), S. 71 f. 13 Vgl. Jörg van Norden, Kirche und Staat im preußischen Rheinland 1815 – 1838. Die Genese der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung vom 5. 3. 1835, Köln 1991, S. 46 – 47. 14 Vgl. Ebd., S. 71 – 73.

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Süden des Rheinlandes, in dem sich sehr früh und vermehrt unierte Kirchengemeinden bildeten. Diese neue, unierte »Evangelische Kirche im Rheinland« erhielt als nunmehr größte Landeskirche in Deutschland in etwa die Grenzen der Rheinprovinz. Damit war der Veränderungsprozess der Kirchenstrukturen jedoch noch nicht abgeschlossen, denn mit der Union verfolgte Berlin auch eine weitgehende strukturelle und liturgische Vereinheitlichung der evangelischen Kirche mit dem Fernziel einer Preußischen Synode bzw. einer Evangelischen Kirche Preußens. Im Jahr 1835 wurde zumindest ein Vorgang, nämlich jener über Rechte und Pflichten der Synoden und Gemeinden, mit der »Kirchenordnung für die evangelischen Gemeinden der Provinz Westfalen und der Rheinprovinz« zum Abschluss gebracht. Es sollte eine Verordnung »im Geiste der Mäßigung und Milde sein«15 und ging auf die Wünsche der rheinischen Gemeinden grundsätzlich ein. Der Abschluss einer allgemeinverbindlichen Gottesdienstordnung, der berüchtigten Agende von 1816, scheiterte jedoch in ihrer ursprünglichen Form. Sie wurde als zu altlutherisch und sogar katholisierend kritisiert. Erst eine von Konzessionen an die Rheinländer durchdrungene Form der Agende setzte sich 1834 durch – trotz bleibender Kritik und Murren16. Es lässt sich also konstatieren, dass Gildemeister in eine evangelische Kirche am Rhein kam, die durchaus selbstbewusst gegenüber Berlin agierte und an der der Agendenstreit nicht spurlos vorüber gegangen war. Sie war trotzdem durchtränkt von dem Bewusstsein, zur kulturprotestantischen Mehrheit in Preußen zu gehören und sah im preußischen König den Garanten für ihre hegemoniale Stellung im Königreich. Insofern sah sie sich auch nicht als Minderheitenkirche am Rhein den Katholiken unterlegen, vielmehr waren die Katholiken jene, die sich anpassen und einordnen mussten, waren sie zwar an Rhein und Mosel in der Mehrzahl, so doch in Preußen in der Minderheit. Und im Vergleich zu den Verwerfungen zwischen Preußen und den rheinischen Katholiken, die nach 1815 kamen, kann der Agendenstreit noch als harmlos bezeichnet werden. Doch zunächst zur Entwicklung des Katholizismus nach 1815 am Rhein. Mit der Bulle »De Salute Animarum« von 1821 wurden die preußischen Bistümer neu umschrieben. So kam der untere Niederrhein mit der Stiftskirche in Xanten an das Bistum Münster und die Regierungsbezirke Aachen, Köln und der Rest von Düsseldorf kamen an die Erzdiözese Köln, die

15 Vgl. Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, 2 Bde., hier Bd. 1, Berlin 1976, S. 583. 16 Vgl. Holger Weitenhagen, Das 19. Jahrhundert – die Zeit mit Preußen 1815 bis 1918, in: Conrad u. a. (wie Anm. 8), S. 74 – 95, hier : S. 77 – 78.

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Abb. 1: Das Gebiet der Evangelischen Kirche im Rheinland und die Grenzen der heutigen katholischen Bistümer (Karte: LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte Bonn)

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wieder begründet wurde. Trier musste mit dem Status eines Suffraganbistums Kölns vorlieb nehmen17. Schon kurze Zeit nach der Neuumschreibung Triers wurde mit Josef von Hommer ein ehemaliger Koblenzer Kanoniker zum Bischof geweiht18. In Köln war es Ferdinand August von Spiegel19, der den Maternusstuhl bestieg. Beide waren in der Einsicht verbunden, einer moderneren Theologie und Ausbildung freie Bahn zu verschaffen, und beide waren unzufrieden mit den Antworten von vor 500 Jahren in der Sprache von vor 100 Jahren auf Fragen der Zeit. Doch hatte Hommer in Trier einen direkteren Zugriff auf die Ausbildung des Klerus als Spiegel in Köln. Denn in Trier wurde er am kirchlichen Priesterseminar ausgebildet, während das Studium im Erzbistum Köln an der staatlichen Universität Bonn stattfand. So organisierte Hommer in Trier die Ausbildung völlig um, entließ die alten Dozenten aus der Lehre und stellte junge, unverbrauchte Theologen an, die allesamt der Hermesschule entstammten20. Auch in Bonn waren zahlreiche Professoren dem theologischen System des Georg Hermes21 verbunden, so dass mehrere Generationen von Theologen sowohl in Bonn als auch in Trier von dieser Schule geprägt wurden. Auch in der Kirchenpolitik hatte dies Auswirkungen. Mehr und mehr Vertreter des Hermesianismus kamen in hohe Kirchenämter, wurden Domkapitular oder gar Domdechant. Und auch die 17 Vgl. Rönz (wie Anm. 2), S. 230 – 233. 18 Zu Hommer und der Frühphase des preußischen Bistums Trier vgl. u. a.: Alois Thomas (Hg.), Josef von Hommer, Meditationes in vitam meam peractam. Eine Selbstbiographie (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 25), Mainz 1976. Vgl. auch Martin Persch, Josef von Hommer (1824 – 1836), in: Martin Persch/Michael Embach (Hg.), Die Bischöfe von Trier seit 1802. Festgabe für Bischof Dr. Hermann Josef Spital zum 70. Geburtstag am 31. Dezember 1995 (Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier 30), Trier 1996, S. 47 – 75. 19 Zu Ferdinand August Graf Spiegel zum Desenberg und Canstein gibt es leider noch keine größere Biographie, lediglich kleinere Beiträge sowie Spezialstudien. Vgl. hier u. a. Walter Lipgens, Ferdinand August Graf von Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat 1789 – 1835. Die Wende vom Staatskirchentum zur Kirchenfreiheit (Veröffentlichung der historischen Kommission für Westfalen, Reihe 18, 4), 2 Bde., Münster 1965. 20 Vgl. hierzu Rönz (wie Anm. 2), S. 483 – 499. 21 Zum Leben des Georg Hermes vgl. Eduard Hegel, Georg Hermes, in: Westfälische Lebensbilder, Bd. 7, Münster 1959, S. 83 – 104. Zur Theologie des Hermes vgl. u. a. Rudolf Malter, Reflexion und Glaube bei Georg Hermes. Historisch-systematische Studie zu einem zentralen Problem der modernen Religionsphilosophie, Saarbrücken 1966. Vgl. auch Hermann Breulmann, Prolegomena einer zukünftigen Dogmatik zur Begründungstheorie Georg Hermes, Würzburg 1980. Zum Hermesstreit vgl. Sebastian Merkle, Der hermesianische Streit im Lichte neuer Quellen, in: HJb 60 (1940), S. 179 – 220. Vgl. Hermann H. Schwedt, Das römische Urteil über Georg Hermes (1775 – 1831). Ein Beitrag zur Geschichte der Inquisition im 19. Jahrhundert (RQ für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 37), Freiburg 1980. Zur Rezeption in Trier vgl. Hans-Gerd Angel, Christliche Moral zwischen Vernunft und Offenbarung. Der hermesianische Entwurf des Trierer Moraltheologen Godehard Braun (1798 – 1861), Regensburg 1992.

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pastoralen und kirchenpolitischen Entscheidungen waren geprägt von der Aufklärung und dem Denken des Georg Hermes. Dass dies nicht immer den Wünschen und Vorstellungen vor Ort gerecht wurde, zeigt folgende Anekdote: Wenn Bischof Hommer auf Visitation ging, räumten die Pfarrkinder die Heiligenstatuen regelmäßig aus den Kirchen und Kapellen, denn ihm war ein überzogenes Wallfahrtswesen wie auch ein überbordener Heiligenkult suspekt. Sobald er den Ort verlassen hatte, kamen die Heiligenstatuen wieder an ihren angestammten Ort22. Man sollte nicht den Fehler machen, diese neue theologische und kirchenpolitische Richtung irgendwie ökumenisch zu deuten. Aber sie war in Ansätzen kompatibel mit bestimmten Moden der Zeit und vor allem mit den liberalen und konstitutionellen, aber auch mit den preußisch-konservativen Vorstellungen des Vormärz. Dies zeigte sich in einer flexiblen Politik gegenüber dem protestantischen Berlin, die sogar eine Einigung bei der Mischehenfrage23 zuließ und bei der meist einvernehmlich getroffenen Entscheidung von Bischofsstuhl und Krone über die Sitze in den Domkapiteln der Diözesen. Dies zeigte sich aber nicht zuletzt auch 1848, als Hermesianer, wie etwa der Nationalversammlungs-Abgeordnete und Bonner Hochschullehrer Peter Franz Knodt, vor allem im Lager der Konstitutionellen zu finden waren. Hingegen war so mancher Pfarrer aus dem frühultramontanen Lager eben nicht nah bei der Krone, sondern oftmals am linken Rand zu verorten. Trotzdem waren die meisten der politisch aktiven Kleriker bekennende Hermesianer oder zumindest Hommerzöglinge, zwei von neun in der Paulskirche aktive Priester hatten dem Deutschkatholizismus nahe gestanden, wenn auch nicht in allen Punkten, und die übrigen waren ultramontan orientiert und Träger der neuen ideologischen Ausrichtung der Kirche. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt war Hermes für die aktuelle kirchliche Ausrichtung Vergangenheit, da der Gegensatz zwischen einer jungen frühultramontanen Gruppe und den hermesianischen Führungskräften schon in den 1830er Jahre zum Ausbruch gekommen war, nämlich mit den sogenannten Seminarunruhen von 1831, als Trierer Seminaristen den lehrenden Hermesianern am Priesterseminar vorwarfen, dass sie nur in der Theorie lebten und von der pastoralen Praxis nichts verstünden24. Zum vollkommenen Bruch 22 Vgl. Joachim Schiffhauer, Das Wallfahrtswesen im Bistum Trier unter Bischof Josef von Hommer (1824 – 1836), in: Festschrift für Alois Thomas. Archäologische, kirchen- und kunsthistorische Beiträge. Zur Vollendung des siebzigsten Lebensjahres am 18. Januar 1966, dargeboten von Freunden und Bekannten, Trier 1967, S. 345 – 368. Vgl. auch weiterhin für die folgenden Passagen Rönz (wie Anm. 2), S. 499 – 525. 23 Vgl. hierzu Alois Thomas, Bischof Hommer von Trier und seine Stellung zur Mischehenfrage. Dargestellt nach den Urkunden des Trierer Bistumsarchivs, in: TThZ 58 (1949), S. 76 – 90, 358 – 373. 24 Vgl. dazu aus erster Hand Johann Anton Josef Hansen (verm.), Urkundliche Darstellung der Vorfälle im Trierischen Seminar während des Monats August 1831. Ein Beitrag zur Geschichte des Seminars, Hanau 1834.

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kam es dann nach dem Amtsantritt des Clemens August von Droste zu Vischering in Köln, im Mai 1836, und dem Tod Bischof Hommers, im November 1837, als dieser am Totenbett bekannte, dass er bei der notdürftig arrangierten Einigung zur Mischehenfrage mit Berlin eine geheime Zusatzvereinbarung unterschrieben hatte, die sein Gewissen belaste und außerhalb des kirchenrechtlichen Rahmens stünde25. Denn mit dem Tod Hommers brach auch in Trier der sich bereits in den Seminarunruhen abzeichnende, schwelende Konflikt zwischen der Hermesschule und den Vertretern frühultramontaner Denkansätze auf. Auch Gildemeister hatte hierzu eine Meinung und teilte seiner Mutter über den Tod Hommers mit: »Jetzt ist auch der Bischof von Trier gestorben, ein sehr geachteter Mann, der auch eifriger Hermesianer war ; bei der Wahl seines Nachfolgers giebt es nun viel Streit, in dem die eine Partei, das Kapitel, wieder einen Hermesianer will, die andere mit aller Macht gegenarbeitet Die Entscheidung wird für den Hermesianismus sehr wichtig werden. Von den vielen Büchern die schon in diesen Angelegenheiten erschienen sind habe ich keins gelesen; als sehr gut geschrieben werden gerühmt die Acta Hermesiana von Elvenich, der kathol. Prof. der Philosophie in Breslau u wohl einer der besten Hermesianer ist. Das ist ungefähr, was ich von der Sache berichten kann, die übrigens für mich recht den Anschein eines widrigen Pfaffengezänks hat, welches aber durch die dabei angeregten kirchlich-politischen Fragen vielleicht eine nur zu gefährliche Wichtigkeit erlangen könnte. Denn in der That, das Geringste, was den Katholiken nachgegeben wird, rächt sich sehr bitter an der ohnehin nicht gar zu würdigen Stellung der evangelischen Kirche in diesen Ländern. Indeß zweifle ich nicht, dass Preußen fest bleiben werde.«26

Droste-Vischering focht diesen Streit mit dem Hermesianismus dann bis zur Neige aus, so ging er die Hermesschüler in seiner Fakultät an, zuvörderst auch die Lehre, auch wenn er auf die staatliche Fakultät nicht den direkten Zugriff hatte. Gildemeister selbst sah mit der Selbstsicherheit des preußischen Kulturprotestanten Droste und seinen Vorgänger Spiegel sowie auch den umstrittenen Hermes vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Wirren in einem undatierten Brief an die Familie wie folgt: »Die hiesigen katholischen Händel, nach denen Papa fragt, bilden eine weitläuftige und verwickelte Geschichte, über die es natürlich nicht leicht ist etwas ganz richtiges zu sagen. Es war vor kurzer Zeit ein kleiner Artikel in der allg. Ztg. darüber, der mir ziemlich richtig scheint; doch hörte ich einen katholischen Pfarrer etwas davon in Abrede stellen, ich weiß nur nicht recht was. Der jetzige Erzbischof ist ein sehr bigotter Mann, der sich bemüht einen das Weltliche verachtenden Sinn auf abgeschmackte Weise zu Schau zu tragen. Der vorige, der fast mehr Diplomat als Priester war, aber 25 Vgl. Johannes Heckel, Bischof Hommer von Trier und die Mischehenfrage, in: ZSRG KA 17, 48 (1928), S. 559 – 566. 26 Appendix (undatiert) zum Gildemeister-Brief 1837 – 8 (01. 06. 1837)

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dadurch nur um so besser zu seiner etwas kitzlichen Stellung zwischen König und Papst paßte und sich um die kirchlichen Verhältnisse in seiner Diöces unbestrittene große Verdienste erworben hat, war sehr prachtliebend und machte einen Hof, wozu er durch seine Würde angewiesen ist, und da er persönlich reich war so konnte er die dazu ausgesetzten wie man sagt verhältnißmäßig sehr großen Summen noch bedeutend überschreiten. Der neugewählte Erzbischof legte es gleich darauf an, auf eine möglichst grobe, wirklich bornirte Art damit zu contrastiren. Als er kam ließ er die Möbeln des erzbisch. Palastes, die Teppiche, Tapeten u. drgl. auf die Böden bringen, die Küche vermauern, die unter dem vorigen zugängliche Bibliothek, die dieser noch ausnehmend aus eignen Mitteln vermehrt hatte, schließen, eine Deputation von Bonner Professoren, die ihn bei seiner Weihe gratuliren wollten, mit den Worten abfahren: sie hätten sich die Mühe sparen können, und trieb lauter solche sinnlose Streiche. Seine Begriffe von erzbischöflicher oder wohl gar apostolischer Sitteneinfalt gehen so weit in das Bäurische herunter, daß er sich nicht entblödet seine Spaziergänge auf der Chaussee mit der Pfeife im Maul anzustellen. Ein solcher Mann paßte den Papisten vorzüglich bei den Hermesianisch. Streitigkeiten die grade ausgebrochen waren. Hermes war Prof. der kathol. Theologie in Bonn, ist seit einigen Jahren todt. Wie das vielen katholischen Geistlichen gehen soll, war er früher ein completer Atheist gewesen, oder hatte ich eingebildet es zu sein, war aber durch das Studium der Philosophie – freilich ist das bei den gewöhnlichen kathol Theologen ein ganz anderes Ding als bei uns – nicht bloß zur religiösen Erkenntnis gekommen, sondern sogar mit dem ganzen orthodoxen Katholicismus versöhnt worden. Dies erzählt er selbst in der Vorrede zu einem seiner Bücher. Das System, welches er sich auf diese Weise zurechtgemacht hatte, erregte Aufmerksamkeit, er ward endlich Professor in Bonn und trug es hier unter großem Zulauf der kathol. Theologen vor, die es als ein Meerwunder der Weisheit anstaunten. Es ist schwer von diesem System einen Begriff zu geben; ich will mich auch bei weitem nicht zum Kenner desselben machen; doch habe ich einmal die Hälfte seiner sehr weitläuftigen Dogmatik durchgelesen, bis ich es satt hatte. Die Hauptsache läuft darauf hinaus, daß er sagt: »ich fange von gar Nichts an, u komme mittelst der Schlüsse der (sogenannt) Philosophie dahin, daß ich das ganze orthodoxe Kirchensystem construire, beweise und glaube.« Was das für ein Nonsens ist, brauche ich wohl nicht zu zergliedern, im Einzelnen aber kommen doch wunderbarere Dinge dabei zum Vorschein.«27

Das Kölner Ereignis im Einzelnen zu sezieren, führt an dieser Stelle sicherlich zu weit, allerdings manifestiert sich schon hier der kritische Blick Gildemeisters auf die rheinische katholische Kirche und ihre Protagonisten, vor allem aber auf deren Wissenschaftlichkeit und auf den frühen Ultramontanismus. Doch zurück zu den Wirren, deren Folgen, die Gildemeister zwar nicht übersah, aber an Äußerlichkeiten festmachte, benannt werden müssen: Mit Droste kam es nicht nur zu einem Bruch in der lehrmäßigen Kontinuität im Rheinland, sondern auch mit einem Königreich, mit dem man sich doch gerade nach Eiddiskussionen, Mischehenstreitigkeiten und Fragen der Kommunikationsfreiheit zwischen 27 Appendix (undatiert) zum Gildemeister-Brief 1837 – 8 (01. 06. 1837)

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Rom und den preußischen Bistümern arrangiert hatte. Der Höhepunkt der Wirren war schließlich die Gefangennahme Drostes und dessen Festungshaft. Zu einem bleibenden Initialerlebnis wurde es jedoch durch die publizistische Großtat eines ehemaligen Jakobiners und bekennenden Frühultramontanen, durch Josef Görres und dessen »Athanasius«28. Er war die Geburts- und Erfolgsstunde einer transalpinen Strengkirchlichkeit, eines vom Volk getragenen politischen Katholizismus, der nur wenig später auch durch eine soziale Komponente erweitert wurde und milieubildend wirkte. Zugleich begann hier auch der lange Marsch der Katholiken in den Preußenstaat. Johann Gildemeister selbst kommentierte in einem Brief an die Mutter vom 29. 12. 1837 das Ereignis, also die Festnahme Drostes, von seiner protestantischen Warte aus, und man kann durchaus konstatieren, dass auch er spätestens 1837 erkannte, dass sich ein tiefgreifender Wandel im Katholizismus abspielte: »Du fragst nach der erzbischöflichen Geschichte. Unter den Protestanten ist ganz allgemeine Freude, daß die Regierung endlich einmal, was man ihr gar nicht zutraute energisch eingeschritten ist, und man hört von dieser Seite, wie es wohl anderwärts geschehen soll, den Schritt von Keinem bestreiten, was freilich an einem Ort, wo man das Treiben der Katholiken so recht unter den Augen hat, kein Wunder ist. Preußen erntet indeß die bittern Früchte seiner zu großen Nachgiebigkeit, die es gegen den Heiligen Stuhl geübt hat; dies unverschämte Volk ist nicht zu sättigen; wäre nur statt des beklagenswerthen Hardenbergischen Concordats von 1821 das Napoleonische in Kraft geblieben! Jetzt wird auch die Rede des Papstes im Consistorium zu Euch gekommen sein, mit der er so unbesonnen losgefahren ist. Das muß die Sache freilich zu einem ganz andern Ende führen, als man anfangs glaubte. Ich stimme dafür, daß ihm jetzt die Daumenschrauben angesetzt werden. Der jetzige Papst (gemeint ist Gregor XVI.) soll ein sehr gelehrter Mann sein, der sein Leben durch bloß in seiner Mönchszelle gesessen hat, und sich ein Ideal von hierarchischer Macht an Gregor VII. abgezogen hat, das er nun mit Gewalt verwirklichen will, und über die Möglichkeit eines solchen Vorsatzes ganz blind ist. Von einem solchen läßt sich freilich kein Nachgeben erwarten. […] Von den Katholiken scheint es als wenn die einsichtigeren und Gebildeten die Maßregeln der Regierung völlig billigen; das Volk aber ist natürlich höchst aufgebracht, so wie alle welche das Feuer schüren; was privatim geschieht weiß man natürlich nicht, aber es werden aufrührerische Schriften verbreitet, die in Belgien gedruckt sind, und meist sehr abgeschmackt sein sollen. Zu ernsten Auftritten wird es indeß wohl nicht kommen. Hier hat neulich ein Kaplan auf der Kanzel gebetet, der König möge doch zur wahren Religion sich bekehren lassen. Überhaupt werden die Pfaffen nur durch die Drohung strenger Ahndung von ähnlichen Predigten abgehalten. Einer hat auf der Kanzel gesagt; frech und unbesonnen genug: er dürfte nicht predigen was er wolle, sonst würde er schon anders reden.«29

28 Vgl. Josef Görres, Athanasius, Regensburg 1838. Vgl. auch Josef Görres, Kirche und Staat nach Ablauf der Cölner Irrung, Weissenburg a. S. 1842. 29 Gildemeister-Brief 1837 – 21 (29. 12. 1837)

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Genauso stellte es sich auch für das Heilig-Rock-Bistum Trier dar : Bischof Hommer wurde 1824 in die Diözese eingeführt, was zu weitreichenden Neuausrichtungen vor allem im Bereich Ausbildung und in der Personalpolitik am Bischofssitz führte. Als auf Hommer nach den bereits erwähnten, parallel verlaufenden und die gleichen Ursachen habenden »Trierer Wirren« Wilhelm Arnoldi30 folgte, kam es zu einem ebenso rasanten Umschwung, in dessen Folge die Favoriten Hommers zu Pfarrseelsorgern degradiert und durch neue, überwiegend strengkirchlich ausgerichtete Professoren ersetzt wurden31. Und diese Professoren waren ebenso jung und zielstrebig wie schon jene aus der Hermesschule, die noch 1827 von Hommer berufen worden waren und jetzt den Gang in die ihnen unbekannte Pfarrseelsorge antreten mussten. Mit dieser Personalpolitik, aber vor allem bedingt durch die gesellschaftliche Entwicklung dieser wichtigen Phase für die Konfessionen gingen weitere, den Klerus prägende oder zumindest involvierende Ereignisse und Entwicklungen einher, wie etwa der Kampf gegen den Hermesianismus, die umstrittene Heilig-RockWallfahrt, die Ronge-Bewegung und der Deutschkatholizismus32, die Mischehenfrage und zuletzt der Vormärz und die Revolution von 1848. Auch hinsichtlich der inneren Ordnung der Seelsorge fielen grundlegende Neuerungen und Neuordnungen in diese Zeit. Hinzu kamen die anhaltenden Auseinandersetzungen mit der neuen Obrigkeit, die sich mal um Auslandsstudien mal um Pfarrbesetzungs- oder Ausbildungsfragen drehten. Aber auch die Beziehung der Konfessionen zueinander war häufige Ursache für Auseinandersetzungen und Diskussionen, die nach Ende des Pontifikats Hommers fast parallel zu den anhaltenden Streitigkeiten an Heftigkeit zunahmen. Aber auch weiche Themen wie die eucharistische Anbetung, das Wallfahrtswesen und die Heiligenverehrung erlebten mit Arnoldi ein Comeback33. Und zumindest für Trier sollte Arnoldi hinsichtlich der Seelsorge recht behalten, litt doch das Bistum noch in den ausgehenden Hommerjahren unter Priestermangel, und mit der Rückkehr zu den spirituellen Traditionen wurde dieser Mangel nachhaltig behoben und die Weihezahlen wuchsen mehr und mehr an34. Insofern schien das so genannte »Kölner Ereignis« eine Katalysatorfunktion für die erste ernsthafte ideologische Konfrontation zwischen den Konfessionen bzw. Staat und Kirche gehabt zu haben. Und diese Funktion war insofern, dass sie staatlich konnotiert war, auch 30 Zu Arnoldi vgl. Bernhard Schneider, Wilhelm Arnoldi (1842 – 1864), in: Persch/Embach (wie Anm. 18), S. 75 – 97. 31 Vgl. hierzu Rönz (wie Anm. 2), S. 718 – 726. 32 Vgl. hierzu Alexander Stollenwerk, Der Deutschkatholizismus in den preußischen Rheinlanden (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 15), Mainz 1971. 33 Vgl. allgemein Rönz (wie Anm. 2), Kapitel 5.3 und 5.4. 34 Ebd.

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zugleich konfessionell festgelegt, sah sich die Krone doch zugleich als Schutzmacht des Protestantismus und dieser wiederum als Konfession der Krone. In welche Situation geriet nun also Johann Gustav Gildemeister, als er nach Bonn kam? Er fand einem gefestigten unierten Protestantismus vor, der den Agendenstreit überstanden hatte und sich seiner kulturellen und konfessionellen Stellung sicher war, so wie auch Gildemeister selbst, wie unschwer aus seinen Briefen herauszulesen ist, und was sich auf alle Lebensbereiche bezog. So schrieb er am 8. 9. 1844, als er sich auf den Weg nach Trier gemacht hatte: »So gelangte ich denn durch das unterste weite und mit Obstbäumen durch und durch besetzte Moselthal noch in die enge Partie und kam bis Winningen, wo ich in einer ganz unansehnlichen Kneipe, wie überhaupt für immer, ganz gut logirte. Das Dorf ist ganz protestantisch, seit alter Zeit, es war ursprünglich sponheimisch, die Leute sprechen merklich anders als sonst die Moselaner. Die Leute kuckten mich erst etwas schief an, indem sie wohl denken mußten, daß ich zum heiligen Rock pilgerte; wir verstanden uns aber bald, und sie raisonnirten gewaltig. Das Dorf ist übrigens industriös und im Ganzen wohlhabend, wie mir der Wirth sagte; nicht so pauvre wie die katholischen Moseldörfer. Der Wein der hier wächst ist ganz eigenthümlich, nicht so sauer, wie sonst, und etwas prickelnd, ein junger Wein, obgleich dies 42er war. Dies war der einzige gute Wein, den ich unterwegs (Coblenz u Trier ausgenommen) gefunden habe.«35

Winningen hat in der Tat hervorragende Weinlagen, aber es war (und ist) ein moselfränkisch sprechendes Winzerdorf, wie die benachbarten Orte Kobern, Gondorf und Güls auch. Den besten Weinberg, den Uhlen, teilt man sich bis heute mit den ungeliebten Kobernern. Und von industriöser Gemeinde kann auch keine Rede sein, da Winningen ebenso wenig von Manufakturen und Handwerksbetrieben geprägt war, wie die Orte in der näheren Umgebung36. Gildemeister fand zugleich – wie erwähnt – eine katholische Kirche vor, die gerade erst auf allen Ebenen Richtungskämpfe durchzustehen hatte: Mit dem Staat, mit der Mehrheitskonfession, mit verschiedenen theologischen Richtungen und mit kirchenpolitischen Gegensätzen. Gestärkt war jene, auch von Papst Gregor XVI. protegierte Richtung hervorgegangen, die heute gerne als ultramontan verunglimpft wird, eine in der Tat strengkirchliche, transalpine Richtung, die den althergebrachten Reichtum katholischer Spiritualität mit einem neuen Thomismus und strikter strenggläubiger Ausbildung zu kombinieren suchte. Wie diese, vor allem auch spirituelle Richtung für den jungen Bremer Studiosus aussah, damit hielt er schon früh nicht hinter dem Berg. So schrieb 35 Gildemeister-Brief 1844 – 14 (08.–09. 09. 1844) 36 Weder der Avenarius von 1842, noch andere herangezogene Quellen wie etwa der etwas früher erschienene Restorff weisen entsprechende »Industrien« für Winningen aus. Vgl. [Avenarius], Statistik und Hand-Adreßbuch der Rheinprovinz für das Jahr 1842, Coblenz 1842, S. 36.

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Gildemeister am 11. 7. 1834, also noch vor Ausbruch der Wirren, an seine Mutter : »Aus meinem letzten Briefe wirst Du Dich erinnern, daß ich zum Fronleichnamfeste nach Cöln zu gehen gedachte. Dies führte ich auch aus, da mir daran lag, baldigst den Cölner Dom zu sehen und bei der Gelegenheit zugleich die Affenschande, die an jenem Feste im Namen der Kirche getrieben wird. Da die Stiftungsbulle dieses Festes besagt, es sei eingerichtet, »um der Ketzer Unglauben und Unvernunft so recht faktisch zu widerlegen, so war ich ohnehin an der Stelle; denn kein Fest der Katholiken ist seiner Tendenz nach antiprotestantischer als dies.«37

Diese Meinung war in ihrer Vehemenz weit unter evangelischen Christen verbreitet und in den konfessionellen Umbruchsjahren der Trierer und Kölner Wirren eine Konstante der Katholikenkritik. Dies griffen die Katholiken im Rheinland gerne auf, und es kam zu so manchem handfesten Skandal, wie ein Beispiel aus St. Goar zeigt, welches die vergiftete Stimmung im Land gut wiedergibt. Der Landrat des Kreises St. Goar, Hans Karl Heuberger, beschwerte sich in einem Zeitungsbericht über eine Predigt des Geistlichen Gerber anlässlich eines Gottesdienstes zum Geburtstag König Friedrich Wilhelms III. im August 1838. Gerber, so der Vorwurf Heubergers, hätte die Evangelischen beleidigt, indem er ihnen vorwarf, dass sie einerseits die Heiligenverehrung der Katholiken als Bilderanbetung und Götzendienst bezeichneten, und anderseits einen König verehrten, der unehelichen Standes sei38. Friedrich Wilhelm III. war ein Sohn aus zweiter Ehe Friedrich Wilhelms II. Wie stark sich das Klima nach den Abgängen Hommers und Spiegels in Köln und Trier gewandelt hatte, verdeutlicht dieser Fall sehr gut. Denn solche Streitigkeiten vollzogen sich häufig vor dem Hintergrund polemisch gehaltener Kontroverspredigten, obwohl diese noch und besonders von Bischof Hommer nicht nur abgelehnt, sondern sogar verboten wurden. Hommer rief am 20. Januar 1831 die Seelsorger zur Toleranz gegenüber Andersgläubigen auf39. Doch dieser Aufruf war Vergangenheit im Prozess der zweiten Konfessionalisierung. Sein persönliches Fest sollte Johann Gildemeister jedoch noch erleben, und zwar auf jener Reise, die eben im Zusammenhang mit dem Winningenzitat bereits erwähnt wurde, seine Reise von Bonn über Koblenz nach Trier, dem Ort des Heiligen Rocks. Was war der Heilige Rock nun für eine Reliquie, wie kam sie nach Trier und wie kam es zu einer neuerlichen Wallfahrt im Jahr 1844? Über den Heiligen Rock berichtet das Johannesevangelium (19,23 f.):

37 Gildemeister-Brief 1834 – 10 (11.–23. 06. 1834) 38 Vgl. LHAK 403, Nr. 4851. 39 Vgl. Johann Jakob Blattau, Statuta synodalia, ordinationes et mandata (archi-) dioecesis Trevirensis, 9 Bde., Trier 1844 – 1859, hier Bd. 8, S. 338 – 339.

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Abb. 2: Lithografie zur Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt von 1844

»Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander : Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.«

Der Legende nach soll die heilige Helena bei einer Pilgerfahrt ins Heilige Land neben dem Heiligen Kreuz und vielen anderen Reliquien auch den Heiligen Rock gefunden haben40. Diesen und weitere Reliquien übergab sie der Trierer Kirche, der sie zudem ihren Palast schenkte, der später zum Dom umgebaut wurde. Noch heute ist der Gebäudekern mit seinem römischen Mauerwerk sichtbar, das auf das beeindruckende Alter des Domes wie auf seine Geschichte als Palast der Helena verweist. Schriftquellen zum Heiligen Rock aus dieser frühen Zeit fließen 40 Die folgenden Ausführungen zur Geschichte des Textils folgen dem im Portal Rheinische Geschichte veröffentlichten Beitrag zum Heiligen Rock von Wolfgang Schmid. Vgl. aber auch Erich Aretz u. a. (Hg.), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, 2. Auflage, Trier 1995.

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jedoch spärlich, sind vor allem hochmittelalterlich und sagen, wie Wolfgang Schmid zu recht anmerkt, mehr über die Politik des 11. und 12. Jahrhunderts aus als über die Geschichte der Tunika Christi. Und genau dies war auch der Grund, warum die Trierer Tunika nie umfänglich als echt angesehen wurde. Der Historiker Heinrich von Sybel41 und Gildemeister zählten 1844 insgesamt 20 echte Röcke Christi, 1996 wurden 52 gezählt, inzwischen sind wir bei 56 angelangt. Als Beweismittel für die Authentizität der Reliquie und ihre Wirkmächtigkeit wurden bei den Wallfahrten von 1844 und 1891 Wunderheilungen dokumentiert und publiziert, doch diese Argumentation konnte die Zweifel nicht ausräumen. 1933 wurden die Gebetserhörungen zwar noch dokumentiert, aber nicht mehr veröffentlicht. Auch architektonische und textilarchäologische Befunde konnten die Zweifel nicht zerstreuen, die bereits der Orientalist Gildemeister gemeinsam mit dem Historiker Sybel formuliert hatten. Bis 1512 blieb der Heilige Rock im Hochaltar des Trierer Doms verborgen. Dann wurde er im Rahmen eines Reichstags dort gezeigt, obwohl bereits zuvor eine Heiltumsweisung existierte. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Tunika nun alle sieben Jahre dem Volk präsentiert. Mit der Reformation nahmen die Pilgerzahlen merklich ab. Namentlich wurde von Luther auch die Heiligrockwallfahrt nach Trier genannt, als er sagte: »Zum zwanzigsten sollten die Kapellen im Freien und die Feldkirchen bis auf den Grund zerstört werden, zum Beispiel die, wo die neuen Wallfahrten hingehen: Wilsnack, Sternberg, Trier, das Grimmental und jetzt Regensburg und viel mehr an Zahl. O wie schwere, elende Rechenschaft werden die Bischöfe geben müssen, die solchen Teufelsspuk zulassen und Nutzen davon empfangen!«42

Infolge der Besetzung Triers durch Markgraf Albrecht Alkibiades von Brandenburg wurde die Wallfahrt 1552 um ein Jahr verschoben und fiel dann ganz aus. 41 Heinrich von Sybel (1817 – 1895) war ein aus Düsseldorf stammender Historiker, Politiker und Archivar. Er war zusammen mit seinem akademischen Lehrer Leopold von Ranke einer der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft. Auf Sybel geht z. B. die Seminarstruktur der universitären Geschichtswissenschaft zurück. Er gilt auch als Vater des historischen Seminars in Bonn. Als Ordinarius in München gründete er die renommierte Historische Zeitschrift, die er bis an sein Lebensende leitete. Auch war er Gründer der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, ordentliches Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften sowie seit 1874 Mitglied im preußischen Orden Pour le M¦rite für Wissenschaft und Künste. Politisch betätigte sich der scharfe Gegner des Ultramontanismus Heinrich von Sybel sowohl in der Paulskirche auf Seiten der Gemäßigten als auch später im Kaiserreich als Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Zu Sybel vgl. u. a. Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500 – 1945, Bd. 2, München u. a. 1992, S. 608. 42 Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, (1520), bearb. von Karl Benrath, Bremen 2012, S. 54.

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Erst ab Ende des 16. Jahrhunderts kam es wieder regelmäßig zu kleineren Ausstellungen. Mit der Flucht des letzten Trierer Kurfürsten Clemens Wenzeslaus infolge des Vormarsches der französischen Revolutionstruppen 1794 kam die Reliquie nach Augsburg und 1810 wieder nach Trier, wo sie ein Jahr später ausgestellt wurde43. Doch es war ein Unterschied, ob der Heilige Rock im Kaiserreich Frankreich Napoleons ausgestellt wurde, oder im protestantischen Königreich Preußen, welches erst seit 1840 wieder durch den jungen und romantischen Vorstellungen verbundenen König Friedrich Wilhelm IV. auf Annäherung an die katholische Kirche bedacht war. Denn die moderaten Töne des Königs wurden durchaus sowohl von den Protestanten, als auch von vielen Katholiken als Eingeständnis einer Niederlage angesehen und die Wallfahrt von 1844 als triumphierende Demonstratio Catholica: Auf die Ecclesia Militans folgte die Ecclesia Triumphans. Und in der Tat kamen zu der sechswöchigen Wallfahrt mehr als 750.000 Pilger. Als Vergleich: Hambach erlebte 1832 ca. 30.000 Besucher44.

Abb. 3: Johannes Czerski, Johannes Ronge und Robert Blum stellen sich der katholischen Kirche entgegen, Karikatur anlässlich der Heilig-Rock-Wallfahrt 1844

43 Vgl. Elisabeth Wagner, Die Rückführung des Heiligen Rockes nach Trier und die HeiligRock-Wallfahrt im Jahre 1810, in: Aretz u. a. (wie Anm. 40), S. 219 – 236. 44 Zahlen nach Schmid (wie Anm. 40). Die Wallfahrt von 1891 lockte mehr als zwei Millionen Pilger nach Trier, vgl. Rönz (wie Anm. 2), S. 986.

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Zwar hatte zuvor schon die Richtung des Pfarrers Ronge und der Deutschkatholiken, die scharf das Wallfahrtswesen in Trier kritisierten, größeren Zulauf. Ronge war 1844 junger Kaplan des Bistums Breslau und schickte anlässlich der Wallfahrt einen Brief an Bischof Arnoldi, in dem er diesen einen »modernen Tetzel« und die Wallfahrt ein »Götzenfest« nannte45. Die bessere Performance lieferte allerdings die strengkirchliche Seite. Ihr gelang es wesentlich besser, aus der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung zahlreiche Pilger, in der Mehrzahl Frauen, zu mobilisieren und dies als »Kreuzzug der Massen«, als »Völkerwanderung zum Heiligen Rock« zu verkaufen. Auch die katholische Publizistik sorgte dafür, dass solche Deutungen in den Pfarren und im sich bildenden Milieu Verbreitung fanden. Einer der Besucher dieser Völkerwanderung zum Heiligen Rock war Johann Gildemeister, den die Tunika Christi wohl sehr beschäftigte. Er kündigte seiner Mutter im Brief vom 21. 8. 1844 nicht ohne kritische Seitenhiebe an: »Sobald es nun gutes Wetter ist, und gerade heute fing es an, sich etwas aufzuklären, so daß ich hoffe es wird bald besser – will ich mich auf die Strümpfe machen und zuerst Lassen bei Coblenz besuchen und dann die Mosel hinaufgehn, um in Cus alle Handschriften aufzusuchen, dann nach Trier, weil hier kürzlich aus Algier einige arabische Handschriften hingekommen sind, über die ich mir morgen bei einem Bekannten in Cöln noch einige Auskunft holen will. Vielleicht ist es aber nicht der Mühe werth. In Trier ist jetzt großer Spectakel, da haben sie einen alten Lappen ausgehängt, den sie für den »ungenähten Rock Christi« ausgeben und Tausende strömen von nah und fern dahin.«46

Doch nicht nur der »Lappen« störte ihn, den Protestanten, Theologen und Orientalisten, mehr noch das Ablasswesen, welches dahinter steckte, und er schrieb seiner Mutter mit Unmut und Befremden: »Hier finden sich Leute, die für andere dahin gehen, für 20 Silbergroschen den Tag, so daß der Bezahlende das Verdienst und der Gehende den Verdienst hat.«47

Aber auch er war ein Gehender – jedoch ohne Wunsch und Aussicht auf den Ablass, denn er ging zu Fuß in die Moselmetropole, über Koblenz, Winningen und die Mosel entlang. Am 3. September 1844 erreichte er schließlich Trier, konnte sich jedoch als ebenso kritischer wie protestantischer Bildungsbürger nicht entschließen, das übliche Wallfahrtsprozedere mitzumachen, auch wenn ihn der wohlige Schauer des Protestanten über die Tunika sicherlich noch mehr reizte als die arabischen 45 Zu Ronge sowie zum Deutschkatholizismus vgl. Stollenwerk (wie Anm. 32), S. 10. Zur Rockwallfahrt 1844 vgl. u. a. auch Wolfgang Schieder, Religion und Revolution. Die Trierer Wallfahrt von 1844, Vierow 1996. Vgl. auch Rönz (wie Anm. 2), S. 526 – 555. 46 Gildemeister-Brief 1844 – 12 (21. 08. 1844) 47 Ebd.

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Abb. 4: Erinnerung an die Heilig-Rock-Wallfahrten 1844 und 1891, Original in der Library of Congress, Washington D.C.

Schriften aus Algier, die in Trier angekommen sein sollten und die er seiner Mutter als Grund für die Reise angegeben hatte. Da er sich einerseits weigerte, an den Prozessionen hin zu der Reliquie teilzunehmen, diese aber andererseits unbedingt sehen wollte, musste ein anderer Weg zum Rock gefunden werden. Dieser eröffnete ihm sein Hauswirt, der ihn schon am frühen Morgen des 4. September zum Dom geleitete. Dort wurde er vor der Öffnung des Domes, sozusagen gemeinsam mit dem Putzpersonal, bereits gegen 5 Uhr in den Dom und zum Rock gelassen48. Er beschrieb seine Eindrücke von der Reliquie und dem Wallfahrtstreiben nicht ohne die bornierte Abscheu des protestantischen Bildungsbürgers wie folgt: »Um 5 Uhr Morgens war eine Ablösungsstunde, wir warteten am Dom, bis einer kam, er präsentirte mich und dieser nahm mich mit hinein, so daß ich den Lappen mit aller Bequemlichkeit besehen konnte. Vor dem Dom stand schon seit 4 Uhr ein ungeheurer Queue Menschen; der Rock ist in einem Glasgestell ausgebreitet aufgehängt, am Hochaltar, wozu zwei breite Treppen hinaufführen, auf der einen steigt man hinauf auf der andern hinunter. Es waren schon eine Partie ähnlich begünstigter Weibsbilder da, die davor lagen und den Lappen in tiefster Andacht anbeteten. Ein Geistlicher (und zwar sitzen hier die ersten, namentlich die Domherrn u sonstige Prälaten) saß an der Seite, wo ein Loch gemacht ist, und berührte den Rock mit Gegenständen, die man ihm reicht, u die dann selbst als Reliquien gelten. (Das bedeutet auch das Wort angerührt auf dem Bilde; nur hatte ich es damals noch nicht u hätte mich auch geschämt, solche Possen zu machen). Ich stellte mich unmittelbar vor den Rock, u konnte ihn genau 48 Zu den Beschreibungen der Erlebnisse Gildemeisters in Trier ist der Beitrag von Christoph Waldecker empfehlenswert: Christoph Waldecker, »Natürlich hat man Ursache, die näheren Untersuchung zu scheuen«. Johann Gustav Gildemeister und die Ausstellung des Heiligen Rockes zu Trier 1844, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 48 (1996), S. 391 – 406.

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Abb. 5: Der Trierer Dom, Lithografie von 1823

betrachten, obschon nicht viel davon zu sehn ist; er hängt hinsichtlich der Beleuchtung und weil es früh noch nicht ganz hell war, sehr ungünstig. Die Farbe ist braunroth (man vergleicht ihn richtig mit Schwamm), u mag nach der verschiedenen Beleuchtung wechseln, daher sie einigermaßen verschieden angegeben wird. Es ist zunächst ein Hemd zu nennen, mit sehr weiten Ermeln [sic] und einer engen Öffnung am Halse. Die Länge beträgt über 5 Fuß rheinisch, es muß ihn also ein sehr langer Kerl getragen haben u doch muß er bis auf die Füße gefallen sein. In den Büchern steht, man könne nicht erkennen ob er gewirkt oder gewebt sei, aber man sieht deutlich daß er gewebt ist, dies bestätigte mir auch einer, der ihn mit dem Vergrößerungsglas betrachtet hatte. Von welchem Stoff, ist nicht zu sagen, es müßte sich das, namentlich unter dem Microscop leicht ausmachen lassen, natürlich hat man Ursache die nähere Untersuchung zu scheuen. Ein Trierer, den ich nachher traf, der den Rock für sich sehr gut abgezeichnet

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hatte u Kenntnisse von Farben zu haben schien, sagte mir, er glaube sehr, daß die ursprüngliche Farbe Purpur gewesen sei. Was mich nun besonders auf den Plumeu begierig gemacht hatte, war die Angabe, es seien am Saum Spuren verloschener Schriftzüge. War dies so, so lag die Vermuthung am nächsten, daß dies arabische Schrift sei, denn in den Kreuzzügen sind eine Menge erbeuteter Prachtgewänder nach Europa gebracht und hier namentlich zu Messgewändern u drgl. verschnitten worden.

Abb. 6: Ausstellung des Heiligen Rocks im Trierer Dom, 2012, Foto: Bistum Trier

Auf denselben steht dann gewöhnlich der Titel des muhammed. Fürsten für den das Kleid ursprünglich gemacht war, ein Koranspruch. Dergleichen finden sich noch viele, manche sind bekannt gemacht, ich selbst habe ein unedirtes aus einer Kirche in Ostpreußen, das Nicolovius im Nachlaß seines Vaters gefunden hatte. Das Pallium, womit die deutschen Kaiser gekrönt wurden, hat bekanntlich ebenfalls eine arabische Inschrift. In St. Marcus in Venedig befindet sich ein Marmorstuhl, auf dem Petrus als Bischof von Antiochien gesessen haben soll; leider stehn darauf ein paar Sprüche aus dem Koran eingehauen, die beweisen, daß man zur Verfertigung des Stuhls einen mohammedanischen Grabstein benutzt hat. Etwas der Art konnte auch hier der Fall sein, um so mehr, als der Rock in Trier sicher erst 100 Jahr nach Beginn der Kreuzzüge erscheint. Aber allerdings war keine Spur von Schrift zu entdecken, was man dafür angesehn, sind nur einige etwas hellere Streifen, die durch das Falten wahrscheinlich verbleicht sind, und so fand ich mich in dieser Hinsicht einigermaßen getäuscht. Auch jener Zeichnende hatte davon nichts bemerkt, da er in der Nacht noch einmal dort zeichnen wollte, machte ich ihn noch besonders hierauf aufmerksam, aber obschon er drei Stunden daran gezeichnet hatte, hatte er doch nichts gefunden. Es ist auch nicht anzunehmen, daß diese etwa hinten seien.«49 49 Gildemeister-Brief 1844 – 15 (12. 09. 1844)

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Auch über die Geschichte des Rocks war Gildemeister zum Zeitpunkt seiner Fußreise nach Trier gut unterrichtet und auch den akademischen Gegner, den Priester und Professor am Priesterseminar zu Trier, Jakob Marx den Älteren, hatte er studiert. Marx war ein aus Landscheid in der Eifel stammender Kleriker und Kirchenhistoriker, der nahe und fest bei seinem strengkirchlichen Bischof Arnoldi stand, schon früh an das Seminar berufen wurde und 1848 die Richtung der Konstitutionellen vertrat, nicht ohne zugleich die Interessen der Kirche stets im Blick zu haben50. Marx war ein typischer Vertreter der neuen, ultramontanen Richtung, engagierte er sich doch im katholischen Vereinswesen, vor allem für die entstehenden und römisch orientierten Piusvereine, war unermüdlich als Redner aktiv und focht für die Freiheit der Kirche im protestantischen Staat. Über den Heiligen Rock hatte Marx ein kleines Büchlein51 verfasst, und was Gildemeister davon hielt, umschrieb er in seinem Brief an die Mutter vom 12. 9. 1844 mit klaren Worten: »Was den Wisch selbst betrifft, so ist, abgesehn von allgemeinen Gründen, welche alle und jede Reliquien der ersten christlichen Zeit treffen, nichts leichter, als seine positive Unächtheit darzuthun, denn zunächst paßt das Kleidungsstück nicht im mindesten zu der Vorstellung, die wir uns archäologisch von dem entsprechenden Unterkleid Christi (Rock ist die alte dumme Übersetzung, die auch Luther hat) machen müssen, weder nach Gestalt, denn es ging nur bis über die Knie und hatte kurze Ärmel, noch nach Farbe, denn der trug sicher nicht die kostbare Purpurfarbe sondern weiß, noch nach Stoff, denn es wird wahrscheinlich Wolle gewesen sein. Zweitens sind die historischen Zeugnisse für die Reliquie so daß sie entweder von selbst umfallen oder sich gegenseitig auffressen. Ein »Professor« an dem Priesterseminar in Trier, Marx, hat im Auftrage des Bischofs eine 10 Bogen große Schrift geschrieben, in der er eine Partie historischer Fetzen so gut oder schlecht es ging an einander geleimt hat.«52

Dann berichtete Gildemeister kurz von den historischen Hintergründen zum Rock, von der Helenalegende, die durch die Quellen selbst nicht zu halten ist, sowie von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Tradition. Bis heute sind die Ausführungen von Gildemeister und Sybel Grundlage für die historische Auseinandersetzung mit der Trierer Wallfahrt. Darüber hinaus schilderte Gildemeister aber auch die zahlreichen Legenden, die sich um die Entstehung und die Geschichte des Rocks gesponnen haben, nicht ohne diese zugleich als Legenden zu entlarven. Mehr noch erregte er sich aber über die »dumme Einfalt, der von der Ächtheit des Lappens überzeugten«53 : 50 Vgl. dazu Rönz (wie Anm. 2), S. 494 f. 51 Jakob Marx, Geschichte des h. Rockes in der Domkirche zu Trier, bearb. auf Veranlassung des Herrn Bischofs von Trier als Einleitung der öffentlichen Ausstellung dieser h. Reliquie im Herbst des Jahres 1844, Trier 1844. 52 Gildemeister-Brief 1844 – 15 (12. 09. 1844) 53 Gildemeister-Brief 1844 – 15 (12. 09. 1844)

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»Überhaupt habe ich das bemerkt, daß die vielen kathol. Pastöre, mit denen ich zu sprechen Gelegenheit hatte, in ihrer dummen Einfalt ganz zweifellos von der Ächtheit des Lappens überzogen waren, was sich nicht daraus ergab, daß sie es geradezu aussprachen, sondern aus der ganzen Anschauungsweise, wie sie ganz unwillkürlich zu Tage kam.«54

Auch störte er sich am Wallfahrtsbetrieb, eine Kritik, die allerdings nicht neu war und jede Wallfahrt seit dem 18. Jahrhundert traf. Er äußerte sich kritisch über die Länge der Wallfahrt, über die wirtschaftlichen Auswirkungen, vor allem darüber, dass die Menschen mehr als acht Tage ihrer Arbeit fern blieben. Am befremdlichsten empfand er jedoch die volksreligiöse Sicht auf das Tuch und er verglich dies mit regelrechtem Betrug: »Von dem Wunder mit der Gräfin Droste Vischering, einer Großnichte des berüchtigten Erzbischofs, habt Ihr wohl in den Zeitungen gelesen. Es ist dies ein rechtangelegter Betrug gewesen; etwas mag dabei der Wille gethan haben, der gerade bei diesem Übel (sie hatte ein contractes Bein) oft gewirkt hat; das ganze war aber vorher berechnet u calculirt. Sie konnte die Krücke weglegen, mußte sich aber nach dem Bericht Aller auf eine Begleiterin oder einen Bedienten stützen u hat nicht allein gehen können. Vorher war sie in Kreuznach gewesen, was auch sein Theil beigetragen haben mag. Auf das Volk hat dies großen Eindruck gemacht und die Person verdient mit der Zeit, sollte sie auch wieder zur Krücke greifen müssen, heiliggesprochen zu werden. Im Ganzen ist die Comödie höchst ärgerlich u fatal. – Urlichs sagt, so stellen sich die Leute in Italien nicht einmal an.«55

Aber auch die politische Dimension erkannte Gildemeister genau und seine Ahnung über die kirchenpolitischen Hintergründe waren durchaus korrekt, als er von der »Glaubensarmee aus Coblenz« als Drahtzieher sprach, jene Gruppe um Hermann Görres und Hermann Josef Dietz, die als Koblenzer Kreis einer frühultramontanen Bewegung bereits seit den 1820er Jahren zum Aufbruch verhalf56. Vermutlich trug sich Gildemeister schon in Trier oder bei seiner Fußwallfahrt mit dem Gedanken, eine Gegenschrift zu Jakob Marx zu verfassen. Jedenfalls muss er sich gleich nach seiner Rückkehr an diese Schrift gesetzt haben, gemeinsam mit dem Historiker Heinrich von Sybel, ebenfalls ein erklärter Gegner des Katholizismus und Gewächs der Bonner Hochschule. Denn schon am 20. 10. 1844 vermeldete Gildemeister in einem Brief an seine Familie, dass ein Früchtchen demnächst vom Stapel laufen werde, welches Lärm machen soll. Mit dem Früchtchen war die Gegenschrift gegen Jakob Marx’ Rockbüchlein gemeint. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Zum Koblenzer Kreis vgl. vor allem Christoph Weber, Aufklärung und Orthodoxie am Mittelrhein 1820 – 1850 (Beiträge zur Katholizismusforschung Reihe B, Abhandlungen), München/Paderborn/Wien 1973, S. 25 – 29.

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Und schon der Titel der Schrift »Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig anderen Heiligen Ungenähten Röcke«57 war Programm. Denn Sybel und Gildemeister setzten sich zum Ziel, nicht nur die Quellen von Marx kritisch zu beleuchten, sondern dessen Thesen auch zu widerlegen. Bereits vor Erscheinen des Werkes war die Spannung sowohl bei den beiden Autoren als auch bei den Interessierten, Katholiken wie Protestanten, groß. Als dann das Früchtchen am 30. 11. 1844 vom Stapel gelassen wurde, schlug es ein wie eine Bombe. Gildemeister berichtete von Glückwünschen von überall her und fertigte noch nebenher den Mitautor Sybel ab: »Das Buch ist hier wie ein Schlag unter die Leute gefahren und hat großes Glück gemacht; die vielen, die wohl von vorn herein von der Ächtheit des Rockes nicht viel hielten, aber sich aus Mangel der nöthigen Kenntnisse und der Umstände nicht entschieden aussprechen konnten, thun jetzt den Mund auf und verwundern sich über den argen Betrug. Übrigens ist bei allen vernünftigen Leuten uns das eine Urtheil, und zwar das allergünstigste, über das Buch; nur wünscht man – unter uns gesagt – daß ich es ganz geschrieben haben möchte, da die Sybelschen Abschnitte den Leuten unklar und schlecht stilisirt scheinen. Schlegel, der anfangs sehr dagegen war, daß ich mich auf die Sache einließe, Dahlmann, Blume, Hollweg und weiß Gott wer alle sind des Lobes ganz voll gewesen; was mehr werth ist, alle vernünftige Katholiken sind damit höchst zufrieden, selbst von mehreren katholischen Geistlichen weiß ich dies. Ja sogar etliche Ultramontane haben sich mit dem Ton desselben ziemlich zufrieden erklärt. Am letzten Sonntag, damit uns alle Ehre wiederfahre, ist von 2 Kanzeln gegen uns gepredigt. Danksagungsbriefe von Bekannten und Unbekannten, darunter einige komische laufen ein. In Crefeld erscheint eine französische Übersetzung auch von einer Englischen ist die Rede. In 8 Tagen stellte sich das Bedürfnis einer neuen Auflage heraus, diese wird etwas verändert und bekommt einen Nachtrag, der einige neue Röcke und höchst pikante Sachen aus den Urkunden des Provinzialarchivs von Coblenz enthalten wird.«58

Auch die hiesigen Theologen, gemeint sind die evangelischen Theologen der Universität Bonn, sollen erfreut gewesen sein, dass der Kelch einer Gegendarstellung an ihnen vorüber gegangen war, – von den katholischen Theologen kam keine öffentliche Stellungnahme – und Gildemeister wartete gespannt auf die Reaktion der Trierer Geistlichkeit, indem er konstatierte: »Es wird nun darauf ankommen, was die höhere Trierer Geistlichkeit thut. Ist sie klug, so ignorirt sie uns ganz; ist sie so dumm sich zu vertheidigen so haben wir erst recht gewonnen.«59 Zunächst ignorierte Trier den Professor aus Bonn, den Anfang der Gegenkritik machten vielmehr Gegner aus dem Bonner Raum, ein ehemaliger 57 Johann Gustav Gildemeister/Heinrich von Sybel, Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig anderen Heiligen Ungenähten Röcke, Düsseldorf 1844. 58 Gildemeister-Brief 1844 – 23 (12.–13. 12. 1844) 59 Gildemeister-Brief 1844 – 21 (28. 11. 1844)

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Hörer des Orientalisten mit der Schrift »Die kritischen Schneider«, sowie ultramontane Publizisten, die im »Katholik« deutliche Polemiken gegen Gildemeister verfassten60. Als dann Bischof Arnoldi von Trier am 20. 1. 1845 in Bonn erschien, war die prorömische Stimmung so aufgeheizt, dass man ihn mit einem Fackelzug, vor allem von Studenten, durch Bonn ehrte, an dem mehr als 650 Personen teilgenommen haben sollen. Schon zuvor, am 15. 11. 1844, hatte sich vor dem Hintergrund der Debatten über den Heiligen Rock und des ultramontanen Sturms in der Bonner Studentenschaft mit der Katholischen Studentenverbindung Bavaria die erste Verbindung diesen Typs gegründet, nichtschlagend und konfessionell festgelegt und fest zu Arnoldi und dem strengkirchlichen Gedankengut stehend61. Bavaria nannte sie sich aufgrund der zahlreichen katholischen Gelehrten in München, die ihnen zum Vorbild gereichen sollten, unter ihnen Görres, Windischmann aber auch Ignaz von Döllinger62. Die Verbindung erhielt durch die Heilig-Rock-Debatte im Wintersemester 1844/45 besonderen Zulauf und war ein weiterer Mosaikstein für die Bildung eines katholischen Milieus auch im akademischen Raum – eine indirekte Auswirkung, die von Gildemeister sicherlich nicht provoziert werden sollte. Und auch publizistisch erfolgte jetzt ein Sturm der Gegendarstellung und Polemik gegen den Orientalisten und den Historiker, dem sich jedoch beide in kämpferischer Streitlust stellten. Zu jenen, die sich dem Rock widmeten, gehörte z. B. kein geringerer als Josef Görres, dessen Werk »Die Wallfahrt nach Trier« von 1845 eine ähnliche Stellung einnehmen sollte wie der »Athanasius«. Aber auch Laien wie der Philosoph Franz Jakob Clemens, Duzbruder Gildemeisters, stiegen in den Ring und versuchten, die Kritiker des Rockes zu widerlegen63. Dies tat er, indem er zu beweisen suchte, dass 13 der angeblich 20 von Sybel und Gildemeister genannten Röcke ja nur imaginär seien und weitere acht deutliche Zeichen der Unechtheit trügen. Gildemeister wütete über seinen Freund und überzog ihn in einem Brief vom 26. 2. 1845 mit Spott: »Das neueste in Rockangelegenheiten ist, daß der Philosoph aus unserer Vorrede, mein theurer Dutzbruder, der heimlich Jesuit Dr. Clemens gegen uns schreibt, er hat sein 60 Vgl. dazu etwa Der Katholik 25 (1845), S. 43 f 61 Vgl. dazu Michael Rotthoff, Die katholischen Studentenverbindungen und –vereine in Bonn im 19. und 20. Jahrhundert, in: Arbeitskreis Bonner Korporationen ABK (Hg.), Studentenverbindungen und Verbindungsstudenten in Bonn, Haltern 1989, S. 57 – 72. 62 Etwa von Adolph Kolping, der nach München geradezu floh. Vgl. Helmut Rönz, Adolph Kolping (1813 – 1865). Gesellenvater, in: Portal Rheinische Geschichte, URL: http:// www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/K/Seiten/AdolphKolping.aspx; zuletzt besucht am 25. 3. 2013. 63 Vgl. Franz Jakob Clemens, Der heilige Rock zu Trier und die protestantische Kritik. In Würdigung der Schrift: der heilige Rock zu Trier und zwanzig anderen heiligen Röcke. Eine historische Untersuchung von Dr. J. Gildemeister und Dr. H. von Sybel, Professoren an der Universität Bonn, Koblenz 1845.

Gildemeister und die Konfessionen im Rheinland

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Opus in dem Ultramontanen Kreis vorgelesen und es ist dort sehr belobt worden; soll aber noch erst gedruckt werden. Von seinen Argumenten haben wir, da aus der Schule geschwatzt wurde, bereits Wind. Die Sache in unserm Nachtrag, daß der Rock mit Figuren durchwirkt sei, ist richtig und wird von ihm zugegeben. Das Genähtsein leugnet er. Über seine Argumente, so viel wir davon erfahren, muß man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, so verrückt sind sie.«64

Und veröffentlicht schrieb er mit Sybel im zweiten Teil seiner Rockschrift: »Es war nöthig, Hn. Clemens und den Seinen einmal auf fühlbare Weise begreiflich zu machen, dass ihre Stätte in der deutschen Wissenschaft nicht ist.«65 Diese Auseinandersetzung, die nicht nur auf dem Katheder und in den Verlagen, sondern auch auf den Kanzeln und in den Zeitungen stattfand, zog sich so noch einige Zeit hin. Den Vorteil, den Gildemeister und Sybel davon jedoch sofort hatten, war eine über Bonn hinausgehende Bekanntschaft, auch und gerade in protestantischen Herrscherhäusern.

Abb. 7: Hauptgebäude der Universität Bonn (Foto: Thomas Wolf / www.foto-tw.de)

So berief der Kurfürst von Hessen die beiden streitbaren Wissenschaftler 1845 nach Marburg. Am 2. Juli 1845 reichte Gildemeister sein Abschiedsgesuch in Bonn ein und fügte hinzu, dass er zu Bleibeverhandlungen nicht bereit wäre. Die Gegenseite nutzte den Abgang der beiden »Schneider«, um diese nochmals mit Polemik zu überziehen. Gildemeister hingegen nannte die Berufung nach Marburg, seine erste ordentliche Professur, in einem Brief vom 9. 7. 1845 an seine Mutter süffisant »ein neues Wunder des heiligen Rockes«66. Bereits 1859 kehrte er jedoch wieder nach Bonn zurück, um dort den Lehrstuhl für orientalische, speziell semitische Sprachen zu übernehmen.

64 Gildemeister-Brief 1845 – 05 (26. 02. 1845) 65 Johann Gustav Gildemeister/Heinrich von Sybel, Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig anderen Heiligen Ungenähten Röcke, Zweiter Theil. Die Advocaten des Trierer Rockes zur Ruhe verwiesen, Düsseldorf 1845, Heft 1, S. VIII. 66 Gildemeister-Brief 1845 – 15 (09. 07. 1845)

Sabine Mangold-Will

Gildemeisters Ort in der deutschen Orientalistik

Am Ende dieses Bandes kehren wir wieder an den Anfang zurück: nämlich zu Gildemeister dem Orientalisten, zu Gildemeister als Orientalist. Das war seine Profession, das war die Disziplin, die er in Bonn vertrat, das war sein Amt. So gilt es denn abschließend Johann Gildemeister in dieser Disziplin zu verorten und seinen Beitrag zu ihrer Entwicklung auszuloten. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen wird daher die Frage stehen, welche Rolle, welche Bedeutung, welche Funktion Johann Gildemeister innerhalb der Orientalischen Philologie seiner Zeit – also des 19. Jahrhunderts zwischen Befreiungskriegen und Bismarckreich1 – inne hatte. Die Geschichte der deutschen Orientalistik im 19. Jahrhunderts kann mittlerweile als recht gut erforscht gelten2 ; Raum für Streit über die imperialen Verstrickungen, den Anteil der Orientalisten am Orientalismus-Diskurs oder die dominierenden Themen innerhalb der Disziplin und der beteiligten Fächer gab und gibt es indes noch immer. Und das wird wohl auch noch länger so bleiben, weil – wie die Gildemeister-Tagung gezeigt hat – eben manche Figur und ihr Anteil an der Disziplin selbst den Spezialisten kaum bekannt ist und das Wissen über sie zweifellos zu Verschiebungen in der Wahrnehmung und Beurteilung der Orientalischen Philologie im 19. Jahrhundert beitragen wird. Gerade deswegen stellt Johann Gildemeister einen so überaus interessanten Fall dar, gehörte er doch weder zu den Pionieren der Orientalischen Philologie, noch wurde er durch das imperiale Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. geprägt. Zugleich gehörte er 1 Den Amtsantritt Kaiser Wilhelms II. erlebte Gildemeister zwar noch, aber nicht mehr die Entlassung Bismarcks, die erst 9 Tage nach seinem Tod stattfand. Gildemeister starb am 11. März 1890, Bismarck wurde am 20. März 1890 entlassen. 2 Vgl. u. a. Sabine Mangold, Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. Pascale Rabault-Feuerhahn, L’archive des origines. Sanskrit, philologie, anthropologie dans l’Allemagne du XIXe siÀcle, Paris 2008. Indra Sengupta, From Salon to discipline. State, University and Indology in Germany 1821 – 1914, Würzburg 2005.

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aber noch zu jenen Orientalisten, die ganz stark in der Tradition innerchristlicher theologischer Auseinandersetzungen standen – hatte er doch einen theologischen (in Marburg) wie einen orientalistischen Lehrstuhl (in Bonn) inne. Eine genauere Kenntnis seines Werdeganges mag also zum Verständnis der strukturellen Ablösung der Orientalistik von der Theologie und der Transformation eines theologischen zu einem religionsgeschichtlichen Interesse beitragen. Die These dieses Beitrages weist indes in eine etwas andere Richtung: Gildemeister verstand die Orientalistik gerade nicht als säkularisierte Theologie oder Religionswissenschaft, sondern als Erweiterung der Philologie als kritischer Wissenschaft; die Beschäftigung mit den Sprachen und Texten des Orients entsprang dabei nicht einem Interesse für das »Andere« im oder am Orient, sondern gerade für das Eigene im Orient, mithin also einem Interesse am Orient als dem »Archiv der (eigenen) Ursprünge«3, wie Pascale Rabault-Feuerhahn das genannt hat. Gildemeister war damit geradezu der Prototyp eines Orientalischen Philologen, der sich in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zwar jeder Aussage über Motivation und Ziel seiner Forschung enthielt, aber – wie Suzanne Marchand prägnant formuliert hat – ganz sicher seine »own penchants, prejudices, and goals«4 besaß: nämlich die Rationalisierung der Welt. Ob Gildemeister allerdings mit seiner Form des protestantischen Liberalismus mit dem emanzipatorischen Liberalismus seines Leipziger Kollegen Heinrich Leberecht Fleischer zu vergleichen ist, der eine Tendenz zu »religious ecumenicism, an openness to Jews and foreigners, and a relatively tolerant attitude towards Islam«5 bewies, kann angesichts von Gildemeisters militantem Antikatholizismus6 angezweifelt werden. Methodisch verweist Gildemeisters Leben wieder einmal darauf, daß der Blick auf die wissenschaftliche Praxis einen ganz anderen, einen viel komplexeren und daher auch spannenderen Blick auf die Geschichte der Orientalischen Wissenschaften bietet, als eine Diskursanalyse allein dies könnte. Argumentativ stützt sich die These zu Gildemeister als Orientalist auf drei respektive vier Aspekte, die in den vorangegangenen Beiträgen schon erwähnt 3 Rabault-Feuerhahn (wie Anm. 2). 4 Marchand (wie Anm. 2), S. 121. Marchand bezieht diese Aussage zwar auf Heinrich Lebrecht Fleischer, aber sie trifft auch auf den Philologen Gildemeister zu. 5 Ebd. Zu Fleischers projüdischer Haltung vgl. Ismar Schorsch, Converging Cognates. The Intersection of Jewish and Islamic Studies in Ninteenth Century Germany, in: Leo Baeck Institue Year Book 55 (2010), S. 3 – 36. Immerhin ist auch von Gildemeister überliefert, daß er wenigstens einen jüdischen Studenten hatte. Vgl. Paul Schmidt, Erinnerungen an Johann Gustav Gildemeister, in: Bonner Geschichtsblätter 29 (1977), S. 142 – 162, 161. Vgl. allerdings auch seine wissenschaftliche Fehde mit Moritz Steinschneider, in der er dem jüdischen Kollegen indirekt vorwarf weder richtig Latein, noch richtig Deutsch zu verstehen. Johann Gildemeister, Antwort, hebräische sogenannte Bibliographie betreffend, in: ZDMG 16 (1862), S. I – XXXI. 6 Siehe dazu den Beitrag von Helmut Rönz in diesem Band.

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wurden, die es nun aber in die Disziplingeschichte der Orientalistik einzuordnen gilt. Dabei handelt es sich 1. um seine Ausbildung und seine Lehrer 2. um seine Streitschrift gegen den Sanskritisten Albert Hoefer 3. um seine Mitarbeit in der DMG und ZDMG, also der 1845 gegründeten Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und der dazugehörigen Zeitschrift. Alle vier Aspekte Ausbildung, Streitschrift, Mitarbeit in der Selbstorganisation der orientalistischen Wissenschaftsgemeinde und seine Beiträge in der wichtigsten Fachzeitschrift bieten die Möglichkeit auszuloten, wo und wie sich Gildemeister selbst mit seiner Forschungspraxis innerhalb der Wissenschaftsgemeinde der Orientalisten verortete, welche methodischen und welche Netzwerkzusammenhänge, aber auch welche inhaltlichen und damit auch diskursiven Zusammenhänge er selbst suchte – und welche eben nicht.

Gildemeisters ›deutsche‹ philologische Ausbildung als Orientalist Als Johann Gildemeister 1832 sein Studium zunächst in Göttingen und 1834 in Bonn aufnahm, fand er dort drei einerseits recht unterschiedliche, andererseits aber auch recht ähnliche orientalistische Lehrer vor: den als einer der Göttinger Sieben und den meisten als Theologe bekannten Heinrich Ewald in Göttingen, der dort in der Philosophischen Fakultät auf einem Lehrstuhl für Orientalische Sprachen saß und das auch genoß und dabei munter durcheinander Hebräisch, Arabisch und Sanskrit anbot; in Bonn hingegen traf Gildemeister bereits auf Sprachspezialisten, nämlich auf den Arabisten Georg Wilhelm Freytag – der allerdings auch noch biblische Exegese las – und den Sanskritisten Christian Lassen, einen gebürtigen Norweger, sowie den schon älteren August Wilhelm Schlegel, der einen Lehrstuhl für Literatur inne hatte, auf dem er u. a. auch Sanskritlektüre anbot7. Das heißt aber, daß sich Gildemeister mit Bonn für eine Universität entschied, an der sich – anders als an den meisten anderen deutschen, auch preußischen Universitäten seiner Zeit – bereits eine institutionelle Trennung zwischen der Arabistik und dem Sanskritstudium vollzogen hatte, wenn auch Lassen vorerst seit 1830 nur ein Extraordinariat inne hatte. Noch war es eben ganz und gar nicht selbstverständlich, daß die Orientalische Philologie oder die Morgenländische Wissenschaft, wie es damals noch hieß, als Minimum 7 Zu all diesen Orientalisten vgl. die Ausführungen bei Mangold, Marchand, Rabault-Feuerhahn und Sengupta (alle wie Anm. 2), jeweils mit ausführlichen Literaturhinweisen.

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zwei Lehrstühle brauchte: einen für das »ost- und das westasiatische Fach«8, wie Heinrich Leberecht Fleischer, der einflußreichste deutsche Orientalist des 19. Jahrhunderts sich 1849 ausdrückte. Fleischers Argument für diese Teilung war indes eine ganz praktische, die ohne jeden Hinweis auf irgendwelche Sprachtheorien oder ähnliches auskam: »Der Orient unserer Studien« – so Fleischer – umfasst ein »so weites Feld, dass es nicht leicht einem Sterblichen gegeben sein möchte, dasselbe gleichmässig zu überschauen, viel weniger, selbstthätig mit allen Arbeiten in seinen verschiedenen Theilen gleichen Schritt zu halten.« Spezialisierung war lediglich der beschränkten menschlichen Kapazität geschuldet und der wissenschaftlichen Redlichkeit – und das sagte ausgerechnet ein Mann, der selbst nicht nur im Unterricht, sondern auch in seinen Publikationen das Arabische, das Osmanische, das Hebräische und das Griechische berücksichtigte, sich allerdings in der Tat nie mit den ostasiatischen Sprachen, also dem Sanskrit oder dem Chinesischen, beschäftigt hatte. Die institutionelle Trennung von Arabistik und Indologie zeichnete sich in Bonn, als der zweitwichtigsten Universität in Preußen, zwar bereits ab, aber es war keineswegs sicher, daß das einmal die Normalität werden würde. Insbesondere Schlegel trug dazu allerdings massiv bei, indem er sich durch seine guten Kontakte in die preußische Kultusbürokratie für eine eigene, die erste deutsche Sanskritdruckerei in Bonn einsetzte. Ebenfalls in der Durchsetzung begriffen war zudem die diskursive Abkoppelung der Orientalischen Philologie von der Theologie. Gildemeisters Göttinger Lehrer Heinrich Ewald postulierte 1837 im ersten Band seiner »Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes« (ZKM), die er gemeinsam mit Lassen herausgab: In ihr sollten »alle Seiten morgenländischer Literatur und Kunst gleichermaßen«9 berücksichtigt werden. »So haben wir«, schrieb er mahnend an seine Fachgenossen, »die viel umfassendere Aufgabe, das ganze Morgenland unserer Erkenntnis und Bildung anzueignen«10. »Alles Theologische« aber sollte seiner Zeitschrift und damit auch der Morgenländischen Wissenschaft ausdrücklich »völlig fremd« bleiben11. Tatsächlich gehörte Gildemeister, jedenfalls dem Bekenntnis seiner Briefe an den Vater zufolge, zu Beginn der 30er Jahre in der Praxis zu den wenigen Studenten, die ausschließlich orientalische Sprachen betreiben wollten. Wenn er sich 1834 selbst als »stud. litt. orientt.« bezeichnete12, steckte darin geradezu eine Provokation; denn es gab zu seiner Zeit noch gar 8 Heinrich Leberecht Fleischer, Ein Wort in Sachen der morgenländischen Wissenschaft, in: Deutsche Universitäts-Zeitung Nr. 18, 2. Mai 1849, S. 129 – 130, dieses wie auch das folgende Zitat S. 129. 9 Heinrich Ewald, Plan dieser Zeitschrift, in: ZKM 1 (1837), 3 – 13, das Zitat S. 10. 10 Ebd., S. 5. 11 Ebd., S. 10. 12 Gildemeister-Brief 1834 – 16 (17. 10. 1834)

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keine Möglichkeit, sich als »Orientalist« einzuschreiben. Auf dem Weg zur philosophischen Promotion, mit der er sein Studium zunächst abschloß, wurde er vielmehr zum Klassischen Philologen ausgebildet und »dabei fast eben so scharf hergenommen, wie einer der bloß Philologie studirt«13. Daß Gildemeister schließlich auf Anraten des Historikers Karl Dietrich Hüllman auch das theologische Examen ablegte14, spiegelt wiederum die reale Praxis neben der diskursiven Realität und spricht für Gildemeisters (Bremerischen) Pragmatismus und wachsende Lebensklugheit nach den Jahren des studentischen Idealismus. Man wird in Gildemeisters theologischem Studium sicher nicht bloßen Opportunismus ausmachen dürfen – dafür bewies er später in seinen theologischen Streitschriften zu viel Herzblut; aber selbst nachdem er vom hessischen Kurfürsten Wilhelm II. aufgrund seiner antikatholischen Schrift anlässlich der Ausstellung des Heiligen Rockes 184415 nach Marburg auf einen theologischen Lehrstuhl berufen worden war, hielt er diskursiv an der Ablösung der Orientalischen Philologie von der Theologie fest. Ihre Unabhängigkeit bewies er z. B., indem er einen klaren Vorrang der Philologie postulierte, nach deren Erkenntnissen sich auch die Theologie zu richten hatte16. Ebenso bezeichnend für den Bremer wie den Orientalischen Philologen war daher seine überaus kirchenkritische Position, die er im Sinne einer reformierten, rationalen Gesinnungsreligion im hessischen Kirchenstreit bezog. Alle, die auch nur etwas konservativer dachten, die in ihrem Glauben an Kirchlichkeit und an dem sich offenbarenden Gott festhielten, konnten Gildemeisters Position ohnehin nicht mehr als Theologie auffassen. Und so war es letztlich nur konsequent, daß Gildemeister – wie vor ihm bereits sein Lehrer Heinrich Ewald und nach im Julius Wellhausen – seinen Theologischen Lehrstuhl schließlich verließ, um als Orientalist zu lehren und zu schreiben. Wenn er sich fortan noch aktiv für eine Rationalisierung der Religion im säkularen Staat einsetzte, dann weniger in seinen Schriften als durch seine bibliographische und (beschränkte) pädagogische Tätigkeit. Obwohl er nach Aussagen eines seiner Schüler von jüdischtalmudischer Literatur nichts hielt, half er dem »rabbinisch gebildeten« und daher – so suggeriert es der Quellenschreiber – überforderten Bibliothekar der

13 Gildemeister-Brief 1835 – 10 (06.–11. 09. 1835). Zum vorstehenden vgl. auch Mangold (wie Anm. 2), S. 74 und 65. 14 Gildemeister-Brief 1835 – 01 (11. 01. 1835) 15 Johann Gildmeister/Heinrich Sybel, Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig anderen Heiligen umgenähten Röcke, Düsseldorf 1844. 16 Vgl. Johann Gildemeister, Blendwerke des vulgaren Rationalismus zur Beseitigung des Paulinischen Anathema, Bremen 1841 und ders., Gutachten der theologischen Facultät zu Marburg über die hessische Katechismus- und Bekenntnisfrage, Marburg 1855.

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Bonner Universitätsbibliothek bei der Katalogisierung hebräischer Handschriften17 und unterstützte auch einen jüdischen Doktoranden tatkräftig18. Gildemeister war aber nicht nur insofern ein Kind der neuen, sich konsolidierenden Orientalischen Philologie, daß er eben kein Theologe mehr sein wollte, sondern sich selbst ausdrücklich zuerst als »Orientalisten« verstand; ihm kam es auch weiterhin auf die Zusammenschau der orientalischen Sprachen an. In seiner Vermischung des ost- und westasiatischen Faches orientierte er sich indes mehr am Beispiel seines Göttinger Lehrers Ewald als an der sich zu seinen Studientagen abzeichnenden Spezialisierung innerhalb der Orientalischen Philologie. Wenn Diskurse das Sag- und Denkbare abstecken, dann bedeutete das für Gildemeister : Er gehörte (noch) zu jenen Orientalisten des mittleren 19. Jahrhunderts, die die Trennung zwischen den Sprachfamilien »Semitisch« und »Arisch« zwar zur Kenntnis nahmen und zuweilen sogar in ihre Argumentation integrierten; sag- und denkbar blieb ihm aber auch weiterhin, ja zuerst die Einheit der Orientalischen Philologie über die Sprach-Familien-Grenzen hinweg, die er nur langsam in seine Überlegungen einbezog. Seine Entscheidung für die Studienorte Göttingen und Bonn und seine Begegnung mit Ewald und Freytag hatte schließlich auch enorme Konsequenzen für seine methodische Ausrichtung. Zunächst erübrigte sich für Gildemeister durch die Begegnung mit Freytag ein langjähriges Studium in Paris, wo Antoine Isaac Silvestre de Sacy noch immer, bis 1838, den Mittelpunkt aller europäischen Orientalisten darstellte. Denn sein Lehrer Freytag gehörte zu jenen, die die philologische Schule Sacys in Deutschland etabliert hatten19. Auch daran sieht man, daß Gildmeister nicht mehr zur Pioniergeneration gehörte, denn er fand in Deutschland bereits Lehrer vor, die in Paris ausgebildet worden waren. Aus den Briefen Gildemeisters stammt nun die schöne Formulierung, Freytag habe als »Antidotum gegen das Ewaldsche Gift« de Sacys Grammatik empfohlen20. Das verweist auf durchaus unterschiedliche Auffassungen von Methodik wie Zielsetzung der Orientalischen Studien zwischen der Göttinger und der Bonner Schule: Während Ewald – es wurde oben bereits zitiert – das gesamte »Morgenland« im Blick hatte und von der Frage nach der Rationalisierung von Religion in der Geschichte umgetrieben wurde, wandte sich der ehemalige Militärpfarrer Freytag unter dem Einfluß Sacys und wohl auch Wilhelm von Humboldts der Lexikographie und der Sprache an sich als Ausdruck mensch17 Vgl. Willibald Kirfel, Johannes Gustav Gildemeister 1812 – 1890, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Sprachwissenschaft, Bonn 1970, S. 305 – 309, das Zitat S. 307. 18 Vgl. Schmidt (wie Anm. 5), S. 161. Daß Gildemeister sich je wissenschaftlich zum Islam äußerte, ist mir nicht bekannt. 19 Vgl. Mangold (wie Anm. 2), S. 127 – 130. 20 Gildemeister-Brief 1834 – 07 (29.04.–09. 05. 1834)

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licher Kultur zu. Als Ewald- wie als Freytag-Schüler war Gildemeister nun ganz offensichtlich von beiden Richtungen beeinflusst. Hinzu kam, daß sein Sanskritlehrer Lassen ihn mit dem in Paris tobenden »Streit der Philologen« vertraut gemacht haben dürfte: dem Konflikt nämlich zwischen eben Silvestre de Sacy und Lassens Pariser Lehrer Abel R¦musat, der sich um eine ganz ähnliche Frage vom Vorrang der grammatischen vor den historischen Studien drehte21. Wie ein Blick in sein Werkverzeichnis deutlich macht, tendierte Gildemeister – hier wären jedoch noch intensivere Studien nötig – eher einer Philologie zu, die vor Synthesen im Sinne einer Kunde des Orients zurückschreckte und sich zunächst auf die Sicherung der Quellen wie der lexikalischen Bedeutung der Wörter konzentrierte; allerdings war Gildemeister, das gilt es auch zu bedenken, kein Grammatiker und nicht wirklich an der Kunde einer Sprache interessiert. Aber auch die Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis der Sprachen trieb ihn nicht um, hielt er doch, wie gesagt, an der Einheit der orientalischen Philologie fest, indem er z. B. nach seiner Rückberufung nach Bonn unbeirrt Arabisch und Persisch für seine Studenten anbot22. Wenn etwas an seinen Texten auffällt, dann daß er gerne Probleme aufgriff, »die auf dem Grenzgebiet zweier philologischer Disciplinen«23 lagen, ganz so als suchte er eher nach den kulturellen Zusammenhängen und Wegen des Ideentransfers vom Osten in den Westen. Immer aber belegte er damit nicht nur die enge Verflechtung der Welt, sondern vor allem den Beitrag des Orients zur geistigen, kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit, nicht zuletzt der eigenen christlich-deutschen Gegenwart24. Diese Auffassung vom Zweck der Orientalischen Studien, der eben nicht primär auf die Fremdheit des Orients abzielte, sondern darauf, den Orient als Teil des Eigenen zu betrachten, war nun aufs Engste mit einer weiteren methodischen Entscheidung verbunden, die auf seine Lehrer zurückging. Das Bekenntnis zur Philologie, das Ewald, Schlegel, Lassen und Freytag verband, ging nämlich zugleich mit einer Ablehnung der Sprachvergleichung — la Franz Bopp einher. Alle Lehrer Gildemeisters waren Anti-Komparatisten. Pascale Rabault-Feuerhahn spricht in ihrer Geschichte der deutschen Indologie

21 Zu diesem Konflikt vgl. Der Streit der grammatischen und historischen Philologen in Frankreich, in: Das Ausland 1829, S.727 – 728 und Sabine Mangold, Anmerkungen zur deutschen Orientalistik im frühen 19. Jahrhundert und ihrem Orientbild, in: Charis Goer/ Michael Hofmann (Hg.): Der Deutschen Morgenland, München 2008, S. 223 – 241, bes. S. 238 – 239. 22 Vgl. Hermann Jacobi, Johannes Gustav Gildemeister, in: ABD 49 (1904), S. 354 – 359, das Zitat S. 357. 23 Ebd. 24 Ein Thema, das Gildemeister immer wieder aufgriff, war der Herkunftsnachweis von »orientalischen« Wörtern im Deutschen, wie »Amuletum« oder »Alchymie«. Siehe dazu das Kapitel zu seinen Beiträgen in der ZDMG.

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deswegen geradezu von einer »particularit¦ de l’Êcole de Bonn«25. Gildemeisters Problem bestand nun aber darin, daß in der Tat unter den Sanskritisten die Komparatisten zunehmend die wissenschaftliche Debatte dominierten und auch die Lehrstühle besetzten. Jene »h¦g¦monie du comparatisme«26 trug zweifellos entscheidend dazu bei, daß Gildemeister eben nie auf einen Sanskritlehrstuhl berufen wurde. Allenfalls als Nachfolger seines Lehrers Lassens wäre er in Frage gekommen; aber Gildemeister war sich wohl bewusst, daß er angesichts des noch recht jungen Alters Lassens damit in nächster Zeit nicht rechnen konnte. Auch diese institutionelle Situation trug dazu bei, daß Gildemeister sich nicht dem Sprachverwandtschafts- und schließlich Sprachfamilientrennungsdiskurs anschloß, sondern an der Einheit der orientalischen Philologie festhielt, die ihm weiterhin die Optionen auf ein Ordinariat für orientalische wie semitische Philologie in wie jenseits Preußens offen hielt. Wo indes auch das nichts half, konnte er – wie in Hessen – weiterhin auf seine konfessionell-politische Haltung hoffen. Immerhin war er in Berlin allein deswegen einmal auf einer Berufungsliste gelandet, weil er sich als engagierter Liberaler und Protestant erwiesen hatte27.

Gildemeisters Kampf gegen den Sankritisten Hoefer Wie die voranstehenden Beiträge bereits deutlich gemacht haben, war Gildemeister ein vielbeschäftigter Polemiker. Doch seinen antikatholischen und innerprotestantischen Streitschriften ging 1840 bereits eine erste wissenschaftliche Polemik voraus. Leider ist immer noch keine Geschichte der Orientalistischen Streite geschrieben, aber man muß sich Gildemeister in Bonn in einer höchst kampfeslustigen Umgebung vorstellen. Auch seine beiden Bonner Lehrer Schlegel und Lassen, aber – wie Freytags giftige Worte gegen Ewald belegen – auch sein dritter Bonner Lehrer Freytag, vom Göttinger Protestierer Ewald ganz zu schweigen, schreckten vor deutlichen Urteilen nicht zurück. Sie alle begaben sich mit Freude und Verve in wissenschaftliche und politisch-ethische Diskussionen. Gerade auf dem engeren Feld der Sanskritphilologie hatte Gildemeister nun in seinem Lehrer Lassen ein wegweisendes Vorbild. Ganz im Sinne August Wilhelm Schlegels hatte Lassen bereit 1830 den Kampf gegen Franz Bopp auf-

25 Rabault-Feuerhahn (wie Anm. 2), S. 127. 26 Ebd., S. 139. 27 Vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, S. 84. Die Freundschaft Gildemeisters zu Lagarde verweist darauf, daß Gildemeisters Verhältnis zum Judentum weiterer Forschungen bedarf.

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genommen28. Diesen Kampf der Bonner Schule gegen die »falsche« Sanskritphilologie der Berliner Sprachvergleicher setzte nun Gildemeister 1840 fort. Um Gildemeisters Schrift gegen seinen Berliner Kollegen Albert Hoefer in ihrer vollen Bedeutung für die Sanskritphilologie zu erfassen29, muß man sie in drei Kontexten betrachten. Zunächst: Streit, wissenschaftliche Fehden gehörten – darauf hat die Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren wiederholt hingewiesen – zur wissenschaftlichen Praxis von Inklusion und Exklusion. Auch Gildemeisters Streitschrift lässt sich in diesem Sinne interpretieren. Der Bonner Privatdozent griff darin zugunsten des Bonner Lehrstuhlinhabers Lassen zur Feder. Albert Hoefer, der Angegriffene, hatte nämlich den »Fehler« begangen, nicht nur Gildemeisters Lehrer anzugreifen30, sondern auch dessen Beharren auf der Untersuchung des »sanskritischen Sanskrit«31. Bei Gildemeisters Schrift handelte es sich also eindeutig um einen Stellvertreterkrieg der beiden methodischen Schulen. Lassen hatte – vergleichbar zu Boeckhs klassischer Altertumskunde – von einer »Indischen Altherhumskunde«32 auf philologischer Grundlage gesprochen. In seiner Ausprägung von Philologie stand er Ewald damit näher als Fleischer, denn Lassen ging es nicht allein um die Sprache an sich, sondern um den Zugang zur Indischen Antike vermittels der Texte. Bezeichnend für diese »Sachphilologie« ist z. B. seine Schrift »Beiträge zur Kunde des indischen Althertums aus dem Mahabharata«33. Damit grenzte sich Lassen zugleich ganz bewusst und dezidiert gegen alle komparatistischen Versuche ab, das Sanskrit erst aus dem Vergleich mit anderen indogermanischen Sprachen zu verstehen; allerdings nutzte er die Sprachklassifikationen, um damit im Sinne einer »Ethnographie« Volksgruppen zu benennen34. Ganz anders fiel dagegen das Interesse Albert Hoefers aus, der in seinen Arbeiten seinem Lehrer Franz Bopp folgte, der 1816 mit seiner Schrift »Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenen der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache« die vergleichende Sprachwissenschaft der Indogermanistik begründet hatte. Hoefer kam es in seiner Arbeit eher auf lin28 Christian Lassen, Über Herrn Professor Bopps grammatisches System der Sanskrit-Sprache, in: Indische Bibliothek 3 (1830), S. 1 – 113. Vgl. Rabault-Feuerhahn (wie Anm. 2), S. 127 – 128. Zu diesem Streit vgl. auch Sengupta (wie Anm. 2), S. 27 – 34. 29 Johann Gildemeister, Die falsche Sanscritphilologie, an dem Beispiel des Herrn Dr. Hoefer in Berlin aufgezeigt, Bonn 1840. 30 Albert Hoefer, Rezension zu Christian Lassen: Anthologia Sanscritia, in: Jahrbuch für wissenschaftliche Kritik 1 (1840), S. 839 – 840, 842 – 848. Zu Hoefer vgl. Ernst Windisch. Geschichte der Sanskrit-Philologie und Indischen Altertumskunde, Teil 2, Berlin/Leipzig 1920, S. 216 – 219. 31 Vgl. Rabault-Feuerhahn (wie Anm. 2), S. 128. 32 Vgl. Christian Lassen, Indische Altertumskunde, 2 Bde., Leipzig/London 1867/1874. 33 Christian Lassen, Beiträge zur Kunde des indischen Altertums aus dem Mahabharata, in: Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 1 (1837), S. 61 – 86. 34 Rabault-Feuerhahn (wie Anm. 2), S. 128 – 129.

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guistische Probleme (z. B. die Syntax des Sanskrit) und den Vergleich der indischen Sprachen mit anderen indogermanischen Sprachen an35. Sodann ist Gildemeister 1840 selbst noch ein junger Mann ohne Anstellung; erst im Jahr zuvor hatte er habilitiert; seine Schrift gegen den Berliner Privatdozenten Hoefer stellte damit gleichermaßen eine Selbstprofilierungs- wie Bewerbungsschrift um einen Sanskritlehrstuhl dar. Und schließlich muß man sich vor Augen halten, daß nur vier Jahre zuvor eine ähnliche Fehde in der Arabistik ausgetragen worden war. Auch in diesem Falle war ein junger, noch nicht professoraler Arabist, nämlich Heinrich Lebrecht Fleischer, zur Selbstprofilierung, aber auch zur Profilierung der Arabistik insgesamt angetreten. Fleischers Polemik richtete sich gegen den Wiener Diplomaten Josef von Hammer-Purgstall und zielte auf die radikale Philologisierung der Arabistik gegen eine historische Kunde des Orients ab36. Ähnliches versuchte nun auch Gildemeister, mit dem Unterschied, daß er seinen Kampf um die Philologisierung der Sanskritstudien, wie gesagt, weniger als Abwehr ihrer Historisierung, denn als Abwehr gegen die »Vergleicher« formulierte. Im Unterschied zu Fleischer hatte er sich allerdings einen Gegner gewählt, der im Grunde nicht bekannt genug war, denn auch Hoefer war 1840 noch nicht einmal ordentlicher Professor ; er wurde vielmehr gerade im gleichen Jahr erst auf ein Extraordinariat nach Greifswald berufen. Dennoch versuchte Gildemeister mit seiner Polemik ein ähnliches Gründungsdokument der Indischen Philologie in der Tradition von August Wilhelm Schlegel und Christian Lassen zu verbreiten, wobei sich das Sanskritstudium institutionell in einer noch schlechteren Lage befand als das Arabistikstudium rund fünf Jahre früher. Denn außer Franz Bopp in Berlin hatte bis 1840 niemand einen Sanskritlehrstuhl in Deutschland inne. Schlegel saß, wie gesagt, auf einem Literaturlehrstuhl, auf dem er auch Sanskrit anbot; ansonsten wurde Sanskrit z. B. von Othmar Frank und Peter von Bohlen auf den Lehrstühlen für Orientalische Philologe in München und Königsberg mit vertreten; selbst Lassen sollte sein Ordinariat in Bonn erst 1840 antreten37. Insofern focht Gildemeister letztendlich einen Kampf um die institutionelle Etablierung der Indologie. Wollte man in Bonn gegenüber dem preußischen Ministerium auch weiterhin argumentieren, daß es einer selbständigen Vertretung des Sanskrit und der Indischen Altertumskunde bedürfe, dann musste man unbedingt verhindern, daß Bopp und seine Schüler mit ihrer Komparatistik alles dominierten, und das geschah am Besten, indem man ihre sprachlichen Fertigkeiten in Frage stellte. Nach allen Indizien scheint Gildemeisters Fehdehandschuh sein Ziel indes in keiner Hin35 Vgl. Windisch (wie Anm. 30), S. 216, 218. 36 Vgl. zu diesem Streit ausführlich Mangold (wie Anm. 2), S. 79 – 82. 37 Vgl. die Übersicht bei Rabault-Feuerhahn (wie Anm. 2), S. 429 – 446.

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sicht erreicht zu haben, denn 1847 wurde Hoefer auf den Greifswalder Lehrstuhl für orientalische Sprachen und vergleichende Grammatik berufen. Gildemeister selbst aber musste bis 1859 warten, bis sein Lehrer Freytag zurücktrat, bevor er den Lehrstuhl für Orientalische Sprachen übernehmen konnte. Aus dieser Sicht kam die Berufung nach Marburg 1845 auf einen Theologischen Lehrstuhl mehr oder weniger einer Notlösung gleich.

Gildemeisters Mitarbeit in der DMG und seine Veröffentlichungen in der ZDMG Als Gildemeister schließlich 1859 nach Bonn zurückberufen wurde, übernahm er dort – wie es seinem Ansatz entsprach – aufgrund der Krankheit Lassens schließlich auch wieder den Unterricht im Sanskrit und hielt so an der Einheit der orientalischen Philologie fest, auch wenn er in der Praxis des Unterrichts sehr wohl auch Vorlesungen zur Vergleichenden Grammatik anbot38. Dieses praktische Unterlaufen der späterhin als hegemonialen Diskurs qualifizierten Diskussionen innerhalb der Orientalischen Philologie und Sprachwissenschaft im universitären Unterricht spiegelt sich auch in seiner Veröffentlichungspraxis wieder. Untersuchungsgrundlage bilden dabei die Beiträge Gildemeisters in der ZDMG, also der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Gildemeister gehörte zwar nicht zu den Initiatoren der DMG, trat ihr aber bereits 1845 bei39. Seit 1855 beteiligte er sich zudem rege daran, die Seiten ihrer Zeitschrift zu füllen40. Obwohl sich Gildemeister 1840 als junger Privatdozent noch so vehement als Sanskritist präsentiert hatte, weisen seine Veröffentlichungen in der ZDMG nun in eine ganz andere Richtung. Dort stellte er sich mit Arbeiten zu griechischen, hebräischen, arabischen, phönizischen, syrischen und schließlich sogar zu Keilschrifttexten vor. Manche dieser Beiträge waren dabei – wie das in der ZDMG üblich war, solange Fleischer lebte – eigentlich Briefe an den Herausgeber der ZDMG, also zumeist Fleischer persönlich, aus denen Auszüge abgedruckt wurden. Immer und immer wieder ging es in diesen Beiträgen um nicht mehr und nicht weniger als die Verständnissicherung der – wie man den Eindruck hat – beliebig ausgewählten Textstücke, die dem Übersetzer mehr oder weniger zufällig in die Hände geraten waren. Es gibt keine Fragestellung, kein Erkennt38 Vgl. Jacobi (wie Anm. 22), S. 357. 39 Zur DMG vgl. Mangold (wie Anm. 2), S. 176 – 217. Zur Gründung speziell vgl. Holger Preißler, Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, in: ZDMG 145 (1995), S. 241 – 327. Vgl. auch Jahresbericht der Deutschen morgenländischen Gesellschaft für das Jahr 1845, Leipzig 1846, S. 155. 40 Vgl. Eintrag zu Gildemeister im Generalindex, in: ZDMG 100 (1950), S. 33.

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nisinteresse, unter dem die Fragmente ausgewählt wurden. Es wird einfach alles präsentiert, was an Handschriften und Fundstücken vorhanden war. Andere Forscher, so der deutliche Hinweis in einem von Gildemeisters Beiträgen, sollten dann die inhaltliche Analyse leisten. So heißt es z. B. in einem Brief an Fleischer, »genauer würde der Kenner der neuplatonischen Philosophie über diesen offenbaren Ausläufer derselben urteilen«41. Daran sieht man: Es gab bereits Diskurse, wie z. B. zur Neuplatonischen Philosophie, die ja eines der Verbindungsstücke zwischen Antike, Orient und europäischer Moderne darstellte, aber Gildemeister war nicht daran beteiligt, auch wenn er durch seine Übersetzungen, Editionen und Hinweise auf Quellenbestände dazu beitrug. Und ganz ähnlich ist es auch bei allen anderen Texten. Ihm geht es immer und immer wieder nur um die philologische Erschließung der Texte und er nutzt sie in aller Regel nicht, um ein kulturgeschichtliches Fazit daraus zu ziehen, obwohl seine Dissertation »De rebus Indiae, quo modo in Arabum notitiam venerint«42 ursprünglich doch in eine andere Richtung gewiesen hatte, genauso wie sein späteres Interesse für die Palästinakunde. Allerdings – es wurde oben schon ausgeführt – faszinierten Gildemeister weiterhin besonders jene Texte, die den Orientalischen Philologen herausforderten, der wenigstens zwei Sprachen kannte, egal ob diese nun einer »Familie« angehörten oder nicht. Inhaltlich lagen die Texte, mit denen Gildemeister sich beschäftigte damit aber stets auf Kulturgrenzen, wenn er sich zum Beispiel mit einem »Fragment des Griechischen Henoch«43 oder einem »Himyarisches Bild mit Inschrift«44 beschäftigte. Seine Beteilung am Deutschen Palästinaverein45 ist – das sei abschließend nur vermerkt – der einzige Hinweis darauf, daß Gildemeister mit seiner Arbeit als Orientalist auch kulturpolitische oder gar imperiale Tendenzen verband. Doch hier wären noch weitere Forschungen nötig. Daß auch Gildemeister – um wenigsten ganz am Schluß den unvermeidlichen Edward Said noch unterzubringen – den gleichen bildungsbürgerlichen, kulturprotestantischen und wissenschaftlichen Überlegenheitshabitus des Orientalismus, den er gegenüber den deutschen Katholiken an den Tag legte46, auch für den Islam hegte, belegt einer 41 Aus einem Briefe von Prof. Gildemeister an Prof. Fleischer, in: ZDMG 24 (1870), S. 706 – 707, das Zitat S. 707. 42 Vgl. Jacobi (wie Anm. 22), S. 354. 43 Johann Gildemeister, Ein Fragment des Griechischen Henoch, in: ZDMG 9 (1855), S. 621 – 624. 44 Ders., Himyarisches Bild mit Inschrift, in: ZDMG 24 (1870), S. 178 – 181. 45 Vgl. Hermann Guthe, Johann Gildemeister, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 13 (1890), S. III – V. Zum Deutschen Palästinaverein vgl. Mangold (wie Anm. 2), S. 217 – 225. 46 Zur Interpretation des Antikatholizismus als »innerer Orientalismus« vgl. Manuel Borutta, Der innere Orient. Antikatholizismus als Orientalismus in Deutschland 1781 – 1924, in: Monica Juneja/Margrit Pernau (Hg.): Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie, Göttingen 2008, S. 245 – 274.

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seiner Briefe aus dem Jahre 1833. Darin heißt es: »Fallen muß der Islam, das ist gewiß«47. Bezeichnenderweise erwartete er keinen verbesserten »Mohammedanismus«, sondern etwas komplett »Neues und Gutes«, das allein durch »eine Reformation von innerer Bedeutung und Kraft, wie die Luthers« bewirkt werden könne48.

Schlußbetrachtung Viererlei gilt es bei der abschließenden Beurteilung Johann Gildemeisters als Orientalist, als Orientalischer Philologe festzuhalten: 1. Gildemeister gehörte – um mit Thomas Kuhn und anderen Theoretikern der Wissenschaftsgeschichte zu sprechen – zu jenen ganz normalen Lehrern und Forschern, die so wichtig waren für die Konsolidierung von neu an den deutschen Universitäten etablierten Disziplinen. Er stand weder für großartige methodische Innovationen, noch hat er wirklich neue Themenfelder erschlossen oder entscheidend in die Diskurse des Faches eingegriffen. Er war ein stiller, fleißiger Beiträger zu verschiedenen virulenten Themen. Auch als akademischer Lehrer war er nicht besonders wirkungsvoll; immerhin aber rühmte sich der Theologe Rudolf Smend, ein Schüler Gildemeisters gewesen zu sein49. Als Wissenschaftsorganisator ist er ebenfalls nicht nach außen hervorgetreten. Insofern gehörte Gildemeister ganz klar der Phase der Konsolidierung der Orientalischen Philologie an. 2. Bedeutend ist Gildemeister innerhalb der Orientalischen Philologie dennoch, weil er sich vehement für den Erhalt und die Verselbständigung der nichtkomparatistischen Sanskritphilologie in Form eigener Lehrstühle einsetzte – wovon er zweifellos erhoffte, selbst zu profitieren. Allerdings bedeutete dieser Akt innerhalb der Orientalischen Philologie eben methodisch keinen Paradigmenwechsel, denn Gildemeisters Streit gegen Hoefers »falsche Sanscritphilologie« vollzog im Grunde nur die in der Arabistik bereits abgeschlossene Philologisierung nach. Bezeichnenderweise bringt ihm diese Imitation, die zugleich die Bestätigung von Schlegels Bekenntnis zur Philologie im Sanskritstudium darstellte, zwar fachintern Aufmerksamkeit, aber eben doch nicht das sensationelle Aufsehen, das seinerzeit Heinrich Leberecht Fleischers Angriff auf die philologischen »Missgeburten« HammerPurgstalls hervorrief. Der Gegner war der falsche und auch seine Stoßrich47 Gildemeister-Brief 1833 – 02 (23. 01. 1833) aus Göttingen. Ich danke Michaela Hoffmann-Ruf für den Hinweis auf diesen Brief. 48 Ebd. 49 Vgl. Rudolf Smend: Die Erzählung des Hexateuch, auf ihre Quellen untersucht, Berlin 1912, S. 361. Auch für die Vermittlung dieser Quelle danke ich Frau Hoffmann-Ruf.

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tung ging fehl, nachdem Bopp die Verbindung zwischen Sanskrit und Komparatistik zum Standard gemachte hatte. Gildemeisters Pamphlet war deswegen auch kein Gründungsdokument der Sanskritphilologie, sondern ein Konsolidierungsaufsatz im Sinne einer mit der Komparatistik rivalisierenden Auffassung vom Sanskritstudium. 3. Gildemeister ist ein Paradebeispiel dafür, daß Wissenschaft durch die Brille der Wissenschaftspraxis betrachtet, durchaus etwas anderes war, als uns die Diskursanalytiker glauben lassen wollen. Sicher, auch Gildemeister machte in bestimmten Texten die Einteilung in semitische und indogermanische Sprachen mit, vollzog sie vor allem in der Lehre nach; aber : Das hatte für ihn keine karrierestrategischen Gründe, es bestimmte auch nicht sein Denken. Auf seine Forschungspraxis jedenfalls wirkte die Einteilung in Sprachfamilien nicht zurück. Vielmehr betrieb er munter Arabisch, Griechisch, Sanskrit, Hebräisch, Phönizisch etc. weiterhin gemeinsam. Ihm kam es vielmehr gerade darauf an, die innere Zusammengehörigkeit der östlichen Kulturwelt und ihre Verbindung zum Westen zu präsentieren. Aus dieser Perspektive gehörte Gildemeister eindeutig einer Übergangsphase an, in der eben die Differenzierung und Spezialisierung zwar einerseits vorangetrieben, aber noch keineswegs abgeschlossen oder gar verabsolutiert war. Es gab damit – dafür steht Gildemeister exemplarisch – immer noch einen Konterdiskurs zur Einteilung in Semitistik und Indogermanistik. 4. Einen Diskurs allerdings gab es, an dem sich Gildemeister heftig beteiligte; das war aber kein orientalistischer, wohl aber eine Art Orientalismus-Diskurs: nämlich der innere gesellschafts- und religionspolitische Kampf, der Kulturkampf gegen den Katholizismus und gegen den orthodoxen Protestantismus, allgemeiner der Diskurs um die Rolle der Religion im säkularen Staat. An ihm beteiligte er sich auch, weil er als Orientalist über spezielle sprachliche Kenntnisse verfügte, vor allem aber beteiligte er sich daran als liberaler, säkularer, von der Überlegenheit des kritischen Denkens überzeugter Wissenschaftler und reformierter Protestant. Die kritische Haltung gegen den Dogmatismus der Kirche wie gegen deren Anspruch auf Anteil an Politik und Staat – diese Haltung teilte Gildemeister mit der Mehrheit seiner akademischen Kollegen, und dabei war es völlig nachrangig, ob er Orientalist war oder nicht. Für die Orientalistikgeschichte wichtig daran ist indes – jedenfalls aus meiner Perspektive –, daß deutlich – überdeutlich – wird, wie sehr die Abwehrhaltung der Orientalisten des 19. Jahrhunderts gegen den Islam konsequenter Teil einer Abwehrhaltung gegen jede Dogmatik und Kirchlichkeit war – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Mit Imperialismus oder gar kolonialen Ambitionen hatte das nichts zu tun; mit Orientalismus indes insofern, als die liberal-protestantische Angst vor der religiösen Spaltung einer als Ideal empfundenen nationalen Einheit mit der

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akademischen Arroganz einherging, die sich bei Gildemeister als Wissensautorität sowohl über den Orient wie über den Katholizismus äußerte. Denn in dreifachem Sinne, als Gegner von Freiheit, rationaler Kritik und Nation, konnten die romtreuen Katholiken als genauso gefährlich gelten wie die universalen Muslime.

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Dr. Thomas Becker ; seit 1995 Leiter des Archivs und Museums der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; 1991 – 1995 Archivar am Hauptstaatsarchiv Düsseldorf; Hauptforschungsgebiete: Rheinische Geschichte der Frühen Neuzeit, Universitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dr. Dr. Rüdiger Ham, Jurist und Historiker ; seit 2008 Richter am Landgericht Gießen; Promotion in Rechts- und Geschichtswissenschaften (2003 und 2006) an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bürgerliches Recht sowie Rechts- und Verfassungsgeschichte. Prof. Dr. Dieter Hein, Historiker ; lehrt als Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Studium der Geschichte, Germanistik und Publizistik in Bochum, Berlin und Frankfurt am Main; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des Bürgertums und der liberalen Bewegung, zur Revolution 1848/49 und zur Sozial- und Kulturgeschichte politischer Ideen. Dr. phil. Maria Hermes, Kulturwissenschaftlerin; seit 2008 in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen in den Bereichen Handschriften & Rara und Digitalisierung tätig. Kulturhistorische Dissertation zur Psychiatrie in Bremen im Ersten Weltkrieg. Diverse Veröffentlichungen zur bremischen Regional- und Psychiatriegeschichte. Wissenschaftlicher Arbeitsschwerpunkt ist die bremische Regionalgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Dr. Michaela Hoffmann-Ruf, Orientalistin, Ethnologin; seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn. Studium der Islamwissenschaft, Ethnologie und EKW in Tübingen; Promotion über tribale Macht in Oman. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Kultur Omans, materielle Kultur des Orients und Geschichte der Orientalistik in Deutschland.

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PD Dr. Sabine Mangold-Will; Juniorprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte mit den Schwerpunkten Wissenschaftsgeschichte und Internationale Beziehungen an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Islamkunde an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte sind Geschichte der europäischen Orientwissenschaften und der deutsch-türkischen Beziehungen. Aktuelle Projekte: Geschichte der Frauen in der Diplomatie; Biographie des deutsch-jüdischen Islamwissenschaftlers und Zionisten Gotthold Weil. Dr. Ulf Morgenstern, Historiker ; seit 2011 wiss. Mitarbeiter bei der Otto-vonBismarck-Stiftung; Studium in Leipzig und Coimbra (Portugal); wiss. Mitarbeiter und Assistent an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte bilden Historische Biographik, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und die Politik Otto von Bismarcks. Dr. Helmut Rönz, Historiker ; seit 2002 am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte und Lehrbeauftragter an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 1994 – 1999 Studium der Geschichte und kath. Theologie in Bonn. Promotion 2005 über den Diözesanklerus des Bistums Trier im 19. Jahrhunderts. Laufende Projekte: Portal Rheinische Geschichte, Widerstand im Rheinland 1933 – 45, Rheinischer Städteatlas. Seit 2011 Mitherausgeber der Rheinischen Lebensbilder.