Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten: Ein Methodenbuch für die pädagogische Theorie und Praxis [1. Aufl.] 978-3-658-27038-4;978-3-658-27039-1

Der vorliegende Band stellt eine praxisorientierte Einführung in die sozio-semiotische Analyse pädagogischer Konzepte so

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German Pages VIII, 146 [150] Year 2020

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Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten: Ein Methodenbuch für die pädagogische Theorie und Praxis [1. Aufl.]
 978-3-658-27038-4;978-3-658-27039-1

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Einleitung (David Kergel)....Pages 1-6
Jede Methode benötigt eine Methodologie – Oder: Mit Sozio-Semiotik die unsichtbare Ordnung der Gesellschaft lesen (David Kergel)....Pages 7-27
Was ist Erziehung? (David Kergel)....Pages 29-58
Bildung (David Kergel)....Pages 59-90
Bildungsethik (David Kergel)....Pages 91-105
Bildungsräume gestalten (David Kergel)....Pages 107-133
Anstelle eines Fazits: Perspektiven für eine bildungsdidaktische Forschung (David Kergel)....Pages 135-135
Back Matter ....Pages 137-146

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Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter

David Kergel

Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten Ein Methodenbuch für die pädagogische Theorie und Praxis

Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter Reihe herausgegeben von David Kergel, Duisburg, Deutschland Rolf Hepp, Berlin, Deutschland Birte Heidkamp-Kergel, Kleve, Deutschland

Der Prozess der Digitalisierung durchdringt zunehmend alle Lebensbereiche und führt zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Im pädagogischen Feld bedingt das digitale Zeitalter eine Re-Strukturierung von zentralen Konzepten wie Lernen, Lehren und Bildung. Im Kontext einer sich zunehmenden ausdifferenzierenden Gesellschaft, stellen Diversität und Bildung zentrale Erkenntnisgegenstände der Medienpädagogik dar, die durch den medialen Wandel re-strukturiert werden. Um vor dem Hintergrund medialer Transformationsprozesse die Komplexität von Diversität und Bildung angemessen aufarbeiten zu können, steht v.a. eine zeitgemäße Medienpädagogik und E-Learningforschung vor der Herausforderung, sich einem transdisziplinären Dialog mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zu öffnen. Ein derartiger Dialog ermöglicht es, die Komplexität von Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter mit Bezug auf Erkenntnisstrategien und Forschungsergebnissen aus anderen Disziplinen zu thematisieren und zu diskutieren: Es ergibt sich Raum für einen transdisziplinären Dialog über Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, der mit der Buchreihe initiiert und weitergeführt wird.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15766

David Kergel

Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten Ein Methodenbuch für die pädagogische Theorie und Praxis

David Kergel Duisburg, Deutschland

Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter ISBN 978-3-658-27038-4 ISBN 978-3-658-27039-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany







Eine kleine Widmung: Liebe Tialda, dieses Buch ist Dir, Deinem Lachen und Deinen strahlenden Augen gewidmet, mit denen Du Birdy und mich von Anfang an verzaubert hast. Vielleicht siehst Du irgendwann einmal in dieses Buch rein und sagst Dir, dass wir uns angestrengt haben, für Dich gute Bildungsbegleiter zu sein. Dieses Buch ist auch mit tiefen Gedanken an Pina, Dirk und Michi sowie an Wilhelmina, Caro und Tim, Niklas, Kata und Jan sowie an Markus und seine wilde Familie geschrieben worden, die wie Birdy und ich das Abenteuer Bildung erleben… auch wenn sie uns bereits einige Schritte voraus sind.







Inhaltsverzeichnis



1 Einleitung ................................................................................................................................... 1 1.1 Der Methodenbegriff in Pädagogik und Erziehungswissenschaft .................................... 1 1.2 Erkenntnisziele der vorliegenden Arbeit .......................................................................... 3 1.3 Erziehung und Bildung aus sozio-epistemologischer Perspektive .................................... 4

2 Jede Methode benötigt eine Methodologie – Oder: Mit Sozio-Semiotik die unsichtbare Ordnung der Gesellschaft lesen ............................................ 7 2.1 Sozio-semiotische Analysen thematisieren die unsichtbare Realität sozialer Wirklichkeit ...................................................................................................................... 7 2.2 Von den gesellschaftlichen Tiefenstrukturen zur performativen Dimension symbolischer Ordnung ................................................................................................... 10 2.3 Sozio-semiotische Analyse als engagierte Wissenschaftspraxis ..................................... 11 2.4 Jede Methode benötigt Begriffe .................................................................................... 12 2.4.1 Der Mensch als Individuum und Subjekt .......................................................... 13 2.4.2 Von der Macht der Subjektivierung zur performativen Interpellation ............ 15 2.5 Subjektivierung in Practice – von der Geschlechtsidentität zu Jim Crow ....................... 22

3 Was ist Erziehung? .................................................................................................................... 29 3.1 Erziehungskonstellationen – Erziehungsziele, Zu-Erziehender, Erzieher ....................... 30 3.2 Erziehung und Gesellschaft – Oder: Über die Vegesellschaftung des Subjekts ............. 31 3.3 Die warenförmig-autoritäre Struktur von Erziehungskonstellationen ........................... 33 3.3.1 Ware – Oder: Über die Standardisierung der Dinge ........................................ 34 3.3.2 Der Fetischcharakter der Ware als Erziehungsziel ........................................... 35 3.3.3 Warenförmige Erziehungskonstellationen analysieren – Oder: Über das Objekt klein a .................................................................................... 37 3.3.4 Objekt klein a in Praxis: Kind-Sein und Gender-Marketing .............................. 41 3.3.5 Die Biografie des gespaltenen Subjekts – Ein Leben im Zeichen der Ware ..... 46 3.3.6 Die Autorität des großen Anderen ................................................................... 48 3.3.7 Der Eintritt in das Autoritätssystem – Das Milgramexperiment ...................... 51 3.3.8 Der notwendige Zwang der Autorität – Oder: Über die pädagogische Anthropologie ................................................................................................. 53 3.3.9 Das Kind als wildes Wesen – Oder: Über Kohlbergs Konzept der Moralentwicklung ............................................................................................ 54 3.4 Checkliste zur Analyse von Erziehungskonstellationen .................................................. 58





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Inhaltsverzeichnis

4 Bildung ..................................................................................................................................... 59 4.1 Annäherung an einen deutungsoffenen Begriff ............................................................. 59 4.1.1 Bildung – Eine sozio-epistemologische Verortung ........................................... 60 4.1.2 Der Bürger als aktives Subjekt .......................................................................... 61 4.1.3 Bildung bei Hegel – Oder: Das Subjekt in Bewegung ....................................... 62 4.1.4 Bildung – Vom Imago Dei zur bürgerlichen Subjektwerdung ........................... 63 4.1.5 Humboldts Bildungsbegriff ............................................................................... 65 4.2 Karriere des Bildungsbegriffs ......................................................................................... 70 4.3 Bildung im Kontext erziehungswissenschaftlicher Paradigmen ..................................... 71 4.3.1 Bildung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ....................................... 72 4.3.2 Bildung im Kontext der ‚realistischen Wendung‘ der Erziehungswissenschaften ............................................................................... 73 4.3.3 Bildung in der kritischen Erziehungswissenschaft ............................................ 76 4.4 Bildungstheorie und empirische Forschung ................................................................... 78 4.4.1 Eckpunkte der transformatorischen Bildungsforschung .................................. 79 4.4.2 Zwischen Bildungstheorie und Sozialwissenschaft – Oder: ................................. Über die integrative Bildunsgforschung ........................................................... 82

5 Bildungsethik ............................................................................................................................ 91 5.1 Die Frage nach dem Anfang ........................................................................................... 91 5.2 Exkurs – Phänomenologie als Methode ......................................................................... 92 5.3 Eine kleine Phänomenologie der emotionalen Entwicklung von Säuglingen ................ 95 5.4 Die soziale Dimension von Bildung – Oder: Bildung als Dialog .................................... 102

6 Bildungsräume gestalten ........................................................................................................ 107 6.1 Bildungsorientierte Didaktik als didaktisches Modell ................................................ 107 6.2 Epistemologische Fundierung – Didaktik als epistemologisches Handeln ................. 109 6.3 Bildungsorientierte Didaktik als angewandte Ethik .................................................... 110 6.4 Lerntheoretische Begründung – Oder: ............................................................................ Vom sozio-konstruktivistischen Lernen zum Bildungslernen ..................................... 111 6.5 Dekonstruktion innerhalb der konstruktivistischen Didaktik ..................................... 113 6.6 Bildungsorientierte Didaktik als Raumdidaktik .......................................................... 115 6.7 Raumerleben und Entfremdungserfahrung bei Rousseau ......................................... 117 6.8 Reformpädagogik – Oder: ‚Eine Pädagogik vom Kind her‘ ......................................... 121 6.9 Freinet – Vom Lernort zum Bildungsraum ................................................................. 122 6.10 Handlungs- und produktionsorientierte Raumaneignung am Beispiel des ‚freien Texts‘ .............................................................................................................. 126 6.11 Vom didaktischen Modell zur didaktischen Praxis – Oder: ............................................. Zwei didaktische Paradoxa ........................................................................................ 128 6.12 Checkliste zur Gestaltung von Bildungsräumen ......................................................... 131

7 Anstelle eines Fazits: Perspektiven für eine bildungsdidaktische Forschung ............................ 135

Literatur .................................................................................................................................... 137



1 Einleitung

Im Untertitel dieser Arbeit heißt es, dass es sich um ein Methodenbuch für die pädagogische Theorie und Praxis handelt. Dem Begriff der Methode kommt folglich eine zentrale Aufgabe zu. Daher soll die Einleitung mit einer ersten Annährung an den Methodenbegriff beginnen: Die Herkunft des Wortes ‚Methode‘ kommt aus dem Griechischen. Das Wort ‚Méthodos‘ ergibt sich aus den Bestandteilen metá (entlang) und hodós (Weg). Mit Bezug auf die Wortherkunft stellen Methoden folglich geregelte Schritte dar, die dabei helfen, zielgerichtet einen Weg zu verfolgen (vgl. Danner 1979, S. 11). Methoden ermöglichen ein planvolles Vorgehen. Die vorliegende Arbeit ist ein Methodenbuch für die pädgogische Theorie und Praxis. Bei der Profilbestimmung eines Methodenbuches in der Pädagogik zeigt sich das Oszillieren zwischen Theorie und Praxis, welches die Erziehungswissenschaft als Handlungswissenschaft prägt und das auch Auswirkungen auf das Verständnis von dem Begriff Methode hat: In wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der pädagogischen Praxis werden durch Forschungsmethoden wissenschaftliche Erkenntnisse generiert, die wiederum mittels didaktischer Methoden in die Praxis eingespeist werden können. Um dieses Oszillieren zwischen Theorie und Praxis, welches auch die Pädagogik auszeichnet, analytisch fassen zu können, soll im Folgenden zwischen Pädagogik und Erziehungswissenschaften differenziert werden. 1 Einleitung

1.1 Der Methodenbegriff in Pädagogik und Erziehungswissenschaft Pädagogik kommt aus dem Griechischen und lässt sich mit ,Technik, Kunst und Wissenschaft der Kindesführung’ übersetzen. In der Wortherkunft zeigt sich die ursprüngliche Fokussierung der Pädagogik auf Jugendliche und Erwachsene. Dies änderte sich zunehmend, indem erkannt wurde, dass auch Erwachsene nie aufhören zu lernen und sich und ihre Kompetenzen stets weiterentwickeln. Heute beziehen sich Pädagogik und Erziehungswissenschaften1 in Theorie und Praxis auf die Entwicklungsprozesse von Men-

1 Böhme (2016) weist auf den Umstand hin, dass bereits in der Bezeichung ‚Erziehungswissenschaft‘ eine Fokussierung von Erziehung gegenüber Bildung vollzogen wird: „Die Erziehungswissenschaft führt bereits in ihrer Eigenbezeichnung den Schlüsselbegriff der Erziehung mit, der in starker Konkurrenz zum Sozialisations-, Lern- und vor allem zum Bildungsbegriff steht“ (Böhme 2016, S. 127).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Kergel, Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten, Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1_1

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1 Einleitung

schen und die Herausforderungen, die sich aus der Entwicklungstatsache des Menschen ergeben (der Mensch wird nicht ,fertig’ geboren, sondern baut sein ganzes Leben motorische und kognitive Fähigkeiten aus, vgl. Bernfeld 1970). Wenn Pädagogik und Erziehungswissenschaften sich beide mit den Entwicklungsprozessen und den Herausforderungen auseinandersetzen, die sich aus der Entwicklungstatsache des Menschen ergeben, stellt sich die Frage, wo der genaue Unterschied zwischen Pädagogik und Erziehungswissenschaften liegt. Und in der Tat werden die Begriffe uneinheitlich und zuweilen synonym gebraucht. Um dennoch zu klären, wofür die Begriffe Pädagogik und Erziehungswissenschaft stehen, kann der Blick auf den Ursprung beider Begriffe gelenkt werden. • Der Begriff ,Pädagogik’ stammt aus der Antike. Auch in der Antike wurde davon ausgegangen, dass der Mensch sich entwickelt. So wurde angenommen, dass der Mensch die Möglichkeit zur ,Areté’ bzw. zur Vollendung seines Wesens besitzt. Allerdings bedarf der Mensch der pädagogischen Anleitung, um sich zu vollenden (vgl. Böhm 2010). • Der Begriff Erziehungswissenschaft wurde wohl im 1800 Jahrhundert erstmals genutzt. Allerdings etablierten sich die Erziehungswissenschaften nachhaltig in den 1960er Jahren, als die sogenannte geisteswissenschaftliche Pädagogik mit der realistischen Wende durch eine stärker empirisch ausgerichtete Erziehungs- und Bildungswissenschaft abgelöst wurde (vgl. dazu eingehender 5.3). Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Differenzierung lässt sich Pädagogik als Oberbegriff für die Auseinandersetzung mit der Entwicklungstatsache des Menschen verstehen. Erziehungswissenschaft bezeichnet dagegen die systematische und wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der Entwicklungstatsache des Menschen. Aus dieser Perspektive stellt Erziehungswissenschaft einen Teilbereich der Pädagogik dar. Über Reflexionen und Forschung wird in den Erziehungswissenschaften der Entwicklungsprozess des Menschen thematisiert – z.B.: • Wie entwicklelt der Mensch seine kognitiven, emotionalen und moralischen Kompetenzen bzw. Fähigkeiten und Fertigkeiten? • Warum und wie ist Erziehung notwendig für den Entwicklungsprozess des Menschen? • Warum und wie lernen Menschen in welchen Entwicklungsphasen am besten? Neben der Entwicklung von (Er-)Kenntnissen zur Entwicklungstatsache des Menschen sind Pädagogik wie Erziehungswissenschaften über einen Praxisbezug geprägt. Es geht nicht lediglich darum, auf theoretischer Ebene Erkenntnisse zu produzieren. Vielmehr stehen auch Fragen der pädagogischen Praxis im Fokus – z.B.: • Welcher Erziehungsstil ist am besten geeignet, um die Entfaltung der Kompetenzen von Menschen optimal zu fördern? • Durch welche didaktischen Strategien können Menschen am besten beim Lernen unterstützt werden?

1.2 Erkenntnisziele der vorliegenden Arbeit

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Erziehungswissenschaft ist sowohl Reflexion- als auch Handlungswissenschaft. Bildungs- und Erziehungsprozesse werden beforscht. Zugleich werden wissenschaftlich fundierte Handlungsstrategien formuliert, wie in welchen Situationen in der pädagogischen Praxis am besten zu handeln ist bzw. wie die pädagogische Praxis verbessert werden kann. Das Oszillieren zwischen Theorie und Praxis zeigt sich auch in einer Doppelbedeutung des Begriffs der Methode im Kontext der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaften. So lässt sich zwischen einer Forschungsmethode und einer didaktischen Methode differenzieren. • Als Forschungsmethode besteht die Methode aus Strategien, die es ermöglichen, in einer Wissenschaft zu Erkenntnisen zu gelangen – Forschen ist der Praxisvollzug von Wissenschaft. Für die Strukturierung von Forschung lässt sich auf Methoden zurückgreifen. Der Einsatz von Methoden wiederum bezeichnet die Anwendung von Techniken eines Erkenntnisverfahrens im Forschungsprozess. Dabei lässt sich zwischen Methoden für die Datenerhebung, für die Datenauswertung sowie für eine datenbasierte Theoriebildung differenzieren. Letztere ermöglicht es, Erklärungsmuster für soziale Zusammenhänge zu erarbeiten. • Die Didaktik lässt sich als das Teilfeld der Erziehungswissenschaften definieren, das sich mit der Planung und Durchführung von Lehr-/Lernprozessen auseinandersetzt. Didaktische Methoden stellen Strategien dar, mit denen Lehr-/Lernszenarien konzeptioniert, implementiert und evaluiert werden können: Der Begriff der Didaktik wird „für Fragen der Begründung, Auswahl und Anordnung von Inhalten des Lehrens und Lernens verwendet. Demgegenüber werden Fragen der Gestaltung des konkreten Lehr-Lern-Prozesses unter der Bezeichnung ‚Methodik‘ zusammengefasst“ (Terhart 2015, S. 73). Beide Methodenverständnisse finden im Rahmen dieser Arbeit Anwendung und sind eng mit dem Erkenntnisinteresse und den Erkenntniszielen verbunden, welche der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen.

1.2 Erkenntnisziele der vorliegenden Arbeit Erziehung und Bildung basieren auf der Lernbedürftigkeit und Lernfähigkeit des Menschen. Dabei stellen Erziehung und Bildung beides pädagogische Betreuungsformen dar – d.h., dass Erziehung und Bildung jeweils ein Konzept darstellen, pädagogisch auf die Entwicklungstatsache des Menschen zu reagieren. Wie die Begriffe Pädagogik und Erziehungswissenschaft werden die Begriffe Erziehung und Bildung oftmals entweder synonym gebraucht oder nebeneinandergestellt. Dies erscheint umso problematischer, da Erziehung und Bildung sich als grundsätzlich verschiedene pädagogische Betreuungsformen verstehen lassen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden daher zur analytischen Klärung die Differenzen zwischen Erziehung und Pädagogik aus einer theoretischen und handlungsorientierten Perspektive herausgearbeitet. Dabei wird sowhl eine

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1 Einleitung

• theoretische bzw. sozio-semiotische Analyse von Erziehungskonstellationen als auch eine • didaktische und damit lehr-/lernpraktische Auseinandersetzung mit Bildung geleistet. Der Fokus der Analyse lässt sich hier weiter präzisieren: Ein zentrales Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit besteht in einer machtkritischen Analyse der Momente der Fremdbestimmung, die der Erziehung inhärent sind, sowie in der Freilegung von Potzenzialen zur Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, die in Bildung angelegt sind. Der These liegt ein sozio-epistemologisches Verständnis von pädagogischer Praxis zugrunde. Dieses wird im Folgenden Abschnitt skizziert.

1.3 Erziehung und Bildung aus sozio-epistemologischer Perspektive Erziehung sowie Bildung lassen sich als pädagogische Formen sozio-epistemologischer Praxis analysieren. Sozio-Epistemologie thematisiert die Erkenntnisprozesse des Subjekts, wobei erkenntnistheoretische und sozialwissenschaftlich-empirische Ansätze im Sinne des interdisziplinären Forschens für die Analyse integrativ miteinander verzahnt werden (ein Beispiel hierfür stellt die integrative Bildungsforschung dar, vgl. dazu Kergel 2018; Heidkamp & Kergel 2018). Als philosophisches Forschungsfeld thematisiert Erkenntnistheorie die Relation ‚Subjekt/Objekt‘ als anthropologische Grundkonstellation. Epistemologie ist nicht Erkenntnistheorie, die sich als die Frage nach den grundlegenden Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis verstehen lässt (vgl. Schnädelbach 2013). Vielmehr lässt sich Epistemologie als Form historisierender, wissenschaftstheoretischer Analysen verstehen: So wird der Begriff der Epistemologie „nicht einfach synonym für eine Theorie der Erkenntnis verwendet, die danach fragt, was Wissen zu wissenschaftlichem Wissen macht“ (Rheinberger 2017, S. 11). Vielmehr definiert Rheinberger Epistemologie als „Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und den Mitteln, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden“ (Rheinberger 2017, S. 11, H.i.O.). Das Erkenntnisziel der Epistemologie besteht folglich weniger darin, „wie das erkennende Subjekt seine Gegenstände unverstellt in den Blick bekommen kann“ (Rheinberger 2017, S. 12). Eher fokussieren epistemologische Analysen auf die „Bedingungen, die geschaffen wurden oder geschaffen werden müssen, um Gegenstände unter jeweils zu bestimmenden Umständen zu Gegenständen empirischen Wissens zu machen“ (Rheinberger 2017, S. 12). Sozio-epistemologisches Forschen nimmt diese Fragestellungen integrativ auf und überführt diese in soziale Kontexte. Die epistemologische Erkenntnisperspektive erfährt durch den Ansatz der SozioEpistemologie eine sozialwissenschaftliche Fokussierung: Sozio-epistemologische Fragestellungen überführen die Erkenntnisperspektive der Epistemologie auf

1.3 Erziehung und Bildung aus sozio-epistemologischer Perspekuve

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sozialwissenschaftliche Fragestellungen:2 Mit Bezug auf diese methodologischen Überlegungen lässt sich der Erkenntnishorizont sozio-epistemologischer Analyseperspektiven durch folgende heuristische Leitfragen konkretisieren: • Wie werden aus sozialen Dynamiken heraus Wirklichkeitsverständnisse generiert? • Wie emergieren aus diesen Wirklichkeitsverständnissen Subjektformationen? • Wie sind Subjektformationen als Identitätsmuster und Rollenmodelle an Narrationsmuster rückgekoppelt?3 Vor dem Hintergrund dieser heuristischen Leitfragen lässt sich die Sozio-Epistemologie als Analyseperspektive verstehen, die soziale Erkenntnisstrukturen in den Blick nimmt.4 Vor dem Hintergrund dieser Definition von Sozio-Epistemologie lassen sich die grundlegenden, pädagogischen Betreuungsformen Erziehung und Bildung sozioepistemomologisch analysieren: Zum einen setzen Erziehung wie Bildung bestimmte Wirklichkeitsverständnisse von der Entwicklungstatsache des Menschen voraus. In diesen Wirklichkeitsverständnissen differieren Erziehung und Bildung drastisch voneinander. Eine sozio-epistemologische Analyse von Erziehung und Bildung arbeitet folglich die Differenzen heraus, die zwischen den Wirklichkeitsverständnissen bestehen, denen Erziehung und Bildung zugrunde liegen. Zugleich werden Erziehung und Bildung als soziale Praktiken verstanden, die durch ihre pädagogischen Einwirkungen auf das Subjekt Wirklichkeitsverständnisse im sozialen Kontext (re Mit Bourdieu ließe sich eine solche sozialwissenschaftliche Ausdeutung der Philosophie bzw. der Epistemologie als ein interdisziplinärer Forschungsansatz verstehen, der den Herrschaftsanspruch der Philosophie als Begründungsinstanz von Wissens subversiv unterläuft: „Der Philosoph, der es zu seinem ‚Beruf‘ erhebt, Fragen zu stellen, antwortet niemals direkt auf so ‚naive‘, d.h. in seinen Augen unsachgemäße und impertinente Fragen, wie sie ihm der Soziologe so gerne stellen würde“ (Bourdieu 1975, S. 72, H.i.O.) 3 „Subjektformationen bezeichnen in diesem Kontext Selbst-/Weltverhältnis-Muster, die sich aus den sozio-epistemologischen Konstellationen gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse ergeben. Gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse manifestieren sich in einer feldübergreifenden, diskursiven Thematisierung von Begriffen bzw. von Diskurstopoi. Die feldübergreifende, diskursive Thematisierung von Begriffen bzw. von Diskurstopoi lässt diese Begriffe bzw. diese Diskurstopoi zu Leitbegriffen werden“ (Kergel 2019, S. 3) 4 Nohl (2016) problematisiert in diesem Kontext die Uneinholbarkeit der Selbst-/Welterfahrungen des Wissenschaftlers, die sich auch unbemerkt in die Forschung einschreibten: „Da die Frage, welche Grundbegriffe die Forschenden für ihre empirische Untersuchung heranziehen, also auch von ihrem sozialen Hintergrund (ihrem Standort) beeinflusst wird, sind sie per se nicht in der Lage, diese Grundbegriffe vollständig in Frage zu stellen“ (Nohl 2016, S. 111). Hier ermöglicht eine epistemologische Reflexion – die Bourdieu, Chamboredon und Passeron (1991) auch epistemologische Wachsamkeit nennen – eine analytische Distanz zum Alltagsverständnis von Welt. Gerade Sozial- und Kultur- bzw. Humanwissenschaften bedürfen aufgrund ihres Forschungsgegenstandes – die soziale Wirklichkeit – einer solchen analytischen Distanz: „Epistemologische Wachsamkeit erweist sich bei den Humanwissenschaften als besonders notwendig, da hier die Trennung zwischen Alltagsmeinung und wissenschaftlichem Diskurs unklarer ist als in anderen Wissenschaften“ (Bourdieu, Chamboredon & Passeron 1991, S. 15).

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1 Einleitung

)produzieren. Erziehung und Bildung stellen aus dieser Perspektive pädagogische Ausprägungen sozio-epistemologischer Praxis dar. Der Arbeit liegt jeweils eine spezifische Deutung des sozio-epistemologischen Charakters von Erziehung und Bildung zugrunde, die hier kurz skizziert und im Verlauf der Arbeit weiter ausdefiniert werden: • Aus sozio-epistemologischer Perspektive wird davon ausgegangen, dass Erziehung durch Erziehungskonstellationen Formen der Fremdbestimmung realisiert und derart zu einem autoritären Wirklichkeitsverständnis sowie zu einem autoritären Selbst-/Weltverhältnis des Zu-Erziehenden führt. Diese These wird durch eine sozio-semiotische Analyse von Erziehungskonstellationen herausgearbeitet (4. Kapitel) • Aus sozio-epistemologischer Perspektive lässt sich Bildung als pädagogische Betreuungsform definieren, die auf Formen der Selbstbestimmung des Bildungssubjekts fokussiert. Hierfür werden in Form didaktischer Modellbildung Strategien für die Förderung von Bildung in Unterrichts- bzw. Lehr-/Lernszenarien entwickelt. (6. Kapitel).





2 Jede Methode benötigt eine Methodologie – Oder: Mit Sozio-Semiotik5 die unsichtbare Ordnung der Gesellschaft lesen

Um die These zu entwickeln, dass Erziehung in Form von Erziehungskonstellationen ein autoritäres Wirklichkeitsverständnis reproduziert und zu einem autoritären Selbst/Weltverhältnis des Zu-Erziehenden führen kann, wird im Folgenden auf eine soziosemiotische Methode zurückgegriffen. Als Analysemethoden basieren sozio-semiotische Analysestrategien auf einem spezifischen Verständnis von sozialer Wirklichkeit bzw. auf einer ausdefinierten Methodologie (altgriech./,Lehre über die Vorgehensweise’). Die Methodologie erhebt die Methode zum Gegenstand der Reflexion. Aus dieser Perspektive lässt sich Methodologie als epistemologische Reflexion über den Sachverhalt verstehen, wie geforscht werden soll und wie warum welche Methoden eingesetzt werden könnten. Der Einsatz von Methoden wiederum bezeichnet die Anwendung von Techniken eines Erkenntnisverfahrens im Forschungsprozess. Im Folgenden werden methodologische Grundannahmen sozio-epistemologischer Forschung dargestellt. 2 Jede Methode benötigt eine Methodologie



2.1 Sozio-semiotische Analysen thematisieren die unsichtbare Realität sozialer Wirklichkeit Als soziales Wesen stellt der Mensch in Interaktionen eine sinnhafte Ordnung/Interpretation von Welt her. Welt wird dabei als die Gesamtheit der sozialen Phänomene bzw. ‚als alles was ist‘ definiert. Aus einer semiotischen Forschungsperspektive wird danach gefragt, wie in den Handlungsvollzügen von den Akteuren Welt interpretiert und derart mit Sinn versehen wird.6 Dabei geht es nicht um den einzelnen Menschen,

5 Semiotik kommt aus dem Altgriechischen und lässt sich mit ‚Zeichen‘/‚Signal‘ übersetzen. 6 Grob vereinfacht lässt sich ‚Sinn‘ in diesem Kontext als das beschreiben, was als ‚richtig sowie wichtig‘ das gesellschaftliche Handeln ordnet und das (über-)individuelle Handeln (mit) strukturiert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Kergel, Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten, Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1_2

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

sondern um die Identifikationen von Konventionen bzw. unsichtbaren, gesellschaftlichen Regeln, die das Handeln einer Vielzahl der Individuen prägen.7 In der sozio-semiotischen Analyse geht es folglich um die Auseinandersetzung mit überindividuellen Regeln und Konventionsmustern. Es werden die gesellschaftlich geltenden Regeln analysiert, die dafür sorgen, dass das Handeln regelgeleitet und nicht regellos-chaotisch ist. Diese überindividuellen Regeln können durch sozio-semiotische Methoden sichtbar gemacht werden. Allerdings geben uns gesellschaftliche Objekte „diesen Sinn, den sie besitzen, nicht auf offene, deklarierte Weise“ (Barthes 1988, S. 197). Ausgangspunkt ist die Annahme, dass das Handeln der Individuen auf ‚unsichtbare, gesellschaftliche Regeln‘ verweist: Als soziales Wesen ist jeder Mensch in Beziehungen eingebunden. Die Menschen interagieren in Beziehungskonstellationen. Jede Beziehungskonstellation und die Art und Weise, wie diese durch Handeln ausagiert wird, impliziert eine Weltsicht/eine Theorie über die Welt bzw. eine spezifische Form, die Welt sinnhaft zu ordnen. Weltsichten sind zumeist nur indirekt zugänglich: Die Art und Weise, wie wir über die Welt denken, die Art und Weise, welche Werte wir haben, zeigt sich in der Art und Weise, wie wir handeln bzw. wie wir mit Menschen kommunizieren und unser Leben leben. Unser Handeln hat die Wirkung eines Hinweises: Die Auseinandersetzung mit dem Handeln gibt uns Hinweise darauf, welche Werte und Hierarchievorstellungen das Handeln strukturieren. Über die Analyse des Handelns sowie die Analyse von gesellschaftlich etablierten bzw. konventionalisierten Beziehungskonstellationen (z.B. Lehrer/Schüler; Eltern/Kind) können wir die symbolische Ordnung von Gesellschaft (re)konstruieren (vgl. zum Begriff symbolische Ordnung 2.2). Mit Bezug auf diese Überlegungen lässt sich festhalten, dass die sozio-semiotische Forschung die gesellschaftlichen Tiefenstrukturen von Sinn herausarbeitet: „Bezogen auf den Forschungsprozess ist also festzuhalten, dass die Kategorie der Sinnhaftigkeit für das Verständnis von sozialem Handeln wesentlich wird“ (Bennewitz 2013, S. 45). Die (Re-)Konstruktion der symbolischen Ordnung ist dabei eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, da diese Ordnung als selbstvertsändlich und natürlich sowie sinnvoll erscheint: „Der Sinn ist immer ein kulturelles Faktum, ein kulturelles Produkt; doch in unserer Gesellschaft wird dieses kulturelle Faktum ununterbrochen naturalisiert, zurückverwandelt in Natur“ (Barthes 1988, S. 197). Aus sozio-epistemologischer Perspektive dient die Theoriebildung dazu, Erklärungsmuster für soziale Zusammenhänge zu (re-)konstruieren. Eine sozio-semiotische Theoriebildung ist folglich „analytisch und spekulaktiv“ (Culler 2011, S. 28). Gerade in dieser Spannung zwischen dem Analytischen und dem Spekulativen liegt das „Problem der Methode“ (Barthes 1988, S. 173): „Worum geht es? Um das Freilegen des oder der Konventionen (lat. Conventio/„Übereinkunft“ bzw. „Zusammenkunft“) können als tradierte, zumeist stillschweigende Handlungsregeln definiert werden, welche die soziale Praxis strukturieren.

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2.1 Sozio-semiousche Analysen themausieren die unsichtbare Realität sozialer Wirklichkeit

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Klassifizierungsysteme einer Gesellschaft: Jede Gesellschaft teilt die Objekte auf ihre Weise ein, und diese Weise bildet das eigentlich Intelligible, das sie sich verleiht“ (Barthes 1988, S. 173). In der sozio-analytischen Forschung versuchen wir über heuristische Leitfragen Erklärungsmuster zu entwickeln, wie Menschen soziale Wirklichkeit wahrnehmen und semiotisch ordnen. Barthes spricht von einer Semantisierung der Objekte (vgl. Barthes 1988, S. 190), die es analytisch zu (re-)konstruieren gilt.8 Anhand sozio-semiotischer Theoriebildung (re-)konstruieren wir das „Zeichensystem“, welches „eine Gesellschaft dem Wirklichen, aufprägt“ (Barthes 1988, S. 175). Diese (Re-)Konstruktionen sind wiederum lediglich als analytischer Versuch zu verstehen, soziale Wirklichkeit in den (Be-)Griff zu kommen bzw. begrifflich zu ordnen: „Theorie ist reflexiv, ein Denken übder das Denken, eine Befragung der Kategorien, die wir in […] diskursiven Praktiken gebrauchen, um uns die Welt zu erklären“ (Culler 2011, S. 24). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die methodologische Prämisse soziosemiotischer Analyse und Theoriebildung darin besteht, dass das soziale Handeln die Bedeutung eines Hinweises besitzt – das soziale Handeln bzw. die soziale Praxis kann als Zeichen analysiert werden: Zeichen weisen auf etwas hin, sie bezeichnen etwas: „Die Welt ist voll von Zeichen, aber nicht alle diese Zeichen besitzen die schöne Einfachheit der Buchstaben, des Alphabets, der Verkehrstafeln oder der militärischen Uniformen, sie sind weitaus verwickelter. Meistens halten wir sie für ‚natürliche‘ Informationen“ (Barthes 1988, S. 166). Das uns unser Handeln selbstverständlich und ganz natürlich erscheint verdeckt dabei die latenten Sinnstrukturen, die wir in soziosemiotischen Analysen aufdecken. Diese latenten Sinnstrukturen zeigen sich in der überindividuellen Regelhaftigkeit unseres Handeln und sind uns oftmals als solche nicht bewusst: Die konkreten Handlungen sind Manifestationen latenter Sinnstrukturen, auch wenn dem Akteur dies nicht bewusst ist. Diese latenten Sinnstrukturen prägen unser Handeln bzw. ermöglichen das Handeln erst, da sie die Regeln festlegen. Wenn ein Mann einer Frau die Tür aufhält, ‚weil es sich so gehört’, dann möchte der Mann die Regeln einhalten. Der subjektiv-intentionale Sinn besteht darin, höflich zu sein und die Frau angemessen zu behandeln. In der latenten Sinnstruktur wird dabei eine Geschlechterbeziehung performativ re-produziert, in der der Mann die Frau umwirbt. Das Türaufhalten (be-)deutet dabei auf die Hierarchie der Beziehung Mann (aktiv)/Frau (passiv) (Kergel 2018, S. 158).

Als Zeichen verweisen soziale Handlungen auf Werte und Hierarchievorstellungen. Die ‚sinnvollen‘ Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen, • die über soziales Handeln hergestellt werden und • auf die soziales Handeln verweist, 8 Semantik bezeichnet die Bedeutungsebene von (sprachlichen) Zeichen.

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

stellen die unsichtbare Realität (vgl. Bourdieu 2010, S. 162) dar, welche durch die soziosemiotische Methode sichtbar gemacht werden kann. Über Konventionen regeln Werte und Hierarchien implizit – quasi-unsichtbar – unser Handeln. Die Werte und Hierarchien müssen den handelnden Individuen nicht zwangsläufig bewusst sein, sondern können sich als Konventionen in die Tiefenstrukturen unserer sozialen Welt einschreiben und so unser Handeln ‚vorbewusst‘ mitbestimmen.

2.2 Von den gesellschaftlichen Tiefenstrukturen zur performativen Dimension symbolischer Ordnung Tiefenstrukturen sind die sozialen Konventionen bzw. Handlungsregeln, die uns so selbstverständlich und natürlich erscheinen, dass sie als Konventionen quasi vorbewusst unser Handeln steuern. Diese Tiefenstrukturen bzw. all das, was uns so selbstverständlich erscheint, sind Teil der symbolischen Ordnung von Gesellschaft: „Diese Ordnung ist so selbstverständlich, dass sie überhaupt nicht (mehr) hinterfragt wird“ (Schönwälder-Kuntze 2015, S. 135). Der Begriff symbolische Ordnung bezeichnet als analytische Kategorie die zeichenhafte bzw. semiotische Sinnstrukturierung von Gesellschaft. Symbolische Ordnung kann als der regelgeleitete Raum definiert werden, in dem Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse durch Handeln reproduziert werden. Žižek (2011) beschreibt die symbolische Ordnung dementsprechend als die „ungeschriebene Verfassung der Gesellschaft“ (Žižek 2011, S. 18), in die jedes Individuum eingebettet ist. Die symbolische Ordnung ist „hier und leitet und kontrolliert meine Hand; sie ist das Meer, in dem ich schwimme“ (ebenda). Zugleich ist die symbolische Ordnung aber auch der Raum, in dem Regeln und Hierarchien infrage gestellt werden – z.B. durch die Weigerung, etwas zu tun, sich an die Regeln und Konventionen zu halten (vgl. Kergel 2013). In der sozio-semiotischen Analyse besteht eine zentrale Herausforderung darin, dass die symbolische Ordnung uns oft nicht bewusst ist. Gerade weil sie durch ihre Selbstverständlichkeit unsichtbar ist, ist es schwer, die ‚unsichtbaren Aspekte‘ symbolischer Ordnung zu analysieren: „Weil diese Ordnung implizit und daher ‚stumm‘ das Denken zwingt, ist sie in der Regel auch kein Gegenstand kritischer Gesellschaftsanalysen“ (Schönwälder-Kuntze, S. 135). Über eine sozio-semiotische Auseinandersetzung mit der sozialen Praxis wird die symbolische Ordnung der Forschung zugänglich: In der analytischen Auseinandersetzung mit der sozialen Praxis bzw. in der analytischen Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie Akteure handeln, lässt sich die symbolische Ordnung rekonstruieren. Diese Überlegungen stehen in der Tradition des sogenannten Practice Turn (vgl. Reckwitz 2003). Dieser ‚Practice Turn‘ bezeichnet eine „praktikentheoretische Ausrichtung, die auf das ‚doing‘ von etwas – z.B. ‚doing teacher‘ […] ‚doing school‘ […] oder gar ‚doing culture‘ […] – abstellt und damit betont, dass jede soziale

2.3 Sozio-semiousche Analyse als engagierte Wissenscha{spraxis

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Wirklichkeit selbst allererst sozial hervorgebracht und insofern praktisch ausgeführt werden muss“ (Ricken 2019, S. 100). Via sozialer Praxis bzw. durch Interaktionen wird die symbolische Ordnung performativ hervorgebracht. Anhand der „stilisierte[n] Wiederholung“ (Butler 1991, S. 206) entfalten Werte, Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen ihre Wirkungen. Gerade die infinite (Re-)Produktion von Werten, Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen durch Wiederholungen geben „der performativen Äußerung ihre bindende oder verleihende Kraft“ (Butler 1995, S. 297). Diese Verstärkung von Werten und Hierarchievorstellungen durch Handlungen kann als Performativität definiert werden: So gibt es beispielsweise Weihnachten nicht ,an sich’. Vielmehr wird Weihnachten dadurch realisiert, dass es jedes Jahr wieder von Menschen gefeiert wird, also performativ erneuert und hergestellt wird. Mit dem Begriff der Perfomativität lässt sich der Praxisvolllzug analytisch fassen, durch den gesellschaftliche Werte und Hierarchievorstellungen handelnd aktualisiert und (re)produziert werden. Der Begriff Performativität verweist auch auf die Dynamik sozialer Praxis: Durch das Handeln kann nach und nach die ‚soziale Grammatik‘ bzw. können die Konventionen verändert werden. Handeln verfügt über Möglichkeiten, auf die gesellschaftlichen, konventionalisierten Tiefenstrukturen einzuwirken – z.B., wenn sich in der Sprache neue Wörter etablieren. Diese werden zuerst in den Interaktionen konventionalisiert und finden dann Eingang in den Duden. An diese Forschungsperspektive, die u.a. danach fragt, wie soziale Realität durch Handeln performativ (re-)produziert wird, ist auch die sozio-epistemologische Forschung anschlussfähig. Dabei lässt sich fragen, welche ‚latenten‘ – also nicht sichtbaren, aber wirksamen Werte, Hierarchien und Abhängigsvorstellungen – unser Handeln mitstrukturieren. Gerade diese Frage nach Werten, Hierarchien und Abhängigkeitsvorstellungen bzw. Abhängigkeitsverhältnissen lässt sozio-epistemologische sowie sozio-semiotische Forschung zu Repräsentanten engagierter Wissenschaft werden.

2.3 Sozio-semiotische Analyse als engagierte Wissenschaftspraxis Die sozio-semiotische Analyse ist durch einen kritischen bzw. wertewissenschaftlichen Ansatz geprägt: Wissenschaft soll nicht neutrale Erkenntnisse produzieren, sondern dem Ausbau und der Stärkung der Möglichkeiten und Formen menschlicher Selbstbestimmung dienen. Bourdieu spricht hier von einer ‚engagierten Wissenschaft‘, die aktiv in gesellschaftlichen Diskursen Stellung beziehen soll. Vor griechischen Gewerkschaftlern und Wissenschaftlern skizzierte Bourdieu am 5. Mai 2001 in seiner letzten Rede das Modell einer solch engagierten Wissenschaft: Wenn Wissenschaft gesellschaftlich relevantes Wissen bzw. Wissen über Gesellschaft generiert, so Bourdieu, muss Wissenschaft auch gesellschaftliche Verantwortung übernehmen (vgl. Bourdieu 2001). Diese Position impliziert die Überlegung, dass der (Sozial-)Wissenschaftler in die soziale Welt eingebettet ist, die er beforscht. So muss

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

sich der Forscher, der sich wissenschaftlich mit der sozialen Welt auseinandersetzt, „klar mach[en], daß er ein mit einer spezifischen Kultur ausgestattes Subjekt ist“ (Bourdieu, Chamboredon & Passeron 1991, S. 83). Geschieht dies nicht und der Forscher reflektiert nicht „ständig“ seine „Verwurzelung“ (Bourdieu, Chamboredon & Passeron 1991, S. 83), besteht die „Versuchung der unbewussten Universalisierung einer singulären Erfahrung“ (Bourdieu, Chamboredon & Passeron 1991, S. 83f.). Das wissenschaftliche Wissen, das Forschende über die soziale Welt produzieren, gilt nicht für alle soziale Welten bzw. nicht für alle Kulturen. Mit der Produktion wissenschaftlichen Wissens hat der Forscher auch eine Verantwortung für die Gesellschaft, aus der er heraus Wissen über diese Gesellschaft produziert. In Bezug auf sozio-semiotische Analysen zeigt sich die engagierte Wissenschaft darin, dass mit der sozio-semiotischen Analyse die unsichtbare Realität symbolischer Ordnung und damit auch die Machtverhältnisse und Ungleichheiten sichtbar und so kritisierbar werden: Durch das ‚Lesbarwerden‘ von Machtverhältnissen bzw. von ‚unsichtbaren‘ Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen, die uns nicht ohne weiteres bewusst sind, wird der vermeintlich ‚vernünftige Glaube‘ an die Notwendigkeit dieser Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse herausgefordert. Die „symbolisch anerkannten und verkannten Machtbeziehungen“ (Schmidt & Woltersorff 2008, S. 12), die mit der symbolischen Ordnung aufgerichtet worden sind, werden Gegenstand kritischer Prüfung: Sind solche Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen tatsächlich sinnvoll bzw. stärken diese Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen Formen menschlicher Selbstbestimmung?

2.4 Jede Methode benötigt Begriffe Begriffe ermöglichen eine analytische Ordnung von Welt (vgl. Deleuze & Guattari 1991). Dies ist ein wichtiger Aspekt, der einiger Beachtung bedarf: Begriffe stellen den Bedeutungsinhalt einer Bezeichnung dar. Nehmen wir die Bezeichnung ‚Vater‘: Der Vater ist als männliches Elternteil definiert. Er ‚hat‘ also ‚ein Kind‘ bzw. er steht in einer elterlichen Beziehung zu einem anderen Menschen bzw. er ist Vater von jemanden und damit ein Elternteil. Hier sehen wir, dass sich die Bedeutung ‚Vater‘ aus einem Beziehungsgefüge zu anderen Begriffen ergibt (Kind/männliches Elternteil vs. weibliches Elternteil vs. queeres Elternteil etc.). Begriffe ordnen Phänomene auf einer abstrakten Ebene. Es geht also weniger um den konkreten Vater – z.B. Paul – das sagt uns nichts, weil wir Paul nicht kennen. Vielmehr geht es um die soziale Rolle bzw. die Sozialfigur9 Vater, die uns etwas sagt bzw. für uns mit Bedeutung versehen ist: Wir verstehen, was mit dem Begriff Vater gemeint ist.

9 Der Begriff Sozialfigur bezeichnet Stereotype, die – zumeist subtextuell – etablierte Hierachien und Abhängigkeitsverhältnisse legitimieren: Z.B. die Sozialfigur des Zu-Erziehenden, der des Erziehenden als Helfenden bedarf.

2.4 Jede Methode benöugt Begriffe

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Wenn wir anfangen, analytisch die Welt zu ordnen, stehen wir vor der Herausforderung, dass nicht alle Begriffe, die wir für die analytische Auseinandersetzung mit der Welt brauchen, bereits existieren. Analytisch ordnen bedeutet zunächst, dass wir die Welt reflexiv zergliedern. Wir sehen analytisch bzw. zergliedernd auf die Welt und versuchen zu erklären, wie die Phänomene miteinander zusammenhängen. Nehmen wir an, wir beobachten folgende Szene im Park: Ein Kind schreit „Ich will aber mein Eis. Papa, du hast es versprochen“ und ein Mann, der das Kind an der Hand hält, sagt „Ja, aber erst nachher, wenn wir zu Hause sind“. Obwohl wir die beiden Personen nicht kennen, können wir gleich die Situation anhand von Begriffen analysieren bzw. zergliedern: Ein Vater hat seinem Kind vermutlich ein Eis versprochen. Das Kind fordert dieses Eis ein, während der Vater darauf hinweist, dass das Kind das Eis erst in dem Haus/der Wohnung erhält, in dem beide leben.10 Anhand dieses Beispiels lässt sich ablesen, wie Begriffe es ermöglichen, soziales Geschehen reflexiv zu ordnen. Begriffe helfen bei der Zergliederung bzw. bei der Identifikation von Zusammenhängen und Mustern auf einer abstrakten Ebene. Derart können abstrahierend Erklärungsmuster entwickelt werden, die (re)konstruieren, wie soziale Phänomen miteinander verbunden sind, aufeinander einwirken bzw. sich gegenseitig bedingen. Dafür muss die soziale Realität in Begriffe geordnet werden können. Je nach Erkenntnisinteresse werden dafür bestimmte Begriffe benötigt: Werden beispielsweise Fangruppen untersucht, ist der Begriff ‚Fan‘ von zentralem Interesse, werden Kochpraktiken analysiert, ist der Begriff Kochen wichtig, der bei der analytischen Auseinandersetzung mit Fangruppen keine hervorgehobene Relevanz haben dürfte. In Folgendem werden zentrale Begriffe für die sozio-semiotische Auseinandersetzung mit Erziehung definiert.

2.4.1 Der Mensch als Individuum und Subjekt Wenn soziale Wirklichkeit analysiert wird, geraten auch die Akteure in den Blick, die durch ihr Handeln soziale Wirklichkeit performativ (re-)produzieren. Bei der Analyse sozialer Wirklichkeit kommt der begrifflichen Unterscheidung zwischen Individuum und Subjekt eine hervorgehobene Bedeutung zu. Individuum – Der Mensch als soziale Koordinate Das Individuum kann als ‚soziale Koordinate‘ definiert werden (vgl. Kergel 2011). Menschen sind in unserer Gesellschaft darüber definiert, dass sie einen Vor- und Nachnamen haben. In unseren Ausweispapieren steht unser Wohnort und unsere Geburtsurkunde gibt an, dass wir tatsächlich an dem Ort geboren worden sind, an dem wir vorgeben, geboren worden zu sein. Die formale Festschreibung von Identität – Vorname, Nachname, Geburtsdatum, Arbeitsplatz, Schulzeugnisse etc. – sorgt dafür, dass jeder Mensch im sozialen Raum lokalisierbar ist. Ein Inidviduum ist unteilbar und lässt sich 10 Der Begriff ‚zu Hause‘ wäre hier wie folgt definiert: ‚Ein zu Hause ist für eine Person die Wohnung/das Haus, in dem sie lebt‘.

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

nur einmal als soziale Koordinate identifizieren: „Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum“ (Foucault 1977, S. 138). Das Subjekt und der Prozess der Subjektwerdung Der Begiff des Individuums fasst den Menschen als soziale Koordinate. Das Subjekt wiederum lässt sich als die Erfahrungsdimension des Menschen definieren. Jeder von uns erlebt die Welt, denkt über die Welt und sich selbst in der Welt nach. Der Mensch ist nicht nur ,da’ (wie z.B. ein Stein). Der Mensch erlebt, dass er ,da’ ist. Der Mensch erlebt sich selbst als fühlendes Wesen in der Welt bzw. er erlebt sein ,Da-Sein’11 und denkt – entsprechend seiner entwicklungspsychologisch gegebenen Möglichkeiten – über dieses nach. In der Auseinandersetzung mit der Welt und sich selbst entwickelt der Mensch ein Selbst-/Weltverhältnis: „Bereits in der Antike bildet sich das Subjekt dadurch, dass es sich zu sich selbst verhält“ (Wulf 2007, S. 36). Dieses ‚zu sich selbst verhalten‘ ist die Grundlage des Selbst: „Erst im Verhältnis zu sich selbst als einem Verhältnis gewinnt der Mensch ein Selbst“ (Schäfer 2017, S. 256). Die Entwicklung eines Selbst-/Weltverhältnisses ist nie abgeschlossen, dementsprechend lässt sich anstatt vom Subjekt eher von einem Prozess der Subjektwerdung sprechen. Das Selbst kann als grundlegende Dimension der Subjektstruktur verstanden werden. Es umfasst die Erlebensdimension, das Körpergefühl und die eigene Selbstreflexion. Sartre spricht hier vom präreflexiven Cogito. Das präreflexive Cogito kann als das Selbst definiert werden: „[D]as nicht-reflexive Bewußtsein ermöglicht erst die Reflektion: es gibt ein präreflexives Cogito“ (Sartre 1998, S. 22). Das präreflexive Bewusstsein ist auch ein „unmittelbares Bewusstsein“ (Sartre 1998, S. 23). In seiner präreflexiven Unmittelbarkeit ist der Modus des präreflexiven Bewusstseins vor allem das ästhetische Erleben.Wir erleben unser In-der-Welt-sein. Wir sind mit und durch die Welt. Das präreflexive Cogito besteht aus „mentalen Zuständen […] ohne Bewusstsein keine Lust oder kein Schmerz; und bewusstlose Lust oder bewusstloser Schmerz“ (Frank 2015, S. 85). Da das präreflexive Cogito die Erlebensdimension thematisiert, verwundert nicht, dass Sartre in seiner Flaubert-Studie (1971-1972) das Konzept des präreflexiven Cogito durch den Begriff des „Vécu“ bzw. des Erlebens ersetzt: Mit dem Begriff des Erlebten wird nun der Versuch gemacht, jene ‚Anwesenheit bei sich‘ zu umschreiben, die mir für die Existenz psychischer Fakten unentbehrlich zu sein scheint, obwohl sie für sich selbst so undurchsichtig und blind ist, daß sie

„Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins“ (Heidegger 1967, S. 12).

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2.4 Jede Methode benöugt Begriffe

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zugleich ‚Abwesenheit von sich ist‘. Das Erlebte ist sich selbst immer zugleich gegenwärtig und von sich abwesend (Sartre 1997, S. 172).

Das In-der-Welt-Sein wird erlebt: angstvoll oder voller Freude. Das Erleben manifestiert auf emotionaler und präreflexiver Ebene das Selbst-/Weltverhältnis.

2.4.2 Von der Macht der Subjektivierung zur performativen Interpellation Macht – Oder: Über die ‚Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen‘ Überall dort, wo Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, existiert Macht: „Macht geht über jedes feste und unveränderliche Verhältnis hinaus, sie entspringt dem Feld des sozialen Konflikts“ (Hardt & Negri 2018, S. 117). In den sozialen Handlungen, im Zuge derer Hierarchien und Abhägigkeitsverhältnisse performativ (re-)produziert werden, wird zugleich Macht produziert. Aus dieser Perspektive stellt „Macht […] die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“ dar, „die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ (Foucault 2008, S. 1098). Die Art und Weise, wie Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse durchgesetzt und akzeptiert werden, die Art und Weise wie Hierarchien und Abhängigkeitsverhältsnisse erlebt werden sowie die Art und Weise, wie gegen Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse Widerstand geleistet wird, stellen verschiedene Aspekte von ‚Macht‘ dar: Macht ist die performative Reproduktion von Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen durch soziale Handlungen. So lässt sich „Macht“ als „Spiel“ definieren, welches „in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt“ (Foucault 2008, S. 1098). Aus dieser Perspektive kann Macht“ als „der Name“ verstanden werden, den man „einer komplexen, strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (Foucault 2008, S. 1098). Aus sozio-semiotischer Perspektive ist „Sinngeschehen […] Machtgeschehen“ (Han 2014, S. 41): „Macht stiftet Bedeutsamkeit, indem sie einen Sinnhorizont bildet, auf den hin die Dinge interpretiert werden. Erst im Hinblick auf die Macht werden sie bedeutend, erhalten sie einen Sinn“ (Han 2014, S. 40, H.i.O.). Ist das Individuum in Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen eingebettet – und das ist es in unserer Gesellschaft immer der Fall – erfährt es Macht und übt Macht aus. Auf der einen Seite ist die Macht, verstanden als Ensemble der Kräfte, die auf das Subjekt einwirken, diesem vorgängig. Das Subjekt ist weder ausschließlich gefügiges Opfer, noch nur eigensinniger Opponent von Machtinterventionen, sondern immer schon deren Effekt. Auf der anderen Seite kann Macht nur gegenüber Subjekten ausgeübt werden, setzt diese also voraus. Sie beruht auf der Kontingenz des Handelns, das sie zu beeinflussen sucht, und damit auf einem unhintergehbaren Moment von Freiheit (Bröckling 2012, S. 132).

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die sozio-semiotische Analyse von Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen als Machtanalyse definieren. Dafür lassen sich folgende heuristische12 Leitfragen formulieren: • Wie werden Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse begründet? • Wie werden Individuen geschaffen, indem Menschen ein Platz in Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen zugewiesen wird? • Wie werden Rollenmodelle durch soziales Handeln hergestellt? • Wie werden Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse von den Subjekten erlebt? Subjektivierung – Oder: Über die Einschreibung von Machtverhältnissen Durch Subjektivierungen werden die Individuen in die Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse einer symbolischen Ordnung eingepasst. Das Subjekt reflektiert sich nach vorgegebenen gesellschaftlichen Werten und Normalitätsvorstellungen. Der Prozess, in dem sich • das Subjekt in Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse einfügt bzw. • sich zu diesen verhält, • diese Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse im Fühlen und Denken übernimmt (sei es bejahend oder ablehnend) sowie • im Handeln reproduziert, wird als Subjektivierung definiert. So bringen sich „Menschen […] in Wissens-, Macht-, und Selbstpraktiken allererst als ein Subjekt“ hervor, indem sie „die (Selbst-)Deutungsfigur des ‚Subjekts‘ auf sich beziehen lernen und sich selbst als ein ‚Subjekt‘ zu ‚verstehen‘“ lernen, „indem man von anderen so verstanden und – in Handlungen und Selbstverständnissen – für sich verantwortlich gemacht wird“ (Ricken 2019, S. 97).13 Um den Prozess der Subjektivierung empirisch differenziert beforschen zu können, wird bei der Subjektivierung zwischen Interpellationen (dazu eingehender weiter unten) und Subjektivierungsdynamiken unterschieden: 12 „Heuristisch bezeichnet hier eine fragende Erkenntnishaltung. Heuristik kommt aus dem Lateinischem (heurískein) und lässt sich mit ,finden/entdecken’ übersetzen. Eine heuristische Erkenntnishaltung kann im Sinne einer methodisch geleiteten Strategie durch Fragen realisiert werden, die Impulse für neue/ungewohnte Entdeckungen geben und/oder dabei helfen, den Erkenntnisweg zu strukturieren. Dabei wird der Umstand gezielt eingesetzt, dass jede Frage bereits einen Erkenntnisfokus wirft und Fragen bereits Antworten voraussetzen: Frage ich jemanden nach seinem Nachnamen, setzt dies voraus, dass das Konzept ,Vorname/Nachname’ existiert und dieses Konzept auf den Gefragten zutrifft. Heuristische Fragen helfen folglich, die Erkenntnishaltung zu fokussieren” (Kergel 2018, S. 13). 13 Ricken weist – und daran wird hier angeschlossen – erkenntniskritisch daruf hin, dass eine allgemeingültige Definition von Subjektivierung nicht existiert: „Was nun unter Subjektivierung bzw. Subjektivation jeweilig verstanden wird, ist weder einheitlich noch bereits zu einer umfassenden Theorie der Subjektivierung ausgearbeitet werden“ (Ricken 2019, S. 99). Jede Definition stellt folglich lediglich eine heuristische Annäherung des Begriffs Subjektivierung dar.

2.4 Jede Methode benöugt Begriffe

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Subjektvierungsdynamiken zeigen sich darin, dass normative Vorgaben vom Subjekt internalisiert werden und sich derart zu ihnen verhalten wird. Beispielhaft zeigt sich diese Internalisierung von Interpellationen anhand von Schuldgefühlen: „Schuldgefühle entstehen, wenn das Gefühlssubjekt erkennt, eine moralische Norm verletzt zu haben durch Handlung oder Unterlassung und für die Normverletzung verantwortlich zu sein“ (Montada 1993, S. 263, H.i.O.). Subjektivierungen prägen Selbst-/Weltverhältnisse sowie das Handeln, welches aus diesen Verhältnissen resultiert, entscheidend mit. Dies lässt sich auch paradigmatisch an Erziehungssituationen aufzeigen, in denen es oftmals um die Akzeptanz von Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen geht.14 Das Ineinander von äußerer Attributierung und die Internalisierung dieser Attributierung durch das ‚eigene‘ Fühlen und Handeln wird auch von Foltin (2010) in seiner Definition von Subjektivierung hervorgehoben. „Subjektivierung: Die Erzeugung einer subjektiven Identität, einerseits bestimmt durch (vor)herrschende Strukturen von der Schule bis zur Geschlechterordnung, andererseits durch die eigene Handlungsfähigkeit, die Kommunikation, die Beziehungen, die Gefühle zu anderen und zu sich selbst“ (Foltin 2010, S. 184, H.i.O.). Empirisch lässt sich festhalten, dass die prägende Dimension von Subjektivierungsprozessen bei der Ausbildung von Selbst-/Weltverhältnissen bereits im jüngsten Alter wirkt. Das kann anhand einer kulturvergleichenden Perspektive herausgestellt werden: Kulturelle Unterschiede der Erwünschtheit von Gefühlszuständen tauchten bereits bei Vorschulkindern auf […] Drei- bis 5-jährigen europäisch- und asiatischamerikanischen sowie taiwanesischen Kindern wurde ein erregtes und ein ruhiges Lächeln eines Kindes präsentiert und die Kinder wurden gefragt, welches Kind eher sie selbst darstellt, gefolgt von der Frage: ‚Welches Kind ist glücklicher?‘ Signifikant mehr europäisch-amerikanische Kinder bevorzugten das erregte Lächeln und nahmen es auch als glücklicher wahr als taiwanesische Kinder. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich bei der Auswahl von Aktivitäten: Taiwanesische Vorschulkinder bevorzugten ruhigere Aktivitäten, während europäisch-amerikanische Kinder erregende Aktivitäten bevorzugten. Interessanterweise lagen die asiatisch-amerikanischen Kinder bei beiden Aufgaben zwischen den beiden anderen Gruppen. Die Unterschiede lassen sich nicht auf Temperamentsunterschiede reduzieren, da sie nach Kontrolle der Erzieherberichte zum Temperament des Kindes bestehen blieben (Friedelmeister 2010, S. 126).

Ganz im Sinne sozio-semiotischer Forschung hebt Bourdieu die unsichtbare Dimension von Subjektivierungsprozessen hervor. So stellt er fest, dass Subjektivierungsprozesse Obgleich das Individuum über seine ‚Unteilbarkeit‘ definiert ist, muss es sich im Zuge seiner Verortung in der symbolischen Ordnung mit der ‚Rollenpluralität‘ auseinandersetzen. Das Individuum kann „innerhalb der symbolischen Ordnung unterschiedliche Orte einnehmen“ beziehungsweise ihm können „unterschiedliche Rollen“ (Heil 2010, S. 69) zugewiesen werden. Dementsprechend besteht das Subjekt „nach der Subjektivierung […] aus den unterschiedlichen symbolischen Mandaten, gesellschaftlichen Rollen, die es übernimmt“ (Heil 2010, S. 69).

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

zu Selbst-/Weltverhältnissen führen, bei denen sich die Subjekte selbst oftmals nicht bewusst sind, dass diese Selbst-/Weltverhältnisse Machtverhältnisse repräsentieren: Die Subjekte erkennen ihre eigene Subjektivierung nicht. So sind die „Erkentnisakte“ der Subjekte „dadurch Akte praktischer Anerkennung, einer doxischen Übereinstimmung, eines Glaubens, der sich nicht als solcher weiß und behaupten muß und der gleichsam die symbolische Gewalt ‚macht‘, der er unterliegt“ (Bourdieu 2013, S. 63f.). Um den Prozess der Subjektivierung genauer zu analysieren und zu verstehen, kann auf die Interpellation als sozio-semiotische Analysestrategie zurückgegriffen werden. Interpellationen bzw. ‚Anrufungen’ sind normative Erwartungen an das Subjekt. Interpellationen sind den Subjektivierungsdynamiken vorgelagert. Diese Erwartungshaltungen bzw. gesellschaftlichen Anforderungen werden als ‚Anrufungen‘ bzw. als Interpellationen formuliert. Den Prozess der Interpellation hat Althusser in einer ‚Urszene‘ veranschaulicht. Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ,Hey, Sie da!’ Wenn wir einmal annehmen, daß die vorgestellte, theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, daß der Anruf ‚genau’ ihm galt und daß es ‚gerade es war, das angerufen wurde’ (und niemand anderes). Wie die Erfahrung zeigt, verfehlen die praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann: Ob durch mündlichen Zuruf oder durch ein Pfeifen, der Angerufene erkennt immer genau, daß gerade er es war, der gerufen wurde (Althusser 1977, S. 142f.).

Der Bergiff der Interpellation beschreibt also zwei Dimensionen. Diese zwei Dimensionen lassen sich mit der Methode der Interpellationsanalyse (vgl. Kergel 2018) empirisch untersuchen und können wie folgt gefasst werden: • Der Akt der Anrufung und • die Wirkung dieser Anrufung auf das Subjekt. Gemäß dieser zwei Dimensionen der Interpellationsanalyse können der Aufbau und die Wirkung von normativen Rollenzuweisungen in den analytischen Blick genommen werden. Hierfür lassen sich folgende Leitfragen formulieren: • Wie werden gesellschaftliche Zuschreibungen und Anforderungen als Interpellationen formuliert? • Wie werden diese Interpellationen von den Akteuren im Sinne von Subjektivierungsdynamiken in das eigene Selbst-/Weltverhältnis implementiert? Interpellationen sind in gesellschaftliche Sinnsysteme eingebunden. Sie haben einen Sinn bzw. sie erscheinen als sinnvoll. So ist es sinnvoll, von einer Frau, die ein Kind ‚hat‘, zu erwarten, dass sich die Frau ‚wie eine richtige Mutter‘ verhält. Dies ist ja wichtig für das Kind, damit es sich ‚richtig‘ entwickeln kann bzw. richtig erzogen wird. Schnell gerät dabei aus dem Blick, wer warum wie festlegt, was ‚eine richige Mutter‘ auszeichnet:

2.4 Jede Methode benöugt Begriffe

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kann ‚man(n)‘ als Mutter eine ‚nicht-richtige Mutter‘ sein? Und was bedeutet es, wenn eingefordert wird, ein Kind soll ‚richtig bzw. gut erzogen‘ sein? Als machtkritische Analysen sind Interpellationsanalysen Teil engagierter Wissenschaft: Interpellationsanalysen (re-)konstruieren, wie durch Interpellationen normative Anforderungen an das Subjekt gerichtet werden. Dabei sind Interpellationsanalysen Teil einer sozio-semiotischen Methode, da sie thematisieren, wie bestehende Hierarchien symbolischer Ordnung verdeckt, beschönigt (‚euphemisiert‘) und/oder legitimiert werden. Durch Interpellationsanalysen werden die Hierarchisierungsprozesse symbolischer Ordnung sichtbar, durch die jedes Individuum einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommt, anstatt diesen selbstbestimmt immer wieder neu zu wählen, zu wechseln, wieder einzunehmen… Als Methode thematisieren Interpellationsanalysen das Zusammenwirken von Interpellationen und Subjektivierungsdynamiken. Fanon beschreibt dieses Zusammenwirken exemplarisch, wenn er feststellt, dass es „eine Konstellation von Gegebenheiten, eine Reihe von Sätzen“ gibt, „die langsam und heimlich mit Hilfe von Schriften, Zeitungen, Erziehungen, Schulbüchern, Plakaten, Kino, Radio ein Individuum durchdringen und das Weltbild der Gemeinschaft prägen, zu der es gehört“ (Fanon 1985, S. 131). Es wurde oben festgehalten, dass Interpellationsanalysen sich als eine soziosemiotische Methode verstehen lassen, da sie thematisieren, wie bestehende Hierarchien symbolischer Ordnung verdeckt, beschönigt (‚euphemisiert‘) und/oder legitimiert werden. Um diese ‚unsichtbare‘ Tiefendimension von Interpellationen angemessen analytisch aufarbeiten zu können, bedarf es der Begriffe ‚subtextuelle Bedeutung‘ und ‚symbolische Gewalt‘, die im Folgenden vorgestellt werden. Subtextuelle Bedeutung und symbolische Gewalt Eine sozio-semiotische Analyse, welche die Methode der Interpellationsanalyse einsetzt, ermöglicht das Sichtbarwerden der unsichtbaren Realität symbolischer Ordnung. Diese unsichtbare Realität kann auch mit dem Begriff ‚subtextuell‘ bezeichnet werden. Der Begriff ‚subtextuell‘ bezeichnet die nicht explizit formulierten Bedeutungsdimensionen sozialer Praktiken. Wenn beispeispielsweise von einer ‚richtigen Mutter‘ interpellativ erwartet wird, dass diese sich aufopfernd um ‚ihr Kind‘ kümmert, während ‚ihr Ehemann‘ arbeiten geht, stellt dies in der subtextuellen Ebene eine Verstärkung heteronormativer Geschlechterrollen und damit eine performative Stärkung von patriarchalischen Strukturen dar: Der Mann arbeitet, während die Frau sich um das Haus kümmert (vgl. dazu eingehender Bourdieu 1983). Wenn Subjekte über Interpellationen und Subjektivierungsdynamiken in bestehende Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse eingepasst bzw. ‚subjektiviert‘ werden, lässt sich dies als Form der ‚symbolischen Gewalt‘ analysieren. „Symbolischer Gewalt unterliegt ein soziales Gewaltverhältnis, das Akteure als Beherrschte und Herrschende in eine Machtbeziehung setzt“ (Schmidt &Woltersdorff 2008, S. 11

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

H.i.O.). Dabei ist symbolische Gewalt Teil der Dynamiken von Interpellationen und Subjektivierungen, mit der die symbolische Ordnung performativ reproduziert wird. In der Bourdieurezeption wird in diesem Kontext noch zwischen den Begriffen ‚symbolische Gewalt‘ und ‚symbolische Herrschaft‘ differenziert: Die Frage, ob Bourdieu die Begriffe ‚symbolische Gewalt‘ und ‚symbolische Herrschaft‘ synonym verwendet, ist nicht abschließend geklärt. Es spricht vieles dafür, dass er von ‚Herrschaft‘ (domination) spricht, wenn es um Herrschaft als gesellschaftliches Strukturmerkmal geht, als Herrschaftsverhältnis, und von Gewalt (violence), wenn es um einen spezifischen Modus der Herrschaftsausübung geht, insbesondere um die Aktualisierung und Befestigung eines Herrschaftsverhältnisses in der unmittelbaren Interaktion (Krais 2008, S. 53, Fußnote, H.i.O.).

Vor dem Hintergrund dieser Begriffsdifferenzierung stellt symbolische Gewalt performativ Herrschaftsverhältnisse bzw. symbolische Herrschaft her. Die symbolische Herrschaft kann wiederum als Ausdruck der Machtverhältnisse bzw. als Manifestation der Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse symbolischer Ordnung analysiert werden. Symbolische Ordnung und die mit ihr einhergehenden Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse, die mittels symbolischer Gewalt durchgesetzt werden, manifestieren sich in der ‚symbolischen Macht‘. Der Begriff symbolische Macht bezeichnet „die Möglichkeit zur Ausübung von symbolischer Gewalt“ (Schmidt & Woltersdorff 20018, S. 8). Symbolisch sind diese Machtformen, da sie Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse repräsentieren und reproduzieren, die auch in anderen gesellschaftlichen Feldern etabliert sind – z.B. durch die Gesetzgebung. Dabei entfaltet sich symbolische Macht auch als „sprachliche Gewalt“ (Schmidt und Woltersdorf 2008, S. 13) performativ. Sie konstituiert sich „[ü]ber sprachliche Akte des Benennens, Setzens, Trennens und Zusammenführens“. Sprachliche Gewalt entfaltet „performative Machtwirkungen“, das „solche sprachlichen Akte […] zugleich erzeugen“ können, „was sie benennen“ (Schmidt und Woltersdorf 2008, S. 13). Exemplarisch lässt sich das sozio-semiotische, performative Gefüge aus symbolischer Gewalt, symbolischer Herrschaft und symbolischer Macht an Rehs und Rickens (2012) Analyse des Satzes „Nathan, kommst du zum abrechnen bitte“ (Reh & Ricken 2012, S. 46) festmachen. Dieser Satz wurde im Rahmen „einer kurzen Unterrichtsszene“ (Reh & Ricken 2012, S. 36) geäußert, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Lernkultur und Unterrichtsentwicklung an Ganztagsschulen“ per Video dokumentiert wurde: Die Lehrerin sitzt auf einem Stuhl neben dem Whiteboard. Sie schlägt ein Arbeitsheft zu und sagt: L: Nathan kommst du zum abrechnen bitte (Reh & Ricken 2012, S. 36).

Reh und Ricken verweisen auf die impliziten, nur zeichenhaft angedeuteten Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse, die von der Lehrerin mit ihrem ‚Anruf‘ bzw. ihrer

2.4 Jede Methode benöugt Begriffe

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Interpellation an den Schüler Nathan aktualisiert wurden. Diese Hierarchien zeigen sich u.a. darin, dass die Lehrerin nicht fragt, ob Nathan kommen will. Vor diesem Hintergrund bekräftigt „die Hintenanstellung der Höflichkeitsformel ‚bitte‘ […] nicht die Offenheit der Frage oder den werbenden Charakter der Aufforderung, die auf Entscheidung von der anderen Seite wartet, sondern den Anweisungscharakter und verschärft diese Anweisung im Ton“ (Reh & Ricken 2012, S. 46f.). Die Lehrerin verfügt über die symbolische Macht, dass Nathan kommen muss, und agiert ihr Machtpotenzial durch den Satz „Nathan kommst du zum abrechnen bitte“ als symbolische Gewalt aus. In einer Feinanalyse der Passiv-Aktiv-Beziehung zeigt sich diese Hierarchie noch stärker. So „signalisiert das Verb die Zentriertheit auf die Lehrerin: N. wird aufgefordert zu L. zu kommen“ (Reh & Ricken 2012, S. 47). Die Lehrerin setzt sich als zentrale Instanz. Durch ihr Handeln übt die Lehrerin symbolische Gewalt aus, indem sie Nathan interpellativ adressiert, sich den etablierten Hierarchien und Abhängigkeitsbeziehungen adäquat zu verhalten. Die von Reh und Ricken analysierte Interaktion erscheint signifikant für schulische Konstellationen. Zugleich wird in dieser Szene performativ die symbolische Herrschaft hergestellt, die typisch für Erziehungsgeschehen allgemein ist: Die von der L. durch ihre Äußerung initiierte Situation wird zunächst als Überprüfungs- und Kontrollsituation definiert, in der Rechte und Pflichten – und damit die entsprechenden Positionen in der Interaktionsfiguration – ungleich verteilt sind. Die fungierenden Normen lauten daher: die L. ist die zentrale Instanzdes Geschehens; Kontrolle ist erlaubt und notwendig; Aufgabenerbringung ist Pflicht und kann nur durch vorweisbare Leistungen, Produkte oder Ergebnisse nachgewiesen werden (Reh & Ricken 2012, S. 47).

Aus sozio-semiotischer Perspektive ergibt sich die Herausforderung, einen analytischen Blick auf die symbolischen Gewaltformen zu entwickeln. Dies erscheint umso schwerer, da uns die Machtformen bzw. die Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse selbstverständlich und quasi ‚natürlich‘ erscheinen: Mit Bezug auf Bourdieu (1983) wird von einer ‚Naturalisierung‘ der symbolischen Ordnung gesprochen: Bestehende Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse erscheinen als notwendig und alternativlos. Der Begriff bzw. das „Konzept der symbolischen Gewalt“ wird zu einem „Erkenntnisinstrument“ (Alkemeyer & Rieger-Ladich 2008, S. 106). Als sozio-semiotisches Erkenntnisinstrument ermöglicht das Konzept der symbolischen Gewalt und die damit verbundenen analytischen Begriffe „symbolische Herrschaft“ und „symbolische Macht“, dass die „im Selbstverständlichen verborgenen Dimensionen“ der Macht „sichtbar gemacht werden können“ (Alkemeyer & Rieger-Ladich 2008, S. 107).

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2 Jede Methode benöugt eine Methodologie

2.5 Subjektivierung in Practice – von der Geschlechtsidentität zu Jim Crow In Interpellationsakten wird das Individuum stets in Bezug zu den Werten symbolischer Ordnung gesetzt. Mit diesen Werten muss sich das interpellierte Subjekt auseinandersetzen. Beispielsweise kann die Zuordnung eines Säuglings zur binären Geschlechterordnung als Erfüllung/Einhaltung des normativen Anspruchs interpretiert werden, einer vorgegebenen Geschlechterkategorie gerecht zu werden: Die binäre Geschlechterordnung kennt nur die Geschlechter ‚Mann‘/‚Frau‘ und keine Geschlechter ‚dazwischen‘ oder Geschlechter, die ganz anders definiert sind. So besteht eine zentrale Interpellation darin, dass das Subjekt dem normativen Anspruch entspricht, entweder Mann oder Frau, Junge oder Mädchen, Oma oder Opa etc. zu sein. Überall dort, wo Entweder-oder-Entscheidungen gefordert werden, werden Alternativen, Zwischentöne oder dritte Möglichkeiten ausgeschlossen. Das EntwederOder kennt keine Alternativen. Die interpellative Forderung nach Entweder-Oder produziert Ausschluss und auch Leidensdruck. Dieser Leidensdruck, der durch eine interpellative Entweder-Oder-Forderung hergestellt wird, kann exemplarisch an dem Lebensweg von Wilchins veranschaulicht werden. Wilchins ist stetig gezwungen, sich in Geschlechtskategorien einzuordnen: Die Macht kreiert uns zunächst […] als spezifische Arten von Individuen. Während meiner Kindheit sah ich mich zum Beispiel einfach als Junge, ein merkwürdiger Außenseiter und oft unglücklicher Junge, aber dennoch als Junge. Die Leute hatten immer den Verdacht, dass ich schwul sei, und ich versuchte in der Tat für einige Jahre, als schwuler Mann zu leben. Und wenn man die Tat-sache außer Acht lässt, dass ich jetzt eine Partnerin habe und mich sexuell nicht zu Männern hin-gezogen fühle, könnte ich es heute immer noch sein. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, dass ich transsexuell bin. Wie es in der Fachliteratur heißt: eine Frau gefangen im Körper eines Mannes. Das half mir zu erklären, warum es sich innerlich immer so eng anfühlte. Ich lernte, mich selbst als Frau zu denken. Nach all den Feindseligkeiten, die mir entgegengebracht wurden, fühlte ich immer deutlicher – oftmals auf schmerzhafte Weise –, dass ich irgendwie die Nachahmung einer Frau war. Da ich noch mit meiner Partnerin zusammen war, wurde mir darüber hinaus klar, dass ich wirklich ein lesbischer Transsexueller war. Als der Diskurs sich einige Jahre später wandelte, wurde ich Transgender. All diese Subjektivitäten fühlten sich damals richtig an. Aber auf einer anderen Ebene ergab keine davon wirklich einen Sinn; sie fühlten sich alle an, als wären sie weniger ein integraler Bestandteil von mir als Spiegelungen dessen, was andere in mir sehen wollten (Wilchins 2006, S. 64).

Wilchins Selbstdefinition richtet sich an den interpellativen Vorgaben der symbolischen Ordnung aus. Ändert sich die symbolische Ordnung, z.B. durch eine höhere Akzeptanz von Schwulen, ändert sich die Selbst-/Weltinterpretation von Wilchins. Die symbolische Ordnung bringt Interpellationen hervor, denen sich im Fall Wilchins das Subjekt unterwirft: Das Selbst-/Weltverhältnis wird entsprechend der begrifflichen Ordnung ausgerichtet – oder wie Meier (2018) es formuliert: „Für alle Bereiche stehen

2.5 Subjekuvierung in Pracuce – von der Geschlechtsidenutät zu Jim Crow

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Schablonen der höheren Ordnung und Methoden und Techniken zur Anpassung bereit“ (Meier 2018, S. 158). Durch Interpellationen kann symbolische Gewalt ausgeübt werden: Mit Interpellationen lässt sich sozialer Druck durch Forderungen formulieren, der Norm bzw. den ‚Schablonen‘ zu entsprechen – es kommt zu einem Normalisierungsdruck. Dieser Normalisierungsdruck führte im Fall von Wilchins zu Leidenserfahrungen. Dies zeigt sich darin, dass ‚all diese Subjektivitäten‘ sich für Wilchins ‚nicht richtig anfühlten‘. Dabei besteht ein entscheidender Punkt darin, dass den Anforderungen immer wieder aufs Neue entsprochen werden muss: Es gilt, die Schablonen immer wieder aufs Neue zu erfüllen. Es reicht nicht, einmal zu sagen: ‚Gut jetzt, ich bin eine Frau‘. Vielmehr muss ein Subjekt, das als Frau identifiziert wird und sich selbst als Frau identifiziert, sich immer wieder als Frau hervorbringen. So verpflichtet die „Identifikation als Frau […] zum lebenslangen Dienst an der Weiblichkeit (Meier 2018, S. 176). Hier wird wieder die Relevanz des Begriffs Perfomativität sichtbar: Der infinite, niemals endende Prozess, sich als Frau oder Mann hervorzubringen, kann aufgrund seiner endlosen Wiederholung des Hervorbringens als performativer Prozess definiert werden. Dabei entfalten Interpellationen sich nicht lediglich in explizit hierarchischen Beziehungen (z.B. Mitarbeiter/Vorgesetzter), sondern durchdringen subtextuell und ‚unsichtbar‘ unsere Lebenswelt.15 Die Wirkmacht der interpellativen und subjektivierenden Dimension symbolischer Ordnung und der damit einhergehenden symbolischen Gewalt kann bis zur Selbstabwertung der Akteure führen. Diesen sozialiserenden Prozess fasst Bourdieu abstrakt-analytisch wie folgt: „Die Beherrschten wenden vom Standpunkt der Herrschenden aus konstruierte Kategorien auf die Herrschaftsverhältnisse an und lassen diese damit natürlich erscheinen. Das kann zu einer Art systematischer Selbstabwertung, ja Selbstentwürdigung führen“ (Bourdieu 2013, S. 65). Empirisch konkret lässt sich dieser von Bourdieu abstrakt-analytisch beschriebene Subjektivierungsprozess anhand des sogenannten ‚Black Doll Experiments‘ und tradierten, diskriminierenden Rollenmustern aufzeigen, mit denen ‚schwarze‘ Menschen medial dargestellt werden. Die Psychologen Kenneth und Mamie Clark haben in den 1940er Jahren eine Reihe von Experimenten entworfen und durchgeführt, die umgangssprachlich als ‚Black Doll Experiments‘ bezeichnet werden. Das Erkenntnisziel bestand darin, die psychologischen Auswirkungen der Segregation auf afroamerikanische Kinder zu untersuchen. Für den Durchlauf des ‚Puppentests‘ wurden vier Puppen eingesetzt. 15 Lebenswelt ist ein Begriff der v.a. in der Phänomenologie relevant wird und lässt sich als „soziale[r], historische[r] und physische[r] Kontext“ definieren, „in dem all unsere Aktivitäten stattfinden und der uns selbstverständlich und vertraut erscheint“ (Bakewell 2018, S. 151).

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Diese waren bis auf die Farbe identisch. Diese Puppen wurden mit acht Fragen präsentiert. The Clarks showed young Black children a Black and a White doll and asked the children to “give me the doll that: (1) you like to play with or the doll you like best, (2) is the nice doll, (3) looks bad, (4) is a nice color, (5) looks like a White child, (6) looks like a colored child, (7) looks like a Negro child, (8) looks like you.” Questions 1 through 4 were designed to disclose preferences; questions 5, 6, and 7 examined children’s knowledge of differences between races; and question 8 probed children’s selfidentification (Jordan & Hernandez 2009, S. 86)

Mit dieser Fragestrategie gehen die Einforderungen nach analytischen Unterscheidungen, der Formulierung persönlicher Präferenzen sowie die Benennung explizit abwertender Hierarchisierungen ineinander über. An den Ergebnissen lässt sich ablesen, wie sich eine symbolische Ordnung mit Ein- und Ausschlussdynamiken sozialisatorisch in die marginalisierten Subjekte affirmativ einschreibt: Black children in the Clarks’ (1947) study more often preferred to play with White dolls (67%), chose the White doll as the nice doll (59%), and chose the White doll as having a nice color (60%). Additionally, the majority of Black children chose the Black doll as being the one that “looks bad” (59%). Surprisingly, only 58% of Black children selected the Black doll as the one that “looks like you,” suggesting that many did not identify with their own race. Closer examination of the data suggested that self-identification with the Black doll was related to the Black children’s own skin tone, with the distribution for choosing the Black doll as looking like them being only 20% for light Black children, 73% for medium skin tone Black children, and 81% for dark skin tone Black children (Jordan & Hernandez-Reif 2009, S. 86)

Das dabei die Selbstwahrnehmung und Selbstkategorisierung als ein sozialisatorischer Effekt angesehen werden kann, zeigt sich in dem Umstand, dass mit zunehmenden Alter die Selbstidentifikation als ‚Black‘ steigt: „When measuring self-identification (question 8) in relation to age, only 61% of the Black 3-year-old children chose the Black doll as the one that looked like them. In contrast, 87% of the 7-year-old Black children accurately chose the Black doll as the one that looked like them, suggesting that children’s self identification with their race develops over early childhood“ (Jordan & Hernandez-Reif 2009, S. 86). Dementsprechend weisen Jordan und Hernandez-Reif (2009) im Kontext des ‚Black Doll Experiments‘ auf die Wirkung interpellative Subjektivierungen in Form von Vorurteilen hin: The overall results from this landmark study illustrated that young Black children raised in the 1930’s preferred White dolls and judged the White dolls as superior to duplicate dolls of Black skin color. Replication studies in the decades that followed revealed that White children identified with their skin tone more often than Black children […] In contrast, Black children were inclined to reject their own ethnic group and had greater preferences for White skin tone […] Studies also revea-

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led that Black children were persuaded by the majority norms, values, and pessimistic judgments about their racial or ethnic group (Jordan & Hernandez-Reif 2009, S. 86).

Die emotional internalisierten Werte, die bis zur Selbstabwertung führen können, lassen sich als Subjektivierungsdynamiken avalysieren. Interpellative Muster, die sich durch Abwertung von ‚schwarzen Menschen‘ auszeichnen, schreiben sich in das Selbst/Weltverhältnis der Subjekte ein. Fanon beschreibt in seinem Werk „Schwarze Haut, weiße Masken“ von 1952 die binäre Logik dieser symbolischen Ordnung: „Von Schwarz zu Weiß – so verläuft die Mutationslinie. Man ist weiß, so wie man reich ist, so wie man schön ist, so wie man intelligent ist“ (Fanon 1985, S. 45). Ein tradiertes, interpellatives Muster, welches ‚schwarze Menschen‘ defizitär fasst und zu Subjektivierungsdynamiken führen kann, wie sie im Black Doll Experiment aufgezeigt wurden, stellt die Sozialfigur ‚Jim Crow‘ dar. Jim Crow war in den USA des 19. Jahrhunderts der Stereotyp des ‚singenden, faulen, leicht dümmlichen bzw. unterdurchschnittlich intelligenten Negers‘, der zumeist ein Sklave, aber dennoch mit sich und der Welt zufrieden war. Dieses Stereotyp wurde v.a. in Minstrel Shows hergestellt. Minstrels (engl. Kleiner Diener/ bezeichnet Spielleute) sind Unterhaltungsshows. Bei ‚Blackface Minstrels‘ haben ‚weiße Menschen‘ mit schwarz geschminktem Gesicht (Blackfacing) das Stereotyp des Jim Crow performativ hergestellt. Ab 1860 wurden für Minstrel Shows auch ‚schwarze Musiker‘ wie W.C. Handy (der von sich behauptete, den Blues erfunden zu haben) und Bessie Smith engagiert. Vor allem im Norden der USA fanden derartige rassistische Minstrel Shows ihre Verbreitung. Das Stereotyp des Jim Crow lieferte ‚weißen Arbeitern‘ aus dem industrialisierten Norden, die oftmals keinen ‚Schwarzen‘ persönlich kannten, eine negative Projektionsfläche für Wut und Frustationen. In Folge der Minstrel Shows etablierte sich der Name Jim Crow als rassistische Bezeichnung von ‚Schwarzen‘16. Im Zuge der stereotypisierenden Darstellung eines Jim Crow bewegte der Akteur seine Glieder ungelenk, so dass Gang und Erscheinungsbild einer Krähe ähnelten. Daher könnte der Name Jim Crow stammen. Eine andere Namensdeutung bezieht den Namen auf das Lied bzw. die Nummer „Jump Jim Crow“, die von Thomas D. Rice aufgeführt wurde. Mit dem Bild des Jim Crow war eine rassistische Sozialfigur etabliert – „Es ist leicht gesagt, der Neger inferiorisiert sich. In Wahrheit wird er inferiorisiert“ (Fanon 1985, S. 128). An der Sozialfigur des Jim Crow und an der medialen Darstellung von ‚Schwarzen‘ in den Minstrel Shows lässt sich ablesen, dass die stereotypisierende, verunglimpfende 16 Die zwischen 1876 und 1964 erlassenen Gesetze zur Rassentrennung wurden von Kritikern auch Jim Crow Gesetze genannt. Auch gegenwärtig ist die Sozialfigur des Jim Crow noch aktuell: Cornel West interpretiert den verschärften Rassismus in den USA im Sinne einer neuen Jim Crow-Welle, die sich in der heutigen Zeit in der faktisch schlechteren Behandlung von ‚Schwarzen‘ durch die Polizei oder vor Gericht zeigt vgl. https://www.youtube. com/watch?v=kXfzpA7gKjI, zuletzt zugegriffen: 21. April 2019.

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Darstellung von marginalisierten Akteuren in der Unterhaltungsindustrie Tradition besitzt. Diese Tradition wird in sogenannten Buddy Movies wie „Nur 24 Stunden“ oder in der Filmreihe „Rush Hour“ fortgesetzt. Es kommt in diesen Formaten zu einer stereotypisierenden Darstellung des ‚schwarzen Mannes‘, die in der Tradition von Jim Crow zu stehen scheint. In der Filmreihe Rush Hour ist der US-Amerikanische ‚schwarze‘ Polizist James Carter ungeschickt, neigt zur maßlosen Selbstüberschätzung und ist – analog zu Eddy Murphys Darstellung des „Beverly Hill Cops“ – ein ‚Plappermaul‘. Der chinesische Polizist Lee – der ‚Buddy‘ von Carter – wird dagegen als ernsthafter, selbstdisziplinierter und kampferprobter Polizeibeamter dargestellt. Und obgleich der erste Rush Hour Film 1998 in die Kinos kam und inzwischen eine Serie in Planung ist, scheinen Fanons Worte von 1952 noch auf die (Selbst-)Darstellung von ‚Schwarzen‘ in Buddy Movies zu passen: „Ich kann nicht ins Kino gehen, ohne mir selbst zu begegnen. Ich warte auf mich. In der Pause, kurz vor dem Hauptfilm, warte ich auf mich. Ein NegerGroom wird auftreten“ (Fanon 1985, S. 121). Quasi unsichtbar wird in popkulturellen Phänomenen subtextuell eine symbolische Ordnung etabliert und interpellativ vermittelt. Dabei kann auf ein Figureninventar zurückgegriffen werden, welches im US-Amerikanischen Rassismus etabliert wurde: Über die Jim Crow Darstellung in Minstrel Shows bis hin zu Buddy Movies wird eine Sozialfigur des ‚Schwarzen‘ sozio-semiotisch verankert. Damit werden – quasi unsichtbar – Rassenstereotype performativ hergestellt. Wie das Black Doll Experiment aufzeigt, schreibt sich diese symbolische Ordnung in die diskriminierten Subjekte selbst ein, die sich als ‚schwarz‘ und damit gegenüber dem ‚Weißen‘ als defizitär erfahren.

Abb. 1

Dieser Cartoon zeigt eine typische Darstellung von Jim Crow als Minstrelfigur: einen weißen Mann mit schwarzem Gesicht, der stereotyp und komödiantisch-verhöhnend das Verhalten von Schwarzen nachahmt.17

17 Quelle: Lewis & Lewis 2009, S. 28.

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Abb. 2

In diesem Bild zeigt sich exemplarisch die Rollenverteilung und Stereotypisierung, welche das Buddy Movie Rush Hour auszeichnet: Während der chinesische Polizist Lee voll ‚asiatischer‘ Zurückhaltung und Selbstdisziplin auch ein geübter Kämpfer ist, neigt Carter als ‚Großmaul‘ zur Selbstüberschätzung. Dies zeigt sich auch auf dem Bild, indem Carter Bewegungen asiatischer Kampftechniken imitiert, die er aber nicht beherrscht. 18

Mit den Begriffen Subjekt, Individuum, Macht, Interpellation, Subjektvierungsdynamik, subtextuell und symbolische Gewalt ist der ‚Begriffskoffer‘ gefüllt, um Erziehungskonstellationen analysieren zu können. Die Analyse von Erziehungskonstellationen basiert auf einem theoretisch ausdefinierten Verständnis von Erziehung. Ein theoretisch fundiertes, begrifflich ausdifferenziertes Verständnis von Erziehung ermöglicht eine gezielte und systematische Auseinandersetzung mit der Empirie pädagogischer Praxis. Um dies leisten zu können, wird im nächsten Abschnitt ein Definitionsvorschlag unterbreitet, was unter Erziehung zu verstehen ist. Strenggenommen ist diese Definition von Erziehung noch Teil der Begriffsbestimmung. Da aber mit Erziehung der Untersuchunsgegenstand als solcher definiert wird, erhält die Definition von Erziehung ein eigenes Kapitel.

18 Quelle: https://www.google.com/search?q=rush+hour&client=firefox-b-d&source=lnms&tbm= isch&sa=X&ved=0ahUKEwiTwMa34fngAhUSyKQKHYLgDW0Q_AUIDigB&biw=1440&bih=847#im grc=Y9yxzIMKeOAo-M:. Zuletzt zugegriffen: 03. März 2019.



3 Was ist Erziehung?

3 Was ist Erziehung

Das vielleicht bekannteste Zitat zur Erziehung stammt von Kant: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“ (Kant 1964, S. 699). Gemäß dem Soziologen Durkheim besteht Erziehung „in einer planmäßigen Sozialisation der jungen Generation“ (Durkheim 1972, S. 30). Nietzsche wiederum hält fest: „Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei“ (Nietzsche 1960b, S. 587). Die Spannweite, die sich aus den unterschiedlichen Erziehungsdefinitionen und Erziehungsverständnissen ergibt, entfaltet sich auf der Basis der Frage ,Was ist Erziehung?‘. Zugleich führen all diese Definitionen wieder zu der Ausgangsfrage zurück. In Konsequenz scheint die Formulierung einer begrifflich endgültigen Fassung von Erziehung kaum möglich – „Der Begriff ‚Erziehung‘ gehört heute zu den unklarsten Begriffen der theoretischen und praktischen Pädagogik, obwohl er in Deutschland seit den 1960er Jahren in die Bezeichnung der wissenschaftlichen Disziplinen eingegangen ist“ (Masschelein et al. 2000, S. 7). Trotz der Herausforderungen, die mit einer begrifflichen Fassung von Erziehung verbunden sind, lässt sich Erziehung basal als gezielte Einpassung des Subjekts in die symbolische Ordnung von Gesellschaft definieren: „Erziehung ist nicht gleich Sozialisation, aber Sozialisation ist das, was unter anderem durch Erziehung ermöglicht wird, nämlich die Aneignung von gesellschaftlichen Erfahrungen“ (Zimmermann 2000, S. 14). Als ‚geleitete Sozialisation‘ bedarf Erziehung konstitutiver Subjekte, die ‚leiten‘ bzw. die andere Subjekte erziehen: „Unter Erziehung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Bestandteile zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten“ (Brezinka 1990, S. 95). Als Prozess, in dem Menschen in die Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse symbolischer Ordnung subjektiviert werden, ist Erziehung im weitesten Sinne auch ein Unterwerfungsakt: „Dass niemand – zumindest freiwillig – erzogen werden will, könnten eigentlich alle wissen, die tatsächlich etwas mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben und, sofern sie es sich erlauben, dieses elementare pädagogische Faktum akzeptieren“ (Reichenbach 2018, S. 42). Als Prozess symbolischer Gewaltausübung lässt sich Erziehung mit den Begriffen Erziehungsziel, Zu-Erziehender und Erziehender rekonstruieren und als Erziehungskonstellation analysieren.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Kergel, Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten, Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1_3

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3.1 Erziehungskonstellationen – Erziehungsziele, Zu-Erziehender, Erzieher Erziehung vollzieht sich nicht um seiner selbst willen, sondern bedarf Erziehungsziele. Erziehungsziele setzen voraus, dass der Zu-Erziehende erziehungsbedürftig ist. Der ZuErziehende ist durch seine Differenz zum Erziehungsziel defizitär definiert, da er etwas noch nicht kann, was durch das Erziehungsziel vorgegeben ist. Um ein Erziehungsziel zu erreichen, bedarf es den Erziehenden. Erziehung ist dabei eine pädagogische Antwort auf die Entwicklungstatsache des Menschen. Damit der Mensche sich richtig – d.h. gemäß der symbolischen Ordnung – entwickelt, bedarf es der Erziehung. Erziehung versteht die Entwicklungstatsache als eine Überwindung des Mangels: Dem Zu-Erziehenden mangelt es an etwas. So besteht der Mangel eines Kindes darin, nicht erwachsen zu sein: „Kindheit wird verstanden als ein Entwicklungsalter, und insofern bildet Erwachsensein das Ziel von Kindheit“ (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas 2018, S. 11). Der Mangel ist in den Erziehungszielen definiert. Dabei sind die Erziehungsziele überindividuell gültig. Würde der Mangel nicht existieren, würden Erziehungskonstellationen in sich zusammenfallen – oder in den Worten Sartres „Der Mangel kann somit nicht Mangel sein im Verhältnis zu einem bestimmtes Sein, das dieser Mangel ist“ (Sartre 2005, S. 273, H.i.O.). Durch die überindividuelle Allgemeingültigkeit der Erziehungsziele wird eine ‚Gleichgültigkeit‘ und eine ‚Gleichsetzung‘ der Zu-Erziehenden gefordert und gefördert: „Der Erziehungsprozess ist oft nichts anderes als der Versuch, eine Interpretation (bzw. eine Diskursart) aufzudrängen (quasi: du sollst dich bzw. dein Verhalten, deine Wünsche und Affekte auch in moralischen Begriffen zu beschreiben lernen)“ (Reichenbach 2018, S. 41). Erziehungsziele sind überindividuell und definieren einen Mangel, den alle ZuErziehenden aufweisen – sonst wären sie keine Zu-Erziehenden. Der Mangel bzw. Erziehungsziele, die den Mangel formalisieren, konstituieren eine Hierarchie und damit auch ein Machtgefüge: Der Erziehende ist dem Zu-Erziehenden übergeordnet. Der Erziehende wird zur Autorität. Das Machtverhältnis wird über Erziehungsziele formalisiert und über den Kompetenzvorsprung der Erziehenden gegenüber dem Zu-Erziehenden legitimiert: „Die allgemeine Bestimmung von ‚Erziehung‘ beinhaltet so das Problem der Rechtfertigung eines Machtverhältnisses, das als solches im Unterschied der Kompetenzen immer schon angelegt ist“ (Schäfer 2005, S. 9). Dieses Machtverhältnis stellt die Erziehungskonstellation dar. Konstellation ist dabei als Relation von Elementen definiert. Das Zusammenspiel zwischen Erziehungszielen, Zu-Erziehender und Erziehender lässt sich als Erziehungskonstellation definieren: Eine Erziehungskonstellation besteht aus einem Erziehungsziel bzw. einem Mangel. Das Subjekt, welches diesen Mangel aufweist, ist der Zu-Erziehende und dasjenige Subjekt, welches die Interpellation formuliert bzw. das Erziehungshandeln durchzusetzen sucht, ist der Erziehende • Der Zu-Erziehende wird über das Erziehungsziel als defizitär definiert.

3.2 Erziehung und Gesellscha{ – Oder: Über die Vegesellscha{ung des Subjekts

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• Der Erziehende wirkt auf den Zu-Erziehenden ein, damit dieser sich gemäß den Erziehungszielen entwickelt, um die Defizität des Zu-Erziehenden überwinden zu können. So besteht eine pädagogische Grundbeziehung von Erziehung darin, dass sich „[d]ie eine Seite […] offenbar berechtigt und auch verpflichtet“ (Reichenbach 2018, S. 39) fühlt, „auf die andere [Seite] einzuwirken, während von dieser erwartet wird, sich von solcherlei pädagogischen Handlungen beeinflussen und beeindrucken zu lassen“ (Reichenbach 2018, S. 39).

3.2 Erziehung und Gesellschaft – Oder: Über die Vegesellschaftung des Subjekts Erziehung passt das Subjekt in die symbolische Ordnung von Gesellschaft ein. Durch Erziehung wird ein gesellschaftliches Subjekt realisiert. Das Gelingen gesellschaftlicher Praxis hängt auch von einer gelungenen Vergesellschaftung des Individuums durch Erziehung ab. Über Erziehungsziele artikulieren und realisieren sich die gesellschaftlichen Ansprüche an das Subjekt. Wird dieser Gedanke weitergeführt, ergibt sich hieraus die These, dass sich der Freiheitsgrad einer Gesellschaft auch an dem Freiheitsgrad ablesen lässt, den eine Gesellschaft in Form von Erziehungszielen dem Subjekt zubilligt: Im Erziehungshandeln manifestiert sich auf konkreter Handlungsebene der Freiheitsgrad des Subjekts im gesellschaftlichen Kontext. Die im Erziehungshandeln formulierten, gesellschaftlichen Ansprüche an das Subjekt sind Manifestationen konkreter historischer Situationen, die eine Gesellschaft mit strukturieren. Mit dem Wandel von Gesellschaft verändert sich das Erziehungsverständnis und damit verändern sich auch Erziehungsziele. Erziehung als Subjektivierung – Oder: Subjektivierung als Erziehung? Es stellt sich die Frage, wie aus theoretischer Perspektive das Verhältnis ‚Erziehung/Subjektivierung‘ gefasst werden kann. Die Relevanz dieser Fragestellung ergibt sich auch aus der zunehmenden erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Subjektivierung als ‚Theorieansatz‘: „Auch – und gerade – in der Erziehungswissenschaft stößt dieser Theorieansatz auf ein besonderes Interesse und lädt inzwischen zu originären, erziehungswissenschaftlichen Beiträgen ein“ (Ricken, Casale & Thompson 2019, S. 7). Trotz der Konjunktur subjektivierungstheoretischer Fragestellungen im Kontext erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen „finden sich eher selten Antworten auf die Frage, was eigentlich aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive für die Theoretisierung des Pädagogischen folgt“ (Ricken 2019, S. 95). Im Folgenden wird die These entwickelt, dass Subjektivierung als ‚Theorieansatz‘ nicht auch für Fragen im Feld pädagogischer Praxis aktualisiert werden können. Vielmehr wird die Position vertreten, dass Subjektivierung ein originär erziehungs-

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praktischer Vorgang ist. Tritt Subjektivierung in anderen, nicht-pädagogischen Feldern auf, ist daher von einer Pädagogisierung von gesellschaftlichen Teilbereichen zu sprechen, die ursprünglich keine Sphäre des Pädagogischen waren. Die These, Subjektivierung als Erziehung zu verstehen, wird im Folgenden entfaltet. Durch Interpellationen und Subjektivierungsdynamiken schreiben sich gesellschaftliche Werte in das Subjekt ein. Gesellschaftliche Normen werden in Form von Aufforderungen an das Subjekt adressiert, sich angemessen zu verhalten. Aus erziehungstheoretischer Perspektive lässt sich festhalten, dass gesellschaftliche Normen als Erziehungsziele fungieren. Interpellationen markieren einen etwaigen Mangel des interpellierten Subjekts. Der Mangel besteht darin, sich (potenziell) nicht diesen normativen Anforderungen/den Erziehungszielen gemäß zu verhalten. Interpellationen erhalten mit ihrem normativen Anspruch, also dem (bindenden) Anspruch, dass ihnen Folge zu leisten ist, den Charakter von Erziehungshandeln. Folglich reproduzieren Interpellationen in ihrer subtextuellen Dimension Erziehungskonstellationen. Aus dieser Perspektive lässt sich jede interpellative Subjektivierungsdynamik als ein Erziehungsgeschehen analysieren: In verschiedenen Sozialisationsphasen wird das Subjekt mit verschiedenen Ausformungen von Autorität (Eltern/Erzieher/Lehrer/Vorgesetzte) konfrontiert, die jeweils verschiedene Erziehungs- oder (euphemisiert) Kompetenzziele formulieren. Aus dieser Perspektive lässt sich „Kindheit“ als „ein übergreifendes, normatives Ordnungsmuster“ (Bigli 2018, S. 277) definieren, welches sich in Hierarchien – beispielsweise auch zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern – entfaltet: „Der Vorgesetzte […] wird als Quelle der Moral erkannt und erkennt sich als solche“ (Sartre 2005, S. 46). Die geschieht, indem der Vorgesetzte die Rolle des Untergebenen definiert – so wie der Erwachsene das Konzept „Kindheit“ definiert: „Der Untergeordnete entdeckt sich als unwesentlich im Verhältnis zum Untergebenen, der wesentlich ist“ (Sartre 2005, S. 45) Als Sozialfigur ist das ‚Kind-Sein‘ folglich über einen eingeschränkten Bewegungsfreiraum bzw. über eingeschränkte Formen der Selbstbestimmung definiert: „Das Kind ist zunächst Objekt. ‚Wir sind zunächst Kinder, bevor wir Menschen sind‘, das heißt: wir sind zunächst Objekte. Wir sind zunächst ohne eigene Möglichkeiten“ (Sartre 2005, S. 44, H.i.O.). Das Ordnungsmuster von Erziehungskonstellationen samt der Sozialfigur des ‚KindSeins‘ aktualisiert sich in Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen, bei denen beispielsweise dem Vorgesetzten aufgrund dessen vermeintlichen Kompetenzvorsprungs die Rolle eines Erziehers bzw. einer Autorität zugewiesen wird. Die autoritäre symbolische Ordnung ist auch eine Ordnung der Erziehungskonstellation. Dementsprechend definiert Sartre die „Kindheit“ als ein Unterdrückungstypus (2005, S. 571). Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse werden durch die Aktualisierung von Erziehungskonstellationen pädagogisch moralisiert und rationalisiert Im Sinne eines Zwischenfazits lässt sich die These formulieren, dass sich Subjektivierungsprozesse als Erziehungsprozesse definieren lassen. Diese These

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gründet auf der Prämisse, dass Interpellationen stets auf einer symbolischen Ordnung fußen bzw. darauf abzielen, diese performativ zu aktualisieren und Individuen derart in die symbolische Ordnung zu subjektivieren bzw. in die symbolische Ordnung ‚hineinzu-(er-)ziehen‘. Diese Argumentation soll im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst werden: • Interpellationen werden formuliert. Analysieren wir Interpellationen mit dem Begriffsinventar, welches uns das Modell der Erziehungskonstellationen bereitstellt (Erziehungsziel, Zu-Erziehender, Erziehender), stellen Interpellationen Erziehungsziele dar. • Diejenigen, die die Interpellationen äußern, sind demgemäß die Zu-Erziehenden. Das kann eine konkrete Person sein (Mutter/Vater/Chef), ein Rollenmodell bzw. Idealkonzept (Heidi Klum als Top Model, vgl. Kergel 2018) oder eine allgemeine Feststellung, die z.B. in einer Zeitung getätigt, in einem Lied besungen oder in einem Film dargestellt wird. • Wenn die Zu-Erziehenden sich zu diesem Erziehungsziel verhalten und ihr Selbst-/Weltverhältnis in Auseinandersetzung mit diesem Erziehungsziel entwickeln, entstehen Subjektivierungsdynamiken.

3.3 Die warenförmig-autoritäre Struktur von Erziehungskonstellationen Subjektivierung entfaltet sich nicht lediglich in formalisierten Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen (z.B. am Arbeitsplatz und in Bildungsinstitutionen), sondern durchdringt unsere Lebenswelt. Hier stellt sich die Frage nach passenden analytischen Strategien, um Interpellationen als Teil der unsichtbaren Realität sichtbar werden zu lassen. Hier lässt sich auf Marx Warenkritik zurückgreifen, um aus einer sozio-semiotischen Perspektive zu dechiffrieren, wie sehr Interpellationen und Subjektivierungsdynamiken eine Grundlage des Konsumkapitalismus darstellen. Die Analyse von Erziehungskonstellationen in unserer Lebenswelt wird dadurch komplexer, dass die subjektivierende Dynamik gezielt u.a. bei der Bewerbung von Produkten eingesetzt wird und diese Bewerbung in hohem Maße unsere Lebenswelt, unsere Wahrnehmung und unsere Subjektivität mitstrukturiert. So weist Schinkel (2018) darauf hin, dass „die ästhetischen Bezugnahmen auf Konsumgüter gerade auch interessante Fragen zu Abhängigkeit und Eigensinn, Fremd- und Selbstbestimmung, Individualität, sozialer Zugehörigkeit und Differenz mit sich“ (Schinkel 2018, S. 254) bringen. Aus sozio-semiotischer Perspektive lässt sich die These aufstellen, dass Werbung den Status einer Interpellation besitzt. So kommunizieren Werbebilder von Cowboys, die am Lagerfeuer Marlboro-Zigaretten rauchen, ein interpellatives Bild von Männlichkeit. Werbebilder von Models, die ihre Beine mit einem Lady Shaver von Gillette rasieren, vermitteln uns Stereotypen davon, wie ‚Frau‘ sich weiblich pflegt: „Die Produktion der Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit befindet sich im Besitz

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der Beauty-, Werbe-, Nahrungsmittel-, Unterhaltungs-, Mode- und Pornoindustrie“ (Meier 2018, S. 175). Es lässt sich kaum ein Produkt denken, welches beworben wird und das im Zuge dessen nicht einen Lifestyle und/oder nicht (subtextuell) ein Rollenmodell formuliert. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die These formulieren, dass Interpellationen eingesetzt werden, um Produkte zu verkaufen bzw. den Kaufanreiz von Produkten mittels interpellativer Werbung zu erhöhen. Um zu (re-)konstruieren, wie die Werbeindustrie Interpellationen für die Erhöhung der Kaufanreize von Produkten einsetzt, erscheint eine sozio-semiotische Analyse hilfreich. Zudem würde es bedeuten, der sozio-semiotischen Analyse der sozialen Realität nicht zu gerecht zu werden, wenn die warenförmige Struktur von Interpellationen nicht thematisiert werden würde. Allerdings wird damit der methodische Rahmen zur Theorieentwicklung nicht unkomplizierter. Ein erster Ansatzpunkt, um das Verhältnis ‚Erziehung/Interpellationen/interpellative Werbung‘ zu definieren, stellt eine Definition des Begriffs Ware dar. Hier kann auf Marx Analysen zurückgegriffen werden.

3.3.1 Ware – Oder: Über die Standardisierung der Dinge Mit Bezug auf den Begriff der Ware lässt sich zunächst festhalten, dass Gegenstände nicht Waren sind, sondern zu Waren werden. Diese These soll durch einige Überlegungen zur Ware bzw. zur Warenstruktur von Gegenständen entwickelt werden: Wir benötigen Gegenstände, um uns mit der Welt auseinanderzusetzen. Heidegger nennt dies ‚Zeug‘: Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. Im Umgang sind vorfindlich Schreibzeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-, Meßzeug. Die Seinsart von Zeug ist herauszustellen […] Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ‚etwas, um zu... ‚. Die verschiedenen Weisen des ‚Um-zu‘ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit (Heidegger 1967, S. 68).

Wir sind auf ‚Werkzeug‘ angewiesen, um Häuser oder Autos zu bauen. Um zu fliegen, benötigen wir das ‚Flugzeug‘, und um Krach zu machen, wird das Schlagzeug benötigt. Um etwas ‚zu machen‘, brauchen wir die Gegenstände bzw. wir benutzen die Gegenstände. So haben wir nicht einfach eine Gabel, sondern die Gabel ist erst dann relevant, wenn wir mit ihr Nahrung zu uns nehmen wollen, ein Auto ist erst dann relevant, wenn wir mit ihm fahren möchten. Die Gabel und das Auto werden dadurch, dass wir sie verwenden, zu Gebrauchsgegenständen. Gegenstände werden von Gebrauchsgegenständen zu Waren, wenn nicht das Gebrauchen im Fokus steht, sondern der Tausch der Gegenstände.

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Die Ware ist dabei „zunächst ein äußerer Gegenstand“ (Marx 1962, S. 49). Während ein Gegenstand bzw. ein „Ding“ durch seine „Nützlichkeit“ einen „Gebrauchswert“ erhält, werden diese Dinge durch den „Tauschwert“ in ein „quantitatives“ (vgl. Marx 1962, S. 50) bzw. standardisiertes Verhältnis zu anderen Dingen gesetzt. Die Gegenstände erhalten einen Warenwert. Es geht also nicht darum, dass man mit einer Gabel essen kann, sondern darum, wie viele Gabeln man tauschen mus, um ein Auto zu erhalten: „Abstrahiert man nun wirklich vom Gebrauchswert […], so erhält man ihren Wert, wie er eben bestimmt ward. Das Gemeinsame, was sich im Austauschverhältnis oder Tauschwert der Ware darstellt, ist also ihr Wert“ (Marx 1962, S. 53). Wenn ein Gegenstand zwar gebraucht wird, aber nicht getauscht werden kann – z.B., weil keine Nachfrage besteht oder jemand seinen Gebrauchsgegenstand nicht verkaufen will – ist dieser Gegenstand keine Ware. „Ein Ding kann Gebrauchswert sein, ohne Wert zu sein“ (Marx 1962, S. 55). Dagegen wird der Wert von Waren weniger dadurch bestimmt, was ‚man‘ mit diesen Gegenständen ‚machen‘ kann und wie hilfreich sie als ‚Zeug‘ für uns sind. Viemehr ergibt sich der Wert von Waren durch das Verhältnis, welches die ‚Dinge als Waren aufeinander‘ einnehmen. Als Waren ist der Wert von Gegenständen über den Tauschwert definiert – z.B., wenn festgelegt wird, dass fünf Gabeln einem Mercedes entsprechen. Der Wert der Waren ergibt sich aus dem Tauschwert. Gegenstände wie Leinwand, Tee oder Eisen sind nicht von Natur aus Waren, sie werden erst zu Waren, indem sie sich auf dem Markt austauschen und dadurch in ökonomische Verhältnisse treten. Im Tausch werden die Waren miteinander verglichen, so dass sich eine gemeinsame Größe herausstellt, die Marx Tauschwert nennt (Rohbeck 2014, S. 32).

Anstatt direkt Waren zu tauschen, wird dieses Tauschgeschäft über Geld vermittelt: Eine Gabel ist ein Euro wert, ein Auto ist fünf Euro wert. Dementsprechend zahle ich fünf Euro für ein Auto. Je mehr eine Ware wert ist, desto mehr Geld muss für die Ware gezahlt werden. Um einen Mehrwert zu generieren bzw. um bei dem Verkauf einer Ware mehr zu gewinnen, als die Herstellung des Produkts, welches zur Ware wird, gekostet hat, müssen Strategien entwickelt werden, welche die ‚Kaufbereitschaft‘ bzw. den Warenwert steigern. Um den Wert von Waren zu steigern, werden Waren über die Werbeindustrie ‚fetischisiert‘. Die Waren erhalten einen ‚Fetischcharakter‘.

3.3.2 Der Fetischcharakter der Ware als Erziehungsziel Grundsätzlich bezeichnet der Fetischcharakter eine quasi-religiöse Bedeutung, die Waren ,anhaftet’. Als „mythischer Charakter” (Marx 1962, S. 85) ist der Fetischcharakters nicht Teil des Gebrauchswerts einer Ware. Der Fetischcharakter ist die Bedeutung einer Ware, die ihr zugesprochen wird, obwohl diese Bedeutung außerhalb des Gebrauchswerts liegt. In anderen Worten: Der Fetischcharakter einer Ware bezeichnet den Anreiz, der von einer Ware ausgeht und der sich nicht aus dem Gebrauchswert der

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Ware ergibt. So ist eine Gucci-Handtasche als Ware mehr als lediglich eine gut verarbeitete Handtasche. Vielmehr verweist die Handtasche auf ein ‚Modebewusstsein‘ und auf ‚finanzielle Ressourcen‘: Der Träger einer Gucci-Handtasche hat das nötige Modebewusstsein sowie das nötige Geld, sich eine solche Handtasche zu leisten. Damit dies auch von allen so wahrgenommen wird, prangt das Gucci-Logo gut sichtbar auf GucciProdukten – die Gucci-Handtasche ist ein sozio-semiotisches Phänomen. Um den Festischcharakter einer Ware zu steigern und so den Kaufanreiz beim Kunden zu verstärken, erhalten Produkte, die als Waren verkauft werden, durch die Werbung eine interpellative Dimension. Dies geschieht, wenn durch die Werbeindustrie die Produkte als Repräsentationen von Rollenmodellen kommuniziert werden. Die Produkte versprechen, den Abstand zum Erziehungsziel zu minimieren oder aufzuheben, welcher zwischen normativer Rollenanforderung/Erziehungsziel und dem Zu-Erziehenden existiert: Damit Kapitalismus funktioniert, muss der Mangel, der ausgebeutet wird, miterzeugt und abgebildet werden […] Wenn die Beziehung zum eigenen Körper und zu dem der anderen enteignet und als Norm vergesellschaftet wird, sind die Leute gezwungen, als Konsumentinnen und Körperarbeiterinnen in den Dienst der schönen Bilder […] einzutreten. (Meier 2008, S. 155f.)

Der Mangel als ‚etwas nicht Gegebenes aber benötigtes/gewünschtes‘ bildet die Differenz des Zu-Erziehenden zum Erziehungsziel sowie die Beziehung des mittels Werbung interpellativ Angerufenen zum normativen Idealbild. Erziehungskonstellationen entfalten sich folglich im Wirtschaftssystem des Konsumkapitalismus über den Warenfetischismus. Durch den Warenfetischismus, der über Werbung inszeniert wird, wird der Konsument defizitär gefasst: Ihm mangelt es an dem Produkt und dem, was dieses Produkt repräsentiert. Dieser Prozess lässt sich wie folgt beschreiben: • Die Produkte werden zu Waren. • Der Kaufanreiz wird durch einen Fetischcharakter gesteigert. • Dieser Fetischcharakter beruht auf Interpellationen. • Durch die Werbeindustrie wird kommuniziert, dass der Kauf eines Produktes den Abstand zwischen ‚Erziehungsziel‘ und ‚Zu-Erziehendem‘ vermindert (durch eine Marlborozigarette wird ‚man‘ männlicher). • Werbebotschaften wirken interpellativ als Erziehungsziele, die die Differenz des Subjekts zu den normativen Vorgaben markieren. Werbebotschaften formulieren Idealbilder von Lifestyles bzw. Rollenkonzepten. Durch den Kauf einer Ware kann der Käufer mit der Ware bis zu einem gewissen Grad einen Teil dieses Lifestyles erwerben. Durch den Erwerb einer Ware, die einen Lifestyle repräsentiert, kann der Käufer den Anforderungen entsprechen, die es zu erfüllen gilt, wenn man einen gewissen Lifestyle repräsentieren möchte. Durch den Kauf kann der Mangel überwunden werden, der darin besteht, nicht über die Waren zu verfügen, die einen Lifestyle ausmachen/repräsentieren. Der Mangel markiert das Defizitäre am

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Konsumenten, welches es durch Warenkauf zu überwinden gilt. Das Subjekt ist als Konsument strukturell defizitär definiert. Meier (2018) spricht in diesem Kontext von einer „Spaltung“ des Subjekts und bezeichnet damit die Differenz, die „zwischen dem vermeintlich individuellen fehlerhaften Körper und der perfekten Norm konstruiert wird“ (Meier 2018, S. 154). Der fehlerhafte Körper repräsentiert den Mangel. Der Mangel kann über den Erwerb von Schönheitsprodukten wenn nicht ganz überwunden, so doch verringert werden. Die Werbeindustrie formuliert Stereotype. Damit formuliert die Werbung auch stereotype Erwartungshaltungen, denen das Subjekt genügen soll. Allerdings ist es unmöglich, diese Norm je zu erfüllen – denn „[d]ie Norm“ wird „von keinem realen Körper gebildet“ (Meier 2018, S. 154). Viemehr ist die Norm Erzeugnis „von einem Bildbearbeitungsprodukt, einem Ding, einer Ware, deren Haltbarkeit und Festigkeit unerreichbar ist“ (ebenda). So ist beispielsweise die Erfüllung eines Weiblichkeits- oder Männlichkeitsideals nie beendet: Geschlechtsidentitäten werden warenförmig präsentiert. „Zwischenmenschliche Intimität wird in Warenform vergesellschaftet und in eine Kette aufeinanderfolgender Waren aufgelöst (Meier 2008, S. 156). Konsumartikel und deren Vermaktung fungieren als Interpellationen. Um den Prozess der Interpellation durch Waren und deren subjektivierenden Wirkungen begrifflichanalytisch zu präzisieren, kann auf das Begriffsrepertoire des französischen Psychoanalytikers Jaques Lacan zurückgegriffen werden.

3.3.3 Warenförmige Erziehungskonstellationen analysieren – Oder: Über das Objekt klein a Als Interpellationen sind Anrufungen darauf ausgerichtet, dass die Subjekte sich gemäß normativen Vorgaben/Erziehungszielen verhalten. Interpellationen verweisen stets auf Erziehungsziele und legitimieren sich subtextuell durch den Verweis auf diese Erziehungsziele. Grundsätzlich basiert diese Konstellation auf dem Mangel des Subjekts. Dieser Mangel zeigt sich in der Interpellation und legitimiert Erziehungsziele sowie den Erziehenden. Um dieses komplizierte Verweisungsgefüge zu analysieren, lässt sich auf das Begriffsinventar von Jaques Lacan zurückgreifen. Im Rahmen von Lacans Überlegungen sowie in erziehungstheoretischen Analysen stellt der Mangel die zentrale ‚Leerstelle‘ dar: Der Mangel kann – wie bereits erwähnt – als ‚etwas nicht Gegebenes aber benötigtes/gewünschtes‘ definiert werden. So konstituiert der Mangel die Differenz des Zu-Erziehenden zum Erziehungsziel sowie die Beziehung des interpellativ Angerufenen zum normativen Idealbild. Mit Bezug auf Lacan lässt sich der Mangel mit der Bezeichnung ‚Objekt klein a‘ begrifflich fassen. Objekte klein a verweisen als zu erreichende Ziele bzw. als Interpellationen auf eine übergeordnete Wertesetzung bzw. auf Erziehungsziele. Lacan geht davon aus, dass das Subjekt bzw. das Selbst-/Weltverhältnis von Menschen das Ergebnis der Eingliederung des Menschen in die symbolische Ordnung von Gesellschaft darstellt. „Lacans Subjekt ist ein Produkt der Eingliederung des

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Individuums in die symbolisch[e] […] Ordnung“ (Zima 2007, S. 258, H.i.O.). Durch Erziehung wird das Subjekt in die Wertevorstellungen, Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse sozialisiert. Dieser Eingliederungsprozess bzw. dieser Subjektivierungsprozess lässt sich wie folgt analytisch ordnen: • Subjektivierungen vollziehen sich in Form von Erziehungskonstellationen, gemäß derer das Subjekt in Form von Interpellationen mit normativen Forderungen konfrontiert wird. • Dabei werden Interpellationen im Konsumkapitalismus oftmals über Werbebotschaften formuliert. • Warenförmige Interpellationen lassen sich als normative Forderungen und damit als Objekte klein a analysieren. So verweisen beispielsweise Werbebotschaften auf Lifestyles und damit auf Erwartungshaltungen, den Merkmalen der Lifestyles zu entsprechen. • Objekte klein a wirken damit als Erziehungsziele, die die Differenz des Subjekts zu den normativen Vorgaben markieren. Durch die beworbene Ware können sich Käufer dem Lifestyle annähern – z.B. durch ein Auto, welches wie der ‚Mini‘ einen sportlich-urbanen Lifestyle repräsentiert. • Das Objekt klein a zeigt sich auch im konkreten ‚Begehren‘, eine Ware erwerben zu wollen, um damit ein Bedürfnis zu stillen. Dieses interpellativ hervorgebrachte Begehren zeigt sich dann, wenn durch Werbung vermittelt wird, dass ein bestimmtes Produkt gebraucht wird – beispielsweise ein AXE-Deodorant, um ‚gut zu riechen‘ bzw. mit diesem Duft einem Männlichkeitsbild zu entsprechen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass das „Produktangebot in diskursive Ordnungen eingebunden“ ist, „innerhalb derer Verwendungsweisen, soziale Wertmaßstäbe und individuelle Graduierungen von Akzeptabilität und Verlangen vorgezeichnet werden“ (Schinkel 2018, S. 255). • Das Objekt klein a verweist auf ein Erziehungsziel bzw. auf Werte der symbolischen Ordnung, die sich in einem Lifestyle ausdrücken, dem es zu entsprechen gilt. • Diese symbolische Ordnung bzw. die Erziehungsziele werden durch die Interpellationen bzw. Subjektivierungsdynamiken aufrechterhalten bzw. performativ immer wieder hergestellt.

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Abb. 3

Die – in diesem Fall ironisierte – Werbebotschaft abstrahiert von jedem Gebrauchswert und rückt den Fetischcharakter des Produkts in den Fokus. Der Mann wird von schönen Frauen ‚umgarnt‘.19

Die Werbung suggeriert Mangel und weckt das Begehren. Das Objekt klein a fungiert als interpellierendes Objekt des Begehrens: „In der Psychoanalyse fungiert das objet petit a […] als Objektursache des Begehrens, deren Anwesenheit sich gerade aufgrund ihrer Abwesenheit spürbar macht“ (Marchart 2013, S. 320, H.i.O.). Als Objekte klein a ermöglichen Konsumgüter, dass sich der Konsument den warenförmigen Idealbildern der symbolischen Ordnung annähert. Das Objekt klein a erfüllt zwei Funktionen zugleich: • Interpellation und • partielle Befriedigung des wahrgenommenen Mangels über Konsum. So repräsentiert das Objekt klein a das Begehren bzw. den Wunsch, so zu sein, wie es die Interpellation Objekt klein a vorgibt. Durch den Erwerb des Objekts klein a kann dieses Begehren gestillt werden. Das Objekt klein a ist folglich eine fetischisierte Ware mit interpellativer Wirkung. Die Ware ist festischisiert, da es mehr als den Gebrauchswert bedeutet. Dieses ‚Mehr‘ entfaltet eine interpellative Wirkung. Allerdings ist dieses Begehren nicht ein für alle Mal erfüllt, wenn beispielsweise ‚Mann‘ das Axe-Deodorant erworben hat. Es werden über die Werbeindustrie stets neue Waren hergestellt, die Quelle: https://www.gosee.de/image/971790/news/40287, zuletzt zugegriffen: 25. Dezember 2018.

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einen interpellativen Fetischcharakter besitzen – z.B. eine Lederjacke, die auf Männlichkeit verweist.

Abb. 4

Die Lederjacke bewirbt wie die Axe-Werbung (vgl. Abb. 3) das Produkt mit einem weißen Mann mit Dreitagebart. Wie bei der Axe-Werbung wird subtextuell eine ‚individualistischrebellische‘ Interpellation formuliert. Axe ist für Leute, die das Besondere bzw. ‚Something‘ besitzen. Ähnlich verhält es sich mit der Marke Drykorn, die mit der Lederjacke sowie dem Werbespruch für ‚distorted People‘ beworben wird – also Leute anspricht, die individualistisch nicht der Norm entsprechen. Dies wird durch die semiotische Dimension der Lederjacke unterstrichen, die für einen rebellischen Lifestyle steht.20

Der interpellative Fetischcharakter von Waren zeigt sich darin, dass für Produkte durch die Darstellung von Rollenmodellen geworben wird. Diese Rollenmodelle werden stets aufs Neue mit Produkten beworben. Derart wird der Mangel stets aufs Neue wiederhergestellt. Wäre das Objekt klein a tatsächlich erreichbar, so käme der Begehrensprozess zum Stehen. „Was erreichbar ist, ist immer nur ein bestimmtes Objekt, das vorübergehend die Qualität des objet petit a zu verkörpern scheint, diese Qualität aber verliert, sobald es erreicht wurde“ (Marchart 2013, S. 320, H.i.O.). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Objekt klein a das Objekt des Begehrens repräsentiert bzw. den Wunsch interpelliert und repräsentiert, so zu sein, wie es die Interpellation als Objekt klein a vorgibt. Das Objekt des Begehrens ist Teil 20 Quelle: https://www.google.com/imgres?imgurl=https%3A%2F%2Fwww.wormland.de%2Ffiles% 2Fteaser_672_wl_hw18_drykorn_collab_teaser_15.png&imgrefurl=https%3A%2F%2Fwww.wor mland.de%2F&docid=hfXIdgGdLClhNM&tbnid=Yx3OqP6Gp_H1wM%3A&vet=12ahUKEwiysb6A0 u_eAhUEWywKHZZgAqA4rAIQMygvMC96BAgBEDM..i&w=673&h=378&client=firefox-b&bih=84 7&biw=1440&q=lederjacke%20werbung%20herren&ved=2ahUKEwiysb6A0u_eAhUEWywKHZZg AqA4rAIQMygvMC96BAgBEDM&iact=mrc&uact=8, zuletzt zugegriffen: 25. Januar 2018.

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der symbolischen Ordnung, der das Subjekt zuzugehören begehrt. Dementsprechend stellt das Objekt klein a Anrufung und Motivation zugleich dar, den normativen Anordnungen durch Konsum gerecht zu werden (vgl. Meier 2018, S. 155ff.) Das Objekt klein a ist folglich • Ausdruck der Differenz des Subjekts zu dem Idealbild bzw. zu dem Erziehungsziel und • Möglichkeit, sich diesem Idealbild bzw. dem Erziehungsziel (partiell) anzunähern.

3.3.4 Objekt klein a in Praxis: Kind-Sein und Gender-Marketing Diese Doppelfunktion des Objekts klein a kann tiefgreifend das Selbst-/Weltverständnis von Menschen prägen. Dies soll im Folgenden anhand des Beispiels des GenderMarketing aufgezeigt werden, mit denen Spielzeugmarken beworben werden. Durch das Gender-Marketing erhält das beworbene Spielzeug einen Fetischcharakter, da es als Objekt klein a auf erstrebenswerte Geschlechterstereotype verweist. Dieses Gender-Marketing prägt auch das ‚Kind-Sein‘, welches in warenförmigen Strukturen eingebettet ist: Kind sein ist dabei im Sinn der neuen Kindheitsforschung als eine Dimension neben weiteren sozialen Differenzkategorien aufzufassen, die im Kontext von Konsumgütern adressiert und in konkreten Interaktionsverhältnissen unter Mitmenschen und im Umgang mit Dingen ausgeformt und gelebt werden (Schinkel 2018, S. 256).

Empirisch gibt die Studie der Spezialagentur für Kinder- und Familienmarketing „KB&B – The Kids Group“ Auskunft über diesen Subjektivierungsprozess. Die Studie wurde 2017 im Vorfeld des Kongresses Kids, Teens & Marke vorgestellt. Im März 2017 sind dafür 892 Kinder (496 Mädchen und 396 Jungs) bis 14 Jahre und 1755 Eltern (462 Väter und 1293 Mütter) von Kindern bis 14 Jahren in Deutschland befragt worden. Die Ergebnisse der Studie zeigen die subjektivierende Wirkung von Marken auf: Kinder in den unterschiedlichen Altersstufen nehmen Marken und Markenimages sehr bewusst wahr und betrachten sie als Teil ihrer Identität und Identitätsbildung. Besonders wichtig ist für Kinder der Kauf von Markenartikeln in den Kategorien Kleidung - dazu zählen auch insbesondere Schuhe -, Spielzeug und Handys. Lego und Playmobil schaffen es bei den jüngeren Kindern (6 - 10 Jahre) sogar zu einer eigenen Kategorie; Adidas bei den älteren Kindern von 11 - 14 Jahren (Kbb 2018, Abs. 2).21

Es lässt sich von einer sozialisatorischen Wirkkraft von Marken sprechen, die das Selbst-/Weltverhältnis von Kindern prägt. 21 Quelle: https://www.kbundb.de/blog/studie-marken-kinder-2018-die-bedeutung-von-markenfur-kinder-wird-von-markenartiklern-immer-noch-unterschatzt, zuletzt zugegriffen: 13. Dezember 2018.

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Marken präsentieren Waren in Form von ‚Brandings‘, um damit den Kaufanreiz zu steigern. Anhand der Studie lässt sich ablesen, wie die warenförmige Struktur von Gesellschaft ansozialisiert und daher kaum noch als solche wahrgenommen wird: „Als etwas Selbstverständliches gilt die Ware deshalb, weil man sich beständig mit ihr konfrontiert sieht, innerhalb der Warenform blindlings handelt, d.h. ihre Regeln für völlig natürlich hält und sich von ihren ‚Sachzwängen‘ bestimmen lässt“ (Baumeister & Negator 2007, S. 47). Demenstprechend heißt es auch in der Auswertung zu der KBB-Studie: „Marken spielen bei der Sozialisation eine herausragende Rolle. Durch Marken bestimmen Kinder und Jugendliche ihre eigene Identität und fühlen sich einer Gruppe zugehörig“ (KBB 2018, Abs. 5). Anhand der Ergebnisse der KBB-Studie wird die Wirkmacht des sozialisatorischen Prozesses deutlich. Im Markenbewusstsein des Subjekts spiegelt sich dessen warenförmige Vereinnahmung. Dies führt dazu, dass „für die Menschen, die von Geburt an in einer Gesellschaft von WarenproduzentInnen leben“ (Baumeister & Negator 2007, S. 47.), es „eine Art absolut selbstverständliche, ewige ‚Naturnotwendigkeit‘“ darstellt, „dass ‚alles seinen Preis hat‘. Im Alltagsleben und dem daraus entspringenden Alltagsbewusstsein gilt die Ware als etwas Banales, das gar nicht erst zu hinterfragen ist“ (Baumeister & Negator 2007, S. 47). Hier lässt sich ein Forschungsfeld sozio-semiotischer Analysen identifizieren, das sich im Sinne heuristischer Fragen wie folgt abstecken lässt: Durch welche interpellativen Strukturen werden welche Subjektivierungsdynamiken initiiert, durch die es u.a. • zur Ausbildung eines Markenbewusstsein sowie zu • Prozessen der Identitätskonstruktion kommt, die über Markenbewusstsein mitstrukturiert werden? Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung und mit Bezug auf vorliegende Daten zur Mediennutzung lässt sich (re-)konstruieren, wie sich Identitätskonszepte von Kindern auch in der Mediennutzung zeigen: Während Mädchen sich stärker für die Themen ‚Kleidung/Mode’, ‚Tiere’, ‚Schule’, ‚Musik’, ‚Bücher/Lesen’, ‚Film/Fernsehstars’ und ‚Freunde/Freundschaft’ interessieren, haben Jungen eine höhere Affinität zu den Themen ‚Sport’, ‚Technik’, ‚Computer-/Konsolen-/Onlinespiele’ sowie ‚Internet/Computer/Laptop’. Lediglich bei fünf Themen ist das Interesse der Mädchen und Jungen gleich stark ausgeprägt: An ‚Handy/Smartphone’ sind 37 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Jungen stark interessiert (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb 2016, S. 6f.).

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse erscheint ein Blick darauf als angebracht, wie Identitätskonzepte über Werbung kommuniziert werden, die sich dann in der Mediennutzung der adressierten Akteure bzw. Konsumenten zeigen. Wenn beispielsweise gemäß KBB-Studie ‚Lego und Playmobil es bei den jüngeren Kindern (6-10 Jahre) sogar zu

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einer eigenen Kategorie‘ bringen, lohnt sich ein sozio-semiotischer Blick auf die Bewerbung von Produkten bzw. Waren dieser Firmen. So haben Lego wie Playmobil mit Strategien des Gender-Marketing Produktlinien interpellativ gezielt auf ‚Mädchen‘ und ‚Jungen‘ ausgerichtet (vgl. Nufer & Fischer 2014). Am Beispiel Lego und Playmobil zeigt sich exemplarisch, wie Werbung „bis heute […] traditionelle Gesellschaftsentwürfe und überholte Rollenbilder“ (Throm 2015, S. 31) (re-)produziert. Um die sozialisatorische Wirkkraft dieser Bilder zu dechiffrieren, können sozio-semiotische Analysestrategien eingesetzt werden. So ließen sich beispielsweise allgemein bei der Analyse von GenderMarketing folgende heuristische Fragen stellen: • Welche Merkmale verweisen auf Rollenbilder wie ‚weiblich/männlich‘ oder ‚Mädchen/Junge‘? • Werden diese Merkmale in Werbebotschaften eingesetzt? • Und wenn ja, wie? In der sozio-semiotischen Analyse von Erziehungskonstellationen gilt es weiter zu fragen, wie durch die dargestellten Merkmale ein ‚begehrenswertes‘ Rollenmodell konstituiert wird. • Wie werden die interpellativen Merkmale in Warenform bzw. durch das beworbene Produkt dargestellt? Diese identifizierten Merkmale verweisen auf ein Rollenmodell, welches als Interpellation bzw. als Erziehungsziel fungiert. Das beworbene Produkt fungiert dabei als Objekt klein a. Exemplarisch lässt sich diese Interpellationdynamik des Gender-Marketings an der Produktlinie Legofriends aufzeigen, welche die Sozialfigur des urbanen, jugendlichen Mädchens vermittelt. Die klassischen Legoprodukte, mit denen aus Stecksteinen Objekte zusammengesetzt werden können, werden mittlerweile von anderen Produkten wie das Lego Friends-Magazin flankiert. Diese Produkte vermitteln in ihrer Gesamtheit den Stereotyp einer ‚rosa‘ durchwirkten, jugendlichen Weiblichkeit, deren Lifestyle sich zwischen Shopping und Backen entfaltet. Derart wird ein interpellatives Idealbild von jugendlicher Weiblichkeit geschaffen, welches aufgrund seiner Anziehungskraft – so sind die im Magazin als Comic dargestellten Mädchen zumeist glücklich, erfolgreich und beliebt – Begehren weckt. Entsprechend dieser interpellativen Stoßrichtung wird das Lego Friends-Magazin auf der Website mit den Zeilen beworben: Das LEGO Friends Magazin entführt Mädchen im Alter von 6 bis 12 Jahren in das bezaubernde Städtchen „Heartlake City“, wo sie in spannenden Comicgeschichten zusammen mit den Freundinnen Stephanie, Emma, Mia, Olivia und Andrea allerhand Abenteuer erleben. Außerdem gibt es in jeder Ausgabe knifflige Rätsel, tolle Gewinnspiele und ein original LEGO Friends Spielset!22 22 Quelle: https://www.lego.com/de-de/lifestyle/products/lego-friends-magazine, zugegriffen: 24. Dezember 2018.

zuletzt

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Die Suggestivkraft des Werbetexts entfaltet sich mit Verben wie ,entführen‘. Gerade das Verb ‚entführen‘ stellt einen tradierten Topos der Werbeindustrie dar, um Begehren zu wecken (vgl. Abb. 6).

Abb. 5

Auf diesem Titel des Lego Friends-Magazin wird interpellativ eine Idealwelt ‚junger Mädchen‘ dargestellt. Diese Zielgruppenorientierung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auf dem hier abgebildeteten Titelbild zwölf als Comicfiguren dargestellte Mädchen zu sehen sind. Zudem prägt das geschlechtsspezifisch konnotierte Farbkontinuum ‚lila-pink‘ Kernelemente des Covers (z.B. die Umrahmung des Titelbildes).23

Das urbane Leben enfaltet sich in dem ‚Städtchen‘ Heartlake City. Gerade das Diminutiv „chen“ verweist auf die Gefahr- und Sorglosigkeit, bezeichnen doch gerade Wörter mit dem Suffix ‚-chen‘ vermeintlich ‚niedliche‘ Dinge wie ‚Mäuschen‘ oder ‚Häschen‘ 23 Quelle: https://www.lego.com/de-de/lifestyle/products/lego-friends-magazine. zugegriffen: 24. Dezember 2018.

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und ‚Kätzchen‘ sowie ‚Engelchen‘, aber auch gegenständliche Verniedlichungen wie ‚Lämpchen‘, Deckchen‘ oder ‚Tischchen‘ … und freilich Mädchen.

Abb. 6

Die suggestive Semantik von Werbebotschaften zeigt sich in dem Topos des ‚Entführen in Warenwelten‘. Dieser Topos wird standardisiert genutzt und kann bei einer Werbung für Kinderprodukte ebenso wie bei einer Werbung für ein Wellnesswochenende eingesetzt werden, welches sich an Erwachsene richtet.24

Die Peergroup, die in Hearlake City zusammen Abenteuer erlebt, besteht aus den Freundinnen Stephanie, Emma, Mia, Olivia und Andrea. Die weibliche Gruppe wird naturalisiert: das Männliche wird zum binär Anderen, welches der Peergroup in Abenteuern gegenübertritt. Die binäre Geschlechterordnung wird derart subtextuell festgeschrieben. Diese ‚bezaubernde‘, harmlose – weil niedliche – Welt für junge Mädchen stellt ein Idealbild dar. Dieses Idealbild wird in dem Lego Friends-Magazin erzählt. Dieses Magazin sorgt dabei für eine Fetischisierung der Legobausets, die sich käuflich erwerben lassen und mit denen junge Mädchen ‚im Alter zwischen sechs bis zwölf Jahren‘ die Abenteuer in Heartlake City nachspielen können. Die Legobausets, mit denen sich diese Abenteuer nachstellen lassen, können als fetischisierte Waren analysiert werden. Das Lego Friends-Magazin ist dabei ein Mittel, um die Lego Friends-Produktlinie als Waren zu fetischisieren. Es wird auch möglich – und hier kommt wieder die Mediennutzung ins Spiel – sich die Heartlake City-App auf dem Smartphone zu installieren. Zugleich repräsentieren die Legobausets der Lego Friends-Produktlinie Objekte klein a mit denen sich ‚junge Mädchen‘ dem Idealbild des ‚Mädchen-Seins‘ in einer verniedlichten, urbanen Welt annähern können. Dieses warenförmige Wirkungsgefüge des Gender-Marketing lässt sich auch im Sinne von Erziehungskonstellationen rekonstruieren: Das Lego Friends-Magazin, die App und die Produktlinie Lego Friends fungieren als Interpellationen. Sie rufen ‚junge Quelle: www.hitradio-skw.de/lassen-sie-sich-entfuehren, zuletzt zugegriffen: 24. Dezember 2018.

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3 Was ist Erziehung

Mädchen im Alter zwischen sechs bis zwölf Jahren‘ an, sich an einem Idealbild urbaner, jugendlicher Weiblichkeit auszurichten. Dieses Idealbild stellt das Erziehungsziel dar. Mit den Waren der Lego Friends-Produktlinie kann sich diesem Idealbild angenähert werden, indem sich die Abenteuer nachspielen lassen. Dafür gilt es in einem ersten Schritt, das Produkt zu erwerben. Die Werbeindustrie hat an dieser Stelle ‚ihren Job‘ gemacht und durch eine Warenfetischisierung einen Kaufanreiz geschaffen. So fungiert die Werbeindustrie durch die Formulierung von Interpellationen als Erziehender. Mit der Fetischisierung von Waren mittels Gender-Marketing werden geschlechterspezifische Rollenmodelle performativ reproduziert: Würde sich ein Junge für die Baussets aus der Lego Friendreihe interessieren, würde er nicht der interpellativ anvisierten Zielgruppe entsprechen. Er würde aus dem Raster fallen, da er als Junge etwas begehrt, was typisch für ‚junge Mädchen‘ ist. Der interpellative Zwang, sich geschlechterkonform zu verhalten, wird derart subtextuell durch die Zielgruppenansprache hergestellt. So verwundert es nicht, dass Kinder „sehr schnell [erkennen], dass die Kategorie ‚Geschlecht‘ ein fundamentales Ordnungsprinzip ist“, welches „im Rahmen eines Erwartungs-Verhaltens-Zirkels“ verortet ist, „der insbesondere von Eltern und Gleichaltrigen“ (Groen & Witting 2016, S. 180) gefördert wird. Dies führt zu einer Vergeschlechtlichung der Lebenswelt, die durch die Werbeindustrie gefördert sowie gefordert wird und die sich semiotisch durch den Kinderalltag zieht: Dementsprechend zeigt die KIM Studie von 2016, die das Mediennutzungsverhalten von Kindern zwischen sechs und 13 Jahren ermittelt (vgl. Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb 2016), dass bei der Mediennutzung von Kindern auch Geschlechtszuschreibungen wirksam werden. So ist die zunehmende Nutzung von Medieninhalten geschlechtsspezifisch ausdifferenziert: Mädchen sehen sehr viel häufiger als Jungen Mode-/Beautyvideos an (51 %, Jungen: 11 %), aber auch Tiere (48 %, Jungen: 27 %) oder Musik (69 %, Jungen: 58 %) sind für sie bei YouTube häufiger ein Thema. Jungen nutzen zu einem sehr viel höheren Anteil Sportvideos (52 %, Mädchen: 14 %) und Let’s-play-Videos (28 %, Mädchen: 13 %) (Feierabend, Plankenhorn & Rathgeb 2016, S. 47).

3.3.5 Die Biografie des gespaltenen Subjekts – Ein Leben im Zeichen der Ware Mit einem sozio-semiotisch geübten Blick lassen sich die interpellativen Dimensionen der Lebenswelt dechiffrieren. Anhand der Bausets der Produktlinie Lego Friends kann exemplarisch und empirisch konkret die interpellative und warenfömige Struktur von Objekten klein a rekonstruiert werden: Die Produkte fungieren als Objekte klein a. Die im Lego Friends dargestellten Geschichten und Szenen lassen sich nachagieren. Durch dieses Nachagieren kann sich dem Idealbild angenähert werden. Allerdings können Stephanie, Emma, Mia, Olivia und Andrea niemals ‚wirklich‘ getroffen, kann das Städtchen Heartlake City niemals ‚wirklich‘ besucht werden – das Ideal bleibt unerreichbar. Hier zeigt sich der strukturelle Mangel, der in Erziehungskonstellationen herrscht: Kinder werden interpellativ adressiert. Über die Idealisierung von Rollenbildern werden

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Erziehungsziele formuliert. Diesen kann sich durch den Erwerb von Produkten angenähert werden. Allerdings bleiben diese Produkte nur Mittler zwischen dem Erziehungsziel bzw. dem idealisierten Rollenbild und dem Subjekt. Als Zu-Erziehender ist das Subjekt stets durch einen Mangel definiert. „Wenn das Subjekt den Ort des Mangels einnimmt, wird ein Verlust in das Wort eingetragen, und dies ist die Definition des Subjekts“ (Lacan 2015, S. 27). Daher spricht auch Lacan wie Meier von einem gespaltenen Subjekt: (vgl. Lacan 2015, S. 16ff.). Die Spaltung wird durch das Objekt klein a definiert. So „ist dieses Objekt klein a auf demselben Platz, auf dem sich diese einzigartige […] Abwesenheit offenbart“ (Lacan 2015, S. 64): Beim Begehren handelt es sich darum, dass das schwindende Subjekt sich danach sehnt, sich selbst wiederzufinden […] In seinem Bestreben wird es durch das gestützt, was ich […] das verlorene Subjekt […] nenne, welches ein so furchtbares Ding für die Einbildungskraft ist. Was hier erzeugt und aufrechterhalten wird und was in meinem Vokabular Objekt klein a heißt, ist allen Psychoanalytikern gut bekannt (Lacan 2015, S. 28, H.i.O.).

Durch den Rückgriff auf die Warenangebote kann den gesellschaftlichen Normen entsprochen werden. Dem Mangel, der ein Defizit beim ‚Dazuzugehören‘ signalisiert, lässt sich derart entgegengewirken – das Objekt klein a schreibt sich und die symbolische Ordnung in unser Selbst-/Weltverhältnis ein und prägt unsere Beziehungen: „Jeder Artikel über gelungene Beziehungen, jeder Liebesfilm, jedes Werbeplakat. Auf dem ein lachendes Plakat erscheint, lädt zur Selbstbefragung ein: Ist es das jetzt?“ (Meier 2018, S. 159). Die Konsequenz kann bedeuten, dass sich ein Lebensstil entfaltet, der sich stets aufs Neue bzw. performativ an warenförmigen Sinnangeboten ausrichtet: Zwischenmenschliche Intimität wird in Warenform vergesellschaftet und in eine Kette aufeinanderfolgender Waren aufgelöst. Frauenzeitschrift, Fitness-App, Kleid, Push-up; Make-up, Cocktail 1, Cocktail 2, Cocktail 3, Taxi, Kondom, Waxing, Smartphone-Flatrate, Kinofilm, Ausflug, Wochenendtrip, Merci, Blumenstrauß, Geschenk 1-3, Paarurlaub, Verlobungsring, Wedding-Planer usw. (Meier 2018, S. 156).

Der Antrieb, auf diese warenförmigen Sinnangebote zurückzugreifen, ist der Mangel: Einem Frauenideal wird u.a. durch Waxing nähergekommen. Eine Beziehung bedarf einer Entwicklung, die vom Sex über Paarurlaub und Verlobung zur Hochzeit führt, die von Weddingplanern25 ausgerichtet wird (vgl. dazu Meier 2018, S. 156): Der Prozess der Subjektwerdung entfaltet sich in einem Prozess idealerIdentifikationen. Durch die Konsumgüter können sich die Subjekte den werbeindustriell hergestellten Idealbildern annähern und sich in ihrem biografischen Verlauf daran orientieren. Dafür ist allerdings eine 25 Dieses Berufsbild des Weddingplaners wird u.a. durch die Serie ‚Frank der Weddingplaner‘ medial inszeniert, welche 2007 auf ProSieben startete.

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erhebliche Erziehungsarbeit zu leisten. Puppen, Kinderfilme, Computerspiele, Stars, Werbeplakate, Jugendzeitschriften, Frauenzeitschriften, Männerzeitschriften, Ratgeber spielen eine wichtige Rolle, aber überall arbeiten Körperarbeiterinnen fleißig daran mit, ihre Kinder, Partnerinnen, Freundinnen usw. zur Arbeit am mangelhaften Körper zu erziehen (Meier 2018, S. 156).

Aus erziehungstheoretischer Perspektive ist der Mangel das konstitutive Element, durch welches ein Spannungsfeld zwischen Ist- und Sollzustand definiert wird, der die autobiografische Arbeit antreibt. Dieses Spannungsfeld ist gleichermaßen die Grundlage von Erziehungskonstellationen und Subjektivierungsdynamiken. Durch Handeln nach Interpellationen bzw. Erziehungszielen – beispielsweise Verlobung und Hochzeit als Idealform der Paarbeziehung – wird dem Mangel entgegengewirkt. Für die soziosemiotische Analyse von Erziehungskonstellationen ergibt sich dabei die Herausforderung, die Relation Objekt klein a/Subjekt zu identifizieren. Hierfür lassen sich heuristische Leitfragen formulieren: • Wo werden – subtextuell – Interpellationen formuliert? • Wie werden normative Erwartungen/Idealbilder/Rollenmuster artikuliert/dargestellt? • Durch welche (Auf-)Forderungen werden Identifikationspotenziale bzw. Identifikations(auf-)forderungen formuliert? • Welchen normativen Bildern soll das Subjekt wie entsprechen?

3.3.6 Die Autorität des großen Anderen Interpellationen fungieren als konkrete Erziehungsziele – beispielsweise die Anrufung, sich ein Einfamilienhaus zu kaufen, eine Familie zu gründen etc. Diese Anrufungen werden wirkungsmächtig über Werbebilder kommuniziert. In Werbebildern werden Idealtypen formuliert, denen die Subjekte durch Warenkauf entsprechen können. Die derart beworbenen Produkte – z.B. ein Bausparvertrag von Wüstenrot oder ein Artikel über ‚Familienautos‘ – erhalten durch ihre Fetischisierung eine interpellative Dimension: Das Haus ist ein Familienhaus. In der Werbung wird ein frohes Familienleben abgebildet. Gleiches vollzieht sich bei der Thematisierung von Familienautos. Zugleich verweisen diese konkreten Produkte subtextuell auf das übergeordnete Erziehungsziel ‚Familie als soziales Idealbild‘. Ein Aspekt, auf den bereits Hegel in seinen „Grundlinien des Rechts“ (1820) hinweist: „Die Erweiterung der Familie als Übergehen derselben in ein anderes Prinzip ist in der Existenz teils die ruhige Erweiterung derselben zu einem Volke – einer Nation“ (Hegel 1995, S. 327, H.i.O.). Mit der subtextuellen interpellativen Idealisierung der Familie werden – ebenfalls subtextuell – alle Lebensentwürfe exkludiert, welche diesen werbeindustriell verbreiteten ‚Schablonen‘ nicht entsprechen. Lacan bezeichnet derartig übergeordnete Werte bzw. Erziehungsziele wie das Familienbild mit dem Begriff ‚großer Anderer‘. Im Zuge der Interpellationen legitimieren sich Objekte klein a mit einem Verweis auf einen vermeintlich

3.3 Die warenförmig-autoritäre Struktur von Erziehungskonstellauonen

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vorgelagerten großen Anderen. Die symbolische Ordnung bzw. der große Andere legitimiert die Interpellationsakte. Der große Andere wird zur Autorität. Dabei lässt sich Autorität als Sozialfigur verstehen: Eine Autorität ist das Wertegefüge, welches bewirkt, dass sich Akteure in ihrem Selbst-/Weltverhältnis nach diesem Wertegefüge richten. Wenn Subjekte, Institutionen, Werbebotschaften etc. Interpellationen formulieren, erhalten sie ihre Autorität durch Bezug auf ein Wertegefüge: „Autorität wird durch Normen aufrechterhalten“ (Milgram 2007, S. 162). Autorität ist dabei stets ein Effekt symbolischer Ordnung und den mit der symbolischen Ordnung einhergehenden Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen. So stammt „[d]ie Macht einer Autoritätsperson […] nicht aus persönlichen Eigenschaften, sondern von ihrer wahrgenommenen Position innerhalb einer sozialen Struktur“ (Milgram 2007, S. 162).

Abb. 7

Hier ist ein Ausschnitt aus einer Werbung für Bausparen zu sehen. 26 Die weiße Famile besteht aus einem Ehepaar und einem Mädchen sowie einem Jungen. Die Frau steht im Arm des Mannes. Derart wird performativ über Werbebilder subtextuell ein Idealbild von Familie (re-)produziert. Im Sinne eines Gedankenexperiments lässt sich fragen, was alles nicht gezeigt wird: Eine Beziehung zwischen zwei Männern oder eine Großfamilie mit Migrationshintergrund etc. Über dieses Gedankenexperiment lässt sich aufdecken, welche Bilder von Lifestyles keine mediale Berücksichtigung finden.

26 Quelle: https://www.wuestenrot.de/de/startseite/index.html. Zuletzt zugegriffen: 11. März 2019.

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Abb. 8

Das Bild ist einem Bericht über Familienautos entnommen. 27 Hier zeigt sich wieder eine weiße, vierköpfige Familie. Zwar ist das Geschlechterverhältnis gegenüber der Abbildung 8 leicht variert (zwei Jungen, anstatt einem Jungen und einem Mädchen). Allerdings werden wieder homosexuelle Partnerschaften ebenso ausgeblendet wie Familienkonzepte, die sich jenseits der Konstellation ‚Vater, Mutter, Kind(er)‘ positionieren.

Im Fall der Produktreihe Lego Friends bildet das Idealbild des jugendlichen MädchenSeins und die Merkmale, die dieses jugendliche Mädchen-Sein definieren (Modebewusst, mit Freundinnen Abenteuer erleben), das Objekt klein a. Dahinter wirkt als großer Anderer die Autorität einer binären Geschlechterordnung, durch die sich Schablonen für die Individuen ergeben und die vom Gender-Marketing performativ verstärkt werden. Die Geschlechterordnung hat als Autorität die Funktion des großen Anderen. Der große Andere ist die Legitimationsinstanz, auf welche sich Interpellationen als Erziehungsziele (subtextuell) beziehen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich der Modus, also der spezifische Charakter von Erziehungskonstellationen, bestimmen: Erziehungskonstellationen sind autoritäre Beziehungsgefüge, da ein übergeordnetes Wertesystem ein Handeln vom Subjekt einfordert. Diese autoritäre Dimension von Erziehung soll, ausgehend von einer erneuten Zusammenfassung von Erziehungskonstellationen, entwickelt werden: • Die Interpellation basiert auf einem Wertegefüge bzw auf dem großen Anderen. Durch Interpellationen wird das Wertegefüge bzw. der große Andere aktualisiert. Interpellationen repräsentieren und verweisen performativ auf das Wertegefüge, nach dem sich das Subjekt ausrichten soll. • Damit ist impliziert, dass das Subjekt in Differenz zum Wertegefüge steht oder Gefahr läuft, in Differenz zu diesem Wertegfüge zu geraten. • Durch Interpellationen wird die Differenz des Subjekts zum Wertegefüge markiert. Das interpellierte Subjekt ist folglich ein Subjekt des Mangels. 27 Quelle: https://www.litia.de/welches-familienauto-kaufen. Zuletzt zugegriffen: 11. März 2019.

3.3 Die warenförmig-autoritäre Struktur von Erziehungskonstellauonen

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• Der Mangel besteht darin, dass das Subjekt nicht eins mit dem Wertegefüge ist, nicht völlig in dem Wertegefüge aufgeht – sonst wäre die Interpellation ja nicht nötig. • Wertegefüge bilden als große Andere die Autorität und lassen Erziehungskonstellationen zu autoritären Beziehungsgefügen werden. Mit dem Begriff des großen Anderen lässt sich auch die autoritäre Struktur von Erziehungskonstellationen herausarbeiten: Erziehung wird auch als „soziales Handeln von Erwachsenen“ definiert, „welches sich […] auf dauerhafte Verhaltensänderungen […] der heranwachsenden Generation im Besonderen richtet“ (Reichenbach 2018, S. 35). Löst man diese Definition von dem Kontext Erwachsene/Heranwachsende und bezieht Erziehung auf Machtbeziehungen generell, lässt sich Erziehung als die Grundkonstellation eines autoritären Verhältnisses definieren: „Ein Autoritätssystem besteht also aus wenigstens zwei Personen, denen die Erwartung gemeinsam ist, daß eine von ihnen das Recht besitzt, der anderen ihr Verhalten vorzuschreiben“ (Milgram 2007, S. 166). Die sozialen Dynamiken von Autoritätsbeziehungen und dem normativen Druck, der aus Autoritätsbeziehungen mitsamt deren interpellativen Effekten hervorgeht, hat der Sozialpsychologe Stanley Milgram in seinem epochalen MilgramExperiment herausgearbeitet.

3.3.7 Der Eintritt in das Autoritätssystem – Das Milgramexperiment 1961 führte in New Haven Stanley Milgram das sogenannte Milgram Experiment durch. Das Experiment zielte darauf ab, die Bereitschaft ‚durchschnittlicher‘ Personen zu testen, autoritären Anweisungen Folge zu leisten – selbst dann, wenn diese Anweisungen in direktem Widerspruch zu dem Gewissen der Versuchsperson liegen. Es scheint bezeichnend, dass sich das Experiment dabei eines pädagogischen Settings bediente: Der Versuchsperson wurde die Rolle eines Hilfslehrers zugewiesen. Als solcher sollte er einem Schüler bei fehlerhaften Antworten einen elektrischen Schlag versetzen. Eine Autorität – repräsentiert durch den Versuchsleiter – gab diesbezüglich Anweisungen. Schüler wie Versuchsleiter waren in diesem Experiment Schauspieler. Gab der vermeintliche Schüler wiederholt falsche Antworten, sollte die Intensität der elektrischen Schläge erhöht werden. Der Aufbau des Experiments stellt eine typische Erziehungskonstellation dar: • Der Schüler ist der Zu-Erziehende. • Der Versuchsleiter repräsentiert als Objekt klein Wertegefüge der Autorität und formuliert Interpellationen (der weiße Kittel des Versuchsleiters verwies auf die Autorität der Wissenschaft). • Die Versuchsperson wird interpellativ in die Pflicht genommen, um die Funktion des Erziehenden einzunehmen. Mit der Akzeptanz des Versuches vollzieht sich ein „Eintritt in das Autoritätssystem“ (Milgram 2007, S. 163, H.i.O.). Der Versuchsleiter repräsentierte als Objekt klein a die Autorität, der genügt werden sollte und ist damit Teil der symbolischen Ordnung. Er

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3 Was ist Erziehung

gibt Regeln und damit Orientierung vor: „Zunächst einmal tritt die Versuchsperson in die Situation ein mit der Erwartung, daß irgend jemand die Leitung haben wird. Also füllt der Versuchsleiter bei der ersten Begegnung mit der Versuchsperson eine Lücke aus, die diese verspürte“ (Milgram 2007, S. 162). Die Einteilung zwischen Schüler und Erziehender erfolgte vermeintlich zufällig durch eine ‚Verlosung‘: Bei der Verlosung wurde natürlich gemogelt, damit die Versuchsperson immer Lehrer, der Helfer immer Schüler wurde (auf beiden Zetteln stand ‚Lehrer‘). Sofort nach der Verlosung wurden Lehrer und Schüler in einen Nebenraum gebracht, wo der Schüler an eine an einen ‚elektrischen Stuhl‘ erinnernde Apparatur gefesselt wurde (Milgram 2007, S. 35).

Die Fesseln, so erklärte der Versuchsleiter, sollten dazu dienen, heftige Bewegungen zu verhindern, die Stromschocks verursachen könnten. Die Intensität des elektrischen Schlages sollte nach jedem Fehler erhöht werden. Diese Anordnung wurde in verschiedenen Variationen durchgeführt. Die ursprüngliche Aufgabe bestand darin, Assoziationspaare zu memorieren. Vom Versuchsleiter wurden Wortpaare vorgelesen. In der Testsequenz ist dem Schüler dann eine Reihe von Wörtern vorgelegt worden. Der Schüler musste dann das ursprüngliche Wortpaar identifizieren. Die Antwort tätigte der Schüler über einen von vier Schaltknöpfen. Diese Schaltknöpfe ließen auf dem Schockgenerator ein Feld aufleuchten. Bei der falschen Antwort sollte dem Schüler ein Schock verabreicht werden (vgl. Milgram 2007, S. 36). Zudem wurde der Versuchsperson „gesagt, sie müsse vor Verabreichung des Schocks die Voltstärke ankündigen. Damit sollte sie beständig an die wachsende Heftigkeit der Schocks erinnert werden, die dem Schüler zugefügt wurden“ (Milgram 2007, S. 37). Die Voltbezeichnung reichte dabei von 15 Volt bis 450 Volt. „Wenn die Versuchsperson bei der dreißigsten Schockstufe (450 Volt) angelangt war, wurde ihr befohlen, unter Anwendung dieser Maximalspannung mit den Aufgaben fortzufahren. Nach zwei weiteren Versuchen brach dann der Versuchsleiter den Versuch ab“ (Milgram 2007, S. 37). Dieses Experiment wurde in verschiedenen Variationen ausgeführt. Generell konnte dabei eine starke Form der Autoritätshörigkeit identifiziert werden. So gingen beispielsweise in einer Durchführung mit 40 Versuchspersonen 26 Personen bis zur maximalen Spannung und 14 brachen vorher auf unterschiedlichen Stufen ab. Die Versuchspersonen litten dabei z.T. stark unter dem Befolgen der Anweisungen bzw. es ließen sich ‚Spannungen‘ beobachten: „Innerhalb des Experiments reichen die Spannungsursachen vom primitiven, autonomen Zurückschrecken davor, einem anderen Schmerzen zufügen zu sollen, bis zu komplizierten Erwägungen möglicher rechtlicher Folgen“ (Milgram 2007, S. 181). Dabei identifiziert Milgram fünf Ursachen, die zu diesen Spannungen führen könnten. Diese Ursachen reichen von „möglicherweise angeborenen Mechanismen, die etwa der Aversion vergleichbar sind, mit der manche reagieren, wenn sie z.B. eine Messerklinge auf Blech oder Porzellan quietschen hören“ (Milgram 2007, S. 182), bis hin zu der Angst vor der

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„unausgesprochene[n] Vergeltungsdrohung, die Versuchspersonen verspüren, wenn sie Schüler bestrafen“ (Milgram 2017, S. 182). Als Entlastung diente das Abgeben der Verantwortung auf die Autorität – in diesem Fall auf den Versuchsleiter. Allerdings ließ die Verantwortungsabschiebung scheinbar nicht ganz das Gefühl für die Eigenverantwortung verschwinden: Aus soziosemiotischer Perspektive erhält die von Milgram festgestellte Form der Spannung bei den Versuchspersonen eine zeichenhafte Bedeutung: „Jedes Anzeichen von Spannung ist also ein Beweis für das Unvermögen der Autorität, die Person in einen reinen AgensZustand zu versetzen“ (Milgram 2007, S. 181). Die Eigenverantwortung steht im Konflikt mit den subjektivierenden Effekten von Autoritätsbeziehungen bzw. Erziehungskonstellationen. Allerdings steht gegen die Gehorsamsverweigerung – so Milgram – die ‚Furcht‘, den eigenen Platz in der symbolischen Ordnung zu verlieren: Die Versuchsperson sah sich in eine wohlgeordnete, soziale Ordnung eingefügt. Der Ausbruch aus der zugeschriebenen Rolle schafft in kleinem Maßstab eine Art Gesetzlosigkeit. Die Zukunft der Interaktion zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter ist vorhersehbar, solange die Versuchsperson die Beziehung, innerhalb derer ihre Rolle definiert ist, aufrechterhält, im Gegensatz zu dem völlig unbekannten Charakter der Beziehung, die sie nach einem Bruch erwartet. Viele Versuchspersonen empfanden Furcht vor den Folgen ihrer Gehorsamsverweigerung, häufig gefärbt von Vorstellungen von einer undefinierten Vergeltung seitens der Autorität (Milgram 2007, S. 189).

Diese Dispositionen können als Effekte von Erziehung betrachtet werden. Die Begründung von Erziehung operiert mit einer Argumentation der notwendigen Integration des Menschen in die symbolische Ordnung. Diese notwendige Intergation kann auch als notwendiger Zwang verstanden werden, dem das Subjekt im Erziehungsgeschehen ausgesetzt ist.

3.3.8 Der notwendige Zwang der Autorität – Oder: Über die pädagogische Anthropologie Der notwendige Zwang bezieht sich auf die pädagogische Anthropologie (Lehre vom Menschen) und die „zwei Thesen“, die für die pädagogische Anthropologie „leitend“ (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas 2018, S. 11) sind: „Erst ist der Mensch ein Kind, bevor er zum Erwachsenen wird. Und: Das Kind kann zum Erwachsenen nur werden durch Erziehung“ (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas 2018, S. 11). Durch Erziehung wird das Individuum ein gesellschaftsfähiges Subjekt und ist als solches in der Lage, sich in den vorgegebenen bzw. präfigurierten Mustern der symbolischen Ordnung zu bewegen. Hierauf weist auch Milgram hin: Institutionen wie das Unternehmertum, die Kirchen, die Regierung und das erzieherische Establishment bieten weitere legitime Aktionsbereiche, deren jeder durch die Wertvorstellungen und Bedürfnisse der Gesellschaft gerechtfertigt ist, aber sie werden vom Durchschnittsmenschen noch zusätzlich deshalb bejaht, weil

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3 Was ist Erziehung

sie als Teil der Welt vorhanden sind, in der er hineingeboren und in der er aufgewachsen ist (Milgram 2007, S. 166).

Gerade Erziehung ist darüber definiert, Menschen als Kinder in die symbolische Ordnung zu subjektivieren. Ziel ist der Zustand des Erwachsen-Seins. Auf juristischer Ebene ist dieser Zustand durch ein Mehr an Verantwortung und Pflichten definiert – das Subjekt kann sich folglich angemessen in der symbolischen Ordnung von Gesellschaft bewegen. Der notwendige Zwang wird über einen Zustand des Kindes legitimiert, welcher Schutz und Zwang gleichermaßen notwendig macht: So wird das Kind in der Pädagogik als ‚Pflanze‘, ,Tier‘, ‚Chaot‘ und ‚Triebwesen‘, aber auch als ‚Künstler‘, ‚Genie‘ oder ‚Ressource‘ verstanden: es gilt zum einen als verletzlich, so dass es in pädagogische Obhut genommen werden sollte, und zum anderen als böse oder grausam, so dass es in einem hohen Maße kontrolliert und diszipliniert werden muss (Blaschke-Nacak, Stenger & Zirfas 2018, S. 11).

Mit der Diskussion, wie und warum Kinder zu erziehen sind, steht eine ganze Weltsicht auf dem Spiel – „Jede anthropologische Konzeption impliziert spezifische Zugänge zum Menschen und bestimmte Formen des Umgangs sowie der Formierung des Menschen“ (Schmidt 2018, S. 57). In den Meinungen zur Erziehung drücken sich Welt- und Selbstverständnis der Akteure aus. Das Verständnis vom Wesen des Kindes verweist semiotisch auf ein anthropologisches Konzept vom Menschen: Entsprechend der Art und Weise, wie der Mensch als Wesen beschaffen ist, bedarf der Mensch einer angemessenen Erziehung. Dies zeigt sich beispielsweise bei Lawrence Kohlberg, der mit seiner anthropologisierenden „Psychologie der Moralentwicklung“ ein „weites Forschungsfeld eröffnet“ (Edelstein & Nunner-Winkler 1993, S. 9) hat.

3.3.9 Das Kind als wildes Wesen – Oder: Über Kohlbergs Konzept der Moralentwicklung Kohlberg beschreibt ein Konzept der moralischen Entwicklung, das auf dem entwicklungspsychologischen Modell von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung aufbaut. In Anschluss an Piagets genetische28 Argumentationslogik geht Kohlberg davon aus, dass mit dem Erwerb von kognitiven Kompetenzen auch moralische Haltungen entwickelt werden, da diese von den kognitiven Kompetenzen abhängig sind. Dabei wird das Kleinkind als Zu-Erziehender gegenüber dem Erziehenden in ein defizitäres Verhältnis gesetzt, da das Kleinkind noch die Moralkompetenzen zu entwickeln hat, über die der (erwachsene) Erzieher bereits verfügt:

28 Genetisch bezeichnet die zeitliche Entwicklung des Subjekts: „Genetisch, weil Denken und Verstehen nicht aus sich heraus, sondern durch ihren Werdegang, d.h. durch ihre zu ihnen hinführenden Vorformen erklärt werden“ (Seiler 1994, S. 43). Piaget (1970) formuliert in seinem Modell der ,genetischen Entwicklungstheorie’ die sukzessive Entfaltung der kognitiven Kompetenzen des Individuums.

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Die Entwicklungspsychologen Jean Piaget und Lawrence Kohlberg gingen davon aus, dass selbst ältere Kinder von Sittlichkeit keinen Begriff hätten, dass sich wirklich moralische Vorstellungen erst in der Adoleszenz entwickelten. Bis dahin orientiere sich die Auffassung von Gut und Schlecht, Richtig und Falsch aus Kindersicht lediglich an Belohnung, Strafe und gesellschaftlicher Gepflogenheit (Gopnik 2009, S. 233).

Kohlberg geht davon aus, dass es bei der moralischen Entwicklung um den Begriff ‚Gerechtigkeit‘ geht. Der Einzelne entwickelt seine psychologische Kompetenz und seine immer differenziertere Sichtweise auf Sozialwertansprüche, die sich im Begriff Gerechtigkeit spiegeln. Gemäß Konzept beeinflusst die kognitive Entwicklung die moralische Entwicklung bzw. ist deren Voraussetzung. Empathie bzw. einfühlsamer Perspektivwechsel kann als moralischer Ausdruck einer psychologisch begründeten Entwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen verstanden werden: „Moralische Entwicklung besteht in der zunehmenden Vertiefung des Verständnisses der Geltungsgründe moralischer Regeln und der Motive ihrer Befolgung“ (Edelstein & Nunner-Winkler 1993, S. 8). Kohlberg zufolge hat die Entwicklung der moralischen Argumentation sechs Stufen. Die sechs Stufen können im Allgemeinen in drei übergeordnete Stufen mit je zwei Unterstufen unterteilt werden. Eine Stufe kann nicht übersprungen werden. Die Stufen repräsentieren Entwicklungsphasen. Jede Phase stellt eine neue kognitive und damit moralische Entwicklung dar. Sie ist dabei differenzierter sowie umfassender als die kognitive und moralische Entwicklung auf der vorhergehenden Stufe. Das Kind entwickelt sich dabei vom • Präkonventionellen Niveau (Stufe 1. ‚Orientierung an Strafe und Gehorsam‘; Stufe 2. ‚Instrumentell-relativistische Orientierung‘) über das • Konventionelle Niveau (Stufe 3. ‚Orientierung an zwischenmenschlicher Harmonie‘ oder ‚Bild des ‚guten Jungen‘ bzw. des ‚netten Mädchens‘‘; Stufe 4. ‚Orientierung an Gesetz und Ordnung‘) bis hin zum • Postkonventionellem Niveau (5. Stufe ‚Legalistische Sozialvertrags-Orientierung‘; 6. Stufe ‚Orientierung an universellen, ethischen Prinzipien‘). Ausgangspunkt ist Stufe 1, ‚Orientierung an Strafe und Gehorsam‘. In Kohlbergs Beschreibung der Stufe erscheint das Kind als egoistisch und dissozial von eigenen Bedürfnissen gesteuert: Die materiellen Folgen der Handlung bestimmen, ob sie gut oder schlecht sind, ungeachtet der Bedeutung oder des Wertes dieser Folgen für den Menschen. Vermeiden von Strafe und fraglose Unterwerfung unter die Macht sind um ihrer selbst willen wichtig und entspringen nicht der Achtung von einer zugrundeliegenden moralischen Ordnung, die zu ihrer Aufrechterhaltung Autorität und Strafe notwendig macht (Kohlberg 1995, S. 51).

Hier aktualisiert sich die u.a. von Kant formulierte Idee der Erziehungsnotwendigkeit des Menschen: Durch Erziehung wird der Mensch erst gesellschaftsfähig und aus einer Wildheit herausgelöst. Ähnlich anthropologisierend argumentiert auch Durkheim:

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Die Gesellschaft findet sich also selbst mit jeder neuen Generation im Angesicht einer ‚tabula rasa‘, auf der sie aufbauen muß. Zu dem eben geborenen, egoistischen und asozialen Sein muß sie so schnell wie möglich ein anderes Sein hinzufügen, welches fähig ist, ein sittliches und soziales Leben zu führen. Dies ist das Werk der Erziehung (Durkheim 1972, S. 31).

In diesem Verständnis vom Kind erscheint das Aufspannen eines Autoritätsverhältnisses bzw. eines Autoritätssystems als notwendig. Das Erziehungsziel liegt in der moralischen Gesellschaftsfähigkeit des Kindes. Dieses weist als Zu-Erziehender einen Mangel aus, da „[n]ach Kohlberg […] jüngere Kinder als strategisch kalkulierende Nutzenmaximierer“ gelten, die ihr Urteilen und Handeln ausschließlich am Eigeninteresse orientieren“ (Edelstein & Nunner-Winkler 1993, S. 10). Deckert-Peaceman und Scholz (2018) verweisen darauf, dass diese Form des pädagogischen Denkens modifiziert weiterhin aktuell ist: „Dominant im gegenwärtigen Kindheitsbild scheint uns das Konzept der Selbstregulation kindlicher Bedürfnisse zu stehen“ (Deckert-Peaceman & Scholz 2018, S. 93). Aus sozio-epistemologischer Perspektive verweisen die Begriffe Kindheit und Kind auf die gesellschaftlichen Verständnisse der Entwicklungstatsache des Menschen: Der Mensch entwickelt sich, er setzt sich mit der Welt auseinander und lernt dabei viel über sich und die Welt. Dies tut er in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen und historischen Kontexten. Die Art und Weise, wie dieser Prozess bzw. diese Entwicklungstatsache des Menschen gesellschaftlich ausgedeutet wird, sagt mehr über die Gesellschaft als über das ‚Wesen des Kindes‘ aus. Diese Überlegung wird auch von Fanon mit einer autoritäts-analytischen und postkolonialen Stoßrichtung thematisiert: In Europa ist die Familie in der Tat eine bestimmte Art und Weise, wie die Welt sich dem Kind darstellt. Die Familienstruktur und die nationale Struktur hängen eng miteinander zusammen. Die Militarisierung und Zentralisierung der Autorität in einem Land ziehen automatisch ein Anwachsen der väterlichen Autorität nach sich. In Europa sowie in allen sogenannten zivilisierten und zivilisatorischen Ländern ist die Familie ein Teil der Nation. Das Kind, das die elterliche Welt verlässt, findet draußen dieselben Gesetze, dieselben Prinzipien, dieselben Werte wieder. Ein normales Kind, das in einer normalen Familie groß geworden ist, wird ein normaler Mensch sein (Fanon 1985, S. 122).

Die Art und Weise, wie Kindheit und Erziehung thematisiert werden, verweist auf gesellschaftliche Machtstrukturen: „Der Staat ist eine äußere und innere Bedingung von Erziehung und ihrer sukzessiven Vervollkommnung“ (Blaß 1978, S. 37). Oder in den Worten von Fanon: „Die Gesellschaft ist die Gesamtheit der Familie“ (Fanon 1985, S. 128). Diese sozio-semiotischen Überlegungen stehen in enger Nähe zu gegenwärtigen Positionen der Kindheitsforschung: So lehnt die ‚neuere soziologische Kindheitsforschung‘ (vgl. Bilgi 2018, S. 276) „jene Erklärungsansätze“ ab, „die dem Kind seit jeher eine wie auch immer geartete Transzendenz zugeschrieben“ (Bilgi 2018. S. 276) haben. Ähnlich argumentiert die Psychoanalytikerin Alice Miller, wenn sie festhält, dass sie

3.3 Die warenförmig-autoritäre Struktur von Erziehungskonstellauonen

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„das Kind nicht in einer abstrakten ‚Natur‘ aufwachsen“ (Miller 1982, S. 118) sieht. Vielmehr wächst das Kind „in einer konkreten Umgebung seiner Bezugspersonen“ (Miller 1982, S. 118) auf, „deren Unbewußtes einen wesentlichen Einfluß auf seine Entwicklung ausübt“ (Miller 1982, S. 118). Mit dieser Position erodiert das scheinbar anthropologisch begründete Machtverhältnis zwischen Kind und Erwachsenen. Dieses anthropologisch begündete Machtverhältnis – es ist aufgrund der Natur des Kindes notwendig, dass Kinder von Erwachsenen zu Erwachsenen erzogen werden müssen – legitimiert die Erziehungskonstellation ‚Zu-Erziehender (Kind)/Erzieher (Erwachsener)‘ auf anthropologischer Ebene. Wird diese Erziehungsnotwendigkeit und die Universalisierung des Kindes infrage gestellt, kann der „Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen nicht mehr über tieferliegende Referenzen erklärt werden, sondern er muss zwangsläufig […] als Ergebnis beobachtbarer Unterscheidungspraktiken betrachtet werden, die die jeweiligen mikrosoziologischen Unterschiede erst hervorbringen“ (Bilgi 2018, S. 276). So ist beispielsweise ein autoritäres Lehrer/Schüler-Verhältnis rational über Erziehungskonstellationen legitimiert. Diesen Erziehungskonstellationen, die sich scheinbar aus fachpädagogischen Diskursen ergeben, sind gesellschaftliche Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse vorgelagert, die den fachpädagogischen Diskurs präfigurieren. So ändern sich zwar mit den Selbstverständigungsdiskursen die jeweiligen Legitimierungsmuster (Frontalunterricht/Gruppenarbeit etc.), allerdings bleibt das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Schüler und Lehrer stets unangetastet, solange die soziale Wirklichkeit durch autoritäre Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse strukturiert ist. Das Schüler/Lehrer-Verhältnis spiegelt dabei das gesellschaftlich-autoritäre Gefüge auf der Ebene der Schule als Bildungsinstitution im pädagogischen Feld. Exemplarisch lässt sich die autoritäre Konstanz im Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer an der Tradition der Notengebung zeigen, die das Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich überlebt hat. Ein Effekt dieser autoritären Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse ist ein Bild vom Kind als defizitäres Wesen und einer damit verbundenen anthropologisierenden Erziehungsnotwendigkeit. Hieraus lässt sich folgender erziehungstheoretisch fundierte, sozio-semiotische Forschungshorizont formulieren: • Pädagogische Beziehungen sind Teil und Effekt der Art und Weise, wie in gesellschaftlichen Zusammenhängen Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse performativ ausgagiert bzw. thematisiert werden. Durch pädagogische Beziehungen reproduzieren sich diese gesellschaftlich kodierten Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse – „Wenn man ein Kind erzieht, lernt es erziehen“ (Miller 1982, S. 119). Hieraus ergibt sich die sozio-epistemologische Forschungsfrage: • Welche latenten gesellschaftlichen Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse lassen sich in der Art und Weise identifizieren, wie pädagogische Beziehungen thematisiert werden? Zusammenfassend kann festgehalten werden: Erziehung manifestiert sich in Form von Subjektivierungsprozessen. Subjektivierungsprozesse sozialisieren den Menschen in

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3 Was ist Erziehung

die symbolische Ordnung. Die Struktur von Subjektivierungsprozessen kann als Erziehungskonstellation analysiert werden. Ausgangspunkt ist der Aspekt, dass in Interpellationen das Subjekt mit normativen Forderungen konfrontiert wird. Interpellationen lassen sich als normative Forderungen und damit als Objekte klein a analysieren: Sie verweisen auf übergeordnete Erwartungshaltungen, denen das Subjekt genügen muss. Als Erwartungshaltungen wirken sie damit im Sinne von Erziehungszielen, die die Differenz des Subjekts zu den normativen Vorgaben markieren. Im Konsumkapitalismus werden Interpellationen auch warenförmig über die Fetischisierung von Waren kommuniziert, die als Objekte klein a fungieren. Das Objekt klein a verweist auf die symbolische Ordnung. Die Werte der symbolischen Ordnung sind übergeordnete Erziehungsziele und können mit dem Begriff des großen Anderen bezeichnet werden. Wenn der Erzieher Erziehungsziele formuliert, formuliert er derart metonymisch den gesellschaftlichen Anspruch an den Zu-Erziehenden. In einem gelungenen Erziehungsprozess übernimmt der Zu-Erziehender affirmativ die Erziehungsziele beziehungsweise internalisiert und reproduziert diese performativ.

3.4 Checkliste zur Analyse von Erziehungskonstellationen • Lassen sich Interpellationen identifizieren? Wer wird wie angerufen und derart zum Zu-Erziehenden? • Lassen sich Subjektivierungsdynamiken feststellen? • Wer formuliert diese Interpellation wie? Bzw. wer nimmt die Rolle des Erziehenden ein? • Haben diese Interpellationen die (Waren-)Form eines Objektes klein a? • Kann ein übergeordnetes Erziehungsziel im Sinne des großen Anderen identifiziert werden? Bzw. wie werden die Interpellationen (subtextuell) legitimiert?

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4.1 Annäherung an einen deutungsoffenen Begriff Bildung ist neben Erziehung der zentrale Leitbegriff der Pädagogik: „Bildung als Konzept, das zeigen die seit über 200 Jahren immerwiederkehrenden Versuche einer Neuformulierung“, besitzt „eine ungebrochene Attraktivität“ (Horlacher 2011, 92). Dabei sehen die einen in der Bildung ein ‚modernes Paradigma des Pädagogischen‘ (vgl. Ricken 2019, S. 95) oder das Erbe Europas in einer sich zunehmend schneller verändernden Welt. Andere sehen in der Bildung einen Wettbewerbsvorteil in einer globalisierten Wirtschaft. Kritische bildungstheoretiker wie Adorno wiederum verstehen unter Bildung ein individuelles Widerstandpotenzial in einer verwalteten Welt. Hieraus ergibt sich das Paradox, welches darin besteht, dass sich alle über die Relevanz des Begriffs Bildung einig, aber über dessen Bedeutung uneinig sind „Angesichts der gegenwärtig kaum noch zu überbietenden Prominenz der ‚Bildung‘ haben Problematisierungen derselben einen schweren Stand – denn wer wollte und könnte bestreiten, dass ‚Bildung‘ zentral ist“ (Ricken 2019, S. 95). Allerdings geht „jedoch […] die Konjunktur der ‚Bildung‘ seit den 2000er Jahren […] mit einer systematischen Entleerung des Begriffs (Ricken 2019, S. 95) einher. Wenn auch vieles in Bezug auf eine begriffliche Bestimmung von Bildung als unsicher und deutungsoffen angesehen werden kann, so lässt sich doch mit Sicherheit feststellen, dass der Bildungsbegriff im Verlauf seiner Geschichte eine kaum überschaubare Vielzahl von (Be-)Deutungen erfahren hat – Ricken sieht gerade in dieser „Bedeutungsweite“ des Bildungsbegriffs „ein nicht zu unterschätzendes Potenzial“ (Ricken 2019, S. 111). Mit der Deutungsoffenheit des Bildungsbegriffs entsteht auch die Frage, ob Bildung sich empirisch beforschen lässt: Sind theoretische Überlegungen von Denkern wie Humboldt, Herder und Hegel, die den klassischen Bildungsbegriff formulierten, empirischer Forschung zugänglich? Oder verbleiben bildungstheoretische Überlegungen auf der Ebene philosophischer Reflexionen, die sich unverbunden neben einer empirischen Bildungsforschung entfalten? Eine Frage, mit der wir uns auch auseinandersetzen werden. Vorab wird aber eine sozio-epistemologische Verortung von Bildung geleistet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Kergel, Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten, Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1_4

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4.1.1 Bildung – Eine sozio-epistemologische Verortung Obgleich oftmals betont wird, dass Bildung als Begriff vor allem ein Phänomen der deutschen Sprache ist, wurde schon in der Antike zwischen „educatio“ (Aufzucht: Disziplinierung, Zivilisierung) und „eruditio“ (Entrohung: Kultivierung der Seele und des Geistes) unterschieden. Diese Unterscheidung kann als erste Vorwegnahme der Unterscheidung zwischen Bildung und Erziehung verstanden werden. Und auch die dänische Sprache kennt die Unterscheidung zwischen Bildung und Erziehung. Allerdings ist das epistemologische Verständnis von Bildung eng mit der Philosophie des Deutschen Idealismus verbunden, welches bis heute ein wirkmächtiges Erbe dieser Philosophieepoche darstellt. Als Philosophieepoche entfaltete sich der Deutsche Idealismus in den vierzig Jahren, die zwischen der Veröffentlichung von Kants erkenntnistheoretischem Hauptwerk „Die Kritik der reinen Vernunft“ und Hegels Tod im Jahr 1831 liegen. Ausgangspunkt war Kants erkenntnistheoretisch begründetes Verständnis vom Menschen als tatkräftiges, vernünftiges Wesen: Durch Vernunftgebrauch ist der Mensch in der Lage, ohne Gott oder andere jenseitige Erkenntnisinstanzen die Welt zu erkennen. Auf der Suche nach der Bedeutung des Bildungsbegriffs lässt sich der Frage nachgehen, was das Besondere am Bildungsverständnis des Deutschen Idealismus ist. Die Beantwortung dieser Frage verlangt einen historisch geschulten Blick: Die Entwicklung eines Bildungsverständnisses – und v.a. des Bildungsverständnisses des Deutschen Idealismus – ist eng mit der Entstehung bürgerlicher Gesellschaft verbunden. „Unter Sozialhistorikern besteht ein allgemeiner, wenn auch vager Konsens, daß sich die moderne Bildung zusammen mit der Formation durchgesetzt habe, die sich als ‚Bürgertum‘ bezeichnen läßt“ (Koselleck 2006, S. 105). Daher wird der analytische Blick zunächst auf die bürgerliche Gesellschaft gelenkt, um über diesen Weg die Merkmale herausarbeiten zu können, die den Bildungsbegriff ausmachen. Seit der Neuzeit verschieben sich zunehmend in Europa gesellschaftliche Machtverhältnisse – „Die tradierte Herrschaft des Adels, die sich über Vererbung legitimierte, ließ sich immer weniger vor der politisch und ökonomisch einflussreicher werdenden Handels- und Kaufmannsschicht rechtfertigen, bzw. diese Schicht verlangte immer vehementer auch politische Mitsprache“ (Horlacher 2011, S. 57). Das erstarkte Bürgertum beanspruchte neben politischer Macht auch eine kulturelle Identität: In Abgrenzung zur Repräsentationskultur des Adels entwickelte sich eine bürgerliche Kultur – wenn der Adel süßen Kakao genoss, bevorzugte der arbeitsame Bürger die aktivierende Wirkung des Kaffees. Ein Phänomen mit sozio-semiotischer Bedeutung: Der bürgerliche Mensch des 17. Jahrhunderts unterscheidet sich sowohl in seiner geistigen wie in einer körperlichen Haltung von den Menschen der vorangegangenen Jahrhunderte. Der mittelalterliche Mensch arbeitet körperlich und meist unter freiem Himmel. Der Bürger ist zunehmend Kopfarbeiter, sein Arbeitsplatz ist das Kontor, seine Körperhaltung das Sitzen. Das Ideal, das ihm vorschwebt, ist,

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gleichförmig und regelmäßig zu funktionieren wie eine Uhr [...] Es liegt auf der Hand, daß diese neue Arbeits- und Lebensweise den gesamten Organismus betrifft. Der Kaffee wirkt dabei als eine historisch bedeutsame Droge. Er infiltriert den Körper und vollzieht chemisch-pharmakologisch, was Rationalismus und protestantische Ethik ideologisch-geistig bewirken. Im Kaffee verschafft sich das rationalistische Prinzip Eingang in die Physiologie des Menschen und gestaltet sie seinen Erfordernissen entsprechend um. Das Resultat ist ein Körper, der den neuen Anforderungen gemäß funktioniert, ein rationalistischer und ein bürgerlich-fortschrittlicher Körper (Schivelbusch 1990, S. 50ff.).

Wenn der Adel sich farbenprächtig kleidete, trug der Bürger dezent dunkle Farben (vgl. Schievelbusch 1990). Und während der Adel Zweckehen vereinbarte, entdeckte die bürgerliche Kultur mit Rousseau das Gefühlsleben der neuen Empfindsamkeit: „Das umfangreichste, differenzierteste in alle Gebiete der Kultur eindringende Gefühlsprogramm, das wir kennen, ist die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts. Aus ihr entwickelte sich die bürgerliche Gefühlskultur, die bis heute die Umgangsformen des Mittelstandes bildet” (Hansen 1989, S. 39). Diese kulturelle Umformung Europas fand ihren politisch-symbolischen Höhepunkt in der Französischen Revolution, die den Beginn des sogenannten ‚langen 19. Jahrhunderts‘ (vgl. Hobsbawm 2017) markiert. Durch die Französische Revolution wurde die bürgerliche Gesellschaft endgültig institutionalisiert (vgl. Kergel 2013). Bürgerliche Gesellschaft kann dabei als politische und soziale Ordnungsidee definiert werden, die sich über der Prämisse einer rationalen Kompetenz des vernünftig argumentierenden, verhandelnden und entscheidenden (Staats-)Bürgers legitimiert. Diese politische Ordnungsidee ist mit einer spezifischen Wirtschaftsvorstellung verbunden (Marktwirtschaft, Liberalismus). Die Entwicklung eines Bildungsverständnisses ist eng mit der Entstehung bürgerlicher Gesellschaft verbunden: Während die Franzosen, wie Friedrich Engels ironisch feststellte, eine politische Revolution ‚durchmachten‘, erlebten die Deutschen mit dem Deutschen Idealismus eine philosophische Revolution – im Zuge derer auch der Bildungsbegriff ausdefiniert wurde.

4.1.2 Der Bürger als aktives Subjekt Der Deutsche Idealismus entwickelte ein Verständnis vom Menschen, welches die Ideale bürgerlicher Kultur philosophisch begründete: Als Bürger ist der Mensch ein aktives Subjekt, das – anders als der Adlige, der seinen gesellschaftlichen Stand der Geburt verdankt – sich seinen Platz in der Gesellschaft verdient. Diesem Konzept vom Bürger entspricht ein philosophisches Verständnis vom Menschen, das dadurch definiert ist, dass der Mensch (als Bürger) in aktiver Auseinandersetzung mit der Welt diese erst

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schafft. Die voluntaristische29 Fassung des aktiven Bürgers zeigt sich auch in dem philosophischen Verständnis des Idealismus. Idealismus (griechisch ‚idein‘/sehen; ,eidos‘/Bild) bezeichnet eine Erkenntnishaltung, die „über das sinnliche Sehen und das äußere Bild hinausgeht, nämlich das, was Bild und Sehen zugrunde liegt, ähnlich unserem Wort ‚Ideal‘, das auch nicht bei Äußerlichkeiten haltmacht“ (Ludwig 2009, S. 18). In der Auseinandersetzung mit der Welt und als Teil der Welt entwickeln wir als Subjekte eine ‚Vorstellung‘ von Welt. So besteht eine Grundthese des Deutschen Idealismus darin, dass unser Wissen und unser Erleben der Welt auch von einer „immanenten gedanklichen Entwicklung“ (Bubner 2004, S. 17) geprägt sind. In den radikalsten Positionen des Deutschen Idealismus (wie bei Fichte) ist alle Wirklichkeit nur eine Vorstellung des Ich, welche das Ich aus der Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich gewinnt. Eine Denkfigur, die den Deutschen Idealismus auszeichnet, besteht in dem Zusammenfallen von Subjekt und Objekt. Der deutsche Idealismus ist auch das philosophische Vorhaben, „die Einheit von Subjekt und Objekt zu denken“ (Bubner 2004, S. 18). Das Subjekt steht der Welt als Objekt nicht isoliert gegenüber. Das Subjekt ist untrennbar mit der Welt verbunden und geht in ihr auf. Eine Position, die stark bei Hegel und Schelling vertreten ist (vgl. Kergel 2011) und auch Humboldts Bildungstheorie auszeichnet. Im Sinne eines ersten Zwischenfazits lässt sich festhalten, dass Bildung zunächst eine epistemologische Konzeption bezeichnet, die dann pädagogisch ausgedeutet wurde. Dabei spiegelt Bildung ein Selbst-/Weltverständnis, welches dem epistemologischen Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaft entspricht: Der Mensch eignet sich aktiv die Welt an, er konstruiert im Verlaufe seines Bildungsprozesses Wissen über sich und die Welt. Die Unterstützung von Bildung als Subjektwerdung wird dabei zu einer pädagogischen Aufgabe.

4.1.3 Bildung bei Hegel – Oder: Das Subjekt in Bewegung In dem epistemologischen Kontext des Deutschen Idealismus entwickelte sich eine bürgerliche Ausdeutung des Bildungsbegriffs. Einer der zentralen Philosophen war dabei Hegel. Hegel, nach Liebsch (2019) „zweifellos der moderne Theoretiker der Subjektivität par excellence“ (S. 12, H.i.O.), analysierte 1805 in der „Phänomenologie des Geistes“ die Ausbildung des Vernunftgebrauchs als Prozess: Durch die Selbstreflexion und die begriffliche Auseinandersetzung mit der Welt – Phänomene werden in Begriffen geordnet – entwickelt das Subjekt ein Verständnis vom eigenen In-der-Welt-Sein. Dieser Prozess wird von Hegel als Bildung definiert: Bildung „vollendet“ sich „als das sich selbst erfassende Selbst“ (Hegel 1952, S. 349). Das gebildete bzw. sich bildende Subjekt kann sein präreflexives, ästhetisches Selbst-/Weltverhältnis in Begriffe fassen und derart verobjektivieren. In diesem Prozess, der Bildung als Erkenntnisprozess auszeichnet, Voluntarismus (lat. voluntas/Wille; Lehre der Bedeutung des Willens) bezeichnet epistemologische Positionen, die dem Willen einen Vorrang in Erkenntnisprozessen zusprechen.

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erlebt sich das Subjekt in der Welt, entdeckt Dinge und ordnet diese mit Begriffen. So bildet sich sukzessive ein Selbst-/Weltverhältnis heraus. Durch die Auseinandersetzung mit (fremden) Dingen eignet sich das Subjekt diese an. Wird dieser Gedanke konsequent weiterverfolgt, lässt sich festhalten, dass die (äußere) Welt – u.a. repräsentiert in den Phänomenen, mit denen sich das Subjekt auseinandersetzt – und das Bewusstsein nicht getrennt voneinander sind. Welt und Selbst bringen sich in einem infiniten Prozess performativ selbst hervor: So beruht „das Dasein dieser Welt sowie die Wirklichkeit des Selbstbewußtseins […] auf der Bewegung, daß dieses seiner Persönlichkeit sich entäußert, hierdurch seine Welt hervorbringt und sich gegen sie als eine fremde so verhält, daß es sich ihrer nunmehr zu bemächtigen hat“ (Hegel 1952, S. 350f.). Das Fremde existiert nur dadurch, dass es vom Subjekt als Fremdes identifiziert wird. Das Subjekt bedarf des Fremden, damit es sich das Fremde aneignen und derart sein Selbst/Weltverhältnis ausbilden kann – wodurch es sich erst als Subjekt konstituiert: „Wodurch als das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine wahre, ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins. Diese Entäußerung ist daher ebenso Zweck als Dasein desselben“ (Hegel 1952, S. 351, H.i.O.). Ein Subjekt ist zu dem Grad gebildet, wie es sich ästhetisch sowie reflexiv-begrifflich mit der Welt und dem Selbst in der Welt auseinandersezt: „Diese Individualität bildet sich zu dem, was sie an sich ist, und erst dadurch ist sie an sich und hat wirkliches Dasein; soviel sie Bildung hat, soviel Wirklichkeit und Macht“ (Hegel 1952, S. 351, H.i.O.).

4.1.4 Bildung – Vom Imago Dei zur bürgerlichen Subjektwerdung Ähnlich wie Hegel fasst auch Humboldt den Erkenntnisprozess des Subjekts als ein infinites Werden des Subjekts und bezeichnet – ebenfalls wie Hegel – diesen Prozess mit dem Begriff Bildung. Humboldt versteht unter Bildung einen Erkenntnisprozess, durch den sich das Subjekt die Welt (rational) aneignet und damit sich selbst sowie die Welt erkennt: Durch Bildung konstruiert der Mensch ein Selbst-/Weltverhältnis. Gerade in der ‚aktivistischen Fassung‘ des Subjekts, welches sich durch Handeln die Welt aneignet, liegt pädagogisches Potenzial von Bildung: „Praktische Aufklärung und Idealismus hingen für Humboldt gerade in Sachen Bildung eng zusammen“ (Lauer 2017, S. 242). Dieses Verständnis vom Bildungsbegriff stellt eine Revitalisierung des Bildungsbegriffs dar, in der sich der kulturelle Machtanspruch bürgerlichen Gesellschaft manifestiert: Mit der kulturellen Etablierung bürgerlicher Gesellschaft wird von Hegel und Humboldt der Begriff der Bildung umgedeutet. Die sakrale Bedeutung, die der Bildungsbegriff von der Deutschen Mystik im Mittelalter erhalten hat, weicht einem bürgerlich-säkularen Bildungskonzept: In der philosophischen Formulierung des Bildungsbegriffs spiegelt sich der radikale Wandel von der feudalen Adelsgesellschaft hin zur bürgerlichen Gesellschaft: Bildung hat ursprünglich eine „aktive Bedeutung, nämlich des Schaffens und Formens, das in der Bildnerei z.B. eines Töpfers greifbar werden kann“ (Koselleck 2006,

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S. 113). Diese Form des Erschaffens wurde im Zuge der Deutschen Mystik30 „auf die geistige Schöpfung“ übertragen. Im theologischen Kontext „verweist der Ausdruck seit dem 14. Jahrhundert auch auf eine eher passive, jedenfalls empfangende Bedeutung hin, die aus der Schöpfungstheologie herrührt“ (ebenda). Seine epistemologischen Wurzeln hat der deutsche Bildungsbegriff folglich in der deutschen Mystik des 14. Jahrhunderts: Durch Bildung sollte eine ‚Gottesebenbildlichkeit‘ des Menschen hergestellt werden: ‚Bildunga‘ bezeichnete im Althochdeutschen das schaffende Herstellen von Dingen, speziell von Töpfen. Dieser Begriff wurde dazu auserwählt, das lateinische Wort ‚imago‘ aus der Schöpfungsgeschichte zu übersetzen, womit der ursprünglich konkrete Begriff ‚Bildunga‘ auch eine transzendente Bedeutung erhielt (Horlacher 2011, S. 17).

Bereits Mystiker wie Meister Eckhart machen Bildung für pädagogische Überlegungen nutzbar: Wie man aus einem Marmorstein eine Skulptur bilden kann, bildet sich der Mensch Gott nach. Bildung fällt die Aufgabe zu, dem ‚Imago Dei‘ zu seiner Verwirklichung zu verhelfen. So erfordert gemäß Meister Eckhardt Bildung als mystischer Prozess ein Los- und Freiwerden von der materiellen Welt. Ähnlich verfährt der Mystiker Seuse, wenn dieser das mystische Lossagen von der eigenen Subjektivität als Teil eines Bildungsprozesses begreift, der hin zu einer mytischen ‚Vergottungs-Erfahrung‘ zu führen vermag: Entbilden, einbilden und überbilden bezeichnen für Heinrich Seuse den Stufengang der ‚Vergottung‘: Entbilden heißt dabei frei werden von sinnlichen Vorstellungen und von der Verstrickung in die Sinnenwelt der Erfahrung; erst nach diesem Freiwerden kann sich die Seele in Christus einbilden und in Vollendung des mystischen Vorgangs in Gott überbildet werden (Böhm 2010, S. 42).

So sind es die deutschen Mystiker, „die das umgangsprachliche ‚bilden‘ aus dem handwerklich-künstlerischen Vokabular herausheben, auf die pädagogische Ebene übertragen und ‚Bildung‘ zu einem pädagogischen Begriff machen“ (Böhm 2010, S. 42). Auch im Kontext der Selbstverständigungsdiskurse bürgerlicher Gesellschaft ist Bildung ein epistemologisch-pädagogischer Begriff. Wenn Bildung im Zeitalter bürgerlicher Gesellschaft zum „Grundbegriff des pädagogischen Denkens in Deutschland wird“ (Böhm 2010, S. 42), liegt dem allerdings eine epistemologische Bedeutungsverschiebung zugrunde. Der Begriff der Bildung wird jeder sakralen Konnotation beraubt – der bürgerliche Bildungsbegriff kennt nichts Göttliches mehr.

Mystisch sind subjektive, spirituelle Erfahrungen, die nicht sprachlich zugänglich sind. Mystische Erfahrungen werden erlebt und sind innerhablb der theistischen Religion auf die subjektive Erfahrung Gottes ausgerichtet.

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4.1.5 Humboldts Bildungsbegriff Anhand von Humboldts Bildungsverständnis lässt sich die bürgerliche Reinterpretation des Begriffs Bildung beispielhaft aufzeigen. Gemäß Humboldt manifestiert sich Bildung in dem inneren Bedürfnis des Menschen, sich selbst zu entfalten und nicht darin, sich äußerer Vorbilder wie Gott nachzubilden: „Überall hat das Genie nur die Befriedigung des innern Dranges zum Zweck, der es verzehrt, und der Bildner z.B. will nicht eigentlich das Bild eines Gottes darstellen, sondern die Fülle seiner plastischen Einbildungskraft in dieser Gestalt ausdrücken und heften“ (Humboldt 2017, S. 11). Bei Humboldt zeigt sich exemplarisch, wie in der Pädagogik der Aufklärung der Bildungsbegriff aus den „überkommenen, theologischen und mystischen Zusammenhängen“ (Klemm et al. 1985, S. 161) gelöst und in den Kontexten bürgerlicher Selbstverstädigungsdiskurse revitalisiert wurde. Im Zuge dessen wurde Bildung „zu einem Schlüsselwort für den bürgerlichen Emanzipationsprozess“ (Klemm et al. 1985, S. 161). In einer bürgerlichen Neufassung von Bildung entfaltet sich das Subjekt durch seine aktive Auseinandersetzung in und mit der Welt. So kommt es in der „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“ (Humboldt 2017, S. 7) zu der „allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (ebenda). Als Prozess der Selbstentfaltung entspricht Bildung der Diesseitsorientierung bürgerlicher Gesellschaft. Das bürgerliche Individuum erkennt im aktiven Handeln – und nicht etwa kontemplativ-reflektierend – die Welt. So stellt Musolff zu Humboldts Bildungsbegriff fest: „Sein Glück findet der moderne Mensch nicht in der Ruhe, sondern im Tätigsein seiner Kraft“ (Musolff 1989, S. 119). Aus epistemologischer Perspektive ist Bildung ein Erkenntnisprozess, der auf dem Menschenbild bürgerlicher Gesellschaft basiert bzw. dieses Menschenbild performativ hervorbringt. Das Subjekt eignet sich ganz im Sinne des aktiven Bürgers lernend die Welt an: Auch wenn ‚Bildung’ auf Wissen basiert und immer auch Wissensvermittlung einschließt, so geht es doch in ihr weder um das Wissen als Wissen noch um die bloße Übernahme eines als objektiv anerkannten Wissens; vielmehr zielt Bildung auf ein spezifisches Verhältnis zum Wissen, das sich als ein besonderes Selbst- und Weltverhältnis beschreiben lässt (Ricken 2006, S. 321, Fußnote).

Humboldt geht ganz im Sinne des voluntaristischen Subjektverständnisses bürgerlicher Gesellschaft von einem Bildungssubjekt aus, dessen „Streben“ darin besteht, „den Kreis seiner Erkenntnis und seiner Wirksamkeit zu erweitern“ (Humboldt 1980, S. 253). Dieser Prozess der Selbst-/Welterkenntnis ist durch die ‚gleichmäßige Ausbildung der Kräfte des Menschen‘ gekennzeichnet. Das Bildungssubjekt ist dabei von einem intrinsischen Erkenntniswillen bzw. von einer „innern Unruhe, die ihn verzehrt“ (Humboldt 1980, S. 253), angetrieben. Ganz im Sinne des philosophischen Idealismus geht es bei der Subjektwerdung um Selbst-/Welterkenntnis. So ist das „Denken“ des Bildungssubjekts „immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines

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Willens, in sich frei und unabhängig zu werden“ (Humboldt 1980, S. 253). Dieser Erkenntnisprozess ist gemäß Humboldt durch eine Erlebensdimension definiert, die sich aus einem Zusammenwirken von ‚Kraft‘ und ‚Freiheit‘ ergibt. Kraft und Freiheit als Bildungsmerkmale Kraft und Freiheit stellen zentrale Begriffe von Humboldts Bildungstheorie dar, so dass sich der genauere Blick auf die beiden Begriffe lohnt. Den Begriff der Kraft entnimmt Humboldt aus den naturphilosophischen Diskursen seiner Zeit. In der Naturphilosophie wurde diskutiert, wie sich Natur ohne göttliche Wirkung als Materie entfaltet: „Kraft und Materie wurden die neuen Grundbegriffe, und das Naturgeschehen wurde ohne Gott, allein mit der Hilfe des Ursache-WirkungsZusammenhangs erklärt“ (Ludwig 2009, S. 19). Als Teil der Natur ist auch der Mensch durch Kraft angetrieben. „Pflanzen, Tiere und Menschen folgen in ihrer Entwicklung den als unveränderlich gedachten Regeln der Natur. Der Vorgang des Sich-Bildens entspricht damit einer angeborenen Formkraft, die alle Natur durchdringt“ (Lauer 2017, S. 252). So wie eine Pflanze mit ihrer Kraft der Sonne entgegewächst, liegt die menschliche Bestimmung darin, in und mit der Welt seine Kraft zu entfalten. Wie sich Pflanzen durch ihre Kraft entfalten, entfaltet sich das bürgerliche Subjekt quasi natürlich in der Auseinandersetzung mit Welt und Gesellschaft, von denen das Subjekt Anregungen von ‚außen‘ erhält. Diese Anregungen kann das Bildungssubjekt in sein ‚Inneres‘ aufnehmen und sich so zu einem harmonischen Ganzen ausbilden. Dem aufklärungspädagogischen Begriff von Allgemeinbildung zufolge (das Wort setzte sich in seiner pädagogischen Bedeutung erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch) wurde die gleichmäßige Ausbildung aller Möglichkeiten des Menschen verstanden als der menschlichen Bestimmung entsprechend. Die Möglichkeiten wurden dabei als geistige und körperliche Kräfte interpretiert (Musolff 1989, S. 117).

Das Hineinwirken in die Welt kann in erster Linie als Mittel der Selbstformung und Eigengestaltung bzw. Selbstbildung verstanden werden: „Freiheit bedeutet mithin den konkreten Prozeß, wodurch der Mensch in einem fundamentalen intentionalen Akt die der Verwirklichung seiner Individualität angemessene Lebensweise wählt“ (Musolff 1989, S. 125). Hieraus ergibt sich eine diesseitige „Zweckbestimmung des Individuums“, welche „nicht teleologisch“ (Musolff 1989, S. 124) ist. Der Mensch bedarf der Freiräume, die es ihm erlauben, selbstbestimmt seine Kraft zu entfalten. Daher ist die bildungsangemessene Entfaltung von Kraft untrennbar an Freiheit geknüpft: Um handelnd die Welt zu erkennen und so seine Kraft zu entfalten, bedarf das Individuum der Freiheit. Allein, freilich ist Freiheit die notwendige Bedingung, ohne welche selbst das seelenvollste Geschäft keine heilsamen Wirkungen […] hervorzubringen vermag. Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und ge-

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leitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit (Humboldt 2010, S. 37).

Alles Wissen, welches sich das Subjekt durch Bildung aneignet, beruht auf der Erfahrung und Entfaltung von Kraft sowie Freiheit. Ohne Freiheit keine Bildung. Dementsprechend ist gemäß Humboldt für „Bildung [...] Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung“ (Humboldt 2010, S. 22). Hier liegt auch die normative Implikation von Bildung: Selbst-/Welterkenntnis, die nicht durch ein Zusammenwirken von Kraft und Freiheit zustande gekommen ist, kann nicht als ein Ausdruck von Bildung gewertet werden.31 Freiheit und Kraft lassen sich folglich als Bildungsmerkmale verstehen. Diese Bildungsmerkmale bzw. deren Zusammenwirken als Bildungserleben zeigen auf, dass Bildung nicht ein rein reflexives bzw. kognitives bzw. ‚nach-denkliches‘ Verhältnis des Subjekts zu sich und der Welt darstellt. Zu ergänzen wäre noch, dass Bildung nicht irgendwann einsetzt, sondern sich ständig vollzieht – Bildung ist dabei auch eine sinnliche Auseinandersetzung mit der Welt und ereignet sich von ‚Kindesbeinen an‘: „In der direkten und sinnlichen Erfahrung mit der Welt bildet sich der Mensch, und das von Kindesbeinen an“ (Lauer 2017, S. 253). Bildungserleben und Entfremdungserfahrung In Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kraft entwickelt Humboldt in Anlehung an Rousseau entfremdungstheoretische Positionen (vgl. Böhm 2010, S. 91). Um seine Kraft angemessen zu entfalten, muss der Mensch sich seinen Interessen entsprechend entwickeln. Ist dies nicht der Fall – und hier liegt ein erziehungskritisches Moment von Humboldts Argumentation – entfremdet sich das Subjekt von seiner Kraft und damit von sich selbst. „Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit freiwillig zu opfern. Er glaubt, sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt“ (Humboldt 2010, S. 33f.). Hier klingen Überlegungen an, die sich im heutigen Diskurs mit den Worten ‚Subjektivierungserfahrungen durch Erziehungshandeln‘ umschreiben lassen. Die Entfremdungserfahrung wird von Humboldt mit dem Bild der Entfaltung eigener – nicht entfremdeter – Bedürfnisse kontrastiert: „Alles, womit sich der Mensch beschäftigt, wenn es gleich nur bestimmt ist, physische Bedürfnisse mittelbar und unmittelbar zu befriedigen oder überhaupt äußere Zwecke zu erreichen, ist auf das genaueste mit innren Empfindungen verknüpft“ (Humboldt 2010, S. 35). Diese Form des Selbst-/Welterlebens lässt sich auch als Bildungserleben verstehen. Handelt der Mensch nach ‚inneren Empfindungen‘, die Teil der Kraft sind, mit der sich der Mensch Ricken 2019 weist auf die Herausforderung der Definition der normativen Dimension von Bildung hin: „Guckt man […] nun genauer hin, dann ist das mit der normativen Orientierung so einfach dann doch nicht, denn auch bildungstheoretisch ist nicht wirklich klar, was denn als normative Orientierung gelten kann“ (Ricken 2019, S. 109).

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die Welt und damit auch sich selbst aneignet, bildet der Mensch eine ‚Einheit‘ mit sich selbst. Anhand der oben skizzierten Erkenntnisse des Milgramexperiments kann abgelesen werden, wie Menschen sozialen Druck erleiden, wenn sie aufgrund von autoritären, interpellativen Anweisungen ihre ‚Einheit‘ verlieren und wider ihres Gewissens, ihrer Werte und Bedürfnisse handeln müssen. Humboldts ‚Einheitsverständnis‘ lässt sich als Gegenentwurf zu einer derartigen Entfremdungserfahrung lesen – und verliert mit Bezug auf die Resultate des Milgramexperiments seine spekulativ-metaphysische Konnotation. Bildungserleben als normative Dimension von Bildung Das Subjekt ist gemäß Humboldt selbstevident. Diese Selbstevidenz bzw. das ‚inneere Sein‘ entfaltet sich im Zuge des Subjetwerdungsprozesses, der Bildung auszeichnet: „Je mehr Einheit der Mensch besitzt, desto freier entspringt das äußere Geschäft, das er wählt, aus seinem innren Sein“ (Humboldt 2010, S. 35f.). Kraft sowie Freiheit stellen gemäß Humboldt die Merkmale dar, die Bildung als Modus des Selbst-/Weltverhältnisses kennzeichnen und zugleich ermöglichen. In dem Zusammenwirken von Kraftentfaltung und Freiheit vollzieht sich Bildung. Dieses Zusammenwirken stellt dabei die normative Grundlage von Bildung dar: „Auf der Grundlage der ins Kulturphilosophische transponierten naturphilosophisch begründeten Dreieinheit von Bildung, Kraft und Individualität entwickelt Humboldt eine normative Konzeption von menschlicher Entwicklung, in deren Mittelpunkt die Freiheit steht“ (Zöller 2010, S. 184). Die Entfaltung der Kräfte im sozialen Kontext bzw. in der Auseinandersetzung mit der Welt besitzt auch sinnliche bzw. ästhetische Implikationen: „Die vollkommene Einheit im Innern des durch kreative Tätigkeit gebildeten Selbst umfaßt für Humboldt sowohl Gefühle und Emotionen als auch Vernunft“ (Musolff 1989, S. 130). Bildung wird auch erlebt: „Bildung beschränkt sich nicht auf einen rational-logischen Prozess, sondern schließt die ganze menschliche Palette der sinnlich-emotionalen Erfahrungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten ein“ (Schäfer 2016, S. 24, H.i.O.). So weist Klika (2016) auf die leiblich-sinnliche Dimension von Bildung hin: „Nicht allein um Denken und Selbstreflexion, die auf das Ich und die Welt gerichtete kognitive Dimension geht es, sondern auch um die leiblich-sinnliche, die moralische, die praktische und die ästhetische“ (Klika 2016, S. 52). Diese Erlebensdimension von Bildung ergibt sich aus einem ästhetischen sowie reflexiven Ineinander von Kraft- und Freiheitserleben des Subjekts und zeigt sich im Selbst-/Weltgenuß: „Der Mensch genießt am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt“ (Humboldt 2010, S. 48). Dieses Bildungserleben ist eine normative Dimension, die Bildung auszeichnet. Bildung versus Erziehung Vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Entfremdungskritik und zum Bildungserleben entwirft Humboldt einen Zielhorizont für eine pädagogische Auseinandersetzung mit Bildung:

4.1 Annäherung an einen deutungsoffenen Begriff

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So ließen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern Künstler bilden, d.h. Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Gewerbes willen liebten, durch eigengelenkte Kraft und eigne Empfindsamkeit verbesserten und dadurch ihre intellektuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten (Humboldt 2010, S. 36, H.i.O.).

Der Freiheitsanspruch von Bildung bestimmt auch das Verhältnis der Bildung zur bürgerlichen Gesellschaft. So kann eine übermäßige Freiheit sich auch gegen die bürgerliche Gesellschaft wenden. Ähnliches ist bereits dem Konzept der bürgerlichen Liebe widerfahren: Als ‚wahres/unmittelbares‘ bzw. authentisches Gefühl wurde ein bürgerliches Verständnis von Liebe gegen die Zwänge des Adels ausgespielt. Der Anspruch auf emotionale Selbstverwirklichung grenzt sich von den rituellen Formen der Liebesdarstellungen des Adels ab (vgl. Hansen 1989). Spätestens in Goethes 1774 veröffentlichten Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ richtete sich das Konzept der authentischen Liebe aber auch gegen die Konventionen bürgerlicher Ehe. Analog zu den Implikationen des Liebesverständnisses haben Linkshegelianer wie Stirner die bürgerliche Bildungsidee radikal zu Ende gedacht: Wenn das Subjekt sich die Welt auch sich selbst heraus aneignet, dann kann es auch keine (bürgerlichen) Werte geben, die verpflichtend sind: „Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn“ (Stirner 1970, S. 37). Um diesem drohenden Anarchismus zu begegnen, empfahl bereits Kant in seinen Vorlesungen über Pädagogik, Erziehung als eine Form pädagogischer Intervention zu verstehen. „Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disziplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihn den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen. Dieses aber muß früh geschehen“ (Kant 1964, S, 698). Als Geschöpf zwischen Natur und Kultur gilt es, den Menschen zu enkulturieren: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß. Unter der Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung. Dem zufolge ist der Mensch Säugling, – Zögling, und – Lehrling.“ (Kant 1964, S. 697). Erziehung soll es ermöglichen, das Subjekt in die Werte und Gesetze bürgerlicher Gesellschaft einzupassen bzw. hinein zu erziehen. Bildung dreht dieses Verhältnis von Subjekt und Welt um: „Es kennzeichnet den deutschen Bildungsbegriff, daß er den Sinn einer von außen angetragenen Erziehung, der dem Begriff im 18. Jahrhundert noch innewohnt, umgießt in den Autonomieanspruch, die Welt sich selbst einzuverwandeln: Insofern unterscheidet sich Bildung grundsätzlich von ‚education‘“ (Koselleck 2006, S. 110). Bildung und Erziehung stehen folglich in einem Spannungsverhältnis zueinander, da Bildung die Freiheitspotenziale des Subjekts betont, während es der Erziehung um die Einpassung des Subjekts in die symbolische Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft geht. Trotz dieser subversiven bzw. potenziell ‚umstürzlerischen‘ bzw. ‚unordentlichen‘ Implikationen des Bildungsbegriffs machte dieser eine bürgerliche Karriere.

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4 Bildung

4.2 Karriere des Bildungsbegriffs Mit Humboldts theoretischen Überlegungen war Bildung als ein pädagogischer Begriff etabliert. Bildung galt als Qualitätsmerkmal des bürgerlichen Individuums. In Abgrenzung zum Geburtsadel galt der Doktortitel als ‚Bildungsadel‘ im meritokratischen bzw. leistungsorientierten Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaft. Diese Leistungsorientierung bürgerlicher Kultur lässt sich sozio-semiotisch an der Bedeutung des Doktortitels ablesen. Während der Adelstitel im Wesentlichen durch Geburt erlangt wird, lässt sich der Doktortitel als Form des ‚Bildungsadelstitels‘ verdienen. Die symbolische Wirkkraft des Doktortitels hält bis in die Gegenwart an, wie sich am Guttenberg Plagiatsskandal ablesen lässt. Trotz Adelstitels wollte Karl-Theodor zu Guttenberg den Doktortitel erwerben. Neben dem Geburtsadel hätte zu Guttenberg sich dann auch dem Bildungsadel zurechnen können. Auf diese meritokratische Dimension bzw. diese Idee des Erwerbs des Bildungsadels durch eigene Leistungen weist auch Horlacher hin: So „erlaubte der Bildungsbegriff dem sich etablierenden Bürgertum, sich mit Bildung als etwas selber Erworbenem gegen die vererbten ‚Leistungen‘ des Adels zu behaupten“ (Horlacher 2011, S. 40). Der Skandal liegt bei zu Guttenberg folglich darin, dass er sich über das Plagiieren dem Leistungsprinzip entziehen und dennoch einen ‚Bildungsadelstitel‘ erwerben wollte. Dieses Beispiel zeigt die Wirkkraft auf, die der Bildungsbegriff entfaltete, seitdem Bildung bzw. das ‚Gebildet-Sein‘ im 19. Jahrhundert zum Statussymbol bürgerlicher Gesellschaft avancierte: Gebildete Bürger wollten sich mittels Bildung bewusst von den ‚ungebildeten Massen‘ abheben. Das Bürgertum formierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur neuen, führenden Gesellschaftsschicht. Die Vormacht des Adels war gebrochen, aber noch spielte er eine große Rolle. Daher brauchte die führende, bürgerliche Schicht eine Legitimation, um sich einerseits vom Adel, andererseits von den unteren Gesellschaftsschichten abzugrenzen. Erziehung und Bildung wurden nicht nur ideengeschichtlich zu einem Mittel der Gesellschaftsveränderung, sondern praktisch zu einem Mittel der Herrschaftslegitimation. Es war zwar im besten Fall möglich, dass ein Doktortitel auch der ‚Vervollkommnung‘ der Person diente, der weitaus bedeutendere Effekt war jedoch, dass er dem Bürgertum als eine Art Ersatz des Adelstitels zur Abgrenzung zu den unteren Schichten diente (Kuhlmann 2013, S. 81).

Bildungsgüter sind in diesem Kontext vor allem Literatur, Kunst und Musik, die es pädagogisch zu vermitteln gilt. Bildung wurde zu einer Ressource, um sich in der Gesellschaft zu behaupten. So weist Kosseleck in seiner Analyse (bürgerlicher) Begriffsgeschichte darauf hin, dass „ab 1830 der Aspekt der Bildung” eine „entscheidende Bedeutung” (Koselleck 2006, S. 416) erhalten hat. So kann mit „Hilfe der Bildung die Überlegenheit des Bürgers als Mitglied eines Leistungsstandes gegenüber dem Adel belegt werden” (ebenda). Dementsprechend wird „Bildung […] immer da zum entscheidenden Kriterium, wo der Stadtbürger als Wirtschaftsbürger Zugang zu staatlichen Ämtern fordert” (ebenda).

4.3 Bildung im Kontext erziehungswissenscha{licher Paradigmen

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Aus soziologischer Perspektive liegen hier die sozio-epistemologischen Wurzeln des Phänomens, welches Bourdieu mit dem Begriff des kulturellen Kapitals beschreibt und das sich auch mit dem Begriff ‚Bildungskapital‘ fassen lässt. Das kulturelle Kapital umfasst neben • institutionellem Kapital (u. a. Bildungsabschlüsse), • inkorporiertem Kapital (ein milieuspezifischer, normativer Blick auf den Körper, z. B. wie man ‚richtig sitzt‘, ‚ordentlich isst‘ – diese normativen Vorgaben schreiben sich unbewusst in den Körper ein) auch das • objektivierte Kapital (der Besitz von [Bildungs-]Gütern wie Bücher, Musikinstrumente etc.). Bildungsgüter können erworben und der Zustand des ‚Gebildet-Seins‘ kann sich angeeignet werden. Eine Vermittlungsinstanz, durch die sich die Subjekte Bildungsressourcen bzw. Kapitalien aneignen können, stellt dabei das pädagogische Handeln dar.

4.3 Bildung im Kontext erziehungswissenschaftlicher Paradigmen Pädagogik ist in der bürgerlichen Gesellschaft auch stets ein Bildungsprojekt. Über die Pädagogik hinaus gewann kulturelles Kapital an Relevanz, welches es über die pädagogische Praxis zu vermitteln galt bzw. gilt. Neben dieser Perspektive auf Bildung als ‚Kapital‘, welches das Individuum dabei unterstützt, seinen Platz in der Gesellschaft über Leistungen zu ‚verdienen‘, ist auch eine anhaltende, erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff zu verzeichnen. Die Art und Weise, wie Bildung in der erziehungswissenschaftlichen Forschung thematisiert wird, hängt von dem jeweiligen ‚Paradigma‘ ab, dem die Forscher angehören. Ein Paradigma bildet das Grundverständnis einer Wissenschaft und ermöglicht Wissenschaft als kollektive Praxis.32 In der erziehungswissenschaftlichen Forschung bildet die Entwicklungstatsache des Menschen den paradigmenübergreifenden Forschungsgegenstand. Dieser paradigmenübergreifende Forschungsgegenstand erfährt paradigmenspezifische Ausformungen. So haben die unterschiedlichen Forschungsparadigmen in der Erziehungswissenschaft auch verschiedene Methodensettings, mit denen der Gegenstand bzw. die Entwicklungstatsache des Menschen beforscht wird. Es gibt folglich unterschiedliche Paradigmen in der Pädagogik, die auch jeweils den Bildungsbegriff anders thematisieren. Mit der Kuhn entwickelte in seinem Buch ,,Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen” den Begriff Paradigma (griech. Beispiel, Muster) als Bezeichnung für ein Ensemble aus übereinstimmenden Ansichten und Methoden mit denen ein Forschungsgegenstand beforscht wird. Das Paradigma ist die epistemologische Basis, auf der wissenschaftliche Theorien entwickelt werden. Kuhn erläutert die Struktur eines Paradigmas an einem Beispiel: „Die genaue historische Untersuchung eines bestimmten Spezialgebietes zu einem bestimmten Zeitpunkt enthält eine Reihe sich wiederholender und gleichsam maßgebender Erklärungen verschiedener Theorien in ihren Anwendungen in Bezug auf Begriffsbildung, Beobachtung und Instrumentation. Das sind die Paradigmen der Gemeinschaft, wie sie in ihren Lehrbüchern, Vorlesungen und Laborversuchen zutage treten“ (Kuhn 1973, S. 68). 32

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4 Bildung

Ausbildung der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin lassen sich drei zentrale Paradigmen identifizieren: • Das Paradigma der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, • das Paradigma der empirischen Bildungsforschung sowie • das Paradigma der kritischen Pädagogik.

4.3.1 Bildung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Deutlich zeigt sich die Wirkmacht von Bildung im Bereich der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik etablierte sich seit den 1920er Jahren bis zur Machtergreifung der Nazis und war von 1945 bis in die 1960er Jahre das vorherrschende pädagogische Paradigma. Mit der Philosophie als Leitdisziplin strebte die geisteswissenschaftliche Pädagogik eine ‚Verwissenschaftlichung‘ der Pädagogik an. Dabei fand die Hermeneutik als reflektierte Methode des Verstehens bzw. des Interpretierens der Erziehungswirklichkeit Anwendung. Hermeneutik als Methode geisteswissenschaftlicher Erkenntnis Als Methode für das geisteswissenschaftliche Forschen griff Wilhelm Dilthey als Begründer der Geisteswissenschaften auf die Hermeneutik zurück. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass sich menschliches Sein nicht so wie die Natur beforschen lässt. Die naturwissenschaftlich geprägten Vorgehensweisen berücksichtigen gemäß Dilthey nicht angemessen das menschliche Erleben, da sich „Bewußtseinstatsachen“ (Dilthey 1962, S. 11) nicht wie die Natur rein kausal-analytisch erklären lassen. Die Natur ist uns fremd. Denn sie ist uns nur ein Außen, kein Inneres. Die Gesellschaft ist unsere Welt. Und die Gesellschaft ist kein Außen? Das Spiel der Wechselwirkungen in ihr erleben wir mit, in aller unser ganzem Wesen, da wir in uns selber von innen, in lebendiger Unruhe, die Zustände und Kräfte gewahren, aus denen ihr System sich aufbaut. (Dilthey 1962, S. 36f.)

Dass der Mensch sein Leben erlebt, muss wissenschaftlich aufgearbeitet, d.h. angemessen wissenschaftlich fundiert verstanden werden. Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du; der Geist findet sich auf immer höheren Stufen von Zusammenhang wieder; diese Selbigkeit des Geistes im Ich im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalitat des Geistes und der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich. (Dilthey 1992, S. 235)

In der Hermeneutik sieht Dilthey die Möglichkeit, ein methodisch fundiertes, verstehendes Vorgehen zu leisten, welches dem geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand entspricht: „Heute tritt nun die Hermeneutik in einen Zusammenhang, der den Geisteswissenschaften eine neue, bedeutsame Aufgabe zuweist. Sie hat immer die Sicherheit des Verstehens […] verteidigt“ (Dilthey 1992, S. 217f.).

4.3 Bildung im Kontext erziehungswissenscha{licher Paradigmen

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Als Lehnwort ist Hermeneutik aus dem Altgriechischen abgeleitet, wo es soviel wie ,erklären’, ,auslegen’, ,übersetzen’, ,verkünden’ bedeutet. Die Hermeneutik stellt als Erkenntnisstrategie eine auf die Antike zurückgehende Methode der Textdeutung dar, die u.a. in theologischen, historischen, philologischen sowie philosophischen Feldern Anwendung fand bzw. findet. Als Verstehensstrategie kann Hermeneutik wie ein Erkenntniszirkel beschrieben werden, der durch Erleben, Ausdrücken und Verstehen strukturiert ist. • Zu Beginn steht das menschliche Erleben. • Damit andere Menschen mein Erleben verstehen können, muss ich mein Erleben mitteilen bzw. ausdrücken. Um verstanden werden zu können, ist es folglich erforderlich, dass das Erleben sprachlich angemessen formuliert bzw. ,ausgedrückt’ wird. Der Ausdruck ermöglicht das Verstehen. • Ein anderer Mensch kann durch meinen Ausdruck empathisch nachvollziehen, wie ich eine Situation erlebt habe und mich derart verstehen. Das dialogische Wechselspiel zwischen Ausdruck und Verstehen stellt dabei einen infiniten bzw. nie abschließbaren Prozess dar (vgl. dazu eingehender Kergel 2018). Aufgrund der Fokussierung auf das Individuum und dessen Erleben im pädagogischen Prozess war die geisteswissenschaftliche Pädagogik an bildungstheoretische Überlegungen und deren Verständnis von Kraft und Freiheit anschlussfähig. Ein zentrales Ziel geisteswissenschaftlicher Pädagogik stellt die Förderung der Entfaltung der ‚Zu-Erziehenden‘ im Prozess der ‚Aneignung von Kultur‘ dar: „Bildung ist die subjektive Seinsweise der Kultur, die innere Form und geistige Haltung der Seele, die alles, was von draußen an sie herankommt, mit eigenen Kräften zu einheitlichen Leben in sich aufzunehmen und jede Äußerung und Handlungen aus diesem ein einheitliches Leben zu schaffen“ (Nohl 1988, S. 177). Der Spannungsbogen von Erziehung zwischen Autonomie des Individuums und Autorität des Erziehers blieb in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik eine Herausforderung: Bildungsideale wurden als ‚pädagogischer Bezug‘ in Form eines Erziehungsverhältnisses gedacht: „Die Grundlage der Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, daß er zu seinem Leben und zu seiner Form komme“ (Nohl 1988, S. 169). In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nimmt die Auseinandersetzung mit Bildung einen hevorgehobenen Platz ein, da Bildung den Prozess der Selbstverwirklichung des Kindes bezeichnet, wenn es zum Erwachsenen wird.

4.3.2 Bildung im Kontext der ‚realistischen Wendung‘ der Erziehungswissenschaften In der erziehungswissenschaftlichen Forschung erfuhren bildungstheoretische Reflexionen mit der Etablierung der empirischen Bildungsforschung als – bis heute – vorherrschendes Paradigma einen Bedeutungsverlust. Dieser Paradigmenwechsel, welcher von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik hin zur empirischen Bildungsforschung

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führte, lässt sich symbolisch an dem Jahr 1962 festmachen. 1962 war das Jahr, in dem Roth die ‚realistische Wendung‘ in den Erziehungswissenschaften ausrief. Durch diese Wende kam es zu einer empirisch-quantitativen Ausrichtung der Erziehungswissenschaften. Mit der Etablierung empirisch-quantiativer Forschung stand die bildungstheoretische Bedeutung von Bildung zur Diskussion: Das Erkenntnispotenzial hermeneutischer Verfahren galt als ausgeschöpft. Empirisch orientierte Wissenschaftsdisziplinien wie Soziologie, Psychologie oder Biologie hingegen versprachen neue Erkenntnismöglichkeiten, was zur Etablierung der empirischen Bildungsforschung führte. Pädagogik wird in diesem Paradigmenwechsel endgültig zur Erziehungswissenschaft. Spätestens mit der realistischen Wende entstand ein Graben zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung. Dieser Graben verfestigte sich durch Georg Pichts 1964 formulierte Warnung vor einer ‚Bildungskatastrophe‘ in Deutschland: Es wurde ein geringerer Anteil an höheren Abschlüssen deutscher Schüler prognostiziert. Was wiederum – v.a. in den Naturwissenschaften – zu geringen Studierendenzahlen führen könnte. Ein eklatanter Mangel an qualifizierten Fachkräften wäre die Folge und Deutschland liefe Gefahr, im internationalen Standortwettbewerb zurückzufallen. Es etablierte sich ein bis heute gültiges marktwirtschaftliches Verständnis von Bildung: Um konkurrenzfähig zu bleiben, ist ein funktionierendes und leistungsstarkes Bildungssystem zu gewährleisten, welches das ‚Humankapital‘ in einer wissensbasierten Gesellschaft sichert. Diese Position prägt über die PISA-Studien bis heute bildungspolitische Diskussionen. Der empirischen Bildnungsforschung wird dabei die Aufgabe zugesprochen, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verbesserung des Bildungssystems hervorzubringen. Diese Erkenntnisse sollen Orientierungspunkte bieten, um wissenschaftlich informiert bildungspolitische Entscheidungen treffen zu können sowie empirisch fundiertes Handlungswissen für die pädagogische Praxis bereitzustellen. Anhand zumeist quantitativer Forschungsstrategien, die sich an den Standards empirischer Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder Psychologie orientieren, wird beforscht, wer wie welche Qualifikationen und Kompetenzen im Bildungssystem erwirbt. In der Zeit der realistischen Wende und der drohenden Bildungskatastrophe verabschiedete sich die empirische Bildungsforschung weitestgehend von bildungstheoretischen Überlegungen. Anstatt die Möglichkeiten einer Operationalisierung von zentralen bildungstheoretischen Begriffen wie Kraft und Freiheit zu diskutieren, wurden in den 1960er und den 1970er Jahren Anstrengungen unternommen, den Begriff Bildung durch Begriffe wie Sozialisation, Lernen oder Kompetenz zu ersetzen: „Im Gegensatz zu Bildung wird Kompetenz als messbar beschrieben und Kompetenzen können gezielt gelernt werden, was für die pädagogische Diskussion sehr viele Anschlussmöglichkeiten bietet“ (Horlacher 2011, S. 95). So verwundert es nicht, dass Roth, der die emprische ‚Wendung‘ in den Erziehungswissenschaften ausgerufen hatte, auch den Kompetenzbegriff in das deutschsprachige pädagogische Feld einführte. Roth benannte Sozial-, Sach- sowie Selbstkompetenz als Faktoren, die Handlungskompetenz ermöglichen. Kompetenz

4.3 Bildung im Kontext erziehungswissenscha{licher Paradigmen

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avancierte in der Folge zu einer „bedeutsame[n] Zielvorstellung für Erziehung und Bildung“ (Tulodziecki 2015, S. 194). Letztendlich erscheint aber der Begriff der Kompetenz ebenso deutungsoffen wie der Begriff der Bildung (vgl. Heidkamp & Kergel 2018). Dies zeigt sich, wenn Kompetenzen basal als Fertigkeiten und Fähigkeiten definiert werden, die es ermöglichen, Herausforderungen im Zuge von Selbst/Weltaneignungsprozessen angemessen bewältigen zu können: „Kompetenzen sind Systeme aus spezifischen, prinzipiell erlernbaren Fertigkeiten, Kenntnissen und metakognitivem Wissen, die es erlauben, eine Klasse von Anforderungen in bestimmten Alltags-, Schul- und Arbeitsumgebungen zu bewältigen“ (Klieme 2001, S. 182). Allerdings erhielt der Kompetenzbegriff durch vergleichende Leistungsstudien wie z.B. dien PISA-Studien eine zentrale Bedeutung in der empirischen Bildungsforschung. Dabei wird bei der Erhebung von Kompetenzen das Kompetenzniveau mit dem Beherrschen von Schlüsselqualifikation wie Lese- und Rechenfähigkeiten gleichgesetzt. Der Kompetenzbegriff verweist darauf, dass die erforderlichen, individuellen und sozialen Fähigkeiten eines voll sozialisierten Mitglieds der Gesellschaft nicht reflexhaft oder als reines Sachwissen angeeignet werden können. Vielmehr verlangt eine komplexe, moderne Gesellschaft sogenannte ‚generative‘ (erzeugende) Fähigkeiten, Kompetenzen genannt, die als Metawissen in beliebigen Situationen adäquates Denken, Handeln und Urteilen generieren können (Ganguin & Sander 2015, S. 233).

Die normative Entfaltung des Selbst-/Weltverhältnis wird dabei ausgeblendet und die Kompetenzerhebung fokussiert auf die Ermittlung kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten. Daher verwundert es auch nicht, dass in der empirischen Bildungsforschung der Akzent auf die Beforschung institutionalisierter Bildung gelegt wird. Bildung erfährt im Paradigma der empirischen Bildungsforschung einen Bedeutungswandel: Anstatt wie bei Humboldt unter Bildung die Entwicklung des Subjekts durch die Entfaltung von Kraft in Freiheit zu verstehen, wird Bildung als Wissenserwerb definiert. Bildung entfaltet sich als ‚Gebildet-Sein‘ in der Aneignung von Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. Kompetenzen. ‚Gebildet-Sein‘ als Kompetenzerwerb wird durch Bildungsabschlüsse formalisiert. Die Beforschung von Bildungsinstitutionen und Bildungseffekten ist daher ein Kerngebiet empirischer Bildungsforschung. Exemplarisch für die empirische Bildungsforschung sind sogenannte Bildungsberichte. Bildungsberichte erscheinen in regelmäßigen Abständen und stellen einen Aspekt von Bildungsmonitoring dar. Bildung wird dabei als Konzept verstanden, das durch Indikatoren erhoben wird. Indikatoren stellen als empirische Manifestationen erfassbare Größen dar, die auf Konstrukte wie Bildung verweisen. Bildung wird in der empirischen Bildungsforschung bzw. in Studien wie den Bildungsberichten oftmals

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durch den Nachweis von Kompetenzen erfasst. Kompetenz wiederum lässt sich in konkret fassbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten messen.33 In Deutschland leistet der nationale Bildungsbericht eine Darstellung des Bildungswesens in der Breite und richtet sich an Akteure aus der Bildungspraxis, Bildungspolitik sowie Bildungsverwaltung. Der nationale Bildungsbericht wird von einer Autorengruppe unabhängiger Wissenschaftler unter der Leitung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) alle zwei Jahre veröffentlicht. Dabei wird Bildung vor allem als Aneignung von Wissensressourcen bzw. Wissenskapital gefasst.34 Bildungsberichte ermöglichen eine quantiative Vermessung des Bildungswesens. Der dabei zum Einsatz kommende Bildungsbegriff ist dabei schwerlich in Verbindung zu Humboldts normativen Bildungsbegriff zu bringen, der mit den Konzepten Kraft und Freiheit operiert. Vielmehr herrscht in den Bildungsberichten ein Bildungsverständnis vor, das Bourdieu – wie bereits oben erwähnt – mit dem Begriff ‚institutionalisiertes, kulturelles Kapital‘ fasst: Bildungsberichte untersuchen Zugänge zu und Effekte von ‚institutionalisiertem Kapital‘ wie Schul- oder Hochschulabschlüsse bzw. die Struktur des Bildungswesens, in denen solches Kapital generiert wird. Dabei wird Bildung mit Wissensressourcen sowie Kompetenzerwerb gleichgesetzt. Die normative Dimension von Bildung wird derart suspendiert.

4.3.3 Bildung in der kritischen Erziehungswissenschaft In den 1960er Jahren wurde die Vorherrschaft der geisteswissenschaftlichen Pädagogik neben der ‚realistischen Wende‘ von der kritischen Erziehungswissenschaft – auch emanzipatorische Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft genannt – angefochten. Die kritische Erziehungswissenschaft wurde Ende des Jahrzehnts kurzeitig zum wichtigsten Paradigma innerhalb der deutschen Pädagogik und entfaltete sich seit ungefähr Mitte der 1960er Jahre. Für die Entwicklung der kritischen Erziehungswissenschaft ist die Bedeutung der kritischen Theorie der ‚Frankfurter Schule‘ nicht zu unterschätzen. Die Frankfurter Schule war eine Spielart des marxistischen Denkens: Das Scheitern der Revolutionsbewegungen in Westeuropa zwischen 1917 und 1922 führte zu der Formulierung eines ‚westlichen Marxismus‘. Vertreter des westlichen Marxismus begriffen sich als kritisch-undogmatisch und setzten sich zum Ziel, das Scheitern der revolutionären Entwicklungen zwischen 1917 und 1923 analytisch aufzuarbeiten sowie Für die Erfassung von Bildung greifen Bildungsberichte zumeist auf ein überschaubares Ensemble von Indikatoren zurück, die regelmäßig aktualisiert und durch weitere Indikatoren ergänzt werden. 34 Dementsprechend zeigen sich die Zielvorstellungen von Bildungen in den Dimensionen „individuelle Regulationsfähigkeit“, „gesellschaftliche Teilhabe“ und „Chancengleichheit“ sowie „Humanressourcen“. Die Zieldimensionen stellen zugleich bildungspolitische Qualitätskriterien dar. Datengrundlage für den nationalen Bildungsbericht sind amtliche Statistiken wie die Kinder- und Jugendhilfestatistik oder der Mikrozensus, sowie Daten, die durch Forschung erhoben werden.

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4.3 Bildung im Kontext erziehungswissenscha{licher Paradigmen

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ein zeitgemäßes, undogmatisches Marxismusverständnis zu entwickeln. Am 20. Mai 1923 fanden sich hierzu kritische Marxisten und Kommunisten wie Karl Korsch und George Lukàcs für acht Tage in einem Bahnhofshotel bei Arnstadt in Thüringen zur ,marxistischen Arbeitswoche‘ ein. Offiziell war dieses Treffen das erste Theorieseminar des Instituts für Sozialforschung, aus dem die kritische Theorie der Frankfurter Schule erwuchs. Das Institut für Sozialforschung wurde ab 1930 von Max Horkheimer geleitet. Unter der Ägide Horkheimers war das Institut einer interdisziplinären Forschung mit der Zielsetzung verpflichtet, die ‚Totalität‘ gesellschaftlicher Verhältnisse kritisch zu erfassen. Die kritische Theorie zeichnet sich in ihrem Selbstverständnis im Gegensatz zur ‚traditionellen Theorie‘ durch eine Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten und Unterdrückungsverhältnisse aus. Dieser (gesellschafts-)kritische Anasatz wurde von der kritischen Erziehungswissenschaft übernommen. Diese ist dementsprechend von der These geprägt, dass gesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sich auch in der Pädagogik zeigen – aber auch in der pädagogischen Praxis überwunden werden können. Allerdings gilt es hier einschränkend darauf hinzuweisen, dass die kritische Erziehungswissenschaft nicht direkt von Vertretern der Frankfurter Schule wie Horkheimer oder Adorno entwickelt worden ist. Vielmehr überführten v.a. Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wie Klaus Mollenhauer, Herwig Blankertz und Wolfgang Klafki das kritische Denken in pädagogische Kontexte. Mit Bezug auf Marx und insbesondere dessen Ökonomiekritik wurde betont, dass der moderne Mensch unter dem Zwang kapitalistischer Klassenverhältnisse lebt und daher sein ‚ganzes Potenzial‘ nicht angemessen nutzen kann, da sein Selbst/Weltverhältnis durch und durch vom Kapitalismus durchdrungen ist. Der Mensch ist daher kognitiv wie emotional fremdbestimmt: In der kapitalistischen Gesellschaft ist der Mensch ein entfremdetes Wesen. Die kapitalistischen Zwangsverhältnisse bestimmen nicht nur die gesellschaftliche Existenz des Menschen („Sein“), sondern auch dessen Wahrnehmungs- sowie Deutungsweisen und Empfindungen („Bewusstsein“). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen versteht kritische Erziehungswissenschaft pädagogische Praxis als eine soziale Praxis, welche eine Emanzipation – also eine ,angeleitete Selbstbefreiung’ des Kindes von kapitalistischen Verhältnissen – anstrebt: Die Aufgabe einer kritischen Erziehungswissenschaft würde dann vor allem darin bestehen, ein solches autonomes, selbstreflexives Leben zu ermöglichen und das selbstreflexive oder vernünftige (kommunikative) Potential, die Möglichkeit zur Autonomie und Selbstbestimmung, zu verwirklichen, zu befreien oder zu entfalten. Kritik erscheint dann als die praktische Verwirklichung der Autonomie, sodass das negative Moment (der Kritik) in einem bestimmten Sinn doch wieder in eine Positivität transformiert wird (Maschellein 2003, S. 129).

In der Theoriearbeit der kritischen Pädagogik werden die Wechselverhältnisse zwischen der Pädagogik und gesellschaftlichen Verhältnissen aufgezeigt. Im Zuge dessen wird auch der Bildungsbegriff ‚kritisch‘ gewendet. Bildung wird für die Emanzipation

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und gegen die Entfremdung in Stellung gebracht. Dabei ist Entfremdung aus einem marxistischen Geschichtspunkt definiert: Entfremdet ist der Mensch in einer Konsum- und Warenwelt, die seine Bedürfnisse manipuliert. In dem künstlich hergestellten Bedürfnis nach Waren im Sinne des Objekts klein a wird die Kraft des Subjekts und dessen nicht-entfremdeter Zustand überdeckt: Die philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe wollte natürliches Dasein bewahrend formen. Sie hatte beides gemeint, Bändigung der naturwüchsigen Menschen durch ihre Anpassung aneinander und Rettung des Natürlichen im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung (Adorno 1959, S. 171).

Ein derartiger Bildungsbegriff birgt kritisches Potenzial – „Kritisch gewendet steht sie [die Bildung] gegen eine gesellschaftliche Funktionalisierung“ (Schäfer 2019, S. 120). Während Bildung als kritischer Begriff eine emanzipative Wirkung entfalten kann, steht Halbbildung für die gesellschaftliche Funktionalisierung von Bildungsgegenständen: Die Entfremdung des Menschen zeigt sich gemäß Adorno auch in dem Phänomen der Halbbildung. Halbbildung ist dabei als oberflächliche Bildung zu verstehen. Oberflächlich ist diese Bildung, da sie sich mit typischen Bildungsgegenständen wie Malerei, Musik, Dichtung etc. auseinandersetzt, die im Sinne Bourdieus Bildungskapital darstellen. Die Auseinandersetzung mit diesen Bildungsgegenständen dient aber nicht der Selbstentfaltung des Subjekts und seinen Kräften. Vielmehr wird Halbbildung als Anpassungsstrategie eingesetzt, um als gebildeter und kultivierter Mensch Ansehen zu gewinnen. Dabei erhält Bildung als Halbbildung einen warenförmigen Charakter, wenn sie beispielsweise in Form von Bildern und Klavierstunden käuflich erworben werden kann: „Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten. Das etwa entspräche ihrer Definition“ (Adorno 1959, S. 176). Mit der zunehmenden Bedeutung empirischer Bildungswissenschaften büßten die kritischen Erziehungswissenschaften an Relevanz ein, obgleich viele ihrer Forderungen (z.B. Emanzipation) noch heute Bildungskonzepte prägen.

4.4 Bildungstheorie und empirische Forschung Mit der Verabschiedung bildungstheoretischer Reflexionen im Feld empirischer Forschung verschwand Bildung „aus dem Blickwinkel des erziehungswissenschaftlichen Mainstream-Diskurses“ (Horlacher 2011, S. 92). Die Ausblendung bildungstheoretischer Reflexionen aus dem Feld empirischer Forschung führte dazu, dass das Verhältnis bildungstheoretischer Reflexionen zur Methodologie und Methode empirischer Forschung in der Bildungsforschung bis heute weitestgehend ungeklärt ist. Ein Effekt war, dass sich eine empirische Bildungsforschung ohne bildungstheoretische Bezüge etablierte. Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Bildung als erziehungswissenschaftlichem Leitbegriff scheint eine solche Lösung nicht zufriedenstellend. So stellt die Differenz zwischen bildungstheoretischen Reflexionen und empirischer Bildungsforschung

4.4 Bildungstheorie und empirische Forschung

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auch heute noch eine der zentralen Herausforderungen bei der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bildung dar. Bereits in den 1990er Jahren wurde diese Unverbundenheit zwischen bildungstheoretischen Reflexionen und empirischer Forschung problematisiert.

4.4.1 Eckpunkte der transformatorischen Bildungsforschung Aus der Herausforderung, bildungstheoretische Reflexionen empirischen, erziehungswissenschaftlichen Forschungsstrategien zugänglich zu machen, entwickelte sich der Ansatz einer transformatorischen Bildungsforschung. Bildung wird dabei als die ‚Veränderung von grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses‘ definiert. Gemäß dieser Definition beziehen sich „Bildungsprozesse […] ausschließlich auf die kognitive Dimension“ (Klika 2016, S. 49). Dies hat zur Folge, dass Bildung – anders als im Bildungsverständnis des Deutschen Idealismus – sich nicht von Kindesbeinen an vollzieht. So verfügen beispielsweise Kleinkinder noch nicht über die notwendigen kognitiven Kompetenzen, um ihr Selbst-/Weltverhältnis reflexiv zu ordnen und reflexiv zu revidieren bzw. zu transformieren: „Bildungsprozesse gäbe es, wenn überhaupt, frühstens im jungen Erwachsenenalter. Insofern könnten wir weder von frühkindlicher oder ästhetischer Bildung sprechen“ (Klika 2016, S. 50). Verstanden als Transformationen von Selbst-/Weltverhältnissen ist Bildung an die qualitative Biografieforschung anschlussfähig. Durch die Erhebung narrativer Interviews sowie narrationsanalytischer Verfahren und Strategien der dokumentarischen Methode – alles etablierte Ansätze in der qualitativen Sozialforschung – wird geprüft, ob beispielsweise die Konfrontation mit Problemlagen und deren Bewältigung zu einem neuen Selbst-/Weltverhältnis geführt haben. Ist dies der Fall, wird von Bildung gesprochen. In ihrem Selbstverständnis als (bildungs-)theoretisch fundierte qualitative Biografieforschung hat sich das transformatorische Bildungsverständnis in der qualitativ ausgerichteten erziehungswissenschaftlichen Forschung etabliert und wird oftmals synonym mit dem Begriff qualitative Bildungsforschung verwendet. Trotz der etablierten Verankerung der transformatorischen Bildungsforschung in der erziehungswissenschaftlichen Forschung wird Kritik an der fehlenden normativen Ausrichtung dieses Ansatzes formuliert. So hält Ahrens (2017) fest, dass sich die „transformatorische Bildungstheorie“ und die mit ihr verbundene „Formel von den ‚grundlegenden Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses‘ durch die Rezeption von unterschiedlichsten Autoren, gegen alle Wahrscheinlichkeit, Kritik und unbeantworteter Fragen zum Trotz, nun schon über Jahrzehnte und Generationswechsel weitgehend unverändert halten konnte“ (Ahrens 2017, S. 41). Ein zentraler Kritikpunkt, der an die transformatorische Bildungsforschung herangetragen wird, besteht darin, dass dieser Ansatz die normative Dimension von Bildung nicht angemessen berücksichtigt, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen Kraft und Freiheit ergibt. Ohne dieses Zusammenspiel kann sich Bildung im Sinne Humboldts nicht vollziehen. Bildung – so ein Kritikpunkt an dem transformatorischen Bildungsverständnis – ist mehr als nur die Veränderung von Selbst-/Weltverhältnissen.

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Diese normative Dimension wird aber in der transformatorischen Bildungsforschung zugunsten eines beschreibenden Bildungsverständnisses aufgegeben. Dabei werden Bildung und Lernen einander gegenübergestellt: Während Lernen Wissenserweiterung ist, stellt Bildung die grundlegende Neuordnung (nicht Erweiterung) von einem Selbstverständnis und der damit einhergehenden Weltsicht dar. Diese Differenzierung zwischen Lernen und Bildung beruht auf einem Bildungsverständnis, das Bildung als grundlegende Veränderung begreift. Diese grundlegende Veränderung – so die methodologischen Überlegungen im Rahmen der transformatorischen Bildungsforschung – sind nur retrospektiv zugänglich. Bildung lässt sich nicht in actu beobachten, sondern retrospektiv rekonstruieren. Daher wird zur Datenerhebung in der transformatorischen Bildungsforschung oftmals das narrative Interview eingesetzt, da in der Interviewform die ‚Biografieträger‘ maximalen Freiraum erhalten, um ihre Biografie zu erzählen. In der Analyse der Daten wird der Fokus darauf gerichtet, ob sich in den Narrationen der Biografieträger Indikatoren für die qualitative Veränderung eines Selbst-/Weltverhältnisses finden lassen: Biografieverläufe werden rekonstruiert und analytisch auf Indikatoren durchleuchtet, die auf einen grundlegenden Wandel eines Selbst-/Weltverhältnis verweisen. So hat Nohl (2006) in seiner Habilitation „Bildung und Spontaneität“ Bildungsprozesse anhand narrativer Interviews mit Akteuren aus verschiedenen Altersklassen rekonstruiert. Unter anderem zeichnet Nohl den Bildungsprozess der Grafikdesignerin Bettina S. nach: Nach einem DDRspezifischen Abschluss, der mit der mittleren Reife in der BRD verglichen werden kann, absolvierte Betinna S. auf Anraten der Mutter eine Lehre. Diese Lehre wurde von Betinna S. als bedrückend empfunden. Nach einer Kündigung und anderen Beschäftigungen wie als Kindergartenhelferin und als Angestellte in einem Second Hand-Kleidungsladen für benachteiligte Jugendliche war Bettina S. in Zeiten der Wende mit Erwerbslosigkeit konfrontiert. Durch eine vom Arbeitsamt finanzierte Trainingsmaßnahme entdeckte Bettina S. ihr Interesse am Computer. In einer Anstellung im Anschluss an die Qualifizierung lernte Bettina S. Anne M. kennen. Zusammen machten sie sich selbstständig und gründeten eine Grafikdesignagentur. Nohl sieht den Bildungsprozess von Bettina S. v.a. in dem Wandel von einer verunsicherten Person hin zu einer Geschäftsfrau, die für ihre Kompetenzen und Dienstleistungen als Unternehmerin eine angemessene Gratifikation erwartet. Anhand der Nachzeichnung des biografischen Verlaufs, der von Nohl als Bildungsprozess identifiziert worden ist, wird deutlich, dass transformatorische Bildungsforschung ein Subforschungsfeld der Sozialisations- bzw Biografieforschung darstellt: Bevorzugt werden dabei mit dem Ansatz der transformatorischen Bildungsforschung Biografien untersucht – und zwar vor allem solche, „in denen ein Subjekt mit ungeplanten, vor allem aber subjektiv bedeutsamen Herausforderungen konfrontiert wird“ (Ahrens 2017, S. 36). Ahrens verweist hier auf eine zentrale Umkehrung, welche die transformatorische Bildungsforschung auszeichnet: Anstatt, dass das Subjekt sich aktiv die Welt aneignet, greifen Erfahrungen/Erschütterungen auf das Subjekt zu, durch welche das Subjekt sein Selbst-/Weltverhältnis

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revidiert/transformiert. So stellt Koller (2017) fest, dass das „Konzept trasnformatorischer Bildungsprozesse […] einen Versuch zur Neufassung des Bildungsbegriffs“ darstellt, der Bildung als Krisengeschehen auffasst, das auf Erfahrungen reagiert, die sich der Bearbeitung mit bisher verfügbaren Mitteln widersetzen. Formelhaft verdichtet kann Bildung in diesem Sinne als Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses gelten, die sich in Auseinandersetzung mit Krisenerfahrungen vollzieht, die ein etabliertes Welt- und Selbstverhältnis in Frage stellen (Koller 2017, S. 63).

In einer solchen Perspektivierung von Bildung wird v.a. der reaktive Moment im Zuge der Selbst-/Weltaneignung thematisiert. Aspekte der aktiven Weltaneignung geraten derart in den Hintergrund: „Wenn aber solche Fälle bevorzugt gewählt werden, dann werden natürlich umgekehrt die Fälle vernachlässigt, in denen die aktive und nach außen gewandte Exploration der Welt am Anfang steht“ (Ahrens 2017, S. 36). Derart werden in der transformatorischen Bildungsforschung die normativen Aspekte ausgeklammert, die beispielsweise Humboldts Bildungsbegriff auszeichnen. Dies wird auch von Koller, selbst Vertreter eines transformatorischen bzw. strukturalen Bildungsverständnisses, problematisiert: „Welche normativen Kriterien erlauben es Bildung […] von bloßer Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen zu unterscheiden? Oder anders gefragt: Verdient jede Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen bereits den Namen oder müssten dazu zusätzliche Bedingungen erfüllt sein – und wenn ja, welche?“ (Koller 2012, S. 18f., Fußnote). Die Ausklammerung der normativen Implikationen bildungstheoretischer Positionen wird von einer Dichotomisierung zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung flankiert, die ihre Wurzeln v.a. in der ‚realistischen Wendung‘ der Erziehungswissenschaften haben dürfte. Der im Deutschen Idealismus verwurzelte Bildungsbegriff wird empirischem Forschen quasi dichotomisch gegenübergestellt. Exemplarisch geschieht dies, wenn Krinninger und Müller (2012) festhalten, dass sich das „[B]emühen, Bildungstheorie stärker empirisch zu fundieren“ (Krinninger & Müller 2012, S. 58) dadurch vollzieht, dass versucht wird, Bildungstheorie „von den normativen Vorgaben und idealistischen Ansprüchen zu befreien“ (ebenda). Im Zuge dieses Diskurses der ‚Empirisierung des Bildungsbegriffs‘ wird „Bildung als Veränderun[g] von Lebensorientierungen in den Blick“ (Marotzki & Tiefel 2013, S. 75) genommen. Neben der Ausklammerung normativer Aspekte des Bildungsbegriffs wird an der transformatorischen Bildungsforschung auch die Verengung auf kognitive Aspekte kritisiert: So „erscheint das bildungstheoretische Konzept Marotzkis deshalb für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung wenig zielführend, da der Bildungsbegriff unnötig auf die kognitiv-selbstreflexive Dimension als Wandel der Selbstidentität verengt wird“ (Klika 2016, S. 55). Transformatorische Bildungsforschung weist – wie bereits festgestellt – eine signifikante Nähe zur Biografie-

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forschung auf. Da jeder Wandel eines Selbst-/Weltverhältnisses als Bildungsprozess identifiziert werden kann, wird allerdings von Kritikern problematisiert, dass beispielsweise Horst Mahlers Wandel vom 1968er Aktivisten zum rechten Demagogen auch als Bildungsprozess zu identifizieren sei (vgl. Stojanov 2006). Die normative Dimension, die gemäß Humboldt Bildung auszeichnet, wird weder von der transformatorischen Bildungsforschung noch von einer quantitativ-empirischen Bildungsforschung ausreichend thematisiert. Dieser Umstand führt zu anhaltenden Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen eines konstruktiven Dialogs zwischen bildungstheoretischen Reflexionen sowie den Methoden und Erkenntnisperspektiven empirischer Bildungsforschung.

4.4.2 Zwischen Bildungstheorie und Sozialwissenschaft – Oder: Über die integrative Bildunsgforschung In Auseinandersetzung mit den normativen Aspekten der Bildungstheorie wurde jüngst der Ansatz der ‚integrativen Bildungsforschung‘ entwickelt (vgl. Kergel 2018; Heidkamp & Kergel 2018). Die integrative Bildungsforschung basiert im Sinne interdisziplinären Forschens auf einem Transfer von Begriffen aus dem Bereich bildungstheoretischer Reflexionen in die Sphäre empirischer Sozialforschung. Die Verknüpfung bildungstheoretischer Reflexionen mit sozialwissenschaftlicher Forschung ermöglicht es, dass „auch die Grundlagentheorien und Grundbegriffe durch die empirische Untersuchung herausgefordert und gegebenenfalls Veränderungen unterzogen werden können“ (Nohl 2016, S. 108). Zugleich kann empirische Bildungsforschung epistemologisch sowie normativ fundiert werden. Die grundlegende methodologische Überlegung der integrativen Bildungsforschung besteht in der These, dass sich • Schnittflächen zwischen bildungstheoretischen Reflexionen sowie den • empirisch operationalisierbaren Konzepten empirischer Sozialforschung identifizieren und • konkret für die Bildungsforschung nutzbar machen lassen. Der methodologische Ausgangspunkt für dieses integrative Zusammenführen verschiedener Forschungsstrategien besteht in der Überlegung, dass Bildung eine bestimmte Art und Weise bzw. einen ‚Modus‘ bezeichnet, mit dem sich die Individuen ihre Umwelt aneignen und sich als Subjekte entfalten. Humboldt versteht diesen Modus als ein Zusammenwirken von Kraft und Freiheit. ‚Kraft‘ wird im Zuge der Öffnung bildungstheoretischer Überlegungen für die empirische Forschung mit dem Konzept ‚explorative Neugier‘ in Verbindung gesetzt, während Freiheit mit dem Konzept der ‚Selbstwirksamkeitserwartungen‘ empirisch ausgedeutet wird. Durch diese Identifikation von Begriffsäquivalenzen wird es möglich, die normative Dimension von Bildung auch im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bildung angemessen zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit, Begriffsäquivalenzen zu identifizieren,

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ergibt sich aus dem Umstand, dass die empirische (Bildungs-)Forschung ihre grundlagentheoretische Fundierung in der Soziologie sowie Psychologie und nicht in der Bildungsphilosophie hat (vgl. dazu auch Nohl 2016, S. 109). Integrativ ist dieser Ansatz, da erkenntnistheoretische bzw. bildungstheoretische Reflexionen mit Strategien qualitativer Sozialforschung im Sinne eines interdisziplinären Forschens synergetisch verknüpft werden. Diese integrative Klammer lässt sich wie folgt zusammenfassen: • Die Rückbindung auf bildungstheoretische Positionen ermöglicht eine Öffnung der erkenntnistheoretisch fundierten, normativen Aspekte des Bildungsbegriffs für die empirische Bildungsforschung. • Zugleich wird eine epistemologische/bildungstheoretische Schärfung des Erkenntnisgegenstandes geleistet. • Durch sozialwissenschaftliche Methoden können bildungstheoretische Positionen empirisch thematisiert und derart falsifiziert, validiert und erweitert werden. Diese integrative Klammer fokussiert v.a. auf die ‚Empirisierung‘ der Begriffe Kraft und Freiheit als Bildungsmerkmale. Im Folgenden werden explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartngen als emprische Bildungsmerkmale von Bildung vorgestellt. Explorative Neugier als Bildungsmerkmal Explorative Neugier ist durch eine aktive Auseinanderdersetzung des Subjekts mit der Welt und mit sich selbst definiert, in welcher das Subjekt Wissen über sich und die Welt konstruiert. Dabei lässt sich explorative Neugier im Sinne einer anthropologischen Konstante als angeboren verstehen: Ohne Exploration ist eine kognitive und emotionale Entwicklung des Menschen nicht möglich. Explorative Neugier zeigt sich in einem neugierigen, erkundenden Verhalten gegenüber der Welt. Eine derartige explorative Neugier und die damit einhergehende Wissenskonstruktion stellt für Humboldt den Treiber von Bildung dar. So „dringt“ das „innere Wesen des Menschen“ bzw. „seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen“ (Humboldt 2017, S. 8). In der Auseinandersetzung mit der „Masse der Gegenstände“ bringt der Mensch sich diese Gegenstände „selbst näher“ (ebenda). Der Mensch eignet sich die Gegenstände an, indem er sich eine Vorstellung von ihnen macht bzw. sie in sein Wissensuniversum eingliedert: Seine Wissenskonstruktionen, seine Erklärungen müssen in ein viables/passendes Verhältnis gebracht werden. So muss der Mensch den Gegenständen bzw. „diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beides einander ähnlicher machen“ (Humboldt 2017, S. 8).35 Bei der Bestimmung explorativer Neugier als Bildungsmerkmal wird die Dichotomie ‚Erziehung/Bildung‘ relevant: Böhm bringt die Differenz zwischen Bildung und Erziehung auf den Punkt, wenn er feststellt: 35 Piaget (1975) beschreibt diesen Prozess als Wechselwirkung aus Akkomodation und Assimilation.

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„Bildung ist Selbstvollzug, genauer Selbstbestimmung des Menschen, während dieser in der Erziehung ebenso wie in der Gesetzgebung und objektiver Religion einer Fremdbestimmung unterliegt“ (Böhm 2010, S. 91, H.i.O.). Explorative Neugier kann als Form des ‚Selbstvollzugs‘ gedeutet werden, durch den sich das Subjekt in seinem Inder-Welt-Sein mit sich Selbst und der Welt auseinandersetzt. Anders als in den Ansätzen der transformatorischen Bildungsforschung, die einen präreflexiven Bildungsvollzug ausklammert, vollzieht sich Bildung im Sinne des integrativen Bildungsverständnisses auch präreflexiv: So zeigt sich explorative Neugier bereits bei Säuglingen, die wenige Tage alt sind: Sie nehmen sich der Herausforderung des Verstehens der Welt mit aller ‚Kraft‘ an – „Die frühkindliche Bildungssituation wird in hohem Maße dadurch bestimmt, dass kleine Kinder zunächst in allen Bereichen der Welt- und Lebenserfahrung Neulinge sind“ (Schäfer 2014, S. 115). So lässt sich anhand von experimentellen Designs herausarbeiten, inwieweit sich bereits Säuglinge explorativ-neugierig mit der Welt auseinandersetzen: Man kann Babys etwa verschiedene Arten von Bildern zeigen und beobachten, wo sie hinschauen. Die Babys werden sich komplexen, kontrastreichen Mustern zuwenden und von einfachen, kontrastarmen Mustern abwenden. Schachbretter und das schwarze Zentrum von Schießscheiben scheinen für das ästhetische Empfinden von Neugeborenen das Allergrößte zu sein (Gopnik, Meltzoff & Kuhl 2007, S. 85).

Die explorative Neugier zeigt sich in einer Offenheit bzw. in einer Exploration, die keine Schranken kennt und sich nicht starr nach präfigurierten Interpretationsmuster richtet, in denen Phänomene eingeordnet werden: So sind Säuglinge „in der Situation, dass sie Erfahrungsmuster erst entwickeln. Dies können sie dadurch, dass sie immer wieder Erfahrungen machen, die sie mit Hilfe ihrer Beziehungspersonen und des weiteren, kulturellen Umfeldes strukturieren“ (Schäfer 2014, S. 115). Der problematisierende Säugling als bildungstheoretische Sozialfigur Die Grenzenlosigkeit des Denkens bzw. explorativer Neugier, die Bildung auszeichnet, ist ein zentrales Merkmal des Säuglings. Der Säugling wird derart zur Sozialfigur des neugierigen Subjekts – exemplarisch geschieht dies bei Nietzsche: Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, ein heiliges Ja-Sagen. Ja, zum Spiel des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-Sagens: seinen Willen nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene (Nietzsche 1960b, S. 294, H.i.O.).

Säuglinge sind noch jenseits jeder symbolischen Ordnung, die Welt liegt bedeutungs- und erkenntnisoffen vor ihnen. Aus dieser Perspektive avancieren sie – ganz im Sinne eines idealisierenden-romantischen Verständnisses vom Kind – zu Symbolen für eine Erkenntnis ohne Grenzen. Eine derartige Überhöhung des Kindes basiert auf einer Erkenntnisoffenheit ‚jenseits von ‚Gut und Böse‘. Dieses Verständnis von Erkenntnisoffenheit, welches ein Merkmal der philosophischen Überhöhung des Kindes ist, findet

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eine Entsprechung in der Beschreibung empirischer Lernprozesse von Neugeborenen: „Erfahrungen muss man immer da machen, wo ein Bereich neu und gedanklich unerschlossen ist, also in den Bereichen, in welchen man ein Neuling – Novize ist. Neugeborene sind nun Neulinge in allen Bereichen des Lebens und dafür ausgestattet, von Anfang an durch Erfahrungen zu lernen“ (Schäfer 2014, S. 130). Der Vergleich von Nietzsches Reflexionen zur philosophischen Bedeutung des Neugeborenen mit Schäfers Überlegungen zu den Lernherausforderungen von Neugeborenen zeigt paradigmatisch die doppelte Stoßrichtung bildungstheoretischer Forschung auf, die zwischen epistemologischer Reflexion und pädagogischer Praxis oszilliert. Explorative Neugier ermöglicht eine performative Verjüngung des Bildungssubjekts, das neue Perspektiven auf die Welt und sich Selbst entwickelt. Das eigene Selbst-/Weltverhältnis steht nicht still, sondern ‚verjüngt‘ sich, indem auf der Grundlage explorativer Neugier stets neue Perspektiven auf die Wirklichkeit eingenommen werden. Schäfer spricht hier von einer „Liminalität von Bildungsprozessen“ (Schäfer 2019, S. 123). Der Begriff der Liminalität entsammt der Ethnografie und bezeichnet einen Zwischenraum bzw. einen Schwellenzustand, in dem sich Subjekte von der symbolischen Ordnung gelöst haben. Schäfer überträgt diesen Begriff als Denkfigur auf den Bildungsprozess: Durch Bildung werden das Selbst und die Welt – und die damit verbundenen symbolischen Ordnungen – stets neu gedacht: „Es handelt sich dann eher um so etwas wie das Offenhalten des Problematischen, das mit dem Titel der Bildung versehen wird“ (Schäfer 2019, S. 129). ‚Problematisch‘ lässt sich dabei mit Bezug auf die Wortherkunft (griech. Próblema/das Vorgeworfen, das Vorgelegte; zur Lösung vorgelegtes) als explorativ-neugierige Auseinandersetzung mit Welt interpretieren: Die Welt, ihre symbolische Ordnung, die eigene Position in dieser Ordnung werden stets neu perspektiviert und neu verortet bzw stets aufs Neue problematisiert. Als Resultat ist das Bildungssubjekt im steten Wandel begriffen und lässt sich nicht final in den subjektivierenden Kategorien symbolischer Ordnung verorten: „Bildungsprozesse finden dann dort statt, wo das Subjekt sowohl als Träger der symbolischen und sozialen Ordnungen, zu denen es sich in ein Verhältnis setzt, verschwindet“ (Schäfer 2019, S. 123). Der Effekt ist eine „Ortlosigkeit des ‚Subjekts‘“ (Schäfer 2019, S. 123). Als Konsequenz ist das Subjekt im stetigen Werden, fängt stets von vorne an und ist nie mit der explorativ-neugierigen Auseinandersetzung ‚fertig‘: „Bildung bleibt so eine problematisierende Perspektive, die ihren Stachel und Motor in einer uneinlösbaren Subjektfigur findet“ (Schäfer 2019, S. 129). Das Bildungssubjekt ist aus epistemologischer Perspektive ein stetiger Anfänger bzw. bringt sich immer wieder neu hervor. Selbstwirksamkeitserwartungen als Bildungsmerkmal Schäfer (2014) weist darauf hin, dass „[j]ede Erfahrung eines Menschen […] eine Erfahrung in einem sozialen Kontext“ (Schäfer 2014, S. 88) darstellt: „Soziale Beziehungen ermöglichen oder verhindern, erleichtern oder erschweren Lernerfahrungen“ (ebenda). So wird das Explorationsverhalten von Säuglingen und Kleinkindern auch

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durch eine ‚sichere Bindung‘ gefördert – also durch das Gefühl, mittels primärer Bezugspersonen wie beispielsweise den Eltern über soziale/emotionale Ressourcen zu verfügen, der Welt nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Aus bildungsorientierter Sicht sind ‚Erwachsene‘ als Bildungsbegleiter gegenüber Kindern in der ethischen Pflicht: „Erwachsene strukturieren die Bedingungen, wie weit sich Kinder selbstständig auf einen Erfahrungsraum einlassen können“ (Schäfer 2014, S. 88). Der Bildungsbegleiter steht vor der Herausforderung, den Bildungssubjekten ein selbstgesteuertes Lernen zu ermöglichen, welches auf explorativer Neugier basiert und das Subjekt nicht überfordert: Die Freiheit des Bildungssubjekts zeigt sich in dessen Selbstwirksamkeitserwartungen: Es fühlt sich der Welt nicht ohnmächtig ausgeliefert, sondern erlebt sich in der Auseinandersetzung mit der Welt als wirkmächtig und handlungsstark – es erlebt sich wiederholt als selbstwirksam und bildet auf Grundlage dieser Erfahrung Selbstwirksamkeitserwartungen aus. Neben explorativer Neugier, die als empirisch fundiertes Konzept das sozialwissenschaftliche Äquivalent zum bildungstheoretischen Begriff ‚Kraft‘ bildet, tritt die Selbstwirksamkeitserwartung. Als empirisch fundiertes Konzept lässt sich die Selbstwirksamkeitserwartung als Äquivalent zum bildungstheoretischen Begriff ‚Freiheit‘ verstehen. Das von dem Sozialpsychologen Bandura entwickelte Konzept generalisierter Wirksamkeitserwartungen bzw. das Konzept ‚Selbstwirksamkeit‘ kann folglich als empirisch beforschbare Repräsentation von Freiheit im Sinne Humboldts verstanden werden. Selbstwirksamkeit lässt sich als Überzeugung definieren, in einer Situation angemessene Verhaltensresultate zu erreichen. In anderen Worten: Selbstwirksamkeitserwartung bezeichnet die Selbstwahrnehmung, über die eigenen Kompetenzen bzw. Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verfügen, die benötigt werden, um eine Situation zu bewältigen: „Eine große Bedeutung haben dabei die Erwartungen, ob das eigene Handeln zu Effekten führt oder nicht. Diese Erwartungen steuern schon im Vorhinein das Herangehen an Situationen und Aufgaben“ (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse 2014, S. 45). Selbstwirksamkeitserwartungen verweisen auf Freiheitserfahrungen: Das Individuum fühlt sich der Welt nicht hilflos ausgeliefert, sondern besitzt die Zuversicht, die Herausforderungen der Welt zu bewältigen. The strength of people’s convictions in their own effectiveness is likely to affect whether they will even try to cope with given situations. At this initial level, perceived self-efficacy influences choice of behavioral settings. People fear and tend to avoid threatening situations they believe exceed their coping skills, whereas they get involved in activities and behave assuredly when they judge themselves capable of handling situations that would otherwise be intimidating. Not only can perceived self-efficacy have directive influence on choice of activities and settings, but, through expectations of eventual success, it can affect coping efforts once they are initiated (Bandura 1977, S. 193f.).

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Selbstwirksamkeitserwartungen lassen sich im Sinne eines performativen Zirkels verstehen: So stellen Selbstwirksamkeitserwartungen zugleich Ergebnis als auch Voraussetzung von Interaktions- bzw. Lernprozessen dar, in denen sich das Subjekt als handlungsmächtig bzw. selbstwirksam erlebt. So steuern Selbstwirksamkeitserwartungen „schon im Vorhinein das Herangehen an Situationen und Aufgaben, damit auch die Art und Weise der Bewältigung, und führen so oftmals zu einer Bestätigung des eigenen Selbstwirksamkeitserlebens“ (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse 2014, S. 45). Die Identifizierung von explorativer Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen als empirische Bildungsmerkmale hat auch Konsequenzen für eine bildungsorientierte Didaktik: Für eine bildungsorientierte Didaktisierung von Lehr-/Lernszenarien ergibt sich die Herausforderung, kontrollierbare Lernsituationen bzw. Lernräume zu gestalten, welche die Lernenden herausfordern und zugleich lösbare Aufgaben als Bildungsangebote anbieten. Derart wird es didaktisch kontrolliert möglich, Lernenden ein wiederholtes Erleben von Überforderung und Versagen sowie ein Fehlen von Bildungsimpulsen zu ersparen. Durch diese didaktischen Strategien kann sich das Subjekt in explorativ-aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt als selbstwirksam erleben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, • dass aus bildungstheoretischer Perspektive Kraft und Freiheit und • aus empirisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartung den Modus des Erlebens darstellen, der Bildungserleben auszeichnet. Explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen zeichnen sich über die Erlebensdimension aus, die auch Bildung zu eigen ist und lassen sich in ihrer Wechselwirkung als Form des Bildungserlebens definieren. Dieses Bildungserleben kann mit den Worten des Junghegelianers und verkannten Bildungstheoretikers Max Stirner beschrieben werden: „Und je mehr Wir Uns fühlen, desto kleiner erscheint, was zuvor unüberwindlich dünkte.“ (Stirner 1970, S. 39). Auf dieser epistemologischen Grundlage integrativer Bildungsforschung aufbauend, lassen sich zentrale Begriffe entwickeln, mit denen sich Bildung im Sinne integrativer Bildungsforschung thematisieren lässt. Zentrale Begriffe integrativer Bildungsforschung Vor dem Hintergrund des Konzepts des Bildungserlebens und mit Bezug auf die Bildungsmerkmale Kraft und Freiheit/explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen lassen sich mit dem Konzept der Bildungsdynamik, des Bildungsprozesses und des Bildungslernens zentrale Begriffe integrativer Bildungsforschung entwickeln: • Der Begriff Bildungsdynamik bezeichnet die Entfaltung von Bildung in Form eines Zusammenwirkens von explorativer Neugier/Kraft und Selbstwirksamkeitserwartungen/Freiheit in Interaktionen. Mit dem Begriff der Dynamik wird dabei auch der zentrale, bildungstheoretische Begriff der Kraft aktualisiert: So be-

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• • • •



zeichnet das Wort Dynamik im Altgriechischen soviel wie Kraft. Bildungsdynamiken lassen sich als Zusammenspiel von Kräften bzw. von Elementen/Akteuren verstehen, die Interaktionen prägen, die durch explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen geprägt sind. Bei der Analyse von Bildungsdynamiken lässt sich der Forschungsfokus durch Fragen schärfen, die die Interaktionen thematisieren: Wie ist die Beziehung zwischen den Akteuren strukturiert? Wie verhalten sich die Akteure zueinander? Wie nehmen sie Bezug aufeinander? (vgl. Kergel 2018, S. 37). Ein Bildungsprozess ist als ein längerer und gerichteter Ablauf definiert, im Rahmen dessen Subjekte Selbst-/Weltverhältnisse entfalten, welche auf Bildungserleben basieren. Bildungsprozesse lassen sich aus dieser Perspektive als längerfristige Lernprozesse verstehen, die Formen des Bildungslernens aufweisen – also die im Lernprozess auf dem Bildungserleben beruhen, welches sich aus dem Zusammenwirken von explorativer Neugier/Kraft und Selbstwirksamkeitserwartungen/Freiheit ergibt. Anders als Bildungsdynamiken ist der Bildungsprozess weniger in actu zu beobachten als vielmehr retrospektiv rekonstruierbar. Bildungslernen ist als ein Lernen definiert, welches die Bildungsmerkmale Kraft und Freiheit bzw. explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen aufweist. Basal lässt sich Lernen als nachhaltige Veränderung des Verhaltens bzw. Verhaltenspotenzials fassen (vgl. dazu Winkel, Petermann & Petermann 2006; Faulstich 2008, S. 33). Aus bildungstheoretischer Perspektive wird durch Lernen das Wissen über sich und die Welt erweitert. Wissen und Bildung stehen dabei in einem spezifischen Verhältnis zueinander: Aus sozio-konstruktivistischer Perspektive bezeichnet Lernen den Prozess der Wissenskonstruktion im sozialen Kontext. Aus bildungstheoretischer Perspektive vollzieht sich Bildung aus einer spezifischen Modalität sozio-konstruktivistischen Lernens. Bildungslernen ist folglich ein sozio-konstruktivistisches Lernen, das sich im Sinne des Bildungserlebens aus explorativer Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen heraus vollzieht (vgl. dazu eingehender 5.6.4). Das explorativ-neugierig lernende und sich dabei bildende Subjekt erlebt sich im sozialen Kontext von Bildung als selbstwirksam, es erfährt sich der Welt gegenüber als nicht ausgeliefert. In der Auseinandersetzung mit der Welt kann das Subjekt seine explorative Neugier entfalten. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werden Lernprozesse, die als Modus das Bildungserleben aufweisen, als Bildungslernen bezeichnet und können als Praxisvollzug von Bildung definiert werden. Aus dieser Perspektive geht Lernen in Bildung auf und vice versa.

Gerade der Aspekt des Bildungslernens stellt für eine bildungsorientierte Didaktik und die Gestaltung von Bildungsräumen ein zentrales Element dar. Aus diesem Grund wird das Phänomen des Bildungslernens anhand des ‚Kontinuums des Bildungslernens‘ eingehender thematisiert.

4.4 Bildungstheorie und empirische Forschung

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Das Kontinuum des Bildungslernens Der Begriff des Bildungslernens wurde mit dem Kontinuum des Bildungslernens weiter ausdifferenziert bzw. modelliert (vgl. Kergel 2018). Das Kontinuum des Bildungslernens modelliert Bildung als performativen Geneseprozess in verschiedenen Phasen kognitiv-emotionaler Entwicklung. Dabei fußt das Modell auf der Prämisse, dass Bildung sich zu jedem Zeitpunkt und in jeder Phase kognitiver sowie emotionaler Entwicklung vollziehen kann. Mit den verschiedenen kognitiven und emotionalen Entwicklungsständen geht auch jeweils eine spezifische Ausgestaltung des Bildungslernens einher. Basal ist das Kontinuum des Bildungslernens in drei Stufen untergliedert: • entdeckendes Lernen, • selbstreguliertes Lernen und • forschendes Lernen. Diese drei Stufen werden im Folgenden skizziert. Entdeckendes Lernen Die Stufe des entdeckenden Lernens ist von einer aktiven Auseinandersetzung des Subjekts mit der Umwelt geprägt, im Zuge derer ein Selbst-/Weltverhältnis konstruiert bzw. präreflexiv erlebt wird. Empirisch lässt sich das entdeckende Lernen v.a. am explorativen Verhalten beobachten – z.B. bei Säuglingen. Die Welt liegt erkenntnisoffen vor dem Subjekt. Schemata/Kategorien, die die Welterfahrung strukturieren, präfigurieren in dieser Phase nur zu einem geringen Maße die Selbst-/Welterfahrung des Subjekts.36 Selbstreguliertes Lernen Das selbstregulierte Lernen nimmt eine Mittlerfunktion ein. Von intuitiven Lernstrategien gelangt das Subjekt zu einem reflektierten Umgang mit seinem Lernen. Das selbstregulierte Lernen ist folglich durch eine verstärkte Metareflexion des Lernens geprägt (vgl. Zimmermann & Schunk 2011). Dabei ist Selbstregulation durch „Zielorientierung und Mobilisierung von Ressourcen und Anstrengungsbereitschaft“ bestimmt, die es ermöglichen, „die Ziele zu erreichen. Wenn die Ziele Lernen erfordern, handelt es sich um selbstreguliertes Lernen“ (Woolfolk 2014, S. 367). Das entdeckende Lernen geht im selbstregulierten Lernen auf. Im selbstregulierten Lernen setzen sich Lernende selbst Lernziele, initiieren aus sich heraus einen strukturierten Lernprozess, den sie responsiv-formativ steuern.37 Mit Bezug auf Piagets genetische Entwicklungstheorie (1975) lässt sich diese Phase in weitere Subphasen untergliedern. Hier reicht die Phase der sensomotorischen Intelligenz ca. vom ersten bis zum zweiten Lebensjahr, die Phase der präoperationalen Intelligenz ca. vom zweiten bis zum siebten Lebensjahr (vgl. dazu eingehender Heidkamp & Kergel 2018). 37 Die Steuerung des eigenen Lernprozesses erfordert metakognitive Kompetenzen. In Anschluss an Piaget (1975) werden die eingeforderten Kompetenzen für diese Metareflexion im Zuge der

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Forschendes Lernen Im forschenden Lernen wird Wissen forschungsmethodisch fundiert.38 Für den Lernprozess kann auf Erkenntnisstrategien und wissenschaftliche Gütekriterien zurückgegriffen werden, durch die forschendes Lernen zu einem wissenschaftlichen Lernprozess wird (vgl dazu Kergel & Heidkamp 2015).

Entdeckendes Lernen Neugier Exploratives Verhalten

Abb. 9

Selbstreguliertes Lernen Organisation des eigenen Lernprozesses Formulieren eigener Lernziele Entwickeln von Lernstrategien, die reflexiv eingesetzt werden

Forschendes Lernen Lernen unter Einbeziehung von methodologischen Reflexionen und methodischen Strategien bzw. Aktualisierung einer wissenschaftlichen Haltung gegenüber Wissenskonstruktionen

Schmematische Darstellung des Kontinuus des Bildungslernens (eigene Darstellung).

Erlangung formal-operationaler Kompetenzen ausgebildet (ca. ab 11 Jahre). Grundlagen werden bereits in der vorgelagerten konkret-operationalen Entwicklungsphase gelegt (ca. 7-11 Jahre). 38 Mit Bezug auf Piagets entwicklungspsychologisches Model lässt sich die forschende Form der Wissensgenerierung als Elaboration der kognitiven Operationen interpretieren, die in der formaloperationalen Phase entwickelt werden (ca. ab 11/12 Jahren). In dieser Phase wird abstraktes/hypothetisches Denken entwickelt, ausgebaut und erweitert. Problemstellungen werden in Form hypothetischer/theoretischer Herangehensweisen bearbeitet.

5 Bildungsethik

5 Bildungsethik

5.1 Die Frage nach dem Anfang Eine Zielsetzung integrativer Bildungsforschung ist ein interdisziplinäres Forschen an der Schnittfläche zwischen Bildungstheorie und empirischer Sozialwissenschaft. Diese Zielsetzung gilt auch für die Auseinandersetzung mit der ethischen Dimension von Bildung bzw. für die Formulierung einer Bildungsethik – „Die Ethik ist die Theorie des Handelns“ (Sartre 2005, S. 47). Im Kontext der vorliegenden Studie wird auf die normative Ethik fokussiert. Im Feld der normativen Ethik setzt sich ethisches Forschen mit dem Soll-Zustand individueller Interaktionen, gesellschaftlicher Konstellationen und sozialem Handeln auseinander. Aus der Perspektive einer normativen Ethik gibt Ethik theoretisch fundierte Orientierungspunkte für die (pädagogische) Praxis. Als praktischer Zweig der Philosophie ist ethisches Forschen an der sozialen Praxis orientiert. Die Ethik, so Reichenbach, ist „ohne Praxis […] nichts“ (Reichenbach 2018, S. 25). Dieser Praxisorientierung ist auch die Bildungsethik verpflichtet. Aufgrund der Praxisorientierung liegt eine empirische Öffnung der Fragestellungen normativer Ethik nahe. Unter bildungstheoretischem Vorzeichen und im Sinne des interdisziplinären Forschungsansatzes der integrativen Bildungsforschung wird mit der Bildungsethik eine solche empirische Öffnung der normativen Ethik geleistet: Im Sinne der empirischen Öffnung bildungstheoretischer Reflexionen besteht ein Fokus der Bildungsethik darin, empirische Zugänge zur Bildungsethik zu schaffen. Der Ansatz der Bildungsethik ermöglicht die normative Dimension von Bildung empirisch zu fundieren. Zugleich können bildungstheoretische Überlegungen zur Ethik für empirische Analysen geöffnet werden. Grundsätzlich bezeichnet Bildungsethik die Perspektivierung von Bildung nach ethischen Aspekten. Um die ethische Dimension des integrativen Bildungsverständnisses herauszuarbeiten, kann – wie bei der Operationalisierung der Bildungsmerkmale explorative Neugier/Kraft und Selbstwirksamkeitserwartung/ Freiheit – eine interdisziplinäre Perspektive nutzbar gemacht werden: „In der Frage der Moral sind empirische Forschung und philosophische Reflexion aufeinander verwiesen“ (Edelstein & Nunner-Winkler 2000, S. 10). In dieser interdisziplinären Verortung von (bildungs-)ethischem Forschen stellt sich die Frage nach einem Anfang: „Was […] könnte ein Indikator für die Existenz einer moralischen Norm sein? Ich © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Kergel, Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten, Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1_5

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schlage moralische Gefühle vor“ (Montada 1993, S. 261). Montadas Vorschlag ist an das Verständnis einer präreflexiven Dimension von Bildung anschlussfähig, auf die auch Klika hinweist: „Der Bildungsprozess des Individuums beginnt vorsprachlich“ (Klika 2016, S. 53). Hier stellt sich die Frage, wie wir als Subjekte, die durch Erziehungskonstellationen Subjektivierungsdynamikenprozessen ausgesetzt sind, moralische Gefühle analysieren sollen? So haben „Emotionen […] eine Geschichte“ (Nussbaum 2000, S. 82), was es schwer macht, als emotionale Wesen objektiv und ohne zu starke Bias über Emotionen zu sprechen. Um ‚einen Anfang zu machen‘ bzw. den Beginn der moralischen Entwicklung ‚vor der Geschichte‘ empirisch zu rekonstruieren, wird im Folgenden auf die frühkindliche Bildung zurückgegriffen. Gerade anhand der frühkindlichen Bildung lassen sich die ästhetische und ethische Dimensionen von Bildung exemplarisch aufarbeiten. Die methodische Herausforderung besteht darin, trotz unserer jeweils eigenen Emotionssozialiserung eine weitestgehend objektive Perspektive auf (moralische) Emotionen einzunehmen. Hier hilft die Phänomenologie als Analysemethode.

5.2 Exkurs – Phänomenologie als Methode Methodisch können moralische Gefühle phänomenologisch betrachtet werden. Als epistemologische Erkenntnisstrategie ermöglicht die von Husserl entwickelte Phänomenologie – die „eher eine Methode als ein Theoriesystem“ (Bakewell 2018, S. 56) darstellt – eine wertfreie Auseinandersetzung mit moralischen Gefühlen. Dabei lässt sich die Phänomenologie in den Kontext sozio-semiotischer Forschung einordnen, da sie einen reflexiven Zugang zu der symbolischen Ordnung ermöglicht, um diese möglichst vorurteilsfrei zu beschreiben. Bakewell spricht hier ganz im Sinne engagierter Wissenschaft von den „subversiven Tendenzen der Phänomenologie“ (Bakewell 2018, S. 332): „Husserls Ruf nach Rückkehr ‚zu den Sachen selbst‘ war ja die Aufforderung, jede Ideologie […] abzulehnen, in der ‚Epoché alle Dogmen auszuklammern und kritische Selbstverantwortung zu übernehmen“ (Bakewell 2018, S. 332, zur Epoché siehe weiter unten). Diese ‚subversive‘ Dimension der Phänomenlogie erschließt sich, wenn wir uns auf den Begriff des Phänomens einlassen, wie die Phänomenologie ihn fasst: Der Begriff Phänomen hat seine Wurzeln im Griechischen und lässt sich im weitesten Sinne mit ‚ans Licht kommen, sich zeigen‘ übersetzen (vgl. Schönwälder-Kuntze 2015, S. 62). Eine wesentliche Zielsetzung der Phänomenologie besteht darin, die Welt als Erscheinendes wissenschaftlich-analytisch zu erfassen. Dabei bezeichnet der Begriff Phänomen „jedes gewöhnliche Objekt oder Ereignis, wie es sich unserer Erfahrung präsentiert, und nicht, wie es in Wirklichkeit sein könnte oder nicht sein könnte“ (Bakewell 2018, S. 56, H.i.O.). Die Welt zeigt sich in Phänomenen bzw. unser Bewusstsein nimmt die Welt in Form von Phänomenen wahr – „Das Phänomen ist, wie sich der Gegenstand unmittelbar zeigt, wie er scheinbar ist“ (Zahavi 2007, S. 13, H.i.O.).

5.2 Exkurs – Phänomenologie als Methode

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In einem ersten Schritt richtet die Phänomenologie als Methode ihren Fokus auf die Beschreibung von Phänomenen: „Die Phänomenologie ist nun in der Tat eine reine deskriptive, das Feld des transzendental reinen Bewußtseins in der puren Intuition durchforschende Disziplin“ (Husserl 1992, S. 127). Bei der Phänomenologie geht es folglich um die Erfahrungen des Bewusstseins durch das Erscheinen von Phänomenen: „Die Sachen selbst sind eben die unterschiedlichen Formen oder Bewusstseinsarten, in denen sich das Bewusstsein intentional auf etwas bezieht, in denen es Erfahrungen macht“ (Schönwälder-Kuntze 2015, S. 64). Damit gerät die Lebenswelt in den Fokus epistemologischer Analysen: „Die Phänomenologie geht zurück auf die lebensweltliche Erfahrung, die systematisch vorgängig zur Wissenschaft und zum subjektiven Bewusstsein anzusetzen ist. Weder die Wissenschaft noch das Bewusstsein bildet etwas ‚Erstes‘, sondern vielmehr etwas kompliziertes Abgeleitetes“ (Hastedt 2005, S. 34). In unserem alltäglichen In-der-Welt-Sein interpretieren wir Phänomene gemäß unserer Werteeinstellungen. Oftmals beschreiben wir die Dinge nicht einfach nur, sondern interpretieren sie auch. Wenn ein Kind weint und schreit, ‚Ich will Eis‘, liegt die Interpretation nahe, dass das Kind im Sinne Kohlbergs narzisstisch und bedarfgesteuert ist. Das schreiende Kind, welches das Eis fordert, stellt das Phänomen dar, welches wir schnell gemäß unserer Werte und Kategorien interpretieren. Die Phänomenologie gibt uns das methodische Rüstzeug an die Hand, um uns bei der Analyse der Welt als Erscheinendes von den Werten und Kategorien zu distanzieren. Derart können wir einen unverstellt analytischen Blick auf die Phänomene jenseits von Werten und Kategorien sowie Vorurteilen etc. erlangen. Dieser phänomenologische Blick ist auch ein analytisch-distanzierender Blick: In unserem Alltag nehmen wir die Werte im Sinne einer Beobachtung erster Ordnung wahr. Durch unser Alltagswissen kategorisieren wir die Phänomene. Mit der Phänomenologie steht eine Methode zur Verfügung, eine distanzierende Beobachtung zweiter Ordnung durchzuführen. Die ‚blinden Flecken‘ bei der Wahrnehmung von Phänomenen können auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung identifiziert werden. Derart wird es möglich, Phänomene jenseits von Vorurteilen zu erfassen. Um dies zu leisten, entwickelte Husserl die Methode der phänomenologischen Reduktion bzw. der Epoché (griech./ anhalten). Die Epoché besteht darin, dass der analytische Blick auf die „reinen Gegebenheitsformen des Bewusstseins selbst“ (Schönwälder-Kuntze 2015, S. 66) gerichtet wird: In der Epoché wird das Phänomen jenseits der Vorurteile erfasst. Im obigen Beispiel, in dem das Kind ein Eis einfordert, stehe ich vor der Aufgabe, meine Vorurteile einzuklammern und nur das Phänomen als solches zu beschreiben. Derart kann eine neue Sicht auf das Phänomen eingenommen werden, die jenseits einer vorurteilsbeladenden Perspektive liegt. „Die Epoché ist die Bezeichnung für unsere Suspension der naiven […] Einstellungen“ (Zahavi 2007, S. 23, H.i.O.). Die Epoché zu vollziehen „bedeutet, an der phänomenalen Gegebenheit des Bewusstseins etwas anderes zu sehen, andere Aspekte hervortreten zu lassen, als dies in der natürlichen Einstellung der Fall ist“ (Schönwälder-Kuntze 2015, S. 67). Durch die Epoché wird eine

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analytische Perspektive auf Phänomene geleistet und es lässt sich beforschen, wie Erscheinungen für das Bewusstsein gegeben sind: „Die Phänomenologie verschafft uns einen methodischen Zugang zur menschlichen Erfahrung“ (Bakewell 2018, S. 59). Das Bewusstsein wiederum, welches durch die Epoché in den Blick einer Beobachtung zweiter Ordnung genommen wird, ist die Grundlage des Subjekts. Die Entfaltung eines Selbst-/Weltverhältnisses setzt ein Bewusstsein voraus. Das Bewusstsein ist dabei nicht mit einem reflexiven Selbst-/Weltverhältnis gleichzusetzen. Die reflexive Selbst-/Welterfahrung ist Teil des Bewusstseins. Nicht reflektierte Emotionen wie Freude, Angst, Trauer und Verliebtsein sind es ebenfalls. Durch die Phänomenologie wird uns das Bewusstsein als Forschungsgegenstand zugänglich: „In der Reflexion kann ich – und eben dies ist das Geschäft der transzendentalen Phänomenologie – die Aufmerksamkeit auf mein eigenes Ich richten und es so zum Thema, zum gegenständlichen Gegenüber machen“ (Held 1992, S. 29f.). Um dies zu leisten muss • zuerst das Phänomen identifiziert werden, auf das sich das Bewusstsein richtet. • In einem zweiten Schritt wird die Art und Weise, wie das Phänomen im Bewusstsein erfahren wird, thematisiert (Epoché). • In der phänomenologischen Analyse folgt auf die Epoché die ‚eidetische Reduktion‘. (griech.; Gestalt/das zu sehende). Die eidetische Reduktion beruht auf der Prämisse, dass unser Bewusstsein immer ein Bewusstsein von etwas ist. Husserl nutzt hierfür den Begriff der Intentionalität. Phänomene erscheinen im Bewusstsein. Umgekehrt ließe sich sagen, dass Bewusstsein immer ein Bewusstsein von etwas ist: Ein Bewusstsein ‚an sich‘, ohne Phänomene, kann es nicht geben. Phänomene sind unsere Bewusstseinsinhalte: „So gibt es beispielsweise wahrnehmendes Bewusstsein von etwas, phantasierendes Bewusstsein von etwas, sich erinnerndes Bewusstsein von etwas“ (Schönwälder-Kuntze 2015, S. 69). In der eidetischen Reduktion lässt sich analytisch pointiert danach fragen, wie uns die Dinge erscheinen bzw. wie wir sie erleben. Wir können die Intentionalität bzw. die Struktur analysieren, wie Phänomene im und durch das Bewusstsein wahrgenommen werden: „Vollziehen wir nun phänomenologische Reduktion, so verwandeln sich die Feststellungen (in ihrer Einklammerung) in exemplarische Fälle von Wesensallgmeinheiten, die wir uns im Rahmen reiner Intuition zu eigen machen und systematisch studieren können“ (Husserl 1992, S. 163). Eine phänomenologische Verobjektivierung der ‚Bewustseinsstruktur‘ zeigt ihren methodischen Nutzen bei der Thematisierung gesellschaftlich brisanter Themen wie Moralität, Moralentwicklung und Ethik, die oftmals kontrovers diskutiert werden. Im Zuge der Diskussion dieser Themen – welche im pädagogischen Feld auch die Überlegungen zur Erziehungsnotwendigkeit des Menschen betreffen – werden erfahrungsgemäß schnell Vorurteile geäußert und überspitzte Behauptungen aufgestellt. Vor dem Hintergrund dieser emotionalen Dimension derartiger Diskussionen über das ‚moralische Wesen‘ des Menschen und der daraus gefolgerten

5.3 Eine kleine Phänomenologie der emouonalen Entwicklung von Säuglingen

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Erziehungsnotwendigkeit lohnt eine phänomenologische Epoché. Diese lässt sich v.a. durch eine phänomenologische Betrachtung der emotionalen und – damit einhergehend – der moralischen Entwicklung des Säuglings (0-1 Jahr) und des Kleinkinds (zweites Lebensjahr bis drittes Lebensjahr) leisten. Dieses Vorgehen bietet zweierlei Vorteile: Zum einen kann durch die Auseinandersetzung mit der emotionalen sowie moralischen Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern eine reflexive Distanz zu dem Themenfeld der Moralentwicklung des Menschen und dessen Erziehungsnotwendigkeit eingenommen werden. Durch die Distanz des Erwachsenen und dessen moralischem Erleben zu dem Säugling/des Kleinkindes und dessen moralischem Erleben lässt sich leichter eine phänomenologische Reduktion vollziehen. Zugleich kommen wir in der Betrachtung der emotionalen sowie moralischen Entwicklung des Säuglings/dem Kleinkinde dem am nächsten, was das ‚emotionale und moralische Wesen des Menschen‘ vor seiner Vergesellschaftung/sozialisatorischen Einbindung/Enkulturation/Subjektivierung ausmacht. Ganz im Sinne von Sartre, der feststellt, „einen Moralkodex kann man nicht ‚erfinden‘. Er muß in irgendeiner Weise schon Bestehendes sein“ (Sartre 1997, S. 152), kann dieses ‚Bestehende‘ als anthropologische Konstante des Menschen identifiziert und durch eine phänomenologische Betrachtung freigelegt werden. Durch Bezug auf Ergebnisse der empirischen Forschung zur frühkindlichen Moralentwicklung wird gemäß der Zielsetzung integrativer Bildungsforschung ein Verknüpfen philosophischer bzw. ethischer Fragestellungen mit der sozialwissenschaftlichen Forschung möglich – „Empirie kann bei der Beantwortung vieler philosophischer Fragen hilfreich zu sein“ (Gopnik 2009, S. 233). Zugleich lässt sich mit der phänomenologischen Perspektivierung der emotionalen und moralischen Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern ein ‚Anfang‘ bei der Betrachtung der moralischen Disposition ‚des Menschen’ machen: Um von den eigenen Gefühlen zu abstrahieren und eine weitestgehend analytische Position einzunehmen, bei der die eigene emotionale Verstrickung nicht mit dem Forschungsgegenstand diffundiert, kann ein phänomenologischer Blick auf die emotionalen Dispositionen von Säuglingen und Kleinkindern eingenommen werden. Neben der Herstellung einer analytischen Distanz ermöglicht ein solch erkenntniskritisches Vorgehen auch das Freilegen unserer emotionalen, nicht-entfremdeten ‚Gefühlsausstattung‘ als anthropologische Konstante. Ausgangspunkt ist die These, dass „[m]oralische Emotionen […] eine erlebnismäßige Authentizität“ haben“ (Montada 1993, S. 272).

5.3 Eine kleine Phänomenologie der emotionalen Entwicklung von Säuglingen Bildung lässt sich auch durch die Auseinandersetzung mit der Entwicklung eines Selbst/Weltverhältnisses von Säuglingen im Zuge frühkindlicher Bildungprozesse rekonstruieren. Um dies zu leisten, ist eine phänomenologische Einklammerung von Kindheits-

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bildern erforderlich. So kann ein subtextuelles, nicht begrifflich ausdefiniertes Kindheitsbild unseren Blick auf frühkindliche Entwicklungs- bzw. Bildungsprozesse unbewusst leiten. Hier lässt sich zunächst fragen: Welche Vorstellung habe ich davon, wenn ich an ein Kind oder an einen Säugling denke? Ein Wesen, das schutzbedürftig ist und sich noch kognitiv und emotional entwickeln muss? Dies ist wohl nicht falsch, gilt aber auch im weitesten Sinne für Erwachsene. Gerade eine Defizitorientierung im Sinne von Erziehungskonstellationen verdeckt schnell, was Säuglinge bereits leisten. Ein solche defizitorientierte Perspektive hat lange Zeit unser Bild und unser Verständnis von Säuglingen und Kleinkindern geprägt: Viele Jahre lang versicherten ‚Experten‘, die in Wirklichkeit überhaupt keine systematischen Erkenntnise über Babys gesammelt hatten, den Eltern mit einer gewissen perversen Befriedigung, dass die geistigen Fähigkeiten ihres neugeborenen Babys nicht ganz so hoch entwickelt seien wie die einer durchschnittlichen Gartenschnecke. Babys könnten eigentlich gar nicht sehen, ihr Lächeln sei nur ‚durch Gase verursacht‘ und die Vorstellung, dass sie Menschen wiedererkennen könnten, nur eine Illusion vernarrter Mütter. In Wirklichkeit wisse doch jeder, dass ein Baby einen Menschen nicht von einem Hund unterscheiden kann (Gopnik, Meltzoff & Kuhl 2007, S. 44).

Um sich von derartigen subtextuellen Vorannahmen zu lösen, gilt es, zunächst einen unvoreingenommenen Blick auf die Wesen zu werfen, die wir als Säuglinge und Kleinkinder identifizieren – was durchaus eine Herausforderung darstellen kann: „Die Vorstellung, dass Kleinkinder uns irgendetwas über Moral verraten könnten, wäre den meisten Philosophen und Psychologen noch bis vor kurzem absurd vorgekommen. Babys sind ja im Grunde amoralische Wesen“ (Gopnik 2009, S. 233). Da wir Säuglinge und Kleinkinder nicht ohne weiteres fragen können, was sie denken und wie sie die Welt erleben, bleiben uns zunächst v.a. beobachtende bzw. ethnografische und experimentelle Verfahren. Mit diesen Verfahren können wir uns die Epistemologie bzw. die Art und Weise, wie Säuglinge und Kleinkinder die Welt erleben und mittels explorativer Neugier entdecken, rekonstruieren. Zugleich können wir mit der Auseinandersetzung mit dem Lernen und den Bildungsprozessen von Kleinkindern sowie Säuglingen im Sinne eines Verfremdungseffektes auch eine kritische Distanz zu unserem Lernen und zu unseren eigenen Bildungsprozessen entwickeln. Die Auseinandersetzung mit dem Lernen und den Bildungsprozessen von Kleinkindern sowie Säuglingen vermag uns neue Perspektiven auf unser eigenes Selbst/Weltverhältnis zu eröffnen. Zugleich lässt sich durch eine phänomenologische Beschreibung frühkindlicher Epistemologie die Validität des Ansatzes der integrativen Bildungsforschung auch für den Bereich frühkindlicher Entwicklungsprozesse prüfen. Damit kann auch auf ein bildungstheoretisches Desiderat in der frühkindlichen Forschung reagiert werden. Auf dieses Desiderat hat u.a. Schäfer hingewiesen, wenn er feststellt, dass es „[d]erzeit […] kein allgemein anerkanntes Bildungskonzept für den Bereich der frühen Kindheit“ (Schäfer 2016, S. 22) gibt. So arbeitet Schäfer heraus, dass

5.3 Eine kleine Phänomenologie der emouonalen Entwicklung von Säuglingen

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„[d]er Begriff der Bildung […] als systematischer Begriff weder im ‚Handbuch der Kleinkindforschung‘ […] noch im ‚Handbuch der Kindheitsforschung‘ […] noch im Überblicksband zur Kindheitsforschung des Deutschen Jugendinstituts“ (Schäfer 2016, S. 22) vorkommt. Eine bildungstheoretische Perspektivierung frühkindlicher Entwicklung erfordert die Aufgabe der Vorstellung eines passiven Säuglings. Vielmehr gilt es, den Säugling im Sinne der Bildungsmerkmale Kraft und Freiheit als aktives Wesen zu verstehen, welches sich im sozialen Kontext bildet. Diese Perspektivierung des Säuglings deckt sich mit den Ergebnissen frühkindlicher Forschung. So wurde die tradierte Vorstellung, dass sich der Säugling in einem „Dämmerzustand“ befindet, welchen es „reizgeschützt“ zu bewahren gilt (Schäfer 2016, S. 50), durch die „Verhaltensbeobachtung von Kleinkindern“ und der „Erforschung ihrer sinnlichen Wahrnehmung – sehen, hören, riechen, schmecken […] zunichte gemacht“ (Schäfer 2016, S. 49f.). Eine bewahrpädagogische Perspektive auf den Säugling als Defizitwesen, welches es zu beschützen gilt, wird durch ein ‚kraftvolles‘ Säuglingsverständnis abgelöst: Von Beginn an setzt sich der Säugling eigenaktiv mit der Welt auseinander und erweitert so seine Kenntnisse und Fähigkeiten. Der Säugling setzt sich „strukturierend und experimentierend“ (Schäfer 2016, S. 50) mit der Welt auseinander. Mit seiner Kraft fordert er die Umwelt als Lerngegenstand heraus: „Subjektpsychologisch gesehen fordert der Säuglinge seine Mitwelt heraus, indem er aus eigener Initiative auf sie zugreift und ihre Reaktionen verbucht“ (Schäfer 2016, S. 50). Aus bildungstheoretischer Perspektive entfaltet sich der Säugling durch seine Kraft – Schäfer spricht hier mit Bezug auf Winnicott von einem ‚inneren Impuls‘ (vgl. Schäfer 2016, S. 49ff.). Diese Überlegungen lassen sich durch empirische Erkenntnisse fundieren: Anhand von Experimenten lässt sich rekonstruieren, wie Säuglinge bzw. Kleininder – angetrieben durch ihre Kraft – die Stabilität der medialen Welt (Objektpermanenz) entdecken sowie eine Differenzierung zwischen Aggregatzuständen (fest/flüssig) vornehmen. In dieser Phase reagieren „Säuglinge auf die Reize, die durch Medien ausgesendet werden. Babys nehmen die Lichtsignale des Fernsehens ebenso wahr wie die Geräusche von Computerspielen und reagieren darauf“ (Wegener 2016, S. 56). Bereits in dieser Phase werden Selbstwirksamkeitserfahrungen in der explorativneugierigen Auseinandersetzung mit Welt gemacht. In diesem Zusammenhang ist ein Experiment interessant, von dem die Autoren Hetty van de Rijt und Frans X. Plooij in ihrem populären Elternratgeber ‚Oje, ich wachse!‘ berichten. Dabei sollten wenige Wochen alte Babys an einem Schnuller saugen, der mit einem Projektor verbunden war. Der Film zeigte eine Mutter, die mit ihrem Baby spielt. Sobald die Säuglinge an ihrem Schnuller sogen, war das Bild scharf, hörten sie damit auf, verschwamm es wieder. Das funktionierte auch umgekehrt: Als sie mit dem Saugen aufhören mussten, um ein scharfes Bild zu sehen, schienen sie gleichermaßen motiviert. […] Das Experiment bestätigt […] das Bedürfnis nach Abwechslung und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit […] Die Babys

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merken, dass sie etwas beeinflussen können, und daran haben sie offensichtlich Spaß. (Wegener 2016, S. 56 f.)

Selbstwirksamkeitserfahrungen werden schon von Beginn an gemacht. Das Subjekt bildet der Säugling folglich von Beginn an ein Selbst-/Weltverhältnis aus: „Nach den Ergebnissen der empirischen Säuglingsforschung entstehen die Wurzeln des Selbstwirksamkeitserlebens schon zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat […] Ausschlaggebend sind sogenannte ‚Urheberschaftserfahrungen‘ […] d.h., die Möglichkeit zu haben, Handlungen auf sich zu beziehen“ (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse 2014, S. 45). Dieses Selbst-/Weltverhältnis wird zunächst ästhetisch als pure Immanenz erlebt (vgl. dazu auch Kergel 2019). Eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt bzw. anderen Subjekten ist noch nicht vorhanden. Es ließe sich sagen, dass Säuglinge relativ ungefiltert in Resonanz mit der Welt gehen. Hierdurch erleben sie sich in und mit der Welt, gehen in ihrem Erleben völlig in der Welt auf. Säuglinge nehmen folglich über Emotionen die Welt wahr: „Emotionen vermitteln dem heranwachsenden Kind ein Bild der Welt“ (Nussbaum 2000, S. 101) Dieses Erleben von Welt ist abhängig von der emotionalen Umgebung, in der Säuglinge eingebettet sind – „Während der ersten neun Monate, noch bevor Babys gehen, sprechen oder auch nur krabbeln können, erkennen sie bereits den Unterschied zwischen einem glücklichen, einem traurigen und einem zornigen Gesichtsausdruck“ (Gopnik, Metzhoff & Kuhl 2007, S. 46). Hier steht die Umwelt als Bildungsbegleiter in der Verantwortung. In seinem immanenten Selbst-/Welterleben ist der Säugling tatsächlich noch ‚egozentrisch‘. Allerdings ist der Begriff der Egozentrik anders definiert als bei Kohlberg. Zur Vergegenwärtigung: In Anschluss an Piaget geht Kohlberg von einer Egozentrik des Kindes bzw. Säuglings und Kleinkindes aus. Diese Egozentrik wird durch Erziehung bzw. durch eine sozialisierende Enkulturation überwunden. Erst mit der fortschreitenden kognitiven Entwicklung des Kindes entwickelt sich auch dessen soziales Bewusstsein. Bis dahin muss eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem Kind durch autoritäre Erziehungsstrategien geprägt sein – v.a. auf der präkonventionellen Entwicklungsstufe. Dieses Egozentrikverständnis geht von einer Trennung des Säuglings von dem Rest der Welt aus. Durch diese Trennung nimmt der Säugling nur sich und seine eigenen Bedürfnisse wahr. Eine mitfühlende Perspektive ist demgemäß für den Säugling nicht möglich. Egozentrik lässt sich aber auch als Immanenz des Erlebens deuten. Als Subjekt kann der Säugling nicht zwischen sich und der Welt differenzieren. Anstatt eines banalen Egoismus kann Egozentrik als ein ungefiltertes Selbst-/Welterleben verstanden werden, bei dem Welt und Selbst ineinander fallen: „Zunächst hat das Kind […] kein klares Gefühl für die Grenzen zwischen dem Selbst und anderen“ (Nussbaum 2000, S. 93). Bischof-Köhler spricht von einem „Selbsterleben in den ersten 18 Monaten“, welches sich „phänomenologisch als unreflektiertes Selbstempfinden […] charakterisieren“ lässt, das „sich seiner selbst nur im Vollzug des Erlebens inne wird; bei Babys dürfte das insbesondere der Fall sein, wenn sie selbst etwas bewirken (Funktionslust)“ (Bischof-Köhler 2010, S. 54). Mit Hegel

5.3 Eine kleine Phänomenologie der emouonalen Entwicklung von Säuglingen

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lässt sich dieser Zustand der Selbst-/Weltwahrnehmung als ‚unmittelbare Gewißheit‘ (Hegel 1952, S. 89) verstehen. Empirisch kann dabei auf das Phänomen der Gefühlsansteckung verwiesen werden. Vor allem im ersten Lebensjahr übernehmen Säuglinge das Gefühl eines anderen Kleinkindes bzw. Säuglings. Schreit ein Säugling, so beginnt ein anderer Säugling oftmals ebenfalls zu weinen. Das Phänomen der Gefühlsansteckung wird in der Ethologie als Stimmungsübertragung bei sozialen Tierarten beschrieben […], bei denen es der Synchronisation unterschiedlicher Motivlagen dient. Dabei induziert die Wahrnehmung des Ausdrucksverhaltens bei einem Artgenossen die entsprechende motivationale Verfassung im Beobachter. Dieses Phänomen ist vermutlich auf die Wirkung von Spiegelneuronen zurückzuführen, wobei diese aber eben nur die Übertragung einer motivationalen Gestimmtheit erklären, ohne dass diese automatisch mit der Einsicht in das subjektive Erleben des anderen verbunden ist. Bei menschlichen Babys tritt Gefühlsansteckung bereits von Geburt an auf, wenn sie durch das Geschrei anderer Babys angesteckt, also von deren Unbehagen ergriffen werden. Im Laufe des ersten Lebensjahres wird der Effekt dann auch durch Angst, Ärger und Freude ausgelöst. Gefühlsansteckung dürfte eine zentrale Rolle bei einer Verhaltenseigentümlichkeit spielen, die in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres auftritt, dem ‚social referencing‘: Das Baby blickt angesichts eines unvorhergesehenen Ereignisses rasch zur Mutter. Vielfach wird dies dahingehend interpretiert, ‚es wolle wissen, was die Mutter von der Situation hält‘. Damit unterstellt man ihm nun allerdings die Fähigkeit, Annahmen über das Bewusstsein der Mutter zu machen. Eine alternative, weniger aufwendige Erklärung geht davon aus, dass ein Baby, angesichts der veränderten Situation verunsichert, durch Blickkontakt die Nähe zur Bezugsperson sucht und dadurch sein Sicherheitsdefizit behebt […] Dies gelingt aber nur, wenn die Mutter ihrerseits sicher wirkt, etwa indem sie lächelt. Die Emotion, die sie ausdrückt, überträgt sich dann durch Gefühlsansteckung auf das Kind und insofern wird ihm tatsächlich übermittelt, was die Mutter von der Situation hält. Würde sie ängstlich schauen, dann würde das genau das Gegenteil bewirken und das Kind in seiner Ängstlichkeit bestärken. Auch in diesem Fall erfolgt die Bewertung der Situation durch die emotionale Reaktion (Bischof-Köhler 2010, S. 49f.).

Hier zeigt sich beispielhaft auf präreflexiver Ebene das Ineinander von Selbst-/Weltverhältnis, das im Zuge des Deutschen Idealismus und der bildungstheoretischen Reflexionen Humboldts starke Aufmerksamkeit erfuhr. So sind Säuglinge mitfühlend. Empirisch zeigt sich dies u.a., wenn Neugeborene Gesichtsausdrücke nachahmen Die Nachahmungsfähigkeit wird von uns gemeinhin als kognitiv nicht relevant eingestuft. Stattdessen halten wir sie für ein rein äußerliches Phänomen, für Mimikry. In Wirklichkeit deutet dieses frühe Nachahmen jedoch auf eine tiefere, angeborene empatische Verbindung zwischen dem Baby und anderen Menschen hin. Neugeborene haben ihr Gesicht nie gesehen. Um insbesondere Gesichtsdrücke nachzunahmen, müssen Neugeborene einen Ausdruck einem Gefühl zuordnen müssen (Gopnik 2009, S. 236).

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Gerade die Aufhebung der emotionalen Trennung zwischen Subjekten ist eine empirisch fundierte Erkenntnis, welche die moralphilosophische Fokussierung auf das einzelne Subjekt und dessen moralisches Verhalten revidiert (vgl. Edelstein & NunnerWinkler 2000, S. 11). Die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen sind noch nicht sozialisatorisch etabliert. Diese Trennung ist ein Resultat des Lern- und Bildungsprozesses des Säuglings: Hier tritt nun die Bedeutung der ersten Handlungen des Subjekts zutage. Das erste Lutschen, Bewegen, Greifen usw. bildet den Ausgangspunkt der nun langsam einsetzenden Differenzierung von Subjekt und Objekt, welche überhaupt erst die Voraussetzung für eine begrifflich-repräsentative Objekterkenntnis darstellt. […] Erst durch die Koordination vieler Handlungsakte wird eine Differenzierung des Subjekts vom Objekt möglich (Schmidt 1998, S. 43).

Aber selbst, wenn durch kognitiv-emotionale Entwicklungschritte bzw. durch den Sozialisationsprozess eine Grenze zwischen den Subjekten gezogen wird, bleibt das ursprüngliche Mitgefühl bestehen, indem es zur Empathie wird. Dabei ist Empathie durch eine paradoxe Doppelbewegung gekennzeichnet: Empathie ist Differenz und Mitgefühl zugleich. „Diese Doppelbewegung stellt die Voraussetzung für eine „Abgrenzung von ‚Ich‘ und ‚Du‘ (Ich-Andere-Unterscheidung)“ dar. Diese Doppelbewegung stellt die Grundlage für eine empathische „Identifikation mit dem Anderen (synchrone Identifikation)“ (Bichof-Köhler 2010, S. 54) dar. Ein Aspekt, auf den auch Gopnik (2009) hinweist: Dreijährige haben bereits elementare sittliche Grundsätze über Fürsorge und Anteilnahme entwickelt. Gleichzeitig verstehen Dreijährige Regeln und versuchen, sie zu befolgen. Das Verstehen und Anwenden von Regeln lässt uns über unser angeborenes Gefühl der Anteilnahme hinausgehen. Doch diese mitfühlenden Reaktionen gestatten uns auch eine Veränderung der befolgten Regeln. Mitgefühl und Regeltreue, Liebe und Gesetz wirken zusammen und verleihen uns unsere unverwechselbare menschliche, sittliche Gesinnung (Gopnik 2009, S. 235).

Der Philosoph Schopenhauer hat in seinen ethischen Überlegungen diese Form des Mitfühlens und des Mitleidens in Form einer Mitleidsethik begründet. Die Argumentation Schopenhauers ist dabei an Humboldts Ineinssetzen des Menschen mit der Natur anschlussfähig und liefert eine epistemologische Fundierung des phänomenologisch freigelegten emotionalen Selbst-/Welterlebens des Säuglings/Kleinkinds. So setzt das Mitleid voraus, daß ich mich mit dem Andern gewissermaßen identificirt habe, und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich, für den Augenblick, aufgehoben sei: nur dann wird die Angelegenheit des Andern, sein Bedürfniß, seine Noth, sein Leiden, unmittelbar zum meinigen: dann erblicke ich ihn nicht mehr, wie ihn doch die empirische Anschauung giebt, als ein mir Fremdes, mir Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes; sondern IN IHM leide ich mit, trotz dem, daß seine Haut nicht meine Nerven nicht einschließt (Schopenhauer 1988, S. 586, H.i.O.).

5.3 Eine kleine Phänomenologie der emouonalen Entwicklung von Säuglingen

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Der Mensch ist Teil der Welt und damit auch mit anderen Menschen verbunden. Daher wird das Mitleiden zu einem ‚natürlichen‘ Vorgang. Sozialität ist im Mitleid und Mitfühlen bei Menschen quasi-natürlich gegeben und muss nicht anerzogen werden (vgl. Nussbaum 2000, S. 95). Diese Dimension des Mit-Seins zeigt sich paradigmatisch in der sozialen Offenheit von Säuglingen. So erkennen „sehr kleine Babys bereits vertraute Personen – Neugeborene identifizieren Gesicht und Stimme ihrer Mutter sehr rasch und ziehen sie andern vor“ (Gopnik 2009, S. 207). Trotz des Ausbaus spezifisch zwischenmenschlicher Beziehungen begrüßen ‚Babys‘ jedoch „zunächst einmal […] alle Erwachsenen, bekannt oder unbekannt, mit dem gleichen strahlenden Lächeln und einnehmenden Glucksen“ (ebenda). Aus einer bildungsorientierten Pädagogik gilt es, diese soziale Offenheit angemessen zu fördern. Schäfer (2014) spricht hier von Resonanz: „Die Resonanz der sozialen und kulturellen Welt unterstützt oder bremst den kindlichen Anfängergeist entsprechend den individuellen Haltungen der Erwachsenen, den Regeln der Konventionen der sozialen Gemeinschaft und den impliziten und expliziten kulturellen Mustern“ (Schäfer 2014, S. 114, H.i.O.). An dieser Stelle lässt sich die erziehungstheoretische Enkulturationslogik bildungstheoretisch vom ‚Kopf auf die Beine‘ stellen: Kinder sind nicht in einem sozialen Sinne egoistisch. Sind sie es doch, kann dies als Effekt von pädagogischem Handeln verstanden werden, welchem das Kind ausgesetzt war: Die moralische Bewertung von Handlungen beginnt bereits ab dem 7. Lebensmonat; wie Experimente gezeigt haben, können Kleinkinder den Gesichtsausdruck signifikanter Bezugspersonen, vor allem also der Mutter, sehr gut ‚lesen‘. Sie lernen anhand der mimischen und stimmlichen Reaktionen der Mutter, ob diese ein Verhalten des Kindes billigt oder nicht. Auch das Generalisieren […] beginnt bereits sehr früh, sodass das einjährige Kind bereits über einen kleinen Katalog von Normen verfügt (Kroeber 2011, S. 40).

Hier zeigt sich die Bedeutung der sozialen Rahmung, aus der heraus der Säugling sich ‚kraftvoll‘ mit der Welt auseinandersetzen kann. Nussbaum (2000) spricht von einer „akuten Hilflosigkeit […] im kindlichen Leben“, welche „viel Anlass zu Unsicherheit, Angst und Wut“ (Nussbaum 2000, S. 90) gibt. Gerade diese ‚Hilflosigkeit‘ bzw. Abhängigkeit des Säuglings/des Kleinkinds nimmt andere Menschen in die Pflicht eines Miteinander-Seins und eines Füreinander-Daseins: „In der frühen Kindheit, wenn eigenes Handeln noch mehr oder weniger unmöglich ist, lässt die passive Erfahrung, dass Zuwendung gewährt wird, das aufkeimende Gefühl der Hilflosigkeit verschwinden“ (Nussbaum 2000, S. 90). Soll sich das Kind ensprechend seiner sozialen Disposition empathisch ausbilden, gilt es, dem Kind bzw. dem Säugling in ebenso einer Weise zu begegnen: Wir wissen, dass selbst sehr junge Babys anderen Menschen große Aufmerksamkeit schenken. Sie achten besonders genau auf die wechselseitigen Bedingtheiten vom eigenen Tun und Fühlen […] Das Baby lernt, dass seine Mutter, wenn es diese

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5 Bildungsethik

anlächelt, ebenso oft betrübt oder gleichgültig wie lächelnd reagiert. Oder dass die Mutter weiterlächelt, obwohl es weint oder schlimmer noch, dass sie wütend wird und sein Elend noch verschlimmert (Gopnik 2009, S. 208).

Durch eine empathische Form der Zuwendung werden die Potenziale explorativer Neugier gefördert. So bildet sich beim Säugling präreflexiv ein erlebendes Selbst-/Weltverhältnis bzw. ein Bewusstsein, welches durch „eine Art rudimentärer Liebe und Dankbarkeit“ geprägt ist, „dass andere ihm, bei seinem Versuch zu leben, hilfreich sind“ (Nussbaum 2000, S. 93). Mit diesem Bewusstsein von ‚Liebe‘ und ‚Dankbarkeit‘ ist „[g]leichzeitig […] ein erstes Gefühl von Staunen und Freude an Bereichen der Welt“ verbunden, welche „nichts mit seiner Befindlichkeit zu tun haben. Zu diesen Bereichen der Welt gehören Menschen und Teile von Menschen, und in Bezug auf sie können Staunen und Dankbarkeit eng verflochten sein“ (Nussbaum 2000, S. 93). Mit Bezug auf diese phänomenologisch orientierte Betrachtung der moralischen Entwicklung lässt sich festhalten, dass eine Bildungsethik an die moralische Entwicklung bzw. an die moralischen Dispositionen des Säuglings anschlussfähig sind. Mit der explorativen Neugier und den Selbstwirksamkeitserwartungen, deren der Säugling bedarf, um seine kognitiven und emotionalen Strategien der Selbst/Weltwahrnehmung zu entwickeln, ist eine prosoziale Dimension des Mit-Erlebens verbunden. Die Menschen sind nicht isoliert voneinander. Anstatt isoliert voneinander, steht der Mensch von seinem individuellen Anfang an in einem emotionalen Mit-Sein, welches sich später noch in der Empathie zeigt. Diese Disposition, die erlebende Wahrnehmung des Mit-Seins, lässt sich als ethische Grundlage von Bildung lesen und verweist auf die soziale Dimension, die Bildung konstitutiv zu eigen ist und im Folgenden in den analytischen Blick genommen werden soll.

5.4 Die soziale Dimension von Bildung – Oder: Bildung als Dialog Explorative Neugier kennt wie der Bildungsprozess als solcher kein Ende. Mit der explorativen Neugier ist die Erkenntnishaltung verbunden, dass alles ganz anders sein könnte als bislang angenommen. Die explorative Neugier reißt die Grenzen jeder Gewissheit ein, um immer neue Wissensformen und immer wieder neue Perspektiven auf die Welt und sich selbst zu gewinnen: Jedoch werden mit der Aufkündigung jeglichen Absolutheitsanspruchs von Wahrheit und der Gewissheit begründeter Identifizierungen das Schematisieren und Systematisieren nicht überflüssig, sondern gerade erst zum expliziten Thema. Denn es drängt sich nun folgende Frage auf: Wenn es keinen Grund gibt, so zu schematisieren, wie man schematisiert, warum wird dann genau so und nicht anders schematisiert? (Schütte & Weiß 2017, S. 21).

Kommt diese Form des explorativ-neugiergen Fragens zu stehen, stoppt der Bildungsprozess. Während Erziehungskonstellationen und die mit ihnen untrennbar verbundenen, interpellativen Subjektivierungen die Internalisierung von konventionalisierten

5.4 Die soziale Dimension von Bildung – Oder: Bildung als Dialog

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Mustern der symbolischen Ordnung anstreben, manifestiert sich Bildung in einer explorativen Neugier, die diese konventionalisierten Muster performativ immer wieder infrage stellt. So dient „die Exploration anderer Denkmöglichkeiten […] nicht dazu, Lösungen zu bereits existierenden Problemen zu finden, sondern dazu, durch die Entselbstverständlichung des scheinbar Selbstverständlichen neue Fragen zu generieren“ (Ahrens 2017, S. 35). Das Infragestellen bzw. die Kritik der Art und Weise, die Welt zu sehen und sich selbst zu verstehen, eröffnet stets neue Perspektiven. Damit ist ein sich stets erneuernder bzw. ein performativer Erkenntnisprozess gekennzeichnet, der – ganz im Sinne des Deutschen Idealismus – auf die Unendlichkeit des ‚Geistes‘ bzw. des Denkens verweist: „Grenzenlose Kritik wird zum Signum der Unbegrenztheit des Denkens“ (Forster 2017, S. 192). Hier liegt auch eine ethische Haltung verborgen. Die explorative Neugier ist dem Anderen bejahend gegenüber eingestellt. Andere Perspektiven auf die Welt bieten Impulse zum Nach- und Weiterdenken. Der Andere ist nicht das feindliche Fremde, sondern eine andere mögliche Perspektive, die Welt zu erleben und erfahren. Das Bildungssubjekt entfaltet sich mittels explorativer Neugier. Hierfür bedarf das Subjekt einer Auseinandersetzung mit anderen Subjekten und deren Perspektiven, die Welt wahrzunehmen. Hieraus ergibt sich die Schlußfolgerung, dass das Subjekt nur durch die Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven wirklich zu sich kommen kann: Man kann sich das ganz kurz am Beispiel Humboldts verdeutlichen. Für ihn ist unter Bildung zu verstehen der freie, unregelmentierte Umgang eines Individuums mit der Mannigfaltigkeit der Welt. Wenn das Individuum […] sich auf die Welt einlässt, sich an diese verliert, sich seiner selbst fremd wird, gewinnt es die Möglichkeit, aus der Wechselwirkung mit der dann fremden (weil nicht durch eigene Kategorien vorgefertigten Welt) als ein anderer zu sich selbst zurückzukehren (Schäfer 2007, S. 96f.).

Das Fremde und das Eigene sind durch gemeinsame Erkenntnis miteinander verbunden: „Die Infragestellung des Eigenen durch den Anderen geht aber nicht so weit, dass sie die Möglichkeit eines gemeinsamen Ausgangspunktes selbst in Frage stellt: Andersheit wird nicht als radikale Fremdheit gedacht, sondern relativ, d.h. auf die Möglichkeit einer Gemeinsamkeit bezogen“ (Schenk 2017, S. 267). Die ‚Fremdheit‘ ist notwendig, damit sich explorative Neugier entwickeln kann. Dabei ist Fremdheit ein reziprokes Verhältnis: Mein Selbst-/Weltverständnis bietet anderen Subjekten eine Perspektiverweiterung an. In dieser Gegenseitigkeit liegt die kommunikative Grundstruktur des Dialogs begründet: Das Erleben der Selbst-/Weltaneignung ist auch ein Prozess des gegenseitigen Aufeinandereingehens und Verstehens. Die Selbstreflexion bedarf konstitutiv des Anderen: Das Verfahren unseres Geistes, besonders in seinen geheimnisvolleren Wirkungen, kann nur durch tiefes Nachdenken und anhaltende Beobachtung seiner selbst ergründet werden. Aber es ist selbst damit noch wenig geschehen, wenn man nicht zugleich auf die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der

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5 Bildungsethik

Weise Rücksicht nimmt, wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt (Humboldt 2017, S. 11).

Die Position des Anderen, das Übernehmen von Perspektiven, das kritisch-prüfende Einklammern der eigenen (Wahrheits-)Ansprüche und Selbstdeutungen sowie das kritisch-prüfende Einklammern der (Wahrheits-)Ansprüche und Selbstdeutungen der Anderen entfaltet sich in der Kommunikationsform des Dialogs: Im Griechischen bezeichnet „dia sowohl einen Abstand als auch einen Verlauf“ (Jullien 2017, S. 89, H.i.O.). Der Abstand resultiert u.a. aus den differierenden Perspektiven, die Dialogpartner auf den Erkenntnisgegenstand einnehmen: „Ein Dia-log, das wussten bereits die Griechen, ist umso ergiebiger, wenn dabei Abstand im Spiel ist […] Wenn beide Parteien mehr oder weniger dasselbe sagen, ist der Dialog nichts als ein zu zweit geführter Monolog, und der Geist kommt dabei keinen Schritt voran“ (Jullien 2017, S. 89, H.i.O.). Im dialogischen Erkenntnisprozess gewinnt das Subjekt durch die Perspektive des Dialogpartners auf den Erkenntnisgegenstand eine neue Sichtweise auf den Erkenntnisgegenstand. Indem die Stimme des Anderen im Dialog eine andere Reflexionsperspektive ermöglicht, dezentriert sich das Subjekt von seiner ursprünglichen Sichtweise auf den Erkenntnisgegenstand: „Dia“ bezeichnet dementsprechend „auch einen Raum durchquerenden Weg“ (Jullien 2017, S. 89). Gemäß der ephemeren Struktur von Bildung und Bildungswissen ist der Dialog als Abstandsüberwindung auch als „ein Verlauf“ (ebenda, H.i.O.) bzw. als ein Erkenntnisweg zu verstehen. So nähern sich „Schritt für Schritt“ die „durch einen Abstand getrennten […] Positionen […] gegenseitig“ (ebenda) an. Der Abstand ermöglicht eine Dezentrierung, die im Dialog als Verlauf zu einer Konstruktion neuer Perspektiven führen kann: „Das heißt, durch diese Abstände hindurch wird ein Gemeinsames geboren, indem jede Sprache, jeder Gedanke, jede Position sich entgrenzen lässt“ (Jullien 2017, S. 89). Im Dialog kommt es zu einer „Zwiespältigkeit“ in der „Aneignung und Fremdheit dauerhaft oszillieren, so dass es von daher nur als permanentes In-Frage-Stellen des Eigenen aufgefasst werden kann“ (Schenk 2017, S. 268). Der Dialog setzt folglich die Anerkennung des Anderen voraus, ein Aspekt, auf den auch Humboldt hinweist: „Es ist das allgemeine Gesetz, das die Vernunft aller Gemeinschaft der Menschen unter einander unnachlässlich vorschreibt: ihre Moralität und ihre Kultur gegenseitig zu achten, nie nachteilig auf sie einzuwirken, aber sie, wo es geschehen kann, zu reinigen und zu erhöhen“ (Humboldt 2017, S. 18). Der Andere bietet mir als Dialogpartner neue Erkenntnismöglichkeiten und treibt damit die explorative Neugier weiter an. Es verwundert nicht, dass mit Paulo Freire einer der führenden Vertreter der Critical Pedagogy den Dialog als emanzipative und demokratische Kommunikationsform versteht: Dialog ist die Begegnung zwischen Menschen, vermittelt durch die Welt, um die Welt zu benennen. Daher kann Dialog sich nicht ereignen zwischen solchen, die die Welt benennen wollen, und solchen, die eine solche Benennung nicht wünschen – zwischen solchen, die anderen Menschen das Recht, ihr Wort zu sagen,

5.4 Die soziale Dimension von Bildung – Oder: Bildung als Dialog

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verwehren, und solchen, deren Recht zu reden ihnen verwehrt worden ist (Freire 1973, S. 72).

Der Dialog wird von Freire in die Sphäre ethischer Kommunikation erhoben. So kann gemäß Freire der „Dialog […] freilich nicht existieren, wo es an der tiefen Liebe für Welt und Menschen Welt fehlt“ (Freire 1973, S. 72). Der Dialog, der Andere als Dialogpartner und die Welt, über die sich ausgetauscht wird, sind gemäß Freire durch eine explorative, lebensbejahende Erkenntnishaltung geprägt: So wird „durch [d]ie Bennenung der Welt“ diese „fortwährend“ von den „Menschen neu [ge]schaffen“ (Freire 1973, S. 73). Dies setzt ein egalitäres Kommunikationsverhältnis voraus, bei dem die Dialogpartner erkenntnisoffen ihren Wahrheitsanspruch einklammern: Dialog als Begegnung von Menschen, der gemeinsamen Aufgabe des Lernens und Handelns zugewandt, wird zerstört, wenn es den Teilnehmern, oder einem von ihnen, an Demut fehlt. Wie kann ich mich im Dialog engagieren, wenn ich fortwährend andere zu Unwissenden stemple und meiner eigenen Unwissenheit nie gewahr werden? (Freire 1973, S. 73)

Ganz im Sinne der verjüngenden Wirkung der explorativen Neugier, durch die das Wissen um sich selbst und die Welt performativ infrage gestellt wird, ermöglicht der Dialog als Begegnung neue Perspektiven. So kann es gemäß Freire einen „echten Dialog nicht geben, ohne daß sich die Dialogpartner auf kritisches Denken einlassen – auf ein Denken […] das die Wirklichkeit als Prozeß begreift, als Transformation und nicht als statische Größe“ (Freire 1973, S. 75). Der Dialog erscheint aus dieser Perspektive als Kommunikationsform von Bildung, da durch den Dialog eine intersubjektive Auseinandersetzung mit den eigenen Selbst-/Weltverhältnissen geleistet werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum Bildungsverständnis der integrativen Bildungsforschung, der Auseinandersetzung mit der Struktur des Bildungslernens, der ethischen Dimension von Bildung sowie der dialogischen Kommunikationsstruktur, die Bildung auszeichnet, kann das Modell einer Bildungsdidaktik entworfen werden. Diese Bildungsdidaktik vollzieht sich im Wesentlichen in der performativen Gestaltung von Bildungsräumen.

6 Bildungsräume gestalten

6 Bildungsräume gestalten

Bildungsräume lassen sich als pädagogisch-didaktischer Gegenentwurf zu der autoritären Struktur von Erziehungskonstellationen verstehen. Wurden für die analytische Auseinandersetzung mit Erziehungskonstellationen sozio-semiotische Analysestrategien eingesetzt, wird im Folgenden auf Strategien einer epistemologisch fundierten, konzeptionellen Didaktentwicklung zurückgegriffen. Damit wird auch eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs Methode vorgenommen. Bezeichnet • im Kontext der Forschung Methode systematische Strategien bei der wissenschaftlichen Wissensgenerierung, • sind im Kontext der Planung von Lehr-/Lernszenarien mit dem Begriff der Methode systematische Strategien für die didaktische Planung gemeint. Um die Möglichkeiten einer bildungsorientierten Didaktik (griech. didàskein/lehren) zu entwickeln, die auf den epistemologischen Grundlagen des integrativen Bildungansatzes basieren, wird der Begriff der Didaktik analytisch verortet.

6.1 Bildungsorientierte Didaktik als didaktisches Modell Grundsätzlich ist die bildungsorientierte Didaktik als ein didaktisches Modell zu verstehen. Didaktische Modelle können als vereinfachende Darstellungen von Lehr-/Lernwirklichkeit verstanden werden. Diese Vereinfachung ermöglicht die Darstellung didaktischer Prinzipien, die in verschiedenen Bildungskontexten, Schulformen und -Fächern Anwendung finden können. Didaktische Modelle sollen Lehrende dabei unterstützen, didaktische Kompetenzen auszubilden: „Didaktisch kompetent handeln zu können will also gelernt sein und kann auch zu einem sehr großen Teil erlernt werden“ (Terhart 2012, S. 10). Hierfür liefern didaktische Modelle eine grundsätzliche Orientierung. Diese grundsätzliche Orientierung geht dabei auf Kosten der Konkretisierung: Didaktische Modelle verbleiben als Modelle auf einer abstrakten Ebene. Für die Lehr/Lernpraxis besteht die Herausforderung in einer Anpassung der abstrakt formulierten didaktischen Handlungsprinzipien an die Bedarfe/Möglichkeiten konkreter Lehr-/Lernkontexte. Didaktische Praxis ist aus dieser Perspektive auch immer ein Transfer aus der Theorie in die Praxis. Als Teilbereich allgemeindidaktischer Konzeptentwicklung bieten didaktische Modelle eine theoretische bzw. epistemologische Fundierung von Lernprozessen. Aus dieser Fundierung lassen sich Handlungsstrategien ableiten:

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Kergel, Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten, Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1_6

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6 Bildungsräume gestalten

Didaktischen Theorieansätzen kommt die Aufgabe zu, eine analytische, ggf. auch normativ geprägte Modellvorstellung des Unterrichtsprozesses bereitzustellen, die Arbeit des Lehrers und das Lernen der Schüler mit einer Sinn- und Zielorientierung zu versehen sowie sowohl für Berufsanfänger als auch für erfahrene Lehrer Hinweise für die konkrete Gestaltung von Unterricht zu geben (Terhart 2015, S. 76).

Abb. 10

Strukturaufbau eines epistemologisch fundierten, didaktischen Modells (eigene Darstellung).

In Anschluss an Terhart lässt sich ergänzen, dass der Blick im Folgenden nicht auf Unterrichtsprozesse verengt, sondern generell auf Lernkontexte gelenkt wird, die durch eine bildungsorientierte Didaktik mitstrukturiert werden können. Die epistemologische Ebene von Lehr-/Lerngeschehen bildet dabei den Ausgansgspunkt bildungsorientierter Didaktik. Durch dieses Vorgehen wird es möglich, • bildungstheoretisch fundiert Lehren bzw. Unterrichten und Lernen als (Bildungs-)Geschehen zu modellieren und • hieraus didaktische Strategien abzuleiten, wie ein solches Lehren und Lernen gefördert werden kann. Diese didaktischen Strategien sollen bildungsorientiert – d.h. im Sinne der Förderung eines Wirkgefüges aus explorativer Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen – Lernaktivitäten unterstützen.

6.2 Epistemologische Fundierung – Didakuk als epistemologisches Handeln

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6.2 Epistemologische Fundierung – Didaktik als epistemologisches Handeln Didaktisches Handeln ist auch ein epistemologisches Handeln. In didaktisch gerahmten Lernprozessen wird Wissen generiert. Damit gerät aus professionstheoretischer Perspektive auch das Selbst-/Weltverständnis von ‚Didaktikern‘ in den Fokus. Dieses Selbst-/Weltverständnis beeinflusst mehr oder weniger unbewusst didaktische Lehr/Lernszenarien und damit auch den Lernprozess der beteiligten Akteure. Reich (2012) – ein Vertreter konstruktivistischer Didaktik – spricht hier von einem didaktischen Menschenbild: „Mit der Entscheidung für ein bestimmtes, inhaltliches und beziehungsorientiertes Vorgehen in Lehr- und Lernprozessen entwickeln Didaktiker grundsätzlich eine Haltung und einen Stil, den ein Außenstehender als didaktisches Menschenbild deuten könnte“ (Reich 2012, S. 21). Reich verweist hier auf die epistemologische Dimension didaktischer Theorie und Praxis, die wie folgt zusammengefasst werden kann: Didaktisches Handeln fordert Lehrende heraus und kann sowohl als epistemologische als auch wertegeleitete pädagogische Praxis in Lehr-/Lernkontexten verstanden werden. Gemäß Terhart beschäftigt sich Didaktik „auf wissenschaftlicher Basis und in einem umfassenden Sinne mit allen Fragen des Lehrens und Lernens“ (Terhart 2015, S. 73). In didaktischen Arrangements entfalten sich durch das Lehr-/Lerngeschehen zwischenmenschliche Beziehungen, in denen und durch die Wissen konstruiert wird. Gemäß Reich müssen Lehrende ganz im Sinne der Ausbildung eines Selbst/Weltverhältnisses sich ein didaktische Menschenbild selbst erarbeiten: „Ein solches Menschenbild jedoch kann […] nicht […] von oben instruiert und kontrolliert werden. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, jede muss ihre eigenen Entscheidungen in der Bevorzugung des einen oder anderen Weges, der einen oder anderen Perspektive finden“ (Reich 2012, S. 21). Die Selbstbestimmung als Didaktiker, die Bevorzugung eines bestimmten Didaktikstils, so ließe sich Reichs Argumentation sozio-semiotisch ausdeuten, verweist auf das Selbst-/Weltverhältnis eines Akteurs: Das Festhalten an einer lehrerzentrierten Didaktik, in der beispielsweise die Tische und Stühle frontal zum Lehrer hin ausgerichtet sind und derart eine autoritäre Raumorganisation repräsentieren, kann als Manifestation einer autoritären Didaktik und als Manifestation eines mehr oder weniger explizit ausdefinierten autoritären Lehr-/Lernverständnisses gedeutet werden. Die Art und Weise, wie Lehr-Lernszenarien strukturiert sind, ist abhängig von dem Verständnis, was wie in dem jeweiligen Szenario vermittelt und gelernt werden soll: A learning theoretical approach is developed on the basis of a philosophical understanding of knowledge and learning. A learning theory can be defined as a conception of the individual, the world, the individual’s relation to the world, and knowledge. Analytically, learning principles can be divided into the form, content and relations of a learning environment. The concept of form describes the organisation of the students’ work; how do the students work with the subject matter?

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6 Bildungsräume gestalten

Content describes organisation of the subject matter; what are the students working with? Finally, the concept of relations describes the relationship between the participants (teachers and students) in the learning environment and their respective roles. Learning principles can be defined as an approach to form, content and relations of the learning environment“ (Dalsgaard 2005, Abs. 2, H.i.O.)

Vor dem Hintergrund der epistemologischen Dimension didaktischer Theorie und Praxis erscheint es als problematisch, wenn Didaktik im Sinne eines neutralen Instruments eingesetzt wird. In einem solchen Fall wird Didaktik zu einer rezeptförmigen Methodenhandreichung, durch die Lehr-/Lernsituationen gemeistert werden sollen. Gruschka problematisiert in diesem Kontext eine „‚Entwissenschaftlichung‘ der Didaktik“ (Gruschka 2011, S. 67). Dementsprechend weist Gruschka darauf hin, dass in den „letzten Jahren eine zunehmende, sich verdünnende Leitfadenliteratur“ (Gruschka 2011, S. 66) etabliert hat. Didaktik „dient nicht mehr […] einer bestimmten Sache, sondern betreibt faktisch deren Entsorgung durch die möglichst einfache, zum Auswendiglernen einladende Darstellung eines didaktischen Stellvertreters“ (Gruschka 2011, S. 66f.). Reich spricht hier von einer Krise der Didaktik und problematisiert – ähnlich wie die Kritik Gruschkas an der Entwissenschaftlichung – einen Substanzverlust theoretischer Innovation in der Didaktik. Dieser Substanzverlust, so Reich, fordert in Konsequenz Didaktiker bzw. Lehrende und Lernende im Praxisfeld gleichermaßen heraus. Wenn ich von einer Krise der Didaktik spreche, dann meine ich zunächst den engeren Umstand, dass es die wissenschaftliche Didaktik im deutschen Sprachraum in den letzten zwei Jahrzehnten nicht mehr geschafft hat, von sich aus Modelle und Theorien zu entwerfen, die als passende Konstrukte für praktizierende und reflektierende Didaktiker hinreichend hätten dienen können (Reich 2012, S. 65).

An diesem Problemhorizont setzt eine bildungstheoretisch fundierte Didaktik an, die dem epistemologischen Horizont der integrativen Bildungsforschung verpflichtet ist. Als didaktisches Modell basiert eine bildungsorientierte Didaktik auf einem bildungstheoretischen Verständnis, • welches an Ansätze konstruktivistischer Didaktik anschlussfähig ist und • didaktische Planungen in Anschluss an den Spatial Turn in Kultur- und Sozialwissenschaften raumkonzeptionell fasst: Das heißt, didaktisches Geschehen wird als Interaktionsgeschehen verstanden, welches sich in sozialen Interaktionen und damit räumlich vollzieht. Vor dem Hintergrund der ethischen Dimension von Bildung verwundert es nicht, dass eine bildungsorientierte Didaktik auch als eine Form ethischer Praxis verstanden werden kann.

6.3 Bildungsorientierte Didaktik als angewandte Ethik Eine bildungsorientierte Didaktik lässt sich aufgrund der ethischen Dimension von Bildung als angewandte Ethik im pädagogischen Feld verstehen.

6.4 Lerntheoreusche Begründung

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Angewandte Ethik stellt eine bereichsspezifische Auseinandersetzung mit ethischen Prämissen dar. Dabei wird im Zuge der angewandten Ethik die Fundierung und Anwendung ethischer Prinzipien auf bereichsspezifische Probleme und Konfliktfälle bezogen – z.B. in der Tierethik, Wissenschaftsethik, politischen Ethik und Rechtsethik. Mit Bezug auf das pädagogische Feld wird von einer Bildungsethik ausgegangen (vgl. Kergel 2018), die sich in Lehr-/Lernprozessen vollzieht. Lehr-/Lernprozesse machen einen zentralen Teil pädagogischer Theorie und Praxis aus und können mittels didaktischer Strategien wertegeleitet geplant und gesteuert bzw. begleitet werden. Vor dem Hintergrund dieser ersten Vorüberlegungen können die Eckpunkte einer bildungsorientierten Didaktik wir folgt umrissen werden: Eine bildungsorientierte Didaktik setzt auf Grundlage eines bildungstheoretisch fundierten Verständnisses von sozio-konstruktivistischen Lehr-/Lernprozessen in räumlichen Kontexten bildungsethische Modelle im Kontext von Lehr-/Lerngeschehen um. Dies geschieht, indem durch das didaktische Handeln Bildungsräume (vor)strukturiert werden. Diese Überlegung zu den Eckpunkten einer bildungsorientierten Didaktik wird im Folgenden argumentativ entfaltet.

6.4 Lerntheoretische Begründung

Oder: Vom sozio-konstruktivistischen Lernen zum Bildungslernen

Um die komplexe These zu den Eckpunkten einer bildungsorientierten Didaktik zu entfalten – mehrere Prämissen und Überlegungen sind hier miteinander verknüpft – wird im Folgenden die These zergliedert dargestellt bzw. analysiert. Am Ende dieser Analyse werden theoretisch fundierte sowie handlungsorientierte Orientierungspunkte für eine bildungsorientierte Didaktik stehen. Mit diesen Orientierungspunkten für eine bildungsorientierte Didaktik sollen Ansätze für die Gestaltung von Bildungsräumen an die Hand gegeben werden. Ausgangspunkt eines jeden didaktischen Modells ist ein (theoretisch fundiertes) Verständnis vom Lernen. Das Konzept des Bildungslernen wurde bereits entwickelt. Im Folgenden wird das Bildungslernen aus lerntheoretischer Perspektive thematisiert. Dieses Vorgehen ermöglicht eine lerntheoretische Fundierung des Bildungslernens. Vor dem Hintergrund dieser lerntheoretischen Fundierung des Bildungslernen und in Folge von Bildung können die Strategien einer (sozio-)konstruktivistischen Didaktik für eine bildungsorientierte Didaktik modifiziert nutzbar gemacht werden. Sozio-konstruktivistische Didaktikkonzepte basieren auf dem Verständnis eines sozio-konstruktivistischen Lehrens und Lernens. Diese spezifischen Formen des Lehrens und Lernens, welche sich von kognitivistischen und behavioristischen Lehr/Lernverständnissen abgrenzen (vgl. Kergel 2014), sind wiederum an bildungstheoretische Positionen anschlussfähig, wie sie im Deutschen Idealismus formuliert worden sind. Diese These setzt einen Blick auf ein sozio-konstruktivistisches Lehr/Lernverständnis voraus.

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6 Bildungsräume gestalten

Lerntheorien stellen Modelle dar, die Lernprozesse beschreiben. Vor allem Kognitivismus und Behaviorismus legen als lerntheoretische Modelle einen starken Akzent auf empirische Fundierung. Aus epistemologischer Perspektive teilen Behaviorismus und Kognitivismus die Grundannahme, dass das Subjekt die objektiven Strukturen der Welt internalisiert. Konstruktivistisch orientierte Lerntheorien basieren aus epistemologischer Perspektive dagegen auf einer Re-Definition der Relation des Subjekts zur Wirklichkeit. Ein konstruktivistisch orientiertes Verständnis vom Lernen zeichnet sich darüber aus, dass nicht länger davon ausgegangen wird, dass Lernende objektiv gegebene Strukturen internalisieren. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass das Wissen um Welt und Wirklichkeit ein Konstrukt darstellt, welches sich das Subjekt in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt erarbeitet. Es geht also nicht um die Internalisierung objektiver Strukturen, sondern um einen Ordnungsprozess von Welt, der als eigenständige (Konstruktions-)Leistung des Lernenden angesehen werden kann. Jäger (1998, S. 50) sieht dementsprechend den „Grundgedanken des Konstruktivismus“ darin, „Theorien als Konstruktionen zu verstehen und über das Verfahren und den Zweck des Herstellens dieser Konstruktionen deren Sinn aufzuklären“ (Jäger 1998, S. 33). In der Weiterentwicklung konstruktivistischer Ansätze wird ergänzend die soziale Dynamik im Rahmen konstruktivistischer Erkenntnisakte thematisiert (vgl. Gergen & Gergen 2009): Erkenntnis ist kein isolierter, autoreferentieller Prozess eines vereinzelten Subjekts, das für sich alleine lernt, sondern vollzieht sich als intersubjektiver Erkenntnisprozess immer mit und durch andere. Lernende als Mitglieder einer Lerngruppe versuchen, zu einem gemeinsamen Verständnis der Lerninhalte zu kommen. Als ein paradigmatisches Beispiel für eine solche gemeinsame Wissenskonstruktion lässt sich Wikipedia anführen (vgl. dazu eingehender Kergel 2018). Bedeutungen werden in einem gemeinsamen Verständnisprozess ausgehandelt. Auf diese Weise wird individuelles Wissen geteilt. Dieses sozial geteilte oder distribuierte Wissen kann dafür eingesetzt werden, gemeinsames Wissen zu konstruieren. Gemeinsames Lernen ermöglicht eine dialogische Multiperspektivität auf ein Phänomen, wodurch eine differenzierte Form der Wissenskonstruktion geleistet werden kann. Diese kollektiven Konstruktionsprozesse können auch als KoKonstruktionsprozesse verstanden werden (vgl. hierzu auch Sutter 2009). Im Gegensatz zum Behaviorismus und Kognitivismus betont der Konstruktivismus verstärkt die Individualität im sozialen Kontext sowie die emotionale Durchdringung der jeweiligen Wissensstrukturen (vgl. Siebert 2005). Die Konstruktion von Wissen im sozialen Kontext wird auch emotional erfahren. So weist Reich auf die emotionale Dimension von Lernen im sozialen Kontext hin: „Der andere will anerkannt sein und dies von uns gespiegelt bekommen. Dies erfordert fast nie lange Sätze, sondern meist nur einen Blick, eine Geste, eine kurze Aufmunterung oder Anerkennung. Dies schafft eine Atmosphäre, die von Selbstwert zeugt und die Selbstwert vermitteln kann“ (Reich 2012, S. 250). Hier zeigt sich die Anschlüssfähigkeit konstruktivistischer Positionen an bildungstheoretische Überlegungen: Selbstwirk-

6.5 Dekonstrukuon innerhalb der konstrukuvisuschen Didakuk

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samkeitserfahrungen im und durch den sozialen Kontext stellen ein zentrales Merkmal des Bildungslernen als eine Form des sozial-konstruktivistischen Lernens dar. Wissen wird trotz sozialer Teilung und Bedeutungsaushandlung auch immer individuell erfahren. So individuell (nicht isoliert!) wie jeder Lernende ist auch die jeweilige konstruierte ‚Wissensstruktur‘. Die Dynamik und Individualität der Lernprozesse spiegelt sich in der Dynamik und Individualität der jeweiligen Konstruktion von Wissensstrukturen; dies lässt die spezifische, motivationale Disposition eines jeden Lernenden sowie dessen Erlebnis des Lernprozesses relevant werden. Die Passung der individuellen Wissensstrukturen mit der Umwelt (Können andere mein Verständnis von Welt, meinen Umgang mit Daten, Fakten etc. nachvollziehen?), wird im intersubjektiven Verständigungsakt hergestellt. Dieses Zusammenspiel zwischen individueller Konstruktion von Wissensstrukturen und sozialer Aushandlung der Bedeutung von Daten, Fakten etc. wird erkenntnistheoretisch von sozial-konstruktivistischen Ansätzen aufgearbeitet und verlangt eine erkenntniskritische Selbstreflexion: Mein Selbst-/Weltverständnis ist nur eines von vielen. Durch andere lernende Subjekte erhalte ich die Möglichkeit, mein Selbst/Weltverständnis zu erweitern. Im sozio-konstruktivistischen Lernen entfaltet sich die dialogische Dimension von Bildungsethik: „Die Erfahrungsabhängigkeit von Wirklichkeit nötigt zur Toleranz gegenüber den Konstrukten Andersdenkender“ (Siebert 1999, S. 44). Wie in den bildungstheoretischen Überlegungen Humboldts ist dem SozioKonstruktivismus folglich ein prosoziales, dialogisches Element zu eigen: Wissenskonstruktion ist wie die Konstruktion eines Selbst-/Weltverhältnis nicht als isolierter Prozess zu denken. Vielmehr gehen individuelle und kollaborative Formen von Wissenskonstruktionen ineinander auf. Die ethische Dimension liegt hier in der konstruktivistischen Erkenntnislogik, „dass […] kein Wissen ‚an sich‘ privilegiert ist, dass Lernen ein Akt der (Ko-)Konstruktion in Gemeinschaften ist, dass Lehrer und Lernen nicht erzeugen, sondern nur anregen können“ (Terhart 2012, S. 144). Konstruktivistische Didaktikansätze sind einem derartigen sozio-konstruktivitischen Lernverständnis verpflichtet. So ist es gemäß Terhart (2012) für die konstruktivistische Didaktik die „Vorstellung“ „grundlegend“, „dass alles Wissen konstruiert ist, dass sich Wissen nur an Wissen – und nicht an Realität – abgleichen lässt“ (Terhart 2012, S. 144). In diesem Verständnis von Wissenskonstruktion zeigt sich der ‚idealistische‘ Moment bildungstheoretischer Reflexionen, welche auch die Erkenntnistheorie des Deutschen Idealismus auszeichnet.

6.5 Dekonstruktion innerhalb der konstruktivistischen Didaktik Die konstruktivistische Didaktik geht von einer sozio-konstruktivistischen Epistemologie aus. Um ein sozio-konstruktivistisches Lernverständnis für ein didaktisches Modell nutzbar zu machen, greift Reich auf die Begriffe Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion zurück.

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6 Bildungsräume gestalten

• Die Konstruktion stellt die Wahrnehmung der Wirklichkeit dar. Dies geschieht, in dem sich das Subjekt mit sich selbst und der Welt bzw. mit sich und seinem In-der-Welt-Sein auseinandersetzt, wobei das Selbst wiederum Teil der Welt ist. • In der Rekonstruktion wird ein begriffliches Verständnis von Phänomenen konstruiert – beispielsweise, wenn ein Kind alle fliegenden Gegenstände in der Luft als Vögel definiert. • In einem weiteren Schritt nimmt das Kind eine Differenzierung vor, indem es den begrifflich fixierten Wissensbestand ‚Alles was fliegt sind Vögel‘ dekonstruiert. So könnte das Kind zwischen ‚Tieren, die fliegen‘ und ‚Maschinen, die fliegen‘ den begrifflich gefassten Wissensbestand neu definieren. Diese Wissensbestände könnten immer weiter dekonstruiert werden: ‚Vögel, die fliegen‘ vs ‚Insekten, die fliegen‘… Durch die Dekonstruktion wird der Prozess der Wissensgenerierung stets weiter vorangetrieben.39 Die Dekonstruktion im Sinne Reichs kann als Art und Weise verstanden werden, wie sich explorative Neugier als Akt der Dekonstruktion stets aufs Neue wiederherstellt: Jeder Konstruktion folgt die Dekonstruktion. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung kann die Dekonstruktion auch als Strukturbeschreibung explorativer Neugier verstanden werden. Dekonstruktion ist dabei als sozialer bzw. didalogischer Erkenntnisprozess zu verstehen. Es verwundert daher nicht, dass Reich aus der Perspektive konstruktivistischer Didaktik Bildung als sozialen Prozess auffasst. Bildung ist laut Reich keine Einzelerfahrung, sondern ein Verständigungsprozess in Beziehungen. Die Vermittlungen von Inhalts- und Beziehungsseite zeigen heute oft noch die Einseitigkeit, Bildung überwiegend als Inhalt bzw. Wissen begreifen zu wollen. Bildung ist immer auch Beziehung, die primär das Verständigen prägt und dessen Kontext und Deutungsrahmen umfasst. Deshalb gehören heute kommunikative Kompetenzen zu einem Mindestmaß an Bildung (Reich 2012, S. 101).

Die soziale Dimension, die Bildung auszeichnet, lässt sich anhand von raumepistemologischen Ansätzen herausarbeiten. Dabei kann der Akt der Dekonstruktion systematisiert in Lehr-/Lernszenarien integriert werden. In anderen Worten: Die Dekonstruktion bzw. die explorative Neugier lässt sich als zentrales Strukturierungsmodell von Bildungsräumen verstehen, welche durch eine bildungsorientierte Didaktik gestaltet werden. Um dies leisten zu können, wird im Folgenden ein analytischer Fokus auf den Begriff ‚Bildungsraum‘ gelegt.

Es sei hier angemerkt, dass Reichs Verständnis der Dekonstruktion nicht mit dem dekonstruktivistischen Verfahren zu verwechseln ist, welches Derrida im Kontext poststrukturalistischer Theoriebildung entwickelt hat (vgl. dazu Heidkamp & Kergel 2018).

39

6.6 Bildungsorienuerte Didakuk als Raumdidakuk

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6.6 Bildungsorientierte Didaktik als Raumdidaktik Pädagogisches Handeln ist auch stets ein räumlich gebundenes Handeln. So sind es „räumliche Konfigurationen […], die Formen der Ermöglichung und Herstellung von Bildung und Erziehung gestalten“ (Glaser & Thole 2018, S. 19). In der Auseinandersetzung mit der räumlichen Dimension von Bildung kommt dem Begriff ‚Bildungsraum’ eine hervorgehobene Bedeutung zu. Die Relevanz des Bildungsraums zeigt sich in dessen vielfältiger Thematisierung im pädagogischen Feld. So wird der Bildungsraum in der Kleinkindpädagogik ebenso diskutiert (vgl. Klein 2016) wie in der Schulpädagogik (vgl. Böhme 2009) oder in der Hochschulbildung (vgl. Zauchner et al. 2008). Der etablierten Verwendung der Bezeichnung ‚Bildungsraum‘ steht die Frage nach einer erkenntnisangemessenen, begrifflichen Klärung gegenüber. Aus analytischer Perspektive erscheint die Bezeichnung Bildungsraum als begriffliche Herausforderung, da der für das pädagogische Feld zentrale Begriff Bildung mit einer räumlichen Rahmung verzahnt wird. Eine räumliche Fassung von Bildungsdynamiken lässt die Raumanalyse von sozialen Phänomenen relevant werden, die als analytische Strategie seit dem Spatial Turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften zunehmend an Bedeutung gewinnt. Mit der Konjunktur des Begriffs des Raums in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung ergibt sich, wie bei jedem zentralen Begriff, die Herausforderung einer allgemein akzeptierten Definition: „Für ‚Raum’ gibt es nicht die eine grundlagentheoretische Bestimmung, sondern wird seit dem spatial turn vielfältig verwendet” (Hummrich 2018, S. 251, H.i.O.). Trotz der Vielfalt der Deutungsansätze hat sich grundlegend ein performativkonstruktivistisches Raumverständnis etabliert: Anstatt den Raum als einen ‚Container‘ zu konzeptionalisieren, in dem die Menschen einander begegnen, kann Raum aus sozio-konstruktivistischer Perspektive als performative Praktik im Sinne einer Voraussetzung sowie als Effekt von Interaktionsdynamiken verstanden werden: „Raumwissenschaftlich gesehen ist dieser Raum nicht mehr Gegenstand der Geometrie, sondern der Topologie, die sich nicht mit der Ausdehnung, sondern der Vernetzung befasst “ (Günzel 2018, S. 34f.). Die konstruktivistische Dimension zeigt sich darin, dass der „Raum […] kein ‚Naturding‘“ ist (Günzel 2018, S. 41). Dementsprechend stellen Deleuze und Guattari fest, dass „das Leben […] räumlich und gesellschaftlich segmentiert ist“ (Deleuze & Guattari 1992, S. 284). So sind „Räume keineswegs“ als „etwas natürlich Gegebenes“ (Schindl 2007, S. 61) zu betrachten, sondern werden „durch technische Rahmenbedingungen, kulturelle Praktiken und soziale Interaktionen“ (ebenda) hergestellt: Raum gilt also längst nicht mehr als physisch-territorialer, sondern relationaler Begriff. Für den spatial-turn wird nicht der territoriale Raum als Container oder Behälter maßgeblich, sondern Raum als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung eng verknüpft mit der symbolischen

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6 Bildungsräume gestalten

Ebene Raumrepräsentation (etwa durch Codes, Zeichen, Karten) (Bachmann-Medick 2009, S. 292).

In der definitorischen Bestimmung des Raums lässt sich auch auf de Certeaus Raumtheorie zurückgreifen, die „zu den am meisten rezipierten in der gegenwärtigen Raumdebatte“ (Günzel 2018, S. 95) zählt. De Certeau differenziert dabei grundlegend zwischen Raum und Ort. Der Ort ist die geometrische Lokalisierung eines Phänomens: Durch taxonomische40 Bestimmungen wird ein Phänomen konkret verortbarer, es wird eingeordnet und derart zu einer geosozialen Koordinate (vgl. Kergel 2019). „Der Ort kann absolut als der Punkt im physischen Raum definiert werden, an dem sich ein Akteur oder ein Ding platziert findet, stattfindet, sich wiederfindet. D.h. demnach als Lokalisierung“ (Bourdieu 2010, S. 117, H.i.O.). So stellt gemäß de Certeau ein „Ort die Ordnung“ dar. Der Ort ist ein organisierter, vermessener, fixierter Raum. Diese ‚Ordnung des Ortes durch eine Verortung des Raums‘ schließt es im Sinne binärer Kategorialordnungen aus, „daß sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden“ (de Certeau 1988, S. 217). Im Gegensatz zur starren Struktur des Ortes ist der Raum durch ein variables Zusammenspiel von Elementen geprägt: „Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen […] Er ist also ein Resultat von Aktivitäten […] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht“ (de Certeau 1988, S. 217, H.i.O.). Während ein Ort Ordnung produziert, ergibt sich der Raum aus der (sozialen) Dynamik, die aus dem infiniten Zusammenspiel von Elementen resultiert. Durch dieses infinite Zusamenspiel der Elemente wird der Raum als Konstellation performativ (re-)produziert und verändert. Der Raum ist folglich kein Ort: • Aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive kann unter dem Begriff Raum die analytische Fassung sozialer Beziehungen als ein relationales Gefüge (Konstellationen) verstanden werden: Die Akteure stehen in bestimmten Beziehungen zueinander – z.B. in empowerenden, solidarisch-anerkennenden oder konkurrierenden Beziehungen. • Die Gesamtheit der Beziehungen in einem Interaktionsgeschehen lässt sich als Konstellation bezeichnen – die Konstellation eines Klassenraums oder eines Geschäftsmeetings. • Die Konstellation bzw. die Gesamtheit relationaler Gefüge sozialer Beziehungen in einem Interaktionsgeschehen spannt den Raum auf. Vor dem Hintergrund dieser raumtheoretischen Überlegungen lässt sich eine Definition des Bildungsraums formulieren. Bildungsräume stellen ein soziales Gefüge bzw. eine Konstellation dar, in der sich Bildungsdynamiken vollziehen, d.h. in denen Akteure Taxonomie, aus dem altgriechischen ‚taxis‘/Ordnung, stellt eine Ordnungsstrategie dar: Elemente werden Kategorien zugeordnet.

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6.7 Raumerleben und Enãremdungserfahrung bei Rousseau

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derart miteinander interagieren, dass sich Bildungserleben und Bildungslernen entfalten können. Aus didaktischer Perspektive gilt es zu bedenken, dass der Bildungsraum sich zwar als Lernwelt modellieren lässt, indem Rahmenbedingungen/Ermöglichungskontexte für Bildung eröffnet werden. Bildungsgeschehen dagegen lässt sich nicht determinieren. Es verwundert vor dem Hintergrund der Passung zwischen Bildung als Prozess der Subjektwerung und einem sozio-konstruktivistischen Lernverständnis nicht, dass eine konstruktivistische Didaktik auch eine ‚offene Didaktik‘ bzw. eine Ermöglichungsdidaktik ist. Anstatt einem Lernort werden durch die konstruktivistische Didaktik Lernräume eröffnet: Die konstruktivistische Didaktik ist sehr offen in Bezug auf die Planung. Sie will nicht wie andere Ansätze die Didaktiker auf ein formales Modell verpflichten, das für jede Unterrichtsplanung möglichst alle Ziele/Intentionen aufschreibt, diesen Methoden und Medien zuordnet, um zu scheinbar vollständiger Planung zu gelangen (Reich 2012, S. 248, H.i.O.).

Aus der Perspektive einer bildungsorientierten Didaktik gilt es zu ergänzen, dass konstruktivistische Lernräume dann zu Bildungsräumen werden, wenn im Zuge des Lernens sich Bildungsdynamiken bzw. Bildungserleben und Bildungslernen entfalten. Im Zuge des sozio-konstruktivistischen Lernens müssten die in das Lerngeschehen involvierten Akteure das Wirkgefüge aus explorativer Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen entwickeln, damit ein Lernraum zum Bildungsraum wird. Eine bildungsorientierte Didaktik lässt sich aus dieser Perspektive auch als Form einer ‚raumzentrierten‘, konstruktivistischen Didaktik verstehen, bei der der Akzent auf die Entfaltung von Bildungserleben durch Bildungslernen gelegt wird. Für die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer bildungsorientierten Didaktik und der Entwicklung von didaktischen Strategien, die zur Gestaltung von Bildungsräumen eingesetzt werden können, kann auf eine raumpädagogische Tradition in der neuzeitlichen Pädagogik zurückgegriffen werden.

6.7 Raumerleben und Entfremdungserfahrung bei Rousseau Im Zuge der Entwicklung von neuzeitlichen Bildungs- und Erziehungskonzepten wurde pädagogische Praxis auch räumlich gefasst. Weit vor dem Spatial Turn existiert eine raumpädagogische Tradition: Der Raumbegriff hat bereits sehr früh in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bildung und Erziehung eine prominente Stelle eingenommen. So widmete sich etwa Jean-Jaques Rousseau […] der Raumgestaltung in der Kindererziehung und seine Ideen schlagen sich wiederum in zahlreichen reformpädagogischen Konzepten zur Gestaltung der Kinderumgebung wieder (Hummrich 2018, S. 251).

Rousseau – der zu den „sehr wenige[n] Philosophen“ gehört, welche „die Kindheit ernst genommen haben“ (Bakewell 2018, S. 263) – formulierte ein Konzept vom Kind,

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6 Bildungsräume gestalten

welches an Humboldts Bildungskonzept erinnert und dem eine räumliche Dimension inhärent ist: Das Kind ist Teil der Natur und entwickelt sich mit und in der Natur. Untrennbar mit Rousseaus Verzahnung von Kind und Natur ist auch eine drohende Entfremdungserfahrung verbunden, die sich aus einer Trennung von Kind und Natur ergeben würde: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen der Menschen“ (Rousseau 1995, S. 9). Durch die Einbindung in die symbolische Ordnung bürgerlicher Gesellschaft wird der Mensch zur Funktion reduziert und verliert derart sein ganzheitliches, ‚natürliches‘ Selbst/Weltverhältnis: Der natürliche Mensch ruht in sich. Er ist eine Einheit und ein Ganzes; er bezieht sich nur auf sich oder seinesgleichen. Als Bürger ist er nur ein Bruchteil, der vom Nenner abhängt, und dessen Wert in der Beziehung zum Ganzen liegt, d.h. zum Sozialkörper. Gute, soziale Einrichtungen entkleiden den Menschen seiner eigentlichen Natur und geben ihm für seine absolute eine relative Existenz (Rousseau 1995, S. 12).

Ähnlich fasst Fanon die Entfremdungserfahrungen, die aus einer funktionalen Einbindung des Individuums entspringen. „Ich kam auf die Welt, darum bemüht, den Sinn der Dinge zu ergründen, und meine Seele war von dem Wunsch erfüllt, am Ursprung der Welt zu sein, und dann entdecke ich mich als Objekt inmitten anderer Objekte“ (Fanon 1985. S. 93). Die Neugier weicht der Erfahrung des Objekt-Werdens durch die Einordnung in die symbolische Ordnung: „Ich rief die Welt an, und die Welt amputierte meine Begeisterung“ (Fanon 1985, S. 98). Sartre (1997) problematisiert, dass diese Entfremdung auch ein soziales Fremdwerden der Menschen untereinander ist. Die Entfremdung – so Sartre – unterbindet ein ‚wirkliches Moralsystem‘: „Es gibt heute kein wirkliches Moralsystem, weil die Existenzbedingungen für ein solches System nicht vorhanden sind. Die Menschen sind unsichtbar füreinander. Zu viele Maschinen und Sozialstrukturen verstellen ihnen den Blick“ (Sartre 1997, S. 153). Diese entfremdungstheoretischen Überlegungen wurden durch Rousseaus pädagogischen Reflexionen vorbereitet: Mit dem 1762 erschienenen Werk „Émile oder Über die Erziehung“ thematisiert Rousseau pädagogisches Handeln als Entfaltung individueller Authentizität. Authentizität (lat. Authenticum/jemand, der etwas aus eigener Kraft vollbringt) lässt sich als subjektphilosophischer Gegenentwurf zu einem Individuum verstehen, welches lediglich gesellschaftlich präfigurierte Rollen performativ reproduziert – und sich derart als Subjekt selbst fremd wird bzw. von sich selbst entfremdet. ‚Ein unabhängiges Leben führen‘, ‚seiner Bestimmung folgen‘, ‚man selbst sein‘, ‚sich (und andere) akzeptieren, wie man ist (und wie sie sind)‘, ‚sich finden‘, ‚sich verwirklichen‘ u.v.a.m. sind einige der kaum bestrittenen Formeln, welche die Kraft dieses Ideals illustrieren. In ihnen kommt auch die Gleichursprünglichkeit bzw. zumindest der enge Zusammenhang zwischen Autonomie (selber denken,

6.7 Raumerleben und Enãremdungserfahrung bei Rousseau

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selber handeln) und Authentizität (man selbst sein, seiner eigenen Stimme folgen) zum Ausdruck (Reichenbach 2018, S. 69).

Rousseau bringt in seinen pädagogischen Überlegungen Authentizität in Verbindung mit einem Verständnis vom Kind, welches Teil der Natur ist. Der Übergang zur Kultur wird von Rousseau als Entfremdung avant la lettre gedeutet: In der Natur sind die Menschen einander gleich. Die Zivilisation samt ihrer symbolischen Ordnung entfremdet die Menschen untereinander, indem sie in Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse ‚zivilisiert‘ werden. Diese Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse trennen Menschen voneinander bzw. unterbinden ein solidarisches miteinander. Dem konformistischen Diktat der Gesellschaft unterworfen, ist der Mensch in seinem Geltungsdrang und seiner Eitelkeit abhängig von der Meinung der anderen. Diese Abhängigkeit des zivilisierten Menschen und die durch den sozialen Kontakt erzeugte Entgrenzung seiner Bedürfnisse führen Rousseau zufolge gleichzeitig zu Ungleichheit, Unfreiheit und Authentizitätsverlust (Jaeggi & Celikates 2017, S. 78).

Mit den Überlegungen zur ‚Natur des Menschen‘ begründet Rousseau den neuzeitlichen Entfremdungsdiskurs – also die Art und Weise, wie Entfremdung soziologisch/philosophisch/psychologisch/literarisch etc. thematisiert wird. Erziehung nimmt im Entfremdungsgeschehen eine zentrale Rolle ein: Die gesellschaftliche Einpassung bzw. Verortung des Menschen wird gemäß Rousseau durch Erziehung geleistet: „In der Sozialordnung sind alle Plätze gekennzeichnet; jeder muß für seinen Platz erzogen werden. Verläßt einer seinen Platz, so ist er zu nichts mehr zu gebrauchen. Die Erziehung ist nur insofern von Nutzen, als die Berufung mit der Berufswahl der Eltern übereinstimmt“ (Rousseau 1995, S. 14). Die natürliche Entwicklung des Menschen ist eine räumliche, da der Mensch sich seiner Natur gemäß in der Lebenswelt bzw. in seinem Lebensraum entfaltet. Die natürlichen Bildungswege des Subjekts sind nicht gesellschaftlich vorgegeben Erziehung verortet den Menschen als Individuum in der symbolischen Ordnung bürgerlicher Gesellschaft. Es verwundert nicht, dass im Zuge von Rousseaus raumtheoretisch orientierter Bestimmung der ‚Natur als Freiraum‘ versus ‚bürgerliche Gesellschaft als Verortung des Individuums‘ die Stadt als Symbol für die bürgerliche Gesellschaft und deren Entfremdungserscheinungen fungiert. Die Stadt – so Rousseaus Überlegung – schließt den Menschen ein und entfremdet diesen von der Natur: Städte sind das Grab des Menschen. In wenigen Generationen sterben die Familien aus oder entarten. Man muß sie erneuern, und diese Erneuerung kommt immer vom Land. Schickt also eure Kinder auf das Land, damit sie sich dort gewissermaßen selber erneuern und inmitten der Felder die Kräfte holen, die man in der ungesunden Stadtluft verliert (Rousseau 1995, S. 35).

Durch Erziehung wird der Mensch von einem authentischen Selbst-/Welterleben getrennt und gesellschaftlich funktionalisiert. Dies geschieht v.a. in der Stadt, während

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6 Bildungsräume gestalten

das Land in der Tendenz die ‚natürliche‘ und damit nicht-entfremdete Lebenswelt repräsentiert – eine Überlegung, die in der Reformpädagogik wieder aufgegriffen wird (vgl. 6.6.2). Im Idealfall steht die individuelle Authentizität im Einklang mit der Natur: „Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung“ (Rousseau 1995, S. 10). Rousseau formuliert im ‚Émile‘‘ einen Ursprungsmythos der Authentizität und bezieht diesen Ursprungsmythos auf die pädagogische Praxis. In dem „Erziehungstraktat“ betont Rousseau „wiederholt […] die Einzigartigkeit jeden Kindes“ (Schmidt 2018, S. 62) – ein „Aspekt“, der für Rousseaus „Erziehungsverständnis zentral ist“ (ebenda). Die Einzigartigkeit bzw. Authentizität des Kindes entfaltet sich gemäß Rousseau in und durch die Natur. Damit ist eine bildungstheoretische Position avant la lettre formuliert, die sich als Gegenposition zum Enkulturationsansatz erziehungstheoretischer Überlegungen lesen lässt – „Das Ziel der Erziehung? Es ist das Ziel der Natur selber“ (Rousseau 1995, S. 11). Das Kind präsentiert dabei ganz im Sinne der Sozialfigur des Säuglings den Beginn von etwas Neuem: „Es ist die Offenheit des Kindes, der sog. Naturzustand, der für Rousseau den Anfang der Unbestimmtheit beschreibt, von dem jeder von uns ausgeht, um sich als ein historisches Wesen entwerfen zu können“ (Bilgi 2018, S. 268). Aus raumpädagogischer Perspektive ließe sich sagen, dass Rousseau eine Pädagogik der ‚Naturalisierung‘ des Bildungsraumes entwirft: Die Natur hat dem Menschen alles mitgegeben, was dieser benötigt, um seine Fähigkeiten zu entwickeln. Die ‚Erzieher‘ – beispielsweise die Eltern – müssen gerade in den ersten Lebensjahren darauf achten, dass keine ‚künstlichen‘/‚entfremdeten Bedürfnisse‘ das Kind prägen. Und auch in späteren Entwicklungsphasen bleibt der Erzieher im Hintergrund. Rousseau beschreibt damit eine ‚negative Erziehung‘, hinter die keine spätere Pädagogik zurückgehen konnte: „Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie darf das Kind nicht in der Tugend und in der Wahrheit unterweisen, sondern sie muß das Herz vor Lastern und den Verstand vor Irrtümern bewahren“ (Rousseau 1995, S. 72). Mehr oder weniger explizit muss sich pädagogische Reflexion zu Rousseau verhalten – ob ablehnend, zustimmend oder kritisch abwägend. Das Kind entwickelt sich in und mit der Natur. Die Natur erhält die Bedeutung der nicht-entfremdeten Lebenswelt in der und mit der sich der Heranwachsende enfalten bzw. ausbilden kann. Die Lebenswelt ist der pädagogische Raum, aus dem heraus sich authentische Situationen zum Lernen entwickeln. Nicht nur, aber vor allem in der praxisorientierten Ära der Reformpädagogik fanden die raumpädagogischen sowie entfremdungstheoretischen Überlegungen Rousseaus eine didaktische Modellierung.

6.8 Reformpädagogik – Oder: ‚Eine Pädagogik vom Kind her‘

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6.8 Reformpädagogik – Oder: ‚Eine Pädagogik vom Kind her‘ Grundsätzlich lässt sich die Reformpädagogik als internationale Bewegung verstehen, die um die Jahrhundertwende begann und in Deutschland mit dem Nationalsozialismus endete. Die Reformpädagogin und Kinderrechtlerin Ellen Key bezeichnete dementsprechend das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert des Kindes – so der Titel eines von ihr 1900 veröffentlichten Buches. Dem Kind wird von Key eine eigene Natur zugesprochen. Das Kind erhält derart eine vom Erwachsenen unterschiedene, sakrale und oftmals geschlechtslose ‚Wesenheit‘: Bevor nicht Vater und Mutter ihre Stirn vor der Hoheit des Kindes in den Staub beugen; bevor sie nicht einsehen, daß das Wort Kind nur ein anderer Ausdruck für Majestät ist; bevor sie nicht fühlen, daß es die Zukunft ist, die in Gestalt des Kindes in ihren Armen schlummert […] werden sie auch nicht begreifen, daß sie ebenso wenig die Macht oder das Recht haben, diesem neuen Wesen Gesetze vorzuschreiben, wie sie die Macht oder das Recht besitzen, sie den Bahnen der Sterne aufzuerlegen (Key 1992, S. 120).

Key stand wie auch die Reformpädagogik insgesamt in der Tradition von Rousseaus Pädagogik, die vom Kind ausgehen sollte: Das Kind und dessen individuelle Natur sollte sich in einer Welt entfalten können, die durch eine zunehmende Industrialisierung und Verstädterung gekennzeichnet war. Rittelmeyer (1994) versteht hierbei den „Widerspruch zwischen der Gesellschaft mit ihren tradierten Bildungseinrichtungen […] und den Bedürfnissen Heranwachsender nach Zuwendung und Liebe“ (Rittelmeyer 1994, S. 212) als einen Impuls, der zur Entstehung der Reformpädagogik beitrug. Aufgrund der Verstädterung – ein Signum der Moderne (vgl. Kergel 2019) – sahen einige Reformpädagogen wie Hermann Lietz in Landerziehungsheimen alternative Lebenswelten und Bildungsräume. Während Städte einen schändlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben, so die Überlegung, ermöglichen Landerziehungsheime als Alternativräume eine ganzheitliche Entwicklung des Kindes. So gründete Lietz 1998 in Ilsenburg ein Heim für die Unterstufe und 1901 sowie 1904 eins für die Mittel- sowie Oberstufe. Reformpädagogische Ansätze wie die von Maria Montessori oder Célestin Freinet sowie die von ihnen eingerichteten alternativen Lehr-/Lernräume boten ebenfalls Alternativen zu staatlichen Bildungseinrichtungen und deren lehrerzentrierten Frontalpädagogik. Mit Bezug auf die Einrichtung alternativer Lehr-/Lernräume kann die Reformpädagogik als eine Pädagogik des Raumes verstanden werden. Aus didaktischer Perspektive stellen handlungs- und produktionsorientierte Verfahren das didaktische Erbe der Reformpädagogik dar: Kinder sollen eigenaktiv handelnd die Welt entdecken und sich selbst in der Welt entwickeln. Dementsprechend ist die Reformpädagogik als eine „Pädagogik vom Kind her“ (Tenroth 2000, S. 203) zu verstehen, welche den Akzent auf die Selbstbildung des Kindes legt. Diese Selbstbildung des Kindes soll durch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren gefördert/unterstützt werden. Im Sinne der Idee einer ganzheitlich subjektzentrierten Entwicklung des Kindes gilt es, die körperliche,

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6 Bildungsräume gestalten

seelische, geistige Selbstausbildung zu unterstützen, anstatt das Kind normativ zu erziehen. Ein didaktisches Merkmal der Reformpädagogik besteht demgemäß darin, Hilfen zur Selbstbildung beziehungsweise Bildungsräume für ein selbstgesteuertes Lernen zu entwickeln. Dies geschieht beispielsweise in der Montessoripädagogik u.a. mittels Lernmaterialien, die für die Kinder zugänglich sind und Formen des selbstgesteuerten Lernens ermöglichen sollen. Auch wenn das Ende der Reformpädagogik in Deutschland sich mit der Machtergreifung der Nazis datieren lässt und die Reformpädagogik wohl europaweit mit dem zweiten Weltkrieg endgültig ihr Ende fand, bleibt ihr didaktischer Einfluss ungebrochen. Der Einfluss und die nachhaltige Wirkung der Reformpädagogik zeigt sich unter anderem in noch heute praktizierten, methodischen Ansätzen wie dem Wochenplan oder dem Montessori-Material. Die Reformpädagogik lebt durch ihre Didaktik weiter. Dementsprechend weist Glänzel (2002) auf die handlungspraktische Fokussierung hin, welche das Werk des Reformpädagogen Célestine Freinet erfährt: „Fragt man Pädagogen danach, unter welchem Vorzeichen ihnen die FreinetPädagogik bekannt ist, werden einem in der Regel diverse Techniken genannt, die die Freinet-Pädagogik auszeichnen“ (Glänzel 2002, S. 175). Dass die konkreten didaktischen Strategien im Vordergrund stehen, lässt sich auch an anderen, reformpädagogischen Ansätzen wie der Montessorpädagogik festmachen. Dies und den nachhaltigen Einfluss, welchen reformpädagogische Ansätze bis in unsere Tage hinein entfaltet haben, lässt sich als ‚Gütesigel‘ der didaktischen Praxistauglichkeit reformpädagogischer Ideen lesen. Aus der Perspektive einer bildungsorientierten Didaktik könnnen handlungs- und produktionsorientierte reformpädagogische Praxisstrategien – Lernende setzen sich handelnd mit sich und der Welt auseinander und produzieren derart Artefakte, die den Lernprozess repräsentieren (z.B. selbstverfasste Texte zu einem Lerngegenstand) – als konkrete didaktische Werkzeuge verstanden werden. Durch handlungs- sowie produktionsorientierte didaktische Methoden lässt sich eine bildungsraumorientierte Didaktik in Lehr-/Lernszenarien realiseren. Aus raumepistemologischer Perspektive kommt dabei der handlungs- und produktionsorientierten lebensweltlichen Didaktik von Freinet eine hervorgehobene Bedeutung zu.

6.9 Freinet – Vom Lernort zum Bildungsraum Der Reformpädagoge Freinet entwickelte für seine Didaktik ein Raumverständnis, welches beispielhaft für den lebensweltorientierten Ansatz reformpädagogischer Ansätze ist. Dabei zeigen Freinets epistemologische Grundlagen in einer kontrastierenden Textanalyse signifikante Überschneidungen mit Humboldts bildungstheoretischem Verständnis von Subjektwerdung: Während Humboldt den Begriff der Kraft verwendet, um den Prozess der intrinsischen Selbstbildung des Subjekts bzw. den ,Selbstan-

6.9 Freinet – Vom Lernort zum Bildungsraum

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trieb’ des Menschen zu beschreiben, greift Freinet auf den von Schopenhauer entwickelten Begriff der Macht zurück.41 So mobilisiert gemäß Freinet „das Individuum ein sehr großes Lebenspotential, das ich Macht nennen werde“ (Freinet 2000, S. 15, H.i.O.). Trotz dieser begrifflichen Ungleichheiten – Humboldt spricht da von Kraft, wo Freinet von Macht spricht – scheinen Humboldt sowie Freinet das gleiche Phänomen zu bezeichnen: Das kraft- bzw. machtvolle Lebenspotenzial, welches sich im Bildungsprozess selbst aktualisiert: Alles geht so vor sich, als ob der Mensch – und übrigens jedes Lebewesen – mit einem Lebenspotential ausgestattet wäre, […] Er strebt nicht nur danach, sich zu erhalten und sich zu regenerieren, sondern auch zu wachsen, ein Höchstmaß an Macht zu erreichen, aufzublühen und sich an andere Wesen weiterzugeben, die dann seine Verlängerung und Fortsetzung sind (Freinet 2000, S. 22).

Entsprechend dieser vitalistischen42 Auffassung vollzieht sich das menschliche Leben – ähnlich wie in Humboldts bildungstheoretischen Überlegungen – im Werden: „Das Leben ist kein Zustand, sondern ein Werden” (Freinet 2000, S. 26). Dieses Werden ist wie bei Humboldt durch Handlungen geprägt: „Was schließlich zählt, ist das greifbare Handeln, welches das Leben des Menschen verstärkt und verschönert“ (Freinet 2000, S. 22). Ganz in der Tradition von Rousseau sieht Freinet in der Verstädterung der Industrialisierung eine Entfremdungserscheinung. Dieser soll mit einer städteplanerischen ‚Renaturalisierung’ der urbanen Lebenswelt begegnet werden: Fordern wir also, daß man bei der Planung neuer Städte, besonders großer Industriestädte, eines Tages Vorsorge treffen muß für den von der harten Gewalt der Maschine gepackten Menschen, fordern wir, daß ein ‚Kinder-Reservat‘ vorbereitet und errichtet wird, so etwas wie ein großer Wildpark mit den wesentlichen Elementen, die zum Leben gehören, und die wir erwähnt haben: mit einem Bach, mit Sand, möglicherweise mit einem Hügel, mit Felsen und Höhlen, mit Bäumen, ja echten Bäumen, mit einer Ecke echtem Wald, mit Tieren, […] – und auch mit kultivierter Natur, die durch das Wissen und die Erfahrung des Menschen mit der Schopenhauer entwarf mit seinem Konzept des Willens ein kritisches Gegenbild zu einem naiven Fortschrittsglauben, der einseitig die Vorteile der transzendentalen Kompetenzen des Subjekts betont und überhöht. Hierbei koppelt Schopenhauer den Begriff „Willen“ vom Subjekt ab. Schopenhauer erhebt die „Kreatürlichkeit“ beziehungsweise die von Kant konstatierte animalische Dimension des Menschen zum „Urgrund des Seins“, zum „Ding an sich“ (Schopenhauer 1988, S. 376) und benennt dies mit dem Begriff des „Willens“ (Schopenhauer 1988, S. 151): „Jeder wahre Akt seines Willens ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes: er kann den Akt nicht wirklich wollen: ohne zugleich wahrzunehmen, daß er als Bewegung des Leibes erscheint“ (Schopenhauer 1988, S. 151). 42 Vitalismus bezeichnet die epistemologische Prämisse, dass eine Lebenskraft (vis vitalis) die Grundlage alles Lebendigen darstellt. 41

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6 Bildungsräume gestalten

echten Natur in Einklang geworden ist. […]; das Ganze soll harmonisch um ein Kinderzentrum gruppiert sein, eine Art Krippe oder Kinderhaus, das Hafen für all die kleinen Rechtlosen sein würde, deren Umgebung zu arm ist für die Erfordernisse ihrer Entwicklung und Bildung (Freinet 2000, S. 163).

Hier zeigt sich eine gedankliche Doppelbewegung im didaktischen Denken Freinets: Zum einen soll der Heranwachsende sich mit seiner Lebensumwelt auseinandersetzen und sich diese durch ein entdeckendes Lernen aneignen. Allerdings – und hier liegt eine sozialkritische Dimension von Freinets pädagogischem Denken – muss diese gesellschaftliche Realität auch ‚natürlich‘ bzw. kinderadäquat gestaltet sein. Diese sozialkritische Dimension brachte Freinet in Konflikt mit der symbolischen Ordnung – und zugleich den Respekt von Simone de Beauvoir ein, die zusammen mit ihrem Lebensgefährten Sartre die Freiheitsphilosophie des Existentialismus43 vertrat. So schildert de Beauvor in ihren Memoiren, wie sie zusammen mit Sartre „Partei für den Schullehrer Freinet von Saint-Pail-de-Vence“ ergriff, „der neue Erziehungsmethoden ersonnen hatte“ (de Beauvoir 1969, S. 116): Anstatt von den Schülern blinden Gehorsam zu erwzingen, appellierte er an ihre Freundschaft und ihre Initiative. Siebenjährige Schüler lieferten ihm Aufsätze, die ebenso lebendig, ebenso originell waren wie die Zeichnungen von Kindern dieses Alters, wenn man ihre Einfälle respektiert. Er veröffentlichte sie in einer kleinen Zeitschrift, La Gerbe. Der Pfarrer wiegelte einen Teil der Bevölkerung gegen ihn auf, der die Schule mit Steinen bewarf; aber der Lehrer setzte sich durch. Sein Erfolg bestätigte unsere leidenschaftliche Überzeugung: die Freiheit ist eine unerschöpfliche Quelle von Erfindungen, und so oft man sie zum Sprudeln bringt, bereichert man die Welt (de Beauvoir 1969, S. 116, H.i.O.)

Über den argumentativen Weg des „Lebenspotenzials“ gelangt Freinet zu einem Didaktikmodell, in welchem der Heranwachsende mit seinem „Lebenspotenzial“ zum Zentrum pädagogischer und didaktischer Reflexionen wird. Das heranwachsende Kind will und soll an konkreten Realisationen des Lebens, d.h. an und mit der direkten Umwelt lernen: „Bringt euer kleines Kind zuverlässig mit anderen Kindern oder mit der es umgebenden Natur in Verbindung“ (Freinet 2000, S. 179). Seine raumpädagogisch gewendete Form des selbstgesteuerten Lernens begründet Freinet mit der Prämisse eines selbstaktiven Kindes. Diese Prämisse ist dabei an Überlegungen zur frühkindlichen Bildung anschlussfähig: „Das Kind kommt jung und kraftvoll in eine Welt, wo alles geheimnisvoll für es ist und wo alles von ihm geklärt werden muß“ (Freinet 2000, S. 159). Eine ,machtvolle’ Didaktik, die dem Lebenspotenzial bzw der Kraft des Subjekts gerecht werden soll, muss sich von räumlichen Festschreibungen entfernen. Freinets Als epistemologisches Konzept versteht der Existentialismus den konkreten Menschen als radikal freien Menschen, der in einer Welt existiert, die absurd – also ohne einen tieferen Sinn, ohne einen Gott – ist. Mit dem Sinnverlust ist der Mensch aber auch frei, da es keine moralischen Instanzen außer ihm selbst gibt. Ausgehend vom Paris des zweiten Weltkrieges wurde der Existentialismus zu einer regelrechten Modephilosophie.

43

6.9 Freinet – Vom Lernort zum Bildungsraum

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Ehefrau Élise44, welche Célestin Freinet aktiv bei seiner pädagogischen Theoriebildung und pädagogischen Praxis begleitet hat, stellt Freinets Raumverständnis in Kontrast zu einer Schulpädagogik, welche das Subjekt von seiner Lebenswelt trennt bzw. entfremdet, in dem es im Klassenzimmer verortet wird: Im Gegensatz zu einer abstrakt-unbeweglichen Pädagogik gibt Freinet der Spontaneität jedes Kindes, sei es ein Dorfkind, ein Kind aus einem abgelegenen Landhaus, ein Kind aus dem Wohnwagen oder auch ein Kind, das als kleiner Bürger vom Land in der rauhen Umgebung der Schulgemeinschaft sozialisiert wird, möglichst freien Spielraum (É. Freinet 1981, S. 20).

Élise Freinet beschreibt die Erfahrung von Umwelt beziehungsweise die Umweltdidaktik Freinets mittels einer Befreiungsmetaphorik, die die konkrete Unterrichtserfahrung in der Schule als institutionelle Unterdrückung begreift: Und während sie die bewegte Landschaft durchströmt, hallt die Luft dort wider, wo die Stimmen von Kindern erklingen, die dem Gefängnis für einen Augenblick entwichen sind. […] Trotzdem mussten sie wieder in den Stall zurück, in die verstaubte Klasse mit ihren Bankreihen, ihren schwarzen Tafeln und ihren vielen schulischen Verpflichtungen, die Steifheit und Nervosität bei den Schülern und Lehrern verursachen (É. Freinet 1981, S. 18).

Der Eintritt in die Bildungsinstitution Schule – zuweilen als Beginn der zweiten Sozialisationsphase analysiert– wird von Élise Freinet als zentraler Entfremdungsmoment interpretiert: Noch schwerwiegender ist die Tatsache, daß das Kind, das bis zu diesem Tag [die Einschulung] alles im Verlauf des täglichen Lebens gelernt hatte, sich zu einer ungewohnten Tätigkeit gezwungen sieht, deren Sinn es außerdem nicht mehr erkennt und die in ihm oft jegliches Bedürfnis, sich auszudrücken und jegliche Neugier verdrängt (É. Freinet 1981, S. 39).

Aus raumpädagogischer Perspektive können die didaktischen Überlegungen der Freinetpädagogik als Ablösung der Schule als Lernort durch eine Auseinandersetzung mit dem Bildungsraum definiert werden: Schon die Vorstellung von Schule ist von Anfang an ein Rückschritt und eine Bankrotterklärung. Die Schule nimmt das Kind nicht beim Herauskommen aus dem Elternhaus ab, in seiner Straße und auf den Feldern, um es zu unterrichten und ihm zu helfen, in der neuen Umgebung zu leben, wo es seine bildenden, tastenden

44 Die pädagogischen Positionen zwischen Célestin und Élise Freinet werden hier nicht als indifferent angesehen. Allerdings hat Élise auch zur Theoriebildung beziehungsweise zum pädagogischen Konzept der Freinetpädagogik beigetragen, was Schlemminger zu der Feststellung veranlasst: „Élise Freinet verdiente in der allgemeinen Diskussion um die Freinet-Pädagogik sicherlich eine größere Würdigung“ (Schlemminger 2002, S. 28). Aus dieser Perspektive erscheint es legitim, Élise Freinet in Bezug zur Freinetpädagogik heranzuziehen.

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6 Bildungsräume gestalten

Versuche verfolgen soll. Mit dieser Sorge wirklicher Bildung befasst sich niemand. (Freinet 2000, S. 153)

Aus raumdidaktischer Perspektive wird durch explorative Neugier der Bildungsraum eröffnet. Hierfür kann konzeptionell und handlungspraktisch auf Freinets Überlegungen zurückgegriffen werden – Erkundend eignet sich das Subjekt die Lebenswelt an. Dieses Erkunden kann als Praxisvollzug explorativer Neugier verstanden und in Anschluss an Reich als eine Form der Dekonstruktion interpretiert werden. Die Lebensweltorientierung der Freinetpädagogik lässt sich aus bildungstheoretischer Perspektive durch die Bildungsmerkmale explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen ergänzen. Diese fungieren als Qualitätsmerkmale: Kann im lebensweltorientierten Lehr-/Lerngeschehen das Bildungserleben aus explorativer Neugier und Selbstwirksamkeitserwatungen nachgewiesen werden, lässt sich vom Bildungslernen sprechen. Diese Überlegungen haben auch methodische Konsequenzen für die didaktische Planung: Aus der Perspektive einer bildungsorientierten Didaktik richten sich didaktische Methoden nach der explorativen Neugier bzw. den Dekonstruktionsmöglichkeiten, die im Bildungsraum eingelagert sind und Selbstwirksamkeitserwartungen reproduzieren sollen. Der Lerngegenstand ergibt sich aus dem Phänomen, auf den sich die explorative Neugier richtet und dieses Phänomen derart zum Erkenntnisgegenstand im Lernprozess macht. Neben der Freilegung und Förderung explorativer Neugier steht eine bildungsorientierte Didaktik vor der Herausforderung, den Lernenden bei der explorativ-neugierigen Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand Möglichkeitsräume für die Entfaltung von Selbstwirksamkeitserfahrungen zu eröffnen. Aus handlungspragmatischer Perspektive kann für die Lehr-/Lernpraxis auf didaktische Strategien zurückgegriffen werden, die im Zuge der Reform- bzw Freinetpädagogik entwickelt wurden. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür, das oftmals mit der Freinetdidaktik assoziiert wird, ist die Erstellung eines freien Texts, der für die Schuldidaktik entwickelt wurde. Dabei lässt sich das Konzept der Erstellung eines freien Texts auch für bildungsdidaktische Ansätze jenseits der Schulpädagogik öffnen.

6.10 Handlungs- und produktionsorientierte Raumaneignung am Beispiel des ‚freien Texts‘ Das didaktische Konzept des freien Texts beruht auf der Prämisse, dass Schüler ihre lernende Auseinandersetzung mit der Umwelt im selbstverfassten Text aufarbeiten und damit ihr Lernen verstärken. Ganz im Sinne der reflexiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst-/Weltverhältnis, welches ein Merkmal von Subjektwerdung ist, können Schüler sich so zu ihrem Lernen in und mit ihrer Umwelt bzw. Lebenswelt verhalten. Erleben und (Selbst-)Reflexion werden dabei in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt: Anfangs durch Hilfestellungen des Lehrers, später durch den Schüler

6.10 Handlungs- und produkuonsorienuerte Raumaneignung am Beispiel des ‚freien Texts‘

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selbst wird Lesen und Schreiben im Rahmen der Reflexion von Erlebtem schriftlich festgehalten. Das Erlernen von Schreiben und (Vor-)Lesen ist in eine bewusste Umwelterfahrung eingebettet, in der sich das Subjekt durch die Auseinandersetzung mit dem Text, mit sich und seinem In-der-Welt-Sein selbst bilden kann. Eingeschobene Zwischen- und Übungsschritte, die zu einem Text führen, der gänzlich von den Schülern produziert ist, können von den Schülern als solche begriffen und akzeptiert werden. Die Umweltaneignung materialisiert sich im Sinne einer produktionsorientierten Didaktik symbolisch in der Zielvorstellung eines gänzlich unabhängig verfassten Textes. Im Gegensatz zu ‚Schulfibeln‘, die intendieren, die Erlebniswelt der Schüler didaktisch strukturiert nachzustellen, wird der ‚freie Text‘ zum Spiegel der konkreten (unmittelbaren) Erfahrungen mit der Umwelt und zum Forum der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst-/Weltverhältnisses. Der Aneignungsprozess von Umwelt wird durch den ‚freien Text‘ schriftsprachlich symbolisch reflexiv nachvollzogen und ist Bestandteil konstruktivistischer Wissensbildung. Freinet beschreibt die Genese des Erlernens der Schriftsprache in dem Werk „Natürliche Methode des Lesens“ (1968) und weist hierbei auf den Aspekt des ‚Ausdrucks‘ als Motivationstreiber im Prozess des Schreibenlernens hin: Das Schreiben, zuerst nur einfaches Zeichnen, dann undifferenzierter in Zeichnungen eingeschlossener Text, da Ergänzung des Zeichnens, beginnt nun seine eigene Geschichte. […] Das Zeichnen kann sich selbst genügen. Es erzeugt etwas Schönes, etwas Lebendiges oder doch wenigstens ein Bild vom Leben […] Der handgeschriebene, seinem eigenen Schicksal überlassene Text ist nur ein Gekritzel, ohne unmittelbare Bedeutung […] Er gewinnt seine Bedeutung nur in seiner Funktion als Werkzeug der Vermittlung, um einen Wunsch, einen Gedanken oder einen Befehl auszudrücken (Freinet 2000, S. 380).

Schriftsprache dient als Moment der Selbstverständigung, in der das Subjekt sich selbstreflexiv zu erfassen und sich selbst in seiner eigenen dynamisch-temporalen Subjektwerdung zu erkennen vermag. Diesen Überlegungen entsprechend stellt Élise Freinet fest, dass „[d]er freie Text […] das Denken des Kindes frei“ macht (É. Freinet 1981, S. 28, H.i.O.)45. Der freie Text kann dabei auch mittel- und langfristig die Genese eines Selbst/Weltverhältnisses unterstützen, bei dem das Subjekt sich gezielt mit seiner Vergangenheit bzw. seiner ‚Gewordenheit‘ auseinandersetzt: Der von mir verfasste Text wird mir auch noch Jahre nach der Fertigstellung bleiben (vorausgesetzt, diesen habe ich gut aufbewahrt). Damit kann ich über die damals von mir geschriebenen Wörter und die von mir gemalten Bilder einen Zugang zu meinen damaligen ‚Ich‘ bzw.

In Folge lässt sich der „freie Text“ mittels einer „Druckerei“ selbst reproduzieren , heute würden sich eher digitale Medien anbieten.

45

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6 Bildungsräume gestalten

zu meinem damaligen Subjekt bzw. Selbst-/Weltverhältnis herstellen:46 „Eine schriftliche Unterzeichnung impliziert per definitionem die gegenwärtige oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners. Aber, wird man sagen, genauso kennzeichnet und wahrt sie auch ein Anwesend-gewesen-Sein in einem vergangenem Jetzt, das ein zukünftiges Jetzt bleiben wird“ (Derrida 1976, S. 153). Das ‚zukünftige Jetzt‘ verweist auf die Aktualisierung des Textes durch seine Rezeption. Ein Text ist neben dem Präteritum, das ihm durch seine beendete Produktion inhärent ist, auch stets ein zukünftiger Text, weil er auf das ‚Gelesen-werden-können‘ verweist. So ist es möglich, die im Kontext der Freinetpädagogik eigens hergestellten Texte stets wieder aufzugreifen und zu reflektieren. Das Konstruieren einer eigenen ‚Narration des Lebenslaufes‘ wird durch die Auseinandersetzung mit Selbstgeschriebenem möglich. Entwicklungsphasen lassen sich für den Schreibenden anhand der eigenen Textproduktion (re-)konstruieren – eine Dokumentationsform, welche auch in der Kleinkindpädagogik in Form der Portfolioarbeit praktiziert wird. Ein zentrales Merkmal von Freinets Didaktik liegt folglich in der raumdidaktischen Prämisse einer Lebensweltorientierung, aus der heraus die Lernenden als Bildungssubjekte Fragen an die Umwelt stellen können, um sich diese derart anzueignen. Der Prozess der Aneignung vollzieht sich symbolisch in der Verobjektivierung des Wissens anhand der Herstellung von Texten, in denen sich die reflexive Auseinandersetzung mit der Lebenswelt spiegelt – ein methodischer Ansatz, der in E-Portfolioansätzen eine Renaissance erfährt (vgl. Kergel & Heidkamp 2015). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Freinets handlungs- und produktionsorientierte Didaktik mit der Bezeichnung ‚lebensweltorientierte Didaktik‘ gefasst werden kann. Diese ‚lebensweltorientierte Didaktik‘ lässt sich aufgrund ihrer epistemologischen Positionen in den Kontext konstruktivistischer (Raum-)Didaktik stellen: Aus dem Raum bzw. aus der Lebenswelt heraus konstruieren Lernende handlungs- und produktionsorientiert Wissen. Aus der Perspektive einer bildungsorientierten Didaktik wäre zu ergänzen, dass die Bildungsmerkmale explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen als Wirkgefüge das konstruktivistische, lebensweltorientierte Lernen begleiten sollten.

6.11 Vom didaktischen Modell zur didaktischen Praxis – Oder: Zwei didakti sche Paradoxa Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich die Frage nach möglichst konkreten Umsetzungsstrategien für das eigene (bildungs-)didaktische Handeln. Hier lässt sich eine zweifache Herausforderung identifizieren: • Didaktische Modelle verbleiben strukturbedingt auf der Ebene abstrakter Formulierungen. 46 Vor dem Verfassen und dem Beginn des Schriftspracherwerbs sollen Kinder die erlebten Situationen in Bildern darstellen und die Bildunsgbegleiter schreiben dazu Schlagwörter auf, die von den Kindern vorgegeben wurden.

6.11 Vom didakuschen Modell zur didakuschen Praxis – Oder: Zwei didaku sche Paradoxa

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• Gerade bei einer Didaktik, die wie die Bildungsdidaktik im Kontext einer soziokonstruktivistischen (Raum-)Epistemologie steht und auch die Individualität des lernenden Subjekts wertschätzt, kann nicht mit überindividuell gültigen didaktischen Strategien gearbeitet werden. Dementsprechend hält auch Reich fest, dass es „keine Methode für alle Fälle“ (Reich 2012, S. 295) gibt. Vielmehr sind – ganz im Sinne der Offenheit und partiellen Unbestimmtheit des Raumes – didaktische „Methoden sehr offene Verfahren des Lehrens und Lernens, die mehr oder minder passen, aber nie im gleichen Maße für alle passend sein können“ (Reich 2012, S. 294). Vor dem Hintegrund dieser Überlegungen lassen sich zwei didaktische Paradoxa formulieren, • welche eine bildungsorientierte Didaktik prägen und • als Reflexionsstrategien in den konkreten Lehr-/Lernsituationen eingesetzt werden können. Grundsätzlich ist ein Paradox eine Aussage, die einen (scheinbaren) nicht auflösbaren Widerspruch formuliert. Die reflexive Auseinandersetzung mit den didaktischen Paradoxa kann eine Hilfestellung dabei leisten, den hohen Anforderungen, die ein bildungsorientiertes Lehren und Lernen an alle Beteiligten richtet, gerecht zu werden. So lassen sich die didaktischen Paradoxa als Reflexionsimpulse nutzen, um eine bildungsorientierte Lehr-/Lernhaltung in die Praxis umzusetzen. Die folgenden beiden didaktischen Paradoxa sollen auch Orientierungspunkte für die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz liefern, die eine bildungsorientierte Didaktik prägt. So ist eine bildungsorientierte Didaktik zugleich über eine • Bildungsbegleitung definiert, welche dem Bildungssubjekt Unabhängigkeit und Freiraum in seinem Lernprozess einräumt. • Auf der anderen Seite steht eine Präfigurierung des Lernraumes bzw. eine Strukturierung des Lehr-/Lernraumes, damit sich hieraus Bildungsräume entfalten können. Terhart (2012) weist auf diese Ambivalenz hin, wenn er feststellt, dass „das Problem der Didaktik in der richtigen Dosierung“ (Terhart 2012, S. 10) liegt: „Es muss eine situations-, adressaten- und aufgabenspezifische Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Hilfe und Unterstützung, Anleitung und Führung gefunden werden“ (Terhart 2012, S. 10). Die Auseinandersetzung mit diesem ‚Problem der Didaktik‘ soll durch die didaktischen Paradoxa unterstützt werden, die als Reflexionsimpulse zu verstehen sind. Die Rolle des Lerners – Oder: Das Paradox der normativen Selbsttätigkeit Dieses Paradox formuliert verdichtet die These, dass eine lernende Selbsttätigkeit nicht zwangsläufig erwartet werden kann, sondern im Zuge des Prozesses eines bildungsorientierten Lernens hergestellt werden muss. Das Paradox formuliert eine ‚normative Selbsttätigkeit‘ als Erwartungshaltung des Bildungsbegleiters gegenüber dem

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6 Bildungsräume gestalten

Lernenden. Es gilt alters- und fachspezifisch zu vermitteln, dass Lernen einen Prozess darstellt, den Lernende performativ herstellen und dessen Struktur sie maßgeblich (mit-)bestimmen. Dieser Aspekt der emanzipativen Selbstbestimmung stößt in Bildungsinstitutionen wie Universitäten oder Schulen an hierarchische Grenzen, die sich beispielsweise in der Notengebung zeigen. In der Notengebung müssen die Lernenden die Beurteilung des Lernprozesses an die Instanz der benotenden Lehrperson abgeben. Um diesen Widerspruch zwischen Emanzipation und Beurteilungsautorität seitens der Lehrperson abzumildern, bietet es sich an, Prüfungsleistungen formativ erstellen zu lassen. Die im Prozess des Bildungslernens erarbeiteten Artefakte können in einem Portfolio dokumentiert werden. Solche formativen Prüfungsleistungen bilden zugleich den Erkenntnisprozess des Bildungslernens ab und ermöglichen es, den Fokus weg von einem Produkt, das benotet wird, hin auf den Erkenntnisprozess zu verlagern. Die Rolle des Lehrenden – Oder: Das Paradox der unwissenden Lehrperson Das erste didaktische Paradox formuliert den Widerspruch eines vom Lehrenden normativ eingeforderten selbstbestimmten Lernens. Das zweite didaktische Paradox setzt sich mit der Rolle des Lehrenden als Bildungsbegleiter auseinander: Der Bildungsbegleiter steht den Bildungssubjekten beratend zur Seite. In Kontexten von Lehr-/Lernszenarien nimmt der Bildungsbegleiter als Lehrperson die Rolle eines didaktischen Forschers ein, der die Offenheit des Bildungslernens akzeptiert. Es lassen sich zwar von der Lehrperson didaktische Rahmenbedingungen schaffen, welche die Entfaltung eines Bildungsraums ermöglichen. Die konkrete Ausgestaltung der Lernprozesse ist aber gemäß sozio-konstruktivistischer Überlegungen offen und zu großen Teilen von den Bildungssubjekten abhängig. Die Lehrperson verbleibt über den Verlauf des Lehr-/Lernprozesses im Sinne der sozio-konstruktivistischen Offenheit des Bildungslernen im Unwissenden. Der Lehrende, in autoritären Gefügen als Erziehender gefasst, weiß in seiner bildungsorientierten Didaktik selbst nicht, wohin die Reise des Bildungslernens geht. Im Dialog lässt sich allerdings ein bildungsorientiertes Lehren und Lernen im weitesten Sinne steuern. Der Dialog als die Kommunikationsform von Bildungsprozessen findet hier eine didaktische Ausdeutung: So betont Reich vor dem Hintergrund, dass es in der konstruktivistischen Didaktik keine überindividuell praktikablen Methodenrezepte geben kann und „es besonders wichtig“ ist, „dialogisch mit den Lernern über die möglichen, die sinnvollen, aber auch die nicht hinreichenden Passungen zu sprechen und eine Vielfalt von Wegen zuzulassen“ (Reich 2012, S. 295). Ganz im Sinne der dialogischen Ausrichtung von Bildung und Bildungslernen kann im Diskurs geklärt werden, welche didaktischen Strategien sich für welchen Lernenden in welchen Kontexten und zu welchen Zeitpunkten im Lernprozess eignen. Der Bildungsbegleiter ist dabei per definitionem Dialogpartner. Durch eine dialogische Öffnung der didaktischen Planung wird zudem das selbstgesteuerte Lernen gefördert. Erfahrungsgemäß können bereits die Fragen „Und was denkst Du, wie könntest Du das am besten lernen?“ oder „Was bringt Dir am Lernen überhaupt keinen Spaß“ zu einer didaktischen Selbstreflexion anregen, die direkt ins selbstgesteuerte

6.12 Checkliste zur Gestaltung von Bildungsräumen

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Lernen übergeht. Reich versteht in diesem Kontext konstruktivistische Didaktik als ethische Praxis, wenn er mit Referenz auf Kant einen ethischen Imperativ formuliert (der sich auch auf die bildungsorientierte Didaktik übertragen lässt): Wollte man für die konstruktivistische Didaktik einen ethischen Imperativ (eine gewollte und verbindliche Norm) aufstellen, so könnte diese wie folgt lauten: ‚Handle stets so, dass die Lernmöglichkeiten, Lernchancen und Lernanlässe deine Lerner wachsen, so dass es zu einer Zunahme von Perspektiven, Handlungschancen und vielfältigen Lernergebnissen kommt (Reich 2012, S. 254).

Diese ethischen und konzeptionellen Überlegungen manifestieren sich reflexionsstrategisch in den zwei didaktischen Paradoxa. Darüber hinaus lassen sich Leitfragen benennen, die zwar den abstrakten Grad eines didaktischen Modells nicht überschreiten. Allerdings können diese Leitfragen als Kriterien für eine bildungsorientierte Didaktik sowie als heuristische Orientierungspnkte gelesen werden, um einen Bildungsraum vorzustrukturieren.

6.12 Checkliste zur Gestaltung von Bildungsräumen Die folgende Checkliste basiert auf den Dimensionen Selbstwirksamkeitserfahrungen, explorative Neugier, dialogischer Austausch sowie Strukturierung des Lernraums. Die Dimensionen ergeben sich aus den entwickelten Positionen zur Bildung und zum Bildungslernen und basieren auf dem Bildungsbegriff der integrativen Bildungsforschung. Das Zusammenwirken dieser Dimensionen kann im Sinne einer offenen bzw. Ermöglichungsdidaktik zu einem Bildungsraum führen. Die Checkliste lässt dabei eine doppelte Perspektivierung zu: • Sie kann als Kriterienliste gelesen werden, um im Sinne einer bildungsorientierten Didaktik Lehr-/Lernszenarien zu entwickeln, welche das Aufspannen eines Bildungsraums ermöglichen. • Zugleich können die Kriterien für eine Evaluation genutzt werden. Die Kriterien werden aus dieser Perspektive zu Qualitätsmerkmalen. Die Qualität des Lehr/Lerngeschehen wäre danach zu beurteilen, inwieweit die Kriterien erfüllt werden konnten (vgl. Punkt 7 und Kergel 2018). Zusammenfassend lassen sich die Dimensionen als die Faktoren bzw. als das didaktische Grundgerüst begreifen, auf dem sich Bildungsräume entfalten können. Dimension ‚Bildungsmerkmal Selbstwirksamkeitserfahrung‘ • Ermöglichen die gegebenen Lernherausforderungen eine Differenzierung, so dass die Lernherausforderung gemäß des individuellen Kompetenzlevels der Lernenden im sozialen Kontext bearbeitet werden können? • An welcher Stelle des Bildungslernens kann die Reflexion gemachter Erfahrung eingebracht werden? • Wird ein partizipatives bzw. handlungs- und produktionsorientiertes Lernen ermöglicht, wordurch sich die Lernenden als selbstwirksam erfahren können?

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6 Bildungsräume gestalten

• Gibt es klare, transparente Strukturen, die den Lernraum mitprägen: Durch diese transparenten Strukturen kann das Subjekt jenseits von autoritären Einwirkungen von außen sein Lernen entfalten. Dimension ‚Bildungsmerkmal explorative Neugier‘ • Können die Lernenden in der Gestaltung der Lernherausforderung ihr intrinsisches Erkenntnisinteresse mit einbringen? • Wird ein partizipatives bzw. handlungs- und produktionsorientiertes Lernen ermöglicht, welches die intrinsische Neugier der Lernenden gezielt miteinbezieht? Dimension ‚dialogischer Austausch‘ • Welche (dialogischen) Interaktionsmöglichkeiten sind durch die Lernherausforderung gegeben? • Ist eine dialogische, wertschätzende Kommunikationsatmosphäre gegeben, oder müssen Regeln für Dialogizität (z.B. konstruktives Feedback) eingeübt werden? • Wird eine positive Bestärkung der Lernleistungen und Anstrengungsbereitschaft gegeben? Dimension ‚Strukturierung des Lernraums‘ • Welche Interaktionsmöglichkeiten sind durch die räumliche Infrastruktur gegeben – z.B. gibt es Gruppentische, Rückzugsmöglichkeiten, einen digitalen Lernraum? • Ermöglicht die Lernherausforderung eine lebensweltliche Öffnung im Sinne der Freinetpädagogik? • Können die Lernenden den Methodeneinsatz gemäß ihres präferierten Lernstils mitgestalten? • Existieren Möglichkeiten zu einer räumlichen Gegenerfahrungen zur interpellativen Konsumorientierung?

6.12 Checkliste zur Gestaltung von Bildungsräumen

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Selbstwirksamkeitserfahrung

Struktur des

Dialogischer Austausch

Lernraumes

explorative Neugier

Abb. 11

Schematische Darstellung der Dimensionen, deren Zusammenspiel das Aufspannen von Bildungsräumen ermöglichen.

7 Anstelle eines Fazits: Perspektiven für eine bildungsdidaktische Forschung

Bildungsdidaktik lässt sich wie Bildung selbst als Prozess begreifen. Lehrende wie Lernende können selbst einen forschend-evaluativen Blick auf die didaktische Struktur des Lehr-/Lerndesigns einnehmen und über die Wirkungen des didaktischen Settings forschen. So lassen sich Interaktionsprozesse rekonstruieren, die im Lehr-/Lerngeschehen zu Bildungsdynamiken führen können. Durch diese Rekonstruktion wird es möglich, Kausalbedingungen zu identifizieren, die das Entstehen eines Bildungsraums fördern: • Welche Konstellationen in einem Interaktionsgeschehen können Bildungsdynamiken und Bildungslernen hervorrufen? (es ließe sich beispielsweise danach fragen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich beispielsweise Bildungslernen im Zuge von Gruppenarbeiten entfalten kann). Die Beforschung von Lernräumen und die evaluative Prüfung, ob es sich hierbei um Bildungsräume handelt, rückt die integrative Bildungsforschung in die Nähe der Evaluationsforschung (vgl. Kergel & Heidkamp 2015, 2018; Kergel 2018). Die Nähe der Beforschung von Bildungsräumen zur Evaluation von Lehr-/Lerngeschehen ergibt sich aus der theoretisch fundierten, normativen Dimension von Bildung: Besteht der Anspruch, einen Bildungsraum im Zuge pädagogischer Praxis zu realisieren, lässt sich das Vorhandensein normativer Aspekte von Bildung als ein Sollwert bestimmen. Die normative Dimension von Bildung kann dann als Qualitätsmerkmal für pädagogische Interaktionsprozesse verstanden werden, wenn in Bezug auf diese pädagogischen Interaktionsprozesse der Anspruch besteht, Bildung bzw. einen Bildungsraum zu realisieren.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Kergel, Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten, Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27039-1_7

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