Erzählweisen des Selbst: Körperpraktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652-1722) 9783412218737, 9783412224592

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Erzählweisen des Selbst: Körperpraktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652-1722)
 9783412218737, 9783412224592

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Erzählweisen des Selbst

Selbstzeugnisse der Neuzeit Herausgegeben von Kaspar von Greyerz, Alf Lüdtke, Hans Medick, Iris Schröder und Claudia Ulbrich Band 24

Selbstzeugnisse sind Aufzeichnungen, die individuelle und auf das »Selbst« bezogene Beobachtungen und Erfahrungen zusammenhängend zum Ausdruck bringen. In größerer Zahl gibt es sie seit dem 16. Jahrhundert. Besonderes Interesse in der internationalen Forschung wie beim interessierten Publikum findet die populare Autobiographik, also die Selbstzeugnisse aus Unter- und Mittelschichten. Gerade sie erweisen sich als unverzichtbar für alle Versuche, soziale Praxis, Erfahrungszusammenhänge und Lebenswelten zu rekonstruieren. Selbstzeugnisse eröffnen neue Zugänge, um die historischen Akteure als empfindende und wahrnehmende, leidende und handelnde Personen zu zeigen. Selbstzeugnisse der Neuzeit wollen bisher noch nicht publizierte Individual­ quellen zugänglich machen, die historische Zeitgenossenschaft einprägsam reflektieren. Weiterhin wird die Reihe zu Unrecht vergessene oder vergriffene Selbstzeugnisse als kommentierte Nachdrucke verfügbar machen. Veröffentlicht werden auch exemplarische Analysen sowie beschreibende Verzeichnisse und Übersichten. Die Herausgeber hoffen zudem, daß mit diesem Vorhaben Schätze gehoben werden können, die bisher unbekannt sind.

Mareike Böth

Erzählweisen des Selbst Körperpraktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722)

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Aleksandra-Stiftung, Neunkirchen-Wellesweiler

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Collage aus 1. Elisabeth Charlotte von der Pfalz im Jagdkostüm, Gemälde von Louis Ferdinand Elle (um 1674), Deutsches Historisches Museum, Berlin, Gm 2001. 2. Eigenhändiger Brief Elisabeth Charlottes, gerichtet an Raugräfin Luise, Versailles, 2.3.1712, Deutsches Historisches Museum, Berlin, Do 2006/1308.

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dr. Malte Heidemann, Berlin Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22459-2

INHALT

Vorwort ..................................................................................................................................... 7   TEIL 1 – EINLEITUNG ................................................................................................................... 9   I.  

Fragestellungen und Forschungsziele ................................................................................ 9   1. Der Körper in intersektionalen Selbstpositionierungsprozessen ......................................... 14 2. Untersuchungsleitende Begriffe: Leib/Körper – Praxis/Wissen – Erzählen .................... 22

II.

Methodisches Vorgehen und Aufbau .............................................................................. 33

III. Elisabeth Charlotte in historiographischen Perspektiven ............................................. 43 IV. Quellenlage und Quellenkorpus ....................................................................................... 52 1. 2. 3. 4.

Hauptkorpora ............................................................................................................................... 54 Nebenkorpora .............................................................................................................................. 64 Ergänzende Überlieferungen ..................................................................................................... 68 Quellenkritische Überlegungen ................................................................................................. 70

TEIL 2 – DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN .............................................................. 74   I.   Zwischen alten Verpflichtungen und neuen Anforderungen ...................................... 76   1. rien à craindre et tout à esperer: Antizipierte Veränderungen ...................................................... 76 2. hir und bey unß: Konkurrierende Gewohnheiten ...................................................................... 95

II.

Die ‚Natur‘ des Selbst erzählen ....................................................................................... 110 1. wen die natur selber operirt: Körperwissen nach der Natur ...................................................... 110 2. ma propre experience: Körperwissen aus Erfahrung ................................................................. 135 3. plus sure que la science: Erfahrungs- vs. gelehrtes Wissen........................................................ 146

III. Das diätetische Regime des Selbst erzählen .................................................................. 169 1. gouvernire mich nach meinem kopff: Heilmittel und Selbstbehandlungen ................................. 169 2. unßer schuldigkeit, alles zu thun: Religiöse Pflicht als Handlungsspielraum ........................... 181

IV. Zwischenfazit: Das Selbst und die ‚somatische Kultur‘ der Familie ......................... 189 TEIL 3 – DAS VERGESCHLECHTLICHTE SELBST ERZÄHLEN ............................................... 192   I.  

Körper und Geschlecht – ein forschungsbezogener Problemaufriss ....................... 195  

II.

Gender in Bewegung erzählen ........................................................................................ 205 1. dressed like a man: Handlungsspielräume auf der höfischen Jagd ........................................ 205 2. Wer ahn jagten gewohnt ist: Doing difference im höfischen Kontext .................................... 221

INHALT

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III. Gender in der Beharrung erzählen ................................................................................. 235 1. 2. 3. 4.

nicht coquet von meiner natur: Praktiken zur Beförderung der Schönheit .............................. 235 daß greüliche fett schmeltzen: Praktiken der Körperformung .................................................... 249 Sauffen und taback schmauchen: Praktiken des Genusses ........................................................ 265 lit à part: Praktiken des ‚sexuellen‘ Begehrens........................................................................ 274

IV. Zwischenfazit: Das Selbst und die Positionierung als Frau........................................ 298 TEIL 4 – ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN ............................................................... 301   I.  

Das melancholische Selbst erzählen ............................................................................... 304   1. Daß die humoren endern: Biographischen Wandel am Körper verarbeiten........................... 304 2. sich selber helffen: Alltagspraktiken gegen die Melancholie ..................................................... 320

II.

Das ‚teütsche‘ Selbst erzählen ......................................................................................... 335 1. auf dem alten Schlag: Neue Heißgetränke alamode-kritisch betrachtet ................................. 336 2. in eßen undt drincken noch gantz teütsch: Neue Deutungen für gewohnte Praktiken ............. 354

III. Das ‚hybride‘ Selbst erzählen .......................................................................................... 376 1. in allen landen Benjametter: Sodomie als „ausländischen Unwesen“ ......................................... 377 2. Wir haben ein gutt remede hir: Wechselseitige Heilmitteltransfers .......................................... 384 3. Ich glaube – Ich habe vapeurs: Aneignungen einer ‚französischen‘ Krankheit ....................... 402

IV. Zwischenfazit: Das Selbst und die Aneignungsprozesse ............................................ 415 TEIL 5 – SCHLUSSBETRACHTUNGEN....................................................................................... 417   I.  

Das Selbst in der Kontinuität erzählen .......................................................................... 417  

II.

Das Selbst im Wandel erzählen ....................................................................................... 422

III. Frühneuzeitliche Selbstpositionierungsprozesse analysieren ..................................... 426 TEIL 6 – ANHANG ...................................................................................................................... 431   I.  

Bildnachweis ...................................................................................................................... 431  

II.

Abkürzungsverzeichnis und Siglen................................................................................. 431

II.

Bibliographie ...................................................................................................................... 433 1. Quellenverzeichnis .................................................................................................................... 433 2. Literaturverzeichnis ................................................................................................................... 439

III. Register ............................................................................................................................... 493

VORWORT

Vorworte von Qualifikationsarbeiten sind nichts anderes als akademische Selbstzeugnisse. Dabei macht es die jahrelange Beschäftigung mit den ‚Erzählweisen des Selbst‘ mir nicht unbedingt leichter, nun selbst einen solchen Text zu verfassen. Im besten Sinne ‚frühneuzeitlich‘, so könnte man sagen, möchte ich die Personen in den Vordergrund stellen, die mit ihrer Unterstützung das Entstehen meiner 2013 an der Universität Kassel verteidigten und nun leicht überarbeitet im Druck vorliegenden Dissertation ermöglicht haben. In erster Linie danke ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Renate Dürr (Tübingen), die mich 2005 für die frühneuzeitliche Selbstzeugnisforschung begeistert und mir damit eine Welt eröffnet hat. Ihrer intellektuellen Neugier verdanke ich wichtige konzeptionelle Anregungen. Die Freiheit, die sie mir in jeglicher Hinsicht zugestanden hat, hat überdies wesentlichen Anteil an meiner persönlichen Entwicklung. Prof. Dr. Anne-Charlott Trepp (Kassel) bin ich nicht nur für die kurzfristige Übernahme des Zweitgutachtens zu großem Dank verpflichtet, sondern vor allem dafür, dass sie mich als ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin in der nicht immer einfachen Phase der Drucklegung der Arbeit durch die Gewährung großzügiger Freiräume gefördert hat. Prof. Dr. Mechthild Bereswill (Kassel), deren theoriegeleitete Art zu denken mich immer inspiriert hat, und Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner (Kassel), die mich seit Studienbeginn auf meinem akademischen Weg begleitet und gefördert hat, danke ich für die Bereitschaft, als Mitglieder der Promotionskommission zu fungieren. Bedanken möchte ich mich darüber hinaus bei der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Förderung dieser Arbeit in den ersten beiden Jahren ihres Entstehens sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung und der Aleksandra-Stiftung für die Gewährung großzügiger Zuschüsse, mit deren Hilfe die Drucklegung realisiert werden konnte. Dem Herausgeber_innengremium der Reihe ‚Selbstzeugnisse der Neuzeit‘, vor allem Prof. Dr. Claudia Ulbrich (Berlin) und Prof. Dr. Hans Medick (Göttingen), danke ich herzlich für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und ihr großes Engagement für die Veröffentlichung des Buches in dieser Reihe. In Kolloquien, Workshops und auf Konferenzen habe ich in verschiedenen Stadien der Arbeit die Möglichkeit erhalten, Teilergebnisse sowie theoretische und methodische Zugriffe zur Diskussion zu stellen und dadurch weiterzuentwickeln. Hervorgehoben sei hier der Austausch über die Möglichkeiten und Grenzen Historischer Praxeologie, wie er sich für mich in verschiedenen Veranstaltungen des Oldenburger DFG-Graduiertenkollegs ‚Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung‘ ergab, sowie die produktiven Gesprächszusammenhänge im Kontext der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung im DFG-Graduiertenkolleg ‚Dynamiken von Raum und Geschlecht‘ Göttingen/Kassel, der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechterforschung (IAG FG) und dem ZFF-Forschungsschwerpunkt ‚Ungleichheiten in Geschlechterverhältnissen‘ der Universität Kassel sowie in den Frühneuzeit-Kolloquien in Berlin, Basel

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VORWORT

und Stuttgart. In allen diesen Kontexten haben sich spannende Gespräche und Bekanntschaften ergeben, für die ich sehr dankbar bin. Zahlreiche mir kollegial und freundschaftlich verbundene Personen haben großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit. Insbesondere Hanna Baumgarten M.A., Dr. Stefanie Dick, Susanne Junk, Dr. Anne Mariss, Esther Mikuszies M.A., Dr. Melanie Panse, Babette Reicherdt M.A., Vanessa Schmidt M.A., Dr. Stefan Schröder, Dr. Susanne Schul, Sabine Stange M.A., Rebekka Thissen M.A. und Evelien Timpener MA haben mich im Alltag oft ermutigt, meine Arbeit mit wertvollen Hinweisen bereichert sowie Teile des Manuskripts Korrektur gelesen. Besonders hervorheben möchte ich Simone Kördel, die mich mit ihren vielfältigen Talenten und ihrer großen Hilfsbereitschaft unermüdlich unterstützt hat, was bei der Drucklegung der Arbeit einmal mehr von unschätzbarem Wert war. Mein besonderer Dank geht an meine Familie, vor allem an meine Eltern Wolfgang (†) und Brunhilde Kohls und meine Großmutter Magdalene Kohls, ohne deren Unterstützung es nicht möglich gewesen wäre, den akademischen Weg bis hierhin zu beschreiten. Gewidmet sei dieses Buch schließlich Martin Böth, dem ich für seinen Beistand in allen Situationen dankbarer bin, als es mit Worten zu sagen wäre. Kassel, im April 2015

Mareike Böth

TEIL 1 – EINLEITUNG

I.

Fragestellungen und Forschungsziele „Mir scheint, daß die sogenannte Literatur des Selbst (...) solange nicht verstanden werden kann, wie sie nicht in den allgemeinen und sehr umfassenden Rahmen (...) [der] Selbstpraktiken gestellt wird. (...) Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken.“ 1

Im Rahmen seines Spätwerkes ‚Le souci de soi‘ hatte Michel Foucault zu Beginn der 1980er Jahre auf die Bedeutung von Praktiken für die Prozesse der Selbstkonstitution aufmerksam gemacht. Eine Analyse sozialer Praktiken in ihrer Historizität ermöglichte aus seiner Sicht einen Zugang zu Subjekt und Subjektivierung im diskursiven Kontext der jeweiligen Kultur bzw. Gesellschaft. Indem Foucault sich explizit den praxisförmigen ‚Technologien des Selbst‘2 zuwandte, reflektierte er die Relevanz der verschiedenen praxistheoretischen Konzeptualisierungen seiner Zeit, allen voran derer des Ethnologen und Soziologen Pierre Bourdieu, und machte sie für die Erkenntnis der historisch vielgestaltigen Selbstbildungsprozesse produktiv. Praxistheorien haben gegenwärtig vielleicht mehr denn je Konjunktur, wie etwa die interdisziplinär breit rezipierte Habilitationsschrift des Soziologen Andreas Reckwitz ‚Das hybride Subjekt‘ eindrücklich belegt.3 Denn ein praxeologischer Fokus, der unmittelbar auf der Akteursebene, in konkreten Handlungen und Kommunikationen ansetzt, verspricht nicht weniger, als die Trennung von Individuum und Gesellschaft zu überwinden, die die Soziologie seit ihren Anfängen begleitet.4 Denn Praktiken, so Reckwitz,

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Michel FOUCAULT, Vom klassischen Selbst zum modernen Subjekt, in: Hubert L. DREYFUß u. Paul RABINOW (Hg.), Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987, S. 281–292, hier 289. Michel FOUCAULT, Technologien des Selbst, in: Daniel DEFERT u. François EWALD u. M. v. Jacques LAGRANGE (Hg.), Michel FOUCAULT, Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 966–998, hier 968. Andreas RECKWITZ, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen 2010, S. 39: „Das Subjekt ist nicht Denken, sondern Tun; es wird geformt und formt sich als sozial-kulturelle Struktur, indem es an spezifischen sozialen Praktiken partizipiert. (...) Das Subjekt lässt sich in seiner Form nicht (...) unabhängig von seinen Praktiken untersuchen.“ Vgl. ebd., S. 33; Andreas RECKWITZ, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Mit einem Nachwort zur Studienausgabe 2006: Aktuelle Tendenzen der Kulturtheorien, Weilerswist 2006, S. 568–596, bes. 568: „Der Scheingewißheit der objektiven bzw. der subjektiven Perspektive liegt ein verfehltes Verständnis des Verhältnisses von Wissensordnungen und Handeln zu Grunde (...).“ S. auch 1.I.2.

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EINLEITUNG

seien der zentrale ‚Ort‘ des Sozialen und Kulturellen5 wie auch Form der Bildung und Existenz eines vergesellschafteten Individuums.6 Angesichts des praxeologischen Booms in der aktuellen Diskussion verwundert allerdings, dass geschlechtertheoretische Forschungstraditionen, die die Praxis als jenen Vermittlungsmodus von Individuum bzw. Subjekt und Gesellschaft in den Blick genommen haben, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren.7 Dieser allgemeine Trend ist auch in der Geschichtswissenschaft festzustellen, in der soziologische Praxistheorien ebenfalls seit geraumer Zeit rezipiert werden. Allen voran im Umfeld der außerordentlich produktiven geschlechtergeschichtlich orientierten frühneuzeitlichen Selbstzeugnisforschung jedoch sind auch in den Geschichtswissenschaften bereits äußerst inspirierende Arbeiten vorgelegt worden. Die um Authentizität und Selbstbestimmung kreisenden Zugänge der älteren Autobiographieforschung wurden dabei kritisch auf den Prüfstand gestellt, indem das Schreiben von Selbstzeugnissen8 überzeugend als soziale Praxis untersucht wurde, die den Blick auf das Handeln von Personen in Beziehungsnetzen ermöglicht.9 Seither haben verschiedene Stimmen innerhalb der Frühneuzeitforschung für eine 5

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Unter Kultur verstehe ich im Folgenden schlicht alle „wissensabhängige[n] soziale[n] Praktiken“. Vgl. Andreas RECKWITZ, Kulturelle Differenzen aus praxeologischer Perspektive: Kulturelle Globalisierung jenseits von Modernisierungstheorie und Kulturessentialismus, in: Ilja SRUBAR (Hg.), Kulturen Vergleichen – sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, S. 92–111, hier 94. Ähnlich auch Gadi ALGAZI, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in: L’homme 11,1 (2000), S. 105–119, hier 113, der Kultur als „how to do what“ definiert: „Kultur dient demnach nicht nur dazu, die Welt zu interpretieren oder ihr einen Sinn zu geben, sondern stellt vor allem Repertoires für das Handeln dar.“ Vgl. RECKWITZ, Subjekt, S. 33–34 u. 39; Karl H. HÖRNING, Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem, in: Ders. u. Julia REUTER (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 19–39, hier 20 (Zit.) u. 26: „Wir sollten statt dessen ‚Praxis‘ selbst als jenen ‚Ort‘ ernst nehmen, in dem kulturelle Repertoires der Deutung und Bedeutung eingespielt werden.“ Vgl. Frank HILLEBRANDT, Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014, S. 43– 47, dessen Überblick zur Praxistheorie in der Ethnomethodologie ohne die Bezüge auf das sozialkonstruktivistische Konzept doing gender auskommt. Breiter rezipiert wird dagegen die dekonstruktivitische Perspektive Judith Butlers. S. dazu Hilmar SCHÄFER, Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013. S. Benigna von KRUSENSTJERN, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462–471, hier 463, die Selbstzeugnisse definiert als alle Texte, in denen ein scheibendes Ich explizit auf sich selbst Bezug nimmt und als Person „selbst handelnd oder leidend in Erscheinung“ tritt. S. zum konkurrierenden Begriff der Ego-Dokumente, der neben intentionalverfassten Selbstzeugnissen auch Gerichtsaussagen und Verhörprotokolle einschließt, Winfried SCHULZE, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, in: Ders. (Hg.), EgoDokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, S. 11–30, hier 21; Rudolf DEKKER, Ego-Dokumente in den Niederlanden vom 16. bis zum 17. Jahrhundert, in: Winfried SCHULZE (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, S. 33–57, hier 33–35; Andreas RUTZ, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2 [20.12.2002], S. 3. Zum Ansatz der DFG-ForscherInnengruppe ‚Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive‘ an der FU Berlin, die Personwerdung aus einer praxistheoretischen Perspektive untersuchte, s. Claudia

FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSZIELE

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praxeologische Wende im Blick auf das Subjekt plädiert, so etwa Marian Füssel, der nur unwesentlich später im Kontext seiner Arbeiten zur frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur eine Kontextualisierung des in die Kulturgeschichte zurückgekehrten Subjektes mit Hilfe einer praxeologischen Perspektive forderte.10 In jüngster Zeit widmet sich etwa auch ein Graduiertenkolleg an der Universität Oldenburg in diesem Sinne der interdisziplinären Erforschung von Praktiken der Subjektivierung.11 Die vorliegende Studie versteht sich in Anknüpfung an diese Ansätze als Beitrag zur Erforschung des historisch-spezifischen Zusammenhanges von Subjekt und Praxis in der Ständegesellschaft des frühneuzeitlichen Europas. Subjekt fasse ich dabei mit Reckwitz als „kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen, welche auf eine sehr spezifische Weise modellieren, was ein Subjekt ist, als was es sich versteht, wie es zu handeln, zu reden, sich zu bewegen hat, was es wollen kann.“12 Mithin geht es also darum, eine „Vorstellung von (…) Beschaffenheit und Möglichkeiten“13 einer in bestimmten historischen Zusammenhängen handelnden Person zu gewinnen. Eine solche Begriffskonzeption

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ULBRICH, Hans MEDICK u. Angelika SCHASER, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Claudia ULBRICH, Hans MEDICK u. Angelika SCHASER (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (Selbstzeugnisse der Neuzeit 20), Köln, Weimar, Wien 2012, S. 1–19, hier 18; Gabriele JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (Selbstzeugnisse der Neuzeit 10), Köln, Weimar, Wien 2002, hier 32 u. dies., Autobiographische Texte – Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400 bis 1620, in: Winfried SCHULZE (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, S. 73–106, hier 73–75; Gabriele JANCKE u. Claudia ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 10 (2005), S. 7–27, hier 19–23; Claudia ULBRICH, Überlegungen zur Erforschung von Geschlechterrollen in der ländlichen Gesellschaft, in: Jan PETERS (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, Oldenburg 1995, S. 359–364, hier 364; Eva KORMANN, Ich, Welt, Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert (Selbstzeugnisse der Neuzeit 13), Köln, Wien, Weimar 2004, S. 300; Fabian BRÄNDLE, Kaspar von GREYERZ, Lorenz HEILIGENSETZER, Sebastian LEUTERT u. Gudrun PILLER, Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von GREYERZ, Hans MEDICK u. Patrice VEIT (Hg.) u. M. v. Sebastian LEUTERT u. Gudrun PILLER, Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen 1500–1850 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), Köln, Weimar, Wien 2001, S. 3–31, hier 4. Vgl. Marian FÜSSEL, Die Rückkehr des Subjekts in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive, in: Stefan DEINES, Stephan JAEGER u. Ansgar NÜNNING (Hg.), Historisierte Subjekte – subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, S. 141–159, bes. 141 u. 157. Marian FÜSSEL, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Vgl. etwa Dagmar FREIST, „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der SelbstBildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas ALKEMEYER, Gunilla BUDDE u. Dagmar FREIST (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 151–174. RECKWITZ, Subjekt, S. 34. FÜSSEL, Rückkehr, S. 143.

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EINLEITUNG

ermöglicht es, Subjekt- bzw. Selbstkonstitution14 als grundlegend kontingentes Phänomen zu verstehen, das in seinen je verschiedenen zeit- und kulturspezifischen Ausprägungen erfasst werden muss.15 So betonte etwa auch der Historiker Michael Mascuch in seiner 1997 erschienenen Studie ‚The Origins of the Individual Self‘, „ (…) that some version of subjectivity or consciousness of self is an indispensable feature of human existential reality, and that, whatever particular form it takes, selfconsciousness is therefore a transcultural and transhistorical phenomenon (…)”.16

Aus dieser Perspektive müssen die so vielfach diskutierten Konnotationen von bewusster geistiger Selbstbestimmung und intentionaler Handlungsautonomie des Subjekts als zeitund kulturspezifische Charakteristika der europäischen Moderne interpretiert werden.17 Wie etwa die Soziologin Andrea Maihofer in ihrer 1995 erschienenen Studie ‚Geschlecht als Existenzweise‘ pointiert zeigen konnte, sind diese Bestimmungen Konstituenten einer exklusiven und hochgradig exkludierenden modernen Subjektkultur, die sich auf weiße Männer aus dem europäischen Bürgertum bezog.18 Sie sind jedoch keineswegs überzeitliche Kriterien, an denen anders geartete Subjektkulturen gemessen werden könnten. Insbesondere mit den Arbeiten von Gabriele Jancke (2002) und Eva Kormann (2004) ist die in der frühneuzeitlichen Selbstzeugnis- bzw. Autobiographieforschung lange Zeit vorherrschende Orientierung am modernen Subjektbegriff verabschiedet worden und damit auch die Gewohnheit, Ergebnisse entlang einer modernisierungstheoretischen Achse als ‚noch-nicht‘ oder ‚schon in Ansätzen‘ einzuordnen.19 Gerade der Versuch, den Subjekt14

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Für eine (theoretische) Definition des Phänomens der Selbstkonstitution als (potentiell eigensinnige) Selbst-Bildung in sozialen Praktiken vgl. Stephen GREENBLATT, Renaissance selffashioning. From More to Shakespeare, Chicago u. London 1980, S. 2–3 u. 5, der versucht die Spannung zwischen aktiver Selbstbildung und passiver Selbstwerdung in sein Konzept zu integrieren. Die Implikationen des Begriffs fashioning stehen dem m.E. aber entgegen, weswegen ich mich gegen die Verwendung des Terminus entscheide. Vgl. Marian FÜSSEL, Die Kunst des Schwachen. Zum Begriff der Aneignung in der Geschichtswissenschaft, in: Sozial.Geschichte 21,3 (2006), S. 7–28, hier 18. Kritisch zum Subjektbegriff der Forschungen um ‚Aneignung‘ und ‚agency‘ Philipp SARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 19–20. Michael MASCUCH, The Origins of the Individual Self. Autobiography and Self-Identity in England, 1591–1791, Cambridge 1997, hier 18. Vgl. in ähnlicher Weise GREENBLATT, Self-fashioning, S. 1. Zu den modernen Konnotationen s. FÜSSEL, Rückkehr, S. 152; SARASIN, Geschichtswissenschaft, S. 13–28; Peter WAGNER, Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Aleida ASSMANN u. Heidrun FREISE (Hg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), Frankfurt a.M. 1998, S. 44–72, hier 61; zu den eurozentrischen bzw. westlichen Prämissen der Begriffe ‚Subjekt‘ bzw. ‚Individuum‘ Andreas BÄHR, Peter BURSCHEL u. Gabriele JANCKE, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell (Selbstzeugnisse der Neuzeit 19), Köln, Weimar, Wien 2007, S. 1–12, hier 4 u. 8. Vgl. Andrea MAIHOFER, Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a.M. 1995, S. 109–136. Vgl. JANCKE, Autobiographie, bes. S. 5–6; KORMANN, Ich, bes. S. 5, 35, 75, 156 u. Eva KORMANN, Ich und Welt in der Autobiographik des 17. Jahrhunderts. Heterologe Selbstkonzepte bei Maria Elisabeth Stampfer und Elias Holl, in: Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 10 (2005), S. 97–107, hier 99–101. S. auch Claudia ULBRICH u. David W[arren] SABEAN, Personkonzepte in der Frühen Neuzeit, in: Claudia von BRAUNMÜHL (Hg.), Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog (Schriftenreihe Wissenschaft), Berlin 2003, S. 99–112, hier 99

FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSZIELE

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begriff konsequent an die Analyse von Praktiken und Interaktionen zu binden, ermöglicht in diesem Sinne eine umfassende Historisierung von Prozessen der Subjekt- und Selbstkonstitution und ermöglicht es, die Ergebnisse einer historischen Selbstzeugnisforschung anschlussfähig für interdisziplinäre Debatten zu machen.20 Dieser Zugriff wird in der vorliegenden Untersuchung auf der Grundlage der in der Frühneuzeitforschung wohlbekannten Korrespondenz der pfälzischen Kurfürstentochter und verheirateten Herzogin von Orléans Elisabeth Charlotte (1652–1722) verfolgt. Die Briefe der in vielen Zusammenhängen besser unter dem Namen ‚Liselotte von der Pfalz‘ bekannten Schreiberin sind nicht nur Kommunikationsmedien zur Überbrückung räumlicher Distanzen zu den explizit Adressierten.21 Vielmehr eröffnen sie wie kaum ein anderes Quellenkorpus der Zeit die Möglichkeit, die Prozesse in den Blick zu nehmen, in denen ein schreibendes ‚Ich‘ sich zu sich selbst reflexiv22 in Beziehung setzt. Zum einen weisen die Briefe eine für das 17. Jahrhundert quantitativ außergewöhnliche Überlieferungsdichte auf, zum anderen erscheinen sie auch inhaltlich aufgrund der zahlreichen autobiographischen Retrospektiven und selbstreflexiven Einschübe, die sie von vielen anderen Korpora abhebt,23 besonders geeignet. 24 Über weite Strecken hinweg sind die Briefe jedoch nicht nur Artefakte des Erzählens bzw. Schreibens als Praxis, sondern vor allem Erzählungen von der Alltagspraxis ihrer Schreiberin. Dies prädestiniert sie aus

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u. 101; Andrea GRIESEBNER u. Christina LUTTER, Geschlecht und „Selbst“, in: Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 10 (2005), S. 51–70, hier 58–60. Vgl. MASCUCH, Origins, S. 210; KORMANN, Ich, S. 6–7 u. 75; Renate DÜRR, Funktionen des Schreibens: Autobiographien und Selbstzeugnisse als Zeugnisse der Kommunikation und Selbstvergewisserung, in: Irene DINGEL u. Wolf-Dietrich SCHÄUFLE (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit, Mainz 2007, S. 17–31, hier 22–23; Mareike BÖTH, Bodily practices as an expression of 'Individuality' in the letters of Liselotte von der Pfalz (1652– 1722), in: Franz-Josef ARLINGHAUS (Hg.), Forms of Individuality and Literacy in the Medieval and Early Modern Periods (Utrecht Studies in Medieval Literacy 31), Turnhout 2015 [i. Dr.]. In Brieftheorien seit der Antike wird der Brief als Ersatz für Anwesenheit verstanden. Vgl. Regina NÖRTEMANN, Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese, in: Angelika EBRECHT, dies. u. Herta SCHWARZ u. M. v. Gudrun KOHN-WAECHTER u. Ute POTT (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart 1990, S. 211–224, hier 212–213. Damit sei nicht per se unterstellt, dass das Herstellen einer Einheit von ‚I‘ (‚Ich‘) und ‚me‘ (‚Selbstbild‘) das Bestreben aller Selbstreflexionen sei. Dieses ‚Sich-selbst-gleich-Sein‘ fasse ich als spezielle Form der Selbstkonstitution mit dem Begriff der ‚Identität‘. Vgl. zu dieser Begriffsverwendung Sandra MARKUS, „Schreiben heißt: sich selber lesen“. Geschichtsschreibung als erinnernde Sinnkonstruktion, in: Clemens WISCHERMANN (Hg.), Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung (Studien zur Geschichte des Alltags 18), Stuttgart 2002, S. 159– 183, hier 174–175; Rogers BRUBAKER u. Frederick COOPER, Beyond „Identity“, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1–47, hier 10–11 sowie im Unterschied dazu die klassischen Identitätsmodelle von George Herbert MEAD, Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a.M. 1968, hier 238–244 u. Erik H. ERIKSON, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1973, hier 107 u. 188. S. auch V. Vgl. Helmuth KIESEL, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Briefe der Liselotte von der Pfalz, Frankfurt a.M. 1981, S. 9–31, hier 21. Zum Zusammenhang von Schreiben und Subjektkonstitution in der Frühen Neuzeit s. Birgit WAGNER u. Christopher F. LAFERL, Anspruch auf das Wort. Geschlecht, Wissen und Schreiben im 17. Jahrhundert. Suor Maria Celeste und Sor Juana Inés de la Cruz, Wien 2002, bes. S. 47 u. 148.

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EINLEITUNG

meiner Sicht dazu, unter einer praxis- und subjekttheoretischen Perspektive ‚neu‘ gelesen zu werden. Ein solcher Zugang, der den historischen Zusammenhang von Praxis und Selbstbildungsprozessen auch auf einer theoretischen Ebene anvisiert, erfordert einige Vorüberlegungen, die als Rahmung der nachfolgenden Analysen in den folgenden Abschnitten vorgestellt werden sollen.

1. Der Körper in intersektionalen Selbstpositionierungsprozessen Der analytische Fokus der Untersuchung liegt auf den brieflichen Aussagen Elisabeth Charlottes über ihren eigenen Körper und die Körper der Menschen in ihrem Umfeld. Eine körpergeschichtliche Lesart bietet sich als Zugang zum Quellenmaterial in besonderer Weise an, da solche Auseinandersetzungen – und dies muss bereits als erstes Ergebnis angesehen werden – sich wie ein roter Faden durch die Korrespondenz ziehen und so als Schlüssel zum Verständnis der Quellen außerordentlich geeignet erscheinen. Neben formelhaften Mitteilungen über Erkrankungen, Gesundungen, Geburten oder Todesfälle von Verwandten und Angehörigen der Höfe finden sich auch ausführliche Schilderungen über alltägliche Körperpraktiken, eine gesunde Lebensführung sowie Krankheitsverläufe. Aber auch aus theoretischer Perspektive verspricht eine Fokussierung auf die Zusammenhänge von Selbstbildungsprozessen, Praxis und Körper, derjenigen Instanz, mit der wir der Welt begegnen,25 ertragreiche Ergebnisse.26 Verschiedene theoretische Ansätze haben die fundamentale Bedeutung des Körpers als Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft und Individuum bzw. Struktur und Handeln hervorgehoben. Neben den bereits angeführten, auf Pierre Bourdieu zurückzuführenden im weitesten Sinne praxeologischen Theorieangeboten, die den Körper als habituelles „Prinzip der Vergesellschaftung“27 begreifen und nach den Prozessen der Inkorporierung sozialer Strukturen fragen, hat etwa auch der eingangs zitierte französische Philosoph und Historiker Michel Foucault den durch Diskurs-, Wissens- und Machtformationen historisierten Körper zum Ausgangspunkt seiner Form von Geschichtsschrei25

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S. bspw. Erving GOFFMAN, Interaktion und Geschlecht, hg. u. eingeleitet v. Hubert A. KNOBLAUCH mit einem Nachwort von Helga KOTTHOFF, Frankfurt a.M., New York 1994, S. 152: „Wo auch immer ein Individuum sich befindet und wohin auch immer es geht, es muß seinen Körper dabei haben.“ Maren LORENZ, Maren, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte (Historische Einführungen 4), Tübingen 2000, S. 20–21: „Das menschliche Denken und Handeln ist qua menschlicher Physis zwangsläufig körperfixiert. Ohne Körper ist die Welt weder erfahrbar noch auslegbar.“ S. auch Heidrun ZETTELBAUER, ‚Becoming a Body in Social Space…‘. Der Körper als Analyseinstrument der historischen Frauen- und Geschlechterforschung, in: Christina LUTTER, Margit SZÖLLÖSI-JANZE u. Heidemarie UHL (Hg.), Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen (Querschnitte 15), Innsbruck, Wien, München, Bozen 2004, S. 61–95, hier 63; Anke ABRAHAM, Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zu übersehenen Tiefendimensionen von Leiblichkeit und Identität, in: Robert GUGUTZER (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 119–139, hier 120. Pierre BOURDIEU, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, S. 171–172. S. auch Pierre BOURDIEU, Leçon sur la leçon, in: Ders., Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Mit einer Bibliographie der Schriften Pierre Bourdieus v. Yvette DELSAUT, Frankfurt a.M. 1985, S. 69. Der Leib sei Teil der Sozialwelt sei „wie die Sozialwelt Teil des Leibes“.

FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSZIELE

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bung erklärt.28 Auch aus einer phänomenologischen Perspektive wird der Körper bzw. der Leib – etwa in den Arbeiten der Soziologin Gesa Lindemann – als „Bindeglied zwischen Individuum und objektiver sozialer Struktur“29 verstanden. Die mittlerweile in ihrer Vielzahl kaum mehr zu überblickenden körpersoziologischen30 und körperhistorischen Studien31 verweisen vor allem auf die elementare Bedeutung des Körpers als symbolischer Ressource in Subjekt- bzw. Selbstbildungsprozessen. Ähnlich wie der Subjektbegriff mit seinen Konnotationen zwischen den Polen Unterwerfung und Ermächtigung32 stellt auch der Körper ein janusköpfiges Konzept dar. Einerseits lässt sich der Körper als 28

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S. 2. u. Ulle JÄGER, Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung, Königsstein i. T. 2004, S. 82–94; Philipp SARASIN, Mapping the body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 437–451, hier 439; Arnd BEISE, ‚Körpergedächtnis‘ als kulturwissenschaftliche Kategorie, in: Bettina BANNASCH u. Günter BUTZER (Hg.), Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses (Media and Cultural Memory/Medien und kulturelle Erinnerung 6), Berlin, New York 2007, S. 9–25, hier 10; s. auch 2. Gesa LINDEMANN, Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Frankfurt a.M. 1993, S. 31, Anm. 31. Bettina FRAISL, Heidrun ZETTELBAUER u. Bettina RABELHOFER, Der weibliche Körper als Ort von Identitätskonstruktionen in der Moderne, in: Moritz CSÁKY, Astrid KURY u. Ulrich TRAGATSCHING (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 4), Innsbruck, Wien, München, Bozen 2004, S. 255–290, hier 257; Barbara HEY, Die Entwicklung des gender-Konzeptes vor dem Hintergrund poststrukturalistischen Denkens, in: L’Homme 5,1 (1994), S. 7–27, hier 17; Paula-Irene VILLA, Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper (Geschlecht & Gesellschaft 23), 3. Aufl., Wiesbaden 2006, bes. S. 45 u. 65; Herbert WILLEMS u. York KRAUT, Korporalität und Medialität. Identitätsinszenierungen in der Werbung, in: Alois HAHN u. Herbert WILLEMS (Hg.), Identität und Moderne, Frankfurt a.M. 1999, S. 298–362, hier 354–355. S. auch den Überblick von Mark HENGERER, Kontroverse Kategorie. Eine Umschau in der geisteswissenschaftlichen Forschung zum Körper, in: ZhF 37,2 (2010), S. 219–247. Ulinka RUBLACK, Körper, Geschlecht und Gefühl in der Frühen Neuzeit, in: Paul MÜNCH, (Hg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (HZ Beiheft 31), München 2001, S. 99–105, hier 105 u. dies., Erzählungen von Geblüt und Herzen. Zu einer Historischen Anthropologie des frühneuzeitlichen Körpers, in: Historische Anthropologie 2 (2001), S. 214–232, hier 230 u. 215 (Zit.), zeigt, dass sich „Subjektivität im Erleben der Menschen in dieser Zeit [der Frühen Neuzeit] intensiv mit körperlichen Erfahrungsidiomen verschränkt“. Eva LABOUVIE, Individuelle Körper. Zur Selbstwahrnehmung „Mit Haut und Haar“, in: Richard VAN DÜLMEN (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln, Wien, Weimar 2001, S. 163–195, hier 194 betont, dass „Menschen, die über ihren individuellen Lebensweg und über sich selbst als Subjekte reflektieren, immer auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit als einen wichtigen Teil der eigenen Identität in ihre Selbstbetrachtungen einbanden“. S. auch Vera JUNG u. Otto ULBRICHT, Krankheitserfahrungen im Spiegel von Selbstzeugnissen von 1500 bis heute. Ein Tagungsbericht, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 137–148, hier 137–138; BRÄNDLE, GREYERZ, HEILIGENSETZER, LEUTERT u. PILLER, Texte, S. 17–19; Gudrun PILLER, Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts (Selbstzeugnisse der Neuzeit 17), Köln, Wien, Weimar 2007, S. 28–31 u. 70; LORENZ, Vergangenheit, S. 26; ZETTELBAUER, ‚Becoming‘, S. 63 u. 75. Vgl. Louis ALTHUSSER, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Positionen, Hamburg, Berlin 1977, S. 146–148; Judith BUTLER, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 8; RECKWITZ, Subjekt, S. 9; FÜSSEL, Rückkehr, S. 141.

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EINLEITUNG

kulturelle Repräsentationsfläche,33 als Produkt von diskursiven wie sozialen Strukturierungsprozessen beschreiben, denen eine Person subordiniert ist. In dieser Hinsicht erscheint der Körper als „Wissensspeicher sozialer Zugehörigkeit, er reproduziert soziale Ungleichheiten und Differenzen“.34 Gleichzeitig kann der Körper aber auch zu einer Handlungsressource werden, zu einer Art Medium der Selbstdarstellung. Dies kann sich etwa in aktiv gestaltenden Handlungen am Körper ausdrücken – am und mit dem Körper zeigt eine Person dann, wer sie ist und wie sie verstanden werden will.35 Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage, welche Konstruktionen von Selbstverhältnissen in den Briefen der Kurprinzessin und Herzogin von Orléans Elisabeth Charlotte am und mit dem Körper produziert und reproduziert werden. Sie beschäftigt sich also mit den Prozessen der Verkörperung (embodiment), verstanden sowohl als ein aktiver Prozess des „making and doing the work of bodies” – als auch als „becoming a body in social space“.36 Verkörperungen lassen sich in ihrer Prozesshaftigkeit nur in adäquater Weise erfassen, wenn verschiedene Kategorien bzw. Dimensionen in den Blick genommen werden, die im sozialen und diskursiven Raum wirken und die praxisbasierten Selbstkonstruktionen von Personen prägen.37 Eine solche multidimensionale Denkperspektive ermöglicht 33

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Vgl. Elizabeth GROSZ, Inscriptions and Body-Maps. Representations and the Corporeal, in: Terry THREADGOLD u. Anne Cranny FRANCIS (Hg.), Feminine, Masculine and Representation, Boston u. Sydney 1990, S. 62–74, hier 62–63. Nina DEGELE, Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln, Wiesbaden 2004, S. 16. S. auch Pierre BOURDIEU, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, hier 127 u. 135–136; Mary DOUGLAS, Implicit meanings. Essays in anthropology, London 1978, hier 87: „In it’s role as an image of society, the body’s main scope is to express the relation of the individual to the group.” S. auch Marie-Luise ANGERER, Zwischen Ekstase und Melancholie. Der Körper in der neueren feministischen Diskussion, in: L’Homme 5,1 (1994), S. 28– 44, hier 28–29; Michael MEUSER, Frauenkörper – Männerkörper. Somatische Kulturen der Geschlechterdifferenz, in: Markus SCHROER (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M. 2005, S. 271–294, hier 289; Kornelia HAHN u. Michael MEUSER, Zur Einführung: Soziale Repräsentation des Körpers – körperliche Repräsentation des Sozialen, in: Dies. (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper, Konstanz 2002, S. 7–16, bes. S. 8; VILLA, Bodies, S. 65. Vgl. DEGELE, Sich schön machen, S. 16; Nina DEGELE u. Gabriele SOBIECH, „Fit for life”. Soziale Positionierung durch sportive Praxen, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 60 (2007), S. 109–118, hier 110; Ronald HITZLER, Der Körper als Gegenstand der Gestaltung. Über physische Konsequenzen der Bastelexistenz, in: Kornelia HAHN u. Michael MEUSER (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper, Konstanz 2002, S. 71–85, hier 75 u. 79–80; Markus SCHROER, Einleitung. Zur Soziologie des Körpers, in: Ders. (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M. 2005, S. 7–47, hier 21–22 u. 34–37; Isabell LOREY, Der Körper als Text und das aktuelle Selbst. Butler und Foucault, in: Feministische Studien 11,2 (1993), S. 10–23, hier 20; VILLA, Bodies, S. 108–109. Bryan S. TURNER, The Body and Society. Explorations in Social Theory, 2. Aufl., London 1996, S. xiii. Vgl. Leslie ADELSON, Making Bodies, Making History. Feminism and German Identity, Lincoln u. London 1993, S. 22; Cathleen CANNING, The Body as Method? Reflections on the Place of the Body in Gender History, in: Gender & History 11,3 (1999), S. 499–513, hier 505; Thomas CSORDAS, Embodiment as a Paradigm for Anthropology, in: Ethos 18 (1990), S. 5–47, hier 5 u. 12; LORENZ, Vergangenheit, S. 21; ZETTELBAUER, ‚Becoming‘, S. 78. Vgl. CANNING, Body, S. 505; ZETTELBAUER, ‚Becoming‘, S. 78; FRAISL, ZETTELBAUER u. RABELHOFER, Körper, S. 258–259; ADELSON, Making, S. XVI; Karl BRUNNER, Andrea GRIESEBNER u. Daniela HAMMER-TUGENDHAT, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Verkörperte

FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSZIELE

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das Forschungskonzept der Intersektionalität, das im Kontext der interdisziplinären Geschlechterforschung seit geraumer Zeit breit diskutiert wird.38 In den Blick genommen werden dabei alle Formen des „machtdurchwirkten Zusammenspiels unterschiedlicher Differenz- bzw. Diversitätskategorien“39 in Prozessen sozialer Positionierung. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie solche intersektionalen Verschränkungen verschiedener kategorialer Zusammenhänge, wie beispielsweise Stand/Klasse, Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Religion und sexuelle Orientierung, diskriminierend bzw. privilegierend wirken40 oder anders gewendet: inwiefern sie für bestimmte Personen spezifische Handlungsspielräume eröffnen oder schließen. Wie die Soziologin Andrea Bührmann in ihrem Aufsatz ‚Intersectionality – ein Forschungsfeld auf dem Weg zum Paradigma?‘ feststellte, teilen intersektionale Forschungsansätze kein gemeinsames Gründungsnarrativ.41 Vielmehr ließe sich mit der Erziehungswissenschaftlerin Katharina Walgenbach von „vielfältigen Genealogien“42 einer Denkperspektive ausgehen, deren bedeutendste sicherlich im Kontext des Black feminism und der Critical race theory der 70er und 80er Jahre auszumachen ist. Hier wurde letztlich auch der Terminus intersection geprägt. 43 Mit der eingängigen Metapher der Straßenkreuzung an der schwarze Frauen sowohl Opfer rassistischer als auch sexistischer Diskriminierung wurden, machte die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw die komplexe Positionierung der Akteur_innen in arbeitsrechtlichen Kontexten aufmerksam und brachte damit die seit längerem geführten Diskussionen auf den Punkt. Vor dem Hintergrund ihrer lebensgeschichtlichen Diskriminierungs- und Exklusionserfahrungen als schwarz, als Angehörige der Arbeiterklasse und als Frauen sahen sich die Trägerinnen der Debatte im von

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Differenzen (Kulturwissenschaften 8.3), Wien 2004, S. 7–13; hier 7; Paula-Irene VILLA, Verkörperung ist immer mehr. Intersektionalität, Subjektivierung und der Körper, in: Helma LUTZ, Maria Theresia HERRERA VIVAR u. Linda SUPIK (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts (Gesellschaft und Geschlecht 47), Heidelberg 2010, S. 203–221, hier 218; mit Bezug auf historische Subjektivierungsprozesse Andrea GRIESEBNER, Geschlecht als soziale und analytische Kategorie, in: Johanna GEHMACHER u. Maria MESNER (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven (Querschnitte 14), Innsbruck, Wien, München, Bozen 2003, S. 37–52, hier 47–49; GRIESEBNER u. LUTTER, Selbst, S. 61–63. Einen Überblick über die Debatten gibt Andrea D. BÜHRMANN, Intersectionality – ein Forschungsfeld auf dem Weg zum Paradigma? Tendenzen, Herausforderungen und Perspektiven der Forschung über Intersektionalität, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 1,2 (2009), S. 28–44. Ina KERNER, Alles intersektional? Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus, in: Feministische Studien 1 (2009), S. 36–50, hier 45. Vgl. Kathy DAVIS u. Helma LUTZ, Geschlechterforschung und Biographieforschung. Intersektionalität am Beispiel einer außergewöhnlichen Frau, in: Bettina VÖLTER (Hg.), Biographieforschung im Diskurs, Wiesbaden 2005, S. 228–247, hier 231 u. Intersectionality in Transatlantic Perspective, in: Gudrun-Axeli KNAPP u. Cornelia KLINGER (Hg.), ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008, S. 19–35, hier 26–28. BÜHRMANN, Intersectionality, S. 31–32. Ebd., S. 12. Vgl. Kimberlé CRENSHAW, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum. Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism (1989), S. 139–167, hier 149.

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EINLEITUNG

‚weißen Frauen der Mittelklasse‘ getragenen Mainstream-Feminismus ihrer Zeit kaum repräsentiert.44 Vielmehr beabsichtigten sie die diskriminierend wirkenden Verschränkungen von race-, class- und gender-bezogenen sozialen Platzanweisungen sichtbar und entsprechend positionierte Personen in einem politischen Sinne wirkmächtig zu machen (empowerment). Den feministischen und antirassistischen Wissenschaftskontexten der 80er und frühen 90er Jahre gebührt das Verdienst, die Zusammenhänge mehrfach verschränkter sozialer Positionierungsprozesse im Begriff der Intersektionalität konzeptualisiert zu haben. Dennoch sind ähnliche Perspektiven auf Sozialität auch in zahlreichen anderen Wissenschaftskontexten artikuliert worden, nicht immer in direkter Berufung auf die amerikanischen Debatten.45 Walgenbach argumentiert, dass es in Europa bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Vordenkerinnen ‚intersektionaler‘ Perspektiven gegeben habe, und verweist etwa auf Clara Zetkin, die der bürgerlichen Frauenbewegung vorwarf, klassenmäßige Differenzen und Hierarchien zu vernachlässigen.46 Neben solchen frühen Traditionen sei auch in Europa spätestens seit den 70er und 80er Jahren eine ähnliche Kritik an der mangelnden Differenziertheit in der Konzeptualisierung sozialer Positionen von Frauen, insbesondere von Migrantinnen, von Frauen mit Behinderung und jüdischen Frauen, aber auch von schwarzen Frauen in Europa artikuliert worden. 47 Die Men studies48 sowie queertheoretische Forschungsrichtungen49 , so ließe sich ergänzen, haben 44

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Vgl. BELL HOOKS, Ain’t I a Woman. Black Women and Feminism, Boston 1981, hier Kap. 5, bes. S. 163 u. Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht, Berlin 1996, bes. S. 97–102; Patricia HILL COLLINS, Black Feminist Thought, S. 6–8; Hazel V. CARBY, White women listen! Black feminism and the boundaries of sisterhood, in: The Centre for Contemporary Culture Studies (Hg.), The Empire Strikes Back. Race and Racism in 70s Britain, London 1982, S. 212–235, bes. 214. Vgl. zur Forschungsgeschichte Kathy DAVIS, Intersektionalität als „Buzzword“: Eine wissenschaftssoziologische Perspektive auf die Frage: „Was macht eine feministische Theorie erfolgreich?“, in: Helma LUTZ, Maria Theresia HERRERA VIVAR u. Linda SUPIK (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts (Gesellschaft und Geschlecht 47), Heidelberg 2010, S. 55–68, bes. 55–57; DAVIS, Intersectionality, S. 19–23; GudrunAxeli KNAPP, „Intersectionality“ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von „Race, Class, Gender“, in: Feministische Studien 23 (2005) Heft 1, S. 68–81, hier 69; Gudrun-Axeli KNAPP, „Intersectionality“ – ein neues Paradigma der Geschlechterforschung?, in: Rita CASALE u. Barbara RENDTORFF, Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung, Bielefeld 2008, S. 33–53, hier 41–42 u. 44; Gudrun-Axeli KNAPP, Traveling Theories: Anmerkungen zur neueren Diskussion über „Race, Class, and Gender“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16,1 (2005), S. 88–110; Gabriele WINKER u. Nina DEGELE, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit, Bielefeld 2009, S. 11–12; Katharina WALGENBACH, Intersektionalität – eine Einführung, 2012, www.portal-intersektionalität.de [06.03.2014] u. Gender als interdependente Kategorie, in: Katharina WALGENBACH, Gabriele DIETZE, Antje HORNSCHEIDT u. Kerstin PALM (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität, Heterogenität, Opladen, Farmington Hills 2007, S. 23–64, hier 25–29. Vgl. WALGENBACH, Gender, S. 25–29. Vgl. ebd., S. 27–38 u. WALGENBACH, Intersektionalität. S. Jürgen MARTSCHUKAT u. Olaf STIEGLITZ, Geschichte der Männlichkeiten (Historische Einführungen 5), Frankfurt a. M. 2008, S. 36 sowie das Konzept der Hegemonialen Männlichkeit, das davon ausgeht, dass diese sich nicht nur in Relation zu Frauen, sondern auch zu differenten

FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSZIELE

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seither ebenso wesentliche Beiträge zur Forderung nach einem differenzierteren Blick auf soziale Positionierungen geleistet. Auch der Geschlechtergeschichte ist ein intersektionaler Denkstil50 nicht fremd. Ende der 80er plädierten etwa Joan Scott und Gisela Bock in ihren konzeptuellen Überlegungen dafür, ‚Geschlecht‘ im Zusammenhang mit anderen Differenzierungsfaktoren zu untersuchen.51 Insbesondere die Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit kann auf eine Vielzahl wesentlicher Studien verweisen, die in diesem Sinne vor allem standes- und geschlechtsbezogene sowie konfessionell-religiöse Positionierungs- und Differenzierungsprozesse in ihren Zusammenhängen untersuchten.52 Als Versuch, die empirischen Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten zu bündeln, definierte Andrea Griesebner Ende der 90er Jahre Gender als ‚mehrfachrelationale‘ Kategorie.53 In einem 2013 gemeinsam mit Susanne Hehenberger veröffentlichten Aufsatz hat Grieseb-

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Maskulinitäten konstituiert. Vgl. R.W. CONNELL, Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, Cambridge 1987. Vgl. beispielsweise Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen, hg. v. AG Queer Studies, Hamburg 2009. Der Begriff des Denkstils geht zurück auf den Wissenschaftstheoretiker Ludwik FLECK, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hg. v. Lothar SCHÄFER u. Thomas SCHNELLE, Frankfurt a. M. 1980, S. 129–130. Der Denkstil enthalte „Regeln (...) für das Denken“, sei an eine „Denkgemeinschaft gebunden“ und entstehe aus einer „Stimmung“, einer „Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln“. Denkstil ließe sich definieren „als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“. Vgl. zur Konzeptualisierung von Intersektionalität als Denkstil auch Katharina WALGENBACH, Intersektionalität. Vgl. Joan W. SCOTT, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: The American Historical Review 91,5 (1986), S. 1053–1075, hier S. 1075, dt. Übers: Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy KAISER (Hg.), Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, S. 27–75; Gisela BOCK, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: GG 14,3 (1988), S. 364–391, hier 384–388; Natalie ZEMON DAVIS, Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers, Berlin 1986, S. 127. S. Heide WUNDER, „Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond.“ Frauen in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1992; Ulrike GLEIXNER, „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit 1700–1760 (Geschichte und Geschlechter 8), Frankfurt, New York 1994; Renate DÜRR, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit (Geschichte und Geschlechter 13), Frankfurt a.M., New York 1995; Monika MOMMERTZ, Handeln, Bedeuten, Geschlecht. Konfliktaustragungspraktiken in der ländlichen Gesellschaft der Mark Brandenburg. Zweite Hälfte des 16. Jhd.s bis zum Dreißigjährigen Krieg, unveröff. Dissertationsschrift, Florenz 1997; Claudia ULBRICH, Shulamith und Margarethe. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien, Köln, Weimar 1999; Andrea GRIESEBNER, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2000. Vgl. Andrea GRIESEBNER, Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Veronika AEGERTER, Nicole GRAF, Natalie IMBODEN, Thea RYTZ u. Rita STÖCKLI (Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998, Zürich 1998, S. 129–137, hier 134. S. auch Claudia OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen 8), Frankfurt a.M., New York 2010, S. 35–37.

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EINLEITUNG

ner ihr Konzept noch einmal explizit gegen den Begriff der Intersektionalität abgegrenzt, dem sie mangelnde Prozesshaftigkeit vorwirft.54 Die theoretischen Vorgaben, methodischen Herangehensweisen und nicht zuletzt die Ziele55 intersektional ausgerichteter Forschungen sind also durchaus unterschiedlich.56 Neben der zitierten Kritik herrscht in den gegenwartsorientierten Disziplinen auch über die Frage, auf welchen Analyseebenen empirische Intersektionalitätsforschung ansetzt bzw. sinnvollerweise anzusetzen habe und welche Kategorien hierbei zu berücksichtigen seien, Uneinigkeit.57 Während sich die Studien im Kontext empirischer Sozial- und Bildungsforschung sowie der Biographieforschung vor allem auf die Mikroebene individueller Selbst- bzw. Identitätskonstruktionen beziehen und deshalb häufig eine Vielzahl unterschiedlicher Kategorien einbeziehen,58 plädieren etwa Cornelia Klinger und Gudrun Axeli-Knapp für eine Konzentration auf die strukturellen „Achsen der Ungleichheit“, die sie in den auf ‚Arbeit‘ als zentralem Faktor basierenden Gegenwartsgesellschaften in der klassischen Trias Klasse, ‚Rasse’/Ethnizität und Geschlecht begründet sehen.59 Nina Degele und Gabriele Winker hingegen schlagen in ihren Arbeiten eine ‚intersektionale Mehrebenenanalyse‘ vor, die „kontextspezifische gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d.h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskon-

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Vgl. Andrea GRIESEBNER u. Susanne HEHENBERGER, Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften?, in: Vera KALLENBERG, Jennifer MEYER u. Johanna M. MÜLLER (Hg.), Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen, Wiesbaden 2013, S. 105–124, hier 105, 109, 111. S. kritisch dazu Mareike BÖTH, Verflochtene Positionierungen. Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Selbstbildungsprozesse, in: Mechthild BERESWILL, Folkert DEGENRING u. Sabine STANGE (Hg.), Intersektionalität und Forschungspraxis. Wechselseitige Herausforderungen, Münster 2015 [i. Dr.]. Vgl. DAVIS, Intersectionality, S. 28–31; WINKER u. DEGELE, Intersektionalität, S. 14. Vgl. KNAPP, Intersectionality, S. 75–76; WINKER u. DEGELE, Intersektionalität, S. 13. Vgl. WINKER u. DEGELE, Intersektionalität, S. 14; WALGENBACH, Gender, S. 42–44; BÜHRMANN, Intersectionality, S. 33–36; DAVIS, Intersectionality, S. 24–25; KNAPP, Geschlechterforschung, S. 44; Leslie MCCALL, Complex Inequality. Gender, Class and Race in the New Economy (Perspectives on Gender), New York, London 2001, S. 29–59 u. The complexity of intersectionality, in: Signs. Journal of women in culture and society 30,3 (2005), S. 1771–1800, hier 1784–1794. Vgl. Helma LUTZ u. Norbert WENNING, Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten, in: Dies. (Hg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001, S. 11–24, hier 20–21, die von „13 bipolaren hierarchischen Differenzlinien“ ausgehen. DAVIS u. LUTZ, Geschlechterforschung, S. 234–245; Ann PHOENIX, Psychosoziale Intersektionen: zur Kontextualisierung von Lebenserzählungen Erwachsener aus ethnisch sichtbar differenten Haushalten, in: Helma LUTZ, Maria Theresia HERRERA VIVAR u. Linda SUPIK (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts (Gesellschaft und Geschlecht 47), Heidelberg 2010, S. 165–182, hier 167; WINKER u. DEGELE, Intersektionalität, S. 15–16. Vgl. Cornelia KLINGER u. Gudrun-Axeli KNAPP, Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz: Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht ‚Rasse‘/Ethnizität, in: Dies. u. Birgit SAUER, Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht, Ethnizität (Politik der Geschlechterverhältnisse 36), Frankfurt, New York 2007, S. 19–41, hier 20 u. 37. S. auch WALGENBACH, Gender, S. 42 u. 53; KNAPP, Intersectionality, S. 75; WINKER u. DEGELE, Intersektionalität, S. 22.

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struktionen“60 untersucht. Hieraus folgt, dass die Frage nach relevanten Kategorien je nach Untersuchungsebene und Forschungskontext beantwortet werden muss.61 Einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet auch die Politologin Ina Kerner, die in ihren Arbeiten eine institutionelle, eine epistemische (Wissen, Diskurse, symbolische Repräsentationen) sowie eine personale Dimension (Subjektivität, individuelle Einstellungen und Handlungen und personale Interaktionen) von sozialen Differenzierungen bzw. Ungleichheitsphänomenen unterscheidet, bei denen die Bedeutung von intersektionalen Verschränkungen jeweils variieren kann.62 Auch wenn mit dem Stichwort ‚Intersektionalität‘ gegenwärtig kein klares empirisches Forschungsprogramm und keine eindeutige gesellschaftstheoretische Vorstellung umrissen werden kann, ist die intersektionale Untersuchungsperspektive für die Fragestellung dieser Arbeit äußerst inspirierend.63 Sie regt zu einer multiperspektivischen Quellenlektüre an und lenkt immer wieder den Blick auf die Dynamiken der verschiedenen Dimensionen von körperbezogenen Selbstbildungsprozessen und deren Repräsentation bzw. Derepräsentation in historischen Selbstzeugnissen. Die vorliegende Arbeit macht also den Versuch, aus den intersektionalen Selbstaussagen Elisabeth Charlottes das spezifische Zusammenwirken relevanter Prozesskategorien der sozialen Positionierung64 in ihrer konkreten historischen, gesellschaftlichen und geographischen Situierung zu untersuchen.65 Darunter verstehe ich die Prozesse der Zuordnung einer Person zu einer be60 61

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WINKER u. DEGELE, Intersektionalität, S. 15. Vgl. ebd., S. 27–28, 59 u. 68–69; WALGENBACH, Gender, S. 43; LUTZ u. WENNING, Differenzen, S. 21. Vgl. Ina KERNER, Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt a.M. 2009, S. 35–42 u. Alles intersektional, S. 36 u. 46–48. Vgl. DAVIS, Intersektionalität. S. 65, kommt zu dem Schluss, dass Intersektionalität gerade als heuristisches Konzept besonders anregend sei. Zur Verwendung von intersektionalen Ansätzen in der geschichtswiss. Forschung zur Frühen Neuzeit Claudia ULBRICH, Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung, in: Marian FÜSSEL u. Thomas WELLER (Hg.), Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung (Zeitsprünge 15), Frankfurt a.M. 2011, S. 85–104, bes. S. 97–104. Der Begriff bezieht sich auf Helmuth Plessners Studien zur ‚Positionalität‘, also zur Form der Umweltbeziehung lebendiger Wesen, durch die sie sich von unbelebten Körpern unterscheiden. Vgl. Helmuth PLESSNER, Die Stufen des Organischen und der Mensch (Sammlung Göschen Bd. 2200), 3. Aufl. Berlin 1975, S. 127–132; Gesa LINDEMANN, Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib, in: Annette BARKHAUS, Matthias MAYER, Neil ROUGHLEY, Donatus THÜRNAU (Hg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt a.M. 1996, S. 146–175, hier 152, Verdrängung, S. 49–50 u. Verschränkung, S. 136; VILLA, Bodies, S. 214–215; JÄGER, Körper, S. 129–130: „Leiblichkeit bindet Menschen an die zentrische Position, d.h. sie sind leiblich der Umwelt einerseits unmittelbar ausgesetzt, und zugleich exzentrisch von diesem Umweltbezug distanziert.“ Vgl. zu dieser Frage VILLA, Verkörperung, S. 218: „Das würde bedeuten, den Blick darauf zu richten, wie außerordentlich komplexe körperliche Praktiken von den AkteurInnen selbst innerhalb dieser Kategorien interpretiert werden. Wie verleihen Menschen ihren Praktiken in spezifischen sozialen Situationen Sinn und welche Kategorien verwenden sie dafür?“ Vgl. auch PHOENIX, Intersektionen, S. 167, derzufolge die Art und Weise, wie eine Person „in ihren Narrativen intersektionelle ‚Ich‘-Stimmen orchestriert, gleichzeitig Einblicke in ihre soziale Positionierung und in ihre Identitäten gewährt.“ KERNER, Alles intersektional?, S. 48; DAVIS u. LUTZ, Geschlechterforschung, S. 231 u. 241; Ernesto LACLAU u. Chantal MOUFFE, Hegemonie und

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stimmten sozialen Position im Gesellschaftsgefüge sowie innerhalb von Diskursen,66 die sowohl von Mitmenschen (Fremdpositionierung) als auch von der Person selbst ausgehen können (Selbstpositionierung). Diese Platzierungen werden mit Hilfe sprachlicher Zuschreibungen und Benennungen vorgenommen, die ihrerseits konkrete Macht- und Herrschaftsverhältnisse (re)produzieren.67 Neben der ständischen Positionierung geraten auch familiäre bzw. verwandtschaftliche, geschlechtsbezogene und kulturräumliche Zuweisungen in den Briefen Elisabeth Charlottes in den Blick und werden vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen biographisch-zeitspezifischen Konstruiertheit interpretiert.

2. Untersuchungsleitende Begriffe: Leib/Körper – Praxis/Wissen – Erzählen Diese Frage nach den am und mit dem Körper produzierten Selbstverhältnissen in Elisabeth Charlottes Briefen lässt sich mit Hilfe der zentralen Begriffe Praxis und Wissen sowie Leib und Körper analytisch konkretisieren. Dabei bilden die bereits erwähnten Praxistheorien einen auch für historische Studien in hohem Maße anschlussfähigen Zugang.68 Im Unterschied zum punktuellen, nur einen einzigen Akt intentionalen Handelns umfassenden Begriff der ‚Handlung‘ lassen sich Praktiken definieren als zeitlich und räumlich determinierte „geregelte, typisierte, von Kriterien angeleitete Aktivität[en], die von verschiedensten Subjekten getragen“69 werden. Sie sind als „sinnhafte Komplexe“ zu verstehen, in die spezifisches Wissen70 sowie kulturelle Codes eingelassen sind.71 Eine

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radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, hg. u. übers. v. Michael HINTZ u. Gerd VORWALLNER, 3. Aufl., Wien 2006, S. 152–153. Aus Sicht der frühneuzeitlichen Selbstzeugnisforschung Claudia ULBRICH, Einführung: Person. Text und Kontext, in: Claudia ULBRICH, Hans MEDICK u. Angelika SCHASER (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (Selbstzeugnisse der Neuzeit 20), Köln, Weimar, Wien 2012, S. 31. Diesen Zusammenhang betonen auch LACLAU u. MOUFFE, Hegemonie, S. 153 mit ihrem Verständnis von Subjektpositionen „innerhalb einer diskursiven Struktur”. S. auch Elisabeth TUIDER, Diskursanalyse und Biographieforschung. Zum Wie und Warum von Subjektpositionierungen [81 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung/Qualitative Social Research 8 (2007), 2, Art. 6, Abs. 27 u. 31. Zur Subjektbildung durch die sprachliche Praxis der Anrufung vgl. ALTHUSSER, Ideologie, S. 108– 153, bes. 142–145; BUTLER, Psyche, S. 101–123. Vgl. RECKWITZ, Subjekt, S. 40. Vgl. ebd., S. 38 u. 40 im Anschluss an die Arbeiten des Soziologen Theodore R. SCHATZKI, Social Practices. A Witgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 89 u. Introduction. Practice Theory, in: Theodore R. SCHATZKI, Karin KNORR CETINA u. Eike von SAVIGNY (Hg.), The practice turn in contemporary theory, London, New York 2001, S. 1–14, hier 3. Wissen lässt sich einem sozialkonstruktivistischen Ansatz folgend als „Konglomerat von kontingenten Sinnmustern, die auf kulturspezifische Weise alltägliche Sinnzuschreibungen und somit ein Verstehen ermöglichen wie regulieren, somit als notwendige Bedingungen des Handelns wie des Sozialen“ definieren. Vgl. Andreas RECKWITZ, Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler, in: Karl H. HÖRNING u. Julia REUTER (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 40–54, hier 42. Vgl. RECKWITZ, Subjekt, S. 38; ähnlich auch HÖRNING, Praxis, S. 33.

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besondere Bedeutung in diesem Zuschnitt des Praxis-Begriffs erhält der Körper,72 denn Praktiken ergeben sich aus spezifischen wiederholten körperlichen Bewegungsweisen.73 Im Zuge dieser alltäglichen Körperbewegungen, die häufig unter Anwendung dinglicher Artefakte vollzogen werden, wird jeweils (inkorporiertes) Wissen aktiviert und stetig performativ aktualisiert.74 Wissen wird also direkt durch und in der Körper-Praxis greifbar.75 Erst die „wissensabhängigen Performances“76 lassen den Körper handlungsfähig werden. Da jede Praxis also gleichzeitig immer auch ein spezifisches Wissen enthält, kann Praxis nie ohne Wissen und Wissen sinnvollerweise nicht ohne den Bezug auf Praxis verstanden werden. Wissen über den Körper und mit dem Körper ausgeführte Praktiken sollen daher in der Analyse als sich gegenseitig bedingende Dimensionen herausgearbeitet werden. Die vorliegende Studie setzt sich im Rekurs auf sozialwissenschaftliche Praxistheorien also zum Ziel, über die Analyse und diskursive Kontextualisierung von frühneuzeitlichen wissensförmigen Praktiken einen Zugang zu Subjektbildungsprozessen zu gewinnen.77 Soziologische Praxistheorien akzentuieren im Anschluss an Pierre Bourdieu78 oder an Marcel Mauss‘ Begriff der ‚Körpertechniken‘79 primär den präreflexiven Charakter von 72

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Vgl. etwa SCHATZKI, Practices, S. 22. Mentale Haltungen, zu denen auch Selbstverhältnisse gehören, kommen sehr häufig in körperlichen Praktiken zum Ausdruck. Vgl. auch FÜSSEL, Rückkehr, S. 154– 155; CSORDAS, Embodiment, S. 7. Vgl. RECKWITZ, Reproduktion, S. 44; SCHATZKI, Introduction, S. 2; aus anthropologischphilosophischer Perspektive Gunter GEBAUER, Bewegung, in: Christoph WULF (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim u. Basel 1997, S. 501–516, hier 501– 504 u. 515. Vgl. RECKWITZ, Subjekt, S. 39: „Die körperlichen Akte, aus denen sich die Praktiken zusammensetzen, sind solche von Subjekten als Körper, und das Wissen, das sie enthalten, ist ein Wissen, das von diesen Subjekten inkorporiert (‚embodied knowledge‘) und mental interiorisiert ist.“ Vgl. ebd., S. 37: „Die Praktik ist weder nur Verhalten noch nur Wissen, sondern ein geregeltes Verhalten, das ein spezifisches Wissen enthält.“ Vgl. RECKWITZ, Reproduktion, S. 43. Vgl. RECKWITZ, Subjekt, S. 35. Vgl. zum Zusammenhang von Wissenscodes und Subjektbildung auch RECKWITZ, Transformation, S. 567; Pascal EITLER u. Monique SCHEER, Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen, in: GG 35 (2009), S. 282–313, hier 312. Bourdieu hat – ohne den Begriff zu benutzen – selbst im umfassenden Sinne ‚Körpertechniken‘ untersucht, bspw. Geschmackspräferenzen oder Körperhaltungen. Dabei interessierte er sich im Besonderen für diejenigen Handlungen, die quasi automatisiert und unterbewusst ablaufen. Vgl. Pierre BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1982, bes. S. 740. S. auch Eckart LIEBAU, Gesellschaftliches Subjekt und Erziehung. Zur pädagogischen Bedeutung der Sozialisationstheorien von Pierre Bourdieu und Ulrich Oevermann, München 1987, S. 59–63; MEUSER, Frauenkörper, S. 278. Mauss definierte den Begriff in einem Vortrag vor der Société de Psychologie am 17. Mai 1934. Vgl. Marcel MAUSS, Die Techniken des Körpers, in: Ders., Soziologie und Anthropologie. Bd. 2 Gabentausch, Soziologie und Psychologie. Todesvorstellungen. Körpertechniken. Begriff der Person, Frankfurt a.M. 1989, S. 199–220, hier 199: „Ich verstehe darunter die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen.“ In den Klassifizierungsbeispielen präzisiert Mauss implizit, ‚Körpertechniken‘ seien sozial vermittelt und somit (synchron) kulturell und (diachron) historisch verschieden. Als aktive Handlungen, die

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EINLEITUNG

inkorporierten „Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“80 (Habitus). Demzufolge seien diese dem Bewusstsein und damit auch voluntaristischen Handlungsentscheidungen von Personen entzogen.81 Für historische Untersuchungsfelder ist diese Annahme nicht unproblematisch, denn derart stark habitualisierte Handlungen lassen sich über historische Schriftquellen kaum untersuchen.82 Denn im Gegensatz zur Ethnologie und Soziologie, die den habitualisierten Körpergebrauch mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung zum Gegenstand ihrer Analysen machen können, entfällt solch eine Möglichkeit für die historische Forschung weitgehend.83 Deswegen kann sich der Praxisbegriff in der vorliegenden Studie einzig auf die mehr oder weniger stark gedanklich und schriftlich reflektierten Äußerungen zum Körpergebrauch in den Briefen der Schreiberin beziehen.84 Während Bourdieu in seinem Frühwerk, das wesentlich auf seinen empirischen Studien in den schriftlosen Gesellschaften der Kabylei beruht, die Beharrungskraft habitueller Dispositionen ins Zentrum gestellt hatte,85 hat er – auch als Antwort auf kritische

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unbewusst durch Nachahmung oder durch explizite Anweisung erlernt würden, seien sie aufgrund langer Gewöhnung nur schwer veränderlich. Pierre BOURDIEU, Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1994, S. 125–158, hier 143; vgl. auch Meditationen, S. 177 u. Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M. 2005, S. 63. Vgl. Markus SCHWINGEL, Pierre Bourdieu zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2003, S. 61. Zur Verbindung einer soziologischen Handlungstheorie mit dem Moment präreflexiver Praxis Michael MEUSER, Körper-Handeln. Überlegungen zu einer praxeologischen Soziologie des Körpers, in: Robert GUGUTZER (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 95–116, bes. 98–103; SCHROER, Einleitung, S. 12–13. In der neueren Körpergeschichte wird Mauss‘ Begriff dennoch breit rezipiert und kommt auch bei Untersuchungen an normativen Quellen wie Traktaten und Ratgeberliteratur zur Anwendung. Vgl. Rebekka von MALLINCKRODT, Einführung: Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, in: Dies. (Hg.), Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 89), Wiesbaden 2008, S. 1–14, hier 2–3 u. Das Gewicht des Menschen. Eine Kulturgeschichte des Schwimmens (1760–1830), unveröff. Habilitationsschrift Berlin 2011. Einschränkend muss angeführt werden, dass auch die teilnehmende Beobachtung letztlich mit verbalen Beschreibungen arbeitet. Vgl. zu diesen methodischen Fragen aus Sicht der Soziologie etwa Reiner KELLER u. Michael MEUSER, Wissen des Körpers – Wissen vom Körper. Körper- und wissenssoziologische Erkundungen, in: Dies. (Hg.), Körperwissen (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft), Wiesbaden 2011, S. 9–31, hier 24–25. Solche Reflexionen sind Ergebnis eines sprachrelevanten Distanzierungsprozesses des Selbst von der Praxis. Vgl. Elk FRANKE, Erfahrung von Differenz – Grundlage reflexiver Körper-Erfahrung, in: Robert GUGUTZER (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 187–206, hier 196–197. Zum Verhältnis von Körper-Praxis und Sprache aus ethnologischer Sicht Michael JACKSON, Knowledge and Body, in: Man 18 (1983), S. 327–345, hier 329. S. auch Gabriele SOBIECH, „Kultur(en) in Bewegung” – Körperpraktiken und Geschlecht im Feld des Sports, in: Axel HORN (Hg.), Körperkultur, Schorndorf 2007, S. 277–300, hier 279: „Soziale Praxis kann, so gesehen, unterschiedliche Formen annehmen, als gesellschaftliche Routine, als bewusste oder mechanische Aktion, als eigensinnige Interpretation oder als Erfüllen von Normen und Regeln in Erscheinung treten. Dies bedeutet zudem, dass soziale Praxis von Selbstund Fremddeutungen durchdrungen ist, auch wenn diese nicht bei jeder Aktion ins Bewusstsein treten.“ Vgl. Pierre BOURDIEU, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2009, S. 164–189, hier 165. Die Habitusformen werden „durch die vergangenen Bedingungen der Produktion ihres Erzeugungsprinzips derart

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Einwände – in späteren Schriften, vor allem in ‚Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft‘ die Möglichkeit einer Wandlungsfähigkeit des Habitus explizit in den Blick genommen.86 Daran anknüpfend ließe sich als These formulieren, dass immer dann, wenn Körperpraktiken Eingang in schriftliche Reflexionen finden, längst ein herausgeforderter Habitus oder gar ein solcher im Wandel anstelle eines reibungslos funktionierenden zu beobachten ist. Somit wäre der ‚Habitus‘87 nicht als ein universales Konzept zu verstehen, sondern als eines, das es gerade in seiner kulturspezifischen Variabilität zu analysieren gilt. Im Folgenden verstehe ich also unter ‚Praktiken‘ Weisen des Umgangs mit dem Körper, die sich im Lebenslauf sowohl als stark habitualisiert, aber auch als durch Handlungsspielräume des Individuums veränderlich darstellen können88 – also jeweils verschiedene Grade der Habitualisierung aufweisen. Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit der erzählten bzw. geschriebenen Reflexion wissensförmiger Praxis in Elisabeth Charlottes Briefen auseinander. Diese wird unter dem besonderen Fokus von Körper bzw. Leib als Ausgangspunkt für die Analyse von vielfältig gebrochenen, lebenslang dynamischen Selbstpositionierungsprozessen in den Blick genommen. Ähnlich wie bei ‚Wissen‘ und ‚Praxis‘ wird der Begriff des ‚Körpers‘ in zahlreichen deutschsprachigen körpersoziologischen und körperhistorischen Studien analytisch von dem des ‚Leibes‘ getrennt.89 Während Körper als materiell existentes Objekt definiert wird, versteht man mit phänomenologischen Ansätzen unter Leiblichkeit das unmittelbare, affektive eigenleibliche Spüren.90 Der Leib, so fasst etwa die Körpersoziologin Ulle Jäger im Anschluss an den Philosophen Hermann Schmitz zusammen, sei das, was man von sich spüre, während der Körper dasjenige bezeichne, was man von sich sehen und ertasten könne.91 In Bezug auf das Selbst lässt sich im Anschluss an den Philosophen Helmuth Plessner d e r L e i b , d e r i c h b i n – vom K ö r p e r , d e n i c h h a b e , unterscheiden.92

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determiniert, daß sie stets die Tendenz aufweisen, die objektiven Bedingungen, deren Produkt sie in letzter Analyse sind, zu reproduzieren.“ BOURDIEU, Sinn, S. 105: „Als einverleibte, Natur gewordene und somit vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig [Hervorh. i. Orig.] von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart.“ Vgl. BOURDIEU, Meditationen, S. 206; Pierre BOURDIEU, Antworten auf einige Einwände, in: Klaus EDER (Hg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt a.M. 1989, S. 395–410, hier 406–407; Pierre BOURDIEU u. Loïc WACQUANT, Die Ziele der reflexiven Soziologie, in: Dies. (Hg.), Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 95–249, hier 167. S. auch die Überlegungen von Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 187; FRANKE, Erfahrung, S. 192–193 sowie Teil 4. In diesem Verständnis ließe sich ‚Habitus‘ definieren als Wissen des Körpers und Wissen über den Körper sowie als Praxis im Umgang mit dem Körper, der dabei gleichzeitig in Abhängigkeit vom jeweiligen Wissen immer auch leiblich gespürt und empfunden wird. Diese aktive Komponente betont etwa FOUCAULT, Technologien. Diese Differenzierungsmöglichkeit bieten neben dem Deutschen auch das Niederländische und Schwedische. Vgl. LORENZ, Vergangenheit, S. 32; SARASIN, Mapping, S. 441. Vgl. JÄGER, Körper, S. 103 u. 107, weist darauf hin, dass es „streng genommen“ gar keinen Leib gebe, sondern nur „leibliche Regungen“ bzw. Empfindungen. Vgl. ebd., S. 103–104. Vgl. PLESSNER, Stufen, bes. S. 231 u. 238; LINDEMANN, Überlegungen, S. 158 u. 172 u. Geschlecht, S. 30–31; Robert GUGUTZER, Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004, S. 146–152 u. Leib, S. 61–73;

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Dekonstruktivistischen Theorieansätzen zufolge kann dieser gespürte Leib genauso wenig wie die vermeintlich unhintergehbar essentielle Materialität des Körpers jedoch nicht unabhängig von den diskursiv produzierten und sprachlich vermittelten kulturellen Bedeutungen und Vorstellungen verstanden werden, die ihn vom Anbeginn seiner Existenz prägen.93 Auch wenn es so etwas wie ein vorsprachliches leibliches Selbst geben sollte, wie es beispielsweise die Ergebnisse der neueren psychologischen Kleinkindforschung nahelegen,94 ist dieses einer historischen Analyse methodisch schlichtweg nicht zugänglich.95 Leiberfahrung liegt in frühneuzeitlichen Quellentexten ausschließlich verbalisiert und somit diskursiv formiert vor. Untersucht werden kann also – selbst wenn leibliches Spüren dem Diskurs tatsächlich vorausgehen sollte – ausschließlich die Verschränkung von Leib und Körper,96 indem gelebte leibliche Erfahrung mit ihren aktiven wie passiven Momenten97 historisiert und im Zusammenhang mit dem diskursiv produzierten Wissen bzw. der wissensförmigen Praxis in die Analysen einbezogen wird.98

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VILLA, Bodies, S. 207; MEUSER, Frauenkörper, S. 278; ähnlich auch Peter L. BERGER u. Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth PLESSNER, 22. Aufl. Frankfurt a.M. 2009, S. 53. Vgl. Judith BUTLER, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; bes. S. 24, die bekanntermaßen eine radikalisierte Position zur bis dato gängigen analytischen Trennung von gender (dem sozialen Geschlecht) und sex (als vermeintlich natürliches anatomisches Geschlecht) einnahm und die Vorstellung vordiskursiver Materialitäten ablehnte. Auch als Reaktion auf die kontroversen Debatten relativierte Butler diese These in ihren späteren Arbeiten. Vgl. Judith BUTLER, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 55 u. 103– 109. S. auch LOREY, Körper, S. 15; Maren LORENZ, Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999, S. 20–21; MEUSER, Frauenkörper, S. 278; GUGUTZER, Soziologie, S. 151; ADELSON, Making, S. 15; SARASIN, Mapping, S. 441 u. 445–446. Vgl. Katherine NELSON, Erzählung und Selbst, Mythos und Erinnerung. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses und des kulturellen Selbst, in: BIOS 15,2 (2002), S. 141–263, hier 242–243; aus geschichtswiss. Perspektive ZETTELBAUER, ‚Becoming‘, S. 75. Vgl. zu diesen Zusammenhängen VILLA, Bodies, S. 216–217; Utz JEGGLE, Lebensalter und Körpererleben, in: Arthur E. IMHOF (Hg.), Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit, Berlin 1983, S. 89–102, hier 91; ABRAHAM, Körper, S. 135. Historische Quellen enthalten im Unterschied zu Interviewmitschnitten der empirischen Sozialforschung oder der Oral History keinerlei nonverbale Kommunikationsaspekte, wobei man einwenden könnte, dass auch diese unweigerlich kulturell codiert sind. Zur mittlerweile als überwunden geltenden Butler-Duden-Kontroverse Anfang der 90er Jahre vgl. Barbara DUDEN, Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung. Ein Zeitdokument, in: Feministische Studien 11,2 (1993), S. 24–33; Birge KRONDORFER, Von Unterschieden und GleichGültigkeiten. Eine Stellungnahme wider die Auflösung der W/Leiblichkeit, in: Elisabeth MIXA, Elisabeth MALLEIER, Marianne SPRINGER-KREMSER u. Ingvild BIRKHAN (Hg.), Körper – Geschlecht – Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin, Wien 1996, S. 60–73, hier 61–62 u. 68; ANGERER, Ekstase, S. 39–40; LOREY, Körper, S. 15–16; VILLA, Bodies, S. 205– 207; ZETTELBAUER, ‚Becoming‘, S. 61–62, 64–65, 72 u. bes. 90, die feststellt, die Suche nach authentischen Leiberfahrungen hinter der kulturellen Konstruktion habe in der Körpergeschichte als überwunden zu gelten. Vgl. Gesa LINDEMANN, Die Verschränkung von Körper und Leib als theoretische Grundlage einer Soziologie des Körpers und leiblicher Erfahrungen, in: Jürgen FRIEDRICH u. Bernd WESTERMANN (Hg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner (Daedalus 7), Frankfurt

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In der Frühen Neuzeit, so haben begriffsgeschichtliche Forschungen herausgearbeitet, wurde der Begriff des ‚Leibes‘ weitaus häufiger verwendet als heute. ‚Körper‘ bezeichnete hingegen lediglich einen unbelebten Gegenstand oder wurde als Synonym für das Wort ‚Leichnam‘ verwendet.99 Auch in den Briefen Elisabeth Charlottes ist dies zu beobachten, differenziert sie doch mehrfach den todten cörper vom lebendigen leib.100 Historische wie soziologische Arbeiten betonen, dass dieser Wandel in der Begriffsverwendung Transformationsprozesse der Sichtweisen auf Leib und Körper reflektiere: Zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert habe sich demzufolge ein objektivierender Blick auf den Körper etabliert, der ihn einer exakten Beobachtung unterzog, ihn kontrollierte, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden in seine Einzelteile zergliederte, erforschte und damit sukzessive von seinen leiblichen Empfindungen abstrahierte.101 In frühneuzeitlichen Körperdiskursen von Laien, so argumentierte vor allem Barbara Duden im Jahr 1987 in ihrer für die Körpergeschichte wegweisenden Studie ‚Geschichte unter der Haut‘, begegne hingegen vor allem leibliches Empfinden.102 Als eine der wenigen Stim-

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a.M. 1995, S. 133–141, hier 138–139; HITZLER, Körper, S. 78; passive Momente betonend JÄGER, Körper, S. 99 u. 102. Vgl. JÄGER, Körper, S. 9, 93–95 u. 136; LINDEMANN, Überlegungen, S. 151: „Zum anderen ermöglicht es die zeichentheoretische Verschiebung, den Leib umfassender, als Bourdieu es tut, als einen gesellschaftlich geformten zu beschreiben, nämlich auch insofern er zuständlich gespürt wird“, S. 173 u. 175; LINDEMANN, Geschlecht, S. 30 u. 32; VILLA, Bodies, S. 217; GUGUTZER, Soziologie, S. 155; RUBLACK, Erzählungen, S. 215; RUBLACK, Körper, S. 105; ZETTELBAUER, ‚Becoming‘, S. 90; SARASIN, Mapping, S. 447 u. 449–450, verweist auf die Momente, in denen leibliche Erfahrung nur mühsam oder gar nicht verbalisiert und somit diskursiviert werden kann. Aus ethnologischer Perspektive Utz JEGGLE, Im Schatten des Körpers. Vorüberlegungen zu einer Volkskunde der Körperlichkeit, in: Zeitschrift für Volkskunde 76 (1980), S. 169–188, hier 171–172. Vgl. Barbara DUDEN, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987, S. 12–13; Werner KUTSCHMANN, Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Die Rolle der ‚inneren Natur‘ in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 34–35. Vgl. bspw. An Luise, Marly, 22.2.1705, HO, 1, 229, S. 371–372: Mich wundert, daß I. L. der churfürst ma tante nicht anderwerts hingeführt hatt nach der königin todt; den in demselben hauß zu bleiben, wo der todten cörper ist, muß all augenblick die betrübnuß verneüen; den man muß allezeit etwaß hören oder sehen, so dieße trawerige sach betrifft. 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392, Marly, 30.6.1712, HO, 1, 553, S. 284: Man kan auch nicht recht judiciren, waß woll undt übel; den die leiber seindt ebenso unterschiedtlich, alß die gesichter, waß einen woll bekompt, schadt dem andern. Die Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule richteten ihren Blick auf diesen historischen Prozess der Verdrängung des Leibes als Herrschaftsmechanismus. S. dazu Max HORKHEIMER u. Theodor W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2002, Fragment ‚Interesse am Körper‘, S. 246–250. Auch Foucault widmete sich in seinen Arbeiten intensiv der Disziplinierung des Körpers durch Internalisierung von Normen, vgl. v.a. Michel FOUCAULT, Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. 1989. S. auch KUTSCHMANN, Naturwissenschaftler, S. 15 u. 35–38; DUDEN, Geschichte, S. 14–16 u. 22–23, JÄGER, Körper, S. 104–106; LÖW, Raumsoziologie, S. 117; SCHROER, Einleitung, S. 20. Vgl. DUDEN, Geschichte, S. 13 u. Body History, S. xvi–xvii. Demnach existiertee im 17. Jhd. keine Form des „Körper-Habens“, wohingegen spätere Jahre ‚leibvergessen‘ seien. Barbara DUDEN, Geschlecht, Biologie, Körpergeschichte. Bemerkungen zu neuerer Literatur in der Körpergeschichte, in: Feministische Studien 9,2 (1991), S. 105–122, hier 119: „Beim Abseilen in die Vergangenheit muß ich mein Sensorium nicht nur anpassen, sondern umstülpen, denn der Frauenleib, den ich da kennenlerne, ist heteronom und heterogen zu dem Organen- und

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EINLEITUNG

men in der interdisziplinären Diskussion kritisierte die Soziologin Gesa Lindemann Dudens Schlussfolgerungen. In ihren Analysen behandele sie, so Lindemann, den „logischen Unterschied zwischen Körper und Leib“ fälschlicherweise als einen rein historischen.103 Tatsächlich scheinen die Befunde von Dudens Studie zuvorderst auf die fundamentale Alterität vormoderner Wissenskonzepte vom Körper zu verweisen, die in einer viel engeren Verbindung zum affektiv-leiblichen Spüren standen, als dies bei heutigen Körperkonzepten der Fall zu sein scheint. Während, wie Duden herausarbeitet, die Patientinnen des Eisenacher Arztes Storch etwa die Durchlässigkeit ihrer Haut oder das Strömen der humoralpathologischen Flüsse unmittelbar zu fühlen glaubten,104 erleben wir das Anknipsen oder Ausschalten bestimmter Genabschnitte lediglich als abstrakte Vorstellung. Daraus kann jedoch weder geschlossen werden, dass die Menschen der Frühen Neuzeit einzig ‚Leib‘ gewesen seien noch dass Menschen heute bloß noch einen ‚Körper‘ hätten.105 Vielmehr scheint der Schlüssel zum Verständnis der historischen Wandlungsprozesse in den Wissenskonzepten über den Körper und ihrer jeweiligen Verbindung zum leiblichen Spüren zu liegen.106 Angesichts dieser Zusammenhänge erscheint es gerade für frühneuzeitliche Selbstzeugnisse produktiv, den Versuch zu unternehmen, die Dimensionen von ‚Leib‘ und ‚Körper‘ in ihrer Verflochtenheit zu verstehen und zu analysieren. Dabei soll der (historische) Körper in seiner sozialen Geformtheit beschrieben werden, ohne dabei die damit immer verbundenen leiblichen Empfindungen und Emotionen des erzählten bzw. geschriebenen Selbst aus den Analysen auszuklammern. Vielmehr wird es gerade um die Zusammenhänge von sozialen Wissenskonzepten über das Funktionieren des Körpers, seine Geschlechtlichkeit, seine Gesunderhaltung sowie die Entstehung und Behandlung von Krankheit und sprachlich kondensierter leiblicher Erfahrung gehen.

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Reaktionsbündel, mit dem ich als moderne Frau begabt bin.“ Vgl. rekapitulierend PILLER, Körper, S. 29–30. Vgl. Gesa LINDEMANN, Wider die Verdrängung des Leibes aus der Geschlechtskonstruktion, in: Feministische Studien 11,2 (1993), S. 44–54, hier 52. Duden versäume den Unterschied zwischen Leib und Körper „terminologisch präzise zu bestimmen, was dazu führt, daß sie gelegentlich den logischen Unterschied zwischen Körper und Leib als einen historischen behandelt. Danach waren die Menschen früher Leib, während wir heutigen nur noch einen Körper haben.“ S. auch LINDEMANN, Verschränkung, S. 136. Dies ist ein zentrales Argument bei DUDEN, Geschichte, bes. S. 152–153. Vgl. kritisch gegenüber Duden auch Regula GIULIANI, Körpergeschichten zwischen Modellbildung und haptischer Hexis – Thomas Laqueur, in: Silvia STOLLER u. Helmuth VETTER (Hg.), Phänomenologie und Geschlechterdifferenz, Wien 1997, S. 148–165, hier 157–162 (Zit. 159), der zufolge „die historische Beschreibung einer veränderten Körperwahrnehmung bei Duden einer Wertung unterliegt, die Gegenwärtiges an einem nach ganzheitlichen Kriterien gedachten Vergangenen mißt“. Ähnlich auch Duden in späteren Arbeiten, denen zufolge sie sich primär für die „epoch-specific relationship between words and body experience” interessiere. Vgl. Barbara DUDEN, Medicine and The History of the Body, in: Jens LACHMUND u. Gunnar STOLLBERG (Hg.), The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 1), Stuttgart 1992, S. 39–51, S. 40 (Zit.) u. 49. S. auch LORENZ, Körper, S. 21.

FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSZIELE

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Im Rekurs auf die Begriffe des Leibes und des Körper-Wissens107 wird also in den Blick genommen, inwiefern der Leib fühlt, was eine Person über ihren Körper weiß bzw. zu wissen glaubt bzw. inwiefern leibliches Spüren auf dieses ‚Wissen‘ zurückwirkt.108 Um diesen Zusammenhang auch begrifflich abbilden zu können, schlägt die Soziologin Ulle Jäger eine Neudefinition des von Hermann Schmitz geprägten Begriffs des „körperlichen Leibes“109 vor. Darunter versteht sie eine von diskursiv produzierten Wissensbeständen überzogene und von sprachlich-diskursiv vermittelten leiblichen Empfindungen durchdrungene Materialisierung.110 Der zusammengesetzte Terminus ermögliche es, sowohl der empirischen Einheitlichkeit von Körper und Leib als Untersuchungsgegenstand als auch der untersuchungsleitenden Frage nach den komplexen Verschränkungen beider Dimensionen zu entsprechen.111 In den folgenden Analysekapiteln sollen die angesprochenen Bedeutungsebenen von ‚Körper‘, ‚Leib‘ bzw. ‚körperlichem Leib‘ begrifflich differenziert werden, um herauszuarbeiten, wie Leib und Körper im Kontext der jeweiligen brieflichen Äußerungen miteinander verknüpft werden. ‚Erzählen‘ ist ein weiterer Schlüsselbegriff der vorliegenden Studie, denn die Korrespondenz der, wenn man so will, Ich–Erzählerin Elisabeth Charlotte besticht in hohem Maße durch ihre Narrativität. Der einzelne Brief vereint wie überhaupt die meisten Texte sowohl deskriptive Anteile, die Zustände bzw. Konstellationen, Personen und Gegenstände in einer Momentaufnahme festhalten, als auch im engeren Sinne erzählende, d.h. dynamische Momente. In diesen werden Geschehnisse und Handlungen geschildert, indem temporale Verbindungen zwischen Situationen hergestellt werden.112 Begreift man 107

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Bzw. der wissensförmige Anteile der Körperpraxis. Vgl. zum Begriff VILLA, Bodies, S. 215–216: „Der Körper ist soziales Körperwissen. Der Leib hingegen (…) bezeichnet das subjektive [Hervorh. i. Orig.] Erleben dieses Wissens.“ LINDEMANN, Verschränkung, S. 138; JÄGER, Körper, S. 108; HITZLER, Körper, S. 77; KELLER u. MEUSER, Wissen, S. 9 fassen Momente der Leiblichkeit auch unter dem Begriff des Körperwissens, indem sie sowohl Wissen über den Körper als auch Wissen des Körpers als Körperwissen bezeichnen. Fritz BÖHLE u. Stephanie PORSCHEN, Körperwissen und leibliche Erkenntnis, in: Reiner KELLER u. Michael MEUSER (Hg.), Körperwissen (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft), Wiesbaden 2011, S. 53–67, hier 56–57 sprechen Leiblichkeit eine eigene Erkenntnisleistung im Sinne eines Wissens durch den Körper zu. Vgl. LINDEMANN, Verschränkung, S. 133 u. Geschlecht, S. 30–31: „Die Verschränkung von Körper und Leib ist wesentlich eine Verschränkung von einem von Wissen und Symbolstrukturen durchzogenen Körper und Leib. (…) Wenn es [das leibliche Selbst] den Körper im Sinne des Wissens und Zeichenverständnisses auffaßt, die es je historisch von diesem gibt, erlebt es sich umgekehrt leiblich gemäß dem Körper, den es hat.“ S. auch JÄGER, Körper, S. 144–146; VILLA, Bodies, S. 203–252; GUGUTZER, Soziologie, S. 104–112; HITZLER, Körper, S. 77. Vgl. JÄGER, Körper, S. 108–109. Zum Konzept der Materialisierung BUTLER, Körper, S. 32–41. S. auch EITLER u. SCHEER, Emotionengeschichte, S. 290–291. Vgl. JÄGER, Körper, S. 108–109; ähnlich LORENZ, Vergangenheit, S. 21 u. Körper, S. 11. Vgl. Wolf SCHMID, Elemente der Narratologie (Narratologia. Contributions to Narrative Theory/Beiträge der Erzähltheorie 8), Berlin, New York 2005, S. 16–17. In diese Richtung zielt auch die Bestimmung von Gérard GENETTE, Boundaries of Narrative, in: New Literary History. A Journal of Theory and Interpretation 8,1 (1976), S. 1–13, hier 5–8, dem zufolge Erzählungen Handlungen und Geschehnisse, Beschreibungen Gegenstände und Menschen repräsentieren. S. auch Joachim JACOB, Beschreiben oder Erzählen? – Überlegungen zu den ethischen Implikationen einer alten Kontroverse, in: Claudia ÖHLSCHLÄGER u. M. v. Björn SCHÄFFER u. Claudia RÖSER (Hg.), Narration und Ethik (Ethik – Text – Kultur 1), München 2009, S. 81–97, hier 81 u. 93.

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EINLEITUNG

dieses Erzeugen von Zeitlichkeiten als Kern des Erzählens, so trifft das Kriterium nicht nur auf jene zahllosen Passagen zu, in denen Elisabeth Charlotte Handlungsdynamiken entwirft, explizit sinnstiftende biographische Erklärungen vorbringt und dazu auch zu eine allwissende Erzählerin implizierenden Stilmitteln wie der wörtlichen Rede greift.113 Vielmehr kennzeichnet diese Temporalität die Korrespondenz in ihrer Gesamtheit. Denn über 50 Jahre hinweg werden in den Briefen Positionierungen immer wieder aufs Neue, jedoch stets in Relation zur eigenen lebensgeschichtlichen Situation, zur biographischen Vergangenheit und der möglichen Zukunft ausgehandelt. Sie werden geschrieben als Wirklichkeitserzählungen.114 Erst innerhalb dieser erhalten auch die verschiedenen Darstellungsmodi der Selbstpositionierung, seien es statische Beschreibungen oder dynamische Erzählungen, ihre spezifische Sinnhaftigkeit.115 Denn aus der Perspektive der Schreiberin waren die Briefe vor allem eines: Gespräche mit Vertrauten, 116 in denen sich Wandel und Kontingenz sinndeutend verarbeiten ließen. Eine Lektüre der Briefe in ihrer Narrativität soll den Blick auf die in ihnen entworfenen hochgradig adressatenbezogenen ‚Erzählweisen eines zeitgebundenen Selbst‘ ermöglichen. 117 In Anlehnung an Ansätze der Biographieforschung und der Neurowissenschaften gehe ich weiter davon aus, dass die Praxis des Schreibens bzw. Erzählens in zweifacher Hinsicht als Konstruktionsprozess aufgefasst werden muss. Dies betrifft zum einen das Moment der Erinnerung. Mit Hilfe von experimental- und neuropsychologischen Untersuchungen sowie von bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung konnte herausgearbeitet werden, dass im Moment des Erinnerns Inhalte und zugehörige Emotionen mit Bezug auf die aktuelle Situation nicht nur ausgewählt, sondern auch neu strukturiert und in dieser neuen Konfiguration abgespeichert werden.118 Diese Erkenntnisse gelten in besonderem Maße für das höchst komplexe episodisch-autobiographische Gedächtnis, das immer auf spezifische Weise in semantische Gedächtnisstrukturen (die Ebene des Wissens) eingebunden ist119 , und sind deswegen nicht nur für die auf die Zeitgeschichte 113

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Vgl. bspw. An C. v. Wales, o.O., 7.11.1716, A, 11, S. 254; An Luise, St. Cloud, 26.10.1719, HO, 4, 1064, S. 281. Christian KLEIN u. Matías MARTINEZ, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: Dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart, Weimar 2009, S. 1–13, bes. 6. Ebd., S. 7. Demnach sind nicht erzählende Passagen häufig funktional in Erzählzusammenhänge eingebettet. S. 1.IV.4. Vgl. SCHMID, Elemente, S. 17–18. Die quantitative Relation statisch-deskriptiver und dynamischerzählender Momente in einem Text ist für sich genommen kaum aussagekräftig; vielmehr lassen sich Texte je nach Erkenntnisinteresse in ihrer Narrativität oder ihrer Deskriptivität lesen. S. etwa Hans J. MARKOWITSCH, Die Erinnerung des Zeitzeugen aus der Sicht der Gedächtnisforschung, in: BIOS 12 (2000), S. 30–48, hier 30, 43 u. 46; Harald WELZER, Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in: BIOS 13,1 (2000), S. 51–63, hier 52 u. 60; Hans J. MARKOWITSCH u. Harald WELZER, Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005, S. 28–34 u. 68. Vgl. MARKOWITSCH, Erinnerung, S. 33–36; Hans J. MARKOWITSCH, Autobiographisches Gedächtnis. Ein biokulturelles Relais zwischen Individuum und Umwelt, in: Sonja KLEIN, Vivian LISKA, Karl SOLIBAKKE u. Bernd WITTE (Hg.), Gedächtnisstrategien und Medien im interkulturellen Dialog, Würzburg 2011, S. 39–48, hier 41–42; Katherine NELSON, Über Erinnerungen reden: Ein soziokultureller Zugang zur Entwicklung des autobiographischen

FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSZIELE

31

bezogene Oral History methodisch äußerst anregend. Auch beim Umgang mit verschiedenen Formen frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse kann das Wissen um diese Zusammenhänge von entscheidender Bedeutung sein. 120 Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass die Authentizität eines Selbstzeugnisses sich nach der zeitlichen Nähe zwischen Ereignis und Verschriftlichung bemessen ließe.121 Bei Briefen und Tagebüchern wird häufig eine umittelbare Kongruenz zwischen Erinnertem und Erinnerung angenommen, weswegen ihnen ein Plus an Glaubwürdigkeit unterstellt wird. Diese Auffassung erweist sich jedoch für das vorliegende Briefmaterial als viel zu pauschalisiert – vielmehr ist die Relation zwischen Erinnerung und Erinnertem jeweils im Kontext eines konkreten Briefes genau zu reflektieren, um eine Aussage einordnen und in ihrer je spezifischen Relevanz und Bedeutung interpretieren zu können.122 Diese Differenzierung scheint mir gerade für die Korrespondenz Elisabeth Charlottes von besonderer Bedeutung zu sein, denn in diesen sehr persönlichen Briefen sind – anders als etwa bei geschäftlichen oder politischen Briefen – besonders viele retrospektive Erzählsequenzen zu finden, die bestimmte Situationen in eine temporale Ordnung entlang der eigenen Biographie bringen. Ein zweites, darauf aufbauendes Konstruktionsmoment stellt das von bestimmten historisch variablen kulturellen Konventionen und normativen Konzepten abhängige mündliche wie schriftliche Erzählen dar.123 Ganz grundsätzlich muss also, so hat auch die frühneuzeitliche Selbstzeugnisforschung verschiedentlich betont, zwischen einem erzählenden bzw. schreibenden Selbst (der historischen Person) und dem erzählten/geschriebenen Selbst auf der Ebene des in bestimmten formalen wie inhaltlichen Gattungstraditionen eingebundenen Textes unterschieden werden.124 Diese Feststellungen sollen den Quellenwert von Selbstzeugnissen jedoch keinesfalls schmälern. Vielmehr

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Gedächtnisses, in: Hans J. MARKOWITSCH u. Harald WELZER (Hg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart 2006, S. 78–94, hier 80. Vgl. DÜRR, Funktionen, S. 21. S. etwa Eckart HENNING, Selbstzeugnisse, in: Friedrich BECK u. ders. (Hg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 119–127, hier 123. Vgl. MARKOWITSCH u. WELZER, Gedächtnis, S. 35; MARKOWITSCH, Erinnerung, S. 46–47; WELZER, Interview, S. 60; Harald WELZER, Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses – ein Thema für die Biographieforschung, in: BIOS 15,2 (2002), S. 163–167, hier 163. ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 10–11; Sabine SCHMOLINSKY, Sich schreiben in der Welt des Mittelalters. Begriffe und Konturen einer mediävistischen Selbstzeugnisforschung (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit 4), Bochum 2012, S. 15–16. Vgl. WELZER, Entwicklung, S. 54–55; Fritz SCHÜTZE, Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Kommunikative Sozialforschung, München 1976, S. 159–260, hier 224–225; SCHATZKI, Introduction, S. 3; MARKUS, „Schreiben“, S. 163–166 u. 168. Vgl. KORMANN, Ich, S. 96; WAGNER u. LAFERL, Anspruch, S. 43; Birgit WAGNER, Briefe und Autorschaft. Suor Maria Celestes Briefe aus dem Kloster, in: Christa HÄMMERLE u. Edith SAURER (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute (L’homme Schriften 7), Wien, Köln, Weimar 2003, S. 71–86, hier 71; DÜRR, Funktionen, S. 21–22; ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 3, 6 u. 10; Irmtraut SCHMID, Briefe, in: Friedrich BECK u. Eckardt HENNING (Hg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 4. Aufl., Köln, Weimar, Wien 2004, S. 111–118, hier 115–118.

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EINLEITUNG

sind es gerade diese Zusammenhänge, die sich als notwendige Bedingung für die Beantwortung der anvisierten Fragestellung darstellen. Die Biographieforscherin Bettina Dausien resümiert in ihrer Studie ‚Erzähltes Leben – erzähltes Geschlecht‘, dass sowohl der Inhalt, das ‚Was‘ einer lebensgeschichtlichen Erzählung, als auch die Art der narrativen Inszenierung (das ‚Wie‘) jeweils an den biographischen Wissensvorrat der Erzählenden gebunden seien: „Sie sind Ergebnis (zugleich aber auch performativer Ausdruck und aktuelle Variation) einer biographischen Struktur der Erfahrungsverarbeitung“,125 so Dausien. Auch in historischen Selbstzeugnissen finden wir derart zeitspezifisch narrativ inszenierte Konstruktionsprozesse von Selbst und Welt, die auf gesellschaftlich relevante Strukturierungsfaktoren bzw. kulturelle Ordnungsmuster und deren vielfältige Relationen rekurrieren.126 Selbstwerdungsprozesse, die wir im Spiegel von schriftlichen Quellen betrachten, müssen also vielmehr immer auch als Prozesse der Selbstmedialisierung127 verstanden werden.

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Bettina DAUSIEN, Erzähltes Leben – erzähltes Geschlecht? Aspekte der narrativen Konstruktion von Geschlecht im Kontext der Biographieforschung, in: Feministische Studien 19,2 (2001), S. 57– 73, hier 59. Vgl. ebd., S. 60; DAVIS u. LUTZ, Geschlechterforschung, S. 234; MARKUS, „Schreiben“, S. 167–168 u. 173–174; in Bezug auf frühneuzeitliche Krankheitserzählungen RUBLACK, Erzählungen, S. 228 u. 230. Intersektionale Ansätze finden gegenwärtig bei der Analyse von Erzähltexten in den Literaturwissenschaften gewinnbringend Anwendung. Vgl. Susanne SCHUL, HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in NibelungenAdaptionen (MeLiS 14), Frankfurt a.M. 2014. So David Warren SABEAN in seinem Kommentar zur Sektion III. Gender Praktiken der Subjektivierung auf der Tagung „Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld von ständischer Ordnung und gesellschaftlicher Dynamik“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, GK 1608/1 Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, 16.–19. Februar 2012.

METHODISCHES VORGEHEN UND AUFBAU

II.

33

Methodisches Vorgehen und Aufbau

Die vorliegende Studie verfolgt einen mikrogeschichtlichen Ansatz.1 Die Wahl dieses methodischen Zugriffs ergibt sich zum einen aus der Quellenlage, denn die Briefe Elisabeth Charlottes sind in ihrem Umfang wie in ihrer Detailliertheit ein exzeptioneller Quellenbestand.2 Dies würde sie in jeder komparatistisch angelegten Studie von anderen Quellenkorpora abheben, weswegen es weit sinnvoller erschien, eine detaillierte Mikrostudie vorzulegen. Zum anderen aber kann man sich den gestellten Fragen nach Prozessen der Selbstpositionierung in und mit der körperbezogenen Praxis einzig durch eine mikroskopische ‚Nahaufnahme‘ eines konkreten situativen biographischen Kontextes in adäquater Weise annähern.3 Eine „Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabes“4, wie sie die micro-storia oder Mikro-Historie, vor allem etwa Garlo Ginzburg und Hans Medick vorgeschlagen und in ihren wegweisenden Studien praktiziert haben,5 erscheint also als Notwendigkeit, um das „Verhältnis von Teil und Ganzem“ in seiner Dynamik und Wandelbarkeit beschreiben zu können.6 Der mikrohistorische Ansatz soll dabei praxeologisch 1

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Vgl. Giovanni LEVI, On Microhistory, in: Peter BURKE (Hg.), New Perspectives on Historical Writing, Oxford 1991, S. 93–113, bes. S. 94–95; Carlo GINZBURG, Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169–192, bes. S. 181, 185 u. 191; Hans MEDICK, Mikro-Historie, in: Winfried SCHULZE (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, S. 40–53, bes S. 43. Jürgen SCHLUMBOHM, Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Zur Öffnung einer Debatte, in: Ders. (Hg.), Mikrogeschichte – Makrogeschichte (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 7), Göttingen 1998, S. 9–32, hier 22. Als Überblick s. auch Achim LANDWEHR, Struktur oder Handlung? Diskursanalyse einer geschichtswissenschaftlichen Kontroverse, in: Reiner KELLER, Andreas HIRSELAND, Werner SCHNEIDER u. Willy VIELHÖVER, (Hg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung (Erfahrung – Wissen – Imagination 10), Konstanz 2005, S. 325–347, S. 328–331 u. 332–334. Vgl. Dirk VAN DER CRUYSSE, „Madame sein ist ein ellendes Handwerck“. Liselotte von der Pfalz – Eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs, 8. Aufl., München 2002, S. 15 betonte in seiner Einleitung, dass die Quellenfülle zum Lebenslauf E. Ch.s wohl „die wohlmeinendsten Biographen entmutigt“ habe. Vgl. DAVIS, Frauen, S. 7–18 u. 133–135 [Bindung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Frankreich des 16. Jhd.s], hier 17: „Eine Untersuchung der Vorstellungen, die die Menschen von ihrem Selbst hatten, sollte nicht im Allgemeinen schweben, sondern in einem präzisen kulturellen Kontext angesiedelt sein.“ Andrea GRIESEBNER, Historisierte Körper. Eine Herausforderung für die Konzeptualisierung von Geschlecht?, in: Christa GÜRTLER u. Eva HAUSBACHER (Hg.), Unter die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern, Innsbruck, Wien 1999, S. 53–75, hier 69; Bettina BROCKMEYER, Selbstverständnisse. Dialoge über Körper und Gemüt, Göttingen 2009, hier 23; LANDWEHR, Struktur, S. 333. Aus Perspektive der qualitativ arbeitenden Geschlechtersoziologie stellt sich der Zusammenhang ähnlich dar. S. hierzu Regina BECKER-SCHMIDT u. Helga BILDEN, Impulse für die qualitative Sozialforschung, in: Uwe FLICK, Ernst von KARDORFF, Heiner KEUPP, Lutz von ROSENSTIEL u.a. (Hg.), Handbuch qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, 2. Aufl., Weinheim 1995, S. 23–30, hier 24. Hans MEDICK, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900 (Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126), Göttingen 1996, bes. S. 13–37, hier 22. Vgl. Carlo GINZBURG, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a.M. 1979, ital. Orig. 1976; MEDICK, Weben. MEDICK, Weben, S. 23.

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EINLEITUNG

fundiert werden, indem gefragt wird, wie sich Gesellschaft bzw. Kultur in den erzählten (Körper-)Praktiken historischer Personen widerspiegelt bzw. ausdrückt,7 mithin welche sozialen und diskursiven Positionen Elisabeth Charlotte in ihren Briefen aufgreift bzw. artikuliert und inwiefern diese damit aktualisiert oder verändert werden.8 Die Fragestellung zielt damit in eine andere Richtung als Überlegungen zur statistischen Repräsentativität eines Einzelfalls. Denn Elisabeth Charlottes Korrespondenz ist in ihrer Detailfülle und ihrer Anlage viel mehr als Musterbeispiel eines „außergewöhnlichen Normalfalls“9 zu betrachten, als ein Raum des Möglichen in Bezug auf die frühneuzeitlichen Subjektivierungsweisen des körperlichen Leibes durch wissensförmige Praktiken. Die vorliegende Studie umfasst drei große Analyseteile (2.–4.), in denen jeweils aus den Quellen entwickelte zentrale Momente für wissensförmige Körperpraktiken und leibliches Empfinden Elisabeth Charlottes diskutiert werden. Im ersten Hauptteil ‚DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN’ (2.) wird primär nach der Bedeutung sozialer Beziehungen für Körperkonzepte, leibliche Wahrnehmung und Praxis gefragt. Dieser Fragestellung liegt die Annahme zu Grunde, dass Prozesse der Deutung und Wahrnehmung sowie des praktischen Umgangs mit dem ‚körperlichen Leib‘ in hohem Maße auf eine wie auch immer geartete soziale Bezugsgruppe bzw. auf die gesellschaftliche Umwelt der jeweiligen Personen verweisen. Die Differenzierung nach Ständen wird gemeinhin als zentraler Strukturierungsmechanismus der europäischen Gesellschaften im Anschluss an antike Wurzeln vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein beschrieben.10 Die qua Geburt festgelegte Zugehörigkeit zu Klerus, Adel oder dem dritten Stand (Bauern und Bürger) gilt demzufolge als maßgeblicher gesellschaftlicher Platzanweiser. Neuere Arbeiten aus verschiedenen Forschungszweigen haben hingegen die Wirkmächtigkeit diverser innerständischer Differenzierungsfaktoren betont und somit das Bild einer statischen 7

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Vgl. Sebastian LEUTERT, Zur Psychologisierung des Traumes in Selbstzeugnissen, in: Kaspar von GREYERZ, Hans MEDICK u. Patrice VEIT u. M. v. Sebastian LEUTERT u. Gudrun PILLER (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen 1500–1850 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), Köln, Weimar, Wien, S. 251–273, hier 254. Demnach seien Selbstzeugnisse „diskursive Schnittstellen (…), in denen Diskurse vor allem im Hinblick auf das eigene Leben verarbeitet, modifiziert, ja regelrecht erprobt werden und von dort wiederum diskursverändernd wirken können“. S. auch SCHLUMBOHM, Mikrogeschichte, S. 29; LEVI, Microhistory, S. 109; RUBLACK, Erzählungen, S. 232; DAUSIEN, Leben, S. 60; TUIDER, Diskursanalyse, Abs. 25 u. 30–31. Zur Herleitung dieser Fragen s. den Vorschlag zur methodischen Kopplung von Diskursanalyse und Biographieforschung v. TUIDER, Diskursanalyse, Abs. 30. Der Begriff geht zurück auf Edoardo GRENDI, Micro-analisi e storia sociale, in: Quaderni Storici 25 (1977), S. 506–520 und wurde seither verschiedentlich aufgegriffen. Vgl. Carlo GINZBURG u. Carlo PONI, Was ist Mikrogeschichte?, in: Geschichtswerkstatt 6 (1985), S. 48–52, hier 51; MEDICK, Weben, S. 34–35 sowie jüngst Florian KÜHNEL, Kranke Ehre, München 2013, bes. S. 24 Zum Begriff des Standes vgl. Otto Gerhard OEXLE, Werner CONZE u. Rudolf WALTER, Art. Stand, Klasse, in: Otto BRUNNER, Werner CONZE u. Reinhart KOSELLECK im Auftrag des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte e.V. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 155–284. Zur Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit s. etwa Paul MÜNCH, Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500–1800, Frankfurt a.M. 1996, S. 68–78; Uta KLEINE u. Thomas SOKOLL, Soziale Ordnung durch Ungleichheit. Eine Einführung in die Geschichte Alteuropas. Kurseinheit 1, Fernuniversität Hagen 2009, S. 35–37.

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und monolithischen frühneuzeitlichen Ständegesellschaft erheblich relativiert.11 So sind etwa neuere Studien zur Soziabilität im städtischen Umfeld entstanden, die die Bedeutung von verwandtschaftlichen12 und klientelistischen Zusammenschlüssen in sozialen Interaktionen im politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext untersuchen.13 Auch im Bereich der Adelsforschung haben sich neuere Studien der Bedeutung von verwandtschaftlicher, freundschaftlicher14 und klientelistischer Bindung als zentralen Organisationsprinzipien der Gesellschaft angenommen.15 In Bezug auf die Prozesse der 11

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Vgl. Marian FÜSSEL u. Thomas WELLER, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 8), Münster 2005, S. 9–22, hier 10–11; KLEINE u. SOKOLL, Ordnung, S. 37–42. Bereits die Weber‘sche Definition des Standesbegriffes zielt auf die Hervorhebung von Prestigeunterschieden. S. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 248–272, Zit. S. 259: Ständische Lage bezeichne „jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative soziale Einschätzung der ‚Ehre‘ bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft“. S. dazu bspw. David Warren SABEAN, Kinship in Neckarshausen 1700–1870, Cambridge 1998, S. 449–451, der in seiner Studie zu dem Ergebnis kommt, Verwandtschaft sei „an innovative and creative response to newly configured relationships between people and institutions, around the circulation of goods and services, and within newly organized polities“ gewesen. S. Jon MATHIEU, Verwandtschaft als historischer Faktor, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 225–244, hier 225–226; David W[arren] SABEAN u. Simon TEUSCHER, Kinship in Europe. A New Approach to Long-Term-Development, in: Dies. u. Jon MATHIEU (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York, Oxford, 2007, S. 1–31, hier 15–16 u. 24; Simon TEUSCHER, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500 (Norm und Struktur, Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 8), Köln, Weimar, Wien 1998, S. 1–10. Vgl. TEUSCHER, Bekannte, S. 7–9 u. 265–267 stellt fest, dass die Bedeutung familiärer und verwandtschaftlicher Bindungen vor allem die normative Ebene betraf, während nicht verwandtschaftliche klientelistische Zusammenhänge die konkreten Handlungsweisen stärker dominierten. Unter dem Begriff Freundschaft fasste man in der Frühen Neuzeit diverse Bindungen außerhalb der agnatischen Abstammungslinie zusammen, also auch verwandtschaftliche Beziehungen mütterlicherseits sowie Beziehungen, die aus verwandtschaftlichen Bindungen resultierten. S. dazu ASCH, Adel, S. 113; Anke HUFSCHMIDT, Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700. Status – Rollen – Lebenspraxis, Münster 2001, S. 129–131. S. dazu bspw. Margareth LANZINGER u. Edith SAURER, Politiken der Verwandtschaft. Einleitung, in: Dies. (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, S. 7–22, hier 11; Sophie RUPPEL, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 317–321; Michaela HOHKAMP, Eine Tante für alle Fälle: Tanten-Nichten-Beziehungen und ihre politische Bedeutung für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert), in: Margareth LANZINGER u. Edith SAURER (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Einleitung, in: Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, S. 147–169, hier 147–148; ASCH, Adel, S. 112–123; Hillard von THIESSEN, Herrschen mit Verwandten und Klienten. Aufstieg und Fall des Herzogs von Lerma, Günstling-Minister Philipps III. von Spanien, in: Arne KARSTEN u. Hillard von THIESSEN (Hg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen 2006, S. 181–207, hier 182–183; Gerhard FOUQUET, Fürsten unter sich – Privatheit und Öffentlichkeit, Emotionalität und Zeremoniell im Medium des Briefes, in: Cordula NOLTE, Karl-Heinz SPIEß u. Ralf-Gunnar WERLICH (Hg.), Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, S. 171–198, hier 174–175.

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EINLEITUNG

Selbstpositionierung historischer Personen, wie sie aus Selbstzeugnissen rekonstruiert werden können, wurde von jeher auf die fundamentale Bedeutung familiärer bzw. verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Kontexte hingewiesen. So hielt Natalie Zemon Davis in ihrer für die Selbstzeugnisforschung so einflussreichen Studie ‚Boundaries and the Sense of Self in Sixteenth-Century France‘ bereits im Jahr 1986 fest, dass das Sprechen über das Selbst immer in elementarer Weise mit den Beziehungsnetzen in Verbindung stand, in die eine Person eingebunden war.16 Familie und Verwandtschaft schrieb sie dabei eine besondere Bedeutung zu, denn die durch sie definierten „Grenzen wurden im 16. Jahrhundert auch dann noch aufrechterhalten, wenn religiöse Verfolgung oder erzwungene Migration die durch Nation oder Beruf definierten geschwächt hatten.“17 Im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten aufgegriffen, indem nach der Bedeutung von familiären, verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Bindungen18 für das Körperverständnis und die leibliche Wahrnehmung Elisabeth Charlottes gefragt und analysiert wird, wie sich diese Prägungen auf die Prozesse der Selbstpositionierung auswirkten. Im zweiten Hauptteil ‚DAS VERGESCHLECHTLICHTE SELBST ERZÄHLEN’ (III.) werden die Bedeutungen von geschlechtlichen Zuschreibungen an die Körper-Praxis und die darauf basierenden Selbstverhältnisse der Protagonistin im Fokus stehen. Sozialkonstruk16

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Vgl. die dt. Übers. DAVIS, Frauen, bes. S. 7 u. 17. Diese Feststellung wurde von der deutschsprachigen Selbstzeugnisforschung aufgegriffen und durch umfangreiche Quellenstudien bestätigt. Vgl. JANCKE, Autobiographie, S. 72–73; KORMANN, Ich, S. 300, der zufolge es eine Spezifik frühneuzeitlicher Identitäten ist, dass sie sich über Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und/oder zu Gott definieren. S. auch ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 5 u. 9. Vgl. DAVIS, Frauen, S. 7: „Praktisch alle Gelegenheiten, über das Selbst zu sprechen oder zu schreiben, schlossen eine Beziehung ein: die Beziehung zu Gott oder zum Beichtvater und zu Gott; das Verhältnis zu einem Freund oder Liebhaber; und vor allem die Beziehung zur Familie und zur Lineage. Mit den beiden letzteren möchte ich mich hier beschäftigen, denn die von ihnen gezogenen Grenzen wurden im 16. Jahrhundert auch dann noch aufrechterhalten, wenn religiöse Verfolgung oder erzwungene Migration die durch Nation oder Beruf definierten geschwächt hatten.“ Im Laufe der Frühen Neuzeit existierten neben der sich etablierenden Norm der Kernfamilie der bürgerlichen Gesellschaft auch Familienverbünde, die stärker in größere soziale Einheiten eingebunden waren. Solche familiären Strukturen liegen auch in adeligen Kreisen der Frühen Neuzeit zu Grunde, wo die Kinder nicht selten enge Beziehungen zu Ammen, Gouvernanten, Hofmeistern und anderem Dienstpersonal unterhielten. Vgl. Andreas GESTRICH, Jens-Uwe KRAUSE u. Michael MITTERAUER, Geschichte der Familie (Europäische Kulturgeschichte 1), Stuttgart 2003, S. 585–590; Andreas GESTRICH, Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die Historische Sozialisationsforschung (Historische Einführungen 1), Tübingen 1999, S. 125–132; ASCH, Adel, S. 99; Claudia OPITZ, Vom Familienzwist zum sozialen Konflikt. Über adelige Eheschließungspraktiken im Hoch- und Spätmittelalter, in: Ursula A. BECHER u. Jörn RÜSEN (Hg.), Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung, Frankfurt a.M. 1988, S. 116–149, hier 118. Für kritische Reflexionen zur Verwendung des Begriffs der Familie bzw. zum Konzept des ‚Ganzen Hauses‘ vgl. Claudia OPITZ, Neue Wege zur Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚Ganzen Hauses‘, in: GG 20,1 (1994), S. 88–98, hier 90; DÜRR, Mägde, S. 11–22 u. 270–273; ULBRICH, Shulamith, bes. S. 13–20; Barbara STOLLBERG-RILINGER, Liebe, Ehe, Partnerwahl. Geschlechterverhältnisse im Wandel, in: Gisela WEIß in Zus. mit Gerd DETHLEFS (Hg.), Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians. Westfalens Aufbruch in die Moderne, Münster 2000, S. 241–259, hier 241.

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tivistischen Perspektiven folgend, die häufig mit dem ethnomethodologischen Konzept des doing gender verbunden werden, verstehe ich die analytische Kategorie ‚Geschlecht‘ nicht etwa als Merkmal oder essentielle Eigenschaft von Personen, sondern ich interpretiere sie als durch Handlungen in sozialen Interaktionen zwischen Menschen hervorgebrachte, soziale Beziehungen strukturierende und somit folgenreiche Unterscheidung.19 Dieser soziokulturelle Konstruktionsprozess beruht darauf, dass Handlungsweisen und Tätigkeiten bestimmte Bedeutungszuschreibungen als geschlechtstypisch anhaften. Wenn Menschen kommunizieren und handeln, orientieren sie sich, ob bewusst oder unbewusst, an diskursiv formierten normativen Wissenssystemen, die darüber Auskunft geben, wie man sich a l s Mann oder Frau20 verhält, wie man ein Geschlecht angemessen darzustellen habe.21 Heteronormative Wissenssysteme stellen die häufig genug als Zumutung empfun19

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Vgl. Candace WEST u. Don H. ZIMMERMAN, Doing Gender: in: Sarah FENSTERMAKER u. Candace WEST (Hg.), Doing Gender. Doing Difference. Inequality, Power and Institutional Change, London 2002, S. 3–23, bes. S. 4: „Rather than a property of individuals, we conceive gender as an emergent feature of social situations.” Suzanne KESSLER u. Wendy MCKENNA, Gender. An Ethnomethodological Approach, Chicago u. London 1978, S. 5–6 betonen die Prozesse der Zuschreibung und Klassifikation einer Geschlechtszugehörigkeit; Helga KOTTHOFF, Was heißt eigentlich doing gender? Differenzierungen im Feld von Interaktion und Geschlecht, in: Dimensionen von Gender-Studies. Freiburger Frauen Studien/Zeitschrift für Interdisziplinäre Frauenforschung 12 (2003), S. 125–149, bes. S. 125; Regine GILDEMEISTER u. Angelika WETTERER, Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Gudrun Axeli KNAPP u. Angelika WETTERER (Hg.), TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg 1992, S. 201–254, bes. S. 205; Regine GILDEMEISTER, Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung, in: Ruth BECKER u. Beate KORTENDIEK u. M. v. Barbara BUDRICH u.a (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (Geschlecht und Gesellschaft 35), 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 137–145, bes. S. 137; Carol HAGEMANN-WHITE, Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Erkenntnis, in: Feministische Studien 11,2 (1993), S. 68–78, hier 68–69; zum Konzept aus Sicht der Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit GRIESEBNER, Körper, S. 68–69; GRIESEBNER, Wahrheiten, bes. S. 27; Andrea GRIESEBNER u. Christina LUTTER, Geschlecht und Kultur. Ein Definitionsversuch zweier umstrittener Kategorien, in: Geschlecht und Kultur. Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Sondernummer 2000, Wien 2000, S. 58–64, hier 59; ULBRICH, Überlegungen, S. 363. Zum Überblick über verschiedene Theorietraditionen in der Geschlechtersoziologie Mechthild BERESWILL, Geschlecht, in: Nina BAUR, Hermann KORTE, Martina LÖW u. Markus SCHROER (Hg.), Handbuch Soziologie, Wiesbaden 2008, S. 97–116, bes. 100 u. zu konstruktivistischen Ansätzen 107–111. Mit Gianna POMATA, Die Geschichte der Frauen zwischen Anthropologie und Biologie, in: Feministische Studien 2,2 (1983), S. 113–127, hier 123–124 verstehe ich ‚Mann‘ und ‚Frau‘ als polythetische Begriffe. Sie fassen eine Gruppe von Personen zusammen, die nicht durch den gemeinsamen Besitz einer spezifischen Eigenschaft definiert werden können. Vielmehr handelt es sich um Positionierungen von Personen in einem bestimmten narrativen respektive sozialen Kontext. Darüber hinaus ist zu reflektieren, dass solche Genusmarkierungen im Text a l s Mann oder a l s Frau nicht per se mit sozialen Geschlechteraufführungen gleichgesetzt werden dürfen. S. WAGNER u. LAFERL, Anspruch, S. 44; GRIESEBNER u. LUTTER, Selbst, S. 53 u. 56. S. auch die Konzeptualisierung von Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem bei Stefan HIRSCHAUER, Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, in: Christiane EIFERT, Angelika EPPLE, Martina KESSEL, Marlies MICHAELIS u.a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a.M. 1996, S. 241–256, hier 243–246.

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EINLEITUNG

dene Anforderung an Personen, ein – und nur ein – bei der Geburt aus dem anatomischen Körper abgeleitetes Geschlecht kontinuierlich über den gesamten Lebenslauf hinweg glaubhaft darstellen zu müssen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, verwende ich den Begriff der Vergeschlechtlichung. Sind konkrete Praktiken vergeschlechtlicht, so wohnen ihnen bestimmte normative Ansprüche und Erwartungen inne, denen sich eine Person nur um den Preis bestimmter sozialer Konsequenzen bzw. Sanktionen entledigen kann. Die Konzeptualisierung von ‚Geschlecht‘ als Verhalten normierendes Wissenssystem erlaubt zudem, sowohl den biologisch-anatomischen Körper (sex) als auch die sozialen Herstellungsprozesse von Geschlecht (gender) in ihrer grundsätzlichen kulturellen Konstruiertheit und ihrem gegenseitigen Verweisungszusammenhang zu analysieren.22 Auch anatomische Geschlechterdifferenzen werden dabei nicht vorausgesetzt, sondern im Prozess der Zuschreibung bestimmter Bedeutungen beobachtet.23 Auf der Grundlage dieser Analysen beleuchtet das Kapitel die soziale Bedeutung geschlechtlicher Zuschreibungen für die Prozesse der Selbst- und Fremdpositionierung Elisabeth Charlottes in der französischen Hofgesellschaft. Grundlegender Ausgangspunkt ist dabei die in geschlechtergeschichtlichen Arbeiten schon früh formulierte Kritik an einer einseitigen Fixierung auf Standes- bzw. Klassenzugehörigkeiten sowie Statuszusammenhänge als Masterkategorie für die gesellschaftlichen Positionierungen einer Person sowie für deren Selbst- und Weltverständnis.24 Diese vor allem in der älteren Sozialgeschichte äußerst wirkmächtige Annahme, die sich etwa auch in Luhmanns These von der parallelen Entwicklung von Gesellschaftsstruktur und Individualitätssemantik wiederfinden lässt,25 ist 22

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Die interdisziplinären Debatten um sex/gender, die in der Geschlechterforschung vor allem in den 90er Jahren intensiv geführt wurden, können hier nicht noch einmal in Gänze referiert werden. Vgl. dazu SCOTT, Gender (1986), S. 1053–1075; dt. Übers. bes. S. 34–35; WEST u. ZIMMERMAN, Gender, S. 4–5; Carol HAGEMANN-WHITE, „Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren…“, in: Carol HAGEMANN-WHITE u. Maria S. RERRICH (Hg.), FrauenMännerBilder (Forum Frauenforschung 2), Bielefeld 1989, bes. S. 230; GILDEMEISTER u. WETTERER, Geschlechter, S. 211; Regina BECKERSCHMIDT u. Gudrun-Axeli KNAPP, Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg 2000, S. 71– 73; BOCK, Geschichte, S. 377; Rebekka HABERMAS, Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Joachim EIBACH u. Günter LOTTES (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 233–240, hier 237; OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 11–13; GRIESEBNER, Geschlecht, S. 43–44; Andrea GRIESEBNER u. Christina LUTTER, Geschlecht und Kultur. Ein Definitionsversuch zweier umstrittener Kategorien, in: Geschlecht und Kultur. Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Sondernummer 2000, Wien 2000, S. 58–64, hier 58; ZETTELBAUER, ‚Becoming‘, S. 68. Vgl. GRIESEBNER, Geschlecht, S. 45; POMATA, Geschichte, S. 199–120. Vgl. Barbara VOGEL u. Ulrike WECKEL, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Frauen in der Ständegesellschaft. Leben und Arbeiten in der Stadt vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 4), Hamburg 1991, S. 7–26, hier 13–14 (Zit. 13): „Die von ihnen [den Sozialhistorikern] in den 60er Jahren entdeckte Kategorie ‚Klasse‘ erschien vielen von ihnen so prägend, daß sie bezweifelten, daß eine andere Kategorie wie etwa ‚Geschlecht‘ ähnlich gravierende Auswirkungen auf das Leben, die Interessen, das Verhalten und die Wahrnehmung der Menschen gehabt haben könnte.“ S. zu diesen Debatten aus aktuellerer Perspektive ULBRICH, Ungleichheit, S. 88–89. Vgl. Niklas LUHMANN, Individuum, Individualität, Individualismus, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1989, S. 159–258, hier 153–154 u. 156–158; Niklas LUHMANN, Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Opladen 1995, Kap. 13 Inklusion und Exklusion, S. 237–265, hier 242–243 u. 258; Niklas

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aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive einer grundsätzlichen Revision unterzogen worden.26 So konstatieren etwa Barbara Vogel und Ulrike Weckel in der Einleitung zu dem 1991 von ihnen herausgegebenen Sammelband ‚Frauen in der Ständegesellschaft‘: „Den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der Ständegesellschaft war sehr wohl bewußt, daß ihr Leben nicht nur durch Geburt in eine soziale Schicht und damit verbunden durch ihr Vermögen, ihr gesellschaftliches Ansehen und ihren Beruf geprägt war, sondern auch durch ihr Geschlecht und ihren Familienstand. Auch 27 das Geschlecht galt als ein (Geburts-)Stand; […].“

Der dritte Hauptteil untersucht die ANEIGNUNGEN DES SELBST (IV.) in Elisabeth Charlottes Zeit am französischen Hof. Hier werden die dynamischen Elemente von Körperwissen und Leibpraktiken in Elisabeth Charlottes brieflichen Erzählungen und Beschreibungen in den Blick genommen – das heißt die situativen Momente im Lebensverlauf, in denen das eingeschliffene Handlungsrepertoire durch kreative Neuauslegungen sukzessive erweitert wird. In körperbezogenen (Selbst-)Positionierungsprozessen ist neben den angesprochenen standes-, verwandtschafts- und geschlechtsbezogenen Momenten auch eine räumliche Dimension zu berücksichtigen, denn Menschen stehen immer auch in Beziehung zu den Orten, an denen sie sich aufhalten bzw. aufgehalten haben.28 Ausgehend von einem relationalen Raumbegriff, wie ihn etwa die Soziologin Martina Löw in die Forschungsdiskussion eingeführt hat, lässt sich das Verhältnis von Personen und Raum als doppeltes begreifen. Räume sind demzufolge einerseits als (vor)strukturierte Bedingungen jeglichen sozialen Handelns bzw. Kommunizierens aufzufassen, allerdings werden sie selbst in Kommunikations- und Handlungsprozessen konstituiert. Räume entstehen also, indem sie „aktiv durch Menschen verknüpft werden“.29 In diesen aktiven Verknüpfungsprozessen nehmen Menschen immer bestimmte Platzierungen von Dingen, anderen Menschen sowie von sich selbst vor.30 Die Identifikation von Personen mit bestimmten räumlichen Arrangements (etwa Bauwerke, Dörfer, Städte, ein Hof oder aber auch Regionen und Nationen) sind in diesem Sinne als Momente raumbezogener Selbstpositionierungsprozesse31 zu fassen. Dabei ist zu beachten, dass solche ‚Räume des Selbst’ sowohl real gelebt

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LUHMANN, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 634–662 u. 678–706. S. dazu auch BÖTH, Practices [i. Dr.]. Dies zeigen für die FNZ etwa die folgenden Arbeiten: DÜRR, Mägde, bes. S. 23–37; GLEIXNER, „Das Mensch“, bes. S. 174; GRIESEBNER, Wahrheiten, bes. S. 19, 25 u. 29; MOMMERTZ, Handeln; WAGNER u. LAFERL, Anspruch, S. 19–20; ULBRICH, Shulamith, bes. S. 10; ULBRICH, Überlegungen, S. 361–362. Vgl. VOGEL u. WECKEL, Vorwort, S. 8. S. auch ULBRICH, Ungleichheit, S. 88–89. Vgl. LINDEMANN, Überlegungen, S. 156: „Indem der lebendige Körper aber als zu sich als zu seinem Leib in Beziehung ist, ist er ebenfalls zu einem Ort, an dem er ist, von sich aus in Beziehung gesetzt.“ Vgl. LÖW, Raumsoziologie, bes. S. 154, 158 (Zit.) u. 226. Vgl. ebd., S. 158. Vgl. Peter WEICHHART, Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation (erdkundliches Wissen 102), Stuttgart 1990, S. 40–45.

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und erfahren als auch erinnert und imaginiert werden können und sich die Grenzen zwischen beiden Momenten häufig als fließend darstellen.32 Der intersektionalen Untersuchungsperspektive verpflichtet werden in den Kapiteln immer die spezifischen Verschränkungen relevanter Kategorien der Selbstpositionierung in den Blick genommen. Es wird beispielsweise genau zu analysieren sein, wo Aussagen über die Bedeutung von Familie und Verwandtschaft eine geschlechtsbezogene, kulturräumliche oder standesspezifische Bedeutungsdimension aufweisen. Mit Hilfe dieses Forschungsdesigns können die Befunde aus den mikrogeschichtlichen Analysen von Handlungs- und Kommunikationsprozessen, wie sie in den Briefen Elisabeth Charlottes erzählt werden, strukturiert und auf einer über das individuelle Beispiel hinausreichenden Metaebene formuliert werden. Dies hat den Vorteil, dass die Ergebnisse, die ja wiederum selbst narrativ generiert werden,33 für interdisziplinäre theoretische Diskussionen anschlussfähig werden. Gleichzeitig weist das multiperspektivische Denken von Intersektionalitätsansätzen über diese Mikroebene der sozialen Interaktion und Konstruktion personaler Selbstverständnisse hinaus und erlaubt es, die Bedeutungsdimensionen diskursiver und sozialer Strukturierung in Selbstzeugnissen im Blick zu behalten.34 In den einzelnen Kapiteln und Hauptabschnitten werden jeweils verschiedene Ausschnitte des Körperwissens bzw. konkrete leibliche Praktiken in den Blick genommen. Im Teil zur Bedeutung von Verwandtschaft bzw. Genealogie (II.) spielen grundlegende Konzepte zur Vorstellung und Funktionsweise der körperlichen Natur eine Rolle, die sich insbesondere in der medikalen35 Praxis zur Beförderung von Gesundheit und zur Behandlung von Krankheit manifestieren. Dieser Zugang ist von der Patientengeschichte

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BÄHR, BURSCHEL u. JANCKE, Räume, S. 2 differenzieren „Räume der schreibenden Person“, die als „reale, praktizierte, im Moment des Handelns gelebte und erfahrene Räume“ zugänglich sind, von „Räumen der beschriebenen Person“, die „auf andere Weise konstituiert und konstruiert“ seien. Diese Differenzierung ist zwar grundsätzlich hilfreich – spannend erscheinen mir aber gerade die gegenseitigen Bezugspunkte von gelebten und imaginierten Räumen. Vgl. zur erkenntnistheoretischen Debatte um Erzählung und Geschichtsschreibung bzw. Geschichtswissenschaft die Arbeiten von Hayden WHITE, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1990, bes. S. 62. S. auch GINZBURG, Mikro-Historie, S. 182–183; SARASIN, Geschichtswissenschaft, S. 25. Vgl. zu diesem Gedanken auch Überlegungen aus der zur ‚Patientengeschichte‘ erweiterten Sozialgeschichte der Medizin bei Claudine HERZLICH u. Janine PIERRET, The social construction of the patient. Patients and illnesses in other ages, in: Social science and medicine 20,2 (1985), S. 144– 151, hier 146: „Each person’s conceptions link the nature of his bodily experience and ‚medical history‘ to the symbols and frames of references of his group or society (…).” (Zit. S. 145): „A person’s experiences and his lay conceptions of sickness cannot be separated from macrosocial phenomena. Though observed at the individual level and through interactions with physicians, they cannot be fully understood without being places within the macrostructure.” Zum Begriff: Jens LACHMUND u. Gunnar STOLLBERG, Zur medikalen Kultur des Bildungsbürgertums um 1800. Eine soziologische Analyse anhand von Autobiographien, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung 6 (1989), S. 163–184, hier 163 verstehen medikale Kultur als Gesamtheit der „Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die innerhalb eines gesellschaftlichen Milieus für die Definition und Handhabung von Krankheit relevant sind“. S. auch Wolfgang U. ECKART u. Robert JÜTTE, Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln, Wien, Weimar 2007, S. 335–336.

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als einer zentralen Strömung der aktuellen Medizingeschichtsschreibung inspiriert.36 Ausgehend von kritischen Krankheitssituationen (II. 2) werden die medikalen Praktiken entlang der zentralen Begriffe ‚Natur‘ (II. 3) und ‚Erfahrung‘ (II. 4) untersucht. Dabei werden Körper-Praxis und leibliche Wahrnehmungen bzw. Empfindungen im Zusammenhang mit den ihnen zu Grunde liegenden Wissenskonzepten analysiert, um sie in einem zweiten Schritt im Kontext der sozialen Umwelt der Protagonistin und ihrer Selbstpositionierung darin zu interpretieren.37 Der zweite Hauptteil (III.) konzentriert sich auf die vergeschlechtlichten Aspekte verschiedener körperbezogener Praktiken der gesunden Lebensführung (Diätetik) – vor allem der körperlichen Bewegung beim Spazierengehen und auf der höfischen Jagd (III.2), auf geschlechtsbezogene Aspekte von Ernährung, hier insbesondere des Konsums von Genussmitteln38 wie Alkohol und Tabak, sowie auf den Bereich sexueller Praktiken und Vorstellungen (III.3). Dabei verstehe ich die genannten Praktiken der gesunden Lebensführung in einem umfassenden Sinne als über den unmittelbaren Kontext von Gesundheit und Krankheit hinausreichende Positionierungspraxis im gesellschaftlich-kulturellen Umfeld. In Anlehnung an den Altphilologen und Medizinhistoriker Georg Wöhrle lässt sich diätetisches Handeln als „sinnvoller Akt im Schnittpunkt des Koordinatensystems gesellschaftlicher Wertvorstellungen“ sowie als „Bestandteil eines die Lebensweise regelnden (…) Kommunikationssystems“ mit „Verweischarakter“ auf einen jeweiligen inhärenten sozialen Sinn beschreiben.39 So weisen beispielsweise Ernährungspraktiken über die Funktion der bloßen Nahrungsaufnahme hinaus – vielmehr können mit ‚kulinarischem Handeln‘40 Akte der Selbstpositio36

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Vgl. den programmatischen Aufsatz von Roy PORTER, The Patient’s View. Doing Medical History from Below, in: Theory and Society 14 (1985), S. 175–198, bes. S. 175–176, 185 u. 193 sowie den Forschungsüberblick von Katharina ERNST, Patientengeschichte. Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie, in: Ralf BRÖER (Hg.), Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne (Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte 9), Pfaffenweiler 1999, S. 97–108, hier 100–101. Das Adjektiv ‚medikal‘ umfasst also alle Wahrnehmungen und Handlungen, die sich auf die Behandlung von Krankheit sowie die Beförderung und Erhaltung von Gesundheit beziehen, und schließt im Gegensatz zu ‚medizinisch‘ diätetische Praktiken ausdrücklich mit ein. Vgl. HERZLICH u. PIERRET, Construction, S. 146; Ludmilla JORDANOVA, The Social Construction of Medical Knowledge, in: Social History of Medicine 8 (1995), S. 361–381, hier 377. Annerose MENNINGER, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 102), Stuttgart 2004, S. 13 definiert Genussmittel als Stoffe, die nicht in erster Linie als Nahrungsmittel, sondern wegen ihres Geschmacks und ihrer stimulierenden Wirkung konsumiert werden. Vgl. Georg WÖHRLE, Studien zur Theorie der antiken Gesundheitslehre (Hermes Zeitschrift für Klassische Philologie. Einzelschriften 56), Stuttgart 1990, S. 9–10: „Eine umfassende Theorie diätetischen Handelns würde sich einer allgemeinen Kulturtheorie nähern, die, ausgehend von den Daten naturwissenschaftlicher (d.h. biologischer und ernährungswissenschaftlicher) sowie sachkulturorientierter ethnologischer Forschung, nach all den gesellschaftlich geprägten Kategorien fragen müßte, an denen sich eben dieses diätetische Handeln orientiert. Im Blick steht also der Verweischarakter des einzelnen Aktes, der Art, Nahrung aufzunehmen, sich zu kleiden, sich zu pflegen, zu schlafen usw., sein sozialer Sinn, insofern der Verweis beabsichtigt ist oder als solcher aufgefaßt werden kann.“ S. auch FOUCAULT, Technologien des Selbst, S. 970, der Diätetik als praktischen Ausdruck einer „Sorge um sich selbst” betrachtet. Zum Begriff: Werner ENNINGER, Auf der Suche nach einer Semiotik der Kulinarien. Ein Überblick über zeichenorientierte Studien kulinarischen Verhaltens, in: Zeitschrift für Semiotik 4,4 (1982),

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nierung verbunden sein.41 Der dritte Hauptteil (IV.) untersucht Praktiken und Deutungsmuster, die sich im Verlauf des Lebens verändern. Hierzu zählen nationalisierende, aber auch kulturell hybride Erzählweisen, die sich u.a. in der alltäglichen Ernährungsweise, im Konsum von Heilmitteln oder der Bezeichnungspraxis von psychosomatischen Krankheiten manifestieren.

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S. 319–336, hier 319: „‚Kulinarisches Handeln‘ soll ein sinnvolles Handeln heißen, das a.) bei der Auswahl von Nahrung aus Eßbarem, b.) bei der Zubereitung von Nahrung, c.) bei der Organisation des Verzehrs durch perzeptive, ethische und ästhetische Orientierungstafeln einer spezifischen Kultur gesteuert wird.“ Vgl. in diesem Sinne etwa Monika SETZWEIN, Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext (Forschung Soziologie 199), Wiesbaden 2004, S. 29; in Bezug auf die sprachliche Vermittlung dieser Prozesse Werner ENNINGER, Kulinarisches Verhalten als zeichenhaftes Handeln. Eine sozialsemiotische Fallstudie der Amischen, in: Zeitschrift für Semiotik 4,4 (1982), S. 385–422, hier 385; Klaus J. MATTHEIER, Das Essen und die Sprache. Umrisse einer Linguistik des Essens, in: Hans-Jürgen TEUTEBERG, Gerhard NEUMANN u. Alois WIERLACHER (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (Kulturthema Essen 2), Berlin 1993, S. 245–255, hier 247; Peter SCHOLLIERS, Meals, Food Narratives, and Sentiments of Belonging in Past and Present, in: Ders. (Hg.), Food, Drink and Identity. Cooking, Eating and Drinking in Europe, Oxford, New York 2001, S. 6–7; Claude FISCHLER, Food, self and identity, in: Social Science Information (1988), S. 275–292, hier 290–291; Konrad KÖSTLIN, Das fremde Essen – das Fremde essen. Anmerkungen zur Rede von der Einverleibung des Fremden, in: Siegfried MÜLLER, Hans-Uwe OTTO u. Ulrich OTTO (Hg.), Fremde und Andere in Deutschland. Nachdenken über das Einverleiben, Opladen 1995, S. 219–234, hier 219.

HISTORIOGRAPHISCHE PERSPEKTIVEN

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III. Elisabeth Charlotte in historiographischen Perspektiven Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert ist die pfälzische Kurfürstentochter und verheiratete Herzogin von Orléans Elisabeth Charlotte immer wieder zum Gegenstand historiographischer Auseinandersetzung gemacht worden. Dabei ist sie unter zahlreichen verschiedenen Namen bekannt: Während man in Frankreich den offiziellen Hoftitel ‚Madame‘1 verwendet, spricht man in Deutschland vor allem von ‚Liselotte von der Pfalz‘. Die unterschiedlichen Benennungen Elisabeth Charlottes in den Literatur- und Ausstellungstiteln verschiedener Jahrhunderte sind dabei allzu oft selbst schon Interpretation ihrer Person. So hat etwa die ältere deutschsprachige Historiographie durch Verwendung des Geburtsnamens ‚Liselotte von der Pfalz‘ ins Zentrum gerückt, wie die pfälzische bzw. deutsche Herkunft ihre Persönlichkeit geprägt habe,2 und sich damit die historische Figur der Elisabeth Charlotte gezielt zu eigen gemacht. Französischsprachige Publikationen betonten hingegen stärker einen ambivalenten Zug ihres Lebens als pfälzische Kurfürstentochter am Hof des Sonnenkönigs, indem sie über Elisabeth Charlotte, als ‚Madame Palatine‘ schrieben.3 Die vielfältigen Namensvariationen sind also Ausweis des jeweiligen historiographischen Blicks auf Elisabeth Charlottes Lebenslauf. Neben kulturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen unterschiedlicher Couleur, die ihre Briefe als eine Art Steinbruchquelle für die verschiedensten Themen heranziehen,4 dominieren vor allem Biographien sowie biographische Studien die publizierte Forschungsliteratur.5 Dem klas1

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Nach dem Tod ihres Gatten Philippe (1701) gingen die Titel des Herzogs und der Herzogin von Orléans (Monsieur und Madame d’Orléans) auf E. Ch.s ältesten Sohn und dessen Gemahlin über. S. Jacob WILLE, Elisabeth Charlotte. Herzogin von Orléans. Die Pfälzer Liselotte, 4. erw. Aufl. (Frauenleben VIII), Bielefeld u. Leipzig 1926, S. IX u. 1, der die Bedeutung der Heimat für das „Seelenleben der Pfälzerin“ heraushebt; Gertrude ARETZ, Liselotte von der Pfalz. Eine deutsche Fürstentochter in Frankreich, Stuttgart 1921, S. XV u. XIII nennt E. Ch. die „deutscheste aller Fürstinnen“. S. bspw. Arvède BARINE, Madame. Mére du Régent, Paris 1909; Augustin CABANÈS, Une Allemande à la Cour de France. La Princesse Palatine, Paris 1916; Paul REBOUX, Une rude gaillarde. La Princesse Palatine, Paris 1934; Pierre GRENAUD, La Palatine. Mère du Regent et Commère du Grand Siècle, Paris 1984; VAN DER CRUYSSE, Madame Palatine. Vgl. hierzu die Verwendung von Quellenausschnitten aus den Briefen E. Ch.s bei Eva BENDER, Die Prinzenreise. Bildungsaufenthalt und Kavalierstour im höfischen Kontext gegen Ende des 17. Jahrhunderts (Schriften zur Residenzkultur 6), Berlin 2011; Marita BOMBEK, Kleider der Vernunft. Die Vorgeschichte bürgerlicher Repräsentation in der Kleidung, Münster 2005; Louis CROMPTON, Homosexuality & Civilization, Cambridge/MA u. London 2003; MENNINGER, Genuss; Peter PETER, Kulturgeschichte der deutschen Küche, München 2008; Susanna STOLZ, Die Handwerke des Körpers. Bader, Barbier, Perückenmacher, Friseur. Folge und Ausdruck historischen Körperverständnisses, Marburg 1992. Obwohl ebenfalls auf einer Anthologie der Briefe E. Ch.s beruhend, mit intensiver Kontextualisierung Jennifer M. JONES, Sexing La Mode. Gender, Fashion and Commercial Culture in Old Regime France, Oxford, New York 2004, S. 47–64. Vgl. aus der biographischen Literatur des 20. Jhd.s (bis 1980) etwa die folgenden ausgewählten deutsch- und französischsprachigen Titel: WILLE, Elisabeth Charlotte (1905); Michael STRICH, Liselotte und Ludwig XIV. (Historische Bibliothek 25), München, Berlin 1912; ARETZ, Liselotte von der Pfalz (1921); Carl KNETSCH, Elisabeth Charlotte von der Pfalz und ihre Beziehungen zu Hessen, Marburg 1925; Mathilde KNOOP, Madame. Liselotte von der Pfalz. Ein Lebensbild, Stuttgart 1956; BARINE, Madame (1909); CABANÈS, Allemande (1916); REBOUX, Gaillarde (1934); Franz FUNCK-BRENTANO, Liselotte. Duchesse d’Orléans. Mère du Régent, Paris 1936. In den

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EINLEITUNG

sischen Genre der Biographie verpflichtet versuchen noch die im 20. Jahrhundert erschienenen Lebenserzählungen Elisabeth Charlottes „Seelen- und Geistesleben“ zu ergründen oder ein „Charakterbild“ zu zeichnen.6 Dabei wird der Wechsel des Lebensumfeldes nach der von ihrer Tante Anna Gonzaga7 vermittelten Verheiratung mit Philippe d’Orléans, dem Bruder Ludwigs XIV., im Jahre 1671 als zentrales Lebensthema betrachtet. Dieser angenommenen Zäsur folgend gliedern sich die biographischen Arbeiten in zwei chronologisch aufeinanderfolgende Teile: in einen ersten von Elisabeth Charlottes Geburt am 27. Mai 1652 als Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig (1617–1680) und seiner Gattin Charlotte von Hessen-Kassel (1627–1686) bis zu ihrer Verheiratung und in einen zweiten von 1671 bis zu ihrem Tod am 8. Dezember 1722. Der erste, wesentlich schmalere Part kann dabei lediglich aus der Retrospektive von Elisabeth Charlottes späteren Briefen sowie auf der Grundlage von Briefen aus ihrem verwandtschaftlichen Umfeld rekonstruiert werden. Dabei wird häufig nur unzureichend reflektiert, dass die Schilderungen einer harmonischen Kindheit Aussagen einer erwachsenen bzw. gealterten Person sind.8 In den Briefen begegnen wir einer Schreiberin, die ihre Briefe stets mit ‚Elisabeth Charlotte‘ signiert,9 sich selbst in erinnernden Passagen an ihre Kindheit in deutschen Landen gegenüber ihren vertrauten Bezugspersonen gleichwohl aber als ‚Liselotte‘ bezeichnet.10 Die Namensabkürzung ‚Liselotte‘ ist in den Briefen also mit einer konkreten

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zentralen deutsch- und französischsprachigen biographischen Nachschlagewerken finden sich ebenfalls Artikel zu E. Ch., vgl. Bernhard KUGLER, Elisabeth Charlotte, Pfalzgräfin, Herzogin von Orléans, in: Allgemeine Deutsche Biographie [ADB], Bd. 6, Leipzig 1877, S. 28–34; Peter FUCHS, Elisabeth Charlotte, Liselotte, Herzogin von Orléans, in: Neue Deutsche Biographie [NDB], Bd. 4, Berlin 1959, S. 449–450; Charlotte-Élisabeth, in: Nouvelle biographie universelle, hg. v. DIDOT u. HOEFER, Paris, Bd. 9, S. 944–945; Jean MEYER, Madame Palatine, in: François Bluche (Hg.), Dictionnaire du Grand Siècle, Paris 1990, S. 930–931. Vgl. Jacob WILLE, Pfalzgräfin Elisabeth Charlotte. Herzogin von Orléans, in: Neue Heidelberger Jahrbücher 5 (1895), S. 190–228, S. 190, 201 (Zit.), 203 u. Elisabeth Charlotte, S. IX–X; KNOOP, Madame, S. VII; den der Biographie vorangestellten Widmungsbrief von Arlette LEBIGRE, Liselotte von der Pfalz. Eine Biographie, Düsseldorf 1988, S. 5–8. Selbst die neueste, umfassendste und höchst verdienstvolle Biographie von Dirk Van der Cruysse verfolgt die Fragestellung, „die geheimsten Winkel der so nuancenreichen Seele von Elisabeth Charlotte, der Pfalzgräfin bei Rhein, zu erkunden“. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 18. S. ausführlich 2.I.1. So insbesondere bei Katharina MEISNER, Kindheit und Jugend Liselottes von der Pfalz, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 43–64, hier 44–45; LEBIGRE, Liselotte, S. 46–47. Vgl. auch Hannelore HELFER (Hg.), Liselotte von der Pfalz in ihren Harling-Briefen. Sämtliche Briefe der Elisabeth Charlotte, duchesse d’Orléans an die Oberhofmeisterin Anna Katharina von Harling, geb. von Offeln, und deren Gemahl Christian Friedrich von Harling, Geheimrat und Oberstallmeister, zu Hannover (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 102), ergänzt durch ein Gesamtinventar ihrer bisher bekannten Briefe an verschiedene Empfänger, mit einem Glossar von Malte-Ludolf BABIN, Hannover 2007, Bd. 1, S. 13. Einzige Ausnahme im Raugräflichen Korpus ist An Karl Ludwig, Versailles, 21.7.1682, HO, 1, 12, S. 22. Vgl. bspw. eine der wenigen Verwendungen des Namens ‚Liselotte‘ im Raugräflichen Korpus An Luise, St. Cloud, 14.8.1718, HO, 3, 941, S. 349. Zu weiteren Beispielen s. 5.I.

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Lebensphase und einem bestimmten Selbstbild verknüpft und soll ausschließlich als Quellenbegriff im Kontext dieses näher zu beleuchtenden Selbstverhältnisses verwendet werden. Anders als im Titel, der es verlangt, den Logiken von Suchstrategien und Recherchedatenbanken angepasst zu werden, verwende ich im Text der vorliegenden Studie daher den vollen Namen Elisabeth Charlotte. Die Übersiedlung an den französischen Hof wird in der Forschungsliteratur übereinstimmend als existentieller Bruch charakterisiert. Betont wird dabei, dass Elisabeth Charlotte ihrem zukünftigen Gatten Philippe d’Orléans (1640–1701) zwar genealogisch ebenbürtig gewesen sei, keineswegs aber im Hinblick auf den politischen und kulturellen Status quo. Die kurpfälzische Fürstenfamilie konnte sich zwar auf ihre dynastische Abkunft von gekrönten Häuptern berufen, hatte Elisabeth Charlottes Großvater, Kurfürst Friedrich V. (1596–1632), doch die englische Königstochter Elizabeth Stuart (1596– 1662) geheiratet. Die politischen Ambitionen des reformierten Kurfürsten, die Königswürde in Böhmen zu übernehmen, hatten jedoch eine Verschärfung der konfessionellen Konflikte in Europa zur Folge und führten in den Dreißigjährigen Krieg. Nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berg (1620) war der Winterkönig, wie Friedrich fortan spöttisch genannt wurde, gezwungen, mit seiner Familie ins niederländische Exil nach Den Haag zu gehen, wo er unter der kaiserlichen Reichsacht stehend und nach Verlust der Kurwürde (1623) bereits im Jahr 1632 verstarb.11 Weite Teile des pfälzischen Gebietes waren zwischenzeitlich zu einem zentralen Schauplatz der Kampfhandlungen geworden. Deshalb war Karl Ludwig bei seiner Rückkehr in die Erblande 1649, die ihm im Westfälischen Friedensschluss wieder zugesprochen worden waren,12 vor allem damit befasst, die zerstörte Pfalz wieder aufzubauen. Auch seine Ehe mit Elisabeth Charlottes Mutter, Charlotte von Hessen-Kassel, lässt sich in dieses politische Programm einordnen, denn deren Vater Landgraf Wilhelm V. hatte die Pfalz während des Dreißigjährigen Krieges militärisch unterstützt.13 Die finanzielle Situation in der pfälzischen Landesherrschaft zwang Kurfürst Karl Ludwig zu einer rigiden Hofhaltung, die weit entfernt war von Ansprüchen absolutistischer Prachtentfaltung, wie man sie in Frankreich zur gleichen Zeit artikulierte.14 In einigen Biographien werden die Lebensumstände in Elisabeth Char11

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Vgl. Jochen GOETZE, Das böhmische Abenteuer. Aufstieg und Sturz des „Winterkönigs“, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 7–13 u. Rückkehr des Pfälzer Kurfürsten Karl Ludwig und seiner Familie, in: Ebd., S. 37–42; Armin KOHNLE, Kleine Geschichte der Kurpfalz, 2. Aufl., Karlsruhe 2006, S. 114–123; Meinrad SCHAAB, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2: Neuzeit, Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 109–114; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 21–32; Vgl. KOHNLE, Geschichte, S. 123–136. Vgl. GOETZE, Rückkehr, S. 41; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 33–39. Vgl. Karl HAUCK, Karl Ludwig. Kurfürst von der Pfalz (1617–1680) (Forschungen zur Geschichte Mannheims und der Pfalz IV), Leipzig 1903, S. 133; Meinrad SCHAAB, Die Pfalz und Frankreich zwischen Westfälischem Frieden und Wittelsbacher Hausunion (1649–1724), in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Elisabeth Charlotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, S. 21–53, hier 25: „Die Bautätigkeit beschränkte sich auf die Wiederherstellung des Zerstörten, für Künstler gab es wenig Arbeit, ein Hof existierte nur in der Frühzeit Karl Ludwigs, dort durchaus französische Vorbilder nachahmend.“ SCHAAB, Pfalz, S. 45 Anm. 26: „Der Kurfürst

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lottes Kindheit sogar als „bürgerlich“ bezeichnet.15 Auch wenn solch eine Beschreibung irreführend ist, ist es dennoch wichtig zu konstatieren, dass Elisabeth Charlottes Verheiratung an den französischen Hof mit seinen distinguierten Lebensformen ein tiefgreifender Wechsel des lebensweltlichen Umfeldes und ein sozialer Aufstieg sondergleichen war. Aus diesem Grund war Kurfürst Karl Ludwig wohl auch bereit, der für die Vermählung mit Philippe d’Orléans notwendigen Konversion seiner Tochter zum katholischen Glauben zuzustimmen.16 Für Ludwig XIV. (1638–1715) hatte eine eheliche Verbindung mit der kurpfälzischen Familie erhebliche politische Vorteile. Die Heirat ließ sich in seine Expansionspolitik über den Rhein einordnen und sicherte ihm in Elisabeth Charlottes Namen eventuelle Ansprüche auf die Pfalz.17 Aus Gründen der dynastischen Sicherung verlangte Ludwig XIV. eine zweite Verheiratung seines seit Juni 1670 verwitweten einzigen Bruders Philippe,18 denn aus dessen Ehe mit der gebürtigen englischen Prinzessin Henrietta Anne (1644–1670) waren ‚nur‘ zwei Töchter hervorgegangen.19 Das Einverständnis von Monsieur, so Philippes Hoftitel, hatte sich Ludwig XIV. jedoch förmlich ‚erkaufen‘ müssen, indem er zum Ausgleich dessen Günstling, den Chevalier de Lorraine, begnadigen musste.20 Im Oktober 1671 verließ Elisabeth Charlotte begleitet von ihren Verwandten Heidelberg in Richtung Straßburg, wo der Ehevertrag unterzeichnet werden sollte. Dort verabschiedete sie sich von ihrer Familie und fuhr mit ihrer Gouvernante weiter nach Metz,21 wo sie nach der Abschwörung vom calvinistischen Glauben22 per procurationem, also mit

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verbot seinen Untertanen jeden Luxus, für den selbstverständlich Frankreich das Vorbild war.“ KOHNLE, Geschichte, S. 138–141; GOETZE, Rückkehr, S. 40–41. Vgl. KNOOP, Madame, S. 11. Knoop macht zudem wie vor ihr Gertrude Aretz darauf aufmerksam, dass die Kurprinzessin sowohl in Heidelberg als auch in den Jahren bei ihrer Tante Sophie von Hannover nur eine vergleichsweise einfache höfische Bildung erlangt habe. Vgl. KNOOP, Madame, S. 13; ARETZ, Liselotte, S. 41; WILLE, Elisabeth Charlotte, S. 17; WILLE, Pfalzgräfin, S. 199–200; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 64. Abgewogener Peter MICHELSEN, Ein Genie des Klatsches. Der deutsche Briefstil der Herzogin Elisabeth-Charlotte von Orléans, in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Elisabeth Charlotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, S. 151– 174, hier 154–157; MEYER, Madame Palatine, in: Dictionnaire du Grand Siècle, hg. v. BLUCHE, S. 931. Zu Karl Ludwigs Haltung zur Heirat s. auch An Sophie, Versailles, 2.5.1697, NLA-HStAH, VII,1, 217r, vgl. B, 1, 288, S. 286. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 124–125; Jochen GOETZE, Die Kurpfalz und der Nachbar Frankreich, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 21–24, hier 22; KOHNLE, Geschichte, S. 142–146. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 117–122; LEBIGRE, Liselotte, S. 10–14. Da Henrietta Anne den Günstlingen ihres Gatten kritisch gegenüberstand, kam die Vermutung auf, sie sei von diesen mit „Zichoriensaft“ vergiftet worden. Vgl. LEBIGRE, Liselotte, S. 18; VAN DER CRUYSSE Madame, S. 117. Nach der Heirat Philippes mit Henrietta Anne 1661 war diese in den neun Jahren bis zu ihren Tod zwar achtmal schwanger. Es hatten allerdings lediglich Marie-Louise und Anne-Marie überlebt. Vgl. ebd. Henrietta hatte diesen Anfang ihres Todesjahres vom Hof vertrieben. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 133–134 u. 138. Vgl. ebd., S. 139–140.

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einem bevollmächtigten Stellvertreter des Bräutigams, vermählt wurde.23 „An einem einzigen Tag hat sie alles verloren, ihr Land, ihre Familie, ihre Religion. Es gibt keine ‚Liselotte von der Pfalz‘ mehr“24, so die pathetische Formulierung ihrer Biographin Arlette Lebigre. Auch wenn aus der Verbindung zwischen Elisabeth Charlotte und Philippe zwei Söhne (Alexandre Louis 1673–1676, Philippe 1674–1723, der spätere Regent) sowie eine Tochter (Elisabeth Charlotte 1676–1744)25 hervorgingen, war die Ehe vor allem seit den 1680er Jahren von Zerwürfnissen und einer zunehmenden Entfremdung zwischen den Ehegatten geprägt.26 Zudem hatte Elisabeth Charlotte die Besetzung und Zerstörung ihrer Heimat im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688–1693, den Frankreich nach dem Tod ihres Bruders Karl unter Berufung auf ihre Erbansprüche führte, hinzunehmen.27 Zumindest in der Retrospektive empfand sie die Verheiratung und Übersiedlung durchaus als biographischen Einschnitt. Noch nach dem Tod Monsieurs im Jahr 1701 resümierte sie – halb fatalistisch, halb subversiv: mein beruff undt mein kindtlicher gehorsam haben mich her gebracht; hir muß ich leben undt sterben undt mein verhengnuß vollig erfüllen.28 Die klassisch-biographisch ausgerichtete Historiographie zu Elisabeth Charlotte lässt sich in zwei Phasen gesteigerter Forschungsaktivität unterteilen.29 Im ersten „âge d’or“, wie es der Literaturwissenschaftler Dirk Van der Cruysse bezeichnete, etwa im Zeitraum zwischen 1830 und 1910, wurden die Briefe Elisabeth Charlottes zu einem großen Teil ediert und erste Biographien verfasst.30 Eine zweite Hochphase der ‚LiselotteForschung‘31 lässt sich retrospektiv hauptsächlich mit seinem eigenen Namen verbinden.32 23 24

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Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 141. LEBIGRE, Liselotte, S. 32. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 141: „Liselotte von der Pfalz gab es nicht mehr: eine neue Madame, hastig übertüncht mit den Farben der katholischen Kirche, der sogleich königliche Ehren erwiesen wurden, war an ihre Stelle getreten.“ 1673 wurde der erste Sohn Alexandre Louis geboren, der jedoch bereits in März 1676 starb. Philippe, der spätere Regent Frankreichs, wurde 1674 geboren – seine Schwester, die den Namen ihrer Mutter trug, im September 1676. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 141 u. 220–227. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 141 u. 292. Vgl. An Sophie, Fontainebleau, 10.11.1688, NLA-HStAH, II, 335v, vgl. B, 1, 84, S. 101 u. Versailles, 20.3.1689, ebd., II, 344r–345r, vgl. B, 1, 85, S. 103. S. auch Jochen GOETZE, Der pfälzische Erbfolgekrieg – im Namen Liselottes. Eroberung – Katholisches Kurhaus – Rekatholisierung, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 27–32, hier 29; STRICH, Liselotte, S. 100– 108; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 141 u. 353–356. An Luise, Versailles, 12.5.1702, HO, 1, 168, S. 286. S. auch An Sophie, Versailles, 2.5.1697, NLAHStAH, VII,1, 217r, vgl. B, 1, 288, S. 286; An Amalie Elisabeth, Marly, 4.11.1706, HO, 1, 336, S. 485: Man hatt mich, unter unß gerett, wider meinen gutten willen hieher gesteckt; hir muß ich leben undt auch sterben. S. zum Überblick über die biographische Literatur Dirk VAN DER CRUYSSE, Du constat de carence au revivrement prometteur. Etat présent de la Liselotte-Forschung, in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, S. 1–20; Heike CORDES, „Ich schreibe, wie ich rede…“. Ein Literaturverzeichnis anlässlich des 350. Geburtstages der Liselotte von der Pfalz, 4. Aufl., 2006. Zu den Editionen sowie der älteren biographischen Literatur vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 16–18; VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 1–11; STRICH, Liselotte, S. 1–16. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 18–19.

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EINLEITUNG

Seine 1988 erschienene Biographie nimmt nach wie vor den Rang eines Standardwerks ein.33 Die detailreiche Lebensbeschreibung beruht auf einer äußerst umfangreichen und genauen Quellenkenntnis34 und genügt – anders als die überwiegende Zahl der Biographien zu Elisabeth Charlotte wie zu hochadeligen Personen im Allgemeinen – auch in der Belegstruktur wissenschaftlichen Standards.35 Am Quellenmaterial entkräftet sie eindrucksvoll stereotype Werturteile der älteren Forschung. Das von nationalstaatlicher Parteinahme geprägte historiographische Lebensbild der ‚Exildeutschen im dekadenten Sündenpfuhl Frankreich‘36 bzw. der ‚sauerkrautessenden palatine grossière‘37 ist durch die Arbeiten des Antwerpener Romanisten einer ausgewogenen Betrachtung gewichen.38 Van der Cruysses Biographie ‚Madame Palatine. Princesse Européenne‘ macht Elisabeth Charlotte als überaus gebildete Prinzessin in einem europäischen Kontext sichtbar und überholt damit die zuvor verfassten Werke. So arbeitet beispielsweise die 1986 von Ar32

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Vgl. Peter FUCHS, Rez. zu: VAN DER CRUYSSE, Madame, in: Zeitschrift für historische Forschung 21 (1994), S. 419–420. Dirk VAN DER CRUYSSE, Madame Palatine. Princesse Européenne, Paris 1988 ; dt. Übers.: Madame (8. Aufl. 2002). Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 15. Zum Stellenwert der Biographie Christel HESS, Rez. zu: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN in V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, in: Francia 19,2 (1992), S. 275– 276. Vgl. Eduard BODEMANN, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an die Kurfürstin Sophie von Hannover: ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 17. u. 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Hannover 1891, ND Hildesheim, Zürich, New York 2003, S. I, II, VIII. Bodemann spricht von E. Ch.s Lebensumfeld als einer „entsittlichten französischen Umgebung“ (S. I) und dem frz. Hof als einer „wüsten Umgebung einer scham- und zuchtlosen Frivolität“ (S. II). ARETZ, Liselotte, S. XV u. XIII nennt E. Ch. die „deutscheste aller Fürstinnen“. WILLE, Pfalzgräfin, S. 190 spricht von der „unverwüstlichen Kraft deutschen Wesens“. A[lfred] WINKELMANN, Aus Liselottes Jugendzeit. Ein Beitrag zur Erziehungs- und Kulturgeschichte des XVII. Jahrhunderts, in: Veröffentlichungen der Grossherzoglich Badischen Sammlungen für Altertums- und Völkerkunde in Karlsruhe 3 (1902), S. 71–86, hier 71 spricht davon, dass E. Ch. „dem deutschen Vaterlande“ auch in der „Fäulnisatmosphäre von Paris und Versailles“ treu geblieben sei. KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 13, bezeichnet sie als „in ihrem ganzen Wesen so völlig deutsche und natürliche Prinzessin“, die an die „Heimstätte höchster Lüsternheit und Verworfenheit (...), eines Sittenverfalls ohnegleichen, einer Unmoralität und sittlichen Verkommenheit, wie man sie sich kaum vorstellen kann“, „verpflanzt“ worden sei. S. auch Wolfgang MENZEL, Vorbericht, in: Ders. (Hg.), Briefe der Elisabeth Charlotte von Orléans an die Raugräfin Louise, Stuttgart 1843, S. VII–XVIII, bes. S. VIII u. XIV. Vgl. zu nationalistischen Deutungen in der dt. Historiographie zu E. Ch. den Überblick bei KIESEL, Einleitung, S. 29–31; STRICH, Liselotte, S. 30–32. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 12 u. 17. Dieses Urteil prägte vor allem die 1916 erschienene Biographie von CABANÈS, Allemande. S. dazu Michel LEFÈVRE, Die Sprache der Liselotte von der Pfalz. Eine sprachliche Untersuchung der deutschen Briefe (1676–1714) der Herzogin von Orléans an ihre Tante, die Kurfürstin Sophie von Hannover (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 321), Stuttgart 1996, S. 20; William BROOKS, Nostalgia in the letters of the second Madame, Cahiers du 17e siècle 10 (2006), S. 1–17, hier 5. Vgl. FUCHS, Rez. zu: VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 420; Hans SCHMIDT, Rez. zu: Dirk VAN DER CRUYSSE, Madame Palatine, Princesse Européenne, Paris 1988, in: Francia 17,2 (1990), S. 269–270, hier 269; LEFÈVRE, Sprache, S. 29–30 u. 32.

HISTORIOGRAPHISCHE PERSPEKTIVEN

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lette Lebigre veröffentlichte Biographie39 mit einem wesentlich schmaleren Quellenkorpus40 und ist aufgrund ihrer populärwissenschaftlichen Herangehensweise m.E. obsolet geworden.41 Ein 1996 in Heidelberg erschienener Ausstellungskatalog macht hingegen den Versuch, Einzelaspekte von der Gemmensammlung der Kurfürstentochter und Herzogin bis hin zu ihrer Liebe zur Jagd in den Blick zu nehmen.42 Vermutlich ist es auch dem Respekt vor Van der Cruysses Aufarbeitung geschuldet, dass sich seitdem insbesondere im Bereich biographisch orientierter Literatur43 nur wenige Publikationen finden lassen, die den Stand der Forschung nennenswert erweitern würden.44 Die vorliegende Untersuchung verlässt die Pfade einer traditionellen Biographik, die sich, so die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, „an den Normen von Einheit und Kontinuum entzündet“.45 Das chronologische Nacherzählen des Lebensverlaufs Elisabeth Charlottes wird zugunsten eines analytischen Zugriffs aufgegeben. Indem der Blick auf die vielfältig gebrochenen Prozesse der Selbstkonstitution über die wissensförmige Körperpraxis und das leibliche Empfinden gerichtet wird, wird das Material einer neuen Lesart unterzogen. Mit diesem innovativen Zugang im Spannungsfeld von Selbstzeugnisforschung sowie von Körper-, Medizin- und Geschlechtergeschichte werden bestehende Forschungslücken zu den Briefen Elisabeth Charlottes geschlossen. Denn auch wenn ihre Korrespondenz im Unterschied zu Selbstzeugnissen anderer hochadeliger Frauen nie zu den wirklich vergessenen Quellen zählte und seit Schiller und Ranke immer wieder 39 40 41 42

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Arlette LEBIGRE, La Princesse Palatine, Paris 1986; dt. Übers.: Liselotte (1988). Vgl. SCHMIDT, Rez. zu: VAN DER CRUYSSE, Madame Palatine, S. 269. Gleiches gilt für die 1984 erschienene Biographie von GRENAUD, Palatine. Vgl. Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996. Vgl. etwa die folgenden nach Van der Cruysses Biographie erschienenen und stärker populärwissenschaftlich ausgerichteten Veröffentlichungen von Thea LEITNER, Skandal bei Hof. Frauenschicksale an europäischen Königshöfen, München 1995, bes. S. 77–132 Sündenbabel an der Seine. Elisabeth Charlotte 1652–1722; Ilse GOLDSCHMIDT, Liselotte von der Pfalz. Madame im Intrigenspiel des Versailler Hofes, Schwetzingen 1996; Simone BERTIÈRE, Les Reines de France au temps des Bourbons. Les Femmes du Roi-Soleil, Paris 1998, chapitre quatorze Une Allemande truculente: Madame Palatine, S. 359–387; Claude PASTEUR, La Princesse Palatine. Une Allemande à la cour de Louis XIV, Versailles 2001; Daniel DES BROSSES, La Palatine. L'incorrigible épistolière aux 60 000 lettres, Paris 2004; Christian BOUYER, La princesse Palatine, Paris 2005; Antonia FRASER, Love and Louis XIV. The Women in the life of the Sun King, New York 2006; Gislinde SEYBERT, Lieselotte von der Pfalz. Pfälzische Prinzessin und Herzogin von Orléans, in: Anne JÜSSEN (Hg.), Die Töchter der Loreley, Königsstein 2004, S. 57–63. Daneben sind in Frankreich auch Romane und Theaterstücke erschienen. Vgl. Françoise HAMEL, Fille de France, Paris 2004 u. Madame écrit, Paris 2006; Philippe COUGRAND, Madame, Monsieur ou l'Impromptu de Saint-Cloud. Comédie en deux actes, Bordeaux 2008. So neben dem Sammelband Liselotte, hg. v. PAAS (1996) vor allem allerdings die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Michel LEFÈVRE, Sprache (1997) sowie der dt.-frz. Sammelband Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), hg. v. Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN in Verbindung mit H. Peter SCHWAKE, Tübingen 1990. Vgl. Sigrid WEIGEL, Korrespondenzen und Konstellationen. Zum postalischen Prinzip biographischer Darstellungen, in: Christian KLEIN (Hg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002, S. 41–54, hier 45.

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EINLEITUNG

zum Thema historischer Forschung gemacht worden ist,46 fehlt bisher nach wie vor eine umfassende Monographie mit einer solchen dezidiert kultur- bzw. körpergeschichtlichen Ausrichtung.47 Neben der Biographie von Dirk Van der Cruysse, die aufgrund ihrer Quellensättigung eine hervorragende Grundlage für jede weiterführende Studie darstellt,48 existieren einige wenige Aufsätze, in denen bereits zentrale Fragestellungen angeschnitten wurden, denen auch in der folgenden Untersuchung nachgegangen wird. Der nach wie vor umfassendste wurde 1986 von der deutsch-amerikanischen Historikerin und Übersetzerin Elborg Forster verfasst.49 Forsters Arbeit reflektiert die internationale Diskussion, indem sie Roy Porters Aufruf, „The Patient`s point of view“ ins Zentrum medizingeschichtlicher Forschung zu stellen, anhand der Briefe Elisabeth Charlottes einlöst.50 Sie scheint jedoch in Deutschland kaum rezipiert worden zu sein: die im Heidelberger Ausstellungskatalog von 1996 erschienenen Aufsätze des Medizinhistorikers Wolfgang Eckart sowie von Margarethe und Werner Knebel zumindest setzen sich mit Forsters Aufsatz leider nicht auseinander und bleiben daher weitestgehend hinter ihren Ergebnissen zurück.51 Daneben ist bisher der Aspekt der Melancholie zum Thema gemacht worden. Die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Albert hat 1994 einen Aufsatz zu Elisabeth Charlottes melancholischer Disposition vorgelegt, der für diese Arbeit wie Forsters Text von grundlegender Bedeutung ist.52 Die einzige Studie,53 die neuere identitätstheore46

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Vgl. Peter Claus HARTMANN, Zwei Wittelsbacher Prinzessinnen am Hof Ludwigs XIV. Maria Anna Christina von Bayern und Elisabeth Charlotte von der Pfalz, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 44 (1981), S. 269–287, hier 285; STRICH, Liselotte, S. 6. Anders etwa die Memoiren Wilhelmines v. Bayreuth, die wegen (vermeintlicher) historischer Ungenauigkeiten von der historistischen Geschichtswissenschaft vernachlässigt wurden. Der Historiker Jürgen Voss hat im Rahmen seiner kulturgeschichtlichen Arbeiten als Erster darauf aufmerksam gemacht, dass die Briefe E. Ch.s eine ergiebige Quelle zu diesem Themenbereich darstellen. Vgl. Jürgen VOSS, Liselotte von der Pfalz als Zeuge ihrer Zeit, in: Volker PRESS, Eugen REINHARD u. Hansmartin SCHWARZMAIER (Hg.), Barock am Oberrhein (Oberrheinische Studien 6), Karlsruhe 1985, S. 189–203, hier 199–201 u. Neuabdruck mit verändertem Titel (1992), S. 65–67; ebenso Elborg FORSTER, From the Patient’s Point of View. Illness and Health in the letters of Liselotte von der Pfalz (1652–1722), in: Bulletin of the history of medicine 60 (1986), S. 297–320, hier S. 298, der zufolge die Fülle der Äußerungen über Gesundheit und Krankheit bei E. Ch. vergleichbar mit der in den Tagebüchern des Samuel Pepys ist. Van der Cruysse hat in seiner chronologisch erzählten Biographie auch E. Ch.s Krankheitsphasen thematisiert. FORSTER, Illness, S. 297–320. S. den Untertitel von Forsters Aufsatz. Vgl. Margarethe u. Werner KNEBEL, Liselottes Überlebensstrategie, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-JahrFeier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 227– 230; Wolfgang U. ECKART, Medizin zur Zeit Liselottes von der Pfalz. Akademische Theorie und ärztliche Praxis, in: Ebd., S. 231–236. Angesprochen wurde Forsters Arbeit zumindest kurz von VOSS, Liselotte, S. 53 in einem Festvortrag 2000 (Publikation 2001) vor der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Mechthild ALBERT, „Une ermite au milieu de la cour“. La mélancholie de Madame Palatine, in: Frank Rutger HAUSMANN, Christoph MIETHING u. Margarethe ZIMMERMANN (Hg.), „Diversité, c’est ma devise.“ Studien zur französischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Festschrift für Jürgen Grimm zum 60. Geburtstag (Papers on French Seventeenth Century Literature), Tübingen 1994, S. 27–41.

HISTORIOGRAPHISCHE PERSPEKTIVEN

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tische und geschlechtergeschichtliche Ansätze produktiv in die Fragestellung einbezieht, ist ein 2001 erschienener Aufsatz der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Karin Baumgartner.54 Mit Ausnahme der neueren Arbeit von Baumgartner liegt allgemein zu den Briefen Elisabeth Charlottes eine hochgradig untertheorisierte historiographische Auseinandersetzung vor. Zahlreiche Arbeiten basieren zudem auf einer stark eingeschränkten Quellenauswahl, zitieren ausschließlich Anthologien, zum Teil auch in Übersetzung.55 Sie verankern Elisabeth Charlottes Vorstellung zudem meist nur unzureichend in allgemeineren soziokulturellen Diskursen und strukturellen Rahmenbedingungen und kommen somit zu ahistorischen Deutungen und psychologisierenden Wertungen. Resümierend kann festgehalten werden, dass kulturgeschichtliche Fragen anhand dieses durchaus prominenten Quellenkorpus zur Geschichte der Frühen Neuzeit trotz des ‚Booms‘ bei der Beschäftigung mit Selbstzeugnissen und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen noch kaum verfolgt wurden. Angesichts dieser Forschungslage hat Jacob Burckhardts Diktum vom Neu-Lesen der „tausendmal ausgebeuteten Bücher“56 auch hier einmal mehr seine Berechtigung.

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An der FU Berlin wurde bei Prof. Dr. Claudia Ulbrich eine Staatsexamensarbeit zu diesem Thema von Kristin Rönck verfasst. Trotz intensiver Bemühungen konnte diese unveröffentlichte Arbeit nicht zugänglich gemacht werden. Karin BAUMGARTNER, Illness and health as strategies of resistance and identity formation in the letters of Liselotte von der Pfalz, in: Women in German Yearbook 17 (2001), S. 57–75. Folgende Anthologien werden am häufigsten zitiert: Elborg FORSTER (Hg.), A Woman’s Life in the Court of the Sun King. Letters of Liselotte von der Pfalz, 1652–1722. Elisabeth Charlotte, Duchesse d‘Orléans, Baltimore u. London 1984; Annedore HABERL, Liselotte von der Pfalz, Elisabeth Charlotte von der Pfalz, Duchesse d’Orléans, Madame. Briefe, Ebenhausen 1996; Helmuth KIESEL, Briefe der Liselotte von der Pfalz, Frankfurt a.M. 1981; C[arl] KÜNZEL, Die Briefe der Liselotte von der Pfalz, Herzogin von Orléans. Ein Frauenleben am Hofe des Sonnenkönigs, Ebenhausen bei München 1912, ND Bremen 2011; Margarethe WESTPHAL, Liselotte von der Pfalz, Elisabeth Charlotte von der Pfalz, Duchesse d’Orléans, Madame. Briefe, Ebenhausen 1958, 2. Aufl. 1966, 3. Aufl. 1974. Zur Kritik der wissenschaftlichen Qualität der Anthologien vgl. LEFÈVRE, Sprache, S. 23–25. Jakob BURCKHARDT, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Rudolf MARX, Stuttgart 1969, S. 21: „Die Quellen aber, zumal solche, die von großen Männern herrühren, sind unerschöpflich, so daß jeder die tausendmal ausgebeuteten Bücher wieder lesen muß, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen (…).“

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EINLEITUNG

IV. Quellenlage und Quellenkorpus Das tägliche Schreiben bisweilen sehr langer Briefe hatte einen festen Platz in Elisabeth Charlottes Alltag.1 Ihre gesellschaftliche Position als Hochadelige2 bot ihr die privilegierte Möglichkeit, sich frei von existentiellen Sorgen ein ‚Selbst‘ zu erschreiben, dessen Aussagen in der historischen Forschung bis auf den heutigen Tag immer wieder reartikuliert worden sind.3 Von der Übersiedlung nach Frankreich 1671 bis zum Ende ihres Lebens 1722 verfasste sie mit steigender Intensität in den späteren Lebensjahren Schätzungen zufolge an die 60.000 Briefe,4 von denen die immer noch schwer zu überblickende Zahl von mehr als 6.000 erhalten ist.5 Verloren gegangen sind neben den deutschsprachigen Briefen an ihre Eltern Kurfürst Karl Ludwig und Charlotte von Hessen-Kassel, ihren Bruder Kurfürst Karl und andere Verwandte vor allem die französischsprachigen Briefe an ihre Tochter Elisabeth Charlotte und deren Kinder, an ihre Hofdame Lydie de Théobon, an ihre Stieftochter – die spanische Königin Marie-Louise – und andere, die ursprünglich wohl die Hälfte der Gesamtkorrespondenz ausmachten.6 Dies erklärt sich aus dem Umstand, dass man in Frankreich Briefe für gewöhnlich nach dem Ableben der Adressierten vernichtete. Auch Elisabeth Charlotte ist mit den Briefen, die sie selbst empfangen hat, so verfahren und hat die meisten bereits noch zu Lebzeiten verbrannt. Die Briefe ihrer Tante Sophie wurden nach ihrem Tod vernichtet.7 Im Ergebnis sind die 1

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E. Ch. schrieb den jeweiligen Adressierten an bestimmten Wochentagen. Vgl. An Luise, St. Cloud, 12.11.1719, HO, 4, 1069, S. 308, Paris, 28.1.1720, HO, 5, 1091, S. 27; Klaus J. MATTHEIER, Madame als Briefschreiberin, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 95–97, hier 95–96 u. Liselottes Sprache. Bemerkungen zum Sprachgebrauch Elisabeth Charlottes von Orléans, in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Elisabeth Charlotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, S. 217–232, hier 218; VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 6–7; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 100–107; Albrecht CLASSEN, Elisabeth Charlotte von der Pfalz, Herzogin von Orléans. Epistolare Selbstbekenntnisse und literarisches Riesenunternehmen, in: Archiv für Kulturgeschichte 77 (1995), S. 33–53, hier 44–45. Als hochadelig bezeichne ich hier die Mitglieder der fürstlichen, reichsgräflichen und herzöglichen Familien im Heiligen Römischen Reich. Vgl. zu dieser zeitgenössischen Definition Art. Adel, in: Johann Heinrich ZEDLERs großes Universallexikon aller Wissenschafften und Künste, 68 Bde., Halle u. Leipzig 1732–1754, hier Bd. 1, Sp. 467–474, hier Sp. 470. Aus Sicht der Selbstzeugnisforschung s. ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 6–7 u. 13–14. Zu den variierenden Schätzungen vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 15; CORDES, „Ich schreibe…“; vorsichtiger MATTHEIER, Madame, S. 95; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 14. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 15; MATTHEIER, Madame, S. 95; VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 6. Die erhaltenen 850 frz. Briefe liegen in einer Gesamtedition vor: Dirk VAN DER CRUYSSE (Hg.), Madame Palatine. Lettres françaises, Paris 1989, Sigle: VdC, Lf.; zur Korrespondenz s. ebd., S. 11– 36, hier 17–18, Dirk VAN DER CRUYSSE, Liselottes französischer Briefwechsel, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 99–103, hier 100. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Briefwechsel, S. 99; VdC, Lf, S. 11–36; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 14–15; Volker KAPP, Pathos der Ehrlichkeit und Kunst des Schreibens in den Briefen der

QUELLENLAGE UND QUELLENKORPUS

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an sie adressierten Briefe ausnahmslos nicht überliefert, was eine Rekonstruktion der Dialogizität der Korrespondenz leider nur sehr eingeschränkt erlaubt. Eine aktuelle Übersicht der bisher bekannt gewordenen ca. 6.000 Briefe, von denen 2/3 auf Deutsch und 1/3 auf Französisch verfasst wurden,8 lieferte Hannelore Helfer im Rahmen ihrer Edition eines Einzelkorpus.9 Zu den Adressierten der erhaltenen Briefe gehören bedeutende Personen des europäischen Hochadels wie die preußische Königin Sophie Dorothea, die englische Kronprinzessin Caroline von Wales oder aber der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz.10 Zu ihrer Tante Sophie, ihren Stiefgeschwistern, den sogenannten Raugräfinnen und Raugrafen, und zu ihrer Hofmeisterin Anna Katharina von Harling sowie deren Gatten Christian Friedrich von Harling hatte Elisabeth Charlotte jedoch zeitlebens eine besonders tiefe Bindung. Angesichts dieser persönlichen Nähe ist gerade bei der Schilderung von leiblichen Empfindungen und dem alltagspraktischen Umgang mit dem Körper eine besondere Offenheit zu erwarten, die bei anderen Adressierten nicht in dieser Weise zu finden ist.11 Aus diesen Gründen bilden die drei letztgenannten Korrespondenzen die wesentliche Quellengrundlage der vorliegenden Arbeit. Die Korpora sollen im Folgenden nach den adressierten Personen geordnet vorgestellt werden. Neben biographischen Kurzinformationen soll die Beziehung, die Elisabeth Charlotte zu den jeweiligen adressierten Personen unterhielt, nachgezeich-

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Liselotte von der Pfalz, in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, S. 175–199, hier 190; LEFÈVRE, Sprache, S. 13–14. Vgl. auch einen Brief der Raugräfin Luise an Leibniz, Frankfurt, 6.10.1714, GWLB/NLB, LBr. II, 26, 15v– 16r, in dem sie versichert, E. Ch. habe versprochen, die Briefe ihrer Tante sofort nach ihrer Rückkehr nach Versailles zu verbrennen. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 15 u. Briefwechsel, S. 99.; CORDES, „Ich schreibe...“; für eine linguistische Betrachtung der frz. Briefe s. Edgar RADTKE, Die französischen Briefe der Charlotte d’Orléans [sic!], in: Wolfgang DAHMEN, Günter HOLTUS, Johannes KRAMER, Michael METZELTIN u.a. (Hg.), Schreiben in einer anderen Sprache. Zur Internationalität romanischer Sprachen und Literaturen. Romanistisches Kolloquium XIII (Tübinger Beiträge zur Linguistik 448), Tübingen 2000, S. 87–105, S. 92–99. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 973–1201 überholt Hans HELMOLT, Kritisches Verzeichnis der Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, Leipzig 1909. Der Briefwechsel zwischen Leibniz und E. Ch. (1715–1716) wird in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek/Niedersächsische Landesbibliothek (GWLB/NLB) Hannover unter der Signatur LBr. II,25 aufbewahrt. Vgl. die vollständige Edition Eduard BODEMANN (Hg.), Briefwechsel zwischen Leibniz und der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orleans. 1715–1716, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen (1884), S. 1–66. S. auch MATTHEIER, Sprache, S. 218; zu Leibniz‘ Briefen allgemein Gerda UTERMÖHLEN, Der Briefwechsel des Gottfried Wilhelm Leibniz. Die umfangreichste Korrespondenz des 17. Jahrhunderts und der „République des lettres“, in: Wolfgang FRÜHWALD (Hg.), Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Schloss Tutzing am Starnberger See, 8.–11. September 1975. Referate und Diskussionsbeiträge (Kommission für germanistische Forschung 2), Bonn 1977, S. 87–103, hier 89– 97. Ein direkter Vergleich mit anderen Briefen E. Ch.s, etwa der Korrespondenz mit ihrer früheren Hofdame Madame de Ludres, verdeutlicht dies. Vgl. etwa An Mme de Ludres, St. Cloud, 13.8.1719, VdC, Lf, 734, S. 621 sowie den am selben Tag verfassten Brief An Luise, St. Cloud, 13.8.1719, HO, 4, 1043, S. 205–207. Generell fällt auf, dass die erhaltenen französischsprachigen Briefe (mit Ausnahme der neun frz. Briefe an Sophie von Hannover) kürzer sind und eher Mitteilungscharakter aufweisen, während die erhaltenen dt. Briefe nicht nur länger, sondern auch weitaus narrativer sind.

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EINLEITUNG

net werden, denn als dialogische (Schrift-)Quellen par exellence können Briefe nur im Kontext der jeweiligen Kommunikationssituation, also in ihrer Bezogenheit auf die einzelnen Dialogpartner und -partnerinnen, adäquat interpretiert werden.12 Diesen Porträts schließen sich quellenkritische Überlegungen zum Material an.

Abb. 1: Eigenhändiger Brief Elisabeth Charlottes, gerichtet an Raugräfin Luise, Versailles, 2.3.1712, Deutsches Historisches Museum, Berlin

1. Hauptkorpora Die als H a r l i n g - K o r p u s bekannten 478 Briefe Elisabeth Charlottes an ihre frühere Hofmeisterin und deren Ehemann umfassen mit den Jahren 1661 bis zu Elisabeth Charlottes Tod 1722 von allen überlieferten Korpora den längsten Zeitraum.13 Sie liegen in 12

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Vgl. WEIGEL, Korrespondenzen, S. 47 betrachtet Briefe als „Paradigma biographischer Zeugnisse“; DAVIS u. LUTZ, Geschlechterforschung und Biographieforschung, S. 241–242; DÜRR, Funktionen, S. 22; MARKUS, „Schreiben“, S. 164–167; GRIESEBNER u. LUTTER, Selbst, S. 66. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 19.

QUELLENLAGE UND QUELLENKORPUS

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einer 2007 von Hannelore Helfer herausgegebenen kritischen und umfassend kommentierten Quellenedition vor.14 Das Ehepaar von Harling zählte zu Elisabeth Charlottes wichtigsten Wegbegleitern in ihrer Kindheit und Jugendzeit. Anna Katharina von Harling (1624–1702), geborene Jungfer Offeln, stammte aus dem niederen Adelsgeschlecht im Lippeschen15 und war vermutlich bereits im Alter von 16 Jahren in höfische Dienste eingetreten. Unter anderem ist sie als Jungfer der gebürtig aus dem Fürstenhaus HessenKassel stammenden Gräfinnen Sophie zu Schaumburg-Lippe und Charlotte Elisabeth von Hanau-Münzenberg nachzuweisen. Als Letztere 1649 starb, wechselte Anna Katharina von Offeln in die Dienste Charlottes von Hessen-Kassel, Elisabeth Charlottes Mutter, und folgte dieser nach ihrer Heirat an den pfälzischen Hof.16 Bei der schwierigen Geburt Elisabeth Charlottes 1652 in Heidelberg leistete Anna Katharina zusammen mit Sophie Geburtshilfe und übernahm im Jahr darauf offiziell die Erziehung der Kurfürstentochter.17 Zwischen Charlotte18 und ihrem Gatten Karl Ludwig hatten sich schon bald nach der Vermählung größere Differenzen gezeigt, die sich im Laufe der Jahre verschärften und schließlich eskalierten.19 Bereits im Januar 1658 vermählte sich Karl Ludwig in morganatischer Ehe mit seiner Mätresse Luise von Degenfeld20 und verstieß Charlotte, die der Scheidung jedoch nicht zustimmte und vorerst in Heidelberg blieb. Um Elisabeth Charlotte aus der offensichtlich unangenehmen Situation herauszuhalten, wohl aber auch um den Einfluss Charlottes auf ihre Tochter zu unterbinden, entschied Karl Ludwig daraufhin, Elisabeth Charlotte zu seiner Schwester Sophie zu schicken.21 Obwohl Anna Katharina von Harling aufgrund ihres Herkommens unglücklich in die Ehestreitigkeiten verwickelt war, begleitete sie Elisabeth Charlotte 1659 dennoch als Gouvernante zu So-

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HELFER (Hg.), Liselotte, Sigle: H. Vgl. ebd., S. 31; KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 11. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 31–32. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 98r: Man hatt mir offt verzehlt, wie daß E.L. die eintzige geweßen undt die gutte fraw von Harling so mir in meine ahnkunfft daß leben erhalten, undt sorg vor mich gehabt haben, bin also E.L. eben so woll daß leben schuldig alß meiner fraw mutter. Zu Charlotte v. Hessen-Kassel, die von Zeitgenossinnen als äußerst schön, aber auch als charakterlich unausgeglichen beschrieben wird, s. Dirk VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie de Hanovre. Mémoires et Lettres de voyage, Paris 1990, S. 54–56; dt. Übers.: Robert GEERDS (Hg.), Die Mutter der Könige von Preußen und England. Memoiren und Briefe der Kurfürstin Sophie von Hannover (Lebensdokumente vergangener Jahrhunderte 8), München, Leipzig 1913, S. 31–34 u. Neuübers. Martina TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover. Ein höfisches Lebensbild aus dem 17. Jahrhundert, 4. Aufl., Göttingen 2014, S. 38–40; Sophie an Luise, Hannover, 22.3./1.4.1686 u. 20./30.7.1690, in: BODEMANN (Hg.), BK, 49, S. 47 u. 91, S. 92; KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 5–9; Sara F. MATTHEWS GRIECO, Körper, äußere Erscheinung und Sexualität, in: Georges DUBY und Michelle PERROT (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hg. v. Arlette FARGE und Natalie ZEMON DAVIS, Frankfurt a.M., New York 1994, S. 61– 101, hier 73; ausführliche Zitate auch bei VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 42–46; MEISNER, Kindheit, S. 44. Zu den möglichen Gründen s. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 39 u. 45; KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 5–8. Zur theologischen Begründung der „Doppelehe“ s. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 52–53. Vgl. ausführlich ebd., S. 67–69; KIESEL, Einleitung, S. 10; KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 9–11.

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EINLEITUNG

phie in das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg nach Hannover.22 Im Sommer 1662 allerdings engagierte Kurfürst Karl Ludwig seinen ursprünglichen Plänen folgend letztlich doch eine andere Hofmeisterin für Elisabeth Charlotte, die bereits im Jahr darauf nach Heidelberg zurückkehren sollte.23 Anna Katharina von Harling war und blieb jedoch eine der wichtigsten Bezugspersonen für Elisabeth Charlotte. Anlässlich der Geburt ihres ersten Sohnes Alexandre Louis 1673 schrieb sie an das Ehepaar von Harling: (...)24 ich habe woll nicht anders gedacht – alß daß ihr gar fro werdt gewest sein vber der zeittung von meiner glücklichen niderkunfft mitt einem sohn, den wie ich allezeit wie ewer kint geweßt bin, also muß es mein lieb fraw von Harling itzunder sein, alß wen sie ein enckelgen bekommen hette.25

1662 heirateten Anna Katharina von Offeln und Christian Friedrich von Harling, der im selben Jahr Oberstallmeister des Herzogs Ernst August von Hannover geworden war. Christian Friedrich war 1631 geboren worden und stand nach Besuch einer Klosterschule und Studien der Rechte in Helmstedt seit 1658/59 in höfischen Diensten in Hannover.26 Nach der Heirat wurde Anna Katharina von Harling Gouvernante der zahlreichen Nachkommen des Herzogspaares Ernst August und Sophie. Auch Christian Friedrich begleitete die Kinder, zu denen er – wie bereits zu Elisabeth Charlotte – ein herzliches Verhältnis unterhielt, im Rahmen seines Hofamtes auf verschiedenen Reisen.27 Weit über das Kindesalter hinaus stand Anna Katharina von Harling den Kindern in unterschiedlichen Lebenslagen bei. Sophie Charlotte, spätere Königin in Preußen, betreute sie beispielsweise bei ihren Schwangerschaften 1685 und 1688 und den Prinzen Georg Ludwig 22

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Hannover war seit 1636 Residenzstadt der Calenberger Linie der Herzogsfamilie von Braunschweig-Lüneburg. Braunschweig gehörte seit 1671 zum Einflussbereich der Wolfenbüttler Linie. Inoffiziell sprach man daher schon etwa seit den 1670er Jahren vom Herzogtum Hannover. Als es 1692 Ernst August, E. Ch.s Onkel aus der Calenberger Linie, gelang, die Kurwürde für das Herzogtum zu erlangen, stieg Hannover zur Residenz des Kurfürstentums auf. In der Folgezeit setzte sich die Bezeichnung Kurfürstentum Hannover oder abgekürzt Kurhannover durch, obwohl es offiziell bei der Bezeichnung Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg geblieben war. Vgl. Georg SCHNATH, Niedersachsen und Hannover. Vom Namen unseres Landes und seiner Hauptstadt (Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Reihe B, Heft 1), hg. v. der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, 4. Aufl., Hannover 1964, S. 5 u. 27– 28. Die früheste Benennung des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg als ‚Hannover‘ fand Schnath in einem Brief Sophies aus dem Jahr 1661, also genau aus der Zeit, die E. Ch. bei ihrer Tante verbracht hatte. Vgl. Sophie an Karl Ludwig, Hannover, 12./2.1.1661 in: BODEMANN (Hg.), Bw, 43, S. 39, spricht hier vom souverain d’Hannovre. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 32–34. Vgl. zu E. Ch.s Beziehung zu ihren Hofmeisterinnen Hannelore HELFER, Elisabeth Charlotte von Orléans und ihre Beziehung zu Anna Katharina und Christian Friedrich Freiherr von Harling, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 109–111, hier 109; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 65–67. Angesichts der uneinheitlichen Zeichensetzung in der Briefen Elisabeth Charlottes wird im Folgenden auf Auslassungszeichen am Zitatanfang verzichtet. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 6.7.1673, H, 30, S. 112. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 47–52. Herzog Ernst August verfügte vor seinem Tod 1698 ein bindendes Entlassungsverbot für das Ehepaar Harling. Ebd., S. 49–50.

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pflegte sie bei seiner Pockenerkrankung 1684.28 Dies zeigt, dass Anna Katharina von Harling aufgrund ihres breiten Erfahrungsschatzes zu Schwangerschaft, Geburt, Pflege und Erziehung von Kindern sowie allgemein in heilkundlichen Fragen besonders geschätzt und anerkannt war.29 Diese Bereiche sind es auch, um die die 166 Briefe Elisabeth Charlottes an ihre frühere Hofmeisterin thematisch kreisen.30 In den Jahren zwischen 1661 und 1702 konsultierte Elisabeth Charlotte Anna Katharina von Harling immer wieder in Belangen der gesunden Lebensführung im Alltag und beriet sich mit ihr über Formen der richtigen Krankenbehandlung, was die Briefe für diese Arbeit besonders interessant macht.31 In der Historiographie ist die Korrespondenz aufgrund dieses thematischen Zuschnittes jedoch lange Zeit als banale Illustration weiblicher Lebensführung abgetan worden. Die mit dem Tod seiner Frau 1702 einsetzende, sich ab 1709 intensivierende Korrespondenz mit Christian Friedrich von Harling hingegen galt gemeinhin als interessanter, weil hier auch politische Fragen und Aktualitäten verhandelt werden. Diesen Wertigkeiten entsprach auch die erste Teiledition, die 1895 von Eduard Bodemann herausgegeben wurde und den Briefen an Christian Friedrich von Harling weitaus mehr Raum gab.32 Diese wird von Hannelore Helfers neuer vollständiger und historischkritischer Edition der 478 Briefe überholt.33 Ein Abgleich mit den in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover befindlichen Originalen (Ms. XXVII 1592b–c) ist somit in diesem Fall nicht erforderlich. Der sogenannte R a u g r ä f l i c h e K o r p u s umfasst 1442 Briefe, die Elisabeth Charlotte zwischen 1676 und 1722 an ihre Halbgeschwister richtete. Aus der morganatischen Ehe von Elisabeth Charlottes Vaters Karl Ludwig mit Luise von Degenfeld waren insgesamt dreizehn Kinder hervorgegangen,34 die seit 1667 wie ihre Mutter den Titel eines Raugrafen bzw. einer Raugräfin trugen.35 Seit ihrer Rückkehr nach Heidelberg 1663 lebte Elisabeth Charlotte mit ihren Halbgeschwistern zusammen.36 Trotz der grundsätzlich nicht unproblematischen familiären Konstellation zeugt Elisabeth Charlottes spätere Korres-

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Zu den verschiedenen Tätigkeiten A. K. v. Harlings vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 35–40. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 45: „Das Bild der Anna Katharina von Harling, das sich hauptsächlich aus Briefen an und über sie formt, ist das einer starken, tatkräftigen, umsichtigen, sparsamen und gottesfürchtigen Frau, künstlerisch begabt und reich an volksmedizinischen Kenntnissen.“ Vgl. HELFER, Beziehung, S. 110 u. Liselotte, Bd. 1, S. 45 u. Nr. 1–169. S. 2.IV.2. Vgl. Eduard BODEMANN (Hg.), Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an ihre frühere Hofmeisterin A. K. v. Harling, geb. v. Uffeln, und deren Gemahl, Geh. Rath Fr. v. Harling zu Hannover, Leipzig 1895, ND Hildesheim, Zürich, New York 2004. Vgl. zur Edition Martin DINGES, Rez. zu: HELFER (Hg.), Liselotte von der Pfalz in ihren HarlingBriefen (…), in: Gesnerus 67 (2010), S. 131–132. Von diesen dreizehn Kindern erreichten nur acht das Erwachsenenalter, s. dazu Gräfin Andrea u. Graf Franz von DEGENFELD-SCHONBURG, Liselotte und die Raugrafen, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 61–64, hier 62; Margarethe KNEBEL, Liselottes Verwandte. Der weitverzweigte Stammbaum der Liselotte von der Pfalz, Weinheim 1995, S. 76. Vgl. DEGENFELD-SCHONBURG, Raugrafen, S. 64; KNEBEL, Verwandte, S. 73. Vgl. MEISNER, Kindheit, S. 44.

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EINLEITUNG

pondenz von einem liebevollen Verhältnis zu ihren Halbgeschwistern. So schrieb sie etwa an Luise: Ich bin recht touchirt, daß Ihr mir so viel affection einweist, liebe Louisse! Kein glück in der welt wolte ich durch Ewer leben noch einige kranckheit erkauffen, könte ich Euch aber einmahls dinnen undt dadurch persuadiren, wie ich gegen Euch raugrafflichen kindern gesinnet bin, würde ich es vor ein groß glück schätzen undt mehr vergnügen alß Ihr selber dran haben. 37

Mehrfach erwähnte Elisabeth Charlotte in ihren Briefen auch, wie sie ihrem Vater vor der Trennung in Straßburg 1671 schwören musste, die raugräflichen Kinder allezeit lieb zu behalten.38 Dementsprechend versuchte sie nach dem Tod ihres Vaters auch ihren Bruder Karl (1651–1685) davon zu überzeugen, für die finanzielle Versorgung ihrer raugräflichen Halbgeschwister aufzukommen.39 Insbesondere mit der 1661 geborenen Luise führte Elisabeth Charlotte eine ausführliche Korrespondenz.40 Von 1695 bis zu ihrem Tod 1722 blieb Luise, als einzige Halbschwester, die sie überlebte, Elisabeth Charlottes ständige briefliche Begleiterin.41 In den letzten Jahren vor ihrem Tod häufen sich Passagen, in denen Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre in der Pfalz im Vordergrund stehen.42 Gemeinsam mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Amalie Elisabeth (genannt Amelise) war Luise im Stift Neuburg in Heidelberg erzogen worden. Nach dem Tod ihres Vaters Karl Ludwig blieben die unverheirateten Schwestern zusammen, lebten zunächst auf den Degenfeldschen Gütern in Schwaben und nach dem Tod ihres Halbbruders, des Kurfürsten Karl, zeitweise wieder in Heidelberg. 1688 bezogen sie gemeinsam ein Haus ihres Schwagers Meinhard von Schomberg in Frankfurt a.M. Von dort unternahmen sie zahlreiche längere Reisen nach Kassel, Hannover, Berlin oder London.43 Bis zum frühen Tod Amalie Elisabeths im Sommer 1709 richtete Elisabeth Charlotte auch an sie umfassende 37 38

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Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 103. Vgl. etwa An Luise, o.D, o.O., HO, 1, 7, S. 11. An Luise, Paris, 14.4.1718, HO, 3, 906, S. 235: Ich vor mein theil bin genung recompensirt, liebe Louisse, wen, waß ich thue, Eüch gefählt undt ahngenehm ist; mehr begehre ich nicht, liebe Louisse, undt halte mich vor woll bezahlt, wen Ihr nur von meiner freündtschafft versichert seydt undt ich sehe, daß ich bey Eüch hiedurch meine versprechen halte, so ich I.G. s., mein herr vatter, getan (alß ich leyden von Straßburg weg gemust habe), Eüch kinder allezeit lieb zu behalten; daß habe ich auch redtlich gehalten. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 136. An Raugräfin Karoline, St. Cloud, 13.10.1680, HO, 6, N, 8, S. 496; Auszug aus E. Ch.s Schreiben an Karl HO, 6, N, 62, 1–3, S. 579–581; An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, NLA-HStAH, I, 190r– 190v, vgl. B, 1, 33, S. 36, St. Cloud, 13.4.1681, ebd., I, 197v, vgl. B, 1, 34, S. 36–37; St. Germain, 19.2.1682, ebd., I, 217v–218r, vgl. B, 1, 37, S. 40–41. Zu Karls Haltung gegenüber den raugräflichen Geschwistern s. Jochen GOETZE, Kurfürst Karl und das Ende der Simmerschen Linie, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 25–26. Etwa 85 % des raugräflichen Korpus sind an Luise gerichtet. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 3. Vgl. KNEBEL, Verwandte, S. 79; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 59; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 107. Vgl. bspw. An Luise, St. Cloud, 12.9.1717, HO, 3, 849, S. 88 u. ein Schreiben vom 24.11.1718, HO, 3, 970, S. 446, in dem E. Ch. eine Landkarte anforderte, um die Orte ihrer Kindheit und Jugend in Gedanken besser aufsuchen zu können. Vgl. KNEBEL, Verwandte, S. 74 u. 79–85; Friedrich August KAZNER, Louise. Raugräfin zu Pfalz, geborene Freiherrin von Degenfeld, Bd. 2: Lebensbeschreibungen der neuen Raugrafen und Raugräfinnen zu Pfalz. Mit Anmerkungen und Urkunden, Leipzig 1798, Bd. 2, S. 65–84. Meinhard von Schomberg [1641–1719] hatte 1683 Raugräfin Karoline geheiratet.

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Briefe. Seit Beginn der Korrespondenz 1698 entwickelte sich rasch ein vertrautes Verhältnis zwischen Elisabeth Charlotte und der 11 Jahre jüngeren Raugräfin. Einen eigenständigen Charakter entwickeln diese Briefe aufgrund der engen Verbindung Amalie Elisabeths zu ihrer Schwester Luise jedoch weniger.44 Häufig überschneiden sich die Inhalte der Briefe oder sind gar an beide adressiert. An Amalie Elisabeths langer Krankheit45 nahm Elisabeth Charlotte regen Anteil. Beharrlich fragte sie in jedem Brief an Luise nach Amalie Elisabeths Gesundheitszustand, diskutierte die ärztlichen Diagnosen und die angewandten Behandlungsmethoden und verlieh ihren Sorgen Ausdruck.46 Nach dem Tod Amalie Elisabeths war sie besonders bemüht, Luise in ihrer Trauer verständnisvoll zur Seite zu stehen.47 Luises Bedeutung als Briefpartnerin nahm nach Amalie Elisabeths Tod 1709 und besonders nach dem Tod Sophies von Hannover 1714 zu. Luise war seitdem Elisabeth Charlottes wichtigste Verbindung zu ihrer Herkunftsfamilie. Nur wenige Briefe dagegen sind an die Halbbrüder Karl Ludwig (genannt Karllutz) und Karl Moritz gerichtet, die beide eine militärische Laufbahn einschlugen48 und somit weit weniger Zeit für das Briefeschreiben erübrigen konnten als ihre unverheirateten Schwestern.49 Den 1658 geborenen, von Elisabeth Charlotte schwartzköpffel50 genannten Karl Ludwig51 hatte sie nach eigener Aussage so lieb, alß wenn er gantz mein bruder von allen seytten geweßen were.52 Als einziger der raugräflichen Geschwister hatte er sie auch am französischen Hof besucht.53 Als Karl Ludwig bereits 1688 bei der Belagerung von Negroponte an einem Fieber starb, beschrieb Elisabeth Charlotte nach zwei durchweinten

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Vgl. auch das Urteil bei KAZNER, Louise, S. 69–70. Amalie Elisabeths Krankheit wird in den Briefen E. Ch.s zum ersten Mal in einem Schreiben An Luise, Versailles, 16.2.1709, HO, 2, 408, S. 79 erwähnt. Erst Ende Juni diagnostizierten die Ärzte die Wassersucht, vgl. Marly, 22.6.1709, HO, 2, 426, S. 110–111. Sie starb am 13.7.1709. Vgl. bspw. An Luise, Versailles, 20.4.1709, HO, 2, 418, S. 94–95, Marly, 5.5. u. 22.6.1709, HO, 2, 420, S. 99 u. 426, S. 110–111. Vgl. An Luise, Versailles, 27.7.1709, HO, 2, 431, S. 117, Marly, 10.8.1709, HO, 2, 433, S. 118–119. Vgl. KAZNER, Louise, S. 15. An Karl Ludwig sind 24 Briefe aus dem Zeitraum zwischen 1673 bis 1688 erhalten; an Karl Moritz 14 Briefe aus den Jahren 1700–1702. Vgl. Hannelore HELFER, Gesamtinventar und Konkordanz der zur Zeit bekannten Briefe der Elisabeth Charlotte, Duchesse d‘Orléans, in: HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 967–1201, hier 1175–1176. Vgl. etwa An Karl Ludwig, St. Cloud, 27.4.1676, HO, 1, 1, S. 1 u. St. Germain, 27.11.1675, HO, 6, N, 4, S. 494. Vgl. KAZNER, Louise, S. 15–30; KNEBEL, Verwandte, S. 75–77. Dies zeigt auch ein Vergleich zwischen den Halbbrüdern Karl Ludwig und Karl Moritz. S. An Sophie, Versailles, 28.12.1686, NLA-HStAH, II, 174v, vgl. B, 1, 65, S. 77 u. St. Cloud, 10.7.1698, ebd., VIII,2, 352v–353r, vgl. B, 1, 346, S. 337: Ich glaube daß wen ich ihn [Karl Moritz] kennen solte würde ich ihn leicht lieb haben, darff nur umb ihn zu lieben gedencken, daß er papas sohn ist, allein ich glaube nicht, daß ich ihn jemahlen so lieb alß Carllutz würde haben können, den dießen hatte ich so lieb, alß wenn er gantz mein bruder von allen seÿtten geweßen were. S. auch An Karl Ludwig, St. Cloud, 17.5.1688, HO, 6, N, 18, S. 512: den ich habe Eüch alle [die raugräflichen Geschwister] lieb, aber Ihr seit mir aber doch der liebste von allen. Vgl. zu diesen Besuchen 1673 u. 1682 An Karl Ludwig, o.O. [30.6.1673], HO, 6, N, 1, S. 491, St. Cloud, 7.4.1676, HO, 6, N, 5, S. 494, Fontainebleau, 28.10.[1682], HO, 1, 10, S. 18, Versailles, 21.7.1682, HO, 1, 12, S. 21 u. A. K. v. Harling, St. Cloud, 6.7.1673, H, 30, S. 113.

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EINLEITUNG

Tagen ihre Gefühle gegenüber ihrer Tante als innerliche melancholeÿ undt betrübtnuß.54 Weit weniger überraschend kam für sie der Tod des 1671 geborenen Karl Moritz,55 den sie nie persönlich kennengelernt hatte. In den vergleichsweise kurzen Briefen, die Elisabeth Charlotte zwischen 1700 und 1702 an ihren Halbbruder schrieb, bemühte sie sich, ihn vor den möglichen Folgen seiner exzessiven Trunksucht zu warnen.56 Letztlich war diese aus Elisabeth Charlottes Sicht verantwortlich für Karl Moritz’ baldigen Tod im Jahr 1702.57 Das im Privatbesitz der Familie von Degenfeld-Schonburg befindliche raugräfliche Korpus wurde von Wilhelm Ludwig Holland zwischen 1867–1881 ohne Kürzungen ediert.58 K o r p u s S o p h i e v o n H a n n o v e r: nichts in dießer weldt ist mir lieber, alß ma tante; meine kinder und kindtskinder kommen da nicht bey59 , schrieb Elisabeth Charlotte 1705 bezeichnenderweise über ihre Tante Sophie, die zweifellos ihre wichtigste Bezugsperson war. Sophie wurde 1630 als jüngste Tochter von Friedrich V. und Elizabeth Stuart im niederländischen Exil der kurpfälzischen Familie in Den Haag geboren.60 Gemeinsam mit ihren philosophisch und künstlerisch ambitionierten Schwestern Elisabeth (1618–1680) und Luise Hollandine (1622–1709) wurde sie in Leiden erzogen.61 Für sich selbst nahm Sophie in ihren Memoiren in Anspruch, nicht nur ebenso schön und hochgebildet zu sein wie ihre älteren Schwestern, sondern darüber hinaus auch geistreich und gesellig.62 Ob54

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An Sophie, Fontainebleau, 10.11.1688, NLA-HStAH, II, 335r–335v, vgl. B, 1, 84, S. 101. Vgl. KNEBEL, Verwandte, S. 77, ALBERT, ermite, S. 30. Vgl. KAZNER, Louise, S. 30–55; KNEBEL, Verwandte, S. 85–86. Vgl. etwa An Karl Moritz, Versailles, 27.2.1701, HO, 1, 124, S. 217 u. St. Cloud, 24.3.1701, HO, 1, 128, S. 222. Vgl. etwa An Luise, 14.7.1702, HO, 1, 176, S. 298: Der fehler, so der arme Carl Moritz s. gehabt, hatt ihm leyder daß leben gekost; den ich bin versichert, daß er sich mitt dem vielem weintrincken die leber verbrant hatt. HOLLAND, Wilhelm Ludwig (Hg.), Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans. Aus den Jahren 1676–1722 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 88, 107, 122), 6 Bde., Stuttgart 1867–1881. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 3; MATTHEIER, Madame, S. 95; MICHELSEN, Genie, S. 158. An Luise, Trianon, 23.7.1705, HO, 1, 259, S. 407. S. auch An Sophie, Versailles, 29.12.1701, NLAHStAH, XI,2, 663v–664r, vgl. B, 2, 483, S. 26: E.L. haben schönheitten, so nie vergehen, nehmblich dero großen verstandt undt vivacitet dero genrositet undt gütte dero beständigkeit vor die jenigen so sie ein mahl gnädig geweßen, auch macht dießes daß man sich dermaßen ahn E.L. attachirt daß man E.L. biß ahn sein endt gantz leibeÿgen ergeben bleibt. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 32; Jochen GOETZE, Exil im Haag. Die Kinder des Winterkönigs, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 15–19, hier 15; Mathilde KNOOP, Kurfürstin Sophie von Hannover (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen 31; Niedersächsische Biographien 1), Hildesheim 1964, S. 5–6. Elisabeth hatte einen außerordentlichen wissenschaftlichen Ehrgeiz und ist für ihre enge Freundschaft zu Descartes bekannt. Luise Hollandine, die spätere Äbtissin von Maubission, war Malerin. S. KNEBEL, Verwandte, S. 33–35 u. 44–46; KNOOP, Kurfürstin, S. 6–8 u. 15–16. S. dazu Sophies Selbstaussagen über ihren eigenen Witz und Esprit und die Talente ihrer Schwestern geschildert bei VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 41 u. 43–44; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 16 u. 18–19; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 26 u. 28–29; KNEBEL, Verwandte, S. 46; Gerda UTERMÖHLEN, Sophie, Kurfürstin von Braunschweig-Lüneburg, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt

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wohl es „keine von höherer Geburt zu wählen gab“ als sie, wie sie von Standesstolz durchdrungen in ihren Memoiren formulierte,63 war es aufgrund des sozialen Abstiegs, den die kurpfälzische Familie durch den missglückten Griff nach der böhmischen Königskrone hinnehmen musste, nicht einfach, einen geeigneten Heiratskandidaten für Sophie zu finden.64 So musste sie 1650, im Alter von bereits 20 Jahren, zunächst ihrem Bruder Karl Ludwig an den Heidelberger Hof folgen,65 wo sie sich in den folgenden Jahren intensiv mit ihrem Neffen Karl (*1651) und ihrer Nichte Elisabeth Charlotte (*1652) beschäftigte.66 Erst acht Jahre und einige gescheiterte Heiratsprojekte später wurde Sophie verheiratet. Nach der Hochzeit mit Ernst August von Braunschweig-Lüneburg am 30. September 1658 in Heidelberg übersiedelte Sophie an den Hannoveraner Hof.67 Nur ein Jahr später sollte ihr ihre kleine Nichte Elisabeth Charlotte auf Geheiß ihres Bruders Karl Ludwig dorthin folgen. Von 1659 bis 1662 lebte Elisabeth Charlotte mit der Familie ihrer Tante im Leineschloss in Hannover und danach auf der Iburg bei Osnabrück, wo Ernst August zum Bischof erklärt worden war.68 Erst nachdem ihre Mutter, Kurfürstin Charlotte, 1663 Heidelberg verlassen hatte, kehrte Elisabeth Charlotte in die Pfalz zurück.69 Ihre spätere Korrespondenz ist gespickt mit Erinnerungen an die vier Jahre in Hannover, die ihr Biograph Dirk Van der Cruysse als „glücklichste Zeit“70 in ihrem Leben bezeichnete. Zwischen Nichte, Tante und Onkel hatte sich eine enge Bindung entwickelt. Elisabeth Charlotte liebte Sophie und Ernst August wie Mutter und Vater, wie in einem Brief vom November 1682 deutlich wird: auch wirdt Carllutz E.L. sagen können mitt waß für freüden ich geleßen daß oncle jetzt mein papa71 sein will, ich habe E.L. beÿderseits ja stehts vor vatter undt mutter gehalten undt keinen

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Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 53–59, hier 46. Vgl. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 46; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 21; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 31. Vgl. KNOOP, Kurfürstin, S. 27; Christine VAN DEN HEUVEL, Sophie von der Pfalz (1630–1714) und ihre Tochter Sophie Charlotte (1668–1705), in: Kerstin MERKEL u. Heide WUNDER (Hg.), Deutsche Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen, Darmstadt 2000, S. 77–92 u. 256–257, hier 80. Vgl. UTERMÖHLEN, Sophie, S. 53; KNOOP, Kurfürstin, S. 29; Alheidis von ROHR, Sophie Kurfürstin von Hannover (1630–1714). Begleitheft zur Ausstellung im Historischen Museum am Hohen Ufer, Hannover 1980, S. 96 u. 30 u. dies., Sophie Kurfürstin von Hannover (1630–1714). Standesbewußt und lebensklug, in: Hiltrud SCHROEDER (Hg.), Sophie & Co. Bedeutende Frauen Hannovers. Biographische Porträts, Hannover 1991, S. 29–43, hier 31. Vgl. Karin FEUERSTEIN-PRAßER, Sophie von Hannover (1630–1714). „Wenn es die Frau Kurfürstin nicht gäbe …“, Regensburg 2004, S. 66–67. Vgl. ROHR, Sophie Begleitheft, S. 31 u. Sophie, S. 31; KNOOP, Kurfürstin, S. 49–56. Vgl. KNOOP, Kurfürstin, S. 61; Silke LESEMANN, Die „Mutter der Könige“ und der englische Thron. Kurfürstin Sophie von Hannover, in: Martina SCHATTKOWSKY (Hg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 6), Lepizig 2003, S. 249–262, hier 251; VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 80–81. Vgl. MEISNER, Kindheit, S. 44. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 75. So auch schon KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 11. Vgl. auch UTERMÖHLEN, Sophie, S. 55; LEBIGRE, Liselotte, S. 41; WILLE, Pfalzgräfin, S. 192–193. E. Ch.s Vater Karl Ludwig war am 28.8.1680 verstorben.

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EINLEITUNG

unterschiedt schir in meinem hertzen entpfunden von denen, so mir von natur so verwandt sein, undt wahren, auch kann ich E.L. versichern daß sie keines von dero kindern haben, so E.L. beÿderseits mehr ehret respectiret undt von gantzem hertzen liebet, alß ich thue undt biß ahn mein letztes endt thun werde, ja auch so williger ist, E.L. zu gehorsamen.72

Bis zu Sophies Tod 1714 im hohen Alter von 85 Jahren73 korrespondierten Tante und Nichte mindestens einmal pro Woche – verglichen mit anderen Korrespondenzen Elisabeth Charlottes – mit außergewöhnlicher Intensität: Nicht wenige Briefe umfassen bis zu 25 Seiten.74 Die besondere emotionale Bedeutung, die gerade Sophies Briefe für Elisabeth Charlotte hatten, zeigt sich auch darin, dass Elisabeth Charlotte die Schreiben ihrer Tante als theill ihrer reliquien bezeichnete und sie entsprechend sorgfältig verwahrte.75 Die (briefliche) Beziehung zwischen Tante und Nichte war durch einen gemeinsam geteilten Sinn für Humor geprägt. An spöttischen, mit Vorliebe in der plattdeutschen Sprache ausgedrückten Derbheiten, auch in Bezug auf die sonst in schriftlichen Zeugnissen eher tabuisierten körperlichen Verrichtungen,76 schienen beide besondere Freude zu haben.77 Der Verlust ihrer wichtigsten Bezugsperson kam für Elisabeth Charlotte einer Katastrophe gleich. Ein Brief an ihre Halbschwester Luise zum Tod Sophies verdeutlicht die besondere Verbindung, die für die Briefe konstitutiv ist: Dieße liebe churfürstin s. war all mein trost in allen widerwertigkeitten, so mir hir so heüffig zugestoßen sein; wen ich es I.L. s. geklagt undt schreiben wider von sie entpfangen, war ich wider gantz getröst. Nun bin ich, alß wen ich gantz allein auff der weldt were.78

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An Sophie, Paris, 24.11.1682, NLA-HStAH, I, 271r, vgl. B, 1, 42, S. 55. S. auch Fontainebleau, 29.9.1681, ebd., I, 207r–207v, St. Cloud, 14.6.1696, ebd., VI, 98r: seÿder ich mich selber kene habe ich E.L. allezeit alß eine fraw mutter geehret gerespectiret undt geliebet undt werde es biß in mein endt thun. Paris, 20.2.1698, ebd., VIII,1, 85r, vgl. B, 1, 332, S. 324: undt wen E.L. meine leibliche fraw mutter weren, könnte ich sie nicht mehr respectiren undt von grundt der seelen lieben alß ich thue undt auch thun werde, biß es mitt mir ahn dem sein wirdt, wo es leÿder jetzt mitt oncle ist. E. Ch. an Spanheim, Versailles, 4.3.1705, in: Sven EXTERNBRINK, Quel Carnaval mon Dieu… Ein unbekannter Brief von Elisabeth Charlotte von der Pfalz an Ezechiel Spanheim anlässlich des Todes der Königin Sophie Charlotte von Preußen (1705), in: ZGO 158 (2010), S. 259–271, hier 2, S. 270: ma tante que j’ay (...) respectée et aimée comme une veritable Mere. Sophie starb bei einem Spaziergang in den Gärten von Herrenhausen an einem Schlaganfall. Vgl. UTERMÖHLEN, Sophie, S. 58; ROHR, Sophie Begleitheft, S. 38 u. Sophie, S. 39; KNOOP, Kurfürstin, S. 245–246. Vgl. MATTHEIER, Madame, S. 95. An Sophie, St. Cloud, 10.10.1673, NLA-HStAH, I, 13r, vgl. B, S, 4, S. 4: auffzuheben undt verwaren, wie ich E.L. schreiben thue, welches ein theill sindt von meinen reliquien ist, so ich ahn meisten verware, weillen E.L. die eintzige heÿllige sein, wodurch mir die großte gnade von Gott erwißen worden undt welche mir ahm meisten gutts gethan haben. Vgl. z.B. An Sophie, St. Germain, 24.7.1678, NLA-HStAH, I, 113r, vgl. B. S, 1, 20, S. 23, Versailles, 18.1.1693, ebd., IV, 14r–14v, vgl. B, 1, 158, S. 175, St. Cloud, 27.9.1696, GWLB/NLB, 55r, vgl. B, 1, 254, S. 256, Fontainebleau, 8.10.1704, NLA-HStAH, XIV, 382v–383v, vgl. B, 2, 548, S. 89, Versailles, 23.6.1707, ebd., XVII,1, 451r, vgl. B, 2, 635, S. 162. Vgl. UTERMÖHLEN, Sophie, S. 55; KAPP, Pathos, S. 181 u.188–189; MICHELSEN, Genie, S. 165–166. An Luise, Marly, 24.6.1714, HO, 2, 652, S. 399–402.

QUELLENLAGE UND QUELLENKORPUS

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Die Schätzungen zufolge ca. 34.000 Manuskriptseiten umfassenden Briefe,79 die Elisabeth Charlotte an ihre Tante Sophie von Hannover schrieb, bilden den größten erhaltenen Einzelkorpus der Gesamtkorrespondenz. Sie werden im Niedersächsischen Landesarchiv/Hauptstaatsarchiv Hannover aufbewahrt.80 Diese Briefe sind der Forschung – aufgrund ihrer enormen Fülle – bisher nur über eine Teiledition zugänglich geworden, die der Hannoveraner Archivar Eduard Bodemann Ende des 19. Jahrhunderts erstellt hat.81 Bodemann hat im Rahmen seiner zweibändigen Edition Schätzungen zufolge 8 % des Gesamtkorpus ediert82 und dabei „alle historisch bemerkenswerten und charakteristischen Stücke“83 aus den Briefen ausgewählt.84 Bei aller Kritik an Bodemanns Auswahl85 und den unübersehbaren editorischen Schwächen seiner Arbeit86 ist es jedoch mehr als bezeichnend, dass trotz des großen Interesses, das den Briefen Elisabeth Charlottes in der Historiographie bisher entgegengebracht wurde, keine neuere Edition dieses so zentralen Korpus vorliegt. Ein Anfang der 1990er Jahre projektiertes und auf zehn Jahre angelegtes Editionsvorhaben in deutsch-französischer Kooperation von Klaus J. Mattheier und Paul Valentin scheiterte an seiner Dimensionierung, also letztlich an der Fülle des zu edierenden Quellenmaterials.87 Dieses übersteigt leider auch die Möglichkei79 80

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Vgl. VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 20. Niedersächsisches Landesarchiv/Hauptstaatsarchiv Hannover, NLA-HStAH, Hann. 91, Kurfürstin Sophie 1/I–XXIV. Nach Auskunft des Archivs ist eine Digitalisierung der Briefe angedacht, jedoch noch nicht begonnen worden. Eine vergleichsweise geringe Zahl der Briefe an Sophie v. Hannover befindet sich im Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Niedersächsische Landesbibliothek Hannover unter der Signatur GWLB/NLB, Mi Fi 82:108. Eduard BODEMANN (Hg), Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an die Kurfürstin Sophie von Hannover: ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 17. u. 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Hannover 1891, ND Hildesheim, Zürich, New York 2003, Sigle: B, 1–2. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 20; LEFÈVRE Sprache, S. 21–22; KAPP, Pathos, S. 176. S. B, 2, S. IV. S. auch VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 3. Vgl. LEFÈVRE, Sprache, S. 22; BROOKS, Nostalgia, S. 4, dem zufolge Bodemanns Auswahl E. Ch.s Kritik an Frankreich künstlich hervorhebe. Auf der Grundlage meiner Recherchen in den Originalen im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover kann ich diese Kritik nur bedingt teilen. Nationalistische Deutungen beruhen m.E. eher auf einer anachronistischen Lesart der Quellen, der auch Bodemann anhing, als letztlich auf seiner Auswahl, die durchaus verschiedene Facetten E. Ch.s zeigt. Viele der Aussagen in den von ihm edierten Passagen habe ich an anderen nicht edierten Stellen in ähnlicher Weise wiederfinden können. Vgl. bspw. die folgende edierte Passage über E. Ch.s nächtlichen Verzehr von Specksalat An Sophie, Marly, 6.5.1700, NLAHStAH, X, 316r–317v, vgl. B, 1, 411, S. 400–401 sowie Versailles, 5.12.1709, ebd., XIX,2, 1003r– 1004v. Vgl. LEFÈVRE Sprache, S. 22: Bodemann habe „auch Fragmente verschiedener Briefe zusammengefaßt und als Auszug eines und desselben Briefes herausgegeben“. Daneben gibt es keine Hinweise auf Fehler in der chronologischen Ordnung, was das Auffinden der edierten Passagen bisweilen sehr mühsam macht. Dies trifft meinem Eindruck nach insbesondere für die späteren Jahre ab ca. 1700 zu. Diesen Hinweis verdanke ich Dr. Hannelore Helfer (Basel) sowie der Direktorin des Niedersäschsischen Landesarchivs/Hauptstaatsarchivs Hannover Dr. Christine van den Heuvel. S. auch Jürgen VOSS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Briefe an Johanna Sophie von SchaumburgLippe, St. Ingbert 2003, S. 119, Anm. 3; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 17. Anm. 1 u. S. 18, Anm. 2; UTERMÖHLEN, S. 59, Anm. 1. Aus der Kooperation ging der 1990 erschienene

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EINLEITUNG

ten einer Qualifikationsarbeit, deren Potential primär in einem innovativen inhaltlichen Zugang liegt.88 Aus forschungspragmatischen Gründen konnte das Korpus daher nur entlang der bei Bodemann edierten Passagen einbezogen werden.89 Diese wurden jedoch mit den Originalen abgeglichen, sofern nötig korrigiert90 und entsprechend zitiert.91

2. Nebenkorpora Zu den verschiedenen kleineren Korrespondenzen Elisabeth Charlottes, die im Rahmen der vorliegenden Studie systematisch ausgewertet wurden, gehören die Briefe an die Hannoveraner Kur- und englische Kronprinzessin C a r o l i n e v o n W a l e s (1683–1737). Obwohl die Ehefrau von Sophies Enkel Georg August (1683–1760) und Elisabeth Charlotte sich nicht persönlich kannten, standen sie seit 1715 in regem Briefwechsel. Caroline stammte aus dem Haus Ansbach-Brandenburg. Als sie drei Jahre alt war, starb ihr Vater, Markgraf Johann Friedrich, an den Pocken, woraufhin Erbstreitigkeiten in der Markgrafschaft ausbrachen. Die Witwe Eleonore Erdmuthe Luise, Carolines Mutter, wurde von der Vormundschaftsregierung ausgeschlossen und auf den Landsitz Crailsheim geschickt, wo sie mit ihren beiden Kindern in ärmlichen Verhältnissen leben musste. 1687 ging sie in ihre Heimat nach Sachsen-Eisenach zurück und verheiratete sich 1692 erneut. Nachdem auch ihr zweiter Gatte, der sächsische Kurfürst Johann Georg, 1694 den Pocken erlegen war, starb auch Eleonore Erdmuthe Luise nur zwei Jahre später. Caroline wurde also im Alter von 13 Jahren Vollwaise und ging an den Hof ihres Vormundes, des späteren preußischen Königs Friedrich I. Dort übernahm Sophie Charlotte, Tochter Sophies von Hannover, Carolines Erziehung. 1705 heiratete die Ziehtochter Caroline Sophie

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Sammelband MATTHEIER u. VALENTIN (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit, hervor. Vgl. zum Editionsvorhaben auch LEFÈVRE, Sprache, Vorwort, S. 17–18, 27 u. 334. Die einzige publizierte Arbeit, die überhaupt die Originale zitiert, ist die sprachwissenschaftliche Dissertation des frz. Germanisten Michel Lefevre (1996). Das von ihm bearbeitete Briefkorpus besteht aus 206 teilweise unedierten oder zuvor nur bruchstückhaft edierten Originalen. Davon sind 29 Briefe aus den Jahren 1676–1693 (Vol. I–IV) entnommen sowie die Jahrgänge 1696 (VI) und 1711 (XXI, 1–2) komplett analysiert worden. Bei einer sprachwissenschaftlichen und auf die Briefe an Sophie beschränkten Arbeit fiel so eine chronologische Auswahl leichter als bei inhaltlichthematischem Forschungsinteresse, wie Lefevre selbst darlegt. Vgl. LEFÈVRE, Sprache, S. 16–17. Zusätzlich konnten ausgewählte Querverweise auf die Briefe an Sophie aus anderen Korrespondenzen sowie einige kürzere Zeitabschnitte berücksichtigt werden. Dies betrifft die wenigen überlieferten Briefe der Jahre 1672–1676, die E. Ch.s Einleben am Hof dokumentieren, die Briefe von Februar bis Juli 1682 zur Melancholie, die Briefe von April bis Dezember 1693, dem Jahr ihrer Pockenerkrankung, die Briefe vom Februar 1705, dem Monat, in dem Sophies Tochter Sophie Charlotte starb, die Briefe von Juni bis August 1709, dem Zeitraum von schwerer Krankheit und Tod von E. Ch.s Halbschwester Amalie Elisabeth, sowie einige der Querverweise auf Heilmitteltransfers. Vgl. zu den jeweiligen Briefen das Briefinventar in HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 1142–1166. Die Korrekturen betreffen neben ergänzten Auslassungen vor allem die Datumsangaben. Bodemann hat häufig Passagen aus mehreren Briefen unter einer Dokumentnummer wiedergegeben und dieser auch nur ein Datum, manchmal sogar fiktives Datum, zugeordnet. Vgl. LEFÈVRE, Sprache, S. 19: „Was unseren Bestand an Briefen betrifft, so haben sich nur äußerst wenig Personen die Mühe gemacht, nach Hannover zu pilgern, um jene frühen Editionen der Briefe mit den Originalen zu vergleichen – davon zeugen die wenigen Namen, die auf den Benutzerzetteln stehen, die den Volumina im Archiv beigelegt sind.“

QUELLENLAGE UND QUELLENKORPUS

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Charlottes Neffen und übersiedelte an den Hannoveraner Hof, wo sie eine enge Verbindung zur Mutter ihres Schwiegervaters, Sophie, aufbaute.92 Seit Sophies Tod 1715 informierte Caroline Elisabeth Charlotte in ihren Briefen über das Haus Hannover, das inzwischen die Thronfolge in England angetreten hatte.93 Elisabeth Charlotte schrieb zwischen 1715 und 1722 etwa 511 bisweilen lange Briefe an den Londoner Hof. Dieses Korpus wurde bereits 1789 erstmals veröffentlicht – allerdings in stark gekürzten Auszügen als ‚Anekdoten vom Französischen Hofe‘.94 Die Originalbriefe gelten seitdem als verschollen.95 Den Anekdoten ist jedoch von Seiten der Liselotte-Forschung von jeher großes Interesse entgegengebracht worden, so dass sie sowohl 1909 von Hans Helmolt96 als auch 2006 mit einem Nachwort von Maria Moog Grünewald als Nachdruck herausgegeben wurden.97 Zugegebenermaßen ist die Verwendung der Anekdoten quellenkritisch höchst problematisch, da die für die Interpretation eigentlich unerlässlichen Kontexte der Briefpassagen fehlen. Aufgrund des mit etwa 2000 Briefen sehr breiten Quellenkorpus der vorliegenden Studie können die Anekdoten jedoch mit inhaltlich ähnlichen Aussagen aus anderen Briefen parallel gelesen, kontextualisiert und interpretiert werden und somit in die Argumentation einbezogen werden. In enger Verbindung zu den Briefen an Caroline stehen 52 Briefe an J o h a n n a S o p h i e v o n S c h a u m b u r g - L i p p e (1674–1745), die, bis dato vollkommen unbekannt, 2003 von Jürgen Voss kritisch ediert, kommentiert und herausgegeben wurden.98 92

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Vgl. Hermann DAHLHAMMER, Caroline von Ansbach, in: Adolph LANG in Zusammenarbeit mit Werner BÜRGER, Hermann DAHLHAMMER und Martin KRIEGER (Hg.), Maler und Poeten, Bürger und Markgrafen. Aus Ansbachs Geschichte, Ansbach 1978, S. 173–174; Marita A. PANZER, Englands Königinnen. Von den Tudors zu den Windsors, Regensburg 2001, S. 195–196. Zur englischen Sukzession s. John VAN DER KISTE, King George II. and Queen Caroline, Thrupp, Stroud 1997, S. 27–32; zur Rolle Sophies hierbei LESEMANN, „Mutter der Könige“, S. 256–262; KNOOP, Kurfürstin, S. 196–214. Elisabeth Charlotte von Orléans. Anekdoten vom Französischen Hofe vorzüglich aus den Zeiten Ludewigs des XIV. und des Duc Regent welchen noch ein Versuch über die Masque de Fer beigefügt ist, Braunschweig (vorgeblich Straßburg) 1789, ND mit einen Nachwort von Maria MOOG-GRÜNEWALD, Hildesheim, Zürich, New York 2006, Sigle: A. Überholt die ältere Ausgabe v. Hans HELMOLT, Kritisches Verzeichnis der Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, Leipzig 1909. Vgl. V, S 120; Maria MOOG-GRÜNEWALD, Eine Kuriose Editionsgeschichte: Die Anekdoten vom Französischen Hofe der Liselotte von der Pfalz, in: Elisabeth Charlotte von Orléans. Anekdoten vom Französischen Hofe vorzüglich aus den Zeiten Ludewigs des XIV. und des Duc Regent welchen noch ein Versuch über die Masque de Fer beigefügt ist. Mit einen Nachwort von Maria Moog-Grünewald, Hildesheim, Zürich, New York 2006, S. 1–30, hier 1–2; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 16–17. Als unklar galt lange, ob nicht auch Auszüge aus den Briefen an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel enthalten waren. Dies ist allerdings weniger wahrscheinlich, denn Anton Ulrich starb bereits 1714, weswegen die Briefe umdatiert worden sein müssten. Hans F. HELMOLT (Hg.), Elisabeth Charlottes Briefe an Caroline von Wales und Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, Annaberg 1909. Elisabeth Charlotte von Orléans. Anekdoten vom Französischen Hof, ND 2006. Jürgen VOSS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Briefe an Johanna Sophie von Schaumburg-Lippe, St. Ingbert 2003, Sigle: V, hier S. 120. Vgl. auch Jürgen VOSS, 52 unbekannte Briefe der Liselotte von der Pfalz an die Gräfin Johanna Sophie von Schaumburg-Lippe, in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von

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EINLEITUNG

Die Adressatin stammte aus dem Haus Hohenlohe-Langenburg und hatte 1691 Friedrich Christian, den Grafen von Schaumburg-Lippe (1655–1728), geheiratet.99 1702 floh sie zusammen mit ihrem Sohn aus dieser Ehe, hielt sich zunächst in Minden und bis 1710 in Stadthagen auf. Als sie gezwungen war, die Landesherrschaft ihres Mannes endgültig zu verlassen, kam sie am Hof Sophies von Hannover unter, wo sie inoffiziell das Amt einer Hofdame der Kurprinzessin Caroline bekleidete. Diese begleitete sie im Zuge der englischen Thronsukzession der Welfen 1714 an den Hof in London.100 Elisabeth Charlotte und Johanna Sophie sind sich nie persönlich begegnet. Die enge Verbindung der Gräfin zu Sophie von Hannover war für Elisabeth Charlotte allerdings Grund genug, um mit ihr zu korrespondieren und ihr von Beginn an zu versichern, sie werde allezeit eine wahre freundin ahn ihr haben.101 Der Briefwechsel beginnt im Jahr 1717, als Johanna Sophie Elisabeth Charlotte stellvertretend über die Niederkunft der Kronprinzessin mit einem Sohn unterrichtete.102 Diesem ersten Brief folgten 51 weitere, in deren Mittelpunkt das Haus Hannover am englischen Hof und insbesondere die konfliktreiche Beziehung zwischen dem Kronprinzenpaar und König Georg I. stand.103 Daneben gibt die Korrespondenz wie die meisten Briefe Elisabeth Charlottes aber auch diverse Einblicke in ihr Alltagsleben, was sie auch für die Fragestellung der vorliegenden Studie interessant macht. 104 Zu den Nebenkorpora zählen auch die im Zeitraum zwischen März 1675 und Juli 1711 an É t i e n n e P o l i e r d e B o t t e n s (1620–1711) gerichteten Briefe. Polier kam aus einer ursprünglich aus der Auvergne stammenden reformierten Familie und war 1620 in Lausanne geboren, wohin die Familie aufgrund der konfessionellen Konflikte in Frankreich migriert war. Dort bekleidete sein Vater ein Bürgermeisteramt und ging theologischen Studien nach. Étienne Polier folgte den Spuren seines Urgroßvaters, der dem pfälzischen Kurfürsten Ottheinrich gedient hatte, und trat seinerseits im Jahr 1657 als Kammerherr in die Dienste Karl Ludwigs von der Pfalz ein. Seit 1662 war er erster Stallmeister (prémier escuyer) der Kurprinzessin Elisabeth Charlotte und als Vorsteher einer Vielzahl unterer Bediensteter ihres Hauses für ihre Verpflegung und Unterbringung

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der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, S. 201–209, hier 203. Vgl. ebd.; Anna-Franziska von SCHWEINITZ, Johanna Sophia Gräfin zu Schaumburg-Lippe. Gräfin zu Hohenlohe-Langenburg. 1673–1743, in: Gerhard TADDEY u. Joachim FISCHER im Auftr. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg (Hg.), Lebensbilder aus Baden-Württemberg (Lebensbilder aus Baden-Württemberg 20), Stuttgart 2001, S. 100–128, hier 101, die angibt, der Taufname habe Johanna Sophia gelautet, wohingegen sie selbst Johanne Sophie bevorzugte. Vgl. V, S. 120; VOSS, 52 unbekannte Briefe, S. 203; SCHWEINITZ, Johanna Sophia, S. 106–110. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, Paris, 23.11.1717, V, 1, S. 7–8: Die fraw gräffin hatt Ihren brieff nicht zu lange gemacht, sie kan auch woll gedenken, daß Ich gerne mitt Ihr sprechen den ma tante unßere liebe Churfürstin S. hatt mir gar offt von den fraw gräffin gesprochen mitt so großer Estime sie sie mir auch jmpirmiert hatt, hirdurch sieht sie daß Ich sie mehr kenne alß sie meint, und Ihr meine freundtschafft so sie begehrt wie wohl gar ein unnützt meuble doch von hertzen gebe und kan sie versichert sein fraw gräffin daß sie allezeit eine wahre freundin ahn mir haben wirdt undt mich glücklich schätzen würde wen Ich Ihr solches durch einige ahngenehme Diensten persuadiren kente. S. auch St. Cloud, 19.5.1718, V, 25, S. 45. Vgl. V, S. 120; VOSS, 52 unbekannte Briefe, S. 204. Vgl. ebd., S. 121; ebd., S. 204–205. Vgl. V, S. 123.

QUELLENLAGE UND QUELLENKORPUS

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verantwortlich.105 Er folgte Elisabeth Charlotte bei ihrer Verheiratung 1671 nach Frankreich, wo er sich in einem kleinen Haus in der Nähe des Pariser Palais Royal niederließ.106 War Elisabeth Charlotte in Paris, besuchte Polier sie – hielt sie sich jedoch in Versailles oder einem der anderen Schlösser der Île-de-France auf, kommunizierten beide per Brief miteinander. Überliefert sind aus dem ursprünglich wohl deutlich umfangreicheren Korpus über 350 Briefdokumente unterschiedlicher Länge, von ausführlichen Briefgesprächen bis hin zu kurzen Notizen, in denen etwa Zeitpunkt und Ort für persönliche Treffen mitgeteilt werden.107 Die auf Französisch verfassten Dokumente wurden in Rahmen von Dirk van der Cruysses Recherchen zu seiner Gesamtedition der französischen Korrespondenz Elisabeth Charlottes im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München wiederaufgefunden, von Van der Cruysse kritisch ediert, kommentiert und 1989 erstmals vollständig in einem modernisierten und gut lesbaren Französisch herausgegeben.108 Für die vorliegende Studie sind die Briefe von großer Bedeutung, schließlich spielte Étienne Polier in seiner Funktion als Stallmeister eine bedeutende Rolle in der (Körper- und Krankheits-)Sozialisation Elisabeth Charlottes am Heidelberger Hof.109 Dieses Hofamt kann als maskulines Pendant zur Position einer Hofmeisterin aufgefasst werden.110 Obwohl Polier in den Jahren seit 1671 nicht mehr offiziell zu Elisabeth Charlottes Hofstaat zählte, gehörte der glaubensgewisse Calvinist zu ihren wichtigsten Beratern in religiösen Belangen und genoss auch in Bezug auf Gesundheit und Heilkunde ihr besonderes Vertrauen. Polier, der sie seit ihrer frühesten Kindheit kannte, wie sie auch selbst hervorhob,111 zählte für Elisabeth Charlotte zu denjenigen Personen, zu denen sie in ihren Briefen mit offenem Herzen (à cœur ouvert) sprechen konnte.112 Des Weiteren werden 34 von Mathilde Knoop 1957 edierte und herausgegebene Briefe, die Elisabeth Charlotte zwischen 1719 und 1722 an den in Hannoveraner Diensten stehenden Kammerpräsidenten F r i e d r i c h W i l h e l m v o n S c h l i t z , g e n a n n t v o n G ö r t z (1647–1728) schrieb, hinzugezogen.113 In der Zeit der Regentschaft ihres Sohnes seit 1715 erreichten Elisabeth Charlotte nicht wenige Bitten, ihren Einfluss auf Philippe in bestimmten Angelegenheiten geltend zu machen – so auch von Görtz, der für seinen lange Jahre im französischen Militär dienenden Vetter, den Oberst von 105

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Vgl. Bestallung des Étienne Polier de Bottens (1663), in: Friedrich von WEECH, Zur Geschichte der Erziehung des Kurfürsten Karl von der Pfalz und seiner Schwester Elisabeth Charlotte, in: ZGO 8 (1893), S. 101–119, hier S. 117 (Zit.)–119. Vgl. VdC, Lf, S. 18; VAN DER CRUYSSE, Briefwechsel, S. 100 u. Madame, S. 96–97; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 196. Vgl. VdC, Lf, S. 18–19, VAN DER CRUYSSE, Briefwechsel, S. 100–101. S. auch das Inventar bei HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 1189–1193. Zur Editionsgeschichte s. VdC, Lf, S. 19–21. Vgl. bes. Nr. 3 u. 8 der Erziehungsinstruktionen WEECH, Erziehung, S. 118. Vgl. zum in den Erziehungsinstruktionen vorgesehenen Zusammenwirken von Hofmeisterin und Stallmeister ebd., Nr. 8. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 16.8.1684, VdC, Lf, 19, S. 51: Vous connaissez mon cœur dès ma tendre enfance. Vgl. An Étienne Polier, Versailles, 3.7.1684, VdC, Lf, 13, S. 47. Mathilde KNOOP (Hg.), Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orleans an den Freiherrn Friedrich Wilhelm von Schlitz, gen. von Görtz, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins, Neue Folge 42 (1957), S. 55–98, hier 55. S. auch HELFER, Gesamtinventar, S. 1141.

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EINLEITUNG

Schwarz, um eine Erhöhung seiner Pensionsansprüche ersuchen wollte. Raugräfin Luise, die aus Hannoveraner Zeiten gut mit Görtz bekannt war, hatte den Kontakt zu Elisabeth Charlotte vermittelt. Diese half Görtz, den sie zuvor schon in seiner Eigenschaft als Hofmeister in holsteinischen und eisenachischen Diensten persönlich kennengelernt hatte,114 indem sie eine auf Französisch verfasste Bittschrift an ihren Sohn weiterleitete, die die Situation des Oberst von Schwarz erklärte. Seit dem Ende der 1660er Jahre bis zum Spanischen Erbfolgekrieg hatte Schwarz in einem elsässischen Regiment gedient und war von Ludwig XIV. für seine Verdienste mit dem St. Ludwigsorden ausgezeichnet worden. Seine Pension reichte indes kaum für seinen Lebensunterhalt.115 Obwohl Elisabeth Charlotte ihren eigenen Aussagen zufolge kaum etwas so sehr ablehnte wie Einmischungen in politische Angelegenheiten, freute sie sich in einem Brief an Görtz zu Beginn des Jahres 1719 in dießer kleinen negotiation reussirt zu haben und begriff ihr Engagement als Freundschaftsdienst und Beweis ihrer unveränderten Zuneigung.116 Auch im April des Jahres 1719 intervenierte Elisabeth Charlotte noch einmal in Görtz‘ Interesse – diesmal in einer politisch weitaus brisanteren Angelegenheit für dessen Neffen Georg Heinrich, der von der schwedischen Krone als Landesverräter angeklagt worden war.117 Daraufhin entwickelte sich eine bis wenige Monate vor Elisabeth Charlottes Tod andauernde Korrespondenz. Mehrfach lagen Görtz‘ Briefen Dankesbekundungen in Form von Nahrungsmittelsendungen bei118 und immer wieder berichtete Elisabeth Charlotte in ihren Antwortschreiben über ihre kulinarischen Gewohnheiten, was für die in der vorliegenden Studie behandelten Zusammenhänge besonders aufschlussreich ist.

3. Ergänzende Überlieferungen Als Ergänzung zu Elisabeth Charlottes Briefen wurde darüber hinaus auf verschiedene Korrespondenzen, Memoiren sowie Chroniken zurückgegriffen, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden sollen. Hierzu zählen in erster Linie Briefe und Briefwechsel aus Elisabeth Charlottes verwandtschaftlichem Umfeld.119 Neben den Briefen zu Elisabeth Charlottes Verheiratung zwischen ihrem Vater Karl Ludwig und dessen Schwägerin Anna Gonzaga,120 die im Anfangskapitel des ersten Teils ausführlich vorgestellt und ana114 115 116

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K, S. 56–57. An Görtz, St. Cloud, 26.11.1719, K, 13, S. 74. Ebd., S. 58. Vgl. An Görtz, Paris, 19.1.1719, K, 1, S. 61–62: Bin aber doch froh, in dießer kleinen negotiation reussirt zu haben, damitt Er sehen mag, dass ich nicht geendert habe undt noch eben dießelbe estime vor Baron Goertz habe, so ich gehabt, wie Er hir war, undt dass Er allezeit ein sicheres vertrawen haben kann. Zu Mittlerdiensten E. Ch.s s. den kurzen Abriss bei Jürgen VOSS, Liselotte von der Pfalz (1652–1722). Eine europäische Fürstin und ihr Zeitalter, in: Pfälzer Heimat 52,2–3 (2001), S. 45–60, hier 49. K, S. 59. Vgl. ebd. sowie die Antwortschreiben An Görtz, St. Cloud, 4.5.1719, K, 3, S. 62–63, 13.7.1719, K, 5, S. 65, 23.5.1720, K, 18, S. 79, 15.5. u. 6.7.1721, K, 27, S. 90 u. 29, S. 92, Paris, 4.4.1720, K, 16, S. 77 u. 30.3.1721, K, S. 88; auch An Luise, St. Cloud, 9.5.1720, HO, 5, 1120, S. 142. Zum Überblick s. VAN DER CRUYSSE, Constat, S. 14–15. Eheanbahnungen gehörten zu den zentralen Funktionen des höfischen Briefes, s. Sophie RUPPEL, „Das Pfand und Band aller Handlungen“ – Der Höfische Brief als Medium kulturellen Austauschs, in: Dorothea NOLDE u. Claudia OPITZ (Hg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure

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lysiert werden,121 sind für die hier verfolgte Fragestellung nach den familiären und verwandtschaftlichen Prägungen Elisabeth Charlottes vor allem die Briefe ihrer Tante Sophie von Hannover an deren Bruder Karl Ludwig aus den Jahren 1658–1674 sowie der den Zeitraum 1674–1680 umfassende Briefwechsel der Geschwister von eminenter Wichtigkeit.122 Sowohl Sophie als auch Karl Ludwig standen zudem im Briefkontakt mit den Raugrafen und -gräfinnen.123 Auch diese Korrespondenzen sind für die vorliegende Arbeit von Interesse, da hier das gleiche generationelle Verhältnis zwischen Schreibenden und Adressierten vorliegt wie zwischen Elisabeth Charlotte und ihrem Vater124 bzw. ihrer Tante. Daneben sind insbesondere die 1680 verfassten Memoiren Sophies von Hannover zu berücksichtigen,125 in denen die Kurfürstin ausführlich ihr Selbstverständnis als adelige Frau von hoher Geburt darlegt.126 Angesichts der engen Verbindung zwischen Tante und Nichte ist die Lektüre der Memoiren äußert aufschlussreich für das Verständnis von Elisabeth Charlottes brieflichen Selbstaussagen. Die familiäre bzw. verwandtschaftliche Komponente wird ergänzt durch Briefwechsel von Elisabeth Charlottes Großmutter Elizabeth Stuart (1596–1662) und deren Sohn Karl Ludwig.127 Die Hinzuzie-

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und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 211–223, hier 216. Eduard BODEMANN (Hg.), Briefwechsel der Herzogin Sophie von Hannover mit ihrem Bruder dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz und des Letzteren mit seiner Schwägerin, der Pfalzgräfin Anna (Publicationen aus den k. Preußischen Staatsarchiven 26), Leipzig 1885, ND Osnabrück 1966, Sigle: Bw. Die früheren Briefe Karl Ludwigs hat Sophie auf Wunsch ihres Bruders vernichtet. Vgl. BODEMANN (Hg), Bw, S. X. Eduard BODEMANN (Hg.), Briefe der Kurfürstin Sophie von Hannover an die Raugräfinnen und Raugrafen zu Pfalz (Publikationen aus den k. Preußischen Staatsarchiven 37), Leipzig 1888, Sigle: BK; Wilhelm Ludwig HOLLAND (Hg.), Schreiben des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz und der Seinen (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 167), Tübingen 1884, Sigle: SK. Vgl. zu den Beziehungen zwischen den Raugrafen und -gräfinnen und Sophie v. Hannover HOHKAMP, Tante, S. 161–167. Es sind insgesamt nur sechs Briefe an ihren Vater überliefert, davon ein Kinderbrief, zwei aus der Verlobungszeit 1671 sowie drei weitere Briefe aus den Jahren 1675, 1677 und 1679. S. dazu auch HELFER, Gesamtinventar, S. 1175. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, dt. Übers. GEERDS (Hg.), Mutter; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren. Im Folgenden wird neben dem frz Original die ältere dt. Übers. von Geerds zitiert, da diese näher am Originaltext bleibt. Vgl. Ute DANIEL, Zwischen Zentrum und Peripherie der Hofgesellschaft. Zur biographischen Struktur eines Fürstinnenlebens der Frühen Neuzeit am Beispiel der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: L’homme, 8,2 (1997), S. 208–217, hier 210–211; Heike TALKENBERGER, Selbstverständnis und bildliche Repräsentation bei Sophie von Hannover und Wilhelmine von Bayreuth, in: Gabriele BAUMBACH u. Cordula BISCHOFF (Hg.), Frau und Bildnis 1600–1750. Barocke Repräsentationskultur an europäischen Fürstenhöfen, Kassel 2003, S. 133–160, hier 134– 141. Anna WENDLAND (Hg.), Briefe der Elisabeth Stuart, Königin von Böhmen, an ihren Sohn, den Kurfürsten Carl Ludwig von der Pfalz 1650–1662. Nach den im Königlichen Staatsarchiv zu Hannover befindlichen Originalen (Bibliothek des Literarischen Vereins 228), Tübingen 1902; Sir George BROMLEY (Hg.), A Collection of Original Royal Letters, written by King Charles the First and Second, King James the Second, and the king and queen of Bohemia; together with original letters, written by Prince Rupert, Charles Louis, count palatine, the Duchess of Hanover, and several other distinguished persons; from the year 1619 to 1665, London 1787.

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EINLEITUNG

hung der höfischen Chroniken des Marquis de Sourches128 und des Marquis de Dangeau129 sowie der Memoiren des Duc de Saint-Simon130 und der Briefe Madame de Sévignés131 erlaubt darüber hinaus in ausgewählten Aspekten Einblicke in die Perspektive der französischen Hofgesellschaft.

4. Quellenkritische Überlegungen Auch wenn die Briefe Elisabeth Charlottes unzweifelhaft zu den bekanntesten Korpora der zweiten Hälfte des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts zählen, gelten sie als weitgehend untypisch für die Briefkultur dieser Zeit.132 Im 17. Jahrhundert dominierte der Kanzleistil mit seinem stringenten Aufbau, komplexen Satzstrukturen und rangdifferenzierenden Anrede- und Subskriptionsformeln weitgehend die deutschsprachige Briefkultur.133 Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann sich innerhalb des Adels aus den westlich gelegenen Gebieten des Reiches jedoch ein zumeist französischsprachiger, stärker unterhaltender Briefstil zu etablieren, der weitgehend auf Formelhaftigkeiten dieser Art verzichtete.134 Den Untersuchungen der Historikerin Sophie Ruppel zufolge ist dieser Stil vor allem für die Mitglieder der kurpfälzischen Familie charakteristisch.135 In diesem Licht ist der so häufig als „frappierend persönlich-zwanglos“ und „derbnatürlich“ charakterisierte Stil Elisabeth Charlottes kaum mehr als „völlig unzeitgemäß[e]“136 individuelle Besonderheit zu bezeichnen.137 Mit Ausnahme des Faktes, dass 128

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Gabriel-Jules COSNAC u. Édouard PONTAL (Hg.), Mémoires du MARQUIS DE SOURCHES sur le règne de Louis XIV, 13 Bde., Paris 1882–1893. [Eudoxe] SOULIÉ, [Louis] DUSSIEUX, [Philippe de] CHENNEVIÈRES, [Paul] MANTZ u. [Félix] FEUILLET DE CHONCES (Hg.), Journal du Marquis de DANGEAU avec les additions inédites du Duc de Saint-Simon, 19 Bde., Paris 1854–1869. Yves COIRAULT (Hg.), SAINT–SIMON. Mémoires. Addition au Journal de Dangeau (Bibliotheque de la Pléiade), 8 Bde., Paris 1983–1988; dt. Teilübers. Sigrid MASSENBACH (Hg.), Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon, Bd. 4: 1715–1723, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1979. Roger DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SÉVIGNÉ (Bibliothèque de la Pléiade 12), 3 Bde., Paris 1973–1978. Zur adeligen Briefkultur in der von der literaturwiss. Forschung weitgehend vernachlässigten Zeit von 1650–1750 s. Sophie RUPPEL, Das stillose Zeitalter. Realität und Rezeption weiblicher Briefkultur, in: Historische Mitteilungen 19 (2006), S. 67–82, hier 69. Vgl. ebd., S. 70–72; Reinhard M. G. NICKISCH, Brief (Sammlung Metzler 260), Stuttgart 1991; S. 72–96; Carmen FURGER, Briefsteller. Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Köln, Wien, Weimar 2010, S. 160–165; Ina K. KORDING, „Wovon wir reden können, davon können wir auch schreiben“. Briefsteller und Briefknigge, in: Klaus BEYRER u. Hans-Christian TÄUBRICH (Hg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1996, S. 27–33, hier 28–30. Vgl. NÖRTEMANN, Konzepte, S. 215; RUPPEL, Zeitalter, S. 71. Eine ähnliche „Außenseiterstellung“ nehmen die Briefe Gottfried Wilhelm Leibniz‘ ein, der sich ebenfalls an den französischen Briefstil anlehnt. Vgl. dazu UTERMÖHLEN, Briefwechsel, S. 88. Vgl. RUPPEL, Zeitalter, S. 72. Vgl. NICKISCH, Brief, S. 41–42 u. „Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben“. Deutsche Briefsteller um 1700: Von Christian Weise zu Benjamin Neukirch, in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Elisabeth Charlotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14),

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Elisabeth Charlotte einen Großteil ihrer Briefe auf Deutsch verfasste, um die Sprache nicht zu verlernen,138 dominieren die Gestaltungsprinzipien der familienspezifischen Briefkultur.139 Dies verwundert kaum, hatte die Familie doch Elisabeth Charlottes Anfänge als Briefschreiberin begleitet.140 Wie sie in einem Brief an Christian Friedrich von Harling erklärte, versuchte sie gezielt die Form mündlicher Gespräche zu imitieren. Punkt für Punkt (exact) arbeitete sie sich an Themen der an sie gerichteten Briefe ab, stimmte den Aussagen ihrer Briefpartner_innen zu oder äußerte Kritik:141 Ich andtworte exact – wen mirs moglich ist, den mich deücht – daß die lust von den brieffen ist, wen man mit einander spricht, alß wen man noch beÿ-sammen were.142

Der Großteil der überlieferten Briefe ist also sowohl formal wie auch inhaltlich in einen kommunikativen Gesprächszusammenhang mit vertrauten Personen eingebettet und in diesem besonders stark adressatenorientierten Kontext zu interpretieren.143 Auch wenn die Interpretation der zu Grunde liegenden Briefquellen in ihrem spezifischen Kommunikationskontext durch das Fehlen der kompletten Briefw e c h s e l grundsätzlich erheblich erschwert ist,144 lässt sich die dialogische Konzeption der Briefe aus der formalen Gestaltung recht gut ablesen.145

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Tübingen 1990, S. 117–138, hier 136–137, dem zufolge ihr Briefstil E. Ch. zu einem „einzigartigen Phänomen“ mache. Vgl. RUPPEL, Pfand, S. 73, spielt darauf an, dass E. Ch.s dt. Briefe als „angebliche Ausnahme” vom frz. Briefideal betrachtet wurden. Vgl. etwa An Amalie Elisabeth, Versailles, 19.1.1709, HO, 2, 404, S. 72: undt wen es auch nur were, vom vatterlandt zu hören undt mich in der muttersprach zu exerziren, (…), so würde ich fro sein, Ewere schreiben zu entpfangen. S. ausführlich MATTHEIER, Sprache, S. 225–227; VOSS, Fürstin, S. 49; CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 44. LEFÈVRE, Sprache, S. 333 u. Sprichwörtliches in den Briefen der Liselotte von der Pfalz. Stilallianzen in der Textsorte ‚Brief‘, in: Peter WIESINGER u. M. v. Claudia WICH-REIF (Hg.), Textsorten und Textallianzen vom 16. bis um 18. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 96–106, hier 98, weist darauf hin, dass die Einflüsse der frz. Sprache auf Lexik und Syntax von E. Ch.s Deutsch prägend waren. Vgl. RUPPEL, Zeitalter, S. 79–80. Dass E. Ch. durchaus in der Lage war, stilistisch vollkommen anders zu schreiben, zeigt etwa der einzige überlieferte Brief an Ludwig XIV. Vgl. STRICH, Liselotte, S. 63–79. Darauf weisen ebenfalls hin UTERMÖHLEN, Briefwechsel, S. 97; MICHELSEN, Genie, S. 160; SEYBERT, Liselotte, S. 59–60. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 14; WINKELMANN, Jugendzeit, S. 74. S. auch einen Brief der 9-jährigen E. Ch. an A. K. v. Harling, Amsterdam. 19./9. 5.1661, H, 1, S. 69–70. Vgl. ebd., S. 19; MATTHEIER, Madame, S. 97 u. Sprache, S. 219–220; LEFÈVRE, Sprache, S. 70–71; CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 48–49. An C. F. v. Harling, Versailles, 2.5.1715, H, 207, S. 350. S. auch An Luise, St. Cloud, 20.6.1720, HO, 5, 1132, S. 179–180: im schreiben kan man noch eher mitt den leütten reden, alß im leßen, undt daß muß ich immer thun. Zu gesundheitsbezogenen Momenten An Luise, Paris, 8.12.1718, HO, 3, 974, S. 462: da ich ohne ceremonien von meiner gesundtheit sprechen. Vgl. LEFÈVRE, Sprache, S. 73; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 19; MICHELSEN, Genie, S. 160–161; KIESEL, Einleitung, S. 23. Für eine Aufstellung aller bekannten Briefe an E. Ch. s. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 15. S. auch MATTHEIER, Madame, S. 95 Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 19; KIESEL, Einleitung, S. 23.

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EINLEITUNG

Inhaltlich dominieren subjektive Einschätzungen, Emotionen und Erinnerungen die Korrespondenz, weswegen sie häufig als ‚privat‘ charakterisiert wird.146 Diese inhaltliche Ausrichtung der Briefe hat nicht selten zu einer Aburteilung ihres Quellenwertes und ihrer Schreiberin als Klatschbase ihrer Zeit147 geführt. Dabei ist methodisch unreflektiert geblieben, dass gerade der bisweilen ‚geschwätzige‘ Zug in Elisabeth Charlottes Briefen und ihre häufig als banal abgetanen seitenlangen Schilderungen von Einstellungen und Erzählungen von Alltagspraktiken einen einmaligen Einblick in die diskursiv produzierten und mit einer jeweils speziellen sozialen Sinnstiftung versehenen Denk- und Handlungsmuster einer historischen Person erlaubt. In den Analysen wird darum ausführlich aus dem Material zitiert und eine mikroanalytische Interpretation auf der Grundlage der sprachlichen Formulierungen angestrebt.148 Auch wenn der subjektiv-persönliche Bezug im Gegensatz zu anderen Familienbriefen der Zeit als entscheidendes Charakteristikum der Korrespondenz Elisabeth Charlottes gelten muss, ist festzuhalten, dass der Begriff ‚privat‘ als Kennzeichnung unangebracht erscheint. Neuere brieftheoretische Überlegungen betonen, dass Briefe grundsätzlich in einem Zwischenraum zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zu verorten seien. Auch wenn sie vielfach einer „Erfahrung, die im Privaten beginnt“149 , entspringen mögen, sind sie bereits vom Moment ihres Abschickens an nicht mehr ausschließlich als persönlich, sondern in gewissem Sinne auch als öffentliches Gut zu betrachten.150 Im Blick auf Briefe der Frühen Neuzeit brechen sich die vermeintlichen Dichotomien ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ einmal mehr, herrschte hier doch ein grundsätzlich andersartiges Konzept von ‚Intimität‘ vor.151 Briefe waren viel stärker in gemeinschaftliche Kontexte eingebunden. So war es in verschiedensten Zusammenhängen gang und gäbe, Briefe laut vorzutragen oder sie innerhalb bestimmter Lesegemeinschaften weiterzureichen.152 Dies trifft in besonderem Maße auf den Briefverkehr in den höfischen Gesellschaften des frühneuzeitlichen Europas zu. Auch Elisabeth Charlottes Briefe sind wohl – zumindest phasenweise – innerhalb solcher Lesegemeinschaften rezipiert worden; dies zeigt etwa ein Brief vom Februar 1672, in dem sie darauf hinweist, ihre Tante Sophie könne die komplette Beschreibung ihrer ersten Erkrankung am französischen Hof einem Brief an Anna Katha-

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Vgl. ebd. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 463; zur Funktion des Klatsches in E. Ch.s Briefen MICHELSEN, Genie, S. 166. Im Folgenden verzichte ich weitestgehend auf die Verwendung der Kennzeichnung ‚[sic!]‘, da die Schreibung in E. Ch.s Briefen aus heutiger Sicht zu viele Fehler aufweist, um die Markierung sinnvoll einsetzen zu können. Vgl. Christa HÄMMERLE u. Edith SAURER, Frauenbriefe – Männerbriefe? Überlegungen zu einer Briefgeschichte jenseits von Geschlechterdichotomien, in: Dies. (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute (L’homme Schriften 7), Wien, Köln, Weimar 2003, S. 7–32, hier 23–26 u. 28. Vgl. ebd., Frauenbriefe, S. 26. Vgl. Hannelore SCHLAFFER, Glück und Ende des privaten Briefes, in: Klaus BEYRER u. HansChristian TÄUBRICH (Hg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1996, S. 34–45, hier 40; RUPPEL, Zeitalter, S. 81. Vgl. HÄMMERLE u. SAURER, Frauenbriefe, S. 26; WAGNER, Briefe, S. 71; WAGNER u. LAFERL, Anspruch, S. 44–45; SCHLAFFER, Glück, S. 40.

QUELLENLAGE UND QUELLENKORPUS

73

rina von Harling entnehmen.153 Eine ähnliche Gemeinschaft bildeten in Fällen der Krankheit oder anderer Verhinderungen des Schreibens wohl auch die beiden Raugräfinnen Luise und Amalie Elisabeth.154 Darüber hinaus ist bei Briefen generell, frühneuzeitlichen zumal, auch der potentielle kontrollierende Zugriff durch Obrigkeiten zu berücksichtigen.155 Wie der komplette Briefverkehr am französischen Hof unterlagen auch die mit der Post transportierten Briefe Elisabeth Charlottes prinzipiell der königlichen Zensur.156 Insbesondere in den Querelen der 1680er Jahre wird deutlich, dass Elisabeth Charlotte sich dessen durchaus bewusst war157 und es bisweilen vorzog, bestimmte Inhalte in ihren Briefen nur zwischen den Zeilen anzudeuten oder sie ganz zu verschweigen158 bzw. nach einem alternativen Transportweg über bekannte und vertrauenswürdige Personen zu suchen.159

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An Sophie, 5.2.1672, NLA-HStAH, I, 1v, vgl. B, 1, 1, S. 1. S. auch An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 97–98. Vgl. bspw. An Amalie Elisabeth, Versailles, 12.1.1708, HO, 2, 390, S. 51; An Luise, Versailles, 23.3.1709, HO, 2, 414, S. 90. S. auch das HELFER, Gesamtinventar, S. 1174–1189. Vgl. HÄMMERLE u. SAURER, Frauenbriefe, S. 22; Klaus BEYRER, Die schwarzen Kabinette der Post. Zu einigen Beispielen der organisierten Briefüberwachung, in: Wilhelm HAEFS u. York-Gothart MIX (Hg.), Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis, Göttingen 2006, S. 45–60, hier 50. Vgl. LEFÈVRE, Sprache, S. 62–69 u. 72; MATTHEIER, Madame, S. 96–97 u. Sprache, S. 220–221; KAPP, Pathos, S. 193. Zur Zensur unter Ludwig XIV. BEYRER, Kabinette, S. 46 u. 51; HansChristian TÄUBRICH, Wissen ist Macht, in: Klaus BEYRER u. Hans-Christian TÄUBRICH (Hg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1996, S. 46–53, hier 49. Vgl. zur Zensur in späteren Zeiten An Luise, Marly, 19.2.1705, HO, 1, 228, S. 370– 371; EXTERNBRINK, Carnaval, S. 264; An Luise, St. Cloud, 13.8.1719, HO, 4, 1043, S. 205: Aber waß mich plagt undt unlustig macht, seindt keine materien, der so gar unsichern post zu trawen. An Karllutz, St. Cloud, 25.4.1681, HO, 1, 11, S. 14: Aber genung hirvon, biß das ich Eüch was deüttlicher davon werde rede können. An Luise, St. Cloud, 26.6.1681, HO, 1, 9, S. 18; An Sophie, St. Germain, 19.2.1682, NLA-HStAH, I, 216r, vgl. B, 1, 37, S. 39: allein den ursprung davon zu sagen undt was mich chagrinirt hatt, das ist der feder nicht zu trawen, den ich weiß gar gewiß das man die brieffe list undt auffmacht, mir thun sie auff der post die ehr so woll alß ahn E.L. die brieffe gar soubtil wider zu zu machen, aber der gutten mad. la dauphine schickt man sie offt in einem wunderlichen standt undt oben zerißen. An Sophie, Versailles, 11.8.1686, NLA-HStAH, II, 124r–124v, vgl. B, 1, 62, S. 74: durch die post hette ich E.L. dießes alles [Berichte über verschiedene Hofleute u.a. Mme de Maintenon] woll gar nicht schreiben dörffen, wie sie woll gedencken können, allein durch dieße sichere gelegenheit habe ich es nicht laßen können.

TEIL 2 – DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN

„Der Leib – und alles, was damit zusammenhängt: Ernährung, Klima, Boden – ist der Ort der Herkunft; auf dem Leib findet man die Stigmata vergangener Ereignisse; aus ihm erwachsen die Begierden, die Schwächen und Irrtümer; in ihm verschlingen sie sich miteinander und kommen plötzlich zum Ausdruck, aber in ihm lösen sie sich auch voneinander, geraten in Streit, bringen sich gegenseitig zum Verlöschen und tragen ihren unüberwindlichen Konflikt aus. Der Leib: eine Fläche, auf dem die Ereignisse sich einprägen (während die Sprache sie markiert und die Ideen sie auflösen); Ort der Zersetzung des Ich (dem er die Schimäre einer substantiellen Einheit zu unterstellen versucht).“1 Michel Foucault (1926–1984)

In dieser Passage aus Michel Foucaults Schrift ‚Nietzsche, die Genealogie, die Historie‘ (1971) misst der französische Philosoph, von dessen Arbeiten die kulturwissenschaftliche Hinwendung zum Körper wesentlich inspiriert wurde,2 dem Körper neben seiner biologisch-physiologischen Funktionalität eine weitere, nicht weniger elementare Bedeutung bei:3 der Leib bzw. der Körper (Original: le corps) sei der Ort der Geschichtlichkeit. Er verweise auf das Herkommen, die vielfältigen gesellschaftlichen Zugehörigkeiten und auf die sozialen und kulturellen Gegebenheiten der Existenz eines Menschen.4 Herkunft, d.h. im Sinne Foucaults das In-der-Welt-verortet-Sein einer Person und ihre vergangenen Erlebnisse, seien dem Leib eingeschrieben, mithin stets leiblich präsent. Am Leib werde die Person in ihrem Streben nach Kontinuität, insbesondere aber in ihrer Unstimmigkeit

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Michel FOUCAULT, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Daniel DEFERT u. François EWALD u. M. v. Jacques LAGRANGE (Hg.), Michel FOUCAULT, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2 1970–1975, Frankfurt a.M. 2002, S. 166–191, hier 174. Zur Rezeption Foucaults in der Körper- und Medizingeschichte s. Michael STOLBERG, Körpergeschichte und Medizinhistoriographie, in: Ralf BROER (Hg.), Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne (Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte 9), Pfaffenweiler 1999, S. 85–95, hier 86. Vgl. FOUCAULT, Nietzsche, S. 179: „Wir glauben, der Leib unterliege allein den Gesetzen der Physiologie und sei daher der Geschichte entzogen. Doch auch das ist ein Irrtum. Der Leib ist einer ganzen Reihe von Regimen unterworfen, die ihn formen, etwa dem Wechsel von Arbeit, Muße und Festlichkeiten; er wird vergiftet, von Nahrung und von Werten, von Ernährungsgewohnheiten geradeso wie von Moralgesetzen; und er bildet Resistenzen aus.“ Vgl. FOUCAULT, Nietzsche, S. 171: „Herkunft meint die uralte Zugehörigkeit zu einer Gruppe – zu einer Gruppe von Menschen gleichen Standes. Bei der Analyse der Herkunft kommt oft auch die Rasse oder die Schichtenzugehörigkeit ins Spiel. Allerdings geht es nicht so sehr darum, bei einem Individuum, einem Gefühl oder einer Idee die jeweils gemeinsamen Gattungsmerkmale zu bestimmen und etwa zu sagen, das ist griechisch oder das ist englisch, sondern darum, die vielfältigen subtilen, einzigartigen, subindividuellen Merkmale aufzuspüren, die sich darin kreuzen und ein schwer zu entwirrendes Netz bilden.“

DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN

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und Konflikthaftigkeit sichtbar.5 In der Leiblichkeit eröffne sich aber auch die Welt der Empfindungen, der Emotionen und Gefühle, der Begierden und des Schmerzes – die jeweils mit Hilfe der Sprache und des Wissens in einen Sinnzusammenhang eingeordnet, gedeutet, erklärt und mitgeteilt würden.6 Diese Definition verbindet Foucault unter Bezugnahme auf Friedrich Nietzsche (1844–1900) mit der Forderung, historische Forschung müsse sich als „Genealogie“ begreifen und mit Hilfe einer „Analyse der Herkunft“ – verstanden als einer Dekonstruktion von Ursprungsmythen – zeigen, auf welche Weise „der Leib von der Geschichte geprägt“ sei.7 Ein in diesem Sinne in seinen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Bezügen fragmentiertes Subjekt ließe sich Foucault zufolge gerade durch den Bezug auf den Leib bzw. Körper in seiner Vielstimmigkeit sichtbar machen. Der folgende Teil fragt in genealogischer Perspektive, ausgehend vom familiären und kulturellen Herkommen Elisabeth Charlottes, nach den Prozessen der Verkörperung (embodiment) diskursiver und sozialer Strukturen in gelebter Körperpraxis. Dabei sind vor allem die Wechselwirkungen von diskursiv produziertem Körperwissen und leiblichen Empfindungen in den Blick zu nehmen.8 Dabei ist zunächst auf die Ausgangsbedingungen ihrer Verheiratung und Übersiedlung an den französischen Hof einzugehen, wobei insbesondere die Perspektiven der an der Eheanbahnung beteiligten Personen zu berücksichtigen sind. Auf diese Weise soll gezeigt werden, wie Elisabeth Charlotte angesichts der bevorstehenden Migration im ‚genealogischen‘ Sinne auf bestimmte körperbezogene Wissensbestände und Werte verpflichtet wurde und in welcher Weise diese mit den Anforderungen in ihrem neuen Lebensumfeld konkurrierten (1). Die darauffolgende Interpretation von Elisabeth Charlottes ersten Wahrnehmungen unterschiedlicher Körper- und Gesundheitspraktiken am französischen Hof und in ihrer Herkunftsfamilie (2) versteht sich als Grundlage für die beiden folgenden Kapitel (3 u. 4), in denen entlang der zentralen Begriffe ‚Natur‘ und ‚Erfahrung‘ nach den ‚genealogischen‘ Prägungen der erzählten Körperpraxis gefragt wird.

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Vgl. auch FOUCAULT, Nietzsche, S. 168–169 u. 172–173. Zur Interpretation des Zitats s. auch Robert JÜTTE, Einleitung. Auf den Leib geschrieben, in: Paul MÜNCH (Hg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (HZ Beiheft 31), München 2001, S. 31–36, hier 32. FOUCAULT, Nietzsche, S. 174. Vgl. JÄGER, Körper, S. 84–85; SARASIN, Mapping, S. 443–444; LOREY, Körper, S. 17. Zum Begriffsinstrumentarium s. I.2.

76

I.

DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN

Zwischen alten Verpflichtungen und neuen Anforderungen

1. rien à craindre et tout à esperer : Antizipierte Veränderungen 1

Auch wenn Verheiratungen über große Entfernungen und über naturräumliche, politische, religiöse oder sprachliche Grenzlinien hinweg im europäischen Raum seit dem Hochmittelalter als zentrales Prinzip adeliger Politik gelten können,2 brachte die daraus resultierende Situation wechselseitiger Kulturbegegnung für alle an ihr Beteiligten besondere Anforderungen mit sich.3 Vor allem für die unmittelbar betroffenen Adelstöchter galt es, die mit den Übersiedlungen an einen neuen Lebensmittelpunkt verbundenen Herausforderungen zu meistern.4 Briefe der jungen Frauen zeigen nicht selten, wie nachhaltig die Veränderung des Lebensumfeldes im Kontext der Verheiratungen die Vorstellungen vom eigenen Selbst prägten und in der Auseinandersetzung mit dem neuen Umfeld zu schärfen vermochten. Die Erfahrung von Migration – hier ganz grundsätzlich verstanden als dauerhafter Wechsel des Aufenthaltsortes im sozialen und geographischen Raum über eine wie auch immer geartete „Grenze von anerkannter Signifikanz“5 hin-

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Vgl. Anna an Karl Ludwig, Metz, 16.11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 23, S. 465. Zur Heiratspolitik in Mittelalter und Früher Neuzeit s. etwa Stephanie MARRA, Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert, Köln, Wien, Weimar 2007, S. 51–62; Reinhard LEBE, Ein Königreich als Mitgift. Heiratspolitik in der Geschichte, München 2000, S. 13; OPITZ, Familienzwist, S. 125; Hedwig RÖCKELEIN, Heiraten – ein Instrument hochmittelalterlicher Politik, in: Andreas RANFT (Hg.), Der Hoftag in Quedlingburg 973. Von den historischen Wurzeln zum Neuen Europa, Berlin 2006, S. 99–135, hier 107–108; Jörg ROGGE, Nur verkaufte Töchter? Überlegungen zu Aufgaben, Quellen, Methoden und Perspektiven einer Sozialund Kulturgeschichte hochadeliger Frauen und Fürstinnen im deutschen Reich während des späten Mittelalters und am Beginn der Neuzeit, in: Cordula NOLTE, Karl-Heinz SPIEß u. Ralf-Gunnar WERLICH (Hg), Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, S. 235–276, hier 237–238; Karl-Heinz SPIEß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beihefte 111), Stuttgart 1993, S. 73–113; Michael STOLLEIS, Staatsheiraten im Zeitalter der europäischen Monarchien, in: Gisela VÖLGER u. Karin v. WELCK (Hg.), Die Braut. Geliebt, verkauft, getauscht, geraubt. Zur Rolle der Frau im Kulturvergleich, Bd. 1, Köln 1985, S. 274–278. Darauf verwies bereits ERASMUS VON ROTTERDAM, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani. Die Erziehung eines christlichen Fürsten. Einführung, Übersetzung und Bearbeitung von Anton J. GAIL, Paderborn 1968, S. 199: „Ich will gar nicht davon reden, dass man so die jungen Mädchen ziemlich unmenschlich behandelt, die man oft genug in ferne Länder und zu Menschen sozusagen verbannt, die eine ganz fremde Sprache sprechen, ganz anders aussehen und völlig verschiedene Sitten und Eigenschaften haben. Sie würden doch sicher in ihrer Heimat glücklicher leben, wenn auch unter weniger prächtigen Verhältnissen.“ Patriarchale Heiratspolitik traf neben den Adelstöchtern auch die Erbsöhne von Dynastien. Diese waren anders als die Töchter jedoch weitaus seltener gezwungen, im Zuge der Verheiratungen ihr Lebensumfeld zu ändern. Zur „Sitte der sogenannten Patrilokalität“ vgl. OPITZ, Familienzwist, S. 127–128 u. 135. Harald KLEINSCHMIDT, Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele der historischen Migrationsforschung, Göttingen 2002, S. 20. Die Verwendung dieser in der historischen Migrationsforschung verwendeten Definition soll ermöglichen, die historisch spezifischen Motive, Voraussetzungen,

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weg – führt, so meine Ausgangsthese, immer auch zu einem verstärkten Nachdenken über die eigene Person, in vielen Fällen sogar zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem in der Veränderung begriffenen Selbst bzw. Selbstbild.6 Auch wenn die väterliche Entscheidung für eine bestimmte Heiratsoption zumeist als alternativlos gelten musste und die töchterliche Pflichterfüllung vorausgesetzt wurde, waren sich die Adelsfamilien der Tragweite der Situationen bewusst, in die ihre politischen Ambitionen die Töchter bringen konnten:7 So bemühten sie sich nach Kräften, ihnen wichtige Regeln und Hinweise für das Verhalten in der neuen Umgebung mit auf den Weg zu geben. Nicht selten verpflichteten die Familien ihre Töchter aber auch auf die mit ihrer Herkunft und Erziehung verbundenen kulturellen Werte. Häufig waren die Familien per Briefkontakt mit bereits am Ort befindlichen Verwandten genauestens darüber informiert, wie die Tochter sich ‚anstellte‘ und ‚benahm‘ – inwieweit sie sich mit den neuen Personen und kulturellen Gewohnheiten vertraut gemacht hatte, sich anpasste oder aber Freiräume reklamierte. Beredtes Zeugnis eines solchen spannungsreichen Bemühens gibt der Briefwechsel zwischen Elisabeth Charlottes Vater, Kurfürst Karl Ludwig, und seiner Schwägerin, der Pfalzgräfin Anna (1615–1684).8 Karl Ludwigs Bruder Eduard (1625–1663) hatte Anna Gonzaga, eine gebürtige Tochter Carlos I. von Mantua, am französischen Hof kennengelernt und im Jahr 1645 geheiratet. Eigens dafür war er den Ausschluss von der pfälzischen Erbfolge in Kauf nehmend zum Katholizismus konvertiert und siedelte anschließend dauerhaft nach Frankreich über, wo das Paar im Umfeld des französischen Hofes lebte. Dort war Anna, die sogenannte Princesse Palatine, vor allem für ihr politisches Geschick bekannt, das sie unter anderem als langjährige Vertraute der Königin-Mutter Anna von Österreich (1601–1666) unter Beweis gestellt hatte.9 Auch 1670, als sie gewissermaßen ‚aus erster Hand‘ vom Tod der englischen Prinzessin Henrietta Anne (1644–

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Bedingungen und Verläufe unterschiedlicher Migrationsphänomene zu untersuchen, und einer Verengung des Migrationsbegriffes auf die Ära der Nationalstaaten entgegenwirken. Zu dieser Prämisse aus Sicht der postmodernen Identitätsforschung s. etwa Kobena MERCER, Welcome to the Jungle. Identity and Diversity in Postmodern Politics, in: Jonathan RUTHERFORD (Hg.), Identity. Community, Culture, Difference, London 1990, S. 43: „One thing at least is clear – identity only becomes an issue when it is in crisis, when something assumed to be fixed, coherent and stable is displaced by the experience of doubt and uncertainty.“ Rolf EICKELPASCH u. Claudia RADEMACHER, Identität, Bielefeld 2004, S. 5; Henrik Kaare NIELSEN, Identitätsarbeit und Erzählung, in: Michael GROTE u. Beatrice SANDBERG (Hg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Entwicklungen, Kontexte, Grenzgänge, Bd. 3, München 2009, S. 257–271, hier 259–260; PHOENIX, Intersektionen, S. 170; ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 8–9. Vgl. ROGGE, Töchter, S. 256–257, 261 u. 267–268; SPIEß, Familie, S. 29–35; OPITZ, Familienzwist, S. 128–135. Vgl. BODEMANN, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Bw, S. XIV. Annas politische Ambitionen sind Teil der (Selbst-)Inszenierung in den erstmals 1786 veröffentlichten und Anna Gonzaga zugeschriebenen Memoiren, die den Zeitraum von ihrer Geburt bis etwa 1664 umfassen. Vgl. Gabriel SENAC DE MEILHAN (Hg.), Mémoires d’Anne de Gonzagues. Princesse Palatine, London 1786; dt. Denkwürdigkeiten der Pfalzgräfin Anna von Gonzaga. Aus dem Französischen v. Christoph Schmidt, Halle 1787. Vgl. auch BODEMANN, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Bw, S. XIV; HAUCK, Karl Ludwig, S. 279–280 u. 267; GOETZE, Kurpfalz, S. 21.

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1670), der ersten Herzogin von Orléans, erfahren hatte, reagierte Anna prompt und brachte ihre Nichte Elisabeth Charlotte als Heiratskandidatin ins Spiel.10 Eine bereits bestehende verwandtschaftliche Verbindung zwischen den Höfen war also in diesem Fall, wie nicht selten bei adeliger Heiratspolitik, Ausgangspunkt der für das Pfälzer Haus so prestigeträchtigen Eheanbahnung zwischen der Kurfürstentochter und Philippe d’Orléans. 11 Der 33 Dokumente umfassende Briefwechsel aus dem Zeitraum vom 12. Juli 1670 bis 24. Dezember 1671 verhandelt neben den Modalitäten des Heiratskontraktes, etwa der wiederum notwendigen Konversion zum Katholizismus,12 der Brautausstattung oder des Ablaufs von Zeremonie und Feierlichkeiten, auch Fragen der Lebensweise der zukünftigen Herzogin von Orléans am französischen Hof. Dabei entzündete sich um die Wahl einer fille d’honneur, der ersten Hofdame in Elisabeth Charlottes zukünftigem Hofstaat, eine seitenfüllende Kontroverse zwischen der Princesse Palatine und dem Kurfürsten. Karl Ludwig favorisierte, obwohl er um die Schwächen ihrer Person zu wissen meinte,13 Elisabeth Charlottes frühere Hofmeisterin, Ursula Marie Kolb von Wartenberg.14 Damit plädierte er für eine Person, die er 1663 nach seinen Regeln für den erzieherischen Umgang mit der Tochter instruiert hatte und von der man annehmen konnte, dass sie auch als fille d’honneur ihren Einfluss in seinem Sinne geltend machen würde.15 Grenzüberschreitend verheirateten Adelstöchtern vertraute Bedienstete mitzuschicken, war im Rahmen frühneuzeitlicher Heiratspolitik nicht unüblich.16 Allen Beteiligten war jedoch bewusst, dass es sich hierbei um einen politischstrategischen Schachzug handeln konnte, der dem Elternhaus der einheiratenden Frau Einfluss auf die Tochter und damit möglicherweise auf deren Ehemann sichern und eventuelle Informationen liefern könnte.17 10

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Anna an Karl Ludwig, Salmünster, 14.7.1670, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 2, S. 446. S. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 122–123. Zur Bedeutung der Eheschließung I.3. S. ausführlich Beate LÜDER, Religion und Konfession in den Briefen Elisabeth Charlottes von der Pfalz, Mannheim 1987, S. 19. Vgl. Karl Ludwig an Anna, Heidelberg, 14./24.11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 26, S. 469. U. M. Kolb hatte die Exiljahre mit Karl Ludwigs Schwester Elisabeth bei deren Großmutter, der Kurfürstin Luise Juliane v. d. Pfalz, verbracht. Diese war eine Tochter Wilhelms v. Oranien und floh mit der Enkelin an den Hof ihres Schwiegersohnes, des Kurfürsten Georg Wilhelm v. Brandenburg. Vgl. An Luise, Paris, 30.3.1719, HO, 4, 1005, S. 73. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 94–96; Anna CREESE, The letters of Elisabeth, Princess Palatine: A seventeenth century correspondence, Princeton 1993, S. 41–42; Helge BEI DER WIEDEN, Elisabeth in ihrer Zeit, in: Ders. (Hg.), Elisabeth von der Pfalz. Äbtissin von Herford, 1618–1680. Eine Biographie in Einzeldarstellungen (Herforder Forschungen 23; Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 245), Hannover 2008, S. 37–58, hier 41. Sie wurde 1663 als E. Ch.s Hofmeisterin bestellt. Vgl. Bestallung des Fräuleins Ursula Marie Kolb von Wartenberg, in: Erziehung, S. 114–117. Vgl. Dorothea NOLDE, Elénore Desmier d’Olbreuse (1639–1722) am Celler Hof als diplomatische, religiöse und kulturelle Mittlerin, in: Dorothea NOLDE u. Claudia OPITZ (Hg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 107–118, hier 114. S. dazu das Bsp. der Princesse des Ursins, die Marie-Luise d’Orléans als erste Kammerfrau an den span. Hof begleitete und von dort einen durchaus politischen Briefwechsel mit Mme de Maintenon führte. Corina BASTIAN, ‚Diplomatie kennt kein Geschlecht‘. Die Korrespondenz der Madame de

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So verwundert es nicht, dass Anna Gonzaga ihrem Schwager diese Idee mit deutlichen Worten ausredete. Dass die Kolb am französischen Hof als fille d’honneur passiere, sei une chose tout à fait impossible18: zu alt, zu dick und zu rotbäckig19, fasste Karl Ludwig Annas auf Äußerlichkeiten abzielende Einwände polemisch zusammen und ließ sich einen Seitenhieb auf das französische Bestreben, à la mode zu sein,20 das selbst bei der Wahl einer Kammerfrau zu Tage trat, nicht nehmen. Allerdings dürfte auch ihm klar gewesen sein, dass vielmehr Herkunft und calvinistische Konfessionszugehörigkeit der Kolb, ihre Anwesenheit in Elisabeth Charlottes zukünftigem Hofstaat, sprich ihre Einflussnahme auf die neue Herzogin von Orléans zum Problem machte.21 Anna argumentierte, dass es selbst Marie-Thérèse, einer gebürtigen spanischen Habsburgerin, nach der für den französischen Hof äußerst vorteilhaften Heirat mit Ludwig XIV. nicht erlaubt gewesen sei, mehr als eine einzige Dame aus ihrem Herkunftsland an den französischen

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Maintenon und der Princesse des Ursins im Spanischen Erbfolgekrieg (1705–1715), in: zeitenblicke. Onlinejournal für die Geschichtswissenschaften 8 (2009), Nr. 2 [30.06.2009] u. Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts (Externa 4), Köln, Wien, Weimar 2013. Zur Bedeutung des Hofstaates s. Katrin KELLER, Hofdamen. Amtsträgerinnen im Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 57 u. 170–179; zur politischen Handlungsmacht von Hofbediensteten auch Sebastian KÜHN, Die Gräfin, die Gouvernante und der König. Perspektiven auf Dienstleute als Boten in einem aristokratischen Haushalt des 18. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 20,1 (2012), S. 58–75. Vgl. Anna an Karl Ludwig, Paris, 10.12.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 31, S. 472: Je suis bien fachée de ne pouvoir reussir aussy bien sur le sujet de Mad. de Wartamberg, comme vous le desireriez, mais, Monsieur, c’est une chose tout à fait impossible et je ne pense pas, que ce soit serieusement que vous m’ordonnez de proposer, que de vielle gouvernante elle devienne belle et jeune fille d’honneur. La cour de France ne fait point de tels miracles, les fille d’honneur de la Reine et de Madame soit jeunes et bien faites, et lorsqu’elle passe vint cinq ans, l’on s’en moque souvent et l’on n’en voit point demeurer dans ce rang là jusqu’à trente ans. S. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 159–160. Vgl. die polemische Antwort von Karl Ludwig an Anna, 8./18.12.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 32, S. 475: Mais puisque le visage trop rubicond pour passer pour vermeil et de la taille ronde, ne pourroient faire figure decente en l’hostel d’Orléans ou à la cour, quand mesme ce ne seroit que dans le cabinet des antiques, il faut acquiesser à la sentence donnée contre son vieux pucelage, qu’il n’est plus à la mode. Vgl. ebd. Bei dieser Zuschreibung handelt es sich um ein populäres zeitgenössisches Deutungsmuster der Alamode-Kritik. Vgl. Gonthier-Louis FINK, Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild (1648–1750), in: Recherches germaniques 21 (1991), S. 3–47, hier 29–30; Norbert ELIAS, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a.M. 1997, S. 97–98; Ruth FLORACK, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar 2001, S. 132–133; ausführlicher 4.II.1. Trotz dieser Kritik gehörte der pfälzische Hof genauso wie der hessische schon im 17. Jhd. zu denjenigen dt. Höfen, die sich am frz. Beispiel orientierten. Vgl. Jochen SCHLOBACH, Frankreich als Modell zur absolutistischen Repräsentationskultur im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Médiations – Vermittlungen. Apects des relations franco-allemandes du XVIIe siècle à nos jours. Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 1 (Contacts Série III – Gallo-Germanica 7), Bern, Berlin, Frankfurt a.M., New York, Wien 1992, S. 81–95, hier 85. Vgl. Anna an Karl Ludwig, Paris, 10.12.1617, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 31, S. 473: mais sy – ce que Dieu preserve – elle devenet malade, on ne s’en raporteret pas à Mad. Col[be] et mesme la religion, dont elle est, ne pouret pas permetre, qu’en de pareilles questions l’on la laissat parler fort librement à Madame. S. hierzu VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 161.

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Hof mitzubringen – und sie sei heute froh über diese Entscheidung.22 Warum also sollte man einer pfälzischen Kurfürstentochter im Rang der Schwägerin des Königs solch ein Privileg gestatten?23 Karl Ludwig plädierte jedoch weiterhin für die frühere Hofmeisterin seiner Tochter und stellte als genuines Interesse seiner Empfehlung einen gänzlich andersartigen Punkt heraus. Ursula Marie Kolb habe nämlich vor allem eines vorzuweisen: l’experience (...) du temperament de sa maistresse depuis son enfance. Dieses Erfahrungswissen24 könne im Falle einer Erkrankung Elisabeth Charlottes entscheidend für den Heilungserfolg sein, denn die Kolb könne die Ärzte von Zeit zu Zeit an ihren Erkenntnissen teilhaben lassen, so Karl Ludwig weiter. Darauf dürfe man, so insistierte er, unmöglich verzichten, puisque sans cette connoissance les plus eclairés ne vont qu’à tastons.25 Karl Ludwigs politische Interessen verschmelzen hier in einer interessanten Melange mit seinen medikalen26 Vorstellungen, die von einer ausgeprägten Skepsis gegenüber der akademischen Medizin geprägt waren. Denn die Grundlage für erfolgreiche Krankenbehandlung könne einzig in der Kenntnis der individuellen körperlichen Disposition (temperament)27 der Kranken bzw. Schutzbefohlenen liegen. Die Weisheiten der akademisch 22

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Ebd.: vous considerez, sy vous plait, que la Reine avec tous les grands avantages, que son mariage aportet à la France, le Roy son pere present n’a peu obtenir aucunes dames ny filles d’honneur Espagnolles, non pas mesme pour deux mois et que tout fust reduite une fame [sic! femme] de chambre, une autre petite de ses parentes et une naine, et presentement elle ne voudret pas, qu’on eut fait autrement. S. auch Fanny COSANDEY, Europäische Konstruktion oder Familienstrategien? Die Heiratspolitik der französischen Herrscher, in: Klaus BUßMANN u. Elke Anna WERNER (Hg.), Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, Stuttgart 2004, S. 323–332, hier 329–330. Marie Thérèse habe ihren Beichtvater, einen Arzt, einen Chirurgen und einige spanische Diener mitgebracht. Diese hatten am Hof jedoch offenbar keinen guten Stand. E. Ch. war zunächst von U. M. Kolb bis nach Châlons begleitet worden, konnte sie aber vermutlich nicht bis nach Paris begleiten. An Sophie, St. Germain, 5.2.1672, NLA-HStAH, I, 1r–2r, vgl. B, 1, 1, S. 1. Später hatte E. Ch. allerdings in ihrem Hofstaat immer wieder auch Vertraute aus dt. Landen. Vgl. dazu MATTHEIER, Sprache, S. 225; HARTMANN, Prinzessinnen, S. 276. E. Ch. folgte später einer ähnlichen Argumentation in Bezug auf den langjährigen Leibarzt ihrer Tochter. Sie zeigte sich erfreut, dass ein Arzt, qui connaît son tempérament depuis qu’elle est au monde, sie an den lothringischen Hof begleiten durfte. Vgl. An Mme de Ludres, St. Cloud, 3.9.1698, VdC, Lf, 120, S. 150. Karl Ludwig an Anna, Heidelberg, 14./24.11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 26, S. 469: je n’y ay autre interest que celuy de l’experience qu’a ladite dame du temperament de sa maistresse depuis son enfance et dont elle pourra informer les medecins de temps en temps, puisque sans cette connoissance les plus eclairés ne vont qu’à tastons. Medikal = auf Gesundheit und Krankheit bezogen. Vgl. zu dieser Begriffsverwendung I 2. Seit Galen von Pergamon (129–216 v. Chr.) meint ‚Temperament‘ die individuelle Mischung der Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle. Die Verwendung des Begriffs durch Karl Ludwig zeigt allerdings eine Bedeutungsverschiebung. ‚Temperament‘ steht hier synonym für die ‚Natur‘ des Körpers, die Galen res naturales genannt und durch sechs angeborene und unveränderliche Faktoren bestimmt hatte. Diese waren die Elemente und ihre Qualitäten, die Körpersäftemischung, die wichtigsten Organe des Körpers sowie Alter und Geschlecht. Vgl. Ortrun RIHA, Der Naturbegriff in der mittelalterlichen Medizin, in: Acta Historia Leopoldina 48 (2007), S. 63–78, hier 69; Ortrun RIHA, Mikrokosmos Mensch. Der Naturbegriff in der mittelalterlichen Medizin, in: Peter DILG (Hg.), Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001, Berlin 2003, S. 111–123, hier 114–115.

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gebildeten Ärzte beruhten hingegen auf Universalisierungen, die für alle Menschen gelten sollen – was sie aus der Sicht Karl Ludwigs weniger zielgenau und effektiv machte.28 Diese Ansicht hatte lange Traditionen: Sie ist Grundbestandteil der medizinischen Schriften des Hippokrates (um 460–370 v. Chr.), in denen der antike Autor forderte, der Arzt müsse die spezifische ‚Natur‘ des erkrankten Menschen (natura hominis) in Gänze kennen bzw. durch Beobachtungen kennenlernen, bevor er ihn erfolgreich behandeln könne.29 Galenos von Pergamon (129–216 v. Chr.) griff diese Vorstellung in seinem Hippokrates-Kommentar auf, wendete sich jedoch entschieden gegen ein rein induktives Vorgehen in der Krankenbehandlung und betonte die Notwendigkeit von theoretischem Wissen, das nur ein professioneller Arzt erworben habe.30 Die scholastische Medizin des Mittelalters steht im Ruf, ihrem Säulenheiligen Galen folgend vernunftgeleiteten logischtheoretischen Schlüssen den eindeutigen Vorzug vor einem induktiv-experimentellen Vorgehen gegeben zu haben.31 Auch in der hoch- und spätmittelalterlichen Medizin finden sich aber durchaus Bemühungen um ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Praxis bzw. Vernunft und Erfahrung.32 Im 15. und 16. Jahrhundert wurde jedoch explizite Kritik an den deduktiven Methoden der scholastischen Medizin laut. So wendete sich etwa Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493–1541), einer stärker empirisch fundierten Medizin zu, aus der heraus seiner Auffassung nach theoretische Annahmen erst entwickelt werden könnten.

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S. auch E. Ch.s Auffassung einer leiblichen Diversität der Menschen, auf die die Krankheitsbehandlung abgestimmt werden müsse. S. z.B. E. Ch. an Leibniz, Paris, 21.11.1715, GWLB/NLB, LBr. II. 25, 10r–10v, vgl. BODEMANN (Hg.), Leibniz, 4, S. 28–29: den waß Einen gesundt macht bringt Einen andern umbs leben, weillen daß Innerliche vom Menschen Eben so different alß die gesichter sein. An Luise, Marly, 30.6.1712, HO, 1, 553, S. 284; An Luise, St. Cloud, 2.7.1722, HO, 6, 1340, S. 424–425. An Sophie, Fontainebleau, 21.10.1699, NLA-HStAH, IX, 589v. Vgl. Walter BRUCHHAUSEN u. Heinz SCHOTT, Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Göttingen 2008, S. 26 u. 28; Jörg MELZER, Vollwerternährung. Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus (Medizin, Geschichte, Gesellschaft 20), Stuttgart 2003, S. 32. Vgl. Danielle JACQUART, Die scholastische Medizin im Mittelalter, in: Mirko D. GRMEK u. wiss. M. v. Bernhardino FRANTINI (Hg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1996, S. 216–250, hier 240–241 u. 217; Heinrich SCHIPPERGES, Zum Topos von „ratio et experimentum“ in der älteren Wissenschaftsgeschichte, in: Gundolf KEIL (Hg.), Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Wissenschafts- und Geistesgeschichte, Berlin 1982, S. 25–36, hier 27–28. Vgl. RIHA, Naturbegriff, S. 64 u. 72–73; RIHA, Mikrokosmos, S. 122; SCHIPPERGES, Topos, S. 30– 31. S. die Schriften des scholastischen Mediziners Arnald von VILLANOVA (1235–1311), in: Paul DIEPGEN (Hg.), Des Meisters Arnald von Villanova Parabeln der Heilkunst (Klassiker der Medizin 26), Leipzig 1922, ND Sonderausgabe, 2. Aufl., Darmstadt 1968, S. 12: „Bei Unkenntnis der individuellen Natur bleibt die für jeden einzelnen Körper geltende Gesundheitsregel unbekannt. Die Eigennatur jedes Einzelwesens bestimmt genau die Form der für dieses geltenden Gesundheitsregel. Die unbekannte Eigenart wird entweder durch vernünftige Überlegung oder durch Schlussfolgerung, durch (göttliche) Offenbarung oder durch praktische Erprobung des Nützlichen und Schädlichen der Erkenntnis erschlossen.“ S. auch JACQUART, Medizin, S. 242 mit Bezug auf die Haltung des italienischen Mediziners Gentile da Foligno (1280/90–1348) u. 248–249; Heinrich SCHIPPERGES, Homo Patiens. Zur Geschichte des kranken Menschen, München 1985, S. 120 u. Topos, S. 25 u. 36.

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Ärztliche Kunst definierte er als praktische Erfahrung im Licht der Natur.33 Aufgegriffen und weiterentwickelt wurde dieser Gedanke von Francis Bacon (1561–1626), der die Medizin vom aristotelisch-galenischen Erbe einer deduktiven Generalisierung34 zu befreien suchte. Unter Bezugnahme auf die Bedeutung von Beobachtung und Erfahrung bei Hippokrates forderte er eine auf den individuellen Fall bezogene empirische Herangehensweise in der Medizin.35 Augenscheinlich von solchen Auffassungen in der Medizin seiner Zeit inspiriert bewertete Karl Ludwig die praktische Erfahrung im Umgang mit der ‚Natur‘ der Erkrankten als essentiell und plädierte deshalb mit Ursula Marie Kolb für eine Person, die diese Kenntnisse bereits in langjähriger Erfahrung zusammengetragen hatte36 und somit als wichtige Beraterin für Ärzte fungieren könne. Väterliche Besorgnis, medikale Vorstellungen und Erwägungen über künftige Optionen politischer Einflussnahme verschwimmen in der Frage um die fille d’honneur miteinander und ergeben eine komplexe Motivstruktur. Ausgehend von dieser Kontroverse diskutiert der Briefwechsel die Relevanz medikaler Differenzen zwischen dem Heidelberger und dem Pariser Hof. Anna Gonzaga gab sich dabei sichtlich Mühe, Karl Ludwigs Bedenken zu zerstreuen – allerdings nicht immer mit kohärenter Argumentation. Als Garantin für Elisabeth Charlottes Wohlergehen wolle sie selbst genauestens über das Befinden der Nichte wachen.37 Zudem rekurrierte sie auf Elisabeth Charlottes Jugend und ihre starke Gesundheit, die eine ernsthafte Erkrankung mit den zugehörigen medizinischen Eingriffen unwahrscheinlich mache.38 Eine dominante Rolle spielten aber auch Erklärungsmuster, die darauf abzielten, mögliche 33

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PARACELSUS. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hg. v. Karl SUDHOFF, 14 Bde., München u. Berlin 1922–1933, hier Bd. 1, S. 354: Die Experimenten machen kein arzt; das licht der natur macht ein arzt. Vgl. SCHIPPERGES, Topos, S. 32–36; Heinrich SCHIPPERGES, Paracelsus. Der Mensch im Licht der Natur, Stuttgart 1974, S. 61 u. Homo Patiens, S. 132 u. 134–135; KUTSCHMANN, Naturwissenschaftler, S. 80–82; Kaspar von GREYERZ, Religion und Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert: Eine Einführung, in: Ders., Thomas KAUFMANN, Kim SIEBENHÜNER u. Robert ZAUGG (Hg.), Religion und Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 210), Heidelberg 2010, S. 9–31, hier 18. Zum aristotelischen Erfahrungsbegriff der Generalisierung einer Fülle von Erinnerungen an ein und denselben Umstand vgl. JACQUART, Medizin, S. 240; Lorraine DASTON, Baconian Facts, Academic Civility, and the Prehistory of Objectivity, in: Annals of Scolarship 8 (1991), S. 337–364, hier 341; Peter DEAR, Miracles, Experiments, and the Ordinary Course of Nature, in: Isis 81 (1990), S. 663–683, hier 665–666. Zu Bacons Haltung zur zeitgenössischen Medizin vgl. Hugh TREVOR-ROPER, Europe’s physician. The various life of Sir Theodore de Mayerne, New Haven, London 2006, S. 1–3; SCHIPPERGES, Topos, S. 31 verweist auf Nikolaus von Kues (1401–1464) als Wegbereiter für Bacons Auffassungen; Andrew WEAR, Knowledge & Practice in English Medicine. 1550–1680, Cambridge 2000, S. 374. Aus ihrer Korrespondenz kann belegt werden, dass die Hofmeisterin Kolb E. Ch. tatsächlich mit eigenen Rezepten behandelte. Vgl. An Luise, Paris, 30.3.1719, HO, 4, 1005, S. 73; An Sophie, Paris, 28.3.1693, GWLB/NLB, 13v, vgl. B, 1, 165, S. 181. S. ausführlich 2.IV.2. Vgl. Anna an Karl Ludwig, Metz, 16.11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 23, S. 465: Je tacheré, Monsieur, de ne l’estre pas aussy pour sa personne et pour sa santé et je n’y oubliré rien de tous les soins les plus tendres, qu’on pouret avoir pour ses propres enfans. Paris, 10.12.1617, in: Ebd., 31, S. 473–474: et je ne manquere jamais de tous les soings que je dois pour une personne sy chere et sy pretiese. Vgl. ebd. u. Paris, 10.12.1617, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 23, S. 466 u. 31, S. 473.

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Differenzen zwischen den Kulturräumen von vornherein zu relativieren. So hielt Anna in einem Brief vom November 1671 dafür, dass die äußeren Bedingungen in Elisabeth Charlottes gewohntem und ihrem neuen Lebensumfeld gar nicht so unterschiedlich seien und damit das Risiko, am jeweils anderen Ort zu erkranken, erheblich vermindert sei. Die Princesse Palatine zeigte sich überzeugt: elle va dans un pais doux et salubre et dans un air peu different du sien natal, c’est pourquoy il n’y a rien à craindre et tout à esperer.39 Diese Argumentation konnte Karl Ludwig indes kaum beruhigen. Schon der Antwortbrief wenige Wochen später zeigt, dass er nicht nur die Veränderung der Umweltbedingungen als möglichen Krankheitsauslöser im Blick hatte, sondern sich ebenso darum sorgte, wie seine Tochter gesundheitspräventiv oder gar im Falle einer Erkrankung am französischen Hof behandelt werden würde. Die Begegnung potentiell unterschiedlicher medikaler Kulturen berührte Leib und Leben der migrierenden Person und wurde als entsprechend existentiell wahrgenommen. Im Briefwechsel wird die medikale Problematik deshalb auch ausführlich thematisiert. Anna Gonzaga sah sich angesichts der Sorge Karl Ludwigs in der Pflicht, ihrem Schwager gegenüber deutlich zu machen: Madame a des medecins qui n’ayment ny les seignées ny les remedes tant qu’elle se portera bien, l’on songera pas à luy en faire jamais.40 Im Krankheitsfall sei es mit oder ohne Ursula Marie Kolbs Empfehlungen unerlässlich, dass Elisabeth Charlotte sich den am französischen Hof üblichen Prozeduren unterziehe. Sie hatte zwar beschwichtigend vorangestellt, dass sie es für nachvollziehbar und durchaus auch für klug halte, alle Eventualitäten zu bedenken.41 Aber gerade das Festhalten an heimischen Behandlungsmethoden, die nicht auf den neuen Aufenthaltsort der Kranken abgestimmt seien, könne schlimme Folgen haben, mahnte sie. Zur näheren Bestimmung dieser etwaigen Konsequenzen zog Anna das Beispiel Wilhelms VII. von Hessen-Kassel heran. Noch vor Antritt seiner Regentschaft war der erst 19-Jährige (1651–1670) in Paris, der letzten Station seiner Kavaliersreise, erkrankt und dort am 21. November 1670 verstorben.42 Anna Gonzaga, die vermutlich als Ansprechpartnerin für den jungen Landgrafen am französischen Hof fungierte,43 hatte das Krankheitsgeschehen unmittelbar miterlebt44 – so ist den Briefen, die die hessischen Begleiter 39 40 41 42

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Vgl. Anna an Karl Ludwig, Metz, 16.11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 23, S. 465. Anna an Karl Ludwig, Paris, 10.12.1617, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 31, S. 473. Vgl. ebd. Die Grand Tour führte Wilhelm VII. von den kurfürstlichen Höfen in Koblenz und Bonn über Brüssel, Den Haag nach London und Paris, wo er vermutlich an einer schweren Infektionskrankheit starb. Vgl. Hans PHILIPPI, Die Landgrafschaft Hessen-Kassel 1648–1806 (Veröffentlichung der Historischen Kommission für Hessen 46, kleine Schriften 8), Marburg 2007, S. 12; Eckhart G. FRANZ, Das Haus Hessen. Eine europäische Familie, Stuttgart 2005, S. 81; Carl KNETSCH, Landgraf Wilhelms VII. Kavalierreise und sein Tod in Paris am 21. November 1670, in: Oberhessische Zeitung. Wöchentliche Unterhaltungsbeilage Oberhessische Blätter 56 (1921), 1. Teil: Nr. 27, 2.2.1921 [o. S.], 2. Teil: Nr. 33, 9.2.1921 [o. S.], bes. 3. Teil: Nr. 39, 16.2.1921 [o. S.]. Hofdamen führten die Kavaliere in die Hofgesellschaft ein. Zumeist wurden hierfür an auswärtige Höfe verheiratete dt. Prinzessinnen gewählt. Vgl. Antje STANNEK, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts (Geschichte und Geschlechter 33), Frankfurt a.M. 2001, S. 237– 239. Möglicherweise war Anna Gonzaga für diese Aufgabe in Frage gekommen, weil sie mit einem Adeligen aus dt. Landen verheiratet war. So gab der junge Landgraf der Princesse Palatine etwa am Nachmittag des 18. Oktober, am Tag des Beginns seiner Erkrankung, die visite. Vgl. Wilhelm VII. v. Hessen-Kassel, Fürstliche Personalien, Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM) Best, 4a, 54/13, Johann Rudolphi an Hedwig Sophie,

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Wilhelms an dessen Mutter, Landgräfin Hedwig Sophie schrieben, zu entnehmen. In ihrem Brief an Karl Ludwig legte Anna Gonzaga dezidiert ihre auf Augenzeugenschaft beruhende Meinung dar, dem jungen Landgrafen – Elisabeth Charlottes Cousin mütterlicherseits45 – sei zum Verhängnis geworden, dass er sein fievre continue et (...) devoyment billieux ausschließlich von medecins Allemands, also den mitgereisten hessichen Ärzten habe behandeln lassen. Während in den Berichten des Hofmeisters Dalwig eine komplett gegensätzliche Auffassung zum Ausdruck kommt,46 war Anna der Ansicht, die hessischen Ärzte hätten fatalerweise auf eine Therapie mit Wein vertraut und den aus ihrer Sicht lebensrettenden Aderlass verhindert.47 Der Fehler habe, so Anna, darin gelegen, dass sie somit versucht hätten, ihn ainsy comme en leurs pais zu behandeln und dabei nulle reflection sur la difference du climat et sur la subtilité violente de l’air quy enflame à Paris les esprits aysement et corrompt le sang facilement48 gezeigt hätten. Es gab also in der Wahrnehmung der Zeitgenossen offensichtlich doch eine Sensibilität für eine spezifische Qualität der Pariser Stadtluft, die gerade Personen, die nicht an sie gewöhnt waren, krank machen könne.49 Die argumentative Bezugnahme auf eine subtile durchtringende lufft findet sich im Übrigen auch in

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Paris 21./31.11.1670, 29r. Rudolphi berichtete ebenfalls nach Kassel, Wilhelm habe Visiten von den höchsten Personen bekommen, auch von der Princesse Palatine. Vgl. HStAM, Best, 4a, 54/13, Johann Rudolphi an Landgräfin Hedwig Sophie, Paris 18./28.11.1670, 36r. Wilhelm VII. war der Sohn Wilhelms VI., eines Bruders von Charlotte v. Hessen-Kassel. Vgl. HStAM Best. 4 a 54/16, Berichte Dalwigs an die Landgräfin Hedwig Sophie und Schriftwechsel mit dem Präsidenten v. Dörnberg über Verlauf der Reise Wilhelms VII. und seine Krankheit, 1670–1671, Dalwig an v. Dörnberg, Paris, 12.11.1670, 54r. Hier wird ein Konflikt zwischen dem Leibarzt des Königs Dr. Vallot und dem inzwischen ebenfalls erkrankten hessischen Leibarzt Dr. Huxholz angedeutet. Letzterer habe mit den Verordnungen der frz. Ärzte nicht übereingestimmt und stattdessen eine Therapie mit schweißtreibenden Mitteln und stärkende Cordalia für angemessen gehalten. Aufgrund seiner Krankheit habe man sich seines Rates jedoch nicht bedienen können. In den dt. Bewertungen späterer Jahrhunderte wird den frz. Ärzten dann unumwunden die Schuld am Tod des jungen Landgrafen gegeben. Vgl. Statistik, Topographie und Geschichte des landgräflichen und Kurfürstlichen Hauses Hessen-Kassel für die Jugend der Kurhessischen Bürgers- und Landschulen, bearbeitet von Kaspar NÖDING, Inspektor des Kurfürstlichen Schullehrer-Seminars zu Marburg, Kassel 1839, S. 223; F. C. Th. PIDERIT, Geschichte der Haupt- und Residenzstadt Kassel, Kassel 1844, S. 239, Anm. 1: „Die Pariser Aerzte haben den in neunzehnten Lebensjahre stehenden Prinzen methodisch geopfert. Ihn hatte ein Fieber ergriffen; wenn jene aber dem Kranken innerhalb weniger Tage mit 8 Lavements, 6 Purganzen, 8 Aderlassen und den nöthigen Brechmitteln zusetzen, so hätte auch ein hercules unterliegen müssen. Moliere hat die damaligen Aerzte nach der Natur gezeichnet.“ Anna an Karl Ludwig, Paris, 10.12.1617, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 31, S. 473: Mr. le Landgrave d’Hesse est mort en France pour y avoir esté traité par des medecins Allemands, qui dans une fievre continue et un devoyment billeux luy continuerent le vin et ne le seignerent jamais. Ebd. Zu den Beschreibungen über die Luft am Zielort von Kavaliersreisen vgl. Mathis LEIBETSEDER, Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 56), Köln, Weimar, Wien, Köln 2004, S. 176–177. S. An Sophie, Versailles, 19.3.1712, NLA-HStAH, XXII, 188r; vgl. B, 2, 790, S. 308 u. 21.7.1701, ebd., XI, 352v: alle fremdten so nach paris kommen bezahlen den tribut, mons hisch ist auch gar kranck geweßen. Zu E. Ch.s Abneigung gegen die Pariser Luft s. etwa An Luise, Paris, 13.9.1715, HO, 2, 727, S. 625; An Sophie, Paris, 23.12.1700, NLA-HStAH, X,2, 800r: es ist eine recht wunderlich sache daß ich der parisser lufft durchauß nicht gewohnen kan, undt sonsten habe ich mein leben keine lufft verspürt so mir geschadt hatt, es ist ein unglück daß just die wo ich so offt sein muß mir so schadtlich ist.

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den Reiseberichten des Präzeptors Johann Rudolphi, der Wilhelm VII. auf seiner Reise nach Frankreich begleitete. Wie Rudolphi nach Kassel berichtete, sei die Pariser Luft verschiedenen Personen aus dem Reisegefolge nicht gut bekommen.50 Auch die hier zu Grunde liegende Auffassung eines Zusammenhangs zwischen Krankheit und Umweltbedingungen geht auf die antike Medizin zurück. In seiner Schrift ‚Über Luft, Wasser und Ortslagen‘ hatte bereits Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) auf die Bedeutung von Umwelteinflüssen für Körperbau, geistige Fähigkeiten und körperliche Disposition verschiedener Völker hingewiesen.51 Mit der Dreiteilung der bis dato bekannten Welt in eine nördliche, eine südliche und eine von besonders günstigen Bedingungen für die Bevölkerungs- und Gesellschaftsentwicklung geprägten mittleren Zone, in der er Griechenland lokalisierte, legte Hippokrates den Grundstein für die antike Klimatheorie. Galen griff diese Vorstellungen auf, etablierte aber ein sehr viel kleinteiligeres, eher regionales Modell der Umwelteinflüsse, indem er einen über die Mischung der vier Körpersäfte (Blut, Phlegma, gelbe und schwarze Galle) hergestellten direkten Zusammenhang zwischen menschlichen Talenten und Sitten und ihrem jeweils spezifischen natürlichen Lebensraum behauptete.52 Vor dem Hintergrund der geistigen Strömungen von Renaissance und Humanismus wurden die antiken und zu einem geringeren Anteil auch die mittelalterlichen klimatheoretischen Schriften vor allem im 16. und 17. Jahrhundert einer umfassenden Neuinterpretation unterzogen.53 Antike Wissensbestände wie die bereits im ‚Corpus Hippocraticum‘ angelegte Lehre der Umweltfaktoren boten Ansatzpunkte, an die zeitgenössische Fragestellungen und Ideen flexibel anknüpfen konnten. Insbesondere im Prozess der zunehmenden Patriotisierung in Europa kam klimatheoretischen Vorstellungen als Erklärungsmuster für differente Merkmale und Mentalitäten eine entscheidende Bedeutung zu.54 Die Vorstellung von besonderen Eigenschaften einzelner Länder und ihrer Bewohner wurde mit den medizinischen Wissensgrundlagen der Antike zu einem Deutungsmuster länderspezifischer medikaler Räume amalgamiert, das über das 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Bestand haben sollte.55 50

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Vgl. HStAM Best. 4 a 54/13, Reiseberichte des Präzeptors Johann Rudolphi an Landgräfin Hedwig Sophie und den späteren Landgrafen Karl, 1670–1671, Johann Rudolphi an Hedwig Sophie, Paris, 19.10.1670, 29r. Vgl. ZACHARASIEWICZ, Klimatheorie, S. 24; KIESEL, Klima, S. 123–124; Caroline HANNAWAY, Environment and Miasmata, in: W. F. BYNUM u. Roy PORTER (Hg.), Companion encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 1, New York 1997, S. 292–306, hier 292–293; Christopher GILL, Die antike medizinische Tradition. Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen, in: Hilge LANDWEER u. Ursula RENZ u. M. v. Alexander BRUNGS (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin, New York 2008, S. 97–120, hier 100. Vgl. ZACHARASIEWICZ, Klimatheorie, S. 24–27. Vgl. ebd., S. 17–23. Vgl. ebd., S. 36–46. Vgl. zum Zusammenhang von Klimatheorie und ‚Nationalstereotypen‘ ZACHARASIEWICZ, Klimatheorie, S. 45–53; Helmuth KIESEL, Das nationale Klima. Zur Entwicklung und Bedeutung eines ethnographischen Topos von der Renaissance bis zur Aufklärung, in: Conrad WIEDEMANN (Hg.), Rom-Paris-London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposium (Germanistische Symposien, Berichtsbände VIII), Stuttgart 1988, S. 123–134, hier 124–125; FINK, Alamodestreit, S. 15–18; Gonthier-Louis FINK, De Bouhors à Herder. La théorie des climats et sa réception outre-Rhin, in: Recherches germaniques 15 (1985), S. 3–62. Vgl. im Gegensatz zu diesen Traditionen VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 161:

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Anna Gonzaga schrieb sich in ihren Briefen an Karl Ludwig in diesen Diskursstrang ein, indem sie bezugnehmend auf das Beispiel Wilhelms VII. eine strikt kulturräumlich ausgerichtete Krankenbehandlung forderte. Schlussfolgernd schrieb sie an Karl Ludwig: c’est pour faire observer, Monsieur, que quy traiteret les maladies en France, en Allemagne, en Italie et en Espagne d’une mesme methode, tueret infailliblement les malades.56

Diese zeitgenössisch durchaus populäre Vorstellung findet sich in ähnlicher Weise auch im Werk des englischen Arztes und Publizisten Marchamont Needham (1620–1678, auch Nedham). Needham bezog sich in seiner 1665 erstmals veröffentlichten Schrift Medela Medicinae auf den aktuellen Aufenthaltsort der Person, wenn er sich gegen die scheinbar universale Indikation des aus der Medizin der Antike überlieferten Aderlasses57 wendete.58 Auch Anna insistierte, das ärztliche Handeln müsse stets auf die am aktuellen Aufenthaltsort einer Person vorherrschenden Verhältnisse wie Klima, Wetter, Topographie, Wasser- und Luftbeschaffenheit abgestimmt werden, um Krankheiten effektiv heilen zu können. Auf einer Reise konnten sich die Parameter für die richtige Krankenbehandlung also entscheidend verändern. Dies erklärt, warum Anna daran festhielt, man habe den erkrankten Landgrafen, bei dem man den Aderlass unterließ, weiterhin so behandeln wollen, als befände er sich noch in seiner Heimat. Den Unterschied machte Anna nun nicht etwa zwischen Regionen wie der Pfalz und dem Pariser Raum, sondern sie spricht von einzelnen Ländern, deren Bedingungen zu berücksichtigen sie bei der Krankenbehandlung für dringend angeraten hielt. Mit dieser Aussage identifizierte Anna ‚medikale Räume‘ jenseits von konkreten Orten oder Regionen und wirkte damit gleichzeitig an der Konstituierung länderspezifischer Raumdeutung im 17. Jahrhundert mit.59 Neben den Umweltbedingungen im engeren Sinne und den spezifischen ärztlichen Behandlungsmethoden im Krankheitsfall galt insbesondere die Lehre von der gesunden Lebensführung als Bereich, in dem sich bei kurzfristiger oder dauerhafter Veränderung des Lebensumfeldes durch Reisen und Migration Schwierigkeiten ergeben konnten. Der

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„Diese Ausführungen [Annas] haben Karl Ludwig ganz gewiß nicht zur französischen Medizin bekehrt; er blieb nach wie vor sehr interessiert an diesem Thema, und das ein Dreivierteljahrhundert vor Montesquieu und Buffon, die den klimatischen Bedingungen die Bedeutung zuschrieben, die ihnen tatsächlich zukommt.“ Anna an Karl Ludwig, Paris, 10.12.1617, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 31, S. 473 Zum Aderlass in der Antike vgl. etwa Josef BAUER, Geschichte der Aderlässe, 2. Aufl., München 1966, S. 15–95; Elke Angelika MAIBAUM, Der therapeutische Aderlaß von der Entdeckung des Kreislaufs bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – Versuch einer kristischen Neubewertung (Studien zur Medizin-, Kunst- und Literaturgeschichte 2), Herzogenaurath 1983, zugl. Diss. Aachen 1983, S. 22–27. Vgl. M[archamont] N[EEDHAM], auch Nedham, Medela Medicinae. A Plea For the Free Prosession, and a Renovation of the Art of Physick, London 1665, S. 459: (...) what will cure in one Climate or Country, may either kill or make the Sick much worse in another Country. (...) the Kinds of Medecin ought to differ according to the nature of places, and the work of curing is one thing at Rome, another in Egypt, and another in France. Zur Wirkungsgeschichte von Needhams Theorie ZACHARASIEWICZ, Klimatheorie, S. 404– 407. Zur Vorstellung einer länderspezifischen Behandlung auch An Sophie, Marly, 31.5.1711, NLAHStAH, XXI,1, 458v: hir hatt daß golt pulver nicht so woll reussirt humberg [Wilhelm Homberg (1652– 1715), der dt. Leibarzt ihres Sohnes] sagt daß wer kein wunder den er hätte es schon gar offt gefunden daß admirable remeden in einem landt, im andern nicht gethan haben. Zur Raumkonstitution durch Sprechakte vgl. LÖW, Raumsoziologie, bes. S. 226.

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Umgang mit dem eigenen körperlichen Leib wurde der antiken Diätetik60 zufolge in Abhängigkeit von sechs Faktoren definiert, den so genannten sex res non-naturales, die möglichst in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen sollten.61 Es gibt zahlreiche voneinander abweichende Auflistungen der diätetischen Faktoren.62 Bereits im Corpus Hippocraticum begegnen sie in einer ersten Ausführung.63 Über die Rezeption durch Galen64 wurde die Diätetik als Lehre vom maßvollen Umgang mit den res non-naturales über arabische Ärzte wie beispielsweise Avicenna bis ins Mittelalter und in die Frühe Neuzeit überliefert. Zu den res non-naturales zählen demnach folgende Dimensionen: 65

1. Licht und Luft (aer) 2. Essen und Trinken (cibus et potus) 3. Bewegung und Ruhe (motos et quies) 4. Wachen und Schlafen (somnus et vigilia) 5. Ausscheidungen (excreta et secreta bzw. repletio et inanitio) 66 6. Gemütsbewegungen (affectus animi)

Den daraus resultierenden alltäglichen Gewohnheiten im Umgang mit dem körperlichen Leib wurde eine immense Bedeutung beigemessen: Sie bestimmten seinen Zustand zwischen Gesundheit und Krankheit.67 Da die Lehre von der gesunden Lebensführung nicht nur ein Erklärungsmuster für die Existenz von Krankheit oder ein Bereich für ärztliche 60

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Die neuere medizinhistorische Forschung betont den pythagoreischen Ursprung der Diätetik, vgl. MELZER, Vollwerternährung, S. 19–29 u. 43. Zur möglichen Herkunft des Begriffes vgl. Lelland J. RATHER, The „Six Things Non-Natural“. A Not on the Origins and Fate of a Doctrine and Phrase, in: Clio Medica 3 (1968), S. 337–347, hier 338; Saul JARCHO, Galen’s six non-naturals. A bibliographic note and translation, in: Bulletin of the history of medicine 55 (1970), S. 372–377, hier 373 u. 376; Klaus BERGDOLT, Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München 1999, S. 103–104. Vgl. MELZER, Vollwerternährung, S. 41–42. Vgl. Heinrich SCHIPPERGES, Geschichte und Entwicklung der Diätetik, in: Internationale Zeitschrift für physikalische Medizin und Rehabilitation 9 (1960), S. 274–278, hier 274–275; SCHIPPERGES, Homo Patiens, S. 115. Die non-naturales sind zwar durch Galen bekannt, sie gehen vermutlich aber nicht auf ihn zurück. Vgl. als Kritik an Jarcho und Rather Peter H.NIEBYL, The non naturals, in: Bulletin of the history of medicine 5 (1971), S. 486–492, bes. S. 487. An diesem Punkt ergibt sich eine Überschneidung mit den von Hippokrates inspirierten Theorien der Umwelteinflüsse, die neben der Beschaffenheit der Luft auch auf die Bedeutung des Wassers und die spezifische Lage des Ortes abzielten. Es ist zu vermuten, dass diese Überschneidung durch die Rezeption der Werke Galens bedingt ist. Vgl. Philipp SARASIN, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a.M. 2001, S. 36; PILLER, Körper, S. 59; SCHIPPERGES, Homo Patiens, S. 114–117; SCHIPPERGES, Geschichte, S. 274–275; RIHA, Mikrokosmos, S. 121; RIHA, Naturbegriff, S. 72; MELZER, Vollwerternährung, S. 41 u. 44; Dietrich von ENGELHARDT, Essen und Trinken im System der Diätetik. Kulturhistorische Perspektiven, in: Alois WIERLACHER, Gerhard NEUMANN u. Hans Jürgen TEUTEBERG (Hg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder (Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder 1), Berlin 1993, S. 137–149, hier 139–145; Sabine MERTA, Schlank! Ein Körperkult der Moderne, Stuttgart 2008, S. 125. Vgl. NIEBYL, Non naturals, S. 486–488; RATHER, Things, S. 337; Pedro GIL SOTRES, Regeln für eine gesunde Lebensweise, in: Mirko D. GRMEK u. wiss. M. v. Bernhardino FRANTINI (Hg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1996, S. 312–335, hier 318.

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Anweisungen und Verordnungen war, sondern als lebensweltliches Handlungskonzept dem Einzelnen gleichzeitig die Möglichkeit bot, seine Gesundheit präventiv zu befördern und somit das eigene Leben aktiv zu gestalten,68 entfaltete sie eine besondere Attraktivität und übertraf die Bedeutung der Lehre von den Umweltbedingungen im engeren Sinne bei Weitem. Karl Ludwig tendierte anders als seine Schwägerin ebenfalls zu diesem Erklärungsmuster und unterstellte dem hessischen Landgrafen mangelnde diätetische Disziplin.69 Mit einer Anspielung auf die zuvor von Anna vertretene Relativierung klimatischer Unterschiede schrieb er am 18. Dezember 1671: Et puisque le climat que Madame quitte n’est guere different de celuy cy, comme vous m’avés mandé cy devant, il n’y auroit que la nouvelle maniere de vivre et le changement de regime qui pourroient mettre sa santé en hazard.70

Viel wichtiger als klimatische Bedingungen, bei denen Anna offensichtlich nicht einmal in der Lage sei, eine klare Ansicht zu vertreten, seien laut Karl Ludwig die neue Art zu leben und die Veränderung des täglichen Regimes, die bei Ortswechseln die größte Schwierigkeit darstellten. Die Orte, zwischen denen Elisabeth Charlotte sich in absehbarer Zeit bewegen sollte, Heidelberg auf der einen Seite und Paris auf der anderen, standen für Karl Ludwig für sehr unterschiedliche Lebensweisen, das zeigen die Attribute ‚neu‘ und ‚in der Veränderung begriffen‘. Diätetik war hier genauso wie in der theoretischen Reiseliteratur der Frühen Neuzeit,71 obwohl sie der Pflicht jedes Einzelnen oblag, hochgradig kulturspezifisch definiert. 68

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Vgl. WÖHRLE, Gesundheitslehre, S. 9–10; Vivian NUTTON, Humoralism, in: W. F. BYNUM u. Roy PORTER (Hg.), Companion Encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 1, London u. New York 1997, S. 281–291, hier 289; MELZER, Vollwerternährung, S. 44: RIHA, Naturbegriff, S. 71; RIHA, Mikrokosmos, S. 118. Die res non-naturales sind im Gegensatz zu den res naturales nicht als angeboren und unveränderlich konzipiert, sondern geeignet, „Körpervorgänge modulierend beeinflussen zu können“. Jacques GLEYSE, Gymnastik als Gestaltung des Körpers in der Frühen Neuzeit: Diskurse, Praktiken oder Transgressionen?, in: Rebekka von MALLINCKRODT (Hg.), Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 89), Wiesbaden 2008, S. 125–142, hier 142, der die Diätetik als Selbsteingriff in den Körper mit dem Ziel der Heilung und Gesunderhaltung darstellt und sie somit als Zeichen des Kulturbestrebens des Menschen als „autopoesis“ bezeichnet. Karl Ludwig an Anna, 8./18.12.1617, o.O., in: BODEMANN (Hg.), Bw, 32. S. 475: comme nous en avons eu cent exemples contre le seul que vous allegués de Mr. le Landgrave de Hesse. Son medecin ne pourra respondre des mauvais avis qui ont cousté la vie, comme l’on dit, à son Prince, qu’au dernier jour du jugement, puisqu’il l’a suivi bientost apres. Vgl. dazu die Briefe der Begleiter an Wilhelms Mutter Hedwig Sophie, in denen hervorgehoben wird, dass Wilhelm seine Exerzitien mit großem Ehrgeiz absolvierte: HStAM, Best, 4 a, 54/13, Rudolphi an Hedwig Sophie und Landgraf Karl, Paris 21./31.11.1670, 29r. Karl Ludwig an Anna, 8./18.12.1617, o.O., in: BODEMANN (Hg.), Bw, 32. S. 475. Die gesundheitsbezogenen Teile (Reise-Regimina) verloren jedoch im Laufe des 17. und 18. Jhd.s in den sogenannten Apodemiken an Bedeutung. Vgl. Wolfgang NEUBER, Der Arzt und das Reisen. Zum Anleitungsverhältnis von Regimen und Apodemik in der frühneuzeitlichen Reisetheorie, in: Udo BENZENHÖFER u. Wilhelm KÜHLMANN (Hg.), Heilkunde und Krankheitserfahrung in der Frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte, Tübingen 1992, S. 94–113, hier 101; Robert JÜTTE, The Social Construction of Illness in the Early modern period, in: Jens LACHMUND u. Gunnar STOLLBERG (Hg.), The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 1), Stuttgart 1992, S. 23–38, hier 30.

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Im Bewusstsein der Zeitgenossen waren Reisen und Migration also mit ganz verschiedenen Gefahren für Gesundheit und Leben verbunden:72 Es galt erstens grundlegende klimatische und topographische Unterschiede zwischen Naturräumen zu beachten. Zweitens existierte die grundsätzliche Vorstellung, dass Lebensart und diätetische Gewohnheiten in bestimmten Kulturräumen voneinander differieren. Beides prägte letztlich auch die Heilkunde. Differente medikale Räume konnten sich also in dreifacher Hinsicht auswirken. Die gezogenen Differenzlinien wurden mit antiken Wissensbeständen zur Krankheitsentstehung, Heilung und Gesunderhaltung des Körpers verknüpft, legitimiert und somit zu einer sinnhaften Erklärung der vorgefundenen Zusammenhänge herangezogen. Von einer homogenen europäischen Hofkultur und einer unproblematischen Wahrnehmung von Migration im Hochadel kann also gerade aus medizin- und körperhistorischer Perspektive keineswegs die Rede sein.73 In medikaler Hinsicht, einem essentiellen Teil der Alltagskultur, wurde die Situation als eine potentiell negative und gefahrvolle verstanden.74 In Anbetracht solcher Schicksale wie dem des jungen Landgrafen von Hessen-Kassel verwundert es kaum, dass Karl Ludwigs Sorge um seine Tochter unvermindert blieb. Als Elisabeth Charlotte im November 167175 nach Frankreich übersiedeln sollte, war sie mit 19 Jahren genauso alt wie ihr unlängst verstorbener Cousin Wilhelm, und so galt es für Karl Ludwig, gesundheitsgefährdende Vorkommnisse nach Möglichkeit zu verhüten. Dieser neuerliche Todesfall in der entfernten Verwandtschaft rief in Karl Ludwig mit einiger Wahrscheinlichkeit die Erinnerung an seinen 1660 in Paris verstorbenen illegitimen Sohn Ludwig76 wach, den aus seiner Sicht eine Falschbehandlung der dortigen Ärzte ins Grab gebracht hatte.77 Von Karl Ludwigs väterlicher Sorge um seine Tochter zeugt auch der Brief, den er im Oktober 1671 an Elisabeth Charlotte richtete, nachdem diese ihn ebenfalls per Brief

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Vgl. Jeremy BLACK, The British Abroad. The Grand Tour in the Eighteenth Century, Stroud 2009, S. 191–201; STANNEK, Brüder, S. 217–218. S. auch einige knappe Belege aus Reisebeschreibungen von Kavalieren LEIBETSEDER, Kavalierstour, S. 176–177. Vgl. hierzu auch VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 91; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 74; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 77; „Die Sitten Italiens paßten ebensowenig für meinen Geschmack wie das Klima für meine Gemütsstimmung. Ich wurde melancholisch und litt an einer Unpässlichkeit, die bei den Fremden sehr häufig ist.“ Diese Problemlage bestand wohl auch allgemein. Vgl. Dorothea NOLDE, Fremdheitserfahrung und Kulturtransfer – deutsche und französische Europareisende, ca. 1525–1750, unveröff. Habilitationsschrift, Basel 2011, S. 211–212; COSANDEY, Konstruktion, S. 323. Vgl. LEIBETSEDER, Kavalierstour, S. 179. E. Ch. musste ihre Familie in Straßburg am 11. November verlassen. Am 16. November fand die Trauung per procurationem in Metz statt. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 133–142. Ludwig v. Rotenschild, Freiherr v. Selz, ein illegitimer Sohn Karl Ludwigs wurde 1660 im Rahmen einer Bildungsreise nach Paris zu seinem Onkel Eduard und Anna Gonzaga geschickt und starb dort vermutlich im September desselben Jahres. Vgl. Sophie an Karl Ludwig, Den Haag, 24./14.11.1659 u. 26.9.1660, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 2 , S. 22, Anm. 1 u. 40, S. 36–37; OMAN, Queen, S. 374, Anm. 1; KNOOP, Kurfürstin, S. 44–45; Karl Ludwig an Elisabeth, Heidelberg, 29.9.1660, in: BROMLEY (Hg.), Collection, XCII, S. 210–213. Ebd., S. 211–213, enthält eine Beschreibung des Krankheitsverlaufs, der Behandlung which by all appearance brought him to his grave. Vgl. genauer 2.IV.1.

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formal von ihrer Konversion in Kenntnis gesetzt hatte.78 Bisher wurde der Antwortbrief Eduard Bodemanns früher Einschätzung folgend ausschließlich in seiner Funktion als Rechtfertigungsschreiben eines protestantischen Reichsfürsten interpretiert, der seine Tochter für eine profitable Eheschließung konvertieren ließ.79 Diese Deutung hat zweifelsohne ihre Berechtigung, wurde der Brief doch an alle protestantischen Kanzleien Europas versendet.80 Aber selbst in diesen Zeilen, in denen Karl Ludwig unglaubwürdigerweise vorgab, nichts von der Konversion gewusst zu haben,81 nutzte er – so meine ebenso politisch relevante Lesart82 – die Chance, seine Tochter für ihre künftige Lebensführung noch einmal nachdrücklich auf die Grundsätze ihrer Erziehung und ihrer familiären Herkunft zu verpflichten: Par la maniere dont vous avés vescu avec moy et par la tendresse que j’ay tousjours eue pour vous, je m’estois persuadé, Madame ma tres chere fille, que vous ne feriez jamais rien qui fut contraire à mes sentiments ni contre la verité, dont j’ay eu le soin de vous faire instruire, si vous ne croyez qu’un autre principe qui vous le put permettre.83

Karl Ludwig appellierte mit dieser Argumentation an die enge Bindung zwischen ihm und Elisabeth Charlotte, indem er sowohl seine zärtlichen Gefühle ihr gegenüber hervorhob als auch die Erinnerung an die Art und Weise des gemeinsamen Zusammenlebens in ihr wachrief – mit Bourdieu gesprochen an die bis dato selbstverständlichen affektiv besetzten körperbezogenen Lebensgewohnheiten.84 Die Tiefe der Bindung überzeuge ihn, so setzte er fort, dass Elisabeth Charlotte nie etwas tun könne, was gegen sein Empfinden und die Wahrhaftigkeit seiner Maximen verstoße. Bei jedem Abweichen von diesen Lebensprinzipien drohte, so der Umkehrschluss, ein Bruch des emotionalen Bandes mit dem Vater.

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Vgl. An Kurfürst Karl Ludwig, Metz, 16.11.1671, VdC, Lf, S. 37–38. Vgl. BODEMANN, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Bw, S. XVIII, der den Brief ohne Angabe von Belegen eine „wohl nur zu seiner Rechtfertigung seinem Lande und seinen Glaubensgenossen gegenüber für die Öffentlichkeit bestimmte, geradezu heuchlerische Antwort“ nennt. Ähnlich auch WILLE, Pfalzgräfin, S. 196. S. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 140; LÜDER, Religion, S. 22; Renate WIND, Elisabeth Charlottes Privatreligion, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 239–242, hier 239. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 140. Vgl. Karl Ludwig an E. Ch., Heidelberg, o.T., 11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 27, S. 470: Apres cela vous pouvés juger, avec quel etonnement j’ay deu recevoir la nouvelle, que vous me mandés de la profession que vous avés faite à Metz la religion Romaine. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 140–141 vermutet, dass Urbain Chevreau, der E. Ch. auf ihre Konversion vorbereitet hatte, der „Urheber“ des Briefes gewesen sei. Dafür gibt er allerdings keine Belege an. Trotz seiner Formelhaftigkeit illustriert der Brief die Problematik adeliger Heiratspolitik zwischen politischen Ansprüchen und religiösen Konzessionen. Am Punkt der Religionstoleranz betont aber auch VAN DER CRUYSSE, der Brief sei „aufrichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag“. Vgl. auf Van der Cruysse bezugnehmend WIND, Privatreligion, S. 239; das abgewogene Urteil von SCHAAB, Pfalz, S. 30 u. 47, Anm. 49. Karl Ludwig an E. Ch., Heidelberg, o.T., 11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 27, S. 470. Vgl. BOURDIEU, Meditationen, S. 178 u. 181; zu dieser Form körperbezogener Erinnerungen auch BEISE, Körpergedächtnis, S. 17.

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Im nächsten Absatz betonte Karl Ludwig, dass es in der Zukunft jedoch nicht allein darum gehe, im Einklang mit den väterlichen Ansichten zu leben. Vielmehr präsentiert er diese als gottgefällig, wenn er darauf hinweist, dass vor Gott, der in die Herzen eines jeden Menschen sehen könne, Rechenschaft über die eigenen Taten abgelegt werden müsse.85 In der bevorstehenden Situation der Veränderung tröste ihn, dass Elisabeth Charlotte in ihrer Kindheit stets nach den Grundsätzen der christlichen Religion erzogen worden sei:86 Ce qui peut servir à me consoler dans ce changement est que vous appuyerez toujours fortement sur les points principaux de la foy chretienne, qui ne reconnoit point d’interest humain, et que vous ne ferez jamais rien par cette raison, qui ne soit conforme aux sentimens des veritables chretiens et dont ils demeurent tous d’accord, de quelque profession qu’il puissent etre. 87

Die allgemeine, überkonfessionelle Formulierung les points principaux de la foy chrétienne mit dem Zusatz de quelque profession qu’il puissent etre kann unter zwei Aspekten gelesen werden; zum einen auf die Zukunft gerichtet – das heißt auf Elisabeth Charlottes bevorstehenden Übertritt zum Katholizismus. In Familienbriefen sind solche Äußerungen vor Religionswechseln im Zuge von Verheiratungen nicht selten zu finden, erleichterten sie doch allen Beteiligten den schwerwiegenden Schritt der Konversion.88 Das muss allerdings nicht zwingend zu der in der Liselotte-Forschung prominenten Annahme führen, es handele sich in jedem Fall um bloße Lippenbekenntnisse. Karl Ludwigs Plädoyer für eine freiheitliche Religionsauffassung kann nämlich durchaus auch auf Elisabeth Charlottes Vergangenheit bezogen werden. Schon in ihrer frühen Kindheit war sie in der Zeit, die sie bei ihrer Tante Sophie in Hannover (1659–1663) verbracht hatte, neben der grundlegenden calvinistischen Erziehung in der Pfalz89 auch mit dem lutherischen Bekenntnis in

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Karl Ludwig an E. Ch., Heidelberg, o.T., 11.1671, in BODEMANN (Hg.), Bw, 27, S. 470: Mais comme c’est Dieu seul qui sonde les coeurs, c’est aussi luy seul qui est juge des consciences: est c’est à luy que vous devés rendre conte de vostre action. Vgl. Instruktionen an die Gouvernante zur religiösen Erziehung E. Ch.s von 1663 bei WEECH, Erziehung, bes. S. 114 sowie 1661 bei Friedrich von WEECH (Hg.), Instructionen des Kurfürsten und Pfalzgrafen Karl Ludwig für die Erzieher seiner Kinder, in: ZGO 26 (1874), S. 407–413, S. 409. Der erste Absatz ist sowohl für die Erziehung des Karls als auch E. Ch.s als oberste Maxime gültig und stimmt im Wortlaut mit den zitierten Instruktionen an die Hofmeisterin der Tochter von 1663 nahezu überein. Vgl. die Hinweise zur praktischen Umsetzung der Erziehungsinstruktionen bei LÜDER, Religion, S. 11. Karl Ludwig an E. Ch., Heidelberg, o.T., 11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 27, S. 470. Vgl. Daniel SCHÖNPFLUG, Verhandlung, Inszenierung und Erleben kultureller Unterschiede: Die ‚europäischen‘ Heiraten der Hohenzollern 1767–1817, in: Dorothea NOLDE u. Claudia OPITZ (Hg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 17–37, hier 24 u. 36: Im Angesicht von Konversionen findet sich sehr häufig diese „Vorstellung einer überkonfessionellen Einheit“. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 139–140. Vgl. wie bereits zitiert WEECH, Erziehung, S. 114; WEECH (Hg.), Instructionen, S. 409; LÜDER, Religion, S. 14–18; Eike WOLGAST, Die religiöse Situation in der Kurpfalz, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 33–35, hier 33.

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Kontakt gekommen.90 Karl Ludwigs Erziehungsinstruktionen91 an die Hofmeister und Hofmeisterinnen seiner Kinder weisen die Bestimmung auf, man solle darauf achten, dass die Kinder den Andersgläubigen mit dem notwendigen Respekt begegnen.92 Wichtiger als enggeführte konfessionelle Vorstellungen schienen dem kurfürstlichen Vater ohnehin grundlegende moralphilosophische Werte gewesen zu sein, die in allgemeinen christlichen Grundsätzen jenseits konfessioneller Differenzen zum Ausdruck kamen.93 So hob er in der zitierten Passage als entscheidende Botschaft christlicher Werte hervor, sie seien geeignet, der allzu starken Interessengeleitetheit entgegenzuwirken – eine in der Moralphilosophie des 17. Jahrhunderts weit verbreitete Auffassung.94 Schon Jahre zuvor, in den Instruktionen für die Erziehung seiner Tochter, hatte sich dieser Zusammenhang von Religiosität und Moralphilosophie angedeutet. Karl Ludwig betrachtete es dementsprechend im Wesentlichen als sein erzieherisches Verdienst, der Tochter touttes les vertues95 morales et Chrestiennes96 , wie es in mehreren Instruk90

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Vgl. dazu LÜDER, Religion, S. 10–13. Obwohl auch während des Aufenthaltes in Hannover die calvinistische Erziehung umgesetzt werden sollte, ist der Einfluss ihrer Tante, die sich nach und nach vom strengen Calvinismus zu lösen begann, nicht zu unterschätzen. Die Erziehungsinstruktionen an die Hofmeister und Hofmeisterinnen adeliger Söhne und Töchter, wie sie hier vorliegen, stehen in enger Verbindung zur Quellengattung der Fürstenspiegel. In diesen eher auf die praktische Politik ausgerichteten Regierungslehren ist seit dem 16. Jhd. ein allgemeiner Wandel zu einer stärkeren Betonung der moralischen und erzieherischen Komponente zu verzeichnen. Vgl. Rainer A. MÜLLER, Die deutschen Fürstenspiegel des 17. Jahrhunderts. Regierungslehren und politische Pädagogik, in: HZ 240 (1985), S. 571–597, hier 574 u. 576. Vgl. WEECH (Hg.), Instruktionen, S. 409; WEECH, Erziehung, S. 111 u. 114. Vgl. zu Karl Ludwigs Religionstoleranz LÜDER, Religion, S. 14; VAN DER CRUYSSE, S. 141; WIND, Privatreligion, S. 239; WOLGAST, Situation, S. 34. Karl Ludwig gilt im Urteil von Zeitgenossen und Historiographie als freiheitlicher Geist und Vertreter eines frühen „aufgeklärten Absolutismus“. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 140–141; Wolfgang v. MOERS-MESSMER, Heidelberg und seine Kurfürsten. Die große Zeit der Geschichte Heidelbergs als Haupt- und Residenzstadt der Kurpfalz, Ubstadt-Weiher 2001, S. 321; Art. „Lubienietzki“, in: Pierre BAYLE, Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt. Mit Anmerkungen von Maturin Veyssiere la Croze und anderen von Johann Christoph GOTTSCHED, 4 Bde., Leipzig 1741–1744, ND Hildesheim, New York 1974–1978, Bd. 3, S. 197–200, hier 198. Zur Entgegensetzung von Tugend und Eigenutz (intérêt) in der frz. Moralphilosophie des 17. Jhd.s vgl. François DE LA ROCHEFOUCAULD, Maximes suivies des Réflexions diverses, du Portrait de La Rochefoucauld par lui-même et des Remarques de Christine de Suède sur les Maximes, hg. v. Jacques TRUCHET, Paris 1967, 171, S. 44: Les vertus se perdent dans l’intérêt, comme les fleuves se perdent dans la mer. S. auch Hans-Georg COENEN, Die vierte Kränkung. Das Maximenwerk La Rochefoucaulds (Ars poetica. Studien zur Literaturwissenschaft VI), Baden-Baden 2008, S. 22–23. Vgl. den Versuch einer grundlegenden Bestimmung des Begriffs der Tugend von Jean PORTER, Tugend, in: Theologische Realenzyklopädie [TRE], hg. v. Gerhard MÜLLER, Bd. 24, Berlin, New York 1994, S. 184–197, hier 184: „Tugend ist eine Disposition oder Eigenschaft des Charakters, der Bewunderung und Lob gebührt. Fast alle Gesellschaften betrachten bestimmte Charaktereigenschaften als besonders wichtig oder erstrebenswert, und die meisten verbinden darüber hinaus einzelne erwünschte oder unerwünschte Charaktereigenschaften mit bestimmten sozialen Rollen oder Typen.“ Ersichtlich wird hier, dass der spezifische Inhalt von Tugend in jeder Gesellschaft neu ausgehandelt wird und somit in hohem Maße historisch und kulturell variabel ist. S. dazu die Instruktionen 1661 u. 1663 bei WEECH (Hg.), Instructionen, S. 409 u. Erziehung, bes. S. 114.

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tionen übereinstimmend heißt, auf ihren Lebensweg mitgegeben zu haben. Aus dieser Formulierung kann geschlossen werden, dass das Erziehungsprogramm eine praktische Kombination aus christlich fundierter Moraltheologie und der tendenziell eher aus religiösen Kontexten gelösten französischen Moralistik des 17. Jahrhunderts97 darstellte.98 Auch wenn die intellektuellen Einflüsse, die hinter Karl Ludwigs Formulierung stehen, nicht im Einzelnen eruiert werden können, sei angemerkt, dass christliches und humanistisches Gedankengut im 16. und 17. Jahrhundert über die konfessionellen Debatten der Reformationszeit hinweg in einem engen Verhältnis zueinander standen. Erasmus von Rotterdam (1465–1536) etwa versuchte, humanistische Philosophie und traditionelle (katholische) Religion zusammenzuführen,99 ebenso wie der Reformator Johannes Calvin (1509–1564) in seinem theologischen Hauptwerk Institutio Christianae Religionis (Erstausgabe 1536) explizit auf die überaus hohe Bedeutung des Studiums antiker, d.h. in Calvins Diktion „heidnischer“ Schriften aus allen Wissensgebieten verwiesen hatte.100 Wie die Literaturhistorikerin Bérengère Parmentier in ihrer Studie ‚Le siècle des moralistes‘ zeigte, erprobten frühneuzeitliche Leser in ihrem Alltag nicht selten gerade solche Kombinationen religiöser und tendenziell säkularer Moralvorstellungen.101 Hinter den abstrakt anmutenden christlich-moralischen Erziehungsgrundsätzen eröffnete sich mit dem bereits zitierten Hinweis Karl Ludwigs auf la maniere dont vous avés vescu avec moy gleichzeitig die in alltäglichen Belangen bedeutende Perspektive einer gottgefälligen Lebensführung. Diese Einheit von Gotteserkenntnis und entsprechendem Handeln ist ein Ideal, dem im calvinistischen Denken ein besonderer Stellenwert beigemessen wurde.102 Dies schloss auch die medikalen Vorstellungen ein, die Karl Ludwig im Briefwechsel mit Anna Gonzaga diskutiert hatte. Ein verantwortungsbewusster Umgang mit dem körperlichen Leib103 durch maßvolle Diät und ein ausgewogenes Lebensregime

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Vgl. zum Zusammenhang von Religion und frz. Moralistik Markus WILD, Montaigne und La Rochefoucauld: Emotionen in der Moralistik, in: Hilge LANDWEER u. Ursula RENZ (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein u. M. v. Alexander BRUNGS, Berlin, New York 2008, S. 249–268, hier 265. S. auch den Passus bei WEECH, Erziehung, S. 115: ladite gouvernante aura soin nostre dite fille apprenne à bien (...) et à lire es bons livres de morale ou d’histoire. Vgl. zu Karl Ludwigs eigener Erziehung F[rançois] AUSSARESSES u. H[enri] GAUTHIER-VILLARS, La vie privée d’un prince allemand au XVIIe siècle. L’électeur palatin Charles-Louis (1617–1680), Paris 1926, S. 9. Vgl. Christoph STROHM, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009, S. 13 u. 32; Christian LINK, Johannes Calvin. Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche, Zürich 2009, S. 25–26. Vgl. Inst. II, 2, 15–16, in: Johannes CALVIN, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christiane Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559, übers. u. bearb. v. Otto WEBER, bearb u. neu hg. v. Matthias FREUDENBERG, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2008, S. 143–144. Allein Luther vollzog einen Bruch mit dem Humanismus, s. LINK, Calvin, S. 25–26. Vgl. Bérengère PARMENTIER, Le siècle des moralistes. De Montaigne à La Bruyère, Paris 2000, S. 67–68. Vgl. LINK, Calvin, S. 42: „Erkennen und Tun gehören zusammen. Zu Gottes Ehre im Glauben muss auch etwas geschehen.“ Zur der augustinischen Traditionen folgenden calvinistischen Vorstellung vom Leib als „Instrument der Seele“ s. Christopher L. ELWOOD, Calvins kirchliche Theologie und das Heil der Menschen, in: Martin Ernst HIRZEL u. Martin SALLMANN u. M. v. Kerstin GROSS (Hg.), 1509 – Johannes Calvin –

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war ein Ausdruck der Ehrfurcht vor der göttlichen Schöpfung104 und Grundbedingung eines gottgefälligen und moralischen Lebenswandels zugleich.105 Mit diesen im ‚genealogischen‘ Sinne verpflichtenden Worten entließ Karl Ludwig seine Tochter in ihr neues Leben. Sein Brief fungiert – abstrakt gefasst – als zukünftiges Handeln anleitende Aktualisierung habitueller Lebensgewohnheiten seiner Tochter. Die über den Brief kommunizierten christlich-moralischen Werte muss Elisabeth Charlotte genauso wie die Prinzipien der Lebensführung ernst genommen und als oberste Richtschnur ihres alltäglichen Tuns interpretiert haben. Die nachdrückliche Verpflichtung auf die Inhalte ihrer Erziehung und ihrer früheren Lebensgewohnheiten steht jedoch im Konflikt zu den Erwartungen, die man in ihrem neuen Umfeld an sie richtete. Dort wurde eine Anpassung an die hiesigen Kulturgewohnheiten geradezu selbstverständlich vorausgesetzt. Dies zeigen beispielsweise die Beobachtungen von Elisabeth Charlottes Fortschritten bei der Eingewöhnung (s‘acoutumer à toutes nos costumes106 ), die ihre Tante Anna und mit ihr gewissermaßen der gesamte französische Hof anstellte. Nicht nur in politischer, sondern eben auch in ganz alltagskultureller Hinsicht kann man also mit Annuschka Tischer von einer „schwierige[n] Doppelaufgabe“107 sprechen – einem versuchten „Spagat“, den „jede fremde Fürstin hinbekommen sollte“.108 Bereits anhand der ersten brieflichen Schilderungen Elisabeth Charlottes nach ihrer Übersiedlung an den französischen Hof lässt sich die Schwierigkeit dieser Doppelaufgabe ermessen.

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2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag (Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 4), Zürich 2008, S. 119–137, hier 128–129. Zur Bedeutung von Mäßigkeit in der calvinistischen Lehre vgl. Inst. III, 10, 1, in: CALVIN, Unterricht, hg. v. FREUDENBERG, S. 393: „Denn wenn wir leben sollen, so müssen wir auch die zum Leben erforderlichen Mittel benutzen. (...) Wir müssen also Maß halten, um jene Mittel mit reinem Gewissen zur Notdurft oder auch zum Genuß zu verwenden. Dieses Maß schreibt uns der Herr in seinem Wort vor: (...) Wenn wir die Erde also bloß durchwandern sollen, so müssen wir ihre Güter ohne Zweifel dazu verwenden, daß sie unseren Lauf fördern, statt ihn zu hemmmen.“ S. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 160. Vgl. Anna an Karl Ludwig, Metz, 16.11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 24, S. 467. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 136. Vgl. Anuschka TISCHER, Verwandtschaft als Faktor französischer Außenpolitik und Diplomatie, in: Dorothea NOLDE u. Claudia OPITZ (Hg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 39–53, hier 49. Vgl. ebd., S. 48 u. 40; in ähnlicher Weise Christiane COESTER, Schön wie Venus, mutig wie Mars. Anna d’Este. Herzogin von Guise und Nemours (1531–1607) (Pariser Historische Studien 77), München 2007, S. 123–131. Später war sich E. Ch. dieser Aufgabe wohl auch bewusst. Dies zeigt etwa ihre Bewertung der Verheiratungen der drei Töchter Ludwig Rudolfs v. Braunschweig. Am glücklichsten sei gewiss die Jüngste, die im Unterschied zu ihren an den Wiener und den Zaren-Hof verheirateten Schwestern, mit Ferdinand Albrecht II. v. Bevern, dem Herzog v. BraunschweigWolfenbüttel, vermählt in Wolfenbüttel blieb. Vgl. An Luise, Marly, 12.8.1713, HO, 2, 588, S. 331: dieße letzte hatt nicht von maniren zu endern, ist in ihrem landt bey alle den lieben ihrigen, daß findt ich ein recht glück. Vgl. Mechthild ALBERT, Madame Palatine et la politesse des nations, in: Alain MONTANDON (Hg.), Le Même et l’Autre. Regards européens, Clermont-Ferrand 1997, S. 71–86, hier 75.

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2. hir und bey unß : Konkurrierende Gewohnheiten 109

Zu den ersten überlieferten Eindrücken Elisabeth Charlottes vom Hof des Sonnenkönigs110 gehört die folgende Schilderung aus einem Brief an ihre Tante Sophie Anfang Februar des Jahres 1672. Dabei verwundert es wenig, dass Elisabeth Charlotte sich gerade im Hinblick auf Körper- und Gesundheitspraktiken mit ihrem neuen Lebensumfeld auseinandersetzte: Es ist nicht das ich hir mehr spatzire oder stercker als ich beÿ unß fplegte [sic!], aber die leütte hir sein so lam wie die gänße vndt ohne dem könig Madam de Chevreuse vndt ich, ist kein seel so 20 schriett thun kan ohne Schwitzen vndt Schnauffen.111

Bei Elisabeth Charlottes Formulierungen ist auffällig, dass mit dem hir eine Bezeichnung gewählt wurde, die sich auf den konkreten Ort bezieht, an dem sich die französische Hofgesellschaft aufhielt – während bey unß die Bindung an bestimmte Personen hervorhebt, denen sie sich zugehörig fühlte. Im hir, an das sie physisch gebunden war und über 50 Jahre bleiben sollte, fand sie kaum einen Menschen, der so gesund und kräftig sei, körperliche Anstrengungen zu bewältigen. Bey unß dagegen stand synonym für Gesundheit und Kraft sowie für einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem eigenen Körper, der geradezu als persönliche ‚Qualität‘ der familiären Bezugspersonen erscheint.112 Mit der Entgegensetzung von hir und bey unß lokalisierte und platzierte sie sowohl sich selbst als auch ihre vertrauten Bezugspersonen gleichzeitig in einem kulturell definierten Raum um die Lebensmittelpunkte aus ihrer ersten Lebensphase.113 Elisabeth Charlottes raumkulturelles Bezugssystem bestand aus zwei Kernzonen – der Pfalz, in der sie geboren wurde und bis zu ihrer Verheiratung lebte, sowie das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, wo sie von 1659 bis 1663 prägende Kindheitsjahre bei ihrer Tante verbracht hatte. Beide Räume waren für Elisabeth Charlotte über bestimmte Orte (die pfälzischen Höfe in Heidelberg, Friedrichsburg, Schwetzingen und Frankenthal einerseits sowie das Hannoveraner Leineschloss und die Iburg bei Osnabrück114 auf der anderen

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An Sophie, St. Germain, 5.2.1672, NLA-HStAH, I, 1v, vgl. B, 1, 1, S. 1. Zwischen ihrer Abreise aus Straßburg (11.11.1671) und dem Datum des Briefes (5.12.1672) sind neben dem Konversionsbekenntnisschreiben an ihren Vater (VdC, Lf, 1, S. 37–38) nur zwei Briefe An A. K. v. Harling überliefert. Es handelt sich um den ersten der überlieferten Briefe an Sophie v. Hannover. Vgl. das Inventar in HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 973. An Sophie, St. Germain, 5.2.1672, NLA-HStAH, I, 1v, vgl. B, 1, 1, S. 1. Vgl. BÖTH, Practices [i. Dr.]. Vgl. zu diesem Zusammenhängen LÖW, Raumsoziologie, S. 154 u. 158: „Räume entstehen also nur dadurch, daß sie erstens aktiv durch Menschen verknüpft werden. Dabei verknüpfen Menschen nicht nur Dinge, sondern auch (selbst aktiv in das Geschehen eingreifende) andere Menschen oder Menschengruppen. Somit gehen zweitens Platzierungen einher.“ Ernst August I. und Sophie lebten von der Vermählung bis 1662 im Leineschloss, danach von 1662 bis 1673 auf der Iburg. Vgl. Rolf SCHNEIDER, Ernst August I. und Sophie von der Pfalz als Bischofspaar in Iburg und Osnabrück (1662–1679), in: Heimatjahrbuch Osnabrücker Land (2003), S. 192–204, hier 195–196; zu den räumlichen Erinnerungen E. Ch.s VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 85–88, 92 u. 99–100.

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Seite) und die Bewegung zwischen ihnen repräsentiert.115 In der Retrospektive verschmolzen diese regionalen Kernzonen116 über die Thematisierung unterschiedlicher kultureller Praktiken in der Rhetorik des hir und bey unß zu einem kulturellen Raum, dessen Homogenität Elisabeth Charlotte in den folgenden Jahren immer wieder sowohl voraussetzte als auch bestätigend selbst konstituierte.117 Dieser angeeignete, konstruierte Raum wirkte auf die Interaktionen zwischen Elisabeth Charlotte und den Personen in ihrem neuen Lebensumfeld zurück, in dem er über Zugehörigkeit und Abgrenzung entschied.118 Die im Februar 1672 an Sophie von Hannover gerichteten zitierten Zeilen sind Teil des Resümees, das Elisabeth Charlotte aus ihrer ersten Krankheitserfahrung am französischen Hof zog. Sie entstanden aus der Reflexion über ein mit Migration, Krankheit und diätetischer Selbstsorge verbundenes Handlungsproblem, hatte Elisabeth Charlotte doch direkt angefügt, sie hätte wohl besser nach dem nachtessen was calopirt [sich bewegt] hette so wer ich nicht kranck worden wie E.L. auß fraw von Harling brieff sehen werden.119 Ein genauer Blick auf den hier erwähnten Brief erscheint lohnenswert, denn dieser gibt ausführlich und detailliert Auskunft über den Verlauf der ersten Krankheit in der neuen Lebensumgebung,120 zeugt von Elisabeth Charlottes Ursachensuche im Kontext diätetischer Gewohnheiten und ihrer Haltung gegenüber den medikalen Praktiken am Hof. Als Grund ihrer Erkrankung identifizierte Elisabeth Charlotte im Brief an Anna Katharina von Harling das unheilvolle Zusammenspiel der diätetischen Faktoren Ernährung und Bewegung. Obwohl sie sich bis dato nicht an die à la française, d.h. mit lautter speck vndt kein bisschen butter121 zubereiteten Gerichte habe gewöhnen können, sei die Verände115

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In ihrer Kindheit hatte E. Ch. diesen Raum auf Reisen erfahren. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 69–71; BROOKS, Nostalgia, S. 7. Vgl. Dorothea NOLDE u. Claudia OPITZ-BELAKHAL, Kulturtransfer über Familienbeziehungen – einige einführende Überlegungen, in: Dies. (Hg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 1–14, hier 5: „Kulturen wären in diesem Sinne nicht in erster Linie als mehr oder weniger homogene räumliche Entitäten, die durch ihre Grenzen definiert sind, zu betrachten, sondern als Bedeutungssysteme, die von einer (oder auch mehreren) Kernzone(n) oder einem Zentrum her zu verstehen sind.“ NOLDE, Fremdheitserfahrung, S. 26–27. Diese Mischung machte sich wohl auch sprachlich bemerkbar, schließlich attestierte man E. Ch. Pfaltzisch und Hannoverisch durch einander zu sprechen. Sie schloss an, sie könne auch noch etwas Braunsweigisch. Vgl. An Luise, St. Cloud, 10.7.1721, HO, 6, 1244, S. 171; VOSS, Fürstin, S. 49. Zu dieser Auffassung von ‚Raum‘, die im Wesentlichen auf den Sozialgeographen Henri Lefebre zurückgeht s. Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 291 u. Zit. S. 288–289: „Denn in der neuen Konzeptualisierung meint Raum gerade nicht Territorialität, Behälter von Traditionen oder gar Heimat, im Unterschied zum bisherigen Raum- und Ortsverständnis etwa in der Volkskunde. Raum meint soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten.“ An Sophie, St. Germain, 5.2.1672, NLA-HStAH, I, 1v, vgl. B, 1, 1, S. 1. Vgl. auch An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 97–98. Zur Interpretation des Briefes und der ersten Erkrankung vgl.VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 162– 163. Vgl. PETER, Kulturgeschichte, S. 91, dem zufolge die Zubereitung mit Butter für die dt. Küche essentiell war. Butter spielte jedoch auch in den Rezepten in frz. Kochbüchern seit Mitte des

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rung des Aufenthaltsortes der Hofgesellschaft von Paris nach Versailles ihrem Appetit dennoch zuträglich gewesen, denn in den Parkanlagen von Versailles habe sie viel häufiger Exzerzitien unternommen, so berichtet sie. Zum Nachtessen – welches man medianosche122 hir heißt – aß sie sich daraufhin so dick – dass sie sich nicht rühren kont. Durch verschiedene Umstände sei sie zu allem Übel gezwungen gewesen, direkt von der Tafel – d.h. mitt vollem magen – zu Bett zu gehen.123 Eine unruhige Nacht, in der sie wie ein tanzbeer geschwitzt habe, habe schließlich dazu geführt, dass sie zu lange geschlafen habe, um am folgenden Tag am Mittagessen teilnehmen zu können und sich das unheilvolle Regime deshalb am Abend wiederholte. Wieder habe sie so einen schrecklichen hunger verspürt, dass sie sich wider gantz dick geßen und gleich druff schlafen gehen musste – weil Monssieur schrecklich zahnpein hatte. Elisabeth Charlotte schilderte also eine über zwei Tage anhaltende Situation, in der ihr Alltagsregime aus gewohnter Ernährung, Bewegung und Schlaf komplett durcheinandergeraten war. Schuld an dieser diätetischen Ausnahmesituation war die Umstellung auf die neuen Nahrungsgewohnheiten (die ungewohnte Zubereitungsart der Speisen sowie der spätere Zeitpunkt des Essens124 ) am französischen Hof sowie der neuerliche Ortswechsel von Paris nach Versailles und die dadurch wiederholt ungewohnten Bedingungen für körperliche Aktivität. Beides hatte Einfluss auf den Schlafrhythmus, der als abhängige Variable verstanden wurde. Die Ungeordnetheit der Lebensbedingungen in der neuen Umgebung provozierte aus Elisabeth Charlottes Sicht letztlich einen Verlust der diätetischen Selbstkontrolle, der sich im wiederholten unkontrollierten Essverhalten ausdrückte. Sie akzentuierte damit genau die Zusammenhänge, die auch ihr Vater im Briefwechsel mit Anna Gonzaga thematisiert hatte. Tatsächlich war es nun so weit gekommen, dass die nouvelle maniere de vivre et le changement de regime125 , wie ihr Vater befürchtet hatte, ihre Gesundheit bedrohten. Von der Erklärung möglicher Ursachen kam Elisabeth Charlotte im Brief an Anna Katharina von Harling zur Beschreibung der Symptome und des weiteren Krankheitsverlaufes. In der zweiten Nacht habe sie eine schreckliche hitz und dabeÿ abscheülich kopffwehe bekommen. Obwohl sie versucht habe, sich am nächsten Tag nichts anmerken zu lassen, sei ihr Zustand den Personen in ihrer Umgebung aufgefallen. Während die Königin und

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17. Jhd.s eine zentrale Rolle. Vgl. Joan DE JEAN, The Essence of Style. How the French Invented High Fashion, Fine Food, Chic Cafés, Style, Sophistication and Glamour, New York 2005, S. 114. Zum Nachtessen bei Hof s. BERGDOLT, Leib, S. 225; Georges VIGARELLO, Le Sain et le Malsain. Santé et mieux-être depuis le Moyen Âge, Paris 1993, S. 92. Hierbei handelte es sich wohl um ein Fastenessen, aber auch generell aß man am frz. Hof spät zu Abend. An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 97. Vgl. zu E. Ch.s Abneigungen gegen das Fastenessen am frz. Hof An Sophie, Versailles, Marly, 27.6.1709 u. Versailles, 15.3.1705, NLAHStAH, XIX,1, 462/463r [fehlerhafte Nummerierung] u. XV,1, 139r. E. Ch. hielt das späte Essen noch Jahre später für ungesund, meinte jedoch, sie sei nun daran gewöhnt. An Luise, Versailles, 8.3.1710, HO, 2, 465, S. 167: Daß späte eßen bin ich nun gewont, aber ich glaube, daß alle meine erste kranckheitten davon gekommen sein, so ich hir in Franckreich gehabt habe. An Luise, Marly, 12.8.1713, HO, 2, 588, S. 329; An Luise, Marly, 26.7.1715, HO, 2, 717, S. 596. In der Pfalz aß man E. Ch. zufolge auch in den Wintermonaten nie später als sieben Uhr zu Abend; in den Sommermonaten sogar schon gegen fünf Uhr, woraufhin sich ein Spaziergang anschloss. Vgl. dazu An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, Paris, 25.4.1718, V, 24, S. 44; An Sophie, Versailles, 5.12.1709, NLA-HStAH, XIX,2, 1003r, Marly, 6.5.1700, ebd., X, 316r–317v, vgl. B, 1, 411, S. 400–401, Versailles, 5.12.1709, Ebd., XIX,2, 1003r–1004v. Karl Ludwig an Anna, 8./18.12.1617, o.O., in: BODEMANN (Hg.), Bw, 32. S. 475.

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ihre Hofdamen lediglich festgestellt hätten, sie sehe traurig aus, habe der König eine ernsthaftere Fiebererkrankung vermutet,126 welche der nebenstehende Leibarzt der Königin nach Anfühlung ihres Pulses127 jedoch nicht habe bestätigen können. Nachdem sie sich in ihre Kammer zurückgezogen habe, sei ihr Zustand unverändert geblieben. Obwohl der Doktor nach wie vor dafür gehalten habe, sie habe kein Fieber, habe der König darauf bestanden, sie solle ein Klistier128 anwenden.129 Elisabeth Charlotte dokumentierte mit ihren Aussagen, dass die ihr nahestehenden Personen, insbesondere der König, durchaus besorgt um sie waren und fürchteten, die Unpässlichkeit könne in Wahrheit der Beginn einer schwereren Erkrankung sein. Für Ludwig XIV. gab es in dieser gefahrvollen Situation für Gesundheit und Leben seiner neuen Schwägerin keine Alternative zum Einsatz stärkerer Mittel. Entsprechend den Vorstellungen der aus der Antike tradierten traditionellen galenischen Medizin mussten die Fieber auslösenden fauligen Säfte (d.h. die Krankheitsmaterie/materia peccans) auf dem schnellsten Wege und mit allen nur erdenklichen Mitteln aus dem Körper ausgetrieben werden,130 um Schlimmeres zu verhindern. Offensichtlich ließ Elisabeth Charlotte sich auf Drängen des Königs auf diesen Behandlungsvorschlag ein, auch wenn sie in ihrem Brief kritisch auf die starke Wirkung der Purgation hinwies, denn sie habe sich nach der Behandlung auch noch allemahl 4 mahl vbergeben müssen. Augenzwinkernd stellte sie fest, der Doktor habe nach der Anwendung des Klistiers diagnostiziert, dass sie daß fieber nun rechtschaffen hette. Am übernächsten Tag wurde ihr unvermindert anhaltendes Fieber nochmals mit einem Klistier behandelt131 – darüber hinaus plante man jedoch, wie Elisabeth Charlotte schrieb, sie zusätzlich zur Ader zu lassen, um die begonnene Therapie der Körperreinigung zu ergänzen. Eindring-

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Fieber galt im 17. Jhd. als eigenständige Erkrankung – erst langsam setzte sich unter Medizinern, angeregt durch Paracelsus und die Fieberlehren des spanischen Arztes Gomez Pereira (1500–1567), des Dominikaner-Mönches Tomasso Campanella (1568–1639) sowie Johann Baptist Van Helmonts, die Auffassung durch, es handele sich um ein Symptom der Körperabwehr. Vgl. Max NEUBURGER, Die Lehre von der Heilkraft der Natur im Wandel der Zeiten, Stuttgart 1926, S. 36– 37; Walter PAGEL, Joan Baptista Van Helmont. Reformer of science and medicine, Cambridge 1982, S. 158–161; Michael W. MÖNNICH, Tommaso Campanella. Sein Beitrag zur Medizin und Pharmazie in der Renaissance (Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte 2), Stuttgart 1990, S. 171–173. Fieber diagnostizierte man vor allem an einem beschleunigten Puls, da man neben hitzigen auch kalte Fieber kannte. S. etwa Michael STOLBERG, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln, Wien, Weimar 2003, S. 194–199. Zu den medikalen Konzepten bei mit Fieber einhergehenden Krankheiten s. ausführlich 2.IV.1 u. 2.V.1. Zur Anwendung von Klistieren in der medizinischen Praxis s. Robert JÜTTE, Das Zepter der heroischen Medizin: das Klistier in der medikalen Alltagskultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Gertrud BLASCHNITZ, Helmut HUNDSBICHLER, Gerhard JARITZ und Elisabeth VAVRA (Hg.), Symbole des Alltags. Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, S. 777–803, hier 789–790. An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 97–98. Vgl. STOLBERG, Homo Patiens, S. 197–198; Michael STOLBERG, Die wundersame Heilkraft von Abführmitteln. Erfolg und Scheitern vormoderner Krankheitsbehandlung aus der Patientensicht, in: Würzburger Medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003), S. 167–177, hier 168–169. An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 98.

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lich schilderte Elisabeth Charlotte gegenüber Anna Katharina von Harling ihre Weigerung, sich dem Aderlass zu unterziehen, mit den folgenden Worten: Sie haben mir mitt aller gewalt wollen aderlaßen vndt medicin geben. Aber ich hab durchauß nicht gewolt. Endtlich – wie sie keinen ratt mehr mitt mir gewust, hat der könig vndt Monssieur kommen wollen. Einer hat mir wollen den ahrm – der ander die ander handt vndt den kopff mitt aller gewalt halten.132

In der Schilderung dieser Szene scheint ein medikales Leitprinzip durch, das sich in der Korrespondenz der nächsten Jahre wiederholen wird: Elisabeth Charlotte verweigert sich den ausleitenden Behandlungsmethoden.133 Betrachtet man die geschilderte Szene als soziale Interaktion eröffnet sich ein durchaus ambivalentes Bild: Einerseits berichtete Elisabeth Charlotte, dass Monsieur und Ludwig XIV. sie mitt aller gewalt zum Aderlass bewegen wollten, sie festgehalten und beinahe überwältigt hätten. Gleichzeitig wird im Kontext des Briefes überdeutlich, dass beide äußerst besorgt um den Gesundheitszustand des neuen Familienmitgliedes waren und letztlich nur das Beste für sie im Sinn hatten. Die Anwendung physischer Gewalt sei gewissermaßen als ultima ratio erst erfolgt, als die beiden Männer sich schlussendlich keinen anderen Rat mehr gewusst hätten, so räumte Elisabeth Charlotte ein. Problematisch ist darüber hinaus, dass sie im Konjunktiv schreibt (sie haben mich festhalten wollen). In ihrer Erzählung ließ sie also offen, ob es tatsächlich zum Vollzug des gewaltsamen Übergriffs gekommen ist oder ob sie sich nur davon bedroht fühlte. Zu Hilfe kam ihr in dieser Situation eine ‚glückliche‘ Fügung – der ‚Besuch einer Jungfer‘, wie sie die offensichtlich unmittelbar einsetzende Menstruationsblutung schicklich zu umschreiben wusste,134 konnte verhindern, dass man sie zur Ader ließ.135 Das Einsetzen einer Blutung im Krankheitsfall galt – unabhängig von deren Quelle – den frühneuzeitlichen Körperkonzepten folgend als Zeichen des Selbstheilungswillens des kranken Körpers.136 Ihr Körper hatte, so stellte Elisabeth Charlotte Anna Katharina 132 133

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Ebd. E. Ch. schien noch eher bereit, Behandlungen mit Abführmitteln bzw. Klistieren über sich ergehen zu lassen, als sich der Prozedur des Aderlasses auszusetzen. Ebd.: Seÿder dem hab ich kein fieber mehr gehabt – auch kein schmertzen mehr – weder im kopff noch in die bein. Das schlimste aber ist das mich hungert vndt vor morgen darf ich nicht eßen – weillen man noch lauert ob eß kein 4 tagig fieber geben will; Ich aber glaub es nicht – den wan es kommen solte – so käme es itzunder, vndt ich befinde mich gar woll got lob; Heütte haben sie mir wider ein clistir gebe; Sonstens geben sie mir – gott lob nichts als alle 4 stündt ein schüßel voll kälber safft – wie sie es heißen – welches etwas besser ist als fleischbrühe – dißes ist die gantze relation von meiner kranckheit. „Jungfer Katherin“ war eine gebräuchliche Umschreibung für die Menstruation. Vgl. BODEMANN (Hg.), Briefe an ihre frühere Hofmeisterin, S. 17 Anm. 1. An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 98: Aber zu allem glück hatt mich eine jungfer besucht – welche verursacht – das man mir nicht [zur Ader] gelassen. Ihr versteht mich woll. Vgl. dazu VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 163, der E. Ch.s Beschwerden als prämenstruelles Symptom deutet, das mit gesteigertem Appetit und Migräne in Verbindung stand. Ob ihren Ärzten bei ihrer Behandlung klar war, dass die Patientin ihre Menstruation erwartete, ist auf der Grundlage der überlieferten Briefe nicht zu entscheiden. Das Einsetzen eines Blutflusses galt nach antiker Lehre als sogenannte ‚kritische Ausscheidung‘ und somit als Zeichen des Selbstheilungswillens des Körpers. Vgl. NEUBURGER, Heilkraft, S. 7 u. 26. Dies musste allerdings nicht immer zum Unterlassen austreibender Behandlungsmethoden führen. Vgl. An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 10.7.1699, HO, 1, 89, S. 161. E. Ch. berichtete hier vom Conte

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von Harling (und der mitlesenden Tante) dar, nun also ohne einen künstlichen Eingriff der Ärzte die Kraft gefunden, sich durch Austreiben der Krankheitsmaterie selbst zu heilen. Deutlich wird daran, dass Elisabeth Charlotte das Vertrauen auf die natürliche Heilkraft des Körpers als Gegensatz zum ärztlichen Eingreifen mit künstlich evakuierenden Methoden verstand. Interessant ist, in welcher Weise sie von ihrer Weigerung, sich dem Aderlass zu unterziehen, berichtet: Ihre Aussage Aber ich hab durchauß nicht gewolt und die Schilderung der angedrohten Gewaltanwendung offenbart die Adressatenbezogenheit ihrer Aussagen. Es scheint, als wollte sie der früheren Hofmeisterin sowie ihrer Tante glaubhaft demonstrieren, dass sie selbstverständlich nicht mit dem Aderlass einverstanden gewesen sei. Daraus lässt sich schließen, dass Elisabeth Charlotte zwar mit dem Aderlass als solchem vertraut war, aber befürchtete, es könne von ihrer Bezugsgruppe nicht geschätzt werden,137 wenn sie sich der Prozedur unterzog. Die hier zu Tage tretenden unterschiedlichen medikalen Praktiken werden von Elisabeth Charlotte im Kontext ihres Lebenslaufs und ihrer Migrationserfahrung als kulturräumliche Differenzen zwischen ihrer Herkunftsfamilie (bey unß) und denjenigen am französischen Hof (hir) interpretiert. Auf einer zweiten Ebene werden in der geschilderten Szene jedoch auch geschlechtsbezogene Konnotationen angesprochen, die vor Augen führen, dass in der medikalen Praxis der Frühen Neuzeit ein Körper bzw. Leib, sei er krank oder gesund, als vergeschlechtlichter Körper verstanden und entsprechend behandelt wurde. Der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Karin Baumgartner zufolge versteht Elisabeth Charlotte ihren sich selbst heilenden, kraftvollen Leib mit dem Bezug auf die Menstruationsblutung explizit als einen weiblichen, der sich mit seiner besonderen natürlichen Entleerungskraft gegen die von ihr als männlich dargestellte medikale Kultur am französischen Hof zur Wehr setze.138 Der angedrohten Behandlung werde eine Alternative gegenübergestellt, die auf dem spezifischen Evakuationsweg des weiblichen Körpers beruhe. Damit erlaube ihr die Menstruation, ihre Position aus der eines Opfers in die einer Handlungsträgerin zu verändern. Dem König und seinen Ärzten bleibe im Angesicht dieser unkontrollierbaren weiblichen Natur nicht anderes übrig, als zu kapitulieren, so Baumgartner.139

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de Rouey, der bei einem Unfall mit Kalesche einen Blutsturz aus Nase erlitt. Dennoch habe man ihn weitere vier Mal zur Ader gelassen, woraufhin er das Gedächtnis verloren habe. Ähnlich ging dies 1707 Sophie v. Hannover, die ihrer Nichte die Durchführung eines Aderlasses verheimlichte. An Luise, Marly, 17.7.1707, HO, 2, 370, S. 32: Ich habe alß gehört, daß die aderlaß nach 60 jahren nicht gutt ist, wolte also, daß I.L. ihr bludt behalten hetten; aber weillen ma tante nicht will, daß ich es wißen solle, so habe ich nichts davon gesagt. Die Korrespondenzen zeugen also von einer gegenseitigen Kontrolle medikaler Prinzipien in der Familie. Zur Aderlasspraxis Sophies s. etwa auch An Luise, Marly, 21.7.1707, HO, 2, 371, S. 33; An Luise, Versailles, 11.6.1705, HO, 1, 251, S. 400. Vgl. BAUMGARTNER, Illness, S. 61. Ebd.: „In the context of absolutism, resistance to the medical establishment, an extension of the king’s absolute power, carried highly symbolic meaning, as the king required submission and loyalty from all members of the royal household. The incident above reveals that Elisabeth Charlotte was aware of the symbolic meaning of blood in French absolutism and framed the struggle over managing her health in terms of how blood should be shed in the royal family. She portrays French medical treatment not only as intrusive and violent, but also as male. The threatened treatment is juxtaposed with an alternative that is non-intrusive and based on the female body’s inherent powers of evacuation: natural blood flow. Menstruation enables Elisabeth Charlotte to change her position

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Problematisch an dieser Deutungsperspektive ist aus meiner Sicht allerdings, dass sich im Text und in weiteren Äußerungen Elisabeth Charlottes keinerlei direkte Belege für ihre Richtigkeit finden lassen. Sie selbst verzichtete in ihrer Erzählung darauf, medikale Konzepte oder deren Träger als ‚weiblich‘ bzw. ‚männlich‘ zu bezeichnen. Im Endeffekt geht Baumgartners These von der Vermutung aus, die Menstruationsblutung sei von Elisabeth Charlotte als Ausdruck einer spezifisch w e i b l i c h e n Evakuierungskraft verstanden worden, die es ihr erlaubte, sich der männlichen Medikal-Kultur und ihren Eingriffen in die weiblich konnotierte Natur des Körpers zu widersetzen. Wie medizingeschichtliche Forschungen zeigen konnten, wurden aber auch dem ‚männlichen‘ Körper spezifische ‚natürliche‘ Blutungsflüsse, beispielsweise aus den Hämorrhoiden, zugeschrieben, was die Annahme einer Sonderstellung des ‚blutenden‘ weiblichen Körpers relativieren dürfte.140 Wesentlich erscheint mir auch, dass Elisabeth Charlotte selbst es als als Glücksfall bezeichnete, dass ihre Menstruation gerade noch rechtzeitig vor dem Aderlass begonnen hatte. Der ‚Besuch der Jungfer‘ wird keineswegs als ein Triumph dargestellt, den Baumgartner andeutet, wenn sie schreibt: „Menstruation enables Elisabeth Charlotte to change her position from that of victim to that of agent.” Elisabeth Charlotte war sich im Gegenteil wohl eher bewusst, dass es sich hier allenfalls um einen ‚Etappensieg‘ in ihrer Auseinandersetzung mit der medikalen Kultur am französischen Hof handeln konnte. Einen ‚weiblichen‘ Körper zu haben, half zwar zeitweise, aber keineswegs dauerhaft und strukturell weiter. Dieses Mal war sie durch die gerade noch zum richtigen Zeitpunkt einsetzende (Menstruations-)Blutung zwar zumindest dem Aderlass noch einmal entgangen. Der hier aufbrechende Konflikt zwischen unterschiedlichen medikalen Auffassungen war jedoch nur vorerst vertagt. Jedenfalls klang Elisabeth Charlotte einigermaßen entmutigt, wenn sie ihre Beschreibung wie folgt beschloss: Heütte haben sie mir wider ein clistir gebe; Sonstens geben sie mir – gott lob nichts als alle 4 stündt ein schüßel voll kälber safft – wie sie es heißen – welches etwas besser ist als fleischbrühe – dißes ist die gantze relation von meiner kranckheit.141

Darüber hinaus muss bedacht werden, dass Elisabeth Charlotte die Menstruation in den wenigen weiteren Passagen ihrer Briefe, in denen sie sich über dieses, wie an der Umschreibung jungfer cathrin zu erkennen ist, schambehaftete Thema äußerte, keineswegs einheitlich positiv bewertete. Der Beginn der Monatsblutung wird damit zwar einerseits als hilfreiche Unterstützung des erkrankten Körpers willkommen geheißen, wie es auch im Februar 1672 der Fall war.142 Andererseits aber gab jede noch so geringe Unregelmäßigkeit des Zyklus Elisabeth Charlotte Anlass zur Sorge um die eigene Gesundheit und

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from that of victim to that of agent. The king and his physicians must capitulate in the face of uncontrollable female nature and eventually leave her to herself.” Vgl. Gianna POMATA, Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte. Zu den Bänden II und III der „Histoire des femmes en occident“, in: L’homme 4,2 (1993), S. 114–125, hier 119–120. Vgl. An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 98. Vgl. ebd., Versailles, 8.4.1696, H, 126, S. 244: Ich glaub daß mir ein maß waßer auß den augen undt naß geflossen ist seÿder acht tagen. Jungfer Cathrin ist mir zu hülff kommen. Die hatt vergangen donnerstag sich ahngemelt undt alles fort geführt. Vgl. FORSTER, Illness, S. 303; allg. Michael STOLBERG, Von den „Stufenjahren“ zur „Menopause“. Das Klimakterium im Wandel der Zeit, in: Würzburger Medizinhistorische Mitteilungen 24 (2005), S. 41–50, hier 43; POMATA, Frauengeschichte, S. 121.

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setzte den Körper potentiell medizinischen Eingriffen aus. Denn dem älteren humoralpathologischen Reinigungsmodell zufolge wurde die Menstruation als Ausdruck einer konstitutionellen Minderwertigkeit der Frau interpretiert. Aufgrund des Frauen zugeschriebenen feuchteren und kälteren Temperaments ging man davon aus, dass sich im weiblichen Körper allmonatlich verderbliche und krank machende Säfte ansammelten. In diesem Punkt stimmten traditionelle humoralpathologische Auffassungen mit den im 17. Jahrhundert aufkommenden iatrochemischen Vorstellungen überein; und auch nach dem unter Ärzten des 17. Jahrhunderts zunehmend einflussreichen Plethora-Modell, dem zufolge zwar gesundes, aber übermäßig viel Blut angehäuft wird, stellte der Ausscheidungsweg über die Menstruation eine absolute Notwendigkeit für die Gesundheit eines weiblichen Körpers dar. 143 Diese medizinischen Vorstellungen wurden auch von Elisabeth Charlottes Zeitgenossinnen geteilt. Beispielsweise war eine diffuse Angst vor den ‚Wechseljahren‘, in denen, so war sich auch Elisabeth Charlotte sicher, viel weibsleütte kranck würden, weit verbreitet.144 Auch Elisabeth Charlotte selbst sollte in späteren Jahren ihren Briefen zufolge etwa ein Jahrzehnt lang unter unregelmäßigen Blutungen, die mit Dämpfen145 und Schwindel146 einhergingen, leiden. Manche medizinischen Behandlungen wurden also überhaupt erst notwendig, w e i l die Menstruation sich verzögerte oder gänzlich ausblieb. Im April 1696 etwa musste Elisabeth Charlotte morgens auf nüchternen Magen eine in Wein aufgelöste Tinktur verabreicht werden, um jungfer Cathrin herbeizurufen.147 Insbesondere der von Elisabeth Charlotte gefürchtete Aderlass galt in der zeitgenössischen Medizin bei Störungen der Monatsblutung als Mittel der Wahl.148 Die Menstruation kann also nicht eindi143

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Vgl. Michael STOLBERG, Deutungen und Erfahrungen der Menstruation in der Frühen Neuzeit, in: Barbara MAHLMANN-BAUER (Hg.), Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik, (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 38), Bd. 2, Wiesbaden 2004, S. 913–931, hier 914–921 u. 925–927, Michael STOLBERG, A Women’s hell? Medical perceptions of menopause in preindustrial Europe, in: Bulletin of The History of Medicine 73 (1999), S. 408–428, hier 405–411 u. Stufenjahre, S. 46–47; Patricia CRAWFORD, Attitudes to Menstruation in Seventeenth-Century England, in: Past & Present 91 (1981), S. 47–73, hier 50–53 u. 70. Vgl. An Luise, St. Cloud, 28.5.1719, HO, 4, 1022, S. 130. Vgl. zur Angst vor der Menopause, STOLBERG, Deutungen, S. 929; anders CRAWFORD, Attitudes, S. 71. Entsprechend der konzeptionell engen Verbindung verknüpfte auch E. Ch. ihre menstruellen Beschwerden in den Wechseljahren mit ihrer Melancholie. Vgl. An A. K. v. Harling, Paris, 27.3.1694, H, 106, S. 221–222. An Luise, Versailles, 17.3.1697, HO, 1, 48, S. 83: Ich wolte Eüch gerne noch lenger entreteniren, liebe Louisse, allein dieß ist schon der 5te brieff, so ich heütte schreibe, also scwhindetl mir der kopff ein wenig; den ich habe eine starcke visitte von jungfer Catherin seyder 4 tagen, muß also wider meinen willen schließen. Vgl. An A. K. v. Harling, Paris, 21.4.1694: H, 107, S. 222: Ich hoffe daß mein miltz mich hinfüro wirdt mehr in ruhen laßen alß bisher geschehen – den jungfer Catrin hatt sich eben wider beÿ mir ahngemelt – wie ich ewern brieff entpfangen habe undt also 3 gantze monat außgeweßen; Mein dockter hatt mir 3 oder 4 tage lang stahl[]teintur ein geben in wein – morgendts nüchtern. Darauff ist jungfer Cathrin wider kommen. Weillen sie aber so unrigtig in ihrem gang wirdt – glaube Ich – daß sie mir baldt gantz den abschidt geben wirdt. Zum Zeitpunkt der Menopause s. auch retrospektiv An Luise, Marly, 5.5.1709, HO, 2, 420, S. 99–100. Vgl. STOLBERG, Deutungen, S. 930. Der Aderlass war den medikalen Vorstellungen der Frühen Neuzeit entsprechend sowohl bei einer Deutung der Menstruation als Reinigung als auch als Zeichen von Blutfülle indiziert.

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mensional als gesundheitlicher Segen für die Weiblichkeit betrachtet werden – sie machte Frauen gleichzeitig hochgradig anfällig für Eingriffe der medikalen Kultur(en), dies muss auch der jungen Elisabeth Charlotte klar gewesen sein. Deshalb bestand Elisabeth Charlottes Konsequenz aus ihrer ersten Krankheitsphase folgerichtig in einer gesteigerten Konzentration auf gesundheitliche Selbstsorge. Resümierend und durchaus selbstkritisch hob sie im Brief an Anna Katharina von Harling hervor: Hin[-]furo will ich [mich] beßer in acht [nehmen] vndt nicht so viel freßen.149 Der bestehende medikale Konflikt sollte schlichtweg vermieden werden, indem Elisabeth Charlotte noch genauer darauf achten wollte, ihr diätetisches Regime im Gleichgewicht zu halten. Ihren Selbstanweisungen für zukünftiges Handeln fügte sie jedoch einschränkend hinzu, dass viele Leute am französischen Hof, insbesondere Gatte und Schwager, diese erste Erkrankung in der neuen Umgebung als beinahe obligatorisch ansehen würden. Die verenderung der lufft bewirke, dass alle teütschen (…) hir im landt so ein hats austehen müssten. Sie könne also gewiss noch froh sein, so gnädig davon gekommen zu sein.150 Wie ihr Vater neigte Elisabeth Charlotte also dazu, Krankheitsursachen in erster Linie in den diätetischen Gewohnheiten begründet zu sehen. Sie schilderte sich selbst vornehmlich als Opfer der kulturspezifischen Unterschiede im täglichen Regime – räumte aber ein, sie hätte mit etwas mehr Wachsamkeit und Selbstdisziplin gegenüber dieser Problematik durchaus dazu beitragen können, die Erkrankung zu verhindern. Die ‚französische‘ Sichtweise bestand einmal mehr in der Betonung klimatischer Unterschiede, denen die migrierende Person mehr oder weniger hilflos gegenüberstand (ein hats austehen). Mit diesem Argumentationsmuster wurden naturräumliche Differenzen vor der unterschiedlichen Krankheitsbehandlung hervorgehoben, womit das eigentliche Handlungsproblem, das in einer unterschiedlichen Haltung zum Einsatz evakuierender Methoden im Krankheitsfall bestand, überdeckt wurde. Die Diskussion, die Karl Ludwig und Anna Gonzaga führten, findet in dieser von Elisabeth Charlotte geschilderten Episode ihre Wiederholung: Klimatische und naturräumliche Differenzen, unterschiedliche Auffassungen von Lebensart bzw. diätetischen Gewohnheiten sowie die konkreten Handlungspraktiken zur Heilung und Gesunderhaltung des Körpers standen im Ruf, negative Auswirkungen auf Leib und Leben zu entfalten und provozieren fast folgerichtig die Konflikte, die Elisabeth Charlotte dann auch tatsächlich in ihren Briefen schilderte. Auch von ‚französischer‘ Seite wurden die medikalen und diätetischen Begegnungen mit der neuen Herzogin von Orléans schon in den ersten Monaten und Wochen als konfliktreich wahrgenommen. Wie bereits erwähnt, war die französische Hofgesellschaft durchaus dafür bekannt, besonders strikte Verhaltensanforderungen an einheiratende Frauen zu richten.151 Einen Gradmesser für die Relevanz medikaler Fragen in dieser Hin149 150

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An A. K. v. Harling, St. Germain, 4.2.1672, H, 22, S. 98. Ebd., S. 99: die meisten leütt hir, der könig vndt Monssieur selber meinen – es kom[me] wegen der verenderung der lufft – den sie sagen – alle teütschen müßen hir im landt so ein hatzs austehen; Ich bin fro – das ich so gnadig bin darvon kommen. S. ebenso An Luise, St. Cloud, 22.5.1721, HO, 6, 1229, S. 123; An Sophie, Versailles, 27.11.1695, NLA-HStAH, V, 292v, vgl. B, 1, 223, S. 229: Ich weiß nicht waß den teütschen so woll ahn Paris gefelt den Ich sehe wenig ahnkommen welche nicht eine abscheüliche kranckheitt dort außstehen. Besonders strenge Regelungen bestanden für die künftige frz. Königin, die bekanntermaßen bei der Grenzüberschreitung ihre Kleider und persönlichen Gegenstände ablegen musste und à la française umgekleidet wurde. Vgl. TISCHER, Verwandtschaft, S. 48 u. 40; COSANDEY, Konstruktion, S. 329–

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sicht stellt eine Passage aus der Korrespondenz der berühmten Briefschreiberin Madame de Sévigné dar, die in ihren über 1200 Briefen das Leben am französischen Hof dokumentierte und aus ihrer Sicht kommentierte. Schon Anfang Dezember 1671 schrieb Madame de Sévigné mit einiger Empörung über die Haltung der neuen Madame gegenüber Medizin und Gesundheitssorge: On dit qu’elle ne fait pas cas de médecins et encore moins des médecines. (...) Quand on lui présenta son médecin, elle dit qu’elle n’en avait que faire, qu’elle n’avait jamais été ni saignée, ni purgée; quand elle a quelque incommodité, elle se promène et s’en guerit par l’exercise: Lasciamo la andar, che fara buon viaggio.152

Madame de Sévigné zufolge waren die grundlegenden medikalen und diätetischen Differenzen also schon lange, bevor Elisabeth Charlotte zum ersten Mal wirklich krank geworden war, zu Tage getreten. Sie berichtete ihrer Tochter von Elisabeth Charlottes Reaktion beim ersten Zusammentreffen mit ihrem künftigen Leibarzt,153 den die neue Madame wie ihren kompletten Hofstaat nicht frei wählen durfte.154 Die neue Herzogin habe hier schlicht erklärt, die Zuweisung eines Arztes sei nicht erforderlich – da man sie bisher niemals zur Ader gelassen oder purgiert hatte. Bisher war Elisabeth Charlotte tatsächlich selten ernstlich krank geworden, weshalb sie bei bester Gesundheit befindlich selbst wohl keinesfalls die Notwendigkeit gesehen haben dürfte, sich präventiv mit derartigen medizinischen Belangen auseinanderzusetzen. Ihre Haltung muss angesichts der festen Verankerung der genannten Behandlungsmethoden im Alltag der meisten Zeitgenossen auf Madame de Sévigné verwunderlich, wenn nicht gar äußert fremdartig gewirkt haben. Auch wenn nicht wenige Quellen eine unterschiedliche Intensität in der Anwendung von Aderlässen zwischen dem südlichen und dem nördlichen Teil Europas konstatieren,155 die bisher in der Medizingeschichte noch wenig diskutiert wurde,156 war die

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331; COESTER, Venus, S. 124–125. Auch wenn E. Ch. dieses Ritual wohl erspart blieb, wurden auch für sie frz. Kleider angefertigt. Vgl. FORSTER (Hg.), Woman’s Life, S. 6; JONES, Sexing, S. 19–20. Mme de Sévigné an Mme de Grignan, Rochers, 2.12.1671, in: DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SEVIGNE, Bd. 1, 222, S. 386; dt. Übers. bei VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 161–162: „Man sagt, daß sie Ärzte nicht schätzt und noch weniger Arzneien… Als man ihr einen Arzt vorstellte, erklärte sie, sie brauche ihn nicht; man habe sie nie zur Ader gelassen oder purgiert; wenn sie irgendeine Unpässlichkeit hat, geht sie spazieren und kuriert sich durch Bewegung: Soll sie doch gehen – wir wünschen ihr eine gute Reise“; FORSTER, Illness, S. 309; BAUMGARTER, Illness, S. 61. E. Ch.s erster Leibarzt Nicolas Lizot. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 162 u. 225. Im Krankheitsfall kamen jedoch auch die anderen Hofärzte zum Konsilium zusammen: Diese waren Jean Espirt, der Leibarzt Monsieurs, Nicolas Brayer, der Leibarzt des Dauphins. Daneben erwähnt E. Ch. selbst noch die Namen Baylay und Tissot. Vgl. An Sophie, Paris, 22.5.1675, NLA-HStAH, I, 23r, vgl. B, 1, 7, S. 5–6. Vgl. FORSTER, Illness, S. 297 u. 315; BAUMGARTNER, Illness, S 61. S. dazu die Auffassung von Marchamont NEEDHAM, Medela Medicinae (1665), S. 383–385 u. 422– 426, der Aderlass könne den in nördlichem Klima lebenden Völkern aufgrund der eher wässrigen Qualität ihres Blutes anders als Südländern schädlich sein. Vgl. auch ZACHARASIEWICZ, Klimatheorie, S. 404–406; Jürgen VOSS, Deutschland, die Deutschen und die deutsche Medizin im Urteil des Pariser Arztes Jean Goulin (1728–1799), in: Jochen SCHLOBACH (Hg.), Médiations – Vermittlungen. Apects des relations franco-allemandes du XVIIe siècle à nos jours. Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 1 (Contacts Série III – Gallo-Germanica 7), Bern, Berlin, Frankfurt a.M., New York, Wien 1992, S. 197–207, hier

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Venaesektion grundsätzlich auch in Deutschland oder England eine häufig angewendete und hochgradig geschätzte Behandlungsmethode.157 Elisabeth Charlottes kritische Einstellung gegenüber Ärzten und deren Heilmitteln beruhte, so ist hier grundsätzlich zu konstatieren, auf Sozialisationsprozessen158 in ihrer Herkunftsfamilie. Die Instruktionen an die Hofmeisterin Ursula Marie Kolb zu Wartenberg zeugen von einer durchdachten medikalen Pädagogik des Kurfürsten. So hatte Karl Ludwig etwa verfügt, die Gouvernante habe stets darauf zu achten, dass man den Körper der Kurprinzessin im Krankheitsfall nicht mit zu viel Medizin überlade. Darüber hinaus untersagte er jegliche Anwendung von Medikamenten – auch und besonders solchen, die zur Prophylaxe dienen – die den Ansichten des Hofarztes widersprechen, ohne seine vorherige persönliche Kenntnisnahme.159 Die Umsetzung dieser Handlungsmaximen kann anhand zweier Briefe Karl Ludwigs aus dem Frühsommer 1663 direkt belegt werden. In ihnen berichtet der sich selbst als Dr. Carl Ludwig bezeichnende Vater, er habe Elisabeth Charlottes Behandlung genauestens überwacht und sich selbst an einer Diagnose des unklaren Geschwürs seiner Tochter versucht.160 Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass vor allem implizite Gewöhnung an den Umgang mit dem Körper, der bei familiär nahestehenden Personen beobachtet und ‚abgeschaut‘ werden konnte,161 eine

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204, der diesen Gegensatz auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jhd.s in den medizinischen Schriften des frz. Arztes Goulin auffindet. Speziell zu E. Ch. vgl. VOSS, Zeuge, S. 199–200. Vgl. als Ausnahme Robert JÜTTE, Norm und Praxis in der ‚Medikalen Kultur’ des Mittelalters und der Frühen Neuzeit am Beispiel des Aderlasses, in: Gerhard JARITZ (Hg.), Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau 7.10.1996 (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 2), Wien 1997, S. 95–106, hier 100. Ähnlich verhielt dies sich wohl auch in Bezug auf das Klistieren; vgl. JÜTTE, Zepter, S. 796–797. Vgl. STOLBERG, Heilkraft, S. 168–169; WEAR, Knowledge, S. 379, 399–400, 407–408, 414–415; JÜTTE, Norm, S. 100. Zum Begriff der Sozialisation, in einem umfassenden Sinne verstanden als die Art und Weise, wie der Mensch in einem lebenslangen Prozess vergesellschaftet wird, wie er sich „zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet“, HURRELMANN, Einführung, S. 15; GESTRICH, Vergesellschaftungen, S. 13. Vgl. die Erziehungsinstruktionen WEECH, Erziehung, S. 116: Si notre fille tomboit malade, ladite gouvernante ne permettra pas qu’on luy gaste le corps avec beaucoups de medecines, et qu’on luy donne aucun medicament ni preservatif, lorsque nous serons presens, sans notre sceu et l’avis du medecin de nostre cour. S. auch FORSTER, Illness, S. 297 u. 308; WINKELMANN, Jugendzeit, S. 79. Daneben hatte Karl besondere Vorsicht bei ansteckenden Krankheiten angeordnet. Vgl. WEECH, Erziehung, S. 113. Karl Ludwig an Luise v. Degenfeld, Alzey, 5.6.1663 u. Frankenthal, 14.6.1663, in: HOLLAND (Hg.), SK, 141, S. 127–128 u. 142, S. 128–129 (Zit. S. 129). S. auch FORSTER, Illness, S. 297; zu Karl Ludwigs Verhalten bei Erkrankungen seiner Kinder s. Karl Ludwig an Raugraf Karl Eduard, Friedrichsburg, 18.6.1678 u. Karl Ludwig an Raugräfin Karoline, Friedrichsburg, 7.8.1678, in: HOLLAND (Hg.), SK, 333 u. 334, S. 319–321. Zu den genannten Sozialisationsformen s. BOURDIEU, Sinn, S. 138; BOURDIEU, Entwurf, S. 189; LIEBAU, Subjekt, S. 83: Ein Kind lernt Bourdieu zufolge hauptsächlich durch die Teilnahme an der Praxis. Es sei Objekt von Praxisformen, in denen sich der Habitus der sozialisierenden Personen zeige. Zu Bourdieu als Sozialisationsthereotiker Michael MEUSER, Riskante Praktiken. Zur Aneignung von Männlichkeit in den ernsten Spielen des Wettbewerbs, in: Helga BILDEN u. Bettina DAUSIEN (Hg.), Sozialisation und Geschlecht. Theoretische und methodologische Aspekte, Opladen, Farmington Hills 2006, S. 163–177, hier 164.

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wichtige Rolle spielte. Denn Karl Ludwig selbst stand der Anwendung medizinischer Behandlungen so kritisch gegenüber, dass er nach einer gescheiterten Therapie im April 1679 in einem Brief an seine Schwester bekräftigte: j’ay une aversion pour toutte medecine estrange et ne m’en serviray qu’en tres grande necessité.162 Auch Elisabeth Charlottes eigene Briefe verweisen deutlich auf die Wurzeln ihrer Haltung zu medizinischen Eingriffen. Noch in ihrem Todesjahr 1722 schrieb sie ihrer Halbschwester Luise: Ahn medecinen, noch aderläß werde ich mein leben weder glauben, noch vertrawen haben; daß hatt mir I.G. s. der churfürst, unßer herr vatter, noch ma tante, unßere liebe churfürstin, nicht gelernt. 163 Gleiches galt auch für diätetische Gewohnheiten, die Elisabeth Charlotte – wie Madame de Sévigné verwundert festgestellt hatte – sowohl präventiv praktizierte als auch zum Kurieren kleinerer Unpässlichkeiten (incommodité) anwendete. Spätere briefliche Aussagen bestätigen die herausgehobene Bedeutung, die gerade der Gewöhnung an Leibesübungen164 (habituer à s’exercer) an der frischen Luft schon in den Erziehungsinstruktionen beigemessen worden war.165 In einem Brief an Luise 1719 erinnerte sie an die Inhalte der gemeinsamen Erziehung: Einsitzen ist auch ungesundt; Ihr undt ich seindt nicht dazu erzogen worden.166 Körperliche Aktivität war für Elisabeth Charlotte jedoch nicht allein diätetisches Mittel zum Zweck, sondern vielmehr Ausdruck eines wichtigen Teils ihres Selbstbildes. Den – diese Bewegungsfreude167 symbolisierenden – Spitznamen Rauschenplattenknecht(gen), sollte sie noch in ihren letzten Briefen – über 50 Jahre später – stets als Selbstbeschreibungsformel anführen.168 162 163

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Karl Ludwig an Sophie, Friedrichsburg, 5./15.4.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 357, S. 355. An Luise, St. Cloud, 18. 7.1722, HO, 6, 1345, S. 431. An Amalie Elisabeth, Versailles, 17.12.1705, HO, 1, 284, S. 431: Bey I.G. unßern herr vatter s. habt Ihr daß vertrawen zu den docktoren nicht gelehrnt. Wo ist es Eüch den ahnkommen? Einübung bzw. Training, das auf bewusstem Erziehungshandeln basiert, kann ebenfalls zur Habitualisierung von Körperpraktiken führen, die dann gleichsam unbewusst ausgeführt werden. Vgl. zu dieser Form des Körpergedächtnisses BEISE, Körpergedächtnis, S. 16 u. S. 21. Vgl. WEECH, Erziehung, S. 115: Pendant lequel tems nostre dite fille pourra prendre ses autres recreations, selon que ladite gouvernante le trouvera bon, soit par des petits jeux usités parmi les dames, soit par la dance, soit en jouant de l’espinette ou du volant ou du billard; aus quels deus derniers ladite gourvernante la fera habituer à s’exercer autant d’une main que de l’autre. Et pour la pourmenade en carosse, à cheval, ou à pied, ladite gouvernante la reiglera selon qu’elle le trouvera à propos, et que la saison et autres circonstances le permettront. Karl Ludwig an Raugraf Karl Eduard, Friedrichsburg, 18.6.1678, in: HOLLAND (Hg.), SK, 333, S. 319: Ich vernehme ungern, daß mein lieber sohn bey Seiner letzt vorgenohmmenen cur sich nicht allerdings guten humeurs befindet, stehts im hauß bleibt, den leib nicht exerciret. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S 94–95. An Luise, Paris, 12.2.1719, HO, 4, 993, S. 35. Vgl. Karl Ludwig an Sophie, Friedrichsburg, 5./15.4.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 357, S. 355: Mr. vostre mary fait fort bien de se server de l’air de la campagne pour sa santé; il me le faut prendre en carosse à cause d’une escorchure sur le Schinbein. E. Ch. assoziierte den Ausdruck mehrfach mit körperlicher Bewegung. S. dazu folgende Briefe an A. K. v. Harling, Versailles 23.11.1672, H, 27, S. 106–107; o.O., o.D. wahrscheinlich Anfang Juni 1672, H, 25, S. 105; St. Cloud, 30.5.1676, H, 43, S. 131. An C. v. Wales, o.O., 30.4.1720, A, 70, S. 238: In meiner Jugend bin ich sehr lustig gewesen, davon ist mir der Name Rauschenplatten Knecht überkommen. Vgl. zur Verwendung des Namens auch 3.II.1. S. auch William BROOKS, Axel GOODBODY, J[?]. B. SMITH u. P[aul] J. YARROW, Elisabeth Charlotte: Rauschenplattenknecht, in: German Life & Letters. A Quarterly Review, 49 (1996), S. 404–421, hier 406.

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Wie verschiedene Literaturwissenschaftler um William Brooks herausarbeiteten, war Elisabeth Charlotte der merkwürdig anmutende Name vermutlich während ihres Aufenthaltes in Hannover und Iburg von Christian Friedrich von Harling zugedacht worden.169 Dabei handelte es sich jedoch keineswegs um eine exklusive Bezeichnung für Elisabeth Charlotte. Wie sehr Bewegung als diätetische Lebensmaxime Zugehörigkeit zum Familienverband herstellte, zeigt sich in der Verwendung des Beinamens für verschiedene Personen in der familiären Bezugsgruppe. Denn neben Christian Friedrich von Harling sowie später ihren eigenen Kindern170 bezeichnet Elisabeth Charlotte auch die Söhne und Töchter von Sophie und Ernst August von Hannover als Rauschenblattenknecht. Im Juni 1672 schrieb die mittlerweile 20-jährige Madame in emotionaler Erinnerung an die Körperpraxis der Kindertage schwelgend, sie wünsche sich nichts sehnlicher, als mit ihren Cousins und Cousinen und mit Herrn von Harling in Iburg einwenig herumb zu raßen171 . In ihren späteren Briefen sollte Elisabeth Charlotte sich noch mehrfach ins Gedächtnis rufen, wie sie mit Herrn von Harling in einer offenen, wendigen Kutsche ‚RingRennen‘172 spielte und bekannte, wie nah ihr diese Erinnerungen noch immer seien.173 Elisabeth Charlottes inkorporiertes Wissen und ihre gewohnte Körperpraxis waren am französischen Hof jedoch mit grundsätzlich anderen Rahmenbedingungen konfrontiert, so dass eine konfliktfreie, deckungsgleiche Umsetzung dieser Handlungsdispositionen in Praktiken nicht länger möglich war.174 Dort gerieten, so zeigt das Zitat Madame de Sévignés, Diätetik und (evakuierende) Medizin – in der Antike gleichrangig aufeinander bezogene Prinzipien – als Gegensätze in Konflikt. Die Zuordnung zu diesen Prinzipien markiert gleichzeitig gesellschaftliche Machtpositionen von Ober- und Unterordnung. 169

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Der Begriff findet sich hauptsächlich in Briefen an A. K. und C. F. v. Harling, daneben drei Mal in den teiledierten Briefen an Sophie. Im raugräflichen Korpus ist er hingegen nicht nachweisbar. Vgl. BROOKS u.a, Rauschenplattenknecht, S. 408 bezugnehmend auf eine Vermutung, die schon Bodemann in seiner Teil-Edition der Harling-Briefe geäußert hatte. Vgl. BODEMANN (Hg.), Briefe an ihre frühere Hofmeisterin, S. 17, Anm. 1. Vgl. BROOKS u.a., Rauschenplattenknecht, S. 406 u. 416–417. An A. K. v. Harling, o.O., o.D., wahrscheinlich Anfang Juni 1672, H, 25, S. 105: Mr harling laß ich auch sagen – das rauschenblattenknechtgen, die zeit lang felt vndt das ich möchte gern zu Iburg itzunder sein umb mitt den andern ruschenplattenknechtgen [Prinzen u. Prinzessinnen v. Hannover, H. Helfer] einwenig herumb zu raßen vnd die zeit zu vertreiben. S. auch An C. F. v. Harling, Versailles, 14.2.1715, H, 203, S. 343. Auf den Zusammenhang von Erinnerung und verkörperten Praktiken macht aufmerksam CANNING, Body, S. 506. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 93, Anm. 8: Beim Ring rennen (auch Ring reiten, Ringelstechen oder Karussell), muss im schnellen Anreiten ein Ring mit einer Lanze abgenommen werden. Auch Sophie berichtete vom Ringrennen in Iburg, vgl. SCHNEIDER, Ernst August I., S. 197. An C. F. v. Harling, Paris, 15.2.1716, H, 224, S. 379: wie monsr Harling mich in eine calesch ring rennen machte. Ich erinere mich beßer von denen zeitten – alß was vor 20 jahren vorgangen. Vgl. BOURDIEU, Meditationen, S. 206: „Allgemeiner gesehen jedoch bewirken die Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen, die entsprechende Unterschiedlichkeit der Habitus und die Vielfalt von Auf- und Abstieg innerhalb derselben Generation wie auch von einer Generation zu anderen, daß die Habitus oftmals mit Aktualisierungsbedingungen konfrontiert sein können, die von denen abweichen, unter denen sie produziert wurden.“ S. auch Markus RIEGER-LADICH, Weder Determinismus, noch Fatalismus: Pierre Bourdieus Habitustheorie im Licht neuerer Arbeiten, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 25,3 (2005), S. 281–296, hier 289–292.

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Madame de Sévignés spöttische Reaktion macht deutlich, dass eine Anpassung an die hiesige Medizin- und Gesundheitskultur, also an die Wissensbestände und Praktiken in der französischen Hofgesellschaft, für die Zugehörigkeit zum sozialen Umfeld keineswegs unbedeutend war. Zumindest implizit bezog Madame de Sévigné sich in ihren Worten über die Gesundheitspraktiken und Vorstellung der Krankenbehandlung auf ein Kriterium, das über Inklusion und Exklusion der neuen Madame mitentschied.175 Elisabeth Charlottes Familienbeziehungen, die sie auf das Körperwissen ihrer ersten Lebensphase und dessen praktische Anwendung verpflichteten, konditionierten also den Ablauf der (medikalen) Kulturbegegnung176 und lenkten sie in die vorgegebenen konfliktträchtigen Bahnen.177 Das Festhalten an den diätetischen und medikalen Prinzipien ihrer ersten Lebensphase ist zwar als Wiederholung einer gewohnten Praxis zu verstehen, die jedoch gleichwohl in einem vollkommen anders gearteten Kontext aktualisiert wurde und somit als „Zurückkommen auf Dasselbe im Anderen“178 durchaus widerständiges bzw. eigensinniges Potential entfaltete. Trotz der ungünstigen Ausgangslage setzte man sich am französischen Hof, so scheint es, dennoch ernsthaft mit Elisabeth Charlottes Gewohnheiten auseinander. Nur wenige Tage später beispielsweise rühmte Madame de Sévigné sich in einem Brief an ihre Tochter mit Elisabeth Charlottes Laufpensum Schritt halten zu können: Je fais fort bien une lieue ou deux à pied, aussi bien que Madame.179 Offensichtlich machte sich Madame de Sévigné daraufhin in den folgenden Jahren körperliche Bewegung an der frischen Luft zu ihrer eigenen Gesundheitsmaxime. Ihrer Tochter riet sie in einem Brief vom Februar 1689: promenez-vous, faites de l’exercise, respirez votre bel air, mais ne demeurez point toujours dans ce noir palais ou dans ce trou de cabinet.180 175

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Vgl. Rudolf STICHWEH, Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 136–137, der ‚Mitgliedschaft‘ als zentrales Element von Inklusions- und Exklusionsprozessen in quasi-korporativ verfassten sozialen Systemen sieht. Die Suche nach ‚Mitgliedschaftsbedingungen‘ sei denn auch das Prinzip der Inklusionsforschung in der historischen Semantik des Fremden und von modernen Formen von Inklusion und Exklusion in funktional differenzierten Gesellschaften strikt zu trennen. Auch nach der Verheiratung von Anna d’Este (1531–1607) mit François de Lorraine, dem Herzog v. Aumale, 1548 ergaben sich bei der ansonsten eher konfliktfreien Eingewöhnung in die neue Lebensumgebung im Bereich der Krankheitsbehandlung Probleme. Von einem Fieber im April 1549 erholte sich Anna erst, als sie einen Arzt fand, der sie mit den aus Italien gewohnten Methoden behandelte. S. dazu COESTER, Venus, S. 125; Anna d’Este an Ercole d’Este, 28.5.1549, o.O., in: Archivio di Stato di Modena, Cancellaria ducale, Carteggio principi esteri, b. 1568 A/14: quanto al male chio ho havutto io ne sono molto ben guarita gratia di Dio et ho trovato un medico del Re che e stato in Italia il quale mi ha medicato alla Italiana et molto bene. Für die Bereitstellung des Transkripts danke ich herzlich Dr. Christiane Coester. Vgl. NOLDE u. OPITZ-BELAKHAL, Kulturtransfer, S. 1. Vgl. HÖRNING, Praxis, S. 34. Mme de Sévigné an Mme de Grignan, Malicorne, 13.12.1671, in DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SEVIGNE, Bd. 1, 226, S. 391; dt. Übers. bei VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 217: „‚Ich schaffe wohl eine Viertelmeile, ganz so wie Madame.’“ Mme de Sévigné an Mme de Grignan, Paris, 14.2.1689, in: DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SEVIGNE, Bd. 2, 1070, S. 502; dt. Übers. bei BERGDOLT, Leib, S. 224–225: „Gehen Sie spazieren, machen Sie Gymnastik, atmen Sie gute Luft, und bleiben Sie nicht die ganze Zeit in diesem finsteren Palais oder diesem Loch von Kabinett.“ S. auch VIGARELLO, Sain, S. 104.

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Von der hier anklingenden frühen Vorbildfunktion in diätetischer Hinsicht wird Elisabeth Charlotte selbst jedoch wohl kaum etwas wahrgenommen haben. 181 Der Blick auf ihr Einleben in den ersten Monaten und Jahren am französischen Hof zeigt, dass auf beiden Seiten Differenzen in medikaler Hinsicht wahrgenommen wurden. Die Konflikte wurden durch die Verpflichtung auf das kulturelle Bezugssystem der Herkunftsfamilie, die Elisabeth Charlotte empfand und empfinden musste, förmlich heraufbeschworen, da von Seiten der französischen Hofgesellschaft (von Madame de Sévigné bis zum Sonnenkönig) gleichzeitig restriktive Inklusionsanforderungen an einheiratende Frauen gestellt wurden, die die Zugehörigkeit zur medikalen Kultur am Hof einschlossen. Fast folgerichtig zeigen die ersten Briefe Elisabeth Charlottes denn auch Konflikte, die sich insbesondere an unterschiedlichen medikalen Konzepten um den Stellenwert von Diätetik und ausleitender medizinischer Behandlungsmethoden entzündeten. Dieser medikale Grundkonflikt ist gleichzeitig ein mehrdimensionaler Machtkonflikt: ein König, der von seiner Untertanin Gehorsam forderte182 und sich als Schwager gleichzeitig besorgt zeigte – ein Ehemann, der von seiner jungen Gattin erwarten konnte, dass sie sich seiner Familie anpasste, sowie eine einflussreiche Repräsentantin der Hofgesellschaft, die über Zugehörigkeit mitentschied, waren die personellen Träger dieser Konfrontationssituation. Im Folgenden soll diese Konfliktlinie entlang zweier zentraler Begrifflichkeiten ‚Natur‘ und ‚Erfahrung‘ diskutiert werden. Dabei werden die medikalen Wissens-Konzepte und Körper-Praktiken im diskursiven Feld der Zeit verortet und in ihrer Funktion als Selbstpositionierungen analysiert.

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Erst 1676 findet sich in ihren Briefen eine Passage, in der sie mitteilt, sie sei – ob ihres zu diesem Zeitpunkt guten Verhältnisses zum König – nun so à la mode, dass man sogar ihren Kleidungsstil adaptiere. Vgl. An Sophie, St. Germain, 14.12.1676, NLA-HStAH, I, 53v–54r, vgl. B, 1, 12, S. 12; ausführlich VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 218–219, VOSS, Zeuge, S. 196; VOSS, 52 unbekannte Briefe, S. 201–202; Jürgen VOSS, Liselotte von der Pfalz, eine Modeschöpferin?, in: Pfälzer Heimat 42 (1991), S. 52–56; STRICH, Liselotte, S. 42; JONES, Sexing, S. 51–52. Vgl. BAUMGARTNER, Illness, S. 61.

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II.

DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN

Die ‚Natur‘ des Selbst erzählen

1. wen die natur selber operirt : Körperwissen nach der Natur 1

Natur ist einer der schillerndsten Begriffe der Frühen Neuzeit – seine zahlreichen Konnotationen erscheinen uneinheitlich und ambivalent.2 Im allgemeinen Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts bezeichnet der Naturbegriff zunächst einmal das Wesen einer Sache oder einer Person.3 Gleichzeitig meint Natur aber auch die ‚ursprüngliche‘, von Gott geschaffene und vom Menschen vorgefundene Umwelt.4 In der zeitgenössischen Medizin, die von jeher in enger Verbindung zum naturphilosophischen Denken stand,5 fasste man dementsprechend unter Natur sowohl die körperliche Verfasstheit eines Menschen, aus der eine spezifische Gesundheitsdisposition erwuchs, als auch die belebte (Pflanzen und Tiere) und unbelebte Umwelt (Metalle, Steine und andere Rohmaterialien), die die Grundlage für die Gewinnung von Heilmitteln darstellte. Alle Versuche, Natur zu begreifen und zu definieren verhandeln zugleich in grundsätzlicher Weise das Verhältnis der ‚natürlichen‘ Umwelt zu der vom Menschen geschaffenen Kultur6 sowie zu Gott bzw. einer wie auch immer gearteten transzendentalen Macht. Das folgende Kapitel beleuchtet die Bedeutungsdimensionen des Naturbegriffs in den Briefen Elisabeth Charlottes und analysiert sie in ihrem Zusammenhang mit medikalen Konzepten als Manifestationen eines umfassenden Prozesses der Selbstpositionierung. Elisabeth Charlottes Briefe dokumentieren die lebenslange Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Therapiekonzepten und den ihnen zu Grunde liegenden verschiedenen Naturauffassungen. Den zentralen medikalen Konflikt der Korrespondenz bildet dabei der sich bereits in den Schilderungen ihrer ersten Krankheitserfahrungen am französischen Hof abzeichnende Gegensatz von ‚natürlicher‘ Selbstheilungskraft des Körpers und ärztlichem Eingreifen. Im Folgenden soll dieses grundlegende Konfliktmotiv der Korrespondenz in seinem familiären Kontext reflektiert werden. Leitlinie bildet die Frage, mit Hilfe welcher Wissenskonzepte Elisabeth Charlotte ihren Körper verstand bzw. ihren Leib empfand – inwiefern Wissen auf ‚genealogischen‘ Zusammenhängen beruhte und sich auf diesem Wege in den Körper einschrieb. 1 2

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An Luise, St. Cloud, 10.9.1695, HO, 6, N, 31, S. 537. Dies zeigt sich etwa in Bd. 23 von Zedlers Universallexikon (1740). Inklusive aller Komposita (ohne das Adjektiv ‚natürlich‘) erstrecken sich die Ausführungen zum Begriff ‚Natur‘ über mehr als 200 Spalten. Vgl. Thomas LEINKAUF, Der Naturbegriff der Frühen Neuzeit, in: Ders. u. M. v. Karin HARTBECKE (Hg.), Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700 (Frühe Neuzeit 110), Tübingen 2005, S. 1–20, hier 1–3; Carolyn MERCHANT, Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und die neuzeitliche Wissenschaft, 2. Aufl., München 1994, S. 16; Karen GLOY, Das Verständnis der Natur, Bd. 1. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995, S. 23. Vgl. GLOY, Verständnis, S. 23. Vgl. etwa WEAR, Knowledge, S. 363–365. Vgl. DEAR, Miracles, S. 681; GLOY, Verständnis, S. 26; Steven SHAPIN, Die Wissenschaftliche Revolution, Frankfurt 1998, S. 42–43. Entsprechend der aristotelischen Denktradition galten Natur und Kultur bzw. Kunst als grundsätzlich voneinander zu trennen. Menschliches Eingreifen in die Natur standfolglich im Verruf, die Wege der Natur zu durchkreuzen.

DIE ‚NATUR‘ DES SELBST ERZÄHLEN

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An zahlreichen Stellen in ihrer Korrespondenz beschrieb Elisabeth Charlotte ihre Person im Rekurs auf ihre gutte Natur7: Diese neige ganz und gar nicht zum KränklichSein und erlaube es ihr – sollte sie wider Erwarten doch einmal erkranken –, in der Rekonvaleszenz schnell wieder zu Kräften zu kommen.8 Hinter diesen wiederholten Selbstaussagen steht die seit der Antike über das Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinweg wirkmächtige Vorstellung von einer bei den einzelnen Menschen individuell verschieden ausgeprägten Fähigkeit, Krankheiten zu überwinden und somit gesund zu bleiben. Demnach war die Heilung von einer Krankheit im Wesentlichen auf die Stärke der ‚Natur‘ der Kranken (natura hominis) zurückzuführen. Sie konnte von der ärztlichen Kunst nur in geringfügigem Maße beeinflusst werden, so die tradierte Idee. Aufgabe des Arztes war vielmehr, das individuelle, in der Natur begründete Gesundheitspotential des Erkrankten zu erkennen und entsprechend zu handeln. Damit war der Arzt auf eine Rolle als ‚demütiger Diener der Natur‘ (medicus minister naturae) oder als ‚Verbündeter‘ (medicus socius naturae) verpflichtet, der das heilende Prinzip der Natur unterstützten solle.9 Im 15. und 16. Jahrhundert wurden diese vor allem auf Hippokrates zurückgehenden antiken Vorstellungen von der Heilkraft der Natur (vis medicatrix naturae) wiederbelebt.10 Insbesondere Paracelsus (1493–1541) verstand die Natur des Menschen als einen ‚inneren Arzt‘ (Archeus), der den Kampf mit der Krankheit aufnehme, wenn der Lebensgeist angegriffen sei. Auch der flämische Arzt und Paracelsus-Schüler Johann Baptist Van Helmont (1580–1644) vertrat die Auffassung,11 dem Arzt obliege im Krankheitsfall lediglich die Pflicht, den Archeus durch diätetische Maßnahmen zu unterstützen.12 Auf dieser Grundla7

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An Luise, Versailles, 13.11.1703, HO, 1, 198, S. 330. Dies hatte auch Anna Eleonore v. Rathsamshausen (ca. 1651–1739), eine der Kammerfrauen E. Ch.s, bekundet, die sich während einer Erkrankung dieser brieflich an Raugräfin Luise wandte. Vermutlich schrieb sie aber einen von E. Ch. zuvor autorisierten Text. Anna Eleonore v. Rathsamshausen an Luise, Versailles, 16.6.1702, HO, 1, 170, S. 290: Got erhalte ia nur die gar zu gute nature ihro königliche Hoheit! so wirts aleß wohl gehen. Vgl. die Briefe an Luise, Marly, 6.3.1699, HO, 1, 73, S. 125: So offt ich nach Paris gehe, ist es sicher, daß ich kranck werde, aber so baldt ich wider auß dießer bößen lufft weg bin, wirdt es mir wider woll; den ich bin gar nicht krancklich von natur. St. Cloud, 31.8.1719, HO, 4, 1048, S. 223: Ich habe, gott lob, noch eine gutte natur, komme gleich wider zu recht. Vgl. RIHA, Naturbegriff, S. 72–73 u. Mikrokosmos, S. 122–123; Heinz SCHOTT, ‚Natur‘ als Medium zwischen Mensch und Gott. Medizinhistorische Leitbilder der Gesundheit, in: Dietrich GRÖNEMEYER, Theo KOBUSCH u. Heinz SCHOTT u. M. v. Thomas WELT (Hg.), Gesundheit im Spiegel der Disziplinen, Epochen, Kulturen (Ars medicinae 1), Tübingen 2008, S. 387–416, hier 395. Urs BOSCHUNG, Naturheilkunde versus technisierte Medizin, in: Maja SVILAR (Hg.), Kultur und Natur (Collegium Generale Universität Bern, Kulturhistorische Vorlesungen 1990/91), Bern, Frankfurt a.M., New York 1992, S. 123–145, hier 124–125. Vgl. BERGDOLT, Leib, S. 223; François MEYER, Science et pratique médicales au XVIIe siècle, in: Marseille 95 (1973), S. 106–110, hier 105; NEUBURGER, Heilkraft, S. 27; SCHIPPERGES, Homo Patiens, S. 1157. Vgl. BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 125–127; NEUBURGER, Heilkraft, S. 36–40; BERGDOLT, Leib, S. 232–233. Zu Van Helmonts medikalen Auffassungen überblicksartig Peter ELMER, Chemical Medicine and the Challenge to Galenism. The Legacy of Paracelsus 1560–1700, in: Ders. (Hg.), The Healing Arts. Health, Disease and Society in Europe 1500–1800, Manchester 2004, S. 108–135, hier 121–124; ausführlich PAGEL, Van Helmont, S. 40 u. 142; WEAR, Knowledge, S. 370. Vgl. SCHOTT, Natur, S. 389; BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 125–127; Mirko D. GRMEK, La première révolution biologique. Réflexions sur la physiologie et la médecine du XVIIe siècle, Paris 1990, S. 137; NEUBURGER, Heilkraft, S. 27–29.

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DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN

ge kritisierte Van Helmont vor allem die auf der traditionellen galenischen Medizin basierende medikale Praxis einer universellen Anwendung von Laxativen und anderer die Krankheitsstoffe ausleitender Verfahren.13 Ferner bemängelte er die Nicht-Beachtung individueller Fallkonstellationen, die auf der Nähe zur deduktiven Methode in der scholastischen Medizin beruhte.14 Die Vermutung liegt nahe, dass diesen paracelsisch-helmontischen Vorstellungen von der Natur als einem ‚inneren Arzt‘ in Elisabeth Charlottes verwandtschaftlichem Umfeld eine besondere Bedeutung beigemessen wurde, stand die kurpfälzische Familie doch in engem Kontakt mit Van Helmonts Sohn, dem Universalgelehrten Franciscus Mercurius (1614–1699),15 der seine medizinischen und naturphilosophischen Vorstellungen auf der Grundlage des väterlichen Denkens aufbaute.16 Es ist wohl dieses Wissen um die Abläufe im Körper und die nahezu unbegrenzte Kraft der Natur,17 auf die Elisabeth Charlottes Überzeugung, im Krankheitsfall sei zunächst auf die Kraft der körpereigenen ‚Natur‘ zu vertrauen, zurückzuführen ist. So schrieb sie etwa im September 1695, es sei die sicherste geneßung, (…) wen die natur selber operirt.18 Geduld und Schonung seien noch immer daß beste remedium, hielt sie etwa auch im Mai 1699 dafür.19 Als besonders problematisch empfand Elisabeth Charlotte, wenn es Kranken und ihren Ärzten – insbesondere den jungen Leuten am französischen Hof, so hatte sie beobachtet – an der notwendigen Geduld mangelte, den natürlichen Genesungsprozess abzuwarten.20 Dass es sich bei dieser auch in anderen frühneuzeitlichen 13 14 15

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Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 19 u. 203; WEAR, Knowledge, S. 353, 367–369 u. 378–383. Vgl. ebd., S. 20; ebd., S. 374. Zur Verbindung der kurpfälzischen Familie mit F. M. Van Helmont vgl. Allison P. COUDERT, The Impact of the Kaballah in the seventeenth century. The Life and Thought of Francis Mercury Van Helmont (1614–1698) (Brill’s Series in Jewish Studies 9), Leiden, Boston, Köln 1999, S. 22–23 u. 32–42; Gerd VAN DEN HEUVEL, Elisabeth und die Philosophen, in: Helge BEI DER WIEDEN (Hg.), Elisabeth von der Pfalz. Äbtissin von Herford, 1618–1680. Eine Biographie in Einzeldarstellungen (Herforder Forschungen 23; Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 245), Hannover 2008, S. 59–75, hier 67–68 u. Leibniz und die Sulzbacher Protagonisten Christian Knorr von Rosenroth und Franciscus Mercurius Van Helmont, in: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 11 (2001), S. 77– 104, hier 82 u. 96–98; Claus BERNET, Art. „Helmont, Franciscus Mercurius van“, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 25, Nordhausen 2005, Sp. 586–597. E. Ch. hatte vor ihrer Übersiedlung nach Frankreich auch selbst Kontakt zu Van Helmont. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 24.6.1696, NLA-HStAH, VI, 107v; vgl. B, 1, 244, S. 248. Zu F. M. Van Helmonts medikalen Vorstellungen vgl. COUDERT, Impact, S. 153–176, zu den Einflüssen seines Vaters 157–159; Bernandino ORIO DE MIGUEL, Leibniz und „die physischen Monaden” von Fr. M. van Helmont, in: Ingrid MARCHEWITZ u. Albert HEINEKAMP (Hg.), Leibniz‘ Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen (Studia Leibnitiana Supplementa 27), Stuttgart 1990, S. 147–156, hier 148. Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 205. An Luise, St. Cloud, 10.9.1695, HO, 6, N, 31, S. 537. S. auch die knappen Hinweise auf die Bedeutung der ‚Natur‘ bei FORSTER, Illness, S. 304 u. 308. Vgl. An Amalie Elisabeth, Port Royal, 1.5.1699, HO, 1, 80, S. 138; An Luise, Marly, 31.5.1711, HO, 2, 528, S. 253; Paris, 24.3.1718, HO, 3, 900, S. 215 u. 10.1.1722, HO, 6, 1294, S. 309; An Étienne Polier, Versailles, 6.2.1703, VdC, Lf, 186, S. 242–243: J’ai déjà le grand remède qui es le patience. Vgl. An Luise, Marly, 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392, Port Royal, 1.5.1699, HO, 1, 80, S. 138: Junge leütte, insonderheit hir im landt, wollen alß stärcker sein, alß sie in der that sein, divertiren sich zu viel undt matten

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Selbstzeugnissen prominenten Auffassung21 zweifelsohne um ein familiär vermitteltes medikales Wissenskonzept mit entsprechenden alltagspraktischen Konsequenzen handelt, zeigt sich neben Elisabeth Charlottes Korrespondenz auch in verschiedenen Briefwechseln der Familie. Bereits in der Korrespondenz mit Anna Gonzaga aus Elisabeth Charlottes Verlobungszeit hatte Karl Ludwig seiner Auffassung von der essentiellen Bedeutung der Natur der Erkrankten Ausdruck verliehen22 und auch in den Briefen Sophies finden sich ähnliche Vorstellungen von der fundamentalen Bedeutung der Natur des Körpers.23 Ihrer an den Augen erkrankten Nichte Luise empfahl sie, sich in Geduld zu üben, und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, daß die natur undt die zeit wirdt Ihre Augen besser machen24, genauso wie sie selbst ihrer nachlassenden Sehkraft wegen nichts brauchen (d.h. einnehmen) wolle, sundern der natur ihren lauff lassen.25 In Elisabeth Charlottes Briefen entfalten diese familiär tradierten Vorstellungen eine ganz ähnliche Handlungskonsequenz: Im Frühjahr 1705, als sie längere Zeit unter Husten litt, den sie vielmehr als gesaltzene pituitte [Schleim], wie man es hir heist, bezeichnete, schrieb sie: Ich mag aber nichts brauchen, meine kranckheitten müßen weg, wie sie kommen sein; den ich kan nichts brauchen noch mich dockteriren laßen.26 Damit distanzierte sie sich grundsätzlich von jeglichen ärztlichen Eingriffen in die Natur des Körpers (docktorieren) und im Speziellen von der Einnahme von Medikamenten (brauchen). Die Ablehnung gegenüber der Medizin ist allerdings nicht nur aus dem Wissenskonzept von der Heilkraft der Natur allein abzuleiten (ich mag nichts brauchen), sondern wird mit leiblichen Empfindungen – einem Ekel vor dem Geschmack der Medikamente – verbunden (ich kann nichts brauchen). Diverse Passagen, wie die folgende aus einem Brief an Luise vom Dezember 1718, zeigen die elementare Bedeutung der mit dem Körperwissen korrespondierenden Ge-

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sich ab, biß ihnen daß fieber drüber ahnkompt; lest man sie zur ader, müßen sie sterben; braucht man ihnen andere remedien, haben sie die stärcke nicht, es außzustehen; also gedult undt sie außruhen laßen ist daß beste remedium. Vgl. LABOUVIE, Körper, S. 163–195, bes S. 184, die sich auf die Autobiographie des italienischen Goldschmieds und Bildhauers Benvenuto Cellini (1500–1571) und die Lebensbeschreibung des kurfürstlichen Feldscherers Meister Johann Dietz aus dem 17. Jhd. bezieht. Benvenuto CELLINI, Mein Leben. Die Autobiographie eines Künstlers aus der Renaissance. Übersetzung aus dem Italienischen und Nachwort von Jacques LAAGER, Zürich 2001, S. 260, schildert eine Szene an seinem Krankenbett. Entgegen der ärztlichen Verordnung trank er eine große Menge Wasser, woraufhin er zu schwitzen begann und sein Zustand sich bald besserte. Der hinzukommende Arzt soll dann ausgerufen haben: „‚O Macht der Natur! Sie kannte ihre Bedürfnisse, doch die Ärzte wissen nichts!‘“ Meister Johann DIETZ, Des Großen Kurfürsten Feldscher. Mein Lebenslauf, hg. v. Friedhelm KEMP, München 1966, S. 51 berichtet von einer ähnlichen Begebenheit, bei der er an der sogenannten roten Ruhr (einer Durchfallerkrankung) litt und auf wundersame Weise durch seinen Heißhunger auf Gurken kuriert wurde: was die Natur mit Begier suchet, ist ihre Arznei! S. 2.I. Vgl. etwa nach dem Tod des dem Alkohol zugeneigten Raugrafen Karl Moritz Sophie an Luise, Lutzenburg, 19.6.1702, in: BODEMANN (Hg.), BK, 249, S. 230: aber die [seine] schwache natur mußte zuletzt under all dem wein sucombiren. Sophie an Luise, Herrenhausen, 12.10.1702, in: Ebd., 256, S. 235. Sophie an Luise, Hannover 13.10.1708, in: BODEMANN (Hg.), BK, 323, S. 28. Vgl. auch Sophie an Amalie Elisabeth, Hannover, 1.1.1708, in: Ebd., 303, S. 272. Sophie an Luise, Hannover, 2.12.1708, in: BODEMANN (Hg.), BK, 329, S. 395. An Luise, Versailles, 8.4.1705, HO, 1, 240, S. 385. Vgl. auch 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 241: Ich brauch mein leben keine pilluln undt muß sehr kranck sein, wen ich einig remedium brauch, waß nahmen es auch haben mag. St. Cloud, 18.11.1717, HO, 3, 865, S. 128 u. 13.6.1722, HO, 6, 1335, S. 415.

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schmackssensibilität: Ich bin sehr eckelhafft, kan nie nichts schlucken, erwarte lieber mitt gedult, daß die natur selber operirt.27 Bereits 1705 hatte sie geäußert, dass sie die Süße28 vieler Heilmittel bzw. deren bößen medecinischen geschmack29 nicht ausstehen könne. ‚Medizin‘ wird so in zweifacher Hinsicht negativ konnotiert: über das medikale Wissenskonzept sowie über das leiblich-sinnliche Erleben.30 Auch gegenüber dem doktorieren vertrat Elisabeth Charlotte eine solch dezidierte Haltung. Als ihr Husten im Mai des Jahres 1705 tatsächlich ganz ohne medizinische Eingriffe wieder verschwunden war, sah sie sich darin bestätigt, sich nicht um der docktoren ungedult bekümmert zu haben. Auf den zentralen Interessenkonflikt zwischen Ärzten und der Heilkraft der Natur hinweisend gab sie weiter zu bedenken, die Ärzte müssten selbstredend waß daher sagen von ihrer kunst, umb sich nöhtig zu machen.31 Die Heilkraft der Natur anzuerkennen, könne also nicht im Interesse der Ärzteschaft liegen, wenn sie sich nicht selbst überflüssig machen wolle. Elisabeth Charlotte stellte die Natur gegenüber dem ärztlichen Handeln als ursprünglichere und deshalb höher zu bewertende Heilkraft dar,32 die nach ihren eigenen Prinzipien wirke: ich finde aber nichts gelehrters, alß die natur, laße also selbige walten; wen sie fehlt, alßden hatt sie hülff von nohten undt noch zeit genung, daß man sich mitt quackeleyen plagt.33 In diesem Sinne hatte sie, wie sie im Juni 1701 an Sophie schrieb, im Unterschied zu ihren Ärzten auch befunden, ihr Nasenbluten sei ein Anzeichen der wirkenden Heilkraft der Natur, die sie vor geschickter halte als die Ärzte, und weillen die natur sie blutten machte, habe sie weitter kein aderläß von nöhten.34 Die gutte Natur, die Elisabeth Charlotte auch im November 1703 an sich rühmte, sei vielmehr gerade deshalb so gut, weil sie ihrem Körper sowohl im Fall einer Krankheit als auch präventiv (aux precaution) eben selten Aderlässe oder die Einnahme von purgierenden Mitteln zugemutet habe.35 Das viele

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An Luise, Paris, 15.12.1718, HO, 3, 976, S. 470. An Luise, Versailles, 8.4.1705, HO, 1, 240, S. 385: Ich kan gar nichts süßes leyden; man raht mir viel, ich höre alles ahn, brauche aber gar nichts, alß waßer drincken ohne safft. Ich betrübe alß meinen dockter recht, daß ich nie nichts brauchen will, befinde mich aber nicht übel dabey. Vgl. etwa E. Ch.s Bewertungen zum Salz v. Epsom An Luise, Versailles, 3.5.1715, HO, 2, 702, S. 555: Warumb ich es lieber nehme, alß eine andere medecin, ist, weillen es nur einen bittern undt sonst keinen bößen medecinischen geschmack hatt. 9.8.1714, HO, 2, 658, S. 419 u. Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 681–682 sowie 4.II.2. S. auch folgende Aussage zu ihren mit der Einnahme von Medikamenten verbundenen Gefühlen An Luise, Marly, 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392: Alle artzneyen seindt mir so zuwider, daß, wen ich eine medecin nehmen muß, kan ich die gantze nacht nicht schlaffen, undt wen ich sie genohmen, bin ich gritlich wie eine wantdlauß. Ebd. Zur antiken Vorstellung einer Höherbewertung der Natur s. SCHOTT, Natur, S. 395 u 397; RIHA, Naturbegriff, S. 72–73 u. Mikrokosmos, S. 122. An Luise, Marly, 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392. S. auch An Luise, Marly, 20.8. HO, 1, 263, S. 411: Ich admirire, wie die docktoren, wen man sie gewehren lest, allezeit waß zu thun undt zu brauchen haben wollen. Vgl. An Sophie, Versailles, 17.6.1701, NLA-HStAH, XI,1, 349r–349v: ich habe ihnen [ihren Ärzten] aber geantwort daß ich die natur vor geschickter halte, alß sie alle, undt daß weillen die natur mich blutten machte, habe ich weitter kein aderläß von nöhten, undt habe fest gehalten. An Luise, Versailles, 13.11.1703, HO, 1, 198, S. 330: Ich habe eine gutte natur, weillen ich mich nie mitt zu viellen aderläßen undt medecinen geschwächt habe. 7.12.1709, HO, 2, 451, S. 145: Sonsten [bis auf ihren alljährlichen Husten] bin ich gar nicht kräncklich undt ich glaube, daß ich so gesundt bin, weillen ich mein leben

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brauchen sei ihrer natur so gar zuwider, schrieb sie noch im Juli 1722 überzeugt und verwies auf entsprechende leiblich-affektive Konsequenzen, wenn sie befürchtete, es würde sie endtlich so ellendt machen, dass sie das Bett nicht mehr würde verlassen können.36 Medizinische Eingriffe von außen waren der Selbstheilungskraft des Körpers also nicht nur als therapeutische Alternativen entgegengesetzt. Elisabeth Charlotte befürchtete vielmehr, dass jeder künstliche Eingriff die natürliche Kraft des Körpers schwächen würde, sie in gewisser Weise träge mache: Wen man sich ahn daß docktoriren gewohnt, wirdt die natur faul undt man findt sich gezwungen, alle jahr wider dasselbe zu thun, welches ein ellendes leben macht.37 Damit spielte sie auf ihre wiederholt formulierte Überzeugung an, dass die Gewohnheit eine zweyte natur38 hervorbringen könne – was einmal zur Gewohnheit ‚inkorporiert’ wurde, präge den Körper und seine Gesundheitsdispositionen über einen lebenslangen Zeitraum.39 Wer den Körper also regelmäßig (alle jahr wider)40 künstlichen Methoden aussetze, laufe Gefahr, die natürliche Heilkraft der Natur aufs Spiel zu setzen. Wie in zahlreichen anderen Passagen wird Natur hier nicht als ominöses Heilvermögen aufgefasst, sondern in Übereinstimmung mit den zentralen Körperkonzepten der Frühen Neuzeit als selbsttätige purgative Kraft verstanden.41 Exemplarisch seien an dieser Stelle nur zwei Passagen zitiert, die diesen Zusammenhang illustrieren. Als der Duc de Chartre im Januar 1722 von einem starken Fieber genesen war, zeigte Elisabeth Charlotte sich verwundert über die reinigende Kraft der ‚Natur‘ ihres eigentlich so ‚schwächlichen‘ Enkels:

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kein remedium auß precotion [genommen]; den ich sehe hir, alle die, so auß precotion burgiren undt aderlaßen, seindt alle delicatter undt kräncklicher, alß ich. An Luise, St. Cloud, 23.7.1722, HO, 6, 1346, S. 432. An Luise, Marly, 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392. Vgl. etwa auch St. Cloud, 11.6.1722, HO, 6, 1334, S. 410–411: Ich sage, daß artzneyen die natur schwachen undt mich mehr, alß ein anderst, indem ich nicht dazu gewohnt bin worden. Versailles, 26.11.1705, HO, 1, 278, S. 423. An Luise, Versailles, 6.3.1704, HO, 1, 206, S. 343. S. ebenso 14.8.1710, HO, 2, 485, S. 195, Marly, 4.9.1710, HO, 2, 489, S. 199, St. Cloud, 20.10.1717, HO, 3, 858, S. 106. Zur Gewohnheit bei der Ernährung s. 4. II.1. Diese in der FNZ populäre Redewendung hat antike Wurzeln und ist sowohl bei Hippokrates und Galen (‚De Motu musculorum‘ 2,7) als auch bei Cicero (‚De finibus bonorum et malorum‘ 5,25, 74) überliefert. Vgl. Art. Gewohnheit, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 10, Sp. 1398–1400, hier Sp. 1398; SCHIPPERGES, Homo patiens, S. 113. Im 17. Jhd. bezog sich Blaise Pascal kritisch darauf. In seinen Gedanken über die Religion 6, 19 schrieb er: „Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, welche die erste zerstört.“ Vgl. hierzu BERGDOLT, Leib, S. 229. Vgl. dazu etwa An C. F. v. Harling, St. Cloud, 26.11.1719, H, 342, S. 570: Mich deücht – daß dießer könig [Friedrich Wilhelm I., König in Preußen (1688 –1740)] krancklich ist, den Ich höre gar offt – daß er daß fieber hatt. Man muß ihn zu jung von der gutten fraw von Harling gethan haben, sonsten hette sie ihn zu einem beßern temperament geholffen. Friedrich Wilhelm, Sophies Enkel, war von 1689 bis 1702 am braunschweig-lüneburgischen Hof von A. K. v. Harling erzogen worden. Dies ist eine Anspielung auf die am frz. Hof als unerlässliche Präventionsmaßnahme angesehenen Frühjahrs-Purgationen und Aderlässe, die vor Erkrankungen im darauffolgenden Winter schützen sollten. Vgl. etwa An Luise, Marly, 13.5.1713, HO, 2, 577, S. 308. Vgl. BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 125; so etwa auch in der Theorie der kritischen Ausscheidungen von Krankheitsmaterie durch die Natur, die auch Sydenham vertrat: NEUBURGER, Heilkraft, S. 43.

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Es ist woll ein groß glück, daß die natur noch starck genung bey ihm geweßen (da er doch so gar delicat ist), die geschwer durch die naß undt halß außzuwerffen. So balt die geschwer außgeworffen, hatt sich daß fieber gestilt.42

Dass ärztliche Eingriffe in vielen Fällen sogar kontraproduktiv für die natürliche Reinigungskraft des Körpers sein konnten, bekräftigte Elisabeth Charlotte etwa im Januar 1715, als sie sich über die Erkrankung und Behandlung von Luises Nichte Maria von Degenfeld wie folgt äußerte: Also umb die warheit zu sagen, so fürchte ich, daß Ewere niepce [sic!] nicht in gar gutten handen ist. Nichts in der welt ist schlimmer in den gifftigen kranckheitten, alß clistier; mich wundert, daß die blattern damitt haben außschlagen können; sie muß eine gar starcke natur haben.43

Nicht nur in den zuletzt zitierten Passagen wird deutlich, dass Elisabeth Charlotte Personen besonders schätzte, die eine starcke natur aufwiesen, wohingegen sie für (delicate) verweichlichte ‚Naturen‘ nur missbilligende Worte fand. In diesem Punkt bezieht sich der Naturbegriff – entsprechend seiner zeitgenössischen Grundbedeutung – auf bestimmte Wesenszuschreibungen an eine Person, die direkt aus der körperlichen Disposition erwachsen. Elisabeth Charlottes briefliche Selbstinszenierung als gesund und stark von ‚Natur‘ aus ist dabei ein Mittel zur Distinktion von bestimmten Personen, aber auch zur Herstellung von Zugehörigkeit.44 So finden ihre Selbstaussagen eine aufschlussreiche Spiegelung in den zahllosen Bekundungen über die starke gesunde natur45 ihrer Tante Sophie. Aus der Segnung mit einer ‚guten Natur‘ erwuchs jedoch gleichzeitig die Pflicht, diese durch eine entsprechende Praxis auch zu erhalten.46 Im Dezember 1703 bekräftigte Elisabeth Charlotte gegenüber ihrer Halbschwester: Ich mache es wie I.L. [Ihrer Liebden, d.h. Sophie]; muß sehr kranck sein, wen ich die kammer hütte. Ich bin auch persuadirt, daß man eher courirt, wen man sich weniger schondt. Ma tante hatt gott lob, eine gutte starcke natur. Gott erhalte I.L. noch lange jahren darbey!47

Die ‚gute Natur‘ müsse folglich gefordert werden, indem man bei leichten Erkrankungen nicht sofort Bettruhe halte und sich in der Rekonvaleszenz schnell wieder ein wenig körperliche Anstrengung zumute.48

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An Luise, Paris, 31.1.1722, HO, 6, 1299, S. 318. An Luise, Versailles, 25.1.1715, HO, 2, 682, S. 510. S. auch Paris, 13.3.1721, HO, 6, 1209, S. 41. Vgl. etwa An Luise, St. Cloud, 12.7.1721, HO, 6, 1245, S. 177: Daß krancklich sein muß Eüch erst nach dem ahnkommen sein, wie ich von hauß weg war: den zu meiner zeit hab ich Eüch nie kranck gesehen. An Luise, Versailles, 7.5.1699, HO, 1, 81, S. 139. S. auch 30.12.1703, HO, 1, 202, S. 337, 16.8.1704, HO, 1, 214, S. 351, 12.8.1706, HO, 2, 323, S. 472, 19.5.1672, HO, 2, 549, S. 276. Zum religiösen Impetus dieser Pflicht s. 2.V.2. An Luise, Versailles, 30.12.1703, HO, 1, 202, S. 337. S. auch 26.11.1705, HO, 1, 278, S. 423. Vgl. auch An Luise, Versailles, 19.5.1672, HO, 2, 549, S. 276, Paris, 7.4.1720, HO, 5, 1111, S. 111: Wir haben daß von I.G. dem churfürsten s., unßern herr vatter, die [warmen] stuben nicht leyden zu können; den I.G. hilten allezeit die [warmen] stuben vor gar ungesundt. Vgl. zu diesem Aspekt Francisca LOETZ, Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 2), Stuttgart 1993, S. 125; Robert JÜTTE, Medizin, Krankheit und Gesundheit um 1800, in: Sigrid HEINZE für das Deutsche HygieneMuseum, Dresden (Hg.), Homöopathie 1796–1996. Eine Heilkunde und ihre Geschichte. Katalog

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Elisabeth Charlotte bezog sich jedoch nicht allein auf ihre Tante Sophie (1630–1714), mit der sie bekanntlich ein besonders enges Verhältnis unterhielt. In einem Brief an Luise vom April 1703 lobte sie desgleichen die ‚Natur‘ ihrer Tante Luise Hollandine (1622– 1709), Sophies Schwester, die nach ihrer Konversion zum Katholizismus Äbtissin des Zisterzienserinnenklosters Maubuisson geworden war.49 Die wiedererlangte Gesundheit ihrer Tanten veranlasste sie zu resümieren: Dieße fürstinnen haben, gott lob, starcke naturen, hoffe, daß sie es weit bringen werden.50 Das Erzählmuster von der in der kurpfälzischen Fürstenfamilie geteilten ‚guten Natur‘ findet sich auch in den Briefen Sophies, wie ein Schreiben an Karl Ludwig vom Januar 1678 zeigt. Die robuste körperliche Gesundheit hätten die Geschwister von ihrer Mutter Elizabeth Stuart (1596–1662) ‚geerbt‘, so leitet Sophie genealogisch her. Im Falle ihres erkrankten Bruders Ruprecht (1619–1682) hätte man das Wirken der starken ‚Natur‘ ein weiteres Mal beobachten können: La santé du cors [sic!] est un heritage de la feue Reyne nostre mere (…). Tout le monde a creu, qu’il devoit mourir; cependant il s’est remis par un effort de la nature.51 Selbst anlässlich des im Vergleich zu seinen Schwestern frühen Todes ihres Vaters Karl Ludwig (1617–1680) im Alter von 63 Jahren behielt Elisabeth Charlotte den Familienmythos bei. In einem Brief an ihre Tante zeigte sie sich überzeugt, der Kurfürst sei von einer solchen gutten undt gesunden constitution gewesen, dass er zumindest das Alter seiner Mutter Elizabeth Stuart erreicht hätte, hätte er in seinem letzten Lebensjahren weniger Kummer und Sorge über den politischen Konflikt mit Ludwig XIV. aushalten müssen.52 Das in den Familienbriefen greifbare narrative Muster verortet die Wesensbestimmung der durch Verwandtschaft verbundenen Gruppe und ihrer einzelnen Mitglieder sowohl in einem bestimmten Bild von einer gemeinsamen materiell gegebenen ‚Natur‘ des Körpers als auch in den übereinstimmenden medikalen und diätetischen Alltagspraktiken, die gleich einer ‚zweiten Natur‘ die gesunde und kräftige Disposition der Familie zementierten.53 Als zentrale strukturbildende Faktoren der frühneuzeitlichen Gesellschaft schreiben sich verwandtschaftliche Beziehungen bzw. die genealogische Abkunft, so ist zu resümieren, einerseits direkt in die Materialität des Leibes ein, andererseits prägen sie sowohl den praktischen Umgang mit dem eigenen körperlichen Leib als auch die leibli-

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zur Ausstellung Deutsches Hygiene-Museum, 17. Mai bis 20. Oktober 1996, Berlin 1996, S. 13–26, hier 15. Zu Luise Hollandine vgl. KNEBEL, Verwandte, S. 44–45. An Luise, Versailles, 5.4.1703, HO, 1, 189, S. 320. Sophie an Karl Ludwig, Osnabrück 5.1.1678, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 313, S. 309: La santé du cors [sic!] est un heritage de la feue Reyne nostre mere, que personne vous pourra disputer, et le meilleur que nous en ayons eu, dont le Prince Rupert à esté fort bien partage aussi, sans cela il n’auroit pas peu resister à des accidants terrible, dont il est pourtant eschapé presentement. Tout le monde a creu, qu’il devoit mourir; cependant il s’est remis par un effort de la nature. Vgl. An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, NLA-HStAH, I, 181r–181v, vgl. B, 1, 33, S. 35. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 11.9.1721, HO, 6, 1260, S. 219–220: bewegung undt verenderung ist unßerm geblüdt gesundt. Hier spielte die Familie als weiterer Verband, zu dem auch die Bediensteten gehörten, eine bedeutende Rolle, denn die Erziehung durch A. K. v. Harling galt E. Ch. als Garant für eine ‚gute Natur‘. S. etwa An C. F. v. Harling, St. Cloud, 26.11.1719, H, 342, S. 570.

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che Empfindung.54 Mit Pierre Bourdieu ließe sich hier von der Inkorporierung des Prinzips Verwandtschaft sprechen55 – mit Natalie Zemon Davis von einem hochgradig vergemeinschafteten körperlichen Selbst.56 Ausgehend von den vorgestellten Befunden ist im Folgenden zu betrachten, wie sich das praxisbezogene, gemeinsam geteilte Naturverständnis der kurpfälzischen Familie im diskursiven Umfeld der Zeit verorten lässt. Wie bereits angedeutet verweist die Frage nach zeitgenössischen Naturauffassungen auf Grundfragen des frühneuzeitlichen Denkens wie das Verhältnis von Natur und Gott, Natur und menschlichem Handeln sowie ‚Wissenschaft‘ und Religion.57 Dabei war die Haltung zu diesen komplexen Beziehungen unter Naturforschern und -interessierten keineswegs homogen. Die Unsicherheiten im Begriffsverständnis etwa reflektierte der Alchemist Johannes Kunckel von Löwenstern (1630–1703) in der Einleitung zu seinem 1716 posthum erschienenen ‚Collegium Physico-Chymicum Experimentale‘: Denn um das Wort Natur machet man in der Welt viel Wesens / und wenn man nicht weiter kommen kan / so spricht man / es ist seine Natur so. Was aber eigentlich Natur sey / begreiffen wenige / expliciren es auch nicht / sondern sprechen: Gott und die Natur.58

Kunckel von Löwenstern übt hier Kritik an dem bereits erwähnten undifferenzierten allgemeinen Sprachgebrauch, wonach ‚Natur‘ als Bezeichnung des Wesens einer Sache und einer Person verwendet wird. Darüber hinaus beklagt er das mangelnde Bemühen, mit Hilfe eines fundierten Begriffsverständnisses die äußerst unscharfe Vorstellung vom Verhältnis zwischen Gott und Natur zu überwinden. Im Folgenden soll zunächst das Spektrum frühneuzeitlicher Vorstellungen über das Verhältnis von Natur und Gott in einem knappen Überblick skizziert werden, um diese in einem zweiten Schritt mit zentralen Textpassagen aus den Briefen der kurpfälzischen Familie in einen Dialog zu bringen. Im naturphilosophischen Denken der Frühen Neuzeit existierten zwei grundlegende Auffassungen: diejenige, die der Natur eine eigenständige Aktivität unterstellte, und eine solche, die die Natur als passive, allein von Gott bewegte Materie begriff. Erstere ging 54

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Insbesondere Letzteres betont Gesa Lindemann, wenn sie davon spricht, dass sozial konstruierte Ordnungen an die leibliche Erfahrung von Individuen als ‚Wirklichkeit‘ gebunden seien. Vgl. LINDEMANN, Geschlecht, S. 32. Vgl. BOURDIEU, Herrschaft, S. 73. Vgl. DAVIS, Frauen, S. 10: „(…) in einer solchen [einer stark vergemeinschafteten] Gesellschaft waren die um das Selbst gezogenen Grenzen nicht fest und geschlossen.“ Vgl. auch PILLER, Körper, S. 30. Vgl. Anne-Charlott TREPP, Von der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2009, S. 8; Michael KEMPE, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie (FrühneuzeitForschungen 10), Epfendorf 2003, S. 20–22; Jacques ROGER, The Mechanistic Conception of Life, in: David C. LINDBERG u. Ronald L. NUMBERS (Hg.), God and Nature. Historical Essays on the Encounter between Christianity and Science, London 1986, S. 277–295, hier 277–295; COUDERT, Impact, S. 166; BERGDOLT, Leib, S. 229. Johannes KUNCKEL, Collegium Physico-Chymicum Experimentale, Hamburg, Leipzig 1716, ND Hildesheim, New York 1975, S. 40. S. auch Wilhelm KÜHLMANN, Anmerkungen zum Verhältnis von Natur und Kunst im Theoriezusammenhang des paracelsischen Hermetismus, in: Thomas LEINKAUF u. M. v. Karin HARTBECKE (Hg.), Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700 (Frühe Neuzeit 110), Tübingen 2005, S. 87–108, hier 87.

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auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurück, der der Materie ein teleologisches Entwicklungspotential zuschrieb und somit die Natur als sich selbst erschaffendes Prinzip (natura naturans) dachte.59 Mit der hochmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption wurden diese Vorstellungen aufgegriffen und gleichermaßen konsequent in einen christlichen Erklärungszusammenhang eingeordnet.60 Thomas von Aquin etwa interpretierte das lebendige Prinzip in der Materie, von dem Aristoteles gesprochen hatte, als göttliches Werk. Damit schuf er das naturgeschichtlich einflussreiche Modell einer von Gott beseelten Natur, deren Würde und Integrität von Menschen zu achten sei.61 Das mittelalterliche Denken über die Natur amalgamierte christliche Gottesvorstellungen mit der aristotelischen Auffassung einer selbsttätigen Natur sowie mit eher anthropozentrischen Haltungen, die sich sowohl auf neuplatonische Interpretationen der Natur als geschaffene (natura naturata)62 als auch auf zentrale Passagen der biblischen Überlieferung stützte, in der die Natur als feindlich gesonnene Gegenwelt gedacht wurde, die der Mensch sich untertan zu machen habe.63 Die im Rahmen der sogenannten scientific revolution64 im 16. und 17. Jahrhundert aufkommenden kausalmechanischen Naturtheorien richteten sich grundlegend gegen die aristotelische Naturauffassung.65 Indem die mechanistischen Theoretiker Natur unter Bezugnahme auf atomistische Vorstellungen der Antike als „Gefüge von Materie in gesetzmäßig sich vollziehender Bewegung“66 verstanden, wiesen sie den Gedanken einer eigenständigen, selbstregulativen Kraft in einer lebendigen Natur strikt zurück.67 Damit grenzten sie sich ebenso nachdrücklich von Modellen eines Kooperationsverhältnisses 59

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Zum aristotelischen Naturverständnis vgl. GLOY, Verständnis, S. 106–133; Gary B. DEASON, Reformation Theology and the mechanistic Conception of Nature, in: David C. LINDBERG u. Ronald L. NUMBERS (Hg.), God and Nature. Historical Essays on the Encounter between Christianity and Science, London 1986, S. 167–191, hier 168–169. Vgl. ROGER, Conception, S. 277–278; GLOY, Verständnis, S. 134–137. Vgl. DEASON, Theology, S. 169 u. 178; GLOY, Verständnis S. 138 u. 142. Zum platonischen Naturverständnis und seinen mittelalterlichen Interpretationen s. GLOY, Verständnis, S. 28, 106, 138, zur Unterscheidung von natura naturans und natura naturata S. 24. Vgl. ebd., S. 140–146. Zur Diskussion um die Adäquatheit des Revolutionsbegriffes vgl. SHAPIN, Revolution, S. 9–15; auf Shapin bezugnehmend TREPP, Glückseligkeit, S. 324–325 u. 328; GROH u. GROH, Weltbild, S. 58; Lorraine DASTON u. Katharine PARK, Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Frankfurt a.M. 2002, S. 388–392, die die Diskussion auf den Terminus der ‚new sciences/neuen Wissenschaften‘ ausweiten; Lorraine DASTON, Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2002, S. 7–8; Viktor GORGÉ, Die Entstehung der neuzeitlichen Naturvorstellung, in: Maja SVILAR (Hg.), Kultur und Natur (Collegium Generale Universität Bern, Kulturhistorische Vorlesungen 1990/91), Bern, Frankfurt a.M., New York 1992, S. 53–73, hier 54; Paolo ROSSI, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa (Europa Bauen), München 1997, S. 13–20; Otto MAYR, Uhrwerk und Waage. Autorität, Freiheit und technische Systeme in der frühen Neuzeit, München 1987, S. 74–75. Vgl. DEASON, Theology, S. 167–168; GORGÉ, Entstehung, S. 61–64; SHAPIN, Revolution, S. 41–42 u. 49–50. ROSSI, Geburt, S. 193. Vgl. ROGER, Conception, S. 280; SHAPIN, Revolution, S. 59. S. auch Art. Mechanisch (Mechanice) philosophiren, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 20, Sp. 20–21. S. etwa Alex SUTTER, Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant, Frankfurt a.M. 1988, S. 52.

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zwischen Gott und der von ihm beseelten Natur ab, wie sie etwa auch in paracelsischchemiatrischen Vorstellungen einer ganzheitlichen Beziehung zwischen Mikro- und Makrokosmos bzw. Mensch und der vitalen göttlich beseelten Natur formuliert worden waren.68 Sie betonten hingegen in radikaler Weise die Souveränität Gottes über die passive Materie und deren Bewegungen,69 wie sie bereits in mittelalterlichen Kontroversen zur Disposition gestanden hatte70 und in der reformatorischen Betonung einer von menschlichen Werken unabhängigen göttlichen Vorsehung eine Entsprechung fand.71 Umstritten war unter den mechanistischen Denkern lediglich das Ausmaß der göttlichen Superiorität über die Materie bzw. die Natur. Während die sogenannten Okkasionalisten von einem stetigen göttlichen Regieren und Lenken der Natur ausgingen, zogen streng rationalistisch orientierte Denker wie etwa René Descartes (1596–1650) in seinem Frühwerk eine scharfe Trennlinie zwischen der passiven Natur und ihrem göttlichen Beweger.72 In sei-

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Vgl. etwa WEAR, Knowledge, S. 360–361; Carolyn MERCHANT, The Vitalism of Francis Mercury Van Helmont. It’s influence on Leibniz, in: Ambix. The journal of the society for the Study of Alchemy and Early chemistry 26 (1979), S. 170–183, hier 172–173; Wilhelm SCHMIDT-BIGGEMANN, Die Modelle der Human- und Sozialwissenschaften in ihrer Entwicklung, in: Walter RÜEGG u. M. v. Asa BRIGGS (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996, S. 391–424, hier 397. Vgl. ROGER, Conception, S. 279–280 u. 285; DEASON, Theology, S. 167–191; Kaspar von GREYERZ, Religion und Natur in der Frühen Neuzeit. Aspekte einer vielschichtigen Beziehung, in: Sophie RUPPEL u. Aline STEINBRECHER (Hg.), „Die Natur ist überall bey uns“. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009, S. 41–58, hier 50–53; ROSSI, Geburt, S. 162; Otto ULLRICH, Die mechanische Gesellschaft. Woher stammt das Paradigma der Mechanik, in: Hanno MÖBIUS u. Jörg Jochen BERNS (Hg.), Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990, S. 291–302, hier 291; GROH u. GROH, Weltbild, S. 30–34. Vgl. DEASON, Theology, S. 169–170. Vgl. ebd., S. 170–187. Deason arbeitet jedoch auch einen zentralen Unterschied zwischen den Gottesvorstellungen der mechanistischen Wissenschaften und reformatorischer Theologie heraus: Im kausalmechanischen Denken bezieht sich die göttliche Vorsehung auf eine universale Ebene von ‚Welt‘ – bleibt allerdings grundsätzlich der Sphäre des einzelnen Menschen und seines Lebensverlaufes, den die reformatorische Theologie anspricht, enthoben. Vgl. bezugnehmend auf Deason auch Evelyn Fox KELLER, Secrets of God, Nature and Life, in: Dies., Secrets of Life Secrets of Death. Essays on Language, Gender and Science, New York, London 1992, S. 56–72, hier 60– 62. Zur Kritik an Deason u.a. im Bezug auf eine Überbetonung konfessioneller Unterschiede in den aufkommenden Wissenschaften vgl. GREYERZ, Natur, S. 55–58. S. auch Stephen GAUKROGER, Descartes‘ System of natural philosophy, Cambridge 2002, bes. S. 28–29 u. 75–79; ROGER, Conception, S. 281–281; Gábor BOROS, Dieu ou la nature. Die Umkehrung des cartesianischen Naturbegriffs im Spätwerk Descartes‘, in: Thomas LEINKAUF u. M. v. Karin HARTBECKE (Hg.), Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700 (Frühe Neuzeit 110), Tübingen 2005, S. 265–282, hier 269; Caroline WILSON, Monads, Forces, Causes (§ 80), in: Hubertus BUSCH (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Monadologie (Klassiker Auslegen 34), Berlin 2009, S. 211–221, hier 212; Alfons LABISCH, Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a.M., New York 1992, S. 71; GRMEK, Révolution, S. 127–128; ROGER, Mechanistic Conception, S. 281–282; SHAPIN, Revolution, S. 161–173; Michaela BOENKE, Gott und seine Mitregenten. Theologische, stoische und platonische Elemente in der Naturtheorie Newtons, in: Thomas LEINKAUF u. M. v. Karin HARTBECKE (Hg.), Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700 (Frühe

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ner zwischen 1629 und 1633 verfassten Abhandlung ‚Le Monde ou Traité de la Lumière‘ hatte Descartes sich zu diesen Grundlagen seiner Naturphilosophie unmissverständlich geäußert: „Nehmen Sie folglich erstens zur Kenntnis, daß ich hier unter Natur nicht irgendeine Göttin verstehe oder irgendeine Art eingebildeter Macht, sondern daß ich mich dieses Wortes bediene, um die Materie selbst zu bezeichnen, (…) unter der Bedingung, daß Gott fortfährt, sie in derselben Weise zu erhalten, wie er sie geschaffen hat. Denn daraus allein, daß er so fortfährt, sie zu erhalten, folgt mit Notwendigkeit, daß es in ihren Teilen mehrere Veränderungen geben muß, welche, wie mir scheint, im eigentlichen Sinne nicht der Tätigkeit Gottes zugeschrieben werden können. Die Regeln, denen zufolge diese Veränderungen stattfinden, nenne ich die Naturgesetze.“73

Auch der deutsche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) folgte dem sogenannten ‚Bauplan-Argument‘ (argument by design) und verglich Gottes Wirken mit dem eines Uhrmachers, der die mechanischen Naturgesetze und damit die Welt einmalig eingerichtet habe.74 Dennoch widersprach Leibniz den mechanischen Theorien in einem zentralen Punkt: In seiner Monadenlehre definierte er die kleinsten organischen Teilchen der Materie, die sogenannten Monaden, als eine in jedem Lebewesen tätige, sich selbst regulierende innere Kraft. Damit argumentierte er als einer der wenigen Naturphilosophen seiner Zeit mit Aristoteles gegen die mechanische Vorstellung einer grundsätzlich unbeseelten Materie bzw. Natur.75 Gleichzeitig steht Leibniz‘ vitalistische Monadenlehre in engem Zusammenhang zu den paracelsisch-helmontischen Vorstellungen76 vom Archeus als einer selbstheilenden Kraft der körperlichen Natur.77

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Neuzeit 110), Tübingen 2005, S. 299–319, hier 305 u. speziell zu Isaac Newtons (1643–1726) ambivalenten Vorstellungen S. 318–319. René DESCARTES, Le Monde ou Traité de la Lumière. Die Welt oder Abhandlung über das Licht, übers. u. mit einem Nachwort versehen v. G. Matthias TRIPP, Weinheim 1989, S. 45. Zur Interpretation des Zitats s. auch BOROS, S. 265. Vgl. GLOY, Verständnis, S. 167–168; GREYERZ, Natur, S. 53; MAYR, Uhrwerk, S. 100–101. Vgl. DEASON, Theology, S. 168–169; ROGER, Conception, S. 287; zu Leibniz‘ Bezug auf Aristoteles in seiner Monadenlehre vgl. Stefan HEßBRÜGGEN-WALTER u. Ansgar LYSSY, Maschinen der Kunst, Maschinen der Natur (§ 63–76), in: Hubertus BUSCHE (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Monadologie (Klassiker Auslegen 34), Berlin 2009, S. 175–195, hier 186 u. 188; WILSON, Monads, S. 213; Peter PETERSEN, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Lepizig 1921, S. 372–374; William CLARK, The Scientific Revolution in the German Nations, in: Roy PORTER u. Mikuláš TEICH (Hg.), The Scientific Revolution in National Context, Cambridge 1992, S. 90–114, hier 108–109; SUTTER, Maschinen, S. 83–84. Vgl. bes. Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, Principes de la Nature et de la Grace Fondés en Raison, in: Gottfried Wilhelm Leibniz. Kleine Schriften zur Metaphysik. Opuscules Metaphysiques, hg. u. übers. v. Hans Heinz HOLZ, Frankfurt a.M. 1965, S. 434–435; Marie Noëlle DUMAS, Leibniz und die Medizin, in: Albert HEINEKAMP u. Dieter METTLER (Hg.), Magia Naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften. Symposium der Leibniz-Gesellschaft Hannover, 14. und 15. November 1975 (Studia Leibnitiana Sonderheft 7), Wiesbaden 1978, S. 143–153, hier 144. Zum Zusammenhang zw. Leibniz u. Paracelsus vgl. Sepp DOMANDL, Der Archeus des Paracelsus und die Leibnizsche Monade. Eine Gegenüberstellung, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (1977), S. 428–443, hier 429–431 u. 435; Sepp DOMANDL, Paracelsus. Stationen deutscher Philosophie. Nikolaus von Kues, Paracelsus, Leibniz, Kant, Goethe (Salzburger Beiträge zur

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Zum Spektrum frühneuzeitlicher Vorstellungen von der Relation von Natur und Gott sind darüber hinaus frühpantheistische Ideen zu zählen. In Anknüpfung an die antike Naturphilosophie der Stoa78 formulierte der Niederländer Baruch Spinoza (1632– 1677) die These einer Gleichsetzung von Natur/Welt und Gott.79 Spinozas Radikalisierung des Gottesbegriffes, der erstmals in der abendländischen Philosophiegeschichte nicht mehr als Lenker oder letzte Ursache erschien, musste in einer grundsätzlich religiös geprägten Gesellschaft wie der frühneuzeitlichen jedoch für Empörung sorgen und war zu dessen Lebzeiten noch wenig einflussreich.80 Frühneuzeitliche Diskurse zeichnen sich gerade dadurch aus, dass aus heutiger Sicht vermeintlich unvereinbare Elemente und Aspekte durchaus als Einheit verstanden wer-

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Paracelsusforschung 27), Wien 1990, S. 58, der betont, dass sowohl Leibniz‘ Begriff der Monade als auch Paracelsus‘ Begriff des Archeus auf ein „inneres Prinzip tätiger Kraft“ verweise. Zu den Verbindungen zwischen Leibniz und J. B. bzw. F. M. Van Helmont vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 201; MERCHANT, Vitalism, S. 170–183; Anne BECCO, Leibniz et Francois-Mercure van Helmont: Bagatelle pour des Monades, in: Albert HEINEKAMP u. Dieter METTLER (Hg.), Magia Naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften. Symposium der Leibniz-Gesellschaft Hannover, 14. und 15. November 1975 (Studia Leibnitiana Sonderheft 7), Wiesbaden 1978, S. 119– 142, bes. S. 120 u. 140–141; Karl-Heinz WEIMANN, Leibniz und die medizinischen Strömungen seiner Zeit, in: Albert HEINEKAMP u. Dieter METTLER (Hg.), Magia Naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften. Symposium der Leibniz-Gesellschaft Hannover, 14. und 15. November 1975 (Studia Leibnitiana Sonderheft 7), Wiesbaden 1978, S. 155–165, hier 162; ORIO DE MIGUEL, Leibniz, S. 148–149. Vgl. WILSON, Monads, S. 213–214; Jürgen HÜBNER, Kosmologie in Geschichte, Kunst und Theologie, in: Jürgen HÜBNER, Ion-Olimpiu STAMATESCU u. Dieter WEBER (Hg.), Theologie und Kosmologie. Geschichte und Erwartungen für das gegenwärtige Gespräch, Tübingen 2004, S. 3–41, hier 8, HEßBRÜGGEN-WALTER u. LYSSY, Maschinen, S. 193–194, die festhalten, mit Leibniz könnten auch Selbstheilungsprozesse des Körpers erklärt werden. Paracelsus‘ Naturauffassung ist in ihrer Annahme einer Ganzheitlichkeit zwischen Mikro- und Makrokosmos bzw. Mensch und Universum, aus der Gottes Weisheit unmittelbar hervorgehe, von neuplatonischen und hermetischen Ideen geprägt. In Bezug auf den Aspekt der Beseeltheit und Vitalität der Natur gibt es durchaus Übereinstimmungen mit Aristoteles. Vgl. Walter PAGEL, Das medizinische Weltbild des Paracelsus. Seine Zusammenhänge mit Neuplatonismus und Gnosis (Kosmosophie 1), Wiesbaden 1962, S. 101. Die stoische Naturtheorie setzte Gott und Natur gleich (Naturam dixit, intellego Deum). Vgl. BOENKE, Gott, S. 309–311. Vgl. Mathias JUNG, Spinoza. Gott ist Natur – Natur ist Gott, Lahnstein 2005, S. 108–109 u. 126– 127. Vgl. ebd., S. 113–115 u. 190–192. Sophie und Karl Ludwig waren allerdings mit Spinozas Werken vertraut. S. HAUCK, Karl Ludwig, S. 207; KNOOP, Kurfürstin, S. 80. Hinweise auf Sophies Auseinandersetzung mit Spinoza liefern die Briefe an ihren Bruder. Vgl. Sophie an Karl Ludwig, Osnabrück, 2.3.1679, 9.3.1679 u. 6.7.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 352, S. 351, 353, S. 353 u. 369, S. 367–368. Sophie lobt hier ihren zweitgeborenen Sohn Friedrich August (1661–1690): vous ne croiries pas, que celuy cy aime la lecture et les mathematiques: il scait Descartes et Spinoza casi par coeur. Karl Ludwig hatte Spinoza 1673 eine Professur für Philosophie an der wieder begründeten Heidelberger Universität angeboten. Vgl. JUNG, Spinoza, S. 39–40; MOERS-MESSMER, Heidelberg, S. 321–323. Spinoza lehnte ab, da er fürchtete, er könne in seiner Gewissensfreiheit eingeschränkt werden. Karl Ludwig hatte im Berufungsschreiben angedeutet, Spinozas Tätigkeit dürfe sich nicht gegen die offizielle Konfession im Kurfürstentum richten.

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den konnten.81 Wie neuere Forschungen herausarbeitet haben, galt die Erforschung der Natur den Zeitgenossen als religiöse Praxis auf dem Weg zur Gotteserkenntnis,82 und zwar unabhängig davon, ob man sich deren Ordnung streng mechanistisch oder organisch-beseelt vorstellte.83 Insbesondere mit dem Aufkommen der sogenannten physikotheologischen Bewegung seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts avancierte diese Auffassung zum „naturtheologischen Mainstream“84 der Zeit.85 Von einem „inhärenten Gegensatz zwischen Religion und Naturwissenschaft“ in der Frühen Neuzeit kann also mitnichten gesprochen werden, wie jüngst Kaspar von Greyerz mit Blick auf neuere wissensgeschichtliche Arbeiten resümiert.86 Nach dieser kurzen Skizze zentraler naturphilosophischer Auffassungen in der Frühen Neuzeit soll nun am Beispiel der kurpfälzischen Familie nach dem in den Briefen deutlich werdenden lebensweltlichen Bezug dieser komplexen naturphilosophischen Wissensbestände gefragt werden. Die über Sozialisationsprozesse in Elisabeth Charlottes Familie vermittelte Forderung, im Krankheitsfall die natürliche Selbstheilungskraft der körpereigenen ‚Natur‘ geduldig abzuwarten, ist dabei als konsequenter Vertrauensbeweis gegenüber göttlicher Schöpfung zu verstehen. Als Raugräfin Friederike 1674 im Kindesalter schwer erkrankt war, schrieb Elisabeth Charlottes Vater Karl Ludwig beispielsweise mahnend an seine Gattin Luise von Degenfeld: Mein hertzlieber schatz wolle sich doch mit Friderica kranckheit nicht übereylen, sondern Gott undt die natur würcken laßen.87 Hier wird explizit das Modell einer Ko81

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Vgl. Kaspar von GREYERZ, Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000, S. 32–36; TREPP, Glückseligkeit, S. 7–8 u. 16. Vgl. TREPP, Glückseligkeit, bes. S. 22, 307 u. 323; Anne-Charlott TREPP, Natural Order and Divine Salvation: Protestant Conceptions in Early Modern Germany (1550–1750), in: Lorraine DASTON u. Michael STOLLEIS (Hg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy, Aldershot 2008, S. 123–142, hier 126 u. 136–137; KEMPE, Wissenschaft, bes. S. 154; Irmgard MÜSCH, Geheiligte Naturwissenschaft. Die Kupfer-Bibel des Johann Jakob Scheuchzer (Rekonstruktion der Künste 4), Göttingen 2000, S. 132–154; Simona BOSCANI LEONI, Zwischen Gott und Wissenschaft. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, in: Sophie RUPPEL u. Aline STEINBRECHER (Hg.), „Die Natur ist überall bey uns“. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009, S. 183–194, hier 184–186; GREYERZ, Kultur, S. 73; Paul MICHEL, Physikotheologie. Ursprünge, Leistungen und Niedergang einer Denkform, Zürich 2008, S. 146–148; SCHOTT, Natur, S. 391–393. Vgl. TREPP, Glückseligkeit, S. 324 u. 328, anhand der Beispiele des Pfarrers Johann Arndt (1555– 1621), S. 41–46 u. des Pfarrers Friedrich Christian Lesser (1692–1754), S. 434–442 sowie TREPP, Order, S. 128, 131, 134 u. 140 am Beispiel des Pfarrers Johann Rist (1607–1667), der sich bei seinen Naturforschungen sowohl von mechanistischen als auch von alchemistischen Vorstellungen leiten ließ. S. auch KEMPE, Wissenschaft, S. 175, am Beispiel Johann Jakob Scheuchzers (1672–1733). TREPP, Glückseligkeit, S. 306–307, vgl. auch S. 17–18. Vgl. zur Physikotheologie und ihren Vorläufern TREPP, Glückseligkeit, S. 22–23; KEMPE, Wissenschaft, S. 154–157; GREYERZ, Natur, S. 46 u. Wissenschaft, S. 14–15; MÜSCH, Naturwissenschaft, S. 21–30; GROH u. GROH, Weltbild, S. 50–59, bes. 52; MICHEL, Physikotheologie, bes. S. 6–7. GREYERZ, Natur, S. 55 u. Wissenschaft, S. 20 u. 24; TREPP, Glückseligkeit, S. 8 u. 323–325; HÜBNER, Kosmologie S. 8; SHAPIN, Revolution, S. 158–160. Karl Ludwig an Luise v. Degenfeld, o.O., o.D. u. Friedrichsburg, 30.8.1665, in: HOLLAND (Hg.), SK, 70, S. 416 u. 182, S. 163: Sie mach sich nur wieder gesund, nehme kein quacksalberey ein und laße die natur und gute speise daß beste thun, im übrigen es Gott befohlen! Hinter dieser Aussage steht die ebenso bei Paracelsus und Van Helmont zum Ausdruck kommende Vorstellung, die Heilkraft der Natur, also

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operation zwischen Gott und Natur aufgegriffen. Auch Sophie verstand die Natur in den Neujahrsgrüßen 1679 an ihren Bruder Karl Ludwig, ganz im Gegensatz etwa zur cartesianischen Definition,88 als göttliche Komplizin für die im neuen Jahr zu erhoffende Gesundheit. Sophie schrieb: Je souhaite de tout mon coeur, que vous gardiés longtemps bon coeur, bonne teste et bon apetit avec l’aide du bon Dieu et de sa chere moitié la dame nature.89 Gott und seine bessere Hälfte, die Natur, mögen also dazu helfen, eine gestärkte Seele (bonne teste) und einen gesunden Leib (bon apetit) zu bewahren. Die schon seit der Antike weiblich allegorisierte ‚Natur‘90 erscheint hier personifiziert als Ehefrau Gottes.91 Auch ihr Wirken ist integraler Baustein für eine gute Gesundheit und muss deswegen genauso erbeten und erhofft werden wie die Hilfe Gottes.92 In kritischen Momenten jedoch, in denen die Gesundheit auf dem Spiel stand, wird diese Vorstellung einer kooperativen Beziehung von Gott und Natur in Sophies Korrespondenz zugunsten eines die Natur gezielt regierenden Gottes relativiert. Im Februar 1708 schrieb Sophie über die Augenerkrankung der Raugräfin Luise: Ich beklage von herzen, daß der lieben raugrefin augen noch nichts daugen, hoff, gott wirdt es endern, der die natur regiert.93 Die hier begegnende stärker personalisierte Vorstellung eines in direkter Weise in eine tendenziell eher passiv erscheinende Natur eingreifenden Gottes versprach offenbar Trost im Angesicht von Krankheit und war mit calvinistischen und lutherischen Betonungen göttlicher Souveränität94 leichter in Einklang zu bringen. Diese Akzentuierung schien auch Elisabeth Charlottes Vorstellungen näherzukommen, die Gott und Natur in einem eindeutigen Hierarchieverhältnis dachte.95 Ihrer Tante schrieb sie 1698:

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der ‚innere Arzt‘ des Menschen, sei von Gott gegeben. Vgl. NEUBURGER, Heilkraft, S. 28, 36 u. 40; COUDERT, Impact, S. 153. Vgl. DESCARTES, Le Monde, übers. v. Tripp, S. 45. Sophie an Karl Ludwig, Osnabrück, 25.12.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 399, S. 395. S. auch FORSTER, Illness, S. 308. Zur Genderperspektive des Naturbegriffs bzw. Therapiekonzepts s. ausführlich 2.IV.3. Gegen diese Auffassung von Natur hatte sich etwa Robert Boyle (1627–1691) in seiner Schrift ‚A Free Inquiry into the Vulgarly receives Notion of Nature‘ gewendet. Vgl. KELLER, Evelyn Fox, Geschlecht und Wissenschaft. Eine Standortbestimmung, in: Barbara ORLAND u. Elvira SCHEICH (Hg.), Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte der Theorie der Naturwissenschaften, Frankfurt a.M. 1995, S. 64–91, hier 73; DEAR, Miracles, S. 682. Auch im nächsten Jahr verwies Sophie auf die mit Gott im Bunde stehende dame nature, die den Bruder in guter Gesundheit erhalten möge. Vgl. Sophie an Karl Ludwig, Hannover, 5.8.1680, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 431, S. 432: Dieu soit loué et sa chere moitié la dame nature qui vous maintinent en bonne santé; c’est le plus grand bien que l’on puisse avoir du monde. Sophie an Amalie Elisabeth, Hannover, 19.2.1708, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 308, S. 276. Zu der im Luthertum und im Calvinismus implizit enthaltenen Naturauffassung s. DEASON, Theology, S. 175–178. An Étienne Polier, o.O., 1.4.1707, VdC, Lf, 338, S. 338: Il est certain que plus on observe la nature et ses opérations, plus on trouve d’occasion d’admiration et de crainte et de respect pour celui qui en est le maître, et par qui tout est fait.

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wie mons. Helmont96 von unßerm herr Gott glaubt, so muß er vor Gott halten, waß wir ordinari natur nenen nehmblich, waß aller samen in der welt erhelt fortpflanzt undt wider zu grundt führt, ich meinte aber, die christliche religion sehe Gott den allmächtigen noch über dießes.97

In Bezug auf den Alterungsprozess wird das Verhältnis von Gott und Natur noch einmal konkretisiert. Mehrfach zitierte Elisabeth Charlotte – wie hier im Juli 1721 – in ihrer Korrespondenz eine Redensart ihrer Tante: Ihr wißt, liebe Luise, daß unßere liebe churfürstin alß pflegt dieße große wahrheit zu sagen, daß unßer herrgott nichts neües vor unß machen wirdt undt daß wir folgen müßen, waß gott in der natur gesetzt.98

Das Altern des Leibes erscheint hier – ähnlich der Einrichtung der Welt durch den Uhrmacher – als von Gott aufgestelltes Programm, das sich im ‚natürlichen‘ Lauf der Dinge offenbare. In der Konsequenz führten diese Vorstellungen einer göttlichen Superiorität über die Natur jedoch zu einer in verschiedenen Belangen des Alltagslebens deutlich werdenden Haltung, die von einer grundsätzlichen Dignität der Natur ausgehend menschliches Eingreifen in die Natur negativ konnotierte. Besonders deutlich – und in engem Zusammenhang mit den bereits angesprochenen medikalen Auffassungen und Praktiken der Familie – zeigt sich dieses Bewertungsmuster in Elisabeth Charlottes reservierter Haltung gegenüber der Zurichtung der natürlichen Umwelt durch den Menschen, wie sie im barocken Landschaftsgarten99 zum Ausdruck kam. Im Februar 1719 äußerte sie sich in einem Brief an Luise über die Parkanlagen in ihrem Umfeld wie folgt: Ich sehe, daß die gräffin von Solms meines sines ist, daß es viel ahngenehmer, auff dem landt zu wohnen, alß in den grösten undt schönsten stäten. Ich sehe lieber bäume undt ertreich, alß die schönsten gärtten, mitt marmel [Marmor] undt springbrunen geziehret, undt lieber eine grüne wieße lengst einer bach, alß die schönsten vergülten cascaden; mitt einem wordt, waß naturlich ist, gefelt mir beßer, alß alles, waß die künste und magnificentz erdencken mag. Solche sachen deügen nur im ersten ahnblick, sobaldt mans aber gewohnt ist, denckt man nicht mehr dran, undt waß noch mehr ist, man wirdt baldt müdt; aber naturlich waßer, wießen undt wälder kan ich mein leben nicht müdt werden.100 96

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Gemeint ist hier der bereits erwähnte flämische Universalgelehrte F. M. Van Helmont, der als Arzt, politischer Berater und Gesprächspartner mit den kurpfälzischen Geschwistern Karl Ludwig, Elisabeth und Sophie in Kontakt stand. An Sophie, Port Royal, 17.8.1698, NLA-HStAH, VIII,2, 433r, vgl. B, 1, 352, S. 343. An Luise, St. Cloud, 12.7.1721, HO, 6, 1245, S. 175. S. auch 1.9.1716, HO, 3, 785, S. 35 u. 11.9.1721, HO, 6, 1260, S. 219: Man muß gedult haben undt gedencken, wie unßere liebe churfürstin alß pflegt zu sagen: „Unßer herrgott wirdt nichts neües, noch besunders vor unß machen, wir müßen folgen, waß gott in der natur vor ein jedes alter verortnet hatt.“ Vgl. zu dieser Redewendung auch An Luise, St. Cloud, 12.6.1721, HO, 6, 1236, S. 144, 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 183. Zum frz. Barockgarten vgl. Ana-Stanca TABARASI, Der Landschaftsgarten als Lebensmodell. Zur Symbolik der „Gartenrevolution“ in Europa, Würzburg 2007, S. 25–26; Michael BRIX, Der barocke Garten. Magie und Ursprung. André Le Nôtre in Vaux Le Vicomte, Stuttgart 2004, S. 42, 62 u. 74. Der erste frz. Landschaftsgarten mit streng geometrischer Anlage und klaren Sichtachsen wurde von André Le Nôtre geplant und 1661 in Vaux Le Vicomte angelegt. Er diente auch als Vorbild für die Versailler Gärten. An Luise, Paris, 23.2.1719, HO, 4, 995, S. 39.

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Schon in einem Brief vom Juni 1704 hatte sie noch konsequenter bekannt: Ich bin wie E.L., höre lieber die nachtigallen alß alle musiq der welt, undt waß die natur macht finde ich allezeit schönner alß was die menschen machen, so magnifiq es auch sein mag drum spatzire ich auch lieber im parq alß in den schönnen gartten.101

Elisabeth Charlotte verwies hier einmal mehr auf eine direkte Gemeinsamkeit mit ihrer Tante. Auch in den Memoiren Sophies findet sich ein Hinweis auf eine ablehnende Haltung gegenüber der Gestaltung der Natur zu Zwecken adeliger Herrschaftsrepräsentation. So spöttelte Sophie, wie eifrig der König gewesen sei, ihr während ihrer Reise an den französischen Hof 1679 Versailles zu zeigen, où la dépense a fait plus de merveilles que la nature.102 Wenn sie zu wählen hätte, so fügte Sophie an, würde sie sich lieber in den weniger stark stilisierten Gärten des Schlosses St. Cloud – Elisabeth Charlottes Lieblingsresidenz – aufhalten. Die Notwendigkeiten absolutistischer Herrschaftsrepräsentation hatten jedoch auch Sophie eingeholt, als ihr Gatte Ernst August nach dem Tod seines Bruders Johann Friedrich von Calenberg die Residenz nach Herrenhausen verlegte. Im Ausbau des Großen Gartens durch den französischen Gartenarchitekten Martin Charbonnier schlugen sich neben niederländischen auch französische Einflüsse nieder.103 Sophies Reise an den französischen Hof könnte als Inspiration für dieses Projekt fungiert haben.104 Schon zuvor hatte sie zwischen 1673 und 1678 bei Charbonnier die Anlage eines Gartens am neuerrichteten Schloss in Osnabrück beauftragt, in dem ebenfalls symmetrische Formen, Wasserbecken, Blumenparterres und gestutzter Pflanzenbewuchs dominierten.105 Elisabeth Charlotte hingegen hatte nicht persönlich miterlebt, wie sich der französische Landschaftsgarten in Deutschland in den 1680er Jahren als Ideal der Gartenarchitektur durchsetzte. Dem auf einer Terrasse des Königsstuhls gelegenen Heidelberger Schloss fehlte genauso wie der Iburg bei Osnabrück eine ausgedehnte Gartenanlage106

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An Sophie, Versailles, 7.6.1704, NLA-HStAH, XIV, 146v, vgl. B, 2, 535, S. 77 [sic! Datum]. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 510–511. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 156–157; dt. Übers. TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 138–139; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 159: „Am folgenden Tag hatte der König befohlen, daß man mir Versailles zeigen solle, denn ohne Vorbereitung springen die Wasser nicht. Als alles in Ordnung war, mussten wir uns dorthin begeben (…). Nach Tisch fuhren wir wieder in derselben Ordnung spazieren wie in St. Cloud, und sobald wir den Fuß zur Erde setzten, reichte Monsieur mir immer die Hand und ging mit mir allen voran, um mich die Schönheit von Versailles bewundern zu lassen, wo das Geld größere Wunder getan hat als die Natur. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich St. Cloud vorziehen. Nachdem man die Güte gehabt hatte, mir alles zu zeigen, was es dort zu sehen gab, fand ich zu meiner Stärkung einen guten Imbiß vor, der wohl soviel wert war wie die Wasserkünste, die man mit so großer Mühe hatte springen lassen.“ Vgl. Heike PALM, Die Geschichte des großen Gartens, in: Marieanne von KÖNIG (Hg.), Herrenhausen. Die königlichen Gärten in Hannover, Göttingen, 2006, S. 20–22; TABARASI, Landschaftsgarten, S. 258. Vgl. SCHNEIDER, Ernst August I., S. 203; PALM, Geschichte, S. 20. Vgl. ebd., S. 200; ebd., S. 21; ROHR, Sophie, S. 35–36. Vgl. ROHR, Sophie, S. 35; ROHR, Sophie Begleitheft, S. 65–73; Wolfgang WIESE u. Karin STOBER, Schloss Heidelberg, 3. Aufl., München 2011, S. 3 u. 23–24. Die nach italienischem Vorbild gestaltete Renaissance-Gartenanlage am Heidelberger Schloss, der unter Friedrich V. zwischen 1616

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und auch der weitläufige Schwetzinger Barockgarten wurde erst unter der Regie von Kurfürst Karl Theodor (1724–1799, reg. 1742–1799) nach französischem Vorbild gestaltet.107 Es verwundert daher wenig, dass Elisabeth Charlotte in den zitierten Passagen deutliche Kritik an der Naturzurichtung in den barocken Gärten zu Zwecken der Herrschaftsrepräsentation übte.108 Die hier zu Tage tretende Objektivierung der Natur durch den Menschen109 löste in ihr Gefühle der Sehnsucht nach einer ungestalteten, authentischen Natur aus, die den Reaktionen des späteren 18. Jahrhunderts – innerhalb des Adels, besonders aber in bürgerlichen Kreisen – nicht unähnlich ist.110 Diese mit einer Aufwertung der Natur verbundene Gegenbewegung erlebte ihren Höhepunkt im ausgehenden 18. Jahrhundert.111 Marie Antoinettes von ihrer Rousseau-Lektüre112 inspiriertes ‚natursehnsüchtiges‘ Leben in ihrem ländlich stilisierten Refugium Petit Trianon mitsamt eines Parks im Stile des ‚wildwüchsigeren‘ englischen Landschaftsgartens113 kann als prominentes Beispiel hierfür gelten.114 Elisabeth Charlotte identifizierte ihre eigene Person mit einem ähnlich definierten Naturbegriff und nahm in ihrer Korrespondenz nicht selten für sich selbst in Anspruch, gantz naturlich zu sein. Dies äußerte sich neben ihren Ansichten über die Heilkraft der

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und 1619 angelegte sogenannte ‚Hortus Palatinus‘, verfiel nach dem Dreißigjährigen Krieg und wurde nurmehr als Gemüsegarten genutzt. Vgl. Claus REISINGER, Der Schlossgarten zu Schwetzingen, Worms 1987, S. 13. Zuvor existierte wohl lediglich ein kleiner Garten, der nach italienischen Vorbild mit Kübelpflanzen gestaltet war. Vgl. FORSTER, Illness, S. 320; Gunter GEBAUER, Auf der Suche nach der verlorenen Natur – Der Gedanke der Wiederherstellung der körperlichen Natur, in: Götz GROßKLAUS u. Ernst OLDEMEYER (Hg.), Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten), Karlsruhe 1983, S. 101–120, hier 101–102; Doris KOLESCH, Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt a.M. 2006, S. 108 u. 110; Sophie RUPPEL u. Aline STEINBRECHER, Einleitung, in: Dies. (Hg.), „Die Natur ist überall bey uns“. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009, S. 9–18, hier 9–10 u. 16; SCHLOBACH, Frankreich, S. 87. Vgl. Karen GLOY, Mechanistisches – organizistisches Naturkonzept, in: Dies. (Hg.), Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 242), Bonn 1996, S. 98–117, hier 99, die die Subjekt-Objekt-Spaltung im Verhältnis von Mensch und Natur als Prinzip der mechanistischen Kulturauffassung der Neuzeit beschreibt. S. auch Ruth GROH u. Dieter GROH, Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1996, S. 120; GORGÉ, Entstehung, S. 66–68. Vgl. RUPPEL u. STEINBRECHER, Einleitung, S. 9–10 u. 16. Vgl. KOLESCH, Theater, S. 108. Die Aufwertung der Natur durch einen ästhetischen Landschaftsbegriff hat physikotheologische Wurzeln. Vgl. dazu TABARASI, Landschaftsgarten, S. 13 u. speziell zu den Entwicklungen im dt. Raum, die eng mit dem organischen Naturbegriff von Leibniz verbunden waren, S. 260. Zu Rousseaus Naturbegriff vgl. Nicolas BONHÔTE, Qu’est-ce que la nature chez Rousseau? Peutelle être totalitaire?, in: Jürgen SÖRING u. Peter GASSER (Hg.), Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York u.a. 1999, S. 39–51; GEBAUER, Suche, S. 104–105. Vgl. TABARASI, Landschaftsgarten, S. 9–11 u. 27–28; GEBAUER, Suche, S. 101. Vgl. Antonia FRASER, Marie Antoinette. The Journey, London 2002, S. 56–157 u. 161; GEBAUER, Suche, S. 103.

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Natur und ihrer Auffassung über Landschaften genauso in einem Briefstil, der auf ‚gekünstelte‘ und aus ihrer Sicht damit tendenziell ‚unehrliche‘ Komplimente verzichtete.115 Die hier deutlich werdende Auffassung der Relation von Natur und Kultur unterscheidet sich grundlegend vom mechanistischen Verständnis, dem zufolge Natur mehr und mehr objektiviert und zu einem Feld erklärt wurde, auf dem der Mensch selbst produktive Kulturleistungen erbringen könne.116 Als Kronzeuge dieser Vorstellung einer Kontrolle und Beherrschung der Natur durch ihre wissenschaftliche Erforschung gilt neben Descartes (1596–1650) und Bacon (1561–1626) auch der englische Naturphilosoph Robert Boyle (1627–1691). Laut der amerikanischen Biophysikerin und Wissenschaftshistorikerin Evelyn Fox Keller sei mit diesem Naturverständnis die aristotelische Unterscheidung von Natur und Artefakt, also natürlichen und künstlich durch den Menschen hergestellten Dingen, in entscheidendem Maße relativiert, wenn nicht gar vollständig zurückgewiesen worden, womit auch die Vorstellung einer vom Menschen zu achtenden Würde und Integrität der Natur verworfen worden sei.117 Paradoxerweise wurde diese Naturauffassung von höchst verschiedenen Denktraditionen her gestützt: Sowohl die christliche Bibelauslegung, der zufolge der Mensch sich die ihm seit dem Sündenfall feindlich gegenüberstehende Natur untertan machen müsse, als auch das im Renaissance-Humanismus aufkommende anthropologische Modell des homo faber zeichneten das Bild einer Natur, die für die Bearbeitung und Gestaltung durch den Menschen vorgesehen sei.118 Unter Rückgriff auf antike atomistische Vorstellungen konn-

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An Luise, St. Cloud, 15.5.1697, HO, 1, 49, S. 84: Umb gottes willen, liebe Louisse, sagt mir doch nie, daß Ihr fürcht, mir mitt Ewern brieffen beschwehrlich zu fallen! Den daß seindt complimenten, die mir unleydtlich sein. Ihr wist ja woll, daß ich gantz naturlich bin. Paris, 27.4.1719, HO, 2, 1013, S. 99: Naturliche reden gefallen mir beßer, alß gezwungene; den ich bin gantz naturlich, undt ahn naturlich reden zu hören, kan ich von Eüch sagen: „Je recognois mon sang.“ S. auch An Luise, Versailles, 25.3.1696, HO, 1, 35, S. 59; An Amalie Elisabeth, Port Royal, 1.5.1699, HO, 1, 80, S. 137; An Karl Moritz, Versailles, 4.9.1702, HO, 1, 138, S. 237; An Luise, St. Cloud, 7.9.1719, HO, 4, 1050, S. 243, 9.7.1719, HO, 4, 1033, S. 169: Vgl. auch ALBERT, Madame, S. 72; CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 43; zum Briefstil ausführlich KAPP, Pathos, S. 191–193. Vgl. GLOY, Naturkonzept, S. 99–100; LABISCH, Homo Hygienicus, S. 71. Vgl. Evelyn Fox KELLER, Liebe, Macht und Erkenntnis: männliche oder weibliche Wissenschaft, München 1996; S. 40–50; KELLER, Geschlecht, S. 72–73. Vgl. SHAPIN, Revolution, S. 42–43, 116 u. 188; Hans LENK, Der Macher der Natur? Über operativistische Fehldeutungen von Naturbegriffen der Neuzeit, in: Götz Großklaus u. Ernst OLDEMEYER (Hg.), Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten), Karlsruhe 1983, S. 59–86, hier 61–62; SUTTER, Maschinen, S. 25–27; Wolfgang KROHN, Die Natur als Labyrinth, die Erkenntnis als Inquisition, das Handeln als Macht: Bacons Philosophie der Naturerkenntnis betrachtet in ihren Metaphern, in: Lothar SCHÄFER u. Elisabeth SCHRÖKER (Hg.), Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik, Bd. 2: Renaissance und frühe Neuzeit, Freiburg u. München 1994, S. 59–100, hier 59–60 u. 67–68. Vgl. Eckhard KEßLER, Naturverständnisse im 15. und 16. Jahrhundert, in: Lothar SCHÄFER u. Elisabeth STRÖKER (Hg.), Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik, Bd. 2: Renaissance und frühe Neuzeit, Freiburg u. München 1994, S. 13–57, hier 23–31 u. 28; GLOY, Naturkonzept, S. 99–100 u. 105, in Bezug auf 1. Mose, 28 u. 3, 17; GLOY, Verständnis, S. 165; MERCHANT, Tod, S. 19; SHAPIN, Revolution, S. 162; Wilhelm KÜHLMANN, Technischer Fortschritt und kulturelles Bewußtsein. Zur Diagnose von Modernität in der frühneuzeitlichen Literatur, in: Hanno MÖBIUS u. Jörg Jochen BERNS (Hg.), Die Mechanik in den Künsten. Studien zur

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te sich eine mechanistische Auffassung von der Natur somit in verschiedenen Wissenschaftszweigen etablieren.119 Bereits Johannes Kepler (1571–1630) assoziierte die Welt mit einem Uhrwerk120 und wurde damit zum Vordenker einer der einflussreichsten naturphilosophischen Metaphern des 17. Jahrhunderts.121 Seit Descartes galt selbst der vormals durch seine Leiblichkeit definierte menschliche Körper analog zur Natur als dem Räderwerk einer Uhr vergleichbare „Art von Maschine (…) aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut“,122 die Gott, wenn auch „unvergleichlich besser geordnet“, ganz so geschaffen habe, wie der „menschliche Kunstfleiß“ die verschiedenen „Automaten oder sich bewegende[n] Maschinen“ hergestellt habe.123 Zur Etablierung dieser den Körper objektivierenden mechanistisch-funktionalistischen Vorstellung trug die Entdeckung der ‚Milchgefäße‘ des Lymphkreislaufes durch den italienischen Arzt Gaspare Aselli (1622) genauso bei wie wenig später William Harveys Beschreibung des Blutkreislaufes (1628) als eines hydraulischen Zirkels, der vom Herzen wie von einer Pumpe angetrieben werde. Nun wird in der Medizinhistoriographie eine Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit zumeist zugunsten der Vorstellung langfristiger Kontinuitäten in der medizinischen Praxis zurückgewiesen. Durch zahlreiche Quellen kann belegt werden, dass ärztliche Therapiekonzepte über alle (angenommenen) gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse hinweg bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend stabil geblieben sind.124 Mit dieser Feststellung aber wird die Wirkmächtigkeit des aus der mechanischen

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ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, Marburg 1990, S. 31–43, hier 33– 34. Vgl. GLOY, Verständnis, S. 162–163 u. 170; ROSSI, Geburt, S. 195–196; ROGER, Conception, S. 278–279; BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 127–128; GRMEK, Révolution, S. 115–119; DEASON, Theology, S. 178–179; GREYERZ, Wissenschaft, S. 15; GORGÉ, Entstehung, S. 63. Vgl. GLOY, Verständnis, S. 166 u. Naturkonzept, S. 102; MAYR, Uhrwerk, S. 81; SHAPIN, Revolution, S. 45. Vgl. MAYR, Uhrwerk, S. 46–47, 74, 82 u. 92; GORGÉ, Entstehung, S. 54; SHAPIN, Revolution, S. 44– 46; SUTTER, Maschinen, S. 11–12. So bezeichnet René DESCARTES den menschlichen Körper in seinem erstmals 1641 erschienenen Hauptwerk Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Lateinisch-Deutsch (Philosophische Bibliothek 250a), hg. v. Lüder GÄBE, durchges. v. Hans Günter ZEKL. Mit neuem Reg. und Auswahlbibliogr. vers. v. George HEFFERNAN, Hamburg 1992, S. 151. René DESCARTES, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung. Ins Deutsche übertragen v. Kuno FISCHER, Stuttgart 1979, S. 52. S. ebenso S. 58, wonach der Mensch sich „zu Herrn und Eigentümern der Natur“ machen soll, sowie Über den Menschen (1632) und Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten französischen Ausgabe von 1664 übersetzt und mit einer historischen Einleitung und Anmerkungen versehen v. Karl E. ROTHSCHUH, Heidelberg 1969, S. 24–27 u. 44–45. Vgl. auch GLOY, Verständnis der Natur, S. 167 u. 171; GLOY, Naturkonzept, S. 102; SUTTER, Maschinen, S. 53–54; BERGDOLT, Leib, S. 227; Mary LINDEMANN, Medicine and Society in Early Modern Europe, 2. Aufl., Cambridge 2010, S. 106; Silvia DE RENZI, Old and new models of the body, in: Peter ELMER (Hg.), The Healing Arts. Health, Disease and Society in Europe 1500–1800, Manchester 2004, S. 166–195, hier 173–175; GRMEK, Révolution, S. 122–128; MAYR, Uhrwerk, S. 84–85; SHAPIN, Revolution, S. 45; KUTSCHMANN, Naturwissenschaftler, S. 15 u. 90–93. Vgl. STOLBERG, Heilkraft, S. 168; MEYER, Science, S. 106–107; Andrew WEAR, Medical practice in late seventeenth- and early eighteenth century England: continuity and union, in: Roger FRENCH u. Ders. (Hg.), The medical revolution of seventeenth century, Cambridge 1989, S. 294–320, hier 294–

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Naturforschung abgeleiteten Körperbildes,125 zumindest für die medikale Praxis von Laien aus den adeligen Oberschichten, in ihrer Bedeutung bisweilen zu stark relativiert. So konnte etwa die neuere französische Körpergeschichte herausarbeiten, in welch engem Zusammenhang das veränderte Körperverständnis mit einem konstatierten allgemeinen Bedeutungszuwachs der Körperentleerung während des 17. Jahrhunderts in Frankreich gesehen werden muss. Georges Vigarello beispielsweise präsentiert in seiner Studie ‚Le Sain et le Malsain. Santé et Mieux-Être depuis le Moyen-Âge‘ das 17. Jahrhundert als äußerst unsicher im Umgang mit dem Körper, der zunehmend dem cartesianischen Körperbild entsprechend als „hydraulische Maschine“ verstanden worden sei, was Vigarello veranlasst, von einer durchaus bedeutenden Transformation der medikalen Praxis in Frankreich zu sprechen.126 Mit der sowohl gegen die galenische Humoralpathologie als auch gegen die paracelsische Chemiatrie gerichteten Iatromechanik bzw. -physik127 wandelten sich auch die Begründungslogiken des ärztlichen Eingreifens sowie die Deutungen und Wahrnehmungen bestimmter Körpervorgänge in einem nicht unerheblichen Ausmaß. Die bereits mehrfach erwähnte Madame de Sévigné erkundigte sich beispielsweise im September 1689 nach dem Gesundheitszustand ihrer Tochter, indem sie fragte: Votre côté, toute votre belle et jolie machine est-elle en bon état?128 Einem solchen mechanischen Körper-Automaten wird man indes wohl kaum die eigenständige purgative Selbstheilungskraft zusprechen wollen, von der Elisabeth Charlotte und ihr familiäres Umfeld so überzeugt waren. Im Gegenteil sprach die mechanistische Auffassung der leiblichen Natur die Fähigkeit ab, selbst zielgerichtet zu agieren. Natur erscheint, wie der Schweizer Medizinhistoriker Urs Boschung mehr als treffend formuliert, nicht länger als „ein eigenständiges, d.h. aus eigener Überzeugung handelndes zentrales Prinzip, sondern [als] die gedankliche Zusammenfassung verschiedener physiologischer Funktionen – Funktionen, die vom Schöpfer durch Anordnung und Bau, also durch die Anatomie des Körpers festgelegt wurden“.129 Dazu bedurfte die als Analogie zu

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295 u. 319–320; WEAR, Knowledge, S. 359; ECKART, Medizin, S. 231 u. 235; aus der Perspektive der Körpergeschichte DUDEN, Geschichte, S. 203–204; BROCKMEYER, Selbstverständnisse, S. 389–390. Im Artikel ‚Méchanicien‘ in der Encyclopédie (1765) zeigt sich, dass der Mechanismus in einigen Kreisen im frz. Raum durchaus als einflussreiche Strömung in der Medizin wahrgenommen wurde. Vgl. Art. Méchanicien, in: Denis DIDEROT u. Jean le Rond D'ALEMBERT, Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, etc., 35 Bde., Paris 1751–1780, Bd. 10, S. 220– 222, hier 220: De ces considérations introduites dans la théorie de la Médécine, il s'ensuivit qu'elle parut avoir pris une face entierement nouvelle, un langage absolument différent de celui qui avoit été tenu jusqu'alors. Zu Diderots Haltung gegenüber dem Mechanismus s. auch MAYR, Uhrwerk, S. 100–101. Vgl. VIGARELLO, Sain, S. 92–95: „Si les indices d’une plus grande surveillance de la nourritture au XVIIe siècle sont réels, beaucoup plus importante est la transformation des pratiques d’évacuation, celles qui renouvellent saignées, transpiration, purgations (…). Le changement est marquant.“ Vgl. auch BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 128; BERGDOLT, Leib, S. 226–230, dem zufolge die cartesianische Konzeption „äußerst folgenreich“ für die „europäischen Gesundheitstheorien“ war und die Gesundheit seitdem zunehmend „gemessen“ worden sei. Vgl. GRMEK, Révolution, S. 131–132. Mme de Sévigné an Mme de Grignan, Aux Rochers, 7.9.1689, in: DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SEVIGNE, Bd. 3, 1145, S. 688. Vgl. GRMEK, Révolution, S. 136; weitere Belege bei Yves POULIQUEN, Madame de Sévigné et la médecine du Grand Siècle, Paris 2006, S. 23, 149–150, 155 u. 210. BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 129. Vgl. ROSSI, Geburt, S. 196.

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Fontänen und Pumpen der französischen Landschaftsgärten130 gedachte, mehr und mehr den mechanischen Entleerungen unterworfene ‚hydraulische Körper-Maschine‘ folglich des menschlichen Eingreifens.131 Freilich knüpfte man damit an das traditionelle therapeutische Repertoire der galenischen Medizin an132 – Aderlass und Purgationen durch Brech- und Abführmittel133 sowie weitere ausleitende Behandlungsverfahren wie etwa die Öffnung der Hautporen134 – schienen auf dieser Grundlage jedoch in besonderem Maße notwendig, um den objektivierten Körper gesund zu erhalten, zu kräftigen und auf die Erfordernisse des alltäglichen Lebens vorzubereiten.135 Der zunehmenden Bedeutung der Evakuation in Frankreich entsprechend war hier nun weitaus weniger wichtig, welche Stoffe man dem Körper zuführte: Nicht mehr vornehmlich die Diätetik, sondern hauptsächlich die regelmäßige Entleerung des Körpers, im Sinne der Wartung einer Maschine, wurde als universell gültiger Garant einer guten Gesundheit verstanden.136 Dabei machte es nicht länger den geringsten qualitativen Unterschied, ob die Körperentleerung selbsttätig ablief oder durch menschliche Eingriffe herbeigeführt wurde, von denen einige, wie das Setzen einer künstlichen Wundstelle, der Fontanelle, aus der möglichst viel Wundsekret und Eiter fließen sollte, aus heutiger Sicht besonders ‚unverständlich‘ erscheinen.137 Mit der zunehmenden Intensität der evakuierenden Therapien138 veränderte sich nicht nur Praxis und

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Vgl. DESCARTES, Über den Menschen, übers. v. ROTHSCHUH, S. 44; auch GRMEK, Révolution, S. 123; ROSSI, Geburt, S. 201; MAYR, Uhrwerk, S. 84. Vgl. VIGARELLO, Sain, S. 95; GLOY, Verständnis, S. 162; Wolfgang RÖD, Descartes, Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, 2. Aufl., München 1982, S. 132; MERCHANT, Tod, S. 169. So etwa Laurence W. B. BROCKLISS u. Colin JONES, The medical world of early modern France, Oxford 1977, S. 419–421: „Iatromechanical medicine, therefore, in France at least, was traditional academic medicine wrapped up in a new explanatory suit of clothes.“ Aufgrund der häufig auftretenden und für den Patienten meist qualvollen Nebenwirkungen ausleitender Therapiemaßnahmen spricht die Medizinhistoriographie von der „heroischen Medizin“. Vgl. JÜTTE, Medizin, S. 21 u. Zepter, S. 780. In Paris waren zu Beginn der 1680er Jahre Mittel beliebt, die die Hautporen öffnen und dadurch krankheitserregende Materie ausleiten sollten. Vgl. hierzu VIGARELLO, Sain, S. 103; BERGDOLT, Leib, S. 231. Vgl. VIGARELLO, Sain, S. 94–95. Vgl. ebd., S. 92. In Bezug auf den diätetischen Faktor der Bewegung s. auch Georges VIGARELLO, S’exercer, jour, in: Alain CORBIN, Jean-Jacques COURTINE u. ders. (Hg.), Histoire du Corps, Bd. 1: De la Renaissance aux Lumières, Paris 2005, S. 235–302, hier 282: „Autant le dire, la pratique privilégiée d’entretien du corps dans la France classique est moins l’exercise que la saignée, la logique évacuative conduite à son terme: écoulement immédiat, liquides visible, quantités quasi contrôlées.“ Vgl. DUDEN, Geschichte, S. 157. Vgl. VIGARELLO, Sain, S. 93. Die Intensivierung der Aderlasspraktiken am frz. Hof sei daran zu erkennen, dass zunehmend auch kleine Kinder wie der Enkel Madame de Sévignés 1675 im Alter von 3 Jahren zur Ader gelassen wurden. Vgl. auch L[?] G. DERUISSEAU, Krankheit und Heilkunst am Hofe Ludwigs XIV., in: Ciba-Zeitschrift 51,5 (1937), S. 1782–1806, hier 1795 u. die folgenden Aussagen v. E. Ch. An Sophie, St. Cloud, 27.9.1687, NLA-HStAH, II, 250r–250v, vgl. B, 1, 72, S. 86–87; An Luise, Marly, 10.5.1705, HO, 1, 246, S. 394, Paris, 31.1.1722, HO, 6, 1299, S. 319; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 155.

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leibliche Erfahrung der Kranken,139 sondern auch das (Selbst-)Verständnis des Arztes. Er agierte nicht länger in hippokratischer und selbst noch galenischer Tradition als Diener der Natur, sondern „als deren Herr, als Ingenieur, der das Pump- und Räderwerk des Körpers in seinem Gang überwacht und beherrscht, nachdem er es vorher durch Zerlegen analysiert und studiert hat.“140 In einem Brief an ihre Tante vom 30. Oktober 1696 äußerte Elisabeth Charlotte sich explizit zu den cartesianischen Vorstellungen, die sie offensichtlich insbesondere in Bezug auf die Frage umtrieb, was auf den Tod eines Tieres folge. Aufgrund ihrer im Gegensatz zum Menschen mangelnden Fähigkeit, mit Hilfe von Sprache zu denken und zu kommunizieren, hatte Descartes Tiere zu seelenlosen Automaten erklärt,141 was Elisabeth Charlotte nicht allein zum Nachdenken über das Schicksal ihrer geliebten Hunde anregte. Descartes-kritischen Stimmen im frühneuzeitlichen Diskurs nicht unähnlich,142 beschäftigten Elisabeth Charlotte darüber hinaus aber auch die Implikationen der MaschinenMetapher für den Menschen. Des Cartes opinion von das uhrwerck sei ihr sehr abgeschmackt vorgekommen, schrieb sie ihrer Tante. Einem von natur aus eifersüchtigen Bischof, der zudem überzeugter Cartesianer war, habe sie darum die Frage gestellt, ob er Maschine oder Mensch sei und ob er seine Eifersucht als Bewegung der Maschine oder Leidenschaft der Seele verstehe, berichtete sie Sophie weiter,143 die diese Anekdote an den in hannoverschen Diensten stehenden Leibniz144 weitergab.145 Die leibnizsche Auffassung, 139

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Vgl. SUTTER, Maschinen, S. 53, dem zufolge die cartesianische Physiologie zu einer „Veräußerlichung der Leiberfahrung“ geführt habe. BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 129. Vgl. auch GORGÉ, Entstehung, S. 68. Vgl. ROSSI, Geburt, S. 199–200; MAYR, Uhrwerk, S. 85–88. So etwa dem Jesuitenpater Gabriel Daniel, der 1703 erklärte, die Cartesianer müssten konsequenterweise auch den Menschen zur seelenlosen Maschine erklären. Vgl. ROSSI, Geburt, S. 202; TREPP, Glückseligkeit, S. 437; SHAPIN, Revolution, S. 185; SUTTER, Maschinen, S. 15, 41 u. 52. Vgl. An Sophie, Fontainebleau, 30.10.1696, NLA-HStAH, VI, 200v, vgl. B, 1, 257, S. 259–260: des Cartes opinion von daß uhrwerck ist mir sehr abgeschmackt vorkommen, Ich ambarassirte einmahl einen bischoff, so gantz von des Cartes opinion ist, selbiger bischoff ist von natur jalous, ich sagte zu ihm: quand vous estes jalous, estes vous machine ou homme, car apres vous je ne conois rien de plus jalous que mes chien, ainsi je voudrois savoir, si c’est un mouvement de la machine, ou une passion de l’ame. Leibniz war 1676 von Herzog Johann Friedrich v. Braunschweig-Lüneburg zum Hofbibliothekar ernannt worden und stand seitdem in Diensten des Hauses Hannover. Vgl. etwa George MACDONALD ROSS, Leibniz und Sophie Charlotte, in: Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.), Sophie Charlotte und ihr Schloss. Ein Musenhof des Barock in Brandenburg-Preußen. Katalogbuch zur Ausstellung im Schloss Charlottenburg, Berlin 6.11.1999– 30.1.2000, München, London, New York 1999, S. 95–105, hier 95; Richard VAN DÜLMEN, Gespräche, Korrespondenzen, Sozietäten. Leibniz‘ dialogische Philosophie, in: Ders. u. Sina RAUSCHENBACH (Hg.), Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 123–140, hier 125–126. S. auch einen Brief von Kurfürstin Sophie an Leibniz, Linsburg (?), Anfang November 1696, in dem sie diesen Auszug wiedergab. Vgl. Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, Sämtliche Schriften und Briefe, Erste Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, unter Aufsicht der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, hg. v. Leibniz-Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, bearb. v. Gerda UTERMÖHLEN u. Sabine SELLSCHOPP, Bd. 13, Berlin 1987, 56, S. 80–81; ausführlich Karin HARTBECKE, „Heliosophopolis“. Leibniz‘ Briefgespräche mit Frauen, in: Lesesaal 25 (2007), S. 4–31, hier 10–14.

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dass alles in der gantzen Natur voll Kraft und Seelen sey146 , wie er wenige Wochen zuvor in einem Brief über Sophie an Elisabeth Charlotte formuliert hatte, galt den Damen dabei offensichtlich als gelehrte Bestätigung ihrer eigenen Erfahrungen und Einsichten.147 Dass somit auch die thier nicht gantz absterben, tröst mich sehr vor meine liebe hündtges,148 schrieb Elisabeth Charlotte und bekräftigte auch 1702, wie viel lieber sie sich in diesem Punkt ahn herr leibnitz halte und glaube, dass die thier verstandt haben, keine machine sein, wie es descarte hatt behaubten wollen, undt Ihre seelen unsterblich sein .149 Gegenüber den Damen hatte Leibniz vergleichsweise unverblümt kritisiert, die Ansicht der Cartesianer beruhe weder auf Vernunft oder Erfahrung, sondern lediglich auf der Eitelkeit, den Menschen über die Natur stellen zu wollen. Wie er anmerkte, stimme er, was die Annahme einer vitalen und beseelten Natur angehe, vielmehr mit dem gemeinsamen Bekannten Franciscus Mercurius Van Helmont überein – auch wenn dieser ihm bisher eine schlüssige Erklärung schuldig geblieben sei.150 In einem darauffolgenden Brief von Anfang November 1696 wird Leibniz sogar noch deutlicher und bezeichnet den im Frankreich Ludwigs XIV. immens populären Cartesianismus als secte Machinale.151 Er hoffe, dass man sich in Frankreich bald von der kleingeistigen Vorstellung lösen würde, die sich die Cartesianer von einer eingeschränkten Freiheit der Natur (ces petits notions qu’on a d’une liberalité bornée de la nature) machen würden, so Leibniz weiter.152 Als er in späteren Jahren direkt mit Elisabeth Charlotte korrespondierte,153 bekräftigte er seine Kritik, 146

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Leibniz an Sophie und E. Ch., Hannover, erste Hälfte Oktober (?) 1696, in: Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe, Erste Reihe, Bd. 13, 41, S. 46–51, hier 48; HARTBECKE, Heliosophopolis, S. 10 u. 12. Vgl. auch LEIBNIZ, Principes de la Nature, S. 413–414. Zur Gattung des Gelehrtenbriefes, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse popularisiert und somit auch personalisiert wurden vgl. HARTBECKE, „Heliosophopolis“, S. 5–6, 9 u. 17. An Sophie, Fontainebleau, 30.10.1696, NLA-HStAH, VI, 200v, vgl. B, 1, 257, S. 259. An Sophie, Versailles, 20.4.1702, ebd., XII,1, 231a–r-v, vgl. B, S, 499, S. 42. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 410–411 u. 467; HARTBECKE, Heliosophopolis, S. 11–12. Leibniz an Sophie und E. Ch., Hannover, erste Hälfte Oktober (?) 1696, in: Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe, Erste Reihe, Bd. 13, S. 48. Vgl. zu Van Helmonts Auffassungen MERCHANT, Vitalism, S. 174; COUDERT, Impact, S. 158. Vgl. zu Leibniz‘ Haltung gegenüber dem Cartesianismus etwa WEIMANN, Leibniz, S. 164–165; DUMAS, Leibniz, S. 152; kritisch SUTTER, Maschinen, S. 81–103; MAYR, Uhrwerk, S. 92, der betont, dass Leibniz selbst die Maschinen- bzw. Uhrwerk-Metapher sehr häufig in seinen Schriften verwendete und sich erst im fortgeschrittenen Alter deutlich von den Mechanisten distanzierte. Vgl. zur Popularität des Cartesianismus L[aurence] W. B. BROCKLISS, The Scientific Revolution in France, in: Roy PORTER u. Mikuláš TEICH (Hg.), The Scientific Revolution in National Context, Cambridge 1992, hier 68–71. Leibniz an Sophie und E. Ch., Hannover, 28. Oktober (7. November) – 4. (14.) November 1696, in: Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe, Erste Reihe, Bd. 13, 59, S. 83–93, hier 91: J’espere qu’on reviendra peu à peu en France de la secte Machinale, et de ces petits notions qu’on a d’une liberalité bornée de la nature, comme si elle n’avoit accordé qu’à nous le privilege d’avoir ames. Ceux qui ont inventé cela, ont eu bien de l’envie de se fla[t]ter ou de fla[t]ter les autres. Leibniz richtete 1715/16 sechs Briefe an E. Ch., die er ersuchte, ihren Sohn, den Regenten, von der Notwendigkeit zur Förderung der Wissenschaften zu überzeugen. Vgl. Leibniz an E. Ch., o.O., 13.9.1715, GWLB/NLB, LBr. II. 25, 1r–2v, vgl. BODEMANN (Hg.) Leibniz, 1, S. 17–20. E. Ch. schrieb zwischen 1715 und 1716 fünf Antwortbriefe an Leibniz. S. auch HELFER, Gesamtinventar, S. 1171.

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indem er cartesianischen Naturforschern mangelnde empirische Fundierung unterstellte: Er ziehe eines Leeuwenhoeks, Rahtsbedienten zu Delft, fleißige mit dem Mikroskop gemachte untersuchungen den wohl geschmückten gedancken der geistreichen Cartesianischen doctorn und Äbte vor154 , so Leibniz an die Herzogin, die schon viele Jahre zuvor Interesse am Mikroskopieren155 und an Antoni van Leeuwenhoeks (1632–1723) Forschungen156 gezeigt hatte. Wie groß Elisabeth Charlottes Skepsis gegenüber den cartesianischen Gedankengebäuden auch aufgrund dieser direkten Gelehrtenkritik tatsächlich geworden war, lässt sich anhand eines Briefes an Christian Friedrich von Harling vom Oktober 1720 ermessen. Demnach kenne sie jemanden, der aus verlässlicher Quelle wissen wolle, dass Descartes selber über sein sisteme gelacht habe und es ein Test sei, wer „dumm genug“ wäre, „sich hereinlegen zu lassen“.157 Wie herausgearbeitet werden konnte, liegt den Vorstellungen der kurpfälzischen Familie ein gegen die mechanische Auffassung von der Natur158 gerichteter organischer Naturbegriff zu Grunde, wie er etwa von Paracelsus, Johann Baptist und Franciscus Mercurius Van Helmont oder Gottfried Wilhelm Leibniz vertreten worden war. Gleichzeitig erinnern diese Vorstellungen aus heutiger Perspektive in der praktischen Konsequenz aber auch immer wieder an bestimmte diskursive Strategien des späten 18. Jahrhunderts, die sich gegen die artifizielle und die menschliche Machbarkeit verabsolutierende Kultur der Barockzeit159 wandten. Diese nur scheinbaren Ambivalenzen zeigen somit nachdrücklich, dass sich sowohl die gelebte Praxis als auch das ideen- bzw. wissensgeschichtliche Repertoire an Deutungsmustern in der Frühen Neuzeit einer modernisierungstheoretischen Betrachtung als Fortschrittsdiskurs160 entzieht.

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Vgl. Leibniz an E. Ch. [ohne Datum], GWLB/NLB, LBr.II,25, 8v, vgl. BODEMANN (Hg.) Leibniz, S. 24. Zu Descartes‘ Haltung zur experimentellen Methode, vgl. SHAPIN, Revolution, S. 120 u. 129. Vgl. An Sophie, Versailles, 2.5.1697, NLA-HStAH, VII,1, 220r, vgl. B, 1, 288, S. 287, Port Royal, 19.5.1697, ebd., VII,1, 252r, vgl. B, 1, 290, S. 289. E. Ch. besaß ihrem Inventar entsprechend auch selbst drei Mikroskope und auch ihr Sohn interessierte sich für das Mikroskopieren. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 527–530; VOSS, Fürstin, S. 53–54; An Sophie, Marly, 16.6.1709, NLAHStAH, XIX,1, 448v–449r, vgl. B, 2, 698, S. 217 [sic! Datum]. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 25.6.1699 u. 5.7.1699, NLA-HStAH, IX,2, 60v u. 381r, vgl. B, 1, 382, S. 369 u. 384, S. 372; auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 528 u. 207. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 1.8.1720, H, 373, S. 646, dt. Übers. Anm. 3. Sowohl Johann Baptist Van Helmont als auch dessen Sohn lehnten die mechanistische Vorstellung von der Natur ab. Vgl. COUDERT, Impact, S. 158. Daran hatte auch die enge Verbindung, die Karl Ludwigs und Sophies Schwester Elisabeth zu Descartes pflegte, mit dem sie lange Jahre regelmäßig korrespondierte, offenbar kaum etwas geändert. Vgl. auch BERGDOLT, Leib, S. 230. Vgl. zu diesen Implikationen von Modernisierungstheorien etwa Thomas MERGEL, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: Ders. u. Thomas WELSKOPP (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997, S. 203– 232, hier 206 u. 214.

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2. ma propre experience:161 Körperwissen aus Erfahrung Erzählungen von den unterschiedlichen Naturverständnissen und deren Handlungskonsequenzen durchziehen Elisabeth Charlottes Korrespondenz von den ersten Briefen nach der Verheiratung 1671 bis zu den letzten Briefen vor ihrem Tod 1722. Sie fungieren als Medien der Selbstpositionierung im diskursiven Gefüge und in konkreten sozialen Beziehungen. Eine geradezu paradigmatische Bedeutung kam dabei Ausschlagkrankheiten zu, die zu den gefährlichsten und meistgefürchteten Krankheiten der Frühen Neuzeit gehörten.162 Die Krankheitserfahrung war dabei in hohem Maße kollektiv geteilt163 – denn die Blattern, so die Alltagsbezeichnung der Pocken,164 rafften Kinder und Gesunde ebenso dahin wie alte Menschen und betrafen die adlige Oberschicht ebenso wie das einfache Volk.165 Als sich bei Elisabeth Charlotte Anfang Juli 1693 im relativ hohen Alter von 41 Jahren ein von heftigem Fieber begleiteter Hautausschlag gezeigt hatte, glaubte man daher auch Madame dem Tode geweiht.166 Angesichts dieser bedrohlichen Situation berichteten auch 161 162

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An C. v. Wales, o.O., 14.5.1720, A, 37, S. 270. Vgl. Donald R. HOPKINS, The Greatest Killer. Smallpox in History, Chicago, London 2002, S. 32; Gareth WILLIAMS, Angel of Death. The Story of Smallpox, London 2010, S. 28 u. 31; LINDEMANN, Medicine, S. 73; PILLER, Körper, S. 52, bes. Anm. 130. Vgl. auch An Luise, Versailles, 20.3.1710, HO, 2, 467, S. 168: Mein vetter, der junge printz von Hessen Cassel, hatt woll groß recht, dieße heßliche kranckheit [zu] scheüen, sie ist arger alß die pest; den in der pest stirbt man geschwindt oder ist geschwindt courirt, aber die heßliche kinderblattern seindt lang daß sie schmertzen undt man ist lang daß leben nicht sicher. Vgl. LINDEMANN, Medicine, S. 73, die schreibt, die Blattern seien in der Frühen Neuzeit „almost a biological rite of passage“ gewesen. Claudine HERZLICH u. Janine PIERRET, Illness and Self in Society, Baltimore 1989, S. 15–19, denen zufolge Infektionskrankheiten in der Frühen Neuzeit als typische Figuration von Krankheit angesehen wurden, die individuelle Erfahrungen und kollektive Diskurse geprägt habe. HERZLICH u. PIERRET, Construction, S. 146; JÜTTE, Construction, S. 24; Robert JÜTTE, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München, Zürich 1991, S. 41–42; Eberhard WOLFF, Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts (Medizin, Geschichte und Gesellschaft 10), Stuttgart 1998, S. 257–261. Mit dem Begriff Blattern wurden die Pocken sowie die Windpocken, die sogenannten Kinderpocken, bezeichnet. Häufig verwechselte man die Pocken auch mit den Masern und Röteln. Vgl. Art. Blattern, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 4, Sp. 95–101; Art. Masern, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 4, Sp. 1927–1928, bes. 1928. Gleichwohl wurden Pocken und Masern im medizinischen Diskurs strikt voneinander getrennt. Vgl. dazu LINDEMANN, Medicine, S. 72; Claudine HERZLICH u. Janine PIERRET, Kranke gestern, Kranke heute. Die Gesellschaft und das Leiden, München 1991, S. 31; WILLIAMS, Angel, S. 1–2. Vgl. LINDEMANN, Medicine, S. 73; HOPKINS, Killer, S. 33; WILLIAMS, Angel, S. 40–41, die die Beobachtung des englischen Arztes Th. Sydenham (1624–1689) wiedergeben, dem zufolge die Sterberaten in der adeligen Oberschicht aufgrund der häufig kontraproduktiven Krankheitsbehandlung sogar noch höher gewesen seien als in den unteren Schichten. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 4, 5.7.1693, S. 317, 7.7.1693, S. 318; COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 4, S. 221, Anm. 5, der berichtet, dass E. Ch. sich bei einer ihrer Kammerfrauen angesteckt habe, deren drei Kinder unter den Blattern gelitten hatten. Wegen ihrer Unachtsamkeit sei die Bedienstete vom Hof gejagt worden. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 393; LEBIGRE, Liselotte, S. 153–164. S. retrospektiv An Luise, Versailles, 25.1.1715, HO, 2, 682, S. 510: den es [die Blattern] ist eine gar gefährliche kranckheit. Den 17ten tag were ich schir dran gestorben. An

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der Marquis de Dangeau sowie der Marquis de Sourches in ihren berühmten Hofchroniken ausführlich von Elisabeth Charlottes Zustand und den Behandlungsversuchen. In den Einträgen der Journale begegnet uns jedoch keine den ärztlichen Therapien wehrlos ausgesetzte Patientin, sondern eine eigenständig über ihre Behandlung entscheidende Elisabeth Charlotte. Von Beginn an habe sie sich dem Aderlass – einmal mehr Therapie der Wahl – widersetzt, stattdessen ein Schwitzpulver angewendet und den Heilungsprozess über einen Zeitraum von etwa zwei Wochen hinweg geduldig abgewartet und kontinuierlich mit verschiedenen diätetischen Maßnahmen unterstützt: Sie ließ ihre Kammer lüften, wechselte viermal täglich die Wäsche und versuchte, sich mit ihrer aus Phasen der Gesundheit gewohnten Ernährung und nährenden Lebensmitteln, wie etwa dem Alicante-Wein, zu stärken.167 Nach dem Abklingen der Beschwerden erholte sie sich, um einen Rückfall zu vermeiden, in der von ihr für besonders dienlich erachteten Luft von Colombes.168 Auch wenn die Behandlung, so zeigen spätere Briefe Elisabeth Charlottes, wohl nicht ganz so widerspruchslos von den Ärzten hingenommen wurde und sie auf ärztliche Anordnung beispielsweise das Brechmittel Alkermes einnahm169 – die Chroniken sind bemüht, das Bild einer ihre Therapie vollständig selbst verantwortenden Elisabeth Charlotte zu zeichnen. Auch aus Sicht der Chronisten hatte Elisabeth Charlotte in dieser äußerst gefährlichen Situation offenbar ein bemerkenswertes Maß an Vertrauen in ihre gewohnten Praktiken an den Tag gelegt.

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A. K. v. Harling, Colombes, 23.8.1693, H, 99, S. 212: Man kan – ohne sterben – nicht kräncker sein alß ich ahn dießer abscheülichen kranckheit geweßen. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 4, 9.7.1693, S. 319; COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 4, 5.5.1693, S. 217, 7.7.1693, S. 219: cette princesse (...) se traitoit seulement avec des poudres sudorifiques et mangeoit presque de la même manière que si elle n’avoit point malade. 10.7.1693, S. 220, 11.7.1693, S. 221, 16– 17.7.1693, S. 223. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 394–395; LEBIGRE, Liselotte, S. 153– 164; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 151; zur Anwendung von Aderlässen bei Pockenerkrankungen WILLIAMS, Angel, S. 36. Vgl. auch An Sophie, Marly, 24.4.1712, NLAHStAH, XXII, 278v: hir laßen sie alle menschen in kinderblattern undt rödtlen zur ader wollten mir auch damahls laßen aber ich habe es nicht gelitten. Vgl. etwa auch An Luise, Marly 19.5. u. 22.5.1707, HO, 2, 361, S. 22 u. 362, S. 24: Ein wenig vin dalicant ist gutt, daß starckt den magen und nehret; in den kinderblattern hatt dießer wein mir daß leben erhalten. Vgl. An A. K. v. Harling, Paris, 12.12.1693 u. Versailles, 16.12.1693, H, 101, S. 214 u. 103, S. 217; zur Beliebtheit am frz. Hof An Sophie, Paris, 5.11.1693, NLA-HStAH, IV, 102v. Alicante-Wein wurde in der Nähe von Valencia angebaut und galt als Heilmittel zur Stärkung des Magens. Vgl. Art. Alicanten-Wein, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 1, Sp. 1209. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 4, 15.7.1693, S. 322, 21.7.1693, S. 325, 31.7.1693, S. 330; COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 4, 27.7.1693, S. 232–233, 30.7.1693, S. 233. Vgl. auch die ersten überlieferten Briefe an ihre Tante nach der Krankheit An Sophie, Colombes, 8.8.1693 u. Colombes, 20.8.1693, NLA-HStAH, IV, 78v u. 83v: Ich muß woll in die lufft gehen sonsten würde ich wider kranck werden, undt die gesundtheit geht vor die haut, aber ich gehe nicht spatziren alß wen die Son untergeht. Vgl. zu den Einflüssen von ländlicher Luft auf die Rekonvaleszenz etwa auch An Görtz, St. Cloud, 16.8.1721 u. 28.7.1720, K, 30, S. 92 u. 20, S. 82. Zum Heilmittel Art. Alkermes, Kermes, Quermes, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 1, Sp. 1231–32; An Luise, Paris, 20.2.1721, HO, 6, 1203, S. 21: Alcarmes [Alkermès, kermes-beer-saft, latwerge von kermes-beeren, W.L.H.] kann ich gar nicht leyden; man gab mirs ein, wie ich die kinderblattern hatte; es macht so erschrecklich kotzen, daß ich meinte daß ich bärsten müste.

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Die Therapie zielte ganz darauf ab, die Selbstheilungskräfte des ‚inwendigen Arztes‘ (Archeus), also der körperlichen Natur, durch diätetische Praktiken und durch Einnahme des schweißtreibenden Mittels auf milde Weise zu unterstützen.170 Die seit der Antike bekannte Überzeugung, Erkrankungen, die mit hohem Fieber einhergingen, seien am besten mittels einer Schwitzkur zu behandeln, war von dem bereits erwähnten Johann Baptist Van Helmont in seinem Traktat ‚Febris doctrina inaudita‘ aufgegriffen worden.171 In seiner Fieberlehre interpretiert Van Helmont die charakteristische Hitze als Mittel des Archeus, das Fieber zu bezwingen und aus dem Körper zu verbannen.172 Das Schwitzen galt ihm als Anzeichen für die Kampfbereitschaft des Archeus sowie als körperlicher Effekt, der das Fieber eliminierte. Somit war Van Helmont zufolge bei Fieber und entzündlichen Krankheiten einzig die Gabe schweißtreibender Mittel indiziert.173 Die helmontische Fieberlehre war in radikaler Weise gegen die traditionelle galenische Medizin gerichtet. Insbesondere der Aderlass, der Inbegriff galenischer Fiebertherapie,174 erschien Van Helmont als indiskutabel. Weder der angenommene kühlende Effekt der Venaesektion noch die Hoffnung, die Fiebermaterie ließe sich auf diesem Wege austreiben, konnten ihn von deren Notwendigkeit überzeugen. Van Helmont betonte dagegen die vollständige Auszehrung der Lebensgeister infolge des großen Blutverlustes.175 Ebenso lehnte er den Einsatz von auf dem gleichen Wirkprinzip beruhenden Brech- und Abführmitteln ab.176 Mit einiger Sicherheit stehen gerade diese konzeptuellen medikalen Wissenskonzepte in enger Verbindung mit den von Elisabeth Charlotte vielfach thematisierten leiblichen Empfindungen der Schwäche nach Aderlässen.177 170 171

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S. ausführlich 2.III. Die Fieberlehre Van Helmonts wurde zusammen mit den Schriften des medizinischen Hauptwerkes ‚Ortus Medicinae‘ 1648 posthum von seinem Sohn Franciscus Mercurius herausgegeben. Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 7 u. 156; NEUBURGER, Heilkraft, S. 36–39. Vgl. mit jeweils ausführlichen Nachweisen PAGEL, Van Helmont, S. 155. Diesen Aspekt der helmontischen Fieberlehre teilte E. Ch. wohl nicht, wenn sie schrieb An Luise, Marly, 21.7.1707, HO, 2, 371, S. 33: das bludt wirdt heßlich vom fieber. S. auch 7.7.1712, HO, 2, 555, S. 283–284. Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 156: „The anger of the archeus is expressed in the sweating which also constitutes the expelling effect of the archeus. Hence, sudorifique treatment (diaphroretica) is the only appropriate and specific therapy in fevers.” E. Ch.s Briefe dokumentieren zahlreiche Anwendungen von Aderlässen bei Fiebererkrankungen am frz. Hof. S. z.B. aus den Jahren 1702 und 1703 folgende Nachweisstellen: Anna Eleonore von Rathsamshausen an Luise, Versailles, 26.5.1702, HO, 1, 169, S. 289; An Luise, Marly, 11.8.1701, HO, 1, 136, S. 233–234, Versailles, 5.3.1702, HO, 1, 172, S. 29; An Amalie Elisabeth, Marly, 19.8.1706, HO, 1, 324, S. 472; Versailles, 17.6.1702, HO, 1, 171, S. 291, Marly, 12.7.1702, HO, 1, 175, S. 296. Vgl. zur Anwendung von Aderlässen bei der Pockenerkrankung Ludwigs XIV. (1647) BROCKLISS u. JONES, medical world, S. 306. Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 157–158; NEUBURGER, Heilkraft, S. 39. Van Helmont zufolge war lediglich bei Blutfülle (Plethora) der Aderlass indiziert. Diese Auffassung teilten auch die englischen Helmontianer, vgl. WEAR, Knowledge, S. 382. Sie warnten vor der Anwendung des Aderlasses nicht nur bei Fieber, sondern insbesondere bei den Pocken. Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 158; NEUBURGER, Heilkraft, S. 39. Vgl. etwa An Sophie, Versailles, 17.11.1701, NLA-HStAH, XI, 2, 382r: hette ich zur ader gelaßen hette es mir alle krafften benohmen, undt were in langer Zeit nicht wider zu recht kommen, den es ist etwaß wunderliches wie schädtlich mir daß aderlaßen ist. Amalie Elisabeth, Versailles, 17.6.1702, HO, 1, 171, S. 291, Marly, 12.7.1702, HO, 1, 175, S. 296; An Luise, Versailles, 17.6.1702, HO, 1, 172, S. 292, 7.9.1703, HO, 1,

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Auch in Bezug auf ein weiteres zentrales Element in ihrer selbstverordneten Therapie hielt Elisabeth Charlotte sich an Van Helmont. Während die Fieberkranken am französischen Hof eine strenge Diät halten sollten und allenfalls eine leichte Fleischbrühe oder Bouillon zu sich nehmen sollten, um den Körper vom natürlichen Verdauungsprozess zu entlasten,178 riet Van Helmont dazu, die Heilkraft der Natur bzw. den Archeus durch die gewohnte bzw. durch eine stärkende Kost zu unterstützen.179 Auch das Lüften und Wechseln der Wäsche, das ein Wissen um den infektiösen Charakter der Krankheit offenbart, war von Van Helmont oder auch von dem englischen Arzt Thomas Sydenham (1624–1689) empfohlen worden.180 Die angewandte Therapie entsprach dabei weitgehend den medikalen Maximen von Elisabeth Charlottes Vater Karl Ludwig. Schon 1660 hatte der Kurfürst anlässlich des Todes seines unehelichen Sohnes Ludwig in Paris bekundet, die richtige Krankenbehandlung hätte allein in einer diätetischen Stärkung des Magens und dem Ausleiten der Krankheitsmaterie durch eine Schwitzkur bestehen müssen.181 Diese medikalen Vorstellungen und die entsprechenden Handlungsanweisungen werden ebenso deutlich, wenn Karl Ludwig seine erkrankte Gattin Luise in einem Brief vom November 1664 erinnert: Mein schatz laß woll zusehen, wehr alß zur suppen kompt, und brauch my lady Kents pulver!182 Auch

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196, S. 328, Marly, 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392–393, 10.5.1713, HO, 2, 576, S. 306–307, 10.6.1714, HO, 2, 651, S. 398; St. Cloud, 6.5.1722, HO, 6, 1325, S. 386. Auch bei E. Ch.s erster Erkrankung am frz. Hof hatte man ihr diese Schonkost verordnet. S. 2.II. Vgl. auch An Luise, Paris, 29.1.1722, HO, 6, 1298, S. 316: Ich habe Eüch heütte, gott lob, gutte zeittung zu berichten; es ist, gott seye ewig danck, heütte der 4 tag, daß mein enckel [der Duc du Chartre] kein fieber mehr hatt undt hungert; ist abscheülich, man hatt ihm heütte ein klein sübgen geben, hatt mich recht gejamert. Der arme bub war so hertzlich fro, die sub zu sehen, die ich woll ohne kotzen nicht hette eßen können, den es war nur brodt in helle fleischbrühe; daß ist ein erbarmlich gefräß, aber er findt es trefflich gutt. Vgl. WEAR, Knowledge, S. 402–405. Ähnliche Änsatze finden sich auch bei Leibniz, vgl. DUMAS, Leibniz und die Medizin, S. 149. S. auch den folgenden Bericht Sophies über die medikale Strategie ihres Arztes Otto Tachenius. Vgl. Sophie an Karl Ludwig, Osnabrück, 30.6.1678, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 334, S. 330; dt. Übers: Heinz-Herbert TAKE, Otto Tachenius (1610–1680). Ein Wegbereiter der Chemie zwischen Herford und Venedig, Bielefeld 2002, S. 112: „Dr. Tac rettete das Leben eines Pagen, der sich in Agonie befand, durch ein großes Glas Spanischen Wein, welches seine Lebensgeister zurückkommen ließ.“ Vgl. WILLIAMS, Angel, S. 7–9 u. 35; LINDEMANN, Medicine, S. 73–74; HOPKINS, Killer, S. 32–33, 36 u. 40. Nachhaltig zeigt dies auch die weitverbreitete Praxis, Personen, die noch nie die Blattern hatten, aus dem Umfeld der Kranken zu entfernen. Vgl. HOPKINS, Killer, S. 38, am Beispiel der englischen Königin Maria II. Bei E. Ch.s Erkrankung war man ebenso vorgegangen. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 4, 7.7.1693, S. 318. Vgl. dazu die Beschreibung des Todes von Karl Ludwigs illegitimem Sohn Ludwig in: Karl Ludwig an Elisabeth, Heidelberg, 29.9.1660, in: BROMLEY (Hg.), Collection, XCII, S. 212: I cannot complain of the care used, but only of the method, which by all appearance brought him [Ludwig v. Selz] to his grave: the disease and his constitution being quite mistaken, they used the shortest way to make him have no more need of their physic; and instead of strengthening his stomach, spoiled by eating too much fruit, and expelling the malignity by the sweat, they drew out his spirits by letting of him blood, and weakened him by it, and so many cooling things. Entsprechend der helmontischen Fiebertherapie lehnte Karl Ludwig offensichtlich den Aderlass und seinen angenommenen kühlenden Effekt ab. Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 157. Vgl. Karl Ludwig an Luise v. Degenfeld, Heidelberg, 3.11.1664, in: HOLLAND (Hg.), SK, 166, S. 149.

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bei einer Fiebererkrankung des gemeinsamen Sohnes Karl Eduard (1668–1690) schrieb Karl Ludwig besorgt wie mahnend an Luise: Mein hertzlieber schatz muß sehen, daß Sie ihm daß englisch pulver einschwetzt oder doch zum wenigsten in sein supp oder trinken hinein thut.183

Das besagte englische Mylady-Kent-Schwitzpulver hatte auch Elisabeth Charlotte sowohl gegen eine Ausschlagkrankheit (rottlen) in Heidelberg eingenommen als auch gegendie Pocken im Sommer 1693.184 Vor dem Hintergrund dieser familiären Behandlungsstrategie ist wenig verwunderlich, dass diese am französischen Hof offenbar als regime à l‘allemande wahrgenommen wurde, obwohl das verwendete Heilmittel englischen Ursprungs war.185 Tatsächlich trocknete der Ausschlag mit der von Elisabeth Charlotte eingeleiteten Selbstbehandlung binnen einer Woche ab und sie erholte sich – wie sie betonte, im Unterschied zu anderen Blatternkranken am Hof186 – vollständig von der gefährlichen Krankheit.187 Dieser Verlauf belegte aus ihrer Sicht die Richtigkeit ihrer medikalen Auffassung und die tatsächliche Wirkmächtigkeit der Heilkraft der Natur. Die mit der Eigenbehandlung so mustergültig überstandene Krankheit fungierte fortan nicht nur als Zeichen der Zähigkeit des eigenen Körpers und als Vorbote zu erwartender guter Gesundheit, sondern auch als praktische Orientierungshilfe für künftiges Gesundheitshandeln bei allen fieberhaften Erkrankungen.188 Dem sogenannten Mylady-Kent-Pulver kommt in Elisabeth Charlottes brieflichen Erinnerungen und Empfehlungen daher eine besondere Bedeutung zu. Ihre neßelsucht etwa, so berichtete sie im April 1705, habe sie allein mit einer gutte[n] prisse von meledieKendt-pulver um braff zu schwitzen behandelt und sei am nächsten Tag wieder frisch undt gesundt gewesen.189 Folgerichtig empfahl sie das Pulver, das ihr selbst schon so gute Diens-

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S. auch die folgende Passage, in der vermutlich auch das Mylady-Kent-Pulver gemeint ist. Karl Ludwig an Luise v. Degenfeld, Friedrichsburg, 17.7. o.J, in: HOLLAND (Hg.), SK, Nachtrag 74, S. 419–420: ob daß pulver schon nicht alzeit schwitzen macht, so treibt es doch vom hertzen. An Luise, 19.5.1707, HO, 2, 361, S. 22: Ich habe die heßliche rottlen zweymahl gehabt, einmahl zu Heydelberg undt einmahl zu Paris. Hettet ihr meledy-Kendt-pulver gebraucht undt damitt geschwitzt, were daß fieber nicht nach den rödtlen kommen. COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 4, 16./17.7.1693, S. 223. Vgl. An Sophie, Colombes, 23.8.1693, NLA-HStAH, IV, 86r–86v: die arme Duchesse de protsmuth hatt die kinderblattern auch seÿder vorgestern, es ist woll schadt vor ihr haut, ich förchte auch daß sie gar mitt dem leben einbüßen wirdt, den die doktoren haben sie schon seÿder die 3 tagen 3 mahl zur ader gelaßen, haben made nesle schon so umbs leben bracht, die dießer Duchesse gar gutte freündin war. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, 11.7.1693, S. 320; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 394–395; LEBIGRE, Liselotte, S. 153–164 ; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 151. Vgl. etwa An Luise, St. Cloud, 4.5.1719, HO, 4, 1015, S. 107: Kan es [ihre Patentochter] von den blattern [davon kommen], wirdt sie gesundt werden; den daß wirdt alle böße humoren vertreiben undt andere kranckheitten verhütten. PILLER, Körper, S. 52; WILLIAMS, Angel, S. 31; LINDEMANN, Medicine, S. 72; JÜTTE, Construction, S. 29. Fieber galt als wichtigster Indikator für Krankheit im Allgemeinen. Vgl. Robert JÜTTE, Krankheit und Gesundheit im Spiegel von Hermann von Weinsbergs Aufzeichnungen, in: Manfred GROTEN (Hg.), Hermann von Weinsberg (1518–1597), Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk (Geschichte in Köln – Beihefte; Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 1), Köln 2005, S. 231–251, hier 232. An Luise, Versailles, 8.4.1705, HO, 1, 240, S. 385; s. auch Marly, 29.4.1714, HO, 2, 644, S. 389.

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te erwiesen habe, für diesen Anwendungsbereich weiter.190 Die sanfte Wirkweise prädestinierte das Mittel aus Elisabeth Charlottes Sicht selbst für die erfolgreiche Behandlung von Kleinkindern und sogar von Säuglingen.191 So riet sie etwa im Mai 1719, als man die Blattern bei ihrem Patenkind192 befürchtete, ebenfalls dazu, myledy-Kendt-pulver in der ammen milch zu geben.193 Sich selbst, ihre eigenen Kinder undt mehr, alß 50 andere personnen habe sie mit dem Mylady-Kent-Pulver kuriert, resümierte sie gar im Januar 1715.194 Die überaus große Bedeutung dieses Heilmittels, die Elisabeth Charlottes Korrespondenz mit erstaunlichen Kontinuitäten beinahe für ihre gesamte Lebensspanne zeigt, macht es erforderlich, das Heilmittel in seiner Eingebundenheit in die zeitgenössische medikale Kultur genauer in den Blick zu nehmen. Die Rezeptur für das sogenannte Mylady-Kent-Pulver stammte aus dem Umfeld des englischen Adels und wird auf die Gräfin von Kent, Elizabeth Grey (1582–1651),195 zurückgeführt. In dem ihr zugeschriebenen Rezeptbuch ‚A choice manual or rare & select secrets in Physick and Chyrurgery‘ aus dem Jahr 1653 wird das aus naturnahen mineralischen Komponenten bestehende Heilmittel erstmals erwähnt. Als Bestandtteile des Pulvers werden zerriebene Perlen, Krabbenaugen und -scheren, weißer Bernstein, Hirschhorn, Korallen und ein ominöser Heilstein namens Lapis contra Parvam benannt.196 Die190 191 192

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Ebd., 28.4.1707, HO, 2, 359, S. 19; An Amalie Elisabeth, Marly, 5.5.1707, HO, 2, 360, S. 21. Zu dieser helmontischen Anforderung an Heilmittel s. WEAR, Knowledge, S. 397. Vermutlich ist hier Elisabeth Charlotte v. Degenfeld-Schomberg (* 12.12.1718) gemeint, für die E. Ch. im Februar 1719 die Patenschaft übernommen hatte. Vgl. An Luise, Paris, 16.2.1719, HO, 4, 994, S. 37. An Luise, St. Cloud, 4.5.1719, HO, 4, 1015, S. 107. An Luise, Versailles, 25.1.1715, HO, 2, 682, S. 510: Ich kan nicht begreiffen, wie man in Engellandt kein Meledy-pulver in den hitzigen kranckheitten braucht. Mich hats hir zweymahl daß leben errett, einmahl wie ich rodtlen mit dem fleckfieber hatte undt auff den todt lag, undt daß andermahl in den kinderblattern, so ich vor 22 jahren hatte. Meinen kindern habe ich auch mitt courirt, zweymahl, undt mehr, alß 50 andere personnen, halte also [dafür, daß] nichts beßers ist. Die Frantzoßen wißen die ahnsteckende kranckheitten gar nicht zu heyllen. Vgl. auch An Luise, 27.8.1715, HO, 2, 724, S. 618: Mir hatt es gar gewiß 4mahl daß leben gerett, also kan ich woll davor verantworten, daß es gutt ist. Vgl. John CONSIDINE, Art. Grey, Elizabeth [née Lady Elizabeth Talbot], countess of Kent (1582– 1651), in: Oxford Dictionary of National Biography, Online-Edition; Elizabeth SPILLER, Introductory Note, in: Betty S. TRAVITSKY u. Anne LAKE PRESCOTT (Hg.), The Early Modern Englishwoman: A Facsimile Library of Essential Works. Series III: Essential Works for the Study of Early Modern Women: Part 3, Bd. 4: Seventeenth Century English Recipe Books: Cookings, Physic and Chirugery in the Works of W. M. and Queen Henrietta Maria, and of Mary Tillinghast, ausgewählt u. eingel. v. Elizabeth SPILLER, Aldershot, Burlington 2008, S. ix–li, hier xxxi–xxxiv; Lynette HUNTER, Women and Domestic Medicine: Lady Experimenters, 1570–1620, in: Dies. u. Sarah HUTTON (Hg.), Women, Science and Medicine 1500–1700. Mothers and Sisters of the Royal Society, Stroud 1997, S. 89–107, hier 90–95; Paula PANICH, The Countess of Kent, in: Gastronomica 1,3 (2009), S. 61–66. Vgl. A Choice Manual, S. 175–176. Vgl. die Faksimile-Ausgabe Betty S. TRAVITSKY u. Anne LAKE PRESCOTT (Hg.), The Early Modern Englishwoman: A Facsimile Library of Essential Works. Series III: Essential Works for the Study of Early Modern Women: Part 3, Bd. 3 Seventeenth Century English Recipe Books: Cooking, Physic and Chirurgery in the Works of Elizabeth Talbot Grey and Aletheia Talbot Howard, ausgewählt u. eingel. v. Elizabeth SPILLER, Aldershot, Burlington 2008. Vgl. auch HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 116; LEBIGRE, Liselotte, S. 163; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 394.

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se Ingredienzen weisen das Mittel als iatrochemisch aus und sprechen damit für eine Nähe zu paracelsisch-helmontischen medikalen Vorstellungen, die in der praktischen Medizin des frühneuzeitlichen Englands einflussreich geworden waren.197 Die Zugabe von echtem Bezoar198 – einer kugeligen Konkretion unverdaulicher Materialien aus Ziegenpansen – sorgte für die in adeligen Kreisen besonders beliebte Exklusivität des kostbaren Pulvers. Das Rezeptbuch ‚A choice manual‘ bildete den Auftakt zu einer Reihe von gedruckten Rezeptsammlungen, die um die Jahrhundertmitte im Umfeld des englischen Hofes publiziert wurden.199 Als charakteristische Kombination unterschiedlicher Rezepte sowohl für die Zubereitung von Speisen als auch für kosmetische Präparate und Heilmittel erfreuten sich die Drucke binnen kürzester Zeit großer Beliebtheit. Mit der Gräfin von Kent wurde als Autorin eines gedruckten Rezeptbuches erstmals eine Frau benannt.200 Zuvor wurden solche Bücher von Männern verfasst und waren häufig auch an eine männliche Leserschaft gerichtet.201 Diese Situation auf dem Buchmarkt reflektierte die medikale Praxis im frühneuzeitlichen England jedoch nur äußerst unzureichend, denn im Landadel existierte eine lange und lebendige Tradition weiblicher Gesundheits- und Krankheitsfürsorge. Als Vorsteherinnen der sogenannten ‚country houses‘ oblag es den Frauen der gentry, kleinere Unpässlichkeiten bei Familienmitgliedern, Nachbarn und Bediensteten zu kurieren.202 Insbesondere weil in den abgelegenen Landhäusern häufig kein Arzt zur Verfügung stand, galt es als essentiell für die Erziehung adeliger Töchter, ihnen Kenntnisse über Heil- und Gemüsepflanzen zu vermitteln sowie sie durch praktische Erfahrung in der Zubereitung von hausgemachten Heilmitteln zu schulen.203 Ein

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Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 156; WEAR, Knowledge, S. 353–398; ELMER, Chemical Medicine, S. 124; COUDERT, Impact, S. 153–158 u. 170–171. Vgl. Art. Bezoar, in: LÉMERY, Dictionnaire (1716), S. 79–80, zur Kostbarkeit bes. S. 79; Art. Bezoar, Bezaar, Bezahard, Bezehard, Pa-Zahar, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 3, Sp. 1656–1663; Art. Bezoar, in: Wolfgang SCHNEIDER, Lexikon zur Arzneimittelgeschichte. Sachwörterbuch zur Geschichte der pharmazeutischen Botanik, Chemie, Mineralogie, Pharmakologie, Zoologie, Bd. 1: Tierische Drogen, Frankfurt a.M. 1968, S. 21–22. Vgl. Madeline BASSNETT, Restoring the Royal Household. Royalist Politics and the Commonwealth Recipe Book, in: Early English Studies 2 (2009), S. 1–32, hier 4–5 u. 14; Jayne ARCHER, The Queen’s Arcanum. Authority and Authorship in The Queen’s Closet Opened (1655), in: Renaissance Journal 1,6 (2002), S. 14–25, hier 15 u. 17; Lynette HUNTER, Sisters of the Royal Society: The circle of Katherine Jones, Lady Ranelagh, in: Lynette HUNTER u. Sarah HUTTON (Hg.), Women, Science and Medicine 1500–1700. Mothers and Sisters of the Royal Society, Stroud 1997, S. 178–197, hier 179 u. Women, S. 89. Vgl. HUNTER, Sisters, S. 278 u. Women, S. 89. Vgl. HUNTER, Women, S. 95–96. Dieser Befund lässt sich wohl auch auf den ländlichen Adel im Reich ausdehnen. So ist etwa bekannt, dass E. Ch.s Briefpartnerin J.-S. v. Schaumburg-Lippe in ihrer Erziehung auf Schloss Langenburg heilkundlich geschult worden war und, wie zuvor ihre Mutter, eine eigene Apotheke unterhielt. Vgl. SCHWEINITZ, Johanna Sophia, S. 103. Vgl. Layinka SWINBURNE, Of Each a Handful: Medicinal Herbs in the Country House, in: C[onstance] Anne WILSON (Hg.), The Country House Kitchen Garden, 1600–1950. How produce was grown and how it was used, London 1998, S. 177–193, hier 177–178; SPILLER, Introductory Note, S. ix u. xii.

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erheblicher Wissensschatz aus Rezepten und Anweisungen wurde so mündlich oder über persönliche Manuskripte von Mutter zu Tochter weitergegeben.204 Lynette Hunter verortet auch Elizabeth Grey und ihre ebenfalls medizinkundigen Schwestern Alethea und Mary in diesem traditionellen Kontext weiblicher Heilkundigkeit. Im Laufe des 17. Jahrhunderts sei die Beschäftigung mit Medizin und Heilmitteln sowie deren praktische Herstellung unter den Frauen des englischen Adels mehr und mehr zu einer Art Freizeitbeschäftigung avanciert, so Hunter.205 Auch von der Gräfin von Kent sagte man, sie habe ihr aus Interesse angehäuftes medizinisches Wissen praktisch erprobt, indem sie sich täglich um mehr als siebzig arme Leute im Umfeld der ‚country estates‘ des Grafen von Kent in Bedfordshire und London gekümmert habe.206 Gleichzeitig war Elizabeth Greys Begeisterung für Medizin und naturphilosophische Fragen in direkter Weise mit dem Londoner Hof und seinem intellektuellen Umfeld verbunden, an dem sie als eine der einflussreichsten Personen galt.207 Als Vertraute der englischen Königin Henrietta Maria verkehrte sie seit 1625 genauso wie ihre Schwester Alethea Talbot, der man das Rezeptbuch ‚Natura Exenterata‘ (1655) zuschrieb, in Henrietta Marias Entourage – einem Kreis von an Naturmedizin und experimenteller Naturerforschung interessierten (männlichen) Gelehrten.208 Neben einem Botaniker und einem Mathematiker gehörte Henrietta Marias Leibarzt Theodore Turquet de Mayerne (1573–1654/55) diesem Zirkel an. Wie viele gelehrte Calvinisten aus Frankreich war Mayerne Anhänger der Ideen von Paracelsus und Van Helmont. Aufgrund der sich zuspitzenden konfessionellen Konflikte in Frankreich nach der Ermordung des Königs Henri IV. (1553–1610), dessen Leibarzt Mayerne gewesen war, war er wie viele seiner Glaubensgenossen an den englischen Hof geflohen, wo er seine paracelsisch-helmontischenVorstellungen und Behandlungsmethoden etablierte.209 Wenn die Gräfin von Kent auf dem Titelblatt zu ‚A choice manual‘ 1653 ausdrücklich als Sammlerin und praktische Anwenderin der als Secrets gehandelten Rezepte hervorgehoben wurde, steht dies in einem ambivalenten, aber direkten Bezug zu diesen beiden Einflusssphären:210 sowohl zur traditionellen Medizinkundigkeit vieler adeliger Frauen mit ihrem auf der Grundlage gelebter Praxis gewonnenen heilkundlichen Wissen als auch zu den Kreisen akademisch gebildeter Ärzte und Naturforscher, die sich gleich-

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Vgl. C[onstance] Anne WILSON, Editorial introduction, in: Women advising women. Part 6: Sources from the Brotherton Library, University of Leeds. Works on household management and domestic economy, c. 1600–1800. A listing and guide, London 2005, S. 13–19, hier 14–15. Vgl. HUNTER, Women, S. 102–103. Vgl. ebd., S. 91; PANICH, Countess, S. 61–62. Vgl. HUNTER, Women, S. 92–93. Vgl. ebd., S. 93 u. HUNTER, Sisters, S. 179. Vgl. Brian NANCE, Turquet de Mayerne as Baroque Physician: The Art of Medical Portraiture, Amsterdam 2001, S. 7–9; TREVOR-ROPER, Physician, S. 4–5 u. 208–209; Hugh TREVOR-ROPER, Paracelsianism made Political, 1600–1650, in: Ole Peter GRELL (Hg.), Paracelsus. The Man and His Reputation, His Ideas and Their Transformation (Studies in History of Christian Thought 75), Leiden, Boston, Köln 1998, S. 119–133, hier 127; BROCKLISS, Revolution, S. 59; WEAR, Knowledge, S. 353–354; PAGEL, Van Helmont, S. 198. Mayerne war letzter Leibarzt des zum Katholizismus konvertierten frz. Königs Henri IV. (1553–1610) und selbst Hugenotte. Vgl. SPILLER, Introductory Note, S. ix–x.

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wohl in der folgenden Zeit institutionell als exklusiv männliche Wissensgemeinschaft konstituieren sollten.211 Genauso wie die übrigen Rezeptbücher stand ‚A choice manual‘ aber auch in einem direkten politischen Kontext, verfolgte man mit ihnen doch das Ziel, die Frauen der Royal Family und ihres Umfeldes als gesundheitsbewusste und medizinkundige Vorsteherinnen der ‚englischen Nation‘ zu inszenieren.212 Bestes Beispiel hierfür ist eine 1655 unter dem Titel ‚The Queens Closet opened‘ veröffentlichte Rezeptsammlung.213 Eigentlich ein Sammelsurium verschiedener am englischen Hof bekannter Rezepte,214 u.a. auch einer Variation des Lady Kents Powder presented by her Ladyship to the Queen,215 gab man es als persönliche Kollektion Henrietta Marias (1609–1669), der Gemahlin Charles‘ I. (1600– 1649), heraus.216 Henriettas Vertrauter und Berater Walter Montagu (1605–1677)217 verfolgte mit der Publikation während des Bürgerkrieges das Ziel, die Erinnerung an die im Exil befindliche, als französische Katholikin zeitlebens ungeliebte Königin wachzuhalten,218 sie im Zentrum eines dezidiert englischen Hofnetzwerkes zu verorten und damit die angestrebte Restauration der Stuart-Dynastie zu forcieren.219 Die Rezeptbücher inszenieren, so hebt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Edith Snook am Beispiel von ‚The Queens Closet opened‘ hervor, einen natürlichen und gesunden englischen Adel220 und geben – neben ihrer politischen Bedeutung – Einblicke in die medikale Kultur am englischen Hof, in Wissensbestände und Praktiken, die wesentlich von adeligen

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Vgl. HUNTER, Sisters, S. 188 u. 190–191; Londa SCHIEBINGER, Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft, Stuttgart 1993, S. 41–49. Vgl. BASSNETT, Restoring, S. 2–3 u. 10. W[alter] M[ONTAGU] (Hg.), The Queens Closet Opened (…) Transcribed from the true copies of her Majesties own receipt books, by W. M. one of her late servants, London 1655. Vgl. die Faksimile-Ausgabe Betty S. TRAVITSKY u. Anne LAKE PRESCOTT (Hg.), The Early Modern Englishwoman: A Facsimile Library of Essential Works. Series III Essential Works for the Study of Early Modern Women: Part 3, Bd. 4: Seventeenth Century English Recipe Books: Cookings, Physic and Chirugery in the Works of W. M. and Queen Henrietta Maria, and of Mary Tillinghast, ausgewählt u. eingel. v. Elizabeth SPILLER, Aldershot, Burlington 2008. S. WILSON, Introduction, S. 14–15. Vgl. Laura LUNGER KNOPPERS, Opening the Queen’s Closet: Henrietta Maria, Elizabeth Cromwell and the Politics of Cookery, in: Renaissance Quarterly 60,2 (2007), S. 464–499, hier 468. The Queens Closet Opened, 1655, S. 274, 1710, S. 30. Vgl. LUNGER KNOPPERS, Queen’s Closet, S. 466 u. 482; ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 19; BASSNETT, Restoring, S. 12. Vgl. ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 15; LUNGER KNOPPERS, Queen’s Closet, S. 466 u. 481–483; BASSNETT, Restoring, S. 8. Der als Herausgeber genannte W. M. wurde von Jayne Archer als Walter Montagu identifiziert. Vgl. ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 19–23. Vgl. BASSNETT, Restoring, S. 11–12; ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 23. Vgl. LUNGER KNOPPERS, Queen’s Closet, S. 467 u. 481; ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 18–19 u. 24; Edith SNOOK, Soveraigne receipts and the Politics of Beauty in The Queens Closet Opened, in: Early Modern Literary Studies 15,7 (2007), S. 1–19, § 2 u. § 18 u. Women, Beauty and Power in Early Modern England. A Feminist Literary History, London 2011, S. 51. Vgl. SNOOK, receipts, § 3. Vgl. auch SNOOK, Women, S. 47–52, bes. 52; BASSNETT, Restoring, S. 10, 12 u. 17–18.

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Frauen geprägt wurden.221 Die Vorstellung von Geheimnissen der Natur als Schlüssel zur Gesundheit, wie man sie im ‚Closet‘ der Königin finden sollte, war wie das Naturverständnis der kurpfälzischen Familie weiblich konnotiert.222 Die Rezeptbücher zeugen von einer weitverbreiteten, vor allem von Frauen erprobten Kultur der Selbstbehandlung – wenngleich diese auf der Grundlage der traditionellen medikalen Konzepte der Humoralpathologie und Signaturenlehre fußte, die in weiten Teilen auch von akademischen Ärzten vertreten wurden.223 Traditionelle galenische Wissensbestände über Medizin und Diätetik standen in den Rezeptbüchern in einer eigenwilligen Mischung neben den zu dieser Zeit in England immer beliebter werdenden paracelsisch-chemiatrischen Auffassungen.224 Mit einiger Sicherheit kam die kurpfälzische Familie über ihre englischen Wurzeln mit dem Mylady-Kent-Pulver und den damit verbundenen medikalen Auffassungen in Kontakt. Es ist denkbar, dass schon Elisabeth Charlottes Großmutter, Elizabeth Stuart (1596–1662), Schwester Charles‘ I., das Pulver aus der Zeit vor ihrer Verheiratung kannte oder aber im Zuge ihrer weiterhin engen Kontakte zum englischen Hof später damit in Berührung kam. Immerhin war die Countess of Kent (gest. 1651) nicht nur Vertraute von Henrietta Maria, die sie 1642 auch in deren niederländisches Exil begleitete, sondern schon Kammerfrau von Elisabeths Mutter, der gebürtigen Dänin und vermählten englischen Königin Anna (1574–1619).225 Der fehlende Apostroph im Titel von ‚The Queens Closet Opened‘ hat der Forschung zudem Raum für Spekulationen gegeben, inwiefern die Rezepte und der mit ihnen assoziierte Personenkreis auch auf frühere Königinnen verweisen könnte. Jayne Archer etwa vermutet, dass die Rezepte von Elisabeth I. und Anna gesammelt und an Henrietta Maria weitergegeben wurden.226 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die These Carola Omans, die Rezepte in ‚The Queens Closet Opened‘ seien im Wesentlichen auf den Einfluss des Leibarztes der beiden Königinnen Anna und Henrietta Maria, des bereits erwähnten Paracelsisten und Calvinisten Turquet de Mayerne, zurückzuführen.227 Für den hier behandelten Zusammenhang ist vor allem wichtig zu konstatieren, dass Heilmittelrezepturen und das dahinterstehende Wissen aller Wahrscheinlichkeit nach über familiäre Netzwerke transferiert wurden. Eine bedeutende Rolle für die Aufnahme des Mylady-Kent-Pulvers und der damit verbundenen Gesundheitsstrategie in das medikale Repertoire der Familie spielt dabei vermutlich vor allem Karl Ludwig, der von einer 221

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Jayne Archer hat die Rezepte in den gedruckten Büchern des Hochadels mit solchen in Manuskripten von Damen der Gentry abgeglichen und weitläufige Übereinstimmungen gefunden. Vgl. zur Frage der Authentizität der Rezepte ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 16 bes. Anm. 9. Vgl. ebd., S. 23; Evelyn Fox KELLER, From Secrets of Life to Secrets of Death, in: Mary JACOBUS, Evelyn Fox KELLER u. Sally SHUTTLEWORTH, Body/Politics: Women and the Discourses of Science, New York, London 1990, S. 177–191, hier 178; KELLER, Secrets of God, S. 59. Vgl. SWINBURNE, Herbs, S. 177–178. Vgl. SPILLER, Introductory Note, S. xi; HUNTER, Women, S. 190. Vgl. LUNGER KNOPPERS, queen’s closet, S. 482; BASSNETT, Restoring, S. 8; ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 19; HUNTER, Women, S. 90. Vgl. ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 18. Vgl. Carola OMAN, Henrietta Maria, London 1976, S. 61; SNOOK, receipts, § 13; zur Frage nach Autorenschaft in Rezeptbüchern kritisch ARCHER, Queen’s Arcanum, S. 17.

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englischen Gouvernante erzogen worden war228 und auch später noch in äußerst engem Kontakt zu seinen zeitweilig in Den Haag im Exil lebenden englischen Verwandten stand.229 Er hatte sich seinerseits zwischen 1640 und 1649 am Londoner Hof aufgehalten.230 Van der Cruysse resümiert in seiner Biographie, die medikalen Auffassungen des späteren Kurfürsten seien von diesem Aufenthalt entscheidend geprägt worden, spezifiziert diese Vermutung jedoch nicht näher.231 Wahrscheinlich ist jedoch, dass Karl Ludwig in dieser Zeit in London auch verstärkt mit calvinistischen Gelehrten zusammengetroffen war, die sich nach der mit der Schlacht am Weißen Berg besiegelten calvinistischen Niederlage im konfessionellen Konflikt des Dreißigjährigen Krieges im englischen Exil aufhielten. Wie der britische Historiker Hugh Trevor-Roper in seinen Arbeiten zeigen konnte, war gerade die Orientierung an der paracelsischen Naturphilosophie für diesen Kreis Gelehrter und ihre Ambitionen einer Restitution des politischen Einflusses der Calvinisten in Europa konstitutiv.232 Zudem war Karl Ludwig offenbar auch persönlich mit der Gräfin von Kent bekannt. Wiederum findet sich bei Van der Cruysse ein Hinweis, er habe eine Affäre mit der Countess unterhalten, aus der sogar ein gemeinsamer Sohn, der bereits erwähnte früh verstorbene Ludwig von Selz, hervorgegangen sei.233 Elisabeth Charlottes Korrespondenz stützt die These einer persönlichen Beziehung zwischen ihrem Vater und Elizabeth Grey. An verschiedenen Stellen führt sie an, ihr Vater habe das ihr bereits aus der Kindheit bekannte zu Kugeln gepresste Pulver von der Gräfin selbst bekommen.234 Problema228 229

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Vgl. Aussaresses u. Gauthier-Villars, Vie, S. 5. Henrietta Maria befand sich 1642–1643 am Hof ihrer Schwägerin Maria v. Oranien und deren Gatten Wilhelm v. Oranien, dem Statthalter der Niederlande; ihr Sohn Charles II. erkrankte dort 1648 an den Blattern. Vgl. HOPKINS, Killer, S. 37. Vgl. AUSSARESSES u. GAUTHIER-VILLARS, Vie, S. 10; MOERS-MESSMER, Heidelberg, S. 279. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 160, der feststellt, dass Karl Ludwig sich nach seinem politischen Exil in England 1640 „sehr für die Medizin interessiert“ habe. AUSSARESSES u. GAUTHIER-VILLARS, Vie, S. 12. Vgl. TREVOR-ROPER, Paracelsianism, S. 128–131. Obwohl eine Verbindung von Paracelsismus und Calvinismus in der calvinistischen Lehre nicht angelegt sei (S. 119–120), sei der Paracelsismus seit Ende des 16. Jhd.s vor allem in Frankreich zunehmend calvinisiert worden (S. 122–123). Calvinistische Ärzte spielten in diesem Prozess, so Trevor-Roper, eine zentrale Rolle (S. 126–128). Hierzu passt auch die Ablehnung des Aderlasses bei E. Ch.s früherem Hofmeister, dem strengen Calvinisten Polier. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 30.5.1711, in: VdC, Lf, 571, S. 475; o.O. 27.4.1686, ebd., 35, S. 64; Paris, 25.3.1688, ebd., 51, S. 79; Marly, 29.11.1702, ebd., 179, S. 238; o.O., 8.12.1704, ebd. 223, S. 267; 5.11.1710, ebd., 509, S. 444; o.O., 1.6.1711, ebd., 573, S. 476. S. 2.IV.1. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 33, der leider keinen Beleg anführt; ebenso AUSSARESSES u. GAUTHIER-VILLARS, Vie, S. 12; HAUCK, Karl Ludwig, S. 246, der zwar von einem „unehelichen Sohn[es] Karl Ludwigs aus seiner englischen Zeit“ spricht, aber keinen Hinweis auf die Gräfin von Kent als Mutter gibt; Carola OMAN, The Winter Queen. Elizabeth of Bohemia, London 1938, ND London 2000, S. 374, Anm. 1: „Charles Louis was passionately devoted to his son by an unnamed English lady.” In dieser Weise äußert sich auch BODEMANN (Hg.), Bw, 2, S. 22, Anm. 1, Ludwig von Selz sei Karl Ludwig „während seines Aufenthaltes in England von einer vornehmen Dame geboren“ worden. Auch ein Brief Karl Ludwigs an Elisabeth Stuart anlässlich des Todes seines Sohnes gibt keinen Aufschluss über die Mutter. Vgl. Karl Ludwig an Elisabeth, Heidelberg, 29.9.1660, in: BROMLEY (Hg.), Collection, XCII, S. 210–213. Vgl. An Luise, Paris, 13.9.1715, HO, 2, 727, S. 628: Mich deücht, man macht die kugeln nun viel kleiner, alß vor dießem; den die, so I.G. mein herr vatter hatte von der graffin selber, warn viel großer undt noch einmahl so

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tisch ist hierbei allerdings, dass Elizabeth Grey bereits ein Jahr vor Elisabeth Charlottes Geburt gestorben war und das Heilmittel sich so einige Jahre hätte gehalten haben müssen. Bei allen Ungereimtheiten ist dennoch davon auszugehen, dass Karl Ludwig das Pulver von der Gräfin von Kent persönlich erhalten hatte. Bedeutender als detaillierte Fragen über den ursprünglichen Transferweg des Heilmittels sind vielmehr die Kontexte, in die das Mylady-Kent-Pulver fürderhin eingebunden war. Durch die Briefe Elisabeth Charlottes ist offensichtlich, wie sich das Heilmittel aus seinem englischen Entstehungskontext heraus bewegte, wie es von Kurfürst Karl Ludwig am Pfälzer Hof empfohlen, von der Hofmeisterin Anna Katharina von Harling in ihrer Zeit als Gouvernante in Braunschweig-Lüneburg häufig angewendet235 und schließlich durch Elisabeth Charlotte am französischen Hof bekannt gemacht wurde. Das MyladyKent-Pulver war in diesem Sinne hochgradig ‚europäisch‘ und wurde zwischen den über Verwandtschaft verbundenen Höfen auf verschiedenen Wegen über Generationen hinweg transferiert. Gleichzeitig ist das Heilmittel aber auch Teil eines ‚nationalen Diskurses‘ – das betrifft sowohl die Funktion von Rezeptbüchern als Inszenierungsplattform eines natürlichen und gesunden englischen Adels als auch die Rezeption des MyladyKent-Pulvers am französischen Hof als regime l‘allemand.236 Als Teil eines Wissenssystems, das die Heilkraft der Natur hervorhob, somit weiblich konnotiert und mit Akteuri n n e n assoziiert war, wurde Gesundheit als zentraler Wert der Mitglieder des (Hoch)Adels inszeniert, für den bestimmte Vorstellungen von Weiblichkeit konstitutiv waren. Überdies ist anzunehmen, dass das Heilmittel aufgrund seiner Verbindungen zu paracelsischhelmontischen medikalen Vorstellungen und von diesen inspirierten Personen wie dem Leibarzt Mayerne in eine dezidiert konfessionell-politisch geprägte Wissensordnung eingebettet war. Das Mylady-Kent-Pulver zeigt damit exemplarisch auf, in welcher Weise sich bestimmte Auffassungen über Standeswürde, kulturräumlich-nationale wie konfessionelle Zugehörigkeit und Geschlecht in materieller Kultur miteinander verschränkten und – wie im Fall Elisabeth Charlottes – als angewandte Lebenspraxis gleichzeitig zur Positionierung der eigenen Person im diskursiven Gefüge und in sozialen Interaktionen in ihrem Lebensumfeld beitrugen.

3. plus sure que la science:237 Erfahrungs- vs. gelehrtes Wissen Mit den medikalen Konzepten und den entsprechenden Gesundheitspraktiken sind zugleich Konflikte zwischen unterschiedlichen Wissenssystemen und deren Akteuren verbunden, die im folgenden Teilkapitel untersucht werden sollen. Dazu bieten sich einmal mehr die Blattern an, denn an diesem außergewöhnlich gefährlichen Krankheitsbild wird

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groß. S. ebenso An Luise, 24.9.1715, HO, 2, 729, S. 635. Wenn man E. Ch. in diesem Punkt Glauben schenkt, eröffnet dies auch eine neue Perspektive auf die Frage nach der Autorschaft der Rezepte in ‚A choice manual‘, die in der Forschung umstritten ist. Vgl. zu dieser Diskussion HUNTER, Women, S. 89–90; PANICH, Countess, S. 61. A. K. v. Harling erscheint in E. Ch.s Briefen als Spezialistin für die Anwendung des Pulvers. S. ausführlich 2.IV.2. COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 13, 11.2.1712, S. 293. Vgl. LEBIGRE, Liselotte, S. 163; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 395. An C. v. Wales, o.O., 14.5.1720, A, 37, S. 270.

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das enorme Konfliktpotential medikaler Differenzen besonders deutlich sichtbar. Am französischen Hof spielten sich im Angesicht dieser Erkrankungen oftmals dramatische und nicht selten konfliktreiche Krankenbettszenen ab, die im Folgenden anhand der Korrespondenz Elisabeth Charlottes analysiert werden sollen. Besonders angespannt war die Lage, als der Dauphin Frankreichs, Thronfolger und Zukunft der Bourbonendynastie, im Frühjahr 1711 an dem gefährlichen Ausschlag erkrankte.238 Auch Elisabeth Charlotte sorgte sich vor dem Hintergrund der unmittelbaren Gefahr, die von den Blattern ausging, um den Krankheitsverlauf und die richtige Behandlung Monseigneurs, so der Beiname des Dauphins. In einem Brief an Caroline von Wales vom Mai 1720 erinnerte sie sich an eine Unterredung mit dem König. Offenbar durch vorangegangene Beschreibungen seiner Schwägerin in übermäßige Sorgen versetzt, habe Ludwig sie gescholten, ihm einen solchen Schrecken eingejagt zu haben, denn der Dauphin sei längst auf dem Wege der Besserung, der Ausschlag trockne schon wieder ab.239 Elisabeth Charlotte war jedoch nicht der Meinung, der milde Krankheitsverlauf sei in diesem Fall als gutes Zeichen zu interpretieren – vielmehr bekundete sie aufgrund dessen ihre furchtbaren Sorgen über die Heilungsaussichten.240 Ludwig habe ihr sodann vorgeworfen, sie wisse allem Anschein nach mehr als jeder Arzt. Mit einigem Stolz, so berichtete sie zumindest Caroline, habe sie entgegnet: je sais (…) la petite vérole par ma propre experience, qui est plus sure que la science des Medicins.241 Die angespannte Situation führte also zum offenen Konflikt um das ‚wahre‘ Wissen und die daraus resultierenden ‚richtigen‘ Handlungskonsequenzen. In dieser Auseinandersetzung sind zwei Aspekte essentiell: Zum einen ‚demaskierte‘ Elisabeth Charlotte das Wissen der Ärzte (so noch die implizite Formulierung Ludwigs) mit ihrer Formulierung la science des Medicins als rein theoretisches und nur vorgeblich universales Wissen.242 Damit unterstellte sie dieser Form des Körperwissens eine gewisse Praxisferne und scheute sich zum anderen nicht, das theoretische, durch Ärzte vertretene Wissen in ein Hierarchieverhältnis zu ihren Überzeugungen zu stellen: Ihre eigene ‚Erfahrung‘ (ma propre experience) sei zuverlässiger (plus sure) und damit auch ‚wahrer‘ als jede wissenschaftliche Erkenntnis, zu der die gelehrten Hofärzte fähig seien – so ihre Grundaussage. Tatsächlich hatten alle am französischen Hof tätigen Ärzte eine wissenschaftliche – und das hieß dem Erbe der scholastischen Universität zufolge eine theoretische Ausbil238

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Vgl. Klaus MALETTKE, Die Bourbonen, Bd. 1: Von Heinrich IV. bis zu Ludwig XIV. 1589–1715, Stuttgart 2008, S. 246. An C. v. Wales, o.O., 14.5.1720, A, 37, S. 269–270: Wie Mr. le Dauphin die Kinderblattern hatte, fuhr ich Dienstag zum König; der König lachte mich aus und sagte: Vous nous avez tant menacé des affreuse douleurs que Monseigneur soffrireroit lors de la Supuration; il ne souffre point, et les boutons commencent déjà à sècher. Ich erschrack recht hierüber, und sagte: Tant pis s’il ne souffre pas, son état n’en est que plus daugereux [sic!], et jè souhaiterois qu’il souffrit beaucoup. Der König sagte: Oui, Vous en savez plus que les Medicins. S. ebenso An Sophie, Marly, 16.4.1711, NLA-HStAH, XXI,1, 327r–327v, vgl. B, 2, 755, S. 271. Der zunächst milde Krankheitsverlauf wird auch in den Hofjournalen mehrfach erwähnt. Vgl. COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 13, 12.4.1711, S. 85, 13.4.1711, S. 85–86, 14.4.1711, S. 86. Allerdings verminderte das auch bei den Ärzten nicht die Sorgen um den weiteren Verlauf der Krankheit. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 13, 11.4.1711, S. 379; 12.4.1711, S. 379; 13.4.1711, S. 380; 14.4.1711, S. 380. An C. v. Wales, o.O., 14.5.1720, A, 37, S. 270. Vgl. zum Begriff ‚science‘ SHAPIN, Revolution, S. 14.

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dung an einer der beiden führenden Universitäten des Landes genossen.243 Aus den Gedankengebäuden über die Funktionsweise des Körpers und die Entstehung von Krankheiten, die hier gelehrt wurden, sollte der Arzt die richtige Behandlungsstrategie deduzieren.244 Selbstverständlich hatten die gelehrten Mediziner nach dem Studium, etwa als Leibärzte bei Hofe, ihr theoretisches Wissen praktisch erproben müssen. Worauf Elisabeth Charlotte hier aber anspielte, ist eine mangelnde Verzahnung von Theorie und Praxis in der ärztlichen Ausbildung,245 die zu Problemen bei der späteren Berufsausübung führen konnte, wenn Ärzte die theoretischen Lehrsätze schematisch umsetzten, ohne aus der Erfahrung selbst zu schöpfen und in Abstimmung mit ihr Behandlungsmethoden zu entwickeln oder zu verbessern. Aus dieser Haltung heraus wagte sie es, so zumindest in ihrer brieflichen Erzählung, dem König gegenüber auf ihre eigene ‚Erfahrung‘ mit den Blattern zu verweisen, von denen sie im Sommer 1693 erfolgreich genesen war.246 Ohne die Gewissheit, dass die angewandte Therapie aus diätetischen Maßnahmen und Schwitzkur auf den richtigen und ‚wahren‘ Schlüssen über die Heilung fiebriger Krankheiten basierte, erschien Elisabeth Charlottes Behandlungsmethode jedoch schlichtweg als eine Harakiri-Aktion. Genau so erging es offenbar dem Leibarzt der Dauphine, Monsieur Boudelot, der Elisabeth Charlotte zufolge angesichts der selbstgewählten Behandlungsstrategie ausgerufen habe: „Madame a pris un poudre qui la tuera infailliblement; contes qu'elle est morte!“ Man fragte, ob er daß pulver [kenne]. “Non“ sagte [er] „mais prendre un poudre sans ce faire saigner! contes, qu’elle est morte!”247

Ein schweißanregendes und somit erhitzendes Pulver bei Fieber zu nehmen, ohne mit dem Aderlass für die notwendige Kühlung zu sorgen, erschien nach galenischer Fieberlehre als hochgradig gefährlich.248 Für Elisabeth Charlotte aber war Boudelots Aussage lediglich ein weiterer Beweis für die von ihr so häufig kritisierte Ignoranz der Ärzte: Die ‚Erfahrung‘ hatte ihrer Selbstbehandlung schließlich Recht gegeben und die zu Grunde 243

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Vgl. Beate APPELT, Les vapeurs: Eine literarische Nosologie zwischen Klassik und Romantik. Kulturgeschichtliche Untersuchung, literarische Analyse und bibliographische Dokumentation (Europäische Hochschulschriften, Reihe XIII: Französische Sprache und Literatur 254), Frankfurt a.M. 2000, S. 27 u. 57; DERUISSEAU, Krankheit, S. 1796–1800; MEYER, Science, S. 107; Alfred FRANKLIN, La vie privée d’autrefois, Bd. 11: Les médecins, Paris 1892, ND Genf 1980, S. 193; zum medizinischen Personal am frz. Hof s. François LEBRUN, Médecins et empiriques à la cour de Louis XIV, in: Histoire, economie, société 3 (1984), S. 557–666, hier 557–558; Laurence BROCKLISS, Lehrpläne, in: Walter RÜEGG u. M. v. Asa BRIGGS (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2 Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996, S. 451–494, hier 486–489. Vgl. auch An Luise, Paris, 23.4.1721, HO, 6, 1221, S. 89: man braucht keine fremdte docktor[e]n. Hir müßen [sie] von der facultet von Paris oder Mon[t]pellier sein. Zur Deduktion als Methode in der Medizin s. 2.I. Zum äußerst geringen praktischen Anteil der ärztlichen Ausbildung im Frankreich des 17. Jhd.s S. APPELT, Vapeurs, S. 25–26; GRMEK, Mirko D., L’emergence de la médecine scientifique en France sous le règne de Louis XIV. in: Medizinhistorisches Journal 11 (1976), S. 271–298, hier 284. S. 2.IV.1. An Luise, 27.9.1715, Paris, HO, 2, 730, S. 637. Vgl. auch LEBIGRE, Liselotte, S. 163. Vgl. PAGEL, Van Helmont, S. 157. Insbesondere chemiatrische Heilmittel wie das Mylady-KentPulver wurden von galenischen Ärzten als erhitzend betrachtet und durften deswegen nicht bei Fieberkrankheiten angewendet werden. Vgl. WEAR, Knowledge, S. 369.

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liegenden medikalen Vorstellungen bestätigt. Als sie wieder gesund war, habe sie Boudelot deshalb mit den folgenden Worten zurechtgewiesen: „Les gens que vous tües, ce portent asses bien. Aprenes par cecy, pour ne vous pas tromper, monsieur Boudelot (so hieß er), de ne pas juger de ce que vous ne cognoisses pas et que d’auttres savant mieux que vous!“249

Recht deutlich zeigte Elisabeth Charlotte ihren Erzählungen zufolge auf der Grundlage ihrer persönlichen expérience dem gelehrten Doktor die Grenzen seines Wissens auf, das an ihrem Beispiel lediglich zu falschen Prophezeiungen geführt hatte. Die ureigene ‚Erfahrung‘ mit den Blattern diente ihr als am eigenen Körper erbrachter Beweis für die tatsächliche Schädlichkeit des üblichen ärztlichen Eingreifens. Wie in ihren Aussagen Ludwig XIV. gegenüber zu erkennen ist, hielt sie zudem den Verlauf, den ihre Krankheit genommen hatte – mit der besonderen Schwere der Erkrankung zu Beginn und der darauf folgenden raschen Heilung – für ideal, um eine vollständige Genesung zu bewirken. Auch im Falle Monseigneurs hatte sich Elisabeth Charlottes ‚Erfahrungswissen‘ tatsächlich als ‚zuverlässiger‘ erwiesen: Obwohl sie im Gespräch mit dem König noch angefügt habe, sie wünsche nur zu sehr, sich in ihrer Ansicht zu täuschen, verstarb der Dauphin noch in der gleichen Nacht.250 Elisabeth Charlottes Erfahrungsbegriff ist also in hohem Maße an ihre persönlichen Erlebnisse und (Er-)Kenntnisse gebunden, die über einen längeren Zeitraum im praktischen Vollzug erworben worden waren. Die Praxis bildet hier also den zentralen ‚Ort‘ der Einübung spezifischer kultureller Handlungs- und Deutungsmuster sowie deren adäquater leiblicher Empfindung.251 ‚Erfahrung‘ beruht jedoch nicht allein auf der Praxis, sondern steht immer mit konzeptionellen Wissensbeständen im Zusammenhang, die über ‚Erfahrungen‘ bestärkt (oder auch verworfen) werden.252 Das dabei entstehende Erfahrungswissen253 entfaltete eine handlungsleitende Funktion für gegenwärtige und zukünftige Situationen. 249 250 251

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An Luise, 27.9.1715, Paris, HO, 2, 730, S. 637. An C. v. Wales, o.O., 18.8.1716, in: A, 11, S. 255. Vgl. HÖRNING, Praxis, S. 20; VILLA, Sexy Bodies, S. 25, der zufolge „sozial produzierte[s] Wissen um den Körper wie ein ‚Verhaltens- und Empfindungsprogramm‘“ wirken könne. Stefan HIRSCHAUER, Körper macht Wissen – Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: Karl Siegbert REHBERG u. M. v. Dana GIESECKE u. Thomas DUMKE (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Bd. 2, Frankfurt a.M., New York 2008, S. 974–985, hier 983: „Wir glauben nicht aus wissenschaftlichen Gründen an kulturelle Tatsachen, sondern auf der Basis von Verhaltensroutinen, die vorbewusste Glaubensinhalte fleischlich stabilisieren.“ Auf diesen Zusammenhang zwischen propositionalem Wissen und Erfahrung bezieht sich Max Schelers Begriff der „relativnatürlichen Weltanschauung“. S. dazu BERGER u. LUCKMANN, Konstruktion, S. 9: Scheler „betonte nachdrücklich, daß Wissen der individuellen Erfahrung vorgegeben ist und diese in eine gesellschaftlich vorgegebene Sinnordnung einbettet. Diese Ordnung erlebt das Individuum – trotz ihrer Relation zu einer speziellen sozio-historischen Situation – als natürliche Weltansicht.“ Vgl. zum Terminus in der Medizinsoziologie und -geschichte DORNHEIM, Kranksein, S. 46–47. Erfahrung bezeichne sowohl ein „in den Wissensvorräten sich manifestierendes Sediment“ als auch einen „fortdauernden Verarbeitungsprozess von Erlebnissen, der sich wiederum an den Wissensvorräten orientiert“. Robert JÜTTE, „Wo kein Weib ist, da seufzet der Kranke“ – Familie

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Das beschriebene Verständnis von expérience ist um 1700 Teil der Alltagssprache, wie verschiedene zeitgenössische Lexika und Wörterbücher belegen. Der Alltagsbegriff ‚Erfahrung‘ ist dabei jedoch von der Begriffsbestimmung zu differenzieren, die zum Schlüsselbegriff des empirischen Wissenschaftsverständnisses der Zeit wird. Letzteres konzipiert Erfahrung als ein von Einzelpersonen und deren sinnlicher Wahrnehmung unabhängig gedachtes erkenntnistheoretisches Konzept, das aufs Engste mit der induktivexperimentellen Methode verknüpft ist.254 Dieser Erfahrungsbegriff der empirischen Wissenschaften beruht aber auf einem grundlegend anderen Naturverständnis als der Erfahrungsbegriff, auf den Elisabeth Charlotte, ihr Vater und ihre Tante rekurrierten. Während es der kurpfälzischen Familie darum ging, in der Erfahrung die als wirkmächtige Kraft betrachtete Natur des Menschen (natura hominis) bzw. die Heilwirkung der Natur zu erkennen, beruhte das mechanistische Wissenschaftsverständnis der Neuzeit darauf, die Natur zum Objekt zu machen, indem ‚natürliche‘ Bedingungen experimentell beherrschbar gemacht wurden.255 Damit ist unweigerlich auch eine Entfremdung zwischen Natur und Menschen verbunden, die sich selbst nicht länger als Teil der Natur verstanden.256 Die beschriebenen Auseinandersetzungen um die ‚richtige‘ Therapie zwischen Ärzten und Laien sollten sich am Krankenbett der zweiten Dauphine auf dramatische Weise wiederholen. Im Februar 1712 waren Marie-Adélaïde von Savoyen (1685–1712) und der Duc de Bourgogne, Sohn des 1711 verstorbenen Monseigneur, ebenfalls an einer gefährlichen Ausschlagkrankheit257 erkrankt. Nachdem die Dauphine schon einige Tage an

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und Krankheit im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 1990, S. 4–24, hier in Bezug auf heilkundliches Erfahrungswissen bei Hermann von Weinsberg S. 12: Bei Erfahrungswissen handele es sich um „Verknüpfung tradierter ätiologischer Auffassungen mit der eigenen Lebensgeschichte“. Auf die Bedeutung von Erfahrungswissen im Zusammenhang mit Pockenerkrankungen im ländlichen Raum um 1800 verweist WOLFF, Maßnahmen, S. 242 u. 251. Vgl. Sylvain AUROUX u. Barbara KALTZ, Analyse, Expérience, in: Rolf REICHARDT u. Eberhard SCHMITT in Verbindung mit Gerd VAN DEN HEUVEL u. Anette HÖFER (Hg.), Handbuch politischsozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820 (Ancien régime, Aufklärung und Revolution 10), München 1986, S. 7–40, hier 30 u. 32–33; DEAR, Miracles, S. 663 u. 666; DASTON, Baconian Facts, S. 341; SHAPIN, Revolution, S. 111–112, der betont, die Gelehrten der Frühen Neuzeit hätten den Erfahrungsbegriff als soziales Distinktionsmittel von der ‚einfachen‘ Bevölkerung verstanden. Vgl. GLOY, Naturkonzept, S. 104–105; LABISCH, Homo Hygienicus, S. 71–72; MERCHANT, Tod, S. 19; ROSSI Geburt, S. 189–190; SUTTER, Maschinen, S. 32–34; GORGÉ, Entstehung, S. 69: „Die Natur, und das ist der entscheidende Unterschied zu Aristoteles, ist von nun an nicht mehr das Gegebene, sondern das nach Gesetzen Mögliche.“ Zum zeitgenössischen Verständnis des Experiments DEAR, Miracles, S. 663: “The historical relation of an event wherein a contrived situation gave rise, on that occasion, to a particular result (…).“ Peter DEAR, Narratives, Anecdotes, and Experiments: Turning experience into science in the seventeenth century, in: Ders. (Hg.), The Literary Structure of Scientific Argument: Historical Studies, Philadelphia 1991, S. 135–163, hier 137–138, SCHIPPERGES, Homo Patiens, S. 157. Vgl. KROHN, Natur, S. 91, 98 u. bes. 74; LENK, Macher, S. 61–62. Die Erkrankung wurde in der Historiographie mit den Begriffen Pocken, Masern und Scharlach identifiziert. Vgl. aus der Fülle der Literatur etwa MALETTKE, Bourbonen, Bd. 1, S. 246; Warren Hamilton LEWIS, Ludwig XIV. Der Sonnenkönig. Deutsche Übersetzung von Robert Felix, Tübingen 1977, S. 283 mit dem Versuch der Rückwärtsdiagnose ‚Scharlach‘.

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diversen Schmerzen, Fieber und Abgeschlagenheit gelitten habe258 , sie sich mehrfach habe übergeben müssen259 und sich bei ihr ein rötlicher Ausschlag (rougeole) gezeigt habe,260 verschlechterte sich ihr Zustand am Abend des 11. Februar 1712 drastisch. Den Berichten des Marquis de Sourches zufolge verabreichte man ihr interessanterweise in dieser Situation ein poudre cordiale dont Madame se servoit, qu’on appeloit de la poudre de la princesse de Kint [sic!].261 Elisabeth Charlottes mit Hilfe der Selbsttherapie auf wundersame Weise262 überstandene Blatternerkrankung hatte offensichtlich zu dieser Anpassung der therapeutischen Maßnahmen am französischen Hof geführt. Dem Chronisten zufolge tat das Pulver un bon effet und es zeigten sich verstärkt Rötungen auf dem Leib der Dauphine, was offenbar als Zeichen für das gelungene Austreiben der Krankheitsmaterie interpretiert wurde. Da ihr Fieber jedoch unvermindert blieb, hielt das Konsilium aus sieben Ärzten dafür, die Kranke zusätzlich zur Ader zu lassen.263 Trotz dieser und weiterer Behandlungen mit Brechmitteln264 verstarb die Dauphine am Abend des nächsten Tages.265 In einem Brief vom 14. Februar 1712 schilderte Elisabeth Charlotte die Geschehnisse aus ihrer Sicht: Ich bin persuadirt daß die docktoren dieße arme printzes so gewiß umbs leben gebracht haben, alß ichs E.L. hir sage sie hatten ihr ein wenig meledy Kent ein geben nur etlich grain da fing sie sehr ahn zu schwitzen, man hatte aber die gedult nicht den schweiß gantz außzuwartten in mitten von schweiß da sie schon gantz feüer roht von den rödtlen auß geschlagen war, setzt man sie in warm waßer undt lest ihr zum 4ten mahl zur ader, da schlug alle rödte wider ein, hernach gaben sie I. L. s. [seelig] l’hemetique 3–4. prissen die operirten gar nicht threhte also gantz zum todt undt hatte eine lange agonie den es war noch viel stärke da, Nun ist alles auß.266

In ihrer verdichteten Darstellung der Abläufe bemängelte Elisabeth Charlotte die fehlende Geduld der Ärzte, die nicht hätten abwarten können, bis die durch das Mylady-KentPulver angeregte Natur des Körpers die Krankheitsmaterie über den Schweiß aus dem Körper austreibe. Ihre Ungeduld habe sie dazu veranlasst, die nun schwitzende Kranke zusätzlich zur Ader zu lassen, was jedoch einen gegenteiligen Effekt hatte. Falsches medizinisches Handeln äußerte sich für Elisabeth Charlotte also im Versuch, dem Körper von vornherein die Möglichkeit zu nehmen, seine eigene purgative Kraft zu entfalten. Ihrer festen Überzeugung nach musste die Heilung der Krankheit in letzter Konsequenz 258

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COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 13, 7.2.1711, S. 289; 8.2.1712, S. 291; SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 14, 6.2.1711, S. 80; 7.2.1722, S. 81; 8.2.1711, S. 81–82; COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 13, 8.2.1712, S. 291. Ebd., S. 292; SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 14, 9.2.1711, S. 82. COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 13, 11.2.1712, S. 293. Vgl. NEUBURGER, Heilkraft, S. 27. Heilungen ohne ärztliches Eingreifen im bloßen Vertrauen auf die Heilkraft der Natur wurden zumeist als wundersam interpretiert. COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 13, 11.2.1712, S. 294. Der Marquis de Sourches erwähnt hier interessanterweise das Lilium Paracelsi. Vgl. Art. Lilium Paracelsi ex Marte, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 1, Sp. 1223. Das auf Paracelsus zurückgehende Pulver konnte je nach Mischung mit anderen Komponenten sowohl als Brechmittel als auch als stärkendes Cordial eingesetzt werden. Vgl. COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 13, 12.2.1712, S. 295. An Sophie, Marly, 14.2.1712, NLA-HStAH, XXII, 94r, vgl. B, 2, 782, S. 299. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 548; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 155–156.

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der individuellen Natur des Kranken überlassen bleiben. In einem Brief an Caroline von Wales berichtete Elisabeth Charlotte anschaulich, wie sie am Krankenbett der Dauphine vergebens gegen die ärztliche Meinung zu intervenieren versucht habe: Ich rief wie man sie aus dem Bett zog, man sollte doch nur warten, bis der Schweiß aus sey, man könnte ihr ja wohl hernach zur Ader lassen; Chirac267 und Fagon268 opiniatrirten sich darauf, und lachten mir aus.269

Wie Elisabeth Charlotte in einem weiteren Brief an Caroline beschrieb, ergaben sich um die Wahl der Behandlungsmethode jedoch nicht allein Konflikte mit den (gelehrten) Ärzten. Auch Madame de Maintenon (1635–1719), die frühere Mätresse und seit 1683 morganatische Ehefrau des Königs und eine enge Bezugsperson der Dauphine, habe sich in die Diskussion eingeschaltet und sie mit den folgenden Worten angefahren: Voulés Vous étre plus habile que tous ces Medecins qui sont là? Ich sagte: Non, Madame, mais il ne faut pas être fort habile pour savoir qu’il faut suivre la nature, & puis qu’elle incline à la sueur, il seroit bien mieux de suivre cette voye que de faire lever un malade en transpiration pour la saigner. Da zog sie die Achseln, und lachte mich hönisch an, da gieng ich auf die andere Seite und sagte nichts mehr.270

Elisabeth Charlotte entgegnete Madame de Maintenon mit ihrem Wissen über die Heilkraft der Natur. Da die Natur mit der ihr eigenen Heilkraft Krankheiten über den Schweiß aus dem Körper austreibe, sollte man bei einer schwitzenden Kranken wie der Dauphine die Transpiration allenfalls sanft unterstützen, jedoch keinesfalls einen Aderlass vornehmen. Das beschriebene höhnische Lachen Madame de Maintenons und Elisabeth Charlottes darauffolgende Reaktion, verstummend aus dem Zentrum der Szene beibeitezutreten, zeigen, dass Elisabeth Charlotte klar war, welches Wissen sich in dieser Konfliktsituation als handlungsleitend herausstellen würde. Im Falle der Erkrankung der Dauphine konnte Elisabeth Charlotte – anders, als sie es bei ihrer eigenen Blatternerkrankung getan hatte – nicht einfach selbst entscheiden, wie zu verfahren sei. Die Hoheit über die Wahl der geeignet erscheinenden Behandlungsmethoden und damit auch über das, was als ‚wahres Wissen‘ (authoritative knowledge)271 zu gelten habe, lag in dieser Situati267

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Pierre Chirac (1650–1732) war in der Zeit der Régence Leibarzt von Philippe II. d’Orléans. Vgl. Biographie universelle ancienne et moderne, hg. v. Louis-Gabriel MICHAUD, 2. Aufl., Bd. 8, S. 161– 162. Guy-Cresent Fagon (1638–1718) war nach dem Studium der Medizin in Paris zunächst Leibarzt des Duc du Maine, eines legitimierten Sohnes Ludwigs XIV. und seiner Mätresse Mme de Montespan (1640–1707), der Königin sowie der Dauphine. Seit 1693 war er Nachfolger D’Aquins als premier médecin du Roi. Vgl. Stanis PEREZ, La santé de Louis XIV. Une biohistorie du Roi soleil, Seyssel 2007, S. 390; APPELT, Vapeurs, S. 57; LEBRUN, Médecins, S. 558; DERUISSEAU, Krankheit, S. 1799; Bruno PONS, Fagon, Guy-Cresent, in: François BLUCHE (Hg.), Dictionnaire du Grand Siècle, Paris 1990, S. 573–574. Bisweilen argumentierte aber selbst Fagon innerhalb der Vorstellungen von der purgativen Heilkraft der Natur. S. dazu etwa An Sophie, Versailles, 18.12.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 745r: mons fagon undt mein doktor sagen daß es ein glück ist daß ich dießen husten und schnupen bekommen, den sie sagen daß sich meine natur selber purgirt. An C. v. Wales, o.O., 7.11.1716, A, 11, S. 254. Ebd., S. 255. S. dazu den von der Anthropologin Brigitte JORDAN, Authoritative Knowledge and Its Construction, in: Robbie E. DAVIS-FLOYD u. Carolyn F. SARGENT (Hg.), Childbirth and

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on eindeutig bei den Ärzten, so schildert Elisabeth Charlotte die Szene. Gestützt wird das gelehrte Wissen der Ärzte Elisabeth Charlotte zufolge allerdings durch die Zustimmung Madame de Maintenons, die als morganatische Ehefrau des Königs eine entsprechende Machtposition bei Hofe bekleidete. Offensichtlich transformiert erst die Anerkennung des Wissens als legitim und situationsadäquat durch eine einflussreiche Repräsentantin der französischen Hofgesellschaft das ärztliche Wissen in konkrete Handlungsmacht und erlaubt den Ärzten, die entsprechenden Behandlungen durchzuführen. Elisabeth Charlottes Deutungen und Handlungsempfehlungen hingegen waren schlichtweg nicht gefragt – die Inhalte u n d Formen ihres Körperwissens wurden als unwahr und unrichtig angesehen.272 Dabei klingt es, als handele es sich nicht um ein einmaliges Erlebnis, wenn Elisabeth Charlotte im Januar 1715 als Resümee der Vorkommnisse an Luise schrieb: Ich sagte es woll, aber man hörte mich aber nicht ahn, wie es allezeit hir gehet.273 Vielmehr hatte die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Behandlungsstrategien in ihrer Erinnerung an die Szene am Bett der Dauphine eine aufschlussreiche Kontrastierung erfahren. Hatte Elisabeth Charlotte noch im zeitnah nach dem Tod der Dauphine verfassten Brief an ihre Tante berichtet, die Ärzte hätten zwar Mylady-Kent-Pulver verabreicht, aber nicht dessen vollständige Wirkung abgewartet,274 erinnerte sie im Januar 1715 nur mehr, man hätte das Leben Marie-Adélaïdes retten können, hätte man ihr das Schwitzpulver verabreicht.275 So blieb Elisabeth Charlotte nur noch die bittere Feststellung: Die Frantzoßen wißen die ahnsteckende kranckheitten gar nicht zu heyllen.276 Die thematisierten Wissenskonflikte um Erfahrung und gelehrtes ärztliches Wissen gehören zu den prominenten Erzählmustern in Elisabeth Charlottes Briefen. Dabei zeichnete sie ein klar konturiertes Bild einer sich weitgehend etablierten ärztlichen Deu-

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Authoritative Knowledge. Cross Cultural Perspectives, Berkeley CA 1997, S. 55–79, definierten Begriff, S. 58: „By authoritative knowledge I mean, then, the knowledge that within a community is considered legitimate, consequential, official, worthy of discussion, and appropriate for justifying particular actions by people engaged in accomplishing tasks at hand. (...) In all social groups people provide justification for what they do, reasons for why they do what they do in this way and not another, or when trouble arises, why things should have been done in a particular way.“ Vgl. zur Akzeptanz von Wissensbeständen bzw. zur Produktion von wahrem Wissen, ebd., S. 56– 61 (Zit. S. 58): „The power of authoritative knowledge is not that it is correct but that it counts.“ S. auch Achim LANDWEHR, Das Sichtbare sichtbar machen. Annäherungen an ‚Wissen‘ als Kategorie historischer Forschung, in: Ders. (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens (documenta Augustana 11), Augsburg 2002, S. 61–89, hier 67, mit Bezug auf die Arbeiten von Michel Foucault, bes. 78–79; FÜSSEL, Kunst, S. 18–19: „Gerade Bedeutungen erweisen sich jedoch als stets umkämpft und Teil gesellschaftlicher Machtprozesse. Der Kampf um die legitimen Aneignungsweisen und Bedeutungszuschreibungen führt somit notwendigerweise zu einer Politisierung der Alltagspraktiken.“ An Luise, Versailles, 25.1.1715, HO, 2, 682, S. 510. Vgl. dagegen zeitnah An Sophie, Marly, 14.2.1712, NLA-HStAH, XXII, 94r, vgl. B, 2, 782, S. 299. Vgl. An Luise, Versailles, 25.1.1715, HO, 2, 682, S. 510: Zum exempel, die letzte Dauphine hatte daß fleckfieber, man solte ihr waß zu schwitzen eingeben haben; den sie fing ahn, von natur zu schwitzen, war roht wie ein scharlach von haubt biß zu füßen, da nehmen die dokter sie in vollem schweiß auß dem bett undt lassen ihr ahm fuß zur ader. Da wurdt sie gleich weiß wie dieß papir undt throhte auff einmahl, gantz zu sterben, starb auch den andern tag. Hette man ihr Meledy-Kent-pulver eingeben undt braff schwitzen machen, hette man sie [gerettet]. Ich sagte es woll, aber man hörte mich aber nicht ahn, wie es allezeit hir gehet. Ebd.

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tungsmacht, wenn sie etwa konstatierte: es seindt gar viel leütte undt der König ist von denen, die ihr docktoren viel gehör geben.277 In der ihr eigenen spöttischen Art beschrieb sie, wie abhängig die Menschen am Hof Ludwigs XIV. von den Expertenkenntnissen ihrer Ärzte seien. Denn der Glaube an die ‚Gewissheit‘ der ärztlichen Erkenntnis wirkte sich Elisabeth Charlotte zufolge auf das leibliche Empfinden der Patienten in so extremer Weise aus, dass diese nicht einmal mehr wüssten, ob sie vollkommen gesund oder dem Tode nahe seien.278 Diese Schilderungen der medikalen Kultur am Hof erinnern an die Komödien Molières, dem sie attestierte, die dockter woll gekendt zu haben. 279 Neben diesen literarischen Texten zeugen aber auch andere Quellen – etwa die Briefe Madame de Sévignés – von einer weitverbreiteten Kritik an gelehrten Ärzten.280 Diese ging auch am französischen Hof mit einem entsprechend großen Vertrauen in die Behandlung durch alternative Heiler und magische Heilmethoden einher.281 Der uneingeschränkten Hoheit über Deutungen am Krankenbett und entsprechende Behandlungen, die die Ärzte beanspruchten, entgegnete auch Elisabeth Charlotte bisweilen auf diese Weise. Ihren IschiasBeschwerden (siatique) beispielsweise rückte sie im April 1714 lieber auf ungefährliche Weise zu Leibe, indem sie einen Ring mit einer haßen clau direkt am Finger trug, als sich purgieren zu lassen.282 In diesem Sinne werfen Elisabeth Charlottes Briefe aus kritischer Perspektive ein Schlaglicht auf die zunehmende Etablierung medizinischer Erklärungsmuster und professioneller ärztlicher Deutungsmacht in der frühneuzeitlichen Alltags-

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An Sophie, Versailles, 11.11.1705, NLA-HStAH, XV,2, 615r. An C. v. Wales, o.O., 20.10.1719, A, o. Nr., S. 66: Ein Doctor, Mr. Chirac wurde zu einer Dame berufen. Wie er in die Antichambre kam, sagte man: les actions ont beaucoup diminuées. Der Doctor, welcher auch viele Actionen in Mississippi hatte, fasst das zu Herzen, setzt sich zu der Kranken, sie giebt ihm den Puls, er fühlet, spricht zu sich selber: Ah bon dieu! ils diminuent, ils diminuent, ils diminuent. Die Kranke fängt an zu schreien, daß alle ihre Leute in die Kammer kommen, und sagte: Ah! je me meurs, Mr. Chirac vient de crier quatre fois en tâtant mon pouls, il diminue, il faut donc je meure. Der Doctor stund auf und sagte: Vous rèvés votre pouls est merveilleux, & vous vous portés bien. Damit war die Kranke wieder getröstet. Vgl. An Sophie, Versailles, 7.3.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 137; An Luise, Versailles, 27.12.1714, HO, 2, 678, S. 493. An Sophie, Marly, 9.5.1711, NLA-HStAH, XXI,1, 407v–408r: molliere hatt die dockter woll gekendt den just wie es in der comedie so vor titre le mesein [Le médecin malgré lui] hatt, die consultationen sicht eben so machen sie es in der that. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 309; FUNCKBRENTANO, Liselotte, S. 156–158. An Molière angelehnte Stereotype finden sich auch in den Briefen Madame de Sévignés, s. Mireille GERARD, Les médecins dans la correspondance de Madame de Sévigné: document ou littérature?, in: Marseille 95 (1973), S. 89–97, hier 93–84.Vgl. GRMEK, L’emergence, S. 271–273; DERUISSEAU, Krankheit, S. 1782–1783 u. 1807–1808. Vgl. LEBRUN, Médecins, S. 559–555 u. 563–566; GERARD, Médecins, S. 89–90; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 374. Die Dauphine Maria-Anna bspw. wurde wenige Wochen vor ihrem Tod von einem bayrischen Kapuziner sowie von einem italienischer Heiler namens Caretti/Caret behandelt. An Sophie, Versailles, 8.2.1690, NLA-HStAH, III, 1, 5v, vgl. B, 1, 96, S. 117; SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 3, 28.1.1690, S. 60, 9.2.1690, S. 65, 27.2.1690, S. 71; 24.3.1690, S. 81, 27.3.1690, S. 83–84, 30.3.1690, S. 85; COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 3, 26.3.1690, S. 216, 27.3.1690, S. 216, 30.3.1690, S. 217. Vgl. An Luise, Marly, 12.4.1714, HO, 2, 639, S. 384–385: Vor die siatique habe ich nichts gebraucht. Man [hat mich] einmahl purgirt, die schmertzen blieben noch; hernach hatt mir der marechal de Tessé einen ring geben, worinen eines haßen claue verborgen, doch so, daß die clau den finger rührt, seyder dem habe ich es nicht mehr verspürt. Ich thue den ring nicht vom finger, alß wen ich die handt wäsch, bißher thut es noch gut.

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welt, den die Medizinhistoriographie mit dem Begriff der Medikalisierung zu fassen versucht.283 In ihren Briefen beschäftigten Elisabeth Charlotte zwei Bereiche intensiver, in denen professionelle Ärzte ihre Ansprüche mehr und mehr geltend machten. Zum einen betraf dies die Hilfsbedienstete der sogenannten Handwerkschirurgen, Bader und Barbiere der Frühen Neuzeit. Sie erwarben ihr Wissen angesichts einer allenfalls knappen theoretischen Ausbildung hauptsächlich über den praktischen Handlungsvollzug, also durch ‚Erfahrung‘ im direkten körperlichen Umgang mit den Kranken.284 In einer hierarchischen Rangordnung, die gleichzeitig einer Hierarchisierung bestimmter Wissensbestände entsprach, unterstanden sie der Aufsicht und Prüfung akademisch gebildeter Ärzte, deren Anweisungen sie ausführten, indem sie Aderlässe vornahmen und Klistiere anwendeten.285 Auch am französischen Hof arbeiteten die Barbiere unter direkter Kontrolle der Leibärzte. Ihr spezifisch praktisches Wissen wurde, wie Elisabeth Charlotte kritisch darstellte, von den Ärzten allerdings mitnichten als Ergänzung der eigenen Kenntnisse respektiert. Gegen bestes Wissen und Gewissen hätten die Barbiere als bloße Erfüllungsgehilfen ärztliche Anordnungen umzusetzen, die sie selbst für falsch hielten. Am Beispiel des Todes der französischen Königin Marie-Thérèse (1638–1683) beschrieb Elisabeth Charlotte einen solchen Wissenskonflikt zwischen Leibarzt und Barbier. Die Königin hatte an einem Abzess unter ihrem Arm gelitten, den man mit Aderlässen behandelt habe. Elisabeth Charlottes fester Überzeugung nach hätten die Ärzte damit das Geschwür wider ins leib getrieben, wo es aufbrach und die Krankheitsmaterie auf das Herz

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Vgl. Francisca LOETZ, „Medikalisierung“ in Frankreich, Großbritannien und Deutschland 1750– 1850. Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven auf die Forschung, in: Wolfgang U. ECKART u. Robert JÜTTE (Hg.), Das europäische Gesundheitssystem. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive, Stuttgart 1994, S. 123–161, hier 128; LOETZ, Kranken, S. 43–56, bes. 50; Michael STOLBERG, Heilkundige: Professionalisierung und Medikalisierung, in: Norbert PAUL und Thomas SCHLICH u. M. v. Stefanie KUHNE (Hg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a.M., New York 1998, S. 69–86, hier 76: „‚Medikalisierung‘ in diesem Sinne meint die zunehmende Durchdringung der Wahrnehmung, des Denkens und des Alltagsvollzuges durch medizinische Kategorien und Normen, auch in Lebensbereichen wie Sexualität, seelischem Erleben und seelischer Krankheit, Reinlichkeitsverhalten, Ernährung, Geburt oder Kinderaufzucht, die bisher nicht oder zumindest nicht in erster Linie medizinischen, gesundheitlichen Imperativen gehorchten. Über den engen Kreis der gebildeten Eliten hinaus wurden die Ärzte damit zu maßgeblichen Experten für zentrale Fragen der menschlichen Existenz.“ Michael STOLBERG, Frühneuzeitliche Heilkunst und ärztliche Autorität, in: Richard VAN DÜLMEN u. Sina RAUSCHENBACH u. M. v. Meinrad von ENGELBERG (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln, Wien, Weimar 2004, S. 111–130, hier 111, bezeichnet die „Zeit vom ausgehenden Mittelalter bis 1650 als entscheidende Phase in der breitenwirksamen Durchsetzung ärztlicher Deutungsmacht“. JÜTTE, Ärzte, S. 17, räumt ein, dass „Tendenzen zu einer von der Obrigkeit geförderten Monopolbildung“ sich zu dieser Zeit bereits abgezeichnet hätten. Vgl. zur Ausbildung von Handwerkschirurgen die Studie von Sabine SANDER, Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 83), Göttingen 1989, S. 54–57 u. 143–176; zum frz. Hof DERUISSEAU, Krankheit, S. 1799; APPELT, Vapeurs, S. 26 u. 31. Vgl. STOLBERG, Heilkundige, S. 73. Dieses Hierarchieverhältnis war in den Medizinalordnungen gesetzlich verankert.

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ausgeschüttet habe. Damit hätten die Ärzte sich am Tod der Königin schuldig gemacht.286 Als Fagon, der spätere Leibarzt des Königs, dem anwesenden Barbier befahl, die Königin zur Ader zu lassen, habe sich das folgende Gespräch ergeben, in dem der Barbier, ein Monsieur Gervais, eingewendet haben soll: Mr. y songés Vous bien, ce sera la mort de ma maitresse. Fagon sagte: Faites ce que je Vous ordonne, Gervais! Der Barbier weinte die bittersten Thränen, und sagte zu Fagon: Vous voulez donc que ce soit moi, qui tue la Reine, ma maitresse? Um 11 Uhr ließ er sie zur Ader, um 12 gab er ihr ein émetique, um 3 Uhr Nachmittages war sie todt.287

Obwohl der Barbier sich also durchaus sicher war, dass der Aderlass den Tod der Königin nach sich ziehen könne, nahm Fagon seine Warnungen nicht ernst. Seine Anordnungen duldeten, Elisabeth Charlotte zufolge, keinen Widerspruch. Für sie war das Wirken der gelehrten Ärzte am Krankenbett jedoch so augenscheinlich falsch und unheilvoll, dass sie immer wieder resümierte, man habe die Kranken ums Leben gebracht, als wenn man ihnen eine Pistole im Kopf288 geschossen hätte. Elisabeth Charlotte bekundete in ihren Briefen hingegen mehrfach, wie sehr sie praktisches Wissen schätzte und wie wenig sie bereit war, einem professionell qualifizierten Arzt per se auch eine qualitativ hochwertigere Behandlungsleistung zu unterstellen. Problematisch war aus Elisabeth Charlottes Sicht grundsätzlich, dass Mediziner in vielen Fällen gar keine Kenntnis vom individuellen Wesen der jeweiligen Krankheiten hatten.289 Somit kam es vergleichsweise leicht zu Behandlungsfehlern, die Elisabeth Charlotte zuhauf schilderte – wie etwa bei der Cousine des Königs, der Duchesse de Montpensier (1627–1693), deren Krankheit die Ärzte nicht gekannt und ihr fälschlicherweise mit Brechmittel den Darm erhitzt hätten,290 oder beim

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An Sophie, St. Cloud, 1.8.1683, NLA-HStAH, I, 284r, vgl. B, 1, 44, S. 57: Montags nachts bekam sie das fieber und vergangenen Freitag umb 3 uhr nachmittags ist sie verschieden undt daß durch ignorentz der docktoren, welche sie umbs leben gebracht, alß wenn sie ihr einen degen ins hertz gestoßen hetten, sie hatten ein geschwer unter dem linken arm, welches sie ihr durch viellen aderlassen wider ins leib getrieben haben, undt zu letzt haben sie ihr vergangenen Freitag esmetique geben, welches das geschwer hatt innerlich auffbersten machen. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 308. An C. v. Wales, o.O., 12.12.1719, A, 3, S. 143–144. Vgl. zu Fagon auch An Sophie, Paris, 5.11.1693, NLA-HStAH, IV, 102v–103r; An Étienne Polier, o.O., 13.2.1703, VdC, Lf, 238, S. 275. An C. v. Wales, o.O., 6.6.1719, A, 2, S. 242. S. auch An Luise, Paris, 25.11.1717, HO, 3, 867, S. 133, Versailles, 15.8.1715, HO, 2, 722, S. 608, diese Schilderung deutlich relativierend Versailles, 27.8.1715, HO, 2, 724, S. 618; An Amalie Elisabeth, Versailles, 14.8.1707, HO, 2, 376, S. 37; An Sophie, St. Cloud, 1.8.1683, NLA-HStAH, I, 284r, vgl. B, 1, 44, S. 57, 27.9.1696, GWLB/NLB, 54v–55r. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 302; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 155. An Sophie, Versailles, 14.1.1712, NLA-HStAH, XXII,1, 25r–25v: alles was hir in franckreich ist von dem ersten biß zum letzten glauben alle die doktoren alß wen ihre kunst jnvallible und tumb auff beßer teütsch zu sagen unfehlbar were da doch keine unsichere ist in dem alle menschen so different sein innerlich alß durch die gesichter also ob es ihnen ich sage den doktoren zwar glückt eine person zu couriren so fehlen sie mehr alß hundert, habe also gar keinen glauben ahn ihnen. Vgl. An Sophie, Marly, 9.4.1693, NLA-HStAH, IV, 65v–66r, vgl. B, 1, 167, S. 183: sie [Anne Marie Luise d'Orléans, eine Tochter des Gaston d‘Orléans] ist von anderst nichts gestorben alß der docktoren ignorentz den sie haben ihr kranckheit nicht gekent, undt sie so mitt esmetique erhitzt daß die inflamation in den darmen kommen undt sie so arg gerafft hat.

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Duc de Glocester, der mit Mitteln gegen das Fleckfieber behandelt worden sei, obwohl er, so Elisabeth Charlotte, zwey geschwer im halß hatte, so ihn erstickt hätten.291 Als die ärztliche Zunft bei der Krankheit Amalie Elisabeths im Sommer 1709 vor einem schier unlösbaren Rätsel zu stehen schien, schrieb Elisabeth Charlotte, die schwierigen diagnostischen Bedingungen der frühneuzeitlichen Medizin aufmerksam reflektierend: Wen wir arme menschen ein fenster in den magen hetten, wo die docktoren nein sehen könten, glaube, daß sie mittel finden würden, die leütte zu couriren, aber weillen sie alles rahten müssen, ist es kein wunder, daß alles so unsicher bei ihnen ist.292

Aufgrund dieser Zusammenhänge schätze sie es, wenn Ärzte sich trauten, ihre Unwissenheit einzugestehen. Anerkennend schrieb sie etwa 1699 über Dr. Brunner, den Leibarzt des pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm (1658–1716),293 sie sei froh, dass er seine unwißenheit gestanden habe und nicht wie seine Kollegen auf gut Glück behandele.294 Genau diese Ehrlichkeit vermisste sie jedoch bei den gelehrten Ärzten am französischen Hof. Ihrer Meinung nach seien sie letztlich nur dume teüffel, wenn sie beharrlich glaubten, es seyen keine beßere[n] in der weldt, alß sie.295 In auffallend ähnlicher Weise hatte sich auch Elisabeth Charlottes Tante Sophie schon im September 1700 in einem Brief an Raugräfin Luise geäußert. Auch sie schrieb: Es ist mir herzlich leit, daß so viel Doctoren bey dero schwester consultirt werden, dan ich halte sie alle vor charlottans, die viel raisonniren undt doch nicht radten können was man ihm [sic!] leib hatt.296 291

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Vgl. An Sophie, Port Royal, 19.9.1700, NLA-HStAH, X,2, 612v, vgl. B, 1, 427, S. 416 [sic! Datum]: die docktoren haben den duc de Glocester [(1689–1700) ein Sohn der späteren englischen Königin Anne (1665–1714)] umbs leben bracht, sie brauchten ihm vor das fleckfieber undt er hatte zwey geschwer im halß, so ihn erstickt haben, sonst war er gesundt. S. auch anlässlich der Krankheit der ersten Dauphine Maria-Anna An Sophie, St. Cloud, 5.6.1689, NLA-HStAH, II, 375r–375v, vgl. B, 1, 88, S. 109: Unßere madame la dauphine ist woll nicht vergifft aber sie wirdt je lenger je baufalliger undt es ist mir todtbang daß es nicht lang wehren wirdt. Im ahnfang sagten die tocktoren umb ihren cour zu machen ahn etliche alte weiber so ich nicht nehmen mag, E.L. aber woll rahten könen, daß made la dauphine hipocondre seÿe undt sich nur einbild daß sie kranck were, damitt haben sie das übel so einfressen lassen daß ich förchte daß nun schwerlich raht wirdt zu finden sein nun sie aber gantz bettlägerich ist müßen die docktoren woll gestehen daß es eine rechte kranckheit ist aber sie seindt gar ignorant undt wißen nichts alß bourgiren aderlaßen undt clistiren, undt damit ist made la dauphine nicht geholffen. Vgl. auch VOSS, Fürstin, S. 53. An Luise, Marly, 5.5.1709, HO, 2, 420, S. 99. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 313 u. 320. Vermutlich handelt es sich hier um Johann Konrad Brunner (1663–1727), der seit 1687 eine Professur für Medizin in Heidelberg innehatte und seit 1685 Leibarzt des pfälzischen Kurfürsten war. Er behandelte unter anderem auch Caroline v. Wales. S. dazu An C. F. v. Harling, Paris, 2.4.1721, H, 398, S. 692. An Luise, Fontainebleau, 1.10.1699, HO, 1, 96, S. 175: Ich weiß es danck ahn dem docktor Bruner, seine unwißenheit gestanden zu haben; den ordinari stellen sich die herrn docktoren, alß wen sie die kranckheitten recht kenten, geben remedien undt wißen doch nicht, waß es ist, undt schicken manchen so in jener welt. Vgl. auch ALBERT, ermite, S. 25, Anm. 25 sowie An Étienne Polier, Versailles, 5.2.1703, VdC, Lf, 185, S. 242: Je ne sais si du temps de Sénèque les médecins étaient meilleurs que dans ce temp-ci, mais pour le present, je suis persuade qu’ils travaillent fort à hasard. An Luise, Paris, 18.10.1715, HO, 2, 736, S. 655. Sophie an Luise, Herrenhausen, 5.9.1700, in: BODEMANN (Hg.), BK, 220, S. 205.

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Sophie verstand den Leib also als etwas, das sich dem ärztlichen Erkenntnisstreben widersetzte – als „andere Welt“297 , vor der letztlich nur die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten einzugestehen blieb. Auch sie lobte wie ihre Nichte deshalb explizit ein Gegenbeispiel: den Iatrochemiker und Arzt Otto Tachenius (1610–1680)298 – genannt Dr. Tac. Ihn fand Sophie aufrichtig, da er vor Ergreifen einer Behandlungsmaßnahme erklärte, dass er sich über den Erfolg nicht sicher sein könne.299 Schon 1664 hatte sie in einem Brief an ihren Bruder über Tachenius berichtet, dieser halte die gesamte Medizinerschaft für ‚ignorant‘ und erfolgreiche Behandlungen primär für glückliche Zufälle, denn: tant plus qu'on estudie la medicine tant plus on trouve, qu'on n'en scait rien et qu'il n'y a que l'expérience, qui luy a apris quelque chose.300 Eine ganz ähnliche skeptische Einstellung gegenüber gelehrtem ärztlichen Wissen301 findet sich auch in der Korrespondenz Karl Ludwigs, der der gesamten Ärzteschaft mehrfach unehrliche Geschäftstüchtigkeit unterstellte.302 Nach einer Unterredung mit dem der kurpfälzischen Familie seit längerem bekannten Franciscus Mercurius von Helmont (1614–1699),303 in der dieser Milz und Magen als das Duumvirat der Natur des Menschen bezeichnet hatte, sah sich der Kurfürst in seiner Auffassung bestätigt, dass die meisten Krankheiten nur aus ökonomischen Absichten

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Barbara DUDEN, Body history – Körpergeschichte. A Repertory – Ein Repertorium (Reihe Tandem – Kultur- und Sozialgeschichte 1), Wolfenbüttel 1990, S. 125–126. Vgl. TAKE, Tachenius, bes. S. 106–117. Sophie an Luise, Herrenhausen, 5.9.1700, in: BODEMANN (Hg.), BK, 220, S. 205–206: Dr. Tac war aufrichtig: wan man sich klagte undt ihn fragte, wo es herkäme, daß man ehns oder anders fülte, sagte er platt aus: „Ich weis es nicht; wolt ihr aber haben, daß ich euch soll eine harangue tharher machen, wie andere lügen, will ich es thun“, nente aber tharbey remedien sagte: „Disses habe ich ehnem gegeben, der sich auch so klagte, wie ihr thut, dem hatt es geholffen; wolt ihr es versuchen, vielleicht wirdt es euch auch helffen“, undt war gelücklich in seine curen. Sophie an Karl Ludwig, Osnabrück, Venedig, 15.8.1664, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 79, S. 74; dt. Übers: TAKE, Tachenius, S. 108–109: „Dr. Tac sagt frei heraus, daß alle Mediziner Ignoranten seien und daß es reiner Zufall sei, wenn sie jemand heilten. Und je mehr man Medizin studierte, je mehr fände man, daß man nichts wüßte und daß es nichts als Erfahrung gebe, die einen etwas lehrte.“ Vgl. Sophie an Karl Ludwig, Osnabrück, 30.6.1678, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 334, S. 330: ils [die Ärzte] aiment mieux souvant consulter des livres qui ne peuvent servir de rien à milles accidants, auquels les pauvres mortels sont sujects. Zu Sophies Ärztekritik s. auch das Bsp. ihres im Kindesalter verstorbenen Bruders Gustav Adolf (* 14. Januar 1632 in Den Haag; † 9. Januar 1641); VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 40–41; dt. Übers. TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 26; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 15: „Es macht einen schaudern, wenn man daran denkt, und läßt die Unwissenheit der Ärzte erkennen, deren er während seines ganzen Lebens eine Menge hatte.“ Dementsprechend vertraute auch Sophie auf die Hilfe alternativer Heiler. S. dazu etwa Sophie an Luise, Herrenhausen, 6.6.1697 u. 9./19.7.1697, in: BODEMANN (Hg.), BK, 166, S. 158 u. 168, S. 159; An Sophie, St. Cloud, 13.6.1697, NLA-HStAH, VII,1, 276r–276v (Zit. 276r), vgl. B, 1, 293, S. 290 [sic! Datum]: daß die docktoren gegen den von nort sein, ist leicht zu glauben, den waß sie nicht selber ordoniren aprobiren sie nie, E.L. haben woll groß recht über die docktoren ungedultig zu sein, es wundert eben so woll alß E.L. daß oncle ihrer nicht eher müde geworden ist, gott der allmächtige wolle deß von norts tropffen segnen. Ebd., 1.9.1697, NLA-HStAH, VII,2, 400r, vgl. B, 1, 308, S. 303; Sophie an Luise, Herrenhausen, 25.8.1697, in: BODEMANN (Hg.), BK, 170, S. 162. Vgl. auch KNOOP, Kurfürstin, S. 221; VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 91. Karl Ludwig an Sophie, Heidelberg, 15./25.6.1678, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 333, S. 328. S. 2.III. u. FORSTER, Illness, S. 316–317, demzufolge Karl Ludwig nicht an die chemischen Medikamente Van Helmonts geglaubt hat.

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von den Ärzten erfunden würden.304 Mehrmals rekurrierte auch Elisabeth Charlotte auf diese in helmontischen Kreisen weitverbreitete Kritik an den monetären Ambitionen (galenischer) Mediziner305 und erinnerte sich daran, wie ihr Vater zu sagen pflegte: es kan nie woll in der welt hergehen – biß man die welt von 3 ungeziffer reiniget, pfaffen – dockter, undt advocaaten.306 Im Dezember 1705 schrieb sie auf die gemeinsame Erziehung durch Karl Ludwig anspielend an ihre Halbschwester Amalie Elisabeth: Bey I.G. unßern herr vatter s. habt Ihr daß vertrawen zu den docktoren nicht gelehrnt. Wo ist es Eüch den ahnkommen?307 Bis in die Briefe von Elisabeth Charlottes Großmutter Elizabeth Stuart, die auch als Ahnin der familiär geteilten ‚guten Natur‘ galt (2.II.1), kann nachvollzogen werden, wie verbreitet es in der kurpfälzischen Familie war, ignorance or malice308 im Verhalten der akademischen Ärzte zu kritisieren. Den Barbieren am französischen Hof vertraute Elisabeth Charlotte indes in diesem Punkt ebenfalls nicht uneingeschränkt.309 Ihre Selbstinszenierung als Verfechterin praktischer Kenntnisse und einer möglichst ursprünglichen Medizin ging sogar so weit, dass sie sich bei der Erstversorgung eines Armbruchs, den sie sich 1697 auf der Wolfsjagd nach einem Sturz vom Pferd zugezogen hatte, einem gar geschickte[n] balbirer aus dem nächstgelegegenen Dorf anvertraute, statt auf den Barbier des Königs zu warten.310 Ein herbeige304

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Karl Ludwig an Sophie, Heidelberg, 15./25.6.1678, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 333, S. 328: Le vieux Helmond dit, que l’estomac et la ratte font le duumvirat de la nature de l’homme, ce qui fait croire, qu’il n’y a que deux maladies, quand ceux là se portent mal, le reste n’estant que charlatanerie des medecins pour gagner de l’argent pour eux et pour les apotecaires. Vgl. WEAR, Knowledge, S. 372–374. An C. F. v. Harling, Paris, 14.12.1719, H, 343, S. 573–574. S. ebenso An Sophie, Fontainebleau, 1.10.1704 u. Versailles, 24.3.1695, NLA-HStAH, XIV, 359v–360r, vgl. B, 2, 548, S. 88 [sic! Datum] u. V, 162v, vgl. B, 1, 203, S. 214. An Luise, Paris, 11.4.1720, HO, 5, 1112, S. 114. Vgl. auch FORSTER, Illness, S 316. An Amalie Elisabeth, Versailles, 17.12.1705, HO, 1, 284, S. 431. Ganz anders verhielt sich das am frz. Hof: An Sophie, Marly, 24.4.1712, NLA-HStAH, XXII, 276v: Monsieur le duc de berry befindt sich nun woll gott lob er wirdt eben von selben glauben ahn die doktoren haben alß seine vorfahtern (?) von kindtheit auff erzieht man die leütte dazu sich gleich blindtling in der doktoren händen zulieffern. Elisabeth an Karl Ludwig, Den Haag, 6./16.11.[1650], in: WENDLAND (Hg.), Briefe, 6, S. 11: in his [Wilhelm II. von Oranien] sickness he desired his Phisitian to tell him when he shoulde be in danger, that he might take a uill, or indeed sign it, for it was all uritten to the signing, where he left something to all his seruants, but Vestrate either out of ignorance or malice woulde not confess he was in danger when all the other saide it, he did treat him verie strangelie, and gaue him so manie coaling [cooling?] things that it killed him. Elisabeth räumt jedoch ein, man dürfe die Ärzte aufgrund ihrer eingeschränkten Handhabe nicht über Gebühr verantwortlich machen. Vgl. Elisabeth an Karl Ludwig, Den Haag, 8./18.10.1660, in: ebd., 117, S. 176–177: Phisicians cannot giue life and so cannot be so much blamed, I may say so because of my deare Nephue, the Duke of Glosters. Sie kritisierte das Vertrauen der Barbiere in galenische Heilmethoden, deren Bestechlichkeit sowie einen gewissen Dünkel ob ihrer Position am frz. Königshof. Vgl. etwa An Luise, St. Cloud, 10.9.1719, HO, 4, 1051, S. 235; Fontainebleau, 16.9.1714, HO, 6, 663, S. 446; An Amalie Elisabeth, Versailles, 21.1.1706, HO, 1, 289, S. 436. Ähnlich auch Sophie an Luise, Hannover 13.10.1708, in: BODEMANN (Hg.), BK, 323, S. 289. Vgl. An Luise, St. Cloud, 21.6.1697, HO, 1, 50, S. 87: Man suchte gleich deß königs balbirer, konnte ihn aber nicht finden. Er hatte ein huffeyßen verlohren undt war in ein ander dorff geritten, sein pferdt beschlagen zu laßen. Ein bawer, so eben da war, sagte, daß zwey meil von dar ein gar geschickter balbirer were, so alle tag arm und bein einrichtete. Wie ich hörte, daß er eine so große experientz hatte, setzte ich mich in calesch und fuhre hin, litte

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eilter Bauer habe sie von der große[n] experientz des Dorfbarbiers, so alle tag arm und bein einrichtete, überzeugt und so habe sie ihren Arm an Ort und Stelle von ihm einrenken lassen. Für andere Personen ihres Standes wäre undenkbar gewesen,311 den eigenen hochadeligen Leib einem Dorfbarbier anzuvertrauen – Elisabeth Charlotte jedoch meinte im Nachhinein, ihrer Hochschätzung für die ‚einfachen Leute‘ und deren praktisches Wissen entsprechend, der Dorfbarbier habe bessere Arbeit geleistet, als es ihrem Personal am Hof je möglich gewesen wäre.312 Darüber hinaus sprach Elisabeth Charlotte in ihren Briefen auch heilkundige Frauen an, deren Wissen durch das Handlungsmonopol der gelehrten Ärzte am französischen Hof zunehmend unwichtig werde. Auch in höfischen Kreisen hatten Frauen, vor allem weibliche Bedienstete wie Kammerfrauen, Hofmeisterinnen und Gouvernanten, im Falle von Krankheit zumeist als erste Anlaufstelle fungiert.313 Ihre Kenntnisse in der Krankenbehandlung beruhten einzig auf praktisch erworbenem Handlungswissen im Umgang mit Kranken. Im theoretischen Sinne waren sie anders als die Barbiere allerdings vollkommen ungelernt und – mit Ausnahme der Hebammen – auch nicht berufsständisch organisiert.314 Wie wissensgeschichtliche Forschungen im Anschluss an Foucault zeigen konnten, setzte im Laufe der Frühen Neuzeit ein zwar keineswegs linear ablaufender, aber doch langfristig wirkender Prozess der Selektion von ‚wahrem‘ und ‚falschem‘ Wissen vom Körper ein. In der Medizin war dieser gleichbedeutend mit Professionalisierungstendenzen, in deren Folge praktisches Handlungswissen abgewertet wurde. Damit wurden vielfach gerade die Akteurinnen von der berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ausgeschlossen – mit weit reichenden Konsequenzen für die Geschlechterverhältnisse, wie verschiedene Studien, vor allem zum Hebammenwesen, zeigen konnten.315 Gleichzeitig

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große schmertzen unterwegens; so baldt er mir aber den arm wider eingericht hatte, fühlte ich gar keine schmertzen mehr, setzte mich derowegen wider in calesch und fuhre im vollen drab her. S. auch An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 19.7.1697, HO, 1, 51, S. 89; KNEBEL, Überlebensstrategie S. 229. Vgl. dazu FORSTER, Illness, S. 301 u. 314. Vgl. An Luise, 21.6.1697, HO, 1, 50, S. 87. Ihre Leibbarbiere hätten den Dorfbarbier überredet, den Verband zu öffnen, um sicherzustellen, dass sie nicht den kalten brandt bekomme. Dies habe jedoch eine geschwulst verursacht, wegen der sie die Hand nicht mehr habe bewegen können. Die Verdrängung von Frauen aus der medizinischen Praxis ist insbesondere für städtischfrühbürgerliche Kontexte untersucht worden. Zu England s. Margaret PELLING, Thoroughly Resented? Older Women and the Medical Role in Early Modern London, in: Lynette HUNTER u. Sarah HUTTON (Hg.), Women, Science and Medicine 1500–1700. Mothers and Sisters of the Royal Society, Stroud 1997, S. 63–88, hier 67 u. 70 sowie für Frankreich Susan BROOMHALL, Women’s medical work in early modern France, Manchester 2004, S. 20–24, 38–39, 66 zum höfischen Umfeld S. 186–213. Vgl. STOLBERG, Heilkundige, S. 73. Dies gilt nicht für das frühneuzeitliche England, vgl. SCHIEBINGER, Geister, S. 159. Die neuere Forschung hat die Vorstellung eines linearen Prozesses der Verdrängung weiblicher Hebammen durch männliche Ärzte allerdings relativiert. Vgl. aus der Fülle der einschlägigen Literatur etwa Jean DONNISON, Midwives and Medical Men. A History of the Struggle for the Control of Childbirth, London 1988, S. 34–51; Adrian WILSON, The Making of Man-Midwifery: Childbirth in England 1660–1770, Cambridge MA 1995, S. 199–201; Jacques GÉLIS, La sage-femme et les médecins, Paris 1988, bes. S. 490–491; SCHIEBINGER, Geister, S. 157–162; LOETZ, „Medikalisierung“, S. 140; LINDEMANN, Medicine, S. 126–128.

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blieben Frauen weitgehend vom Universitätsstudium und damit vom Zugang zum Erwerb gelehrten Wissens ausgeschlossen.316 Diese Professionalisierungstendenz in der Medizin war in einen allgemeinen Prozess der Verwissenschaftlichung vielfältiger gesellschaftlicher Bereiche eingebettet. Die von alters her weiblich konnotierte Natur wurde dabei mehr und mehr zum Untersuchungsgegenstand einer männlich konstituierten und dominierten Wissenschaft, deren Ziel es war, sie durch genaue Beschreibung und Analyse, also durch menschliche (d.h. männliche) Kulturleistungen zu unterwerfen.317 Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Heilkunde waren also tendenziell gleichbedeutend mit der Festlegung ihrer Akteure auf das männliche Geschlecht. Die Briefe Elisabeth Charlottes reflektieren diese langfristigen Tendenzen und strukturellen Veränderungen nicht nur punktuell zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in einem spezifischen Sozialraum, sondern auch aus einer persönlichen Perspektive.318 Sie beklagte in ihren Briefen explizit, dass die akademisch gebildeten Ärzte sich der Geburtshilfe bemächtigt hätten. Tatsächlich lag diese am französischen Hof und in dessen Umfeld um 1700 bereits weitgehend in der Hand von Männern – der berühmte Accoucheur Julien Clément hatte beispielsweise die Kinder der Dauphine Marie-Adelaïde und Madame de Montespans entbunden.319 Aber auch ihre eigene Tochter Elisabeth Charlotte hatte Clément eigens an den lothringischen Hof rufen lassen, um ihr bei der Geburt ihres ersten Sohnes beizustehen – eine heßliche mode aus Elisabeth Charlottes Sicht. Ihren Kindern, genauso auch denen der Königin, Madame la Princesse und der 316

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Vgl. PELLING, Thoroughly Resented?, S. 70; SCHIEBINGER, Geister, S. 32–36 u. 40–49. Eine Ausnahme bildete das frühneuzeitliche Italien, wo einige wenige Frauen zum Universitätsstudium oder zur Mitgliedschaft in den neu entstehenden wissenschaftlichen Akademien zugelassen wurden. Vgl. SCHIEBINGER, Geister, S. 180–181 u. Londa SCHIEBINGER, Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft, Stuttgart 1995, S. 13–14 u. 21; DONNISON, Midwives, S. 11; KELLER, Liebe, S. 45–50; Sandra HARDING, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg 1990, S. 120–124 u. Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt, New York 1994, S. 57– 58; MERCHANT, Tod, S. 17–18; Sherry B. ORTNER, Is Female to Male as Nature Is to Culture?, in: Michelle Zimbalist ROSALDO u. Louise LAMPHERE (Hg.), Woman, Culture, and Society, Stanford 1974, S. 67–87, hier 83–84. Die feministische Anthropologin argumentiert, Frauen seien tendenziell in allen bekannten Gesellschaften mit der von menschlichen Kulturleistungen unberührten ‚Natur‘ identifziert bzw. assoziiert worden, was zur Rechtfertigung ihrer unterdrückten sozialen Position herangezogen worden sei. Astrid DEUBER-MANKOWSKY, , Natur/Kultur, in: Christina von BRAUN u. Inge STEPHAN (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Geschlechter-Theorien, Köln, Wien, Weimar 2005, S. 200–219, hier 207–208; SHAPIN, Revolution, S. 111 u. 105 bezieht sich hier auf den englischen Arzt und Physiker William Gilbert (1544–1603), der die aristotelische Naturauffassung als „Geschwätz alter Weiber“ bezeichnete. Vgl. dazu Francis BACON, The Masculine Birth of Time (1603), in: Benjamin FARRINGTON, The Philosophy of Francis Bacon. An essay on its development from 1603 to 1609 with translation of fundamental texts, Chicago 1966, S. 61–72, bes. 62: „No; I am come in very thruth leading to you Nature with all her children to bind her to your service and make her your slave.“ Vgl. BROOMHALL, Work, S. 187, die auf den Quellenwert familiärer Korrespondenzen für Erforschung weiblicher medikaler Fürsorge an den Adelshöfen hinweist. Vgl. DONNISSON, Midwives, S. 33; Eva LABOUVIE, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln, Wien, Weimar 1998, S. 134–137, bes. 103–112 u. 136–137, macht deutlich, dass diese Entwicklung Ende des 17. Jhd.s im frz. Hochadel begann, während zeitgleich im Landadel noch vollkommen andere Geburtsumstände herrschten.

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Herzogin von Zelle, habe eine französische Hebamme namens Madame Robinet auf die Welt geholfen,320 einen Mann habe sie in ihrem kindtbett nicht geduldet: aber itzige zeit, ist kein eintzige fraw von qualitet so eine hebame hatt, es seindt lautter Mäner so sie helffen. Unter unß gerett, so setzte sie fort, ich finde daß die junge weiber frech macht undt die schamhafftigkeit benimbt, so sie sonsten vor die Mäner hätten. Ihr Widerspruch sei jedoch nicht gefragt und so habe sie nun auch eingestellt, sich auf die heÿlige schriefft zu beziehen, umb zu beweißen daß die hebamen zu allen zeitten weiber geweßen seien.321 Als man im März 1721 den Tod des kleinen Prinzen von Sachsen der Hebamme anlastete, vermutete Elisabeth Charlotte, dass die balbirer, (…) daß vorgeben, damitt man sie – wie hir – gebrauchen mag.322 Daneben hatten die Ärzte laut Elisabeth Charlotte aber auch noch ein weiteres traditionelles Aufgabenfeld weiblicher Heilkundiger ‚okkupiert‘: die Gesundheitsversorgung von Kindern.323 Schon während ihrer ersten Schwangerschaft 1672 hatte sie zum Ausdruck gebracht, wie sehr sie den männlichen Ärzten am französischen Hof in Sachen Kinderheilkunde misstraute. Ihrer früheren Hofmeisterin schrieb sie: Wan aber diß eÿ einmahl außgebrühtet wirdt sein, so wolt ich – daß ichs euch auff der post nach Osnabruck schicken könte, den ihr versteht euch beßer auff diß handtwerck alß alles – waß hir im gantzen landt ist; Vndt bin ich versichert mitt meiner eÿgenen experientz – daß es woll versorgt sein würde; Aber hir ist kein kint sicher – den die dockter hir haben der königin schon 5 in die ander welt geholffen. Daß letzte ist vor 3 wochen gestorben; Vndt 3 von Monsieur – wie er selber sagt – seindt auch so fort geschickt worden.324

In dieser Aussage deutete Elisabeth Charlotte zwei Parteien in einem Konflikt um das richtige Aufziehen von Kindern an: Auf der einen Seite stand mit Anna Katharina von Harling eine Frau mit umfassenden Kenntnissen im Umgang mit Kindern. Auch wenn sie zwar nie selbst Kinder geboren hatte, stand sie 1672 seit etwa 20 Jahren als Hofmeisterin und Gouvernante in höfischen Diensten.325 Erfahrung ist hier im doppelten Sinne zu verstehen: Zum einen hatte Frau von Harling also weitreiche Erfahrung in der Kinderpflege; zum anderen war es Elisabeth Charlottes eÿgene[n] experientz mit der Hofmeisterin, die sie auf deren Kenntnisse vertrauen ließ.326 In ihrer Gegenüberstellung scheint Elisabeth Charlotte mit alles – waß hir im landt ist die gesamte französische Hofgesellschaft 320

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An A. K. v. Harling, Paris, 9.3.1721, H, 397, S. 688; Vgl. auch St. Cloud, 30.5.1676, H, 43, S. 132; FORSTER, Illness, S. 307. Bei E. Ch.s eigener Geburt waren A. K. v. Harling und offenbar auch ihre Tante Sophie behilflich. Vgl. dazu An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 98r. An Sophie, Fontainebleau, 16.9.1699, NLA-HStAH, IX,2, 516r–517v. An A. K. v. Harling, Paris, 9.3.1721, H, 397, S. 688. Vgl. BROOMHALL, Work, S. 187 u. 191; PELLING, Thoroughly Resented?, S. 77. An A. K. v. Harling, Versailles 23.11.1672, H, 27, S. 106–107. Vgl. im Folgenden die Darstellung bei VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 220–222; VOSS, Zeuge, S. 200; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 153. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 31–40. Vgl. in diesem Sinne auch An A. K. v. Harling, St. Germain, 18.11.1674, H, 35, S. 120: Ich wünsche euch gar offt zu sehn – aber insonderheit wan meinen kindern waß fehlt – den dencke ich woll hundertmahl – wan mein lieb fraw von Harling hir were – so würde sie ihnen mehr helffen alß alle docktoren: Ob zwar mein wunsch euch zu sehn in dießem moment also etwaß interessirt ist, so sst er doch desto naturlicher vndt leicht zu glauben,vndt entspringt all eben woll auß einen großem vertrawen her, welches ich woll vrsach habe zu euch zu tragen – in dem ihr mich ja von gantz klein selber aufferzogen.

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anzusprechen. Der sich anschließende Halbsatz jedoch charakterisiert die französische Kinderheilkunde als eine, die von gelehrten (männlichen) Ärzten dominiert wurde. Es handelt sich um ein häufig begegnendes Muster in ihren Briefen, wenn Elisabeth Charlotte an dieser Stelle resümiert, diese dockter hätten schon so vielen Kindern in die ander welt geholffen.327 Als ihr Sohn Alexandre Louis im Alter von zwei Jahren tatsächlich über einen längeren Zeitraum kränkelte, zog Elisabeth Charlotte die schon angedeuteten Konfliktlinien noch einmal nach: Von der Ignoranz der Ärzte, die nichts wüssten als Aderlassen und Purgieren und so manche Krankheit verkannten, mochte sie sich und die Ihrigen nur zu gern behüten. Wenn ihre Kinder krank seien, denke sie dagegen woll hundertmahl an Frau von Harling, die ihnen besser helfen könne alß alle docktoren.328 Auf eigentümliche Weise treffen sich in diesen Erklärungen also geschlechtsbezogene und kulturräumlich orientierte Erklärungselemente in einer Entgegensetzung von weiblich konnotiertem Erfahrungswissen als medikalem Konzept ihrer Herkunftsfamilie und der am französischen Hof von männlichem Gelehrten vertretenen Medizin. Parallel zur Natur, die in der Vorstellungswelt von Elisabeth Charlottes Familie entsprechend der antiken und mittelalterlichen Tradition weiblich konnotiert war,329 galt das Erfahrungswissen über das eigenständige Wirken der Natur als dezidiert weibliches Wissenssystem. Diese geschlechterspezifische Konnotation des Erfahrungsbegriffs tritt in Verbindung mit der bereits bekannten Bewertung der gelehrten Medizin in einem Brief Sophies von Hannover noch deutlicher zu Tage. Als Raugräfin Amalie Elisabeth im Frühsommer 1709 schwer erkrankt war, meinte die Kurfürstin, es hilft oft ein alt weib-remedi, da man experiens von hatt, mer als was alle Docktoren geben.330 Das hier aufgerufene Stereotyp von der wirkungsvolleren Krankenbehandlung durch eine heilkundlich erfahrene ältere Frau wird wiederum als familiär geteilte Auffassung greifbar. Auch Elisabeth Charlottes Vater, Kurfürst Karl Ludwig, hatte im Briefwechsel mit Anna Gonzaga ja mit seiner Intervention zugunsten von Ursula Maria Kolb als Begleitung Elisabeth Charlottes am französi327

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An A. K. v. Harling, Versailles 23.11.1672, H, 27, S. 106–107. Vgl. spätere Aussagen anlässlich des Todes des Duc de Bretagne 1704–1705, eines Sohnes der Dauphine Marie-Adélaïde, An Luise, Marly, 16.4.1705, HO, 1, 241, S. 386; An Amalie Elisabeth, Marly, 18.4.1705, HO, 1, 242, S. 388. An A. K. v. Harling, St. Germain, 18.11.1674, H, 35, S. 120. Vgl. auch An Sophie, St. Cloud, 27.9.1687, NLA-HStAH, II, 250v, vgl. B, 1, 72, S. 86–87. S. 2.III. In bildlichen Darstellungen aus dem Mittelalter wird die Natur als weibliches Pendant zu Gottvater dargestellt. Vgl. Mechthild MODERSOHN, Natura als Göttin – eine Personifikation zwischen Mythos und Aufklärung, in: Peter DILG (Hg.), Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes Marburg, 14.–17. März 2001, Berlin 2003, S. 84–110 u. ausführlicher Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur (Acta humaniora, Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie), Berlin 1997; SCHOTT, Natur, S. 393–396; MERCHANT, Tod, bes. S. 16 u. 40. Sophie an Luise, Herrenhausen, 13.6.1709, in: BODEMANN (Hg.), BK, 346, S. 310. Im Brief An Sophie, Marly, 8.8.1709, NLA-HStAH, XIX,2, 603v erinnerte sich E. Ch., wie ihre Tante ihr früher eine Zitronenpomade zur Behandlung ihrer Insektenstiche herstellen ließ. Dies legt nahe, dass Sophie sich selbst als heilkundige Frau betrachtet haben könnte. Zur positiven Bewertung von Heilkundigkeit bei hochadeligen Frauen vgl. auch An Sophie, Marly, 7.5.1711, NLA-HStAH, XXI,1, 402r–402v: seine fraw mutter [Eleonore Magdalene zu Pfalz-Neuburg, Mutter des 1711 verstorbenen Kaisers Joseph I.] habe ich alß gehört habe so gar gutte remedien vor die kinderblattern auch so daß sie einen von den Lotheringischen Printzen woll couriret hatt.

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schen Hof für eine auf geschlechtlich codiertem Erfahrungswissen beruhende alt weibMedizin optiert.331 Von dieser zeigte Elisabeth Charlotte sich einmal mehr überzeugt, als sie 1714 ein Rezept wiedergab, mit dem Frau von Harling Ernst August von Hannover von schmerzenden geschwer im ohr erfolgreich kuriert hatte. Sie ließ ein schwartz brott backen, worinen man lorber in den teich [Teig] gethan, schnitt es in der mitten auff undt ließ es oncle so heiß, alß er es leyden konnte, vor daß ohr halten: in kurtzer zeit brach es auff, da hatte I.L. s. gar keine schmertzen mehr.332 Die Weitergabe eines weiteren Rezeptes gegen Augenentzündungen belegt, dass neben Frau von Harling auch die Hofmeisterin Kolb heilkundlich bewandert war.333 Die medikalen Kenntnisse der Kolb stünden dem gelehrter Ärzte vielmehr in nichts nach, denn selbst ein gar berühmter docktor in Berlin habe die erschrecklich augenwehe ihrer Tante Elisabeth mit der gleichen Rezeptur für Rosenwasser mit Kandis kuriert.334 Diese Briefpassagen zeigen darüber hinaus, wie ein Rezept über mehrere Personen und Generationen hinweg innerhalb der adeligen Verwandtschaft weitergegeben wurde, denn im März 1693 empfahl Elisabeth Charlotte auch ihrer Tante Sophie, dieses beste remedium bei Ernst August zu versuchen und ebenfalls im März 1719 berichtete sie ihrer Halbschwester Luise davon. Mit der Weitergabe des Rezeptes stellte Elisabeth Charlotte sich selbst in die Tradition der heilkundlich erfahrenen Frauen. Zuvor hatte sie sich in den Briefen an Anna Katharina von Harling als äußerst wissbegierig gezeigt. Schon im März 1674, als ihr Sohn Alexandre Louis zahnte, und danach noch einmal im November desselben Jahres, als die Blattern um sich griffen, bat Elisabeth Charlotte ihre frühere Hofmeisterin um eine Beschreibung, wie das Mylady-Kent-Pulver zu benutzen sei.335 Sie erfragte genaue Angaben über die notwendige Menge für ein fieberndes kindt von einem jahr bis zu einem großen menschen – so beÿ oder vber die 40 ist, ob das Pulver morgens oder abends, vor oder nach dem Essen einzunehmen sei und wie viel Zeit zwischen den Einnahmen liegen müsse.336 Aus Sorge um ihren Sohn versuchte die junge Mutter über ihre Briefe am Wissensschatz der erfahrenen Frau von Harling teilzuhaben. Das Mylady-Kent-Pulver stand als Teil der Rezeptsammlung der Gräfin von Kent 331

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S. ausführlich 2.I. Diese Stereotypen von der Erfahrung älterer weiblicher Bediensteter durch die Vertrautheit im Umgang mit jungen Patientinnen rufen auch die Gemälde des niederländischen Genre-Malers Jan Steen (1626–1679) hervor. Hierzu PELLING, Thoroughly Resented?, S. 66; auch JÜTTE, „Weib“, S. 19; JÜTTE, Ärzte, S. 25. An Luise, Marly, 22.7.1714, HO, 2, 656, S. 410–411. Vgl. auch 18.6.1711, HO, 2, 532, S. 258, Versailles, 23.8.1714, HO, 2, 660, S. 428; zum Heilmittel FORSTER, Illness, S. 311. Vgl. An Luise, Paris, 30.3.1719, HO, 4, 1005, S. 73: Vor die rohte in den augen, wen bludt drin geschoßen, ist ein gar leicht mittel gar gutt; ich habe es probirt, nehmblich die augen mitt weiß roßenwaßer, worinen ein wenig weiß zuckercandie verschmoltzen, undt ein wenig waßer zu waschen undt einen tropffen ins aug zu tropffen laßen; es beist ein wenig, heilt aber gar gewiß. Ich habe dieß remedium von jungfer Colb meiner geweßen hoffmeisterin. An Sophie, Paris, 28.3.1693, GWLB, NLB Ms XXIII, 387b, 13v, vgl. B, 1, 165, S. 181. An Luise, Paris, 30.3.1719, HO, 4, 1005, S. 73: Ich habe dieß remedium von der jungfer Colb, meiner geweßen hoffmeisterin, welche so lange mit unßer tante, printzeß Elisabeth, die abtißin von Herfort, zu Berlin geweßen. Da war damahlen ein gar berühmbter docktor. Printzes Elisabeth bekam erschrecklich augenwehe, der docktor gab ihr ein waßer, daß courirte sie. Wie sie wieder von Berlin verreißen solte, batt sie den docktor, ihr daß recept von dießem kostlichen waßer zu geben; da fandt es sich, daß es nichts anderst war, alß waß ich obgemelt. An A. K. v. Harling, Versailles, 19.3.1674, H, 33, S. 117. Ebd., St. Germain, 18.11.1674, H, 35, S. 120.

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(1582–1651) schließlich selbst in der Tradition weiblicher Heilkunde.337 In den Rezeptbüchern des englischen Adels sind das Mylady-Kent-Pulver und ähnliche Arzneirezepturen allerdings nicht mehr zu finden: Sie wurden schlicht weggelassen oder aber durch Rezepte akademisch gebildeter, das heißt männlicher Ärzte ersetzt.338 Schon etwa nach 1660 verliert sich die Spur der ‚Lady Chemistry‘, die noch die um die Jahrhundertmitte publizierten Werke prägte.339 Auch hierin äußert sich die Abwertung weiblichen Wissens im Zuge des Professonalisierungsprozesses in der Medizin. Elisabeth Charlotte allerdings holte im September 1675, als ihr Sohn an Fieber, Durchfall und Erbrechen erkrankt war, abermals den Rat ihrer früheren Hofmeisterin ein.340 Sie sorgte sich insbesondere, weil man den kleinen Duc de Valois entwöhnt hatte, obwohl zwei Backenzähne noch nicht durchgebrochen waren. Auf Grund der Schmerzen und Schwellungen im Mund aß Alexandre Louis offenbar nur noch unter Zwang.341 In ihrem Brief an Frau von Harling versuchte Elisabeth Charlotte seinen Zustand möglichst genau zu schildern und bat anschließend mein hertzlieb fraw von Harling – sagt mir doch waß euch davon deücht – den woll kein mensch sich beßer auff kinder versteht alß ihr. Aus Sorge es stecke etwaß anders dahinder alß die zähne, schrieb sie Frau von Harling im Oktober in Abstimmung mit Monsieur noch einmal, um sie zu consultiren.342 Daraufhin schien es Alexandre Louis besser gegangen zu sein, bis im April 1676 plötzlich die Nachricht seines Todes in den Briefen folgt.343 Offenbar von Schuldgefühlen geplagt, beklagte Elisabeth Charlotte ihre eigene Unkenntnis in der Kinderpflege. Obwohl sie ihr vnglück von weittem her kommen gesehen habe, sei sie nicht in der Lage gewesen es aufzuhalten: Mein vnglück ist – daß ich gar nicht weiß wie man mitt kindern vmbgehen muß vndt gar keine experientz davon habe. Drumb muß ich glauben waß man mir hir vorschwetzet.344

Elisabeth Charlotte empfand ihre mangelnde persönliche Erfahrung im Umgang mit kranken Kindern als großes Problem. Im Bereich der Kinderheilkunde konnte sie selbst im Jahr 1676 nicht mit Erfahrungswissen aufwarten, um die ärztliche Behandlung zumindest in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der tragische Tod ihres Sohnes hatte ihre Ab-

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Ausführlich 2.IV.1. Vgl. WILSON, Introduction, S. 18. Vgl. HUNTER, Sisters, S. 191. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 14.9.1675, H, 36, S. 121–122: Ach – sagt ich zu Monsieur – wan ich herr vndt meister were – ich weiß woll waß ich thete (waß – sagte er). Ich antwortete – ich schickete meine zweÿ kinder nach Osnabruck in pention vndt wolte die fraw von Harling – so meine hoffmeisterin geweßen vndt jetzt beÿ matante kinder ist, bitten – daß sie sorg vor sie tragen mögte – so weiß ich gewiß – daß ich meine kinder beÿm leben behalten würde, den – vmb die warheit zu sagen – auff der hießige aufferzucht setzte [ich] wenig vertrawen. Aber mein vnglück ist, daß ich es nicht thun darff, welches mich noch manchen trenen kosten wirdt. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 14.9.1675, H, 36, S. 121–122. Ebd., Paris, 2.10.1675, H, 38, S. 124–125. Alexandre Louis starb am 16.3.1676. Zur Bestattung s. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 226–227. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 20.4.1676, H, 42, S. 130. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 8.10.1687, VdC, Lf, 49, S. 76–77: Je n’oserais pas aussi prendre sur moi de m’opposer directement à la volonté de Monsieur, ne sachant pas d’autres rèmedes à lui donner.

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lehnung gegenüber den in der Kinderheilkunde wirkenden gelehrten Ärzten verschärft.345 Im Brief an Christian Friedrich von Harling vom November 1716 führte sie beispielsweise aus, sie habe den verantwortlichen Arzt, Dr. Esprit, seit dem Tod ihres Sohnes nicht mehr sehen wollen, was man ihr gleichwohl übel genommen habe.346 Gleichzeitig sollten die Ereignisse aber auch Elisabeth Charlottes Vertrauen in ihre eigenen medikalen Fähigkeiten bestärken. Als ihre Tochter im Oktober 1688 erkrankt war, war es in ihrer Darstellung nicht mehr ihr mangelndes Wissen, sondern der Machtund Interessenkonflikt zweier Ärzte, der sie davon abhielt, ihren Einfluss auf die Behandlung geltend zu machen. Ihrer Tante schrieb sie, Monsieur erlaube ihr nicht, von Fontainebleau zu ihrer kranken Tochter nach Paris zu reisen, weil er befürchte, sie könne sich zu sehr einmischen. An deren Krankenbett stritten zu der Zeit wohl Elisabeth Charlottes Leibarzt, dem sie durchaus positiv gegenüberstand347 , und ein von Madame de Grancey, einer Favoritin Monsieurs, die er Anfang der 1680er Jahre zur Gouvernante seiner Tochter ernannt hatte,348 vorgeschlagener Kandidat für diesen Posten um die richtige Behandlung. Selbstbewusst schrieb Elisabeth Charlotte: wer ich aber zu Paris würde ich grundtlich examiniren waß ahm nützlichsten sein könte undt mich ahn dem halten, ohne partialitet.349 Auch als ihr Sohn Philippe 1683 an Durchfall erkrankt war, handelte Elisabeth Charlotte anscheinend geistesgegenwärtig. Wie sie ihrer Tante berichtete, ließ sie über einen Kurier Mylady-Kent-Pulver nach Paris kommen und fuhr mit Monsieur auf dem schnellsten Wege zu ihrem Sohn, den sie glücklicherweise schon wieder bei guter Gesundheit antraf.350 In der folgenden Zeit verlieh Elisabeth Charlotte ihrem grundlegenden Misstrauen in die Kinderbehandlung durch Ärzte immer wieder lebhaften Ausdruck. 1716 etwa schrieb sie anlässlich des Todes des österreichischen Erzherzogs Leopold Joseph im Alter von nur sechs Monaten: Were der ertzhertzog in der gutten fraw von Harling handen geweßen (...) so lebte er noch; Der dokter sach kinder zu erziehen ist es gar [nicht]. Dazu muß man weiber consultiren – so mehr experientz haben undt schon kinder erzogen.351 Elisabeth Charlottes Briefe thematisieren auch, wie die nicht akademisch gebildeten weiblichen Praktikerinnen selbst an einem so strikt kontrollierten Ort wie am französischen Hof offenbar die sich ergebenden Handlungsspielräume zu nutzen wussten. Der kleine Duc d’Anjou, der spätere Ludwig XIV., habe, so Elisabeth Charlotte, die Blattern, 345

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Vgl. LEBIGRE, Liselotte, S. 162; FORSTER, Illness, S. 305. Vgl. die Ausführungen von BROOMHALL, Work, S. 188–189 über die Einstellungen der frz. Königin Anne de Bretagnes (1477–1514) zur Kinderheilkunde nach dem Verlust ihres ersten Sohnes Charles-Orlando (1495). An C. F. v. Harling, St. Cloud, 22.11.1716, H, 236, S. 397. Vgl. An Mme de Ludres, St. Cloud, 3.9.1698, VdC, Lf, 120, S. 150: Elle [ihre Tochter] amène un [médecin] qui connaît son tempérament depuis qu’elle est au monde, et est un très honnête homme qui a toujours eu soin cojointement avec Arlot et Du Chesne des mes entfants. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 290; LEBIGRE, Liselotte, S. 159. An Sophie, Fontainebleau, 8.10.1688, NLA-HStAH, II, 326r, vgl. B, 1, 83, S. 99. Vgl. ebd., 19.8.1683, NLA-HStAH, I, 285r. Ähnlich auch bei der Blatternerkrankung ihrer Tochter: A. K. v. Harling, Paris, 10.12.1699, H, 161, S. 293: Ich bin ihre krancke[-]wärterin; Man thut nichts ohne mein ordre. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 22.11.1716, H, 236, S. 397. Vgl. An Luise, Paris, 13.4.1719, HO, 4, 1009, S. 86: Man solle bey kindern mehr experimentirte weiber gewehren laßen, alß docktoren; sie verstehen beßer, mitt kindern umbzugehen.

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die seine Eltern und seinen älteren Bruder dahingerafft hatten, nur überlebt, weil seine Kammerfrauen sofort reagiert hätten und sich ärztlichen Anweisungen entgegenstellten: weillen die 9 docktor mitt dem elsten occupirt wahren haben sich des jüngsten magt mitt ihrem printzen eingesperdt undt haben ihn ein wenig wein undt biscuit geben, gestern weillen daß kindt das fieber starck hatte, haben sie ihm auch zur ader laßen wollen, aber made de Vantatour [sic!] und des printzen sougouvernante made de Villefort haben sich den docktoren starck widersetzt undt es durchauß nicht leÿden wollen, haben ihn nur hübsch warm [gehalten]. Dießer ist gott Lob durch der docktoren schandt salvirt, were gewiß auch gestorben wen man die docktoren hette gewehren laßen.352

Obwohl Frauen am französischen Hof das Monopol der Krankenbehandlung von Kindern bereits an die Ärzte hatten abtreten müssen, versuchten sie in Einzelfällen offenbar dennoch ihre eigenen Auffassungen von den richtigen Methoden durchzusetzen. Das vielzitierte therapeutische Scheitern in der ärztlichen Behandlung schien im Fall des Duc d’Anjou, der beide Eltern und einen Bruder an die Blattern verloren hatte,353 Grund genug für die heilkundigen Gouvernanten, eine andere Strategie der Behandlung zu wählen. Auffällig ist, dass die französischen Hofmeisterinnen, darunter ihre frühere Kammerfrau, Vertraute und Briefpartnerin Madame de Ventadour,354 Elisabeth Charlotte zufolge eine Methode anwendeten, die an ihre eigenen, von paracelsischem Gedankengut inspirierten medikalen Strategien erinnert: sich warm halten, den am französischen Hof offenbar nicht nur von ihr selbst angewandten stärkenden Vin d’Alicante trinken355 und ansonsten der Natur zu ihrem Recht verhelfen. Dies entspricht der Selbstbehandlung bei ihrer eigenen Blatternerkrankung sowie der Behandlung, die sie ihrem Sohn 1696 angedeihen ließ, in wesentlichen Punkten. Durch Verweigerung der üblichen ärztlichen Methoden und der Anwendung dieses Behandlungskonzepts habe sie Philippe vor einer schweren Krankheit oder Schlimmerem bewahrt, so schrieb sie Luise. Er sei zeitgleich mit der Duchesse de Guise, einer Cousine Ludwigs und Monsieurs, erkrankt und obwohl er, an einem continuirlich fieber mitt redoublementen und brustwehe, wie auch stark husten leidend, zu Beginn sehr viel kränker als die Duchesse gewesen sei, sei er vollständig genesen, während sie nach sechsmaligem Aderlass nun tot sei. Dafür gab es für Elisabeth Charlotte nur eine Erklärung: 352

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An Sophie, Versailles, 10.3.1712, NLA-HStAH, XXII, 158r–158v, vgl. B, 2, 787, S. 304: Vgl. An C. v. Wales, o.O., 13.2.1719, A, 7, S. 211; ECKART, Medizin, S. 237; FORSTER, Illness, S. 314; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 153–155; BASTIAN, Verhandel, S. 203. Die Chroniken des Marquis de Sourches, Bd. 13 und des Marquis de Dangeau, Bd. 14 bestätigen oder widerlegen E. Ch.s Aussagen in diesem Fall nicht. 1712 starben wie bereits erwähnt seine Mutter, die Dauphine Marie-Adélaïde von Savoyen, sein Vater, der Dauphin Louis und Duc de Bourgogne, sowie sein älterer Bruder, Louis, Duc de Bretagne, an den Blattern. Vgl. MALETTKE, Bourbonen, Bd. 1, S. 246. Charlotte Eléonore de la Mothe-Houdancourt, verheiratete Duchesse de Ventadour (1654–1744) war seit 1684 Dame d’honneur bei E. Ch. und später Hofmeisterin Ludwigs XIV. gewesen. Vgl. etwa VdC, Lf, S. 59, Anm. 10; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 9.11.1721, H, 435, S 766. Es sind sieben Briefe E. Ch.s an Mme de Ventadour erhalten, die bei VdC, Lf, ediert sind. Vgl. dazu HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 1195. Vgl. An Sophie, Paris, 5.11.1693, NLA-HStAH, IV, 102v, demzufolge schickte sie A. K. v. Harling zwei Flaschen Vin d’Alicante, den man hir vor gar gesundt helt.

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Ich habe aber nicht zugeben, daß man ihn viel medicamenten geben (...) habe ich ihn nur hübsch warm halten laßen undt braff zu eßen geben laßen und waßer drincken laßen, umb sich wider zu erfrischen. So ist mein sohn in 5 tagen wider gesundt worden.356

Freilich kann nicht davon ausgegangen werden, dass Elisabeth Charlottes briefliche Erzählungen die tatsächlichen Situationen ‚realistisch‘ oder gar ‚unparteiisch‘ wiedergeben. Dennoch zeigen die zitierten Passagen aus ihrer weitläufigen Korrespondenz, dass der von akademisch gebildeten Männern getragene Professionalisierungsprozess in der frühneuzeitlichen Medizin keineswegs ohne Widersprüche und Reibungen verlief. Denn die geschilderten Konflikte an den Krankenbetten bei Hof zeugen von der Existenz durchaus divergenter Wissensordnungen und Handlungskonsequenzen. Elisabeth Charlottes Grundhaltung zu Gesundheit und medizinischer Therapie erwies sich als stark von ihrer familiären Herkunft geprägt. Familie bzw. Genealogie, die wesentlichen Konzepte sozialer Strukturierung, schrieben sich dabei direkt in materielle Dispositionen des Körpers ein und prägten dessen angeborene Fähigkeit, Krankheiten zu überwinden. Gleichzeitig wirkte der familiäre Umgang mit Gesundheit und Krankheit als eine Art zweite Natur bestärkend auf die familiär geteilte ‚gute Natur‘ ein. Die diskutierten medikalen Wissenskonzepte wurden zudem, wenn auch – wie an Elisabeth Charlottes Vater Karl Ludwig ersichtlich – nicht ausschließlich, so doch überwiegend von Akteurinnen vertreten. Darüber hinaus waren sie als alt weib-Medizin auch epistemologisch vergeschlechtlicht. Ausgehend von einem grundlegend weiblich gedachten Naturbegriff hing die kurpfälzische Familie einer Medizin an, in deren Zentrum die Heilkraft der ‚Natur‘ des Menschen stand, die im Krankheitsfall mit sanft wirkenden Heilmitteln gestärkt werden müsse. Dieses in enger Verbindung zu paracelsisch-helmontischer Medizin und leibnizschen Naturvorstellungen stehende therapeutische Konzept war eng verbunden mit dem Begriff der Erfahrung, einem Wissensschatz, der aus praktischem Vollzug gewonnen werden sollte. Hier reflektiert die Auseinandersetzung um das ‚richtige‘ medikale Konzept in der Korrespondenz zeitgenössische Entwicklungen in der Medizin, die sich zunehmend professionalisierte und nicht akademisch gebildetes Heilpersonal ausschloss. In den analysierten Konfliktsituationen wird Elisabeth Charlottes affektivleibliche wie intellektuelle Orientierung an diesem Wissensmodell bereits als Praxis der Selbstpositionierung sichtbar.

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An Luise, Versailles, 15.3.1696, HO, 1, 35, S. 60.

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III. Das diätetische Regime des Selbst erzählen Nachdem im vorhergehenden Kapitel die Krankenbettszenen auf Leben und Tod im Zentrum standen, analysiert der folgende Teil Elisabeth Charlottes alltägliches Gesundheitsregime als Technik der Selbstvergewisserung, mit deren Hilfe es gelingen kann, Handlungsautonomie über den körperlichen Leib und somit auch über die eigene Person zu behaupten.

1. gouvernire mich nach meinem kopff: Heilmittel und Selbstbehandlungen 1

Meine docktoren consultire ich selten, gouvernire mich nach meinem kopff; zur precaution brauche ich mein leben nichts2, schrieb Elisabeth Charlotte ihrer Halbschwester Luise im April 1711. Nicht nur im Fall bedohlicher Krankheit scheute sie also das Wirken der Ärzte. Vielmehr unterstellte sie sich selbst voll und ganz einem selbst konzipierten Gesundheitsregiment.3 Wie wichtig es ihr dabei war, die Integrität über ihren Leib und was damit passiert zu bewahren, zeigt ein Brief an Luise aus demJahr 1705 eindrücklich. Sie berichtete, ihren neuen Leibarzt4 habe sie schon zu Anfang von sich gewiesen, indem sie ankündigt habe: daß meine gesundheit und mein leib mein seye, wolle ihn also gouverniren, wie ichs selber apropo finde.5 Auch im November 1705 schrieb sie ihrer Tante, sie vergegenwärtige ihrem Leibarzt oft, dass sie sich selbst der erste Leibarzt (premier médecin) sei und er nur der zweite, den sie nicht konsultiere, solange der erste wisse, wie sie zu behandeln sei.6 Elisabeth Charlottes Versuch, die Autorität über ihren Leib und somit über ihr Selbst zu bewahren, erscheint in zweifacher Hinsicht bemerkenswert – zum einen in Bezug auf die größeren historischen Entwicklungslinien der Epoche, in der der Körper immer mehr 1 2 3

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An Luise, Versailles, 5.4.1711, HO, 2, 518, S. 240. Ebd. Vgl. auch FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 153. An Luise, Marly, 26.4.1711, HO, 2, 523, S. 246: daß ich meinen docktor nie consultire, ich seye dan recht krank. Im überigen, wen mir waß wehe thut, thue ich, waß ich ahm besten meine. Vgl. Versailles, 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 241 u. Marly, 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392–393: Die doktor können kaum kranckheytten heyllen; wie wollten sie den selbige vorkommen! Raymond Sieur d’Arlot war bis zu seinem Tod 1709 E. Ch.s Leibarzt. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 29.5.1721, H, 405, S. 717, Anm. 11. E. Ch. charakterisiert ihn als gutten ehrlichen Arzt. Vgl. auch COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 11, 25.1.1709, S. 256: On sut aussi qu’Arlot, premier medecin de Madame, étoit mort à Versailles d’une fluxion de poitrine, et Madame le regretta extrêment, quoiqu’elle ne suivit jamais ses conseils, ni ceux d’aucun médecin, dans ses maladies. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 491; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 153. An Luise, Marly, 2.5.1705, HO, 1, 245, S. 392. Vgl. FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 153; FORSTER, Illness, S. 312; hierzu auch eine bei DAVIS, Frauen, S. 17 zitierte ähnliche Aussage zur Autorität über den Körper einer Frau aus Lyon im 16. Jhd.: „,Paris est au Roy et mon corps est a moy.’“. Vgl. auch DUDEN, Geschichte, S. 22. Vgl. auch An Sophie, Versailles, 11.11.1705, NLA-HStAH, XV,2, 615r: Ich sage alß zu meinem doktor je suis mon premier medecin vous estes le second, tant que le premier saura me gouverner je ne consulteres pas le second. S. auch Mareike BÖTH, „… daß mein leib mein seye“: Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722), in: Dagmar FREIST (Hg.), Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, (Praktiken der Subjektivierung 4), Bielefeld 2015, S. 221–241.

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zum Objekt wissenschaftlicher Bemühungen wird;7 zum anderen in Bezug auf ihr Umfeld am französischen Hof, das divergierende Anforderungen an sie stellte.8 Jede noch so banal erscheinende Selbstbehandlung und jede gesundheitsfördernde Handlung ist dabei als Selbstvergewisserungspraktik zu verstehen. Dies wird etwa deutlich, wenn Elisabeth Charlotte in den Konflikten mit Madame de Maintenon schreibt, sie sei gewiss eine härtere Nuß, alß die made la dauphine, die man versuche aus trawerigkeit umbs leben zu bringen, denn sie habe große sorge for meine gesundtheit, umb sie toll zu machen. Und auch wenn sie wie im Juni 1712 schreibt, sie habe fest gehalten wie eine Mauer und nicht in die am französischen Hof übliche präventive Behandlung mit Aderlass und Purgation eingewilligt, erscheint der körperliche Leib förmlich als Bastion des Selbst.9 Der Vollzug eines eigenverantwortlichen Gesundheitsregimes dient in diesem Sinne zugleich der Bewahrung persönlicher Integrität. Dieses wird über die Jahre in ihren Briefen in zahllosen diätetischen Maßnahmen10 und Selbstbehandlungen mit den von ihr so hochgeschätzten kleinen mitteln11 deutlich, die sie bei Schmerzen und kleineren Unpässlichkeiten oder auch präventiv vornahm.12 Dabei vertraute sie auf einfachste natürliche Wirkzusammenhänge. Wärmebehandlungen zur Prävention von Erkältungskrankheiten13 und besonders bei Husten14 und Halsschmerzen15, aber auch Gelenk- und Rückenbeschwerden16 standen bei Elisabeth Charlotte hoch im Kurs. Je einfacher, sanfter und somit ungefährlicher ein Mittel war, desto interessierter zeigte sie sich.17 Insbesondere mit 7

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Vgl. JÄGER, Körper, S. 101; KUTSCHMANN, Naturwissenschaftler, S. 15; HORKHEIMER u. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, S. 248. S. etwa E. Ch.s Aussage nach dem Tod der Dauphine Maria-Anna zu den Konflikten mit Mme de Maintenon: An Sophie, Versailles, 8.2.1690, NLA-HStAH, III,1, 4r–4v, vgl. B, 1, 96, S. 117: Man bringt sie aus trawerigkeit umbs leben; Man thut alles was man kan umb mich auch in selbigen standt zu bringen, allein ich bin eine härtere Nuß, alß die made la dauphine. (…) so nehme ich doch baldt mein partheÿ undt gehe meines wegs fort, undt habe große sorge for meine gesundtheit, umb sie toll zu machen daß alte weib [Mme de Maintenon] ist auffs wenigst ein jahr oder 15 wo nicht 20 älter alß ich, drumb dencke ich daß wen ich gedult habe undt nur vor meine gesundtheit sorge, werde ich daß vergnügen haben sie vor mich in die andere welt zu ziehen sehen. S. ebenso Fontainebleau, 16.9.1699, ebd., IX,2, 520v. An Sophie, Versailles, 2.6.1712, NLA-HstAH, XXII,1 344r–v. An Luise, Marly, 7.5.1711, HO, 2, 524, S. 248–249: Mitt diette courirt man sich beßer, als mitt hundert remedien, daß ist meine eintzige [arznei]. An Luise, Marly, 22.2.1705, HO, 1, 229, S. 372. Vgl. auch Versailles, 8.4.1705, HO, 1, 240, S. 385; An Amalie Elisabeth, Versailles, 21.1.1706, HO, 1, 289, S. 436; An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, 22.3.1718, Paris, V, 21, S. 37–38. Zum Überblick über die verwendeten Mittel s. KNEBEL, Überlebensstrategie, S. 227; FORSTER, Illness, S. 311. Vgl. die Ratschläge an Luise, Versailles, 8.4.1696 u. 12.3.1715, HO, 1, 36, S. 61 u. HO, 2, 691, S. 528. Vgl. An Luise, Paris, 19.12.1720, HO, 5, 1184, S. 367, 24.3.1718, HO, 3, 900, S. 215, St. Cloud, 28.11.1720, HO, 5, 1178, S. 343. Vgl. An Sophie, Versailles, 8.2.1705, NLA-HStAH, XV,1, 69r, vgl. B, 2, 562, S. 98. Vgl. zur Behandlung ihrer Kniebeschwerden mit englischen flanellen An Luise, Versailles, 5.4.1711, HO, 2, 518, S. 240, Paris, 20.3.1718, HO, 3, 899, S. 216; An Étienne Polier, o.O., 5.6.1711, VdC, Lf, 575, S. 477. Vgl. An Luise, Versailles, 31.1.1706, HO, 1, 291, S. 438: Alles, waß ich gebraucht, ist nichts gefahrliches, alß zum exempel de pomade d'Iverne, warmen wein, worin rotte roßen gekocht und etlich kreütter, saltz mitt waßer undt

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ihrem früheren Stall- und Hofmeister Étienne Polier de Bottens schien sie dieses besondere Interesse an den remèdes doux18 zu teilen. In ihrer Korrespondenz bestärkten beide sich in ihrer an paracelsischen Ideen orientierten medikalen Strategie.19 Zufrieden schrieb Elisabeth Charlotte etwa im September 1699 an ihre Tante, sie sei, wie so oft, Poliers Rat gefolgt, habe einfach nur Wasser getrunken und den husten damitt vertrieben.20 Zumeist vertraute sie auf Pflanzen und Kräuter, deren Wirkung auf ihren Körper sie genau beobachtete.21 Wunden in der Mundschleimhaut und Halsschmerzen behandelte sie erfolgreich mit roßen waßer,22 Kopfschmerzen mit melissen waßer,23 Verdauungswinde mit anis und fenchel24 und Husten mit eydotter, in sietig waßer geschlagen, mitt zucker undt zimmet.25 Ebenso häufig wendete sie bei Schmerzen in den Muskeln und in den Gelenken, unter denen sie besonders im Alter litt, Einreibungen an. Dazu wendete sie verschiedene Wässerchen,26 Balsame27 oder Öle an. Ihren verstauchten Arm behandelte sie 1715 mit dem Öl von Fiovarenti, einem aus Terpentin und 14 verschiedenen Ingredienzen zusammengesetzten Balsam, der von dem italienischen Arzt Leonardo Fiovarenti (1518–1588) erfunden worden war;28 und gegen die Schmerzen nach ihrem Armbruch 1697 erzielte sie mit florentinischem Erdwurmöl gute Erfolge: Seyder ich ein öhl drauff schmire, so man mir auß Itallien undt von Florentz geschickt, ist mein arm ohne vergleichung beßer. Freylich hatte mich nichts

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nun diß ohl. An Étienne Polier, o.O., 5.6.1711, VdC, Lf, 575, S. 477: J’aime assez à essayer les remèdes que ne peuvent faire du mal. An Étienne Polier, o.O., 30.5.1711, VdC, Lf, 571, S. 475: Les médecins d’ici vous auraient saigné jusques à extinction de chaleur naturelle, car ils soutiennent que c’est l’unique remède contre la pleurésie, et je crois qu’ils vous auraient tué. Dieu soit loué que, par des remèdes doux, vous vous soyez tiré d’affaire. Es verwundert nicht, dass Polier diese Strategie teilte, denn er kam aus calvinistischen Kreisen, in denen eine Affinität zu solchen medikalen Auffassungen und Praktiken bestand. S. 2.IV.1. An Sophie, Fontainebleau, 19.9.1699, NLA-HStAH, IX,2, 525r. Zum Wassertrinken s. auch An Étienne Polier, o.O., 11.3.1706, Fontainebleau, 17.10.1699, o.O., 9.2.1686, VdC, Lf, 260, S. 289, 131, S. 160, 16, S. 60–61. Vgl. zu ähnlichen Strategien bei Sophie von Hannover Sophie an Karl Ludwig, Osnabrück, 15.8.1664, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 79, S. 74; dt. Übers: TAKE, Tachenius, S. 108–109: Er glaubt, ich hätte Harngries und daß es diese Krankheit sei, die mir Nierenschmerzen bereite. Er hat mir nichts als Muskatblüten verschrieben, morgens einzunehmen. An Sophie, Versailles, 8.2.1705, NLA-HStAH, XV,1, 69r, vgl. B, 2, 562, S. 98; An Luise, Marly, 10.5.1714, HO, 2, 647, S. 393; Laut Zedlers Universallexikon Bd. 6, Sp. 1027–1030 wirkt Rosenwasser entzündungshemmend. An Sophie, Marly, 6.11.1710, NLA-HStAH, XX,2, 999v. Vgl. auch An Étienne Polier, o.O. [Versailles?], 7.2.1703, VdC, Lf, 187, S. 243. An Luise, Paris, 15.3.1721, HO, 6, 1210, S. 47. Ebd., 5.3.1719, HO, 4, 998, S. 52; auch KNEBEL, Überlebensstrategie S. 227–228; FUNCKBRENTANO, Liselotte, S. 153. Vgl. bspw. An Luise, St. Cloud, 5.11.1721, HO, 6, 1276, S. 262. Vgl. etwa An Luise, Marly, 10.7.1712, HO, 2, 556, S 286,Versailles, 28.3.1711, HO, 2, 517, S. 239; zu dem hier erwähnten Beaume de Perou ausführlich 4.II.2. An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 680–681. Vgl. R[affaele]. A. BERNABEO, G[uiseppe] M[?]. PONTIERI u. G[?]. B. SCARANO, Elementi di storia della medicina, Padova 1993, S. 203; vollständiges Rezept Art. Spiritus balsamicus, Syn: Balsamum Fiovarenti, in: Pharmakopoea Helvetica, ND Schaffhausen, Zürich 1865–1893, S. 258.

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anderst verdorben, alß die balbirer hir. 29Auffällig an ihrer Formulierung ist der Wechsel der Perspektive – während die Selbstbehandlung ihren Arm geheilt habe, ist es das leibliche Selbst (mich), das durch die Behandlung der Barbiere zu Schaden kommt. Es verwundert daher kaum, dass das Öl, das Elisabeth Charlotte an ihren Leib kommen ließ, in Verbindung zu ihrer Herkunftsfamilie stand. Wie sie in späteren Briefen bemerkte, hatte es der der gutte erliche Altoviti, ein vormals in pfälzischen Diensten stehender Florentiner, selbst hergestellt und zur Heilung ihres Bruches zukommen lassen.30 Die gute Wirkkraft des Regenwurmöls – übrigens ein in der Frühen Neuzeit beliebtes Wundheilungs- und Schmerzmittel31 – veranlasste Elisabeth Charlotte, das Öl nochmals Anfang des Jahres 1706 bei einer verrenckte[n] ader am Fuß32 sowie im Spätsommer 1716 bei Schmerzen in den nerven unter dem lincken knie, die über den Unterschenkel bis in den Fuß zogen, anzuwenden.33 Ein besonders geeignetes ‚kleines Mittel‘, das sich Elisabeth Charlotte bei einer Vielzahl unterschiedlichster Beschwerden selbst verordnete, ist die sogenannte pommade divine. Der Balsam wurde Elisabeth Charlottes Briefen zufolge nach einem Rezept ihrer früheren dame d‘atour Madame Durasfort34 jedes Jahr im Herbst frisch zubereitet,35 was darauf schließen lässt, dass es sich auch hier um ein aus Pflanzen und Kräutern hergestelltes Heilmittel handelte. Angewendet wurde es zur äußerlichen Behandlung von schmerzhaften Verstauchungen,36 Entzündungen und Schwellungen insbesondere in Knien37 und Lenden38 (in Elisabeth Charlottes Sprache geschwer, flüsse oder rhumatismen)39, aber auch bei Erkältungen (husten und schnupen) und Fieber.40 Selbst bei Verletzungen41 und sogar bei Verbrennungen mitt siegelwacks, die eine Briefschreiberin wie Elisabeth Charlotte ereilen konnten,42 hatte die Pomade die Schmerzen gelindert und dafür gesorgt, dass man kein 29

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An Luise, Fontainebleau, 9.10.1697, HO, 1, 53, S. 93; vgl. auch Paris, 10.11.1697, HO, 1, 55, S. 94; An A. K. v. Harling, Marly, 9.12.1700, H, 168, S. 300, Fontainebleau, 9.10.1697, H, 145, S. 171. An Luise, Versailles, 20.11.1704, HO, 1, 220, S. 361–362 , 25.2.1706, HO, 1, 297, S. 444–445. Vgl. auch An Karl Ludwig, St. Cloud, 25.4.1681, HO, 1, 8, S. 13; An Luise, Marly, 13.12.1704 u. 15.4.1706, HO, 1, 222, S. 364 u. HO, 1, 307, S. 456, St. Cloud, 1.5.1721, HO, 6, 1224, S. 97; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 269 Anm. 6. Vgl. Art. Regenwürmeröl, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 30, Sp. 1773–1774, hier Sp. 1773. An Luise, Versailles, 25.2.1706, HO, 1, 297, S. 444-445 ; vgl. auch Marly, 18.2.1706, HO, 1, 296, S. 443, Versailles, 31.1.1706, HO, 1, 291, S. 438. An Luise, St. Cloud, 1.9.1716, HO, 3, 785, S. 34–35 (Zit. S. 34). Vgl. An Luise, Paris, 27.12.1715, HO, 2, 753, S. 691; St. Cloud, 10.9.1719, HO, 4, 1051, S. 235. Vgl. An Luise, St. Cloud, 25.8. u. 9.10.1718, HO, 3, 944, S. 361 u. 957, S. 404. Vgl. An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 680; Versailles, 6.10. u. 29.10.1710, HO, 2, 494, S. 204–205 u. 497, S. 209; An Étienne Polier, Versailles, 5.2.1703, VdC, Lf, 185, S. 242. An Luise, St. Cloud, 11.11.1717, HO, 3, 863, S. 123. Ebd., 5.10. u. 2.11.1720, HO, 5, 1163, S. 298 u. 1171, S. 323, Paris, 26.12.1720, HO, 5, 1185, S. 372. An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 681, St. Cloud, 15.10.1718, HO, 3, 959, S. 410, 18.6.1719, HO, 4, 1028, S. 150 u. 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262. Vgl. zu Flüssen und ‚Rheumatismus‘ STOLBERG, Homo patiens, S. 130. An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 681, 31.12.1715, HO, 2, 754, S. 695, 31.3.1718, HO, 3, 902, S. 225, St. Cloud, 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262. Vgl. An Luise, St. Cloud, 31.7.1718, HO, 3, 937, S. 335. An Luise, Paris, 31.3.1718, HO, 3, 902, S. 225.

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brandtmahl bekompt,43 wie Elisabeth Charlotte ihrer Halbschwester postwendend meldete. In allen diesen Anwendungsgebieten hatte Elisabeth Charlotte gute Erfahrungen mit dem Balsam gemacht und hatte deswegen groß ursach (…), ein groß vertrawen in dieße pomade divine zu setzen44 , wie sie schrieb. Ihr Bericht von einer erfolgreichen Behandlung zweier geschwer am Hals im Dezember 1715 illustriert die von Elisabeth Charlotte antizipierte Wirkweise des Mittels. Zunächst, so schrieb sie, seien die Geschwüre eines Nachts aufgebrochen, sie habe die Krankheitsmaterie ausgespien und hielt sich für kuriert. Ein paar Tage später jedoch fühlte sie die beiden Geschwüre wieder an ihrem Hals. Dies interpretierte Elisabeth Charlotte als untrügliches Zeichen, dass die natürliche Selbstreinigungskraft des Körpers, der noch am Tag zuvor die Krankheitsmaterie aus eigener Kraft nach außen befördert hatte, nicht ganz ausgereicht hatte und man die Natur auf milde Art und Weise unterstützen müsse. So habe sie nichts anderst gethan, alß die pomade zu schmiren undt ein duch ahm halß zu knüpffen; in wenig [tagen] ist es mir gantz vergangen, berichtete sie zufrieden.45 Wenn man ein Geschwür befürchte oder sich eines zu bilden beginne – nur fleißig mitt der pomade geschmirt und Besserung werde sich bald einstellen, resümierte Elisabeth Charlotte. Dabei erschien ihr die bereits angesprochene milde Wirkung als besondere Qualität des Heilmittels, denn im Gegensatz zu anderen Behandlungsmethoden bestehe hier nicht die Gefahr, dass die Geschwüre mitsamt der Krankheitsmaterie, die sich frühneuzeitlichen Körpervorstellungen folgend zwischen Haut und Fleisch sammeln könne, in den Körper zurückschlagen würden.46 Zu ihrer positiven Bewertung des Balsams trug auch der gutte geruch bei, den Elisabeth Charlotte – auch wenn er bei zahlreichen Personen am Hof Vapeurs47 verursachte, als angenehm und nicht stinckendt empfand.48 Die pommade divine fügte sich also ideal in Elisabeth Charlottes medikale Auffassungen ein und war für die Verfolgung ihrer Gesundheitsstrategien eine vielfach durch Erfahrung am eigenen Körper bewährte köstliche sache.49 Elisabeth Charlottes Gesundheitsstrategie beruhte in hohem Maße auf Selbstsorge und Selbstverantwortung. Sie zeigte sich überzeugt, dass die Erfahrung, die man auf diese Weise mit dem eigenen Leib und seinem Befinden machen könne, dazu befähige, in vielen Fällen selbst zu wissen, wie man sich auf geeignete Weise behandeln könne. Im März 1701 schrieb sie an Amelise: Es ist gewiß, daß, wen man ein wenig kranck geweßen, lernt man kenen, waß gutt oder schädtlich zu der gesundheit ist; also wirdt man ein halber docktor mitt.50 Als Vorbild für diese Einstellung zu den eigenen medikalen Fähigkeiten diente ihr einmal mehr ihre Tante Sophie, die so gutten verstandt habe, selber zu judiciren, waß gutt oder böß ist, 43 44 45 46

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An Luise, St. Cloud, 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262. An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 681. Ebd. An Luise, St. Cloud, 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262: Pomade divine ist ein gutt remede (...) wo sich geschwer ahnfangen, fleißig mitt der pomade geschmirt, dissipirt sie, ohne einzuschlagen. Vgl. zum Körperkonzept Michael STOLBERG, Der gesunde Leib. Zur Geschichtlichkeit frühneuzeitlicher Körpererfahrung, in: Paul MÜNCH (Hg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (HZ Beiheft 31), München 2001, S. 37–57, hier 49–50. Zu diesem Krankheitsbild s. ausführlich 4.III.3. An Luise, Paris, 4.2.1720, HO, 5, 1094, S. 41; St. Cloud, 6.11.1718, HO, 3, 965, S. 429. Ebd., 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 681. An Amalie Elisabeth, Versailles, 8.3.1701, HO, 1, 125, S. 218.

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und sich darum nicht mit docktoren plagen müsse.51 Auch ihren früheren Stall- und Hofmeister Étienne Polier de Bottens hielt Elisabeth Charlotte für fähig, sich erfolgreicher als alle Ärzte selbst zu behandeln.52 Der Versuch ihres Leibarztes Arlot, Poliers Erkrankung im Juni 1708 mit 20 Anamnesefragen auf die Spur zukommen, erschien ihr deshalb als geradezu grotesk, schließlich wisse Polier mehr von der Gesundheit als Arlot und seine Kollegen.53 Nichts könne die persönliche Erfahrung mit einem Heilmittel ersetzen, so zeigte sie sich auch im April 1719 überzeugt, als sie Luise das bereits erwähnte Rezept gegen entzündete Augen mitgeteilt hatte und schrieb, dass sie die Arzneibücher, die sie besitze, nur zum Vergnügen durchblättere, jedoch nie auf ein Heilmittel daraus vertraue.54 In einem Brief an Christian Friedrich von Harling vom Mai 1715 ging Elisabeth Charlotte noch näher auf die Verbindung zwischen dem Kranken selbst und der ‚Natur‘ seines Körpers ein, indem sie sogar postulierte, die Natur wirke auf den persönlichen Instinkt des Kranken ein, der somit in die Lage versetzt werde, selber zu eruieren, welche Medizin er nötig habe: Etlich mahl fordert die natur durch instinc – waß einem nöhtig ist.55 Wie genau Elisabeth Charlotte abwog, welche Therapien und Mittel in welchen Fällen geeignet seien, bevor sie selbst eine Behandlung einleitete, zeigt das Beispiel des in der Korrespondenz häufig erwähnten Nürnberger Pflasters, das sie für sich und andere mehrfach an den französischen Hof schicken ließ.56 Ein Rezept für dieses mit Campher hergestellte bräunliche Bleipflaster, das in unterschiedlichen äußerlichen Gebrechen dienlich ist, findet sich beispielsweise in Zedlers Universallexikon.57 Vor allerhandt geschwer, aber insonderheit vor (…) die älster- oder kräen-augen sei das Pflaster ideal, schrieb Elisabeth Charlotte im Oktober 1717.58 Im Januar 1706 entschied sie sich allerdings bewusst dagegen, ihren

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Ebd., 17.12.1705, HO, 1, 284, S. 431: Ich bin auch gantz von ma tante opinion, daß man sich mitt keine docktoren plagen solle, wen man sein ordinarie remede hatt. Wen die leütte so gutten verstandt haben, wie ma tante, kan man selber judiciren, waß gutt oder böß ist. An Étienne Polier, St. Cloud, 16.6.1694, VdC, Lf, 95, S. 125: Cependant je sais bien que personne ne vous guérira mieux que vous même. Vgl. auch An Étienne Polier, o.O., 8.12.1704, VdC, Lf, 223, S. 267. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 23.6.1708, VdC, Lf, 385, S. 378: Je n’ai pu m’empêcher de rire de ce que le pauvre Monsieur Arlot vous a fait vingt question sur votre mal. Hélas, le pauvre homme ne sait pas que sur la santé vous en savez plus que lui et ses confrères. Ce pour vous divertir que vous lui répondrez. Vgl. An Luise, St. Cloud, 30.4.1719, HO; 4, 1014, S. 103: Ich habe zwey dicke artzeneybücher von I.G. meiner fraw mutter s., brauche aber nie nichts drauß; aber es amussirt mich etlichmahl, es durchzusehen. Vgl. zu den medizinischen Werken, die E. Ch. selbst besaß FORSTER, Illness, S. 317–318; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 519–521 u. 527. Eine weiterführende Recherche in dem nach E. Ch.s Tod erstellten Inventar ihrer Bibliothek konnte leider nicht durchgeführt werden. Eine Konsultationserlaubnis wurde mir „aufgrund des schlechten materiellen Zustandes der Archivalien“ von den Archives Nationales in Paris versagt. Vgl. An C. F. v. Harling, Versailles, 2.5.1715, H, 207, S. 351. E. Ch. bezieht sich hier auf eine Schwester der Gräfin v. Platen, Maria Catharina v. Weyhe (1655–1723), die weißen Balsam zur Selbstbehandlung bei ihr angefordert hatte. Ausführlich 4.II.2. Vgl. FORSTER, Illness, S. 311–312, die einzig die Bedeutung der zugesendeten Heilmittel für die Selbstbehandlungen hervorhebt. Vgl. Art. Emplastrum Triapharmacum, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 8, Sp. 1106. An Luise, St. Cloud, 30.10.1717, HO, 3, 861, S. 117: Ich dancke Eüch, liebe Louisse, daß vor die 2 schachteln undt zeittungen, so in Ewern paquet. Man braucht daß Nurnberger pflaster hir vor allerhandt geschwer,

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geschwollenen Fuß mit Nürnberger Pflaster zu behandeln. Zu groß waren ihre Befürchtungen, das Zugpflaster mögte zu sehr ziehen undt mir einen offenen fuß machen.59 Wenige Tage später ließ sie Luise zudem wissen, sie halte die Anwendung eines ziehenden Pflasters am Fuß ganz generell für gefährlich, denn: mich deücht, wen man so übermäßig fett ist, alß ich bin, solle man keine humoren auff die beine zigen [ziehen], es mogte etwaß übels drauß werden.60 Heilmittel bewertete Elisabeth Charlotte einzig und allein aufgrund ihrer Beobachtungen bzw. der entsprechenden leiblichen Erfahrung – für die Einstellungen des ärztlichen Personals zu bestimmten Rezepturen interessierte sie sich dagegen weniger. Von der Wirkkraft des Nürnberger Pflasters zeigte sie sich im Oktober 1717 derart überzeugt, dass sie den Barbieren unterstellte, sie würden solch schnell heilende Rezepte mit Absicht nicht anwenden – umb die schaden lenger zu dawern machen; daß ist ihr gewin.61 Hoch erfreut war Elisabeth Charlotte deshalb, als sie im Frühjahr 1721 mit einer selbst eingeleiteten Therapie mit Nürnberger Pflaster an einer besonders intimen Stelle ihres Körpers Erfolg hatte und die ihr unangenehme Behandlung durch einen Barbier auf diese Weise verhindern konnte: es war mir nach meiner kranckheit ein geschwehr unter einem schenkel komen, nahe, met verleff, bey einen hinterbacken, undt wie ich nicht gern den balbirer meinen hintern weiße (findt ihn nicht schon genung dazu, umb mitt zu par[ad]iren), also habe ich mich selber, ohne ein wordt zu sagen, mitt dem Nurnberger pflaster hübsch geheyllet, daß kein mensch nichts davon erfahren; daß hatt mich recht gefreüet. Drumb bitte ich Eüch, liebe Luise, schickt mir doch wider ein halb dutzendt schachteln! man bitt mich sehr drumb.62

Trotz dieser positiven Erfahrungen und obwohl sie das Pflaster bereits aus ihrer Jugend gekannt haben muss,63 war Elisabeth Charlotte bestrebt, ihre Kenntnisse über die Wirkung des Heilmittels aufzufrischen bzw. zu erweitern. Schon 1705 hatte sie Luise wissen lassen, sie hätte gern etwas getrucktes, wofür das Pflaster gut sei.64 Dabei zeigte die sich als aufmerksame und skeptische Anwenderin und bemängelte, dass die Drucker zwar aufgenommen hätten, wozu daß pflaster gutt ist, aber nicht, wie man es brauchen sole. (...) Man kans nicht brauchen, wen man nicht weiß, wie mans brauchen soll; die es drucken laßen, haben also sehr gefehlt. 65

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aber insonderheit vor die elster-augen, da brauch ichs auch zu, finde, daß es die älster- oder kräen-augen verhindert, hart zu werden, undt wen sie nicht hart sein, thun sie nicht wehe. An Luise, Versailles, 21.1.1706, HO, 1, 290, S. 436–437. Ebd., 31.1.1706, HO, 1, 291, S. 438. An Luise, St. Cloud, 30.10.1717, HO, 3, 861, S. 117; s. auch Paris, 30.3.1719, HO, 4, 1005, S. 74. Ebd. 1.5.1721, HO, 6, 1224, S. 95–96; s. auch 24.5.1721, HO, 6, 1230, S. 127; FORSTER, Illness, S. 312. Diesen Schluss legt folgende Passage nahe: An Luise, Marly, 13.5.1710, HO, 2, 474, S. 177: Verenderung ist woll in allen sachen biß auf diß pflaster; daß war, wo mir recht ist, dunckelbraun, nun ist es rödtlich. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 312. An Luise, Versailles, 9.12.1705, HO, 1, 282, S. 428. Als diese ‚Gebrauchsanweisung‘ aufgrund des Umzugs von Versailles nach Paris nach dem Tod Ludwigs XIV. verloren gegangen war, bat sie Luise nochmals um eine Beschreibung: Paris, 27.11.1717, HO, 3, 868, S. 138, Paris, 26.12.1717, HO, 3, 876, S. 157. Auch 1721 bat sie erneut mit derselben Begründung um eine Beschreibung: An Luise, St. Cloud, 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 186. Vgl. An Luise, Paris, 2.1.1718, HO, 3, 878, S. 158.

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Auch wenn die Grenzen zwischen Selbstbehandlungen und ärztlichen Verordnungen – insbesondere in Elisabeth Charlottes späteren Lebensjahren – längst nicht so scharf gezogen werden können,66 wie Elisabeth Charlotte selbst in ihren Briefen bisweilen glauben machen möchte, galten ihr eigenverantwortlich getroffene medikale Entscheidungen als regelrechte Triumphe. So rühmte sie sich etwa in ihren Briefen, ihrem Sohn sein quinquina gantz abgeschafft und damit schon erste Erfolge erzielt zu haben.67 Die Anwendung der Chinarinde (frz. quinquina)68 bei Fiebern aller Art69 war am französischen Hof – so belegen es neben den Briefen Elisabeth Charlottes unter anderem die höfischen Chroniken70 und die Briefe der Madame de Sévigné71 – äußerst beliebt.72 Die Chinarinde73 war in Europa erst etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt. Um ihren Ursprung ranken sich verschiedene Legenden. So schrieb man die Verbreitung des Heilmittels in Europa lange Zeit der Frau des damaligen Vizekönigs von Peru Chinchón (Amtszeit 1628–1639) zu, die mit Hilfe der Fieberrinde von Malaria geheilt worden sein soll.74 Anna Chinchón wurde denn auch 66

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So war das in den Briefen an Luise in den Jahren 1717 und 1719 mehrfach erwähnte öhl bzw. der beaume de copahu sowohl Teil von E. Ch. medikalem Repertoire zur Selbstbehandlung als auch eine Verordnung ihres Leibarztes François Terray de Rosières. Vgl. dazu ausführlich 4.III.2. Vgl. auch das Fußbad aus Heilkräutern, das Terray ihr verordnete. An Luise, Versailles, 17.3.1706, HO, 1, 302, S. 450. Vgl. An Luise, St. Cloud, 17.9.1695, HO, 1, 25, S. 43. ‚Kina‘ – oder ‚quina‘ in der spanischen Schreibweise – ist ein indianisches Wort für ‚Rinde‘. Quinquina bedeutet wörtlich also ‚Rinde der Rinden‘. Vgl. Bruno WOLTERS, Drogen, Pfeilgift und Indianermedizin. Arzneipflanzen aus Südamerika, Greifenberg 1994, S. 74–81, bes. 74. Ursprünglich bezeichnete man den Perubalsambaum als ‚Quina-Quina’. Vgl. Sabine ANAGNOSTOU, Jesuiten in Spanisch-Amerika als Übermittler von heilkundlichem Wissen (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 78), Stuttgart 2000, S. 183. E. Ch. unterschied anhaltendes Fieber (continuirliches fieber/fièvre continue) – von unregelmäßigem mit sogenannten acces oder redoublements. Vgl. aus der Fülle der Belege An Luise, St. Cloud, 17.9.1719, HO, 4, 1053, S. 245, 17.9.1695, HO, 1, 25, S. 43, Paris, 18.1.1721, HO, 6, 1194, S. 9; An Amalie Elisabeth, Port Royal, 1.5.1699, HO, 1, 80, S. 138; An C. F. v. Harling, Versailles, 17.9.1711, H, 187, S. 324, St. Cloud, 21.5.1722 H, 462, S. 804; Paris, 20.4.1719, H, 312, S. 509–510; An Sophie, Meudon, 1.9.1701, NLA-HStAH, XI,2, 429r, vgl. B, 2, 465, S. 12. Vgl. dazu etwa den frühesten Beleg zum Quinquina aus den Mémoires du Marquis de SOURCHES, COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 1, 9.9.1682, S. 142. In der Korrespondenz Madame de Sévignés wird Quinquina über dreißig Mal erwähnt. Vgl. POULIQUEN, Sévigné, S. 322. Vgl. ebd., S. 323; LEBRUN, Médecins, S. 560–561; DERUISSEAU, Krankheit, S. 1785; BROCKLISS u. JONES, World, S. 312–313. Der jesuitische Kardinal Juan de Luego soll bei einem Aufenthalt in Paris den an Fieber erkrankten jungen Ludwig XIV. mit Chinarinde behandelt haben. Vgl. ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 184. Aus heutiger Sicht enthält die Chinarinde tatsächlich einen Wirkstoff gegen Malaria, der in niedriger Dosierung leicht fiebersenkend und schmerzstillend wirkt. Vgl. BOSCHUNG, Naturheilkunde, S. 139–140; WOLTERS, Drogen, S. 74 u. 80. Vgl. Henry HOBHOUSE, Fünf Pflanzen verändern die Welt. Chinarinde, Zucker, Tee, Baumwolle, Kartoffel, 8. Aufl., München 2006, S. 14–15 u. 25–26. Vgl. dagegen WOLTERS, Drogen, S. 74–75; Reinhard WENDT, Des Kaisers wundersame Heilung. Zum Zusammenhang von Mission, Medizin und interkontinentalem Pflanzenaustausch, in: Reinhardt WENDT (Hg.), Sammeln – Vernetzen – Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht, Tübingen 2001, S. 23– 43, hier 36, Anm. 70; ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 183.

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zur Namengeberin der von Carl von Linné (1770–1778) beschriebenen Chinarindenbäume. Einer anderen Version zufolge soll ein Jesuitenpriester um 1630 von einem Einheimischen erfolgreich damit behandelt worden sein.75 Zweifelsfrei belegbar ist jedoch lediglich die Verwendung des aus der Baumrinde gewonnenen Pulvers in Europa seit den späten 1630er Jahren. Die enge Verbindung zum Jesuitenorden, der Transport und Verkauf des Heilmittels in Europa organisierte, brachten der Chinarinde den Beinamen ‚Jesuitenrinde‘ bzw. -‚pulver‘ ein.76 Aus diesem Grund begegnete man der Chinarinde in protestantischen Gebieten wohl mit Argwohn. Der 1658 an Malaria verstorbene Oliver Cromwell etwa soll sich geweigert haben, sich mit dem ‚Jesuitenpulver‘ behandeln zu lassen.77 Am französischen Hof und in seinem Umfeld bezog man den heilenden Extrakt der Chinarinde zu dieser Zeit dagegen direkt von der jesuitischen Ordensgemeinschaft. Ludwig XIV. strebte allerdings bald an, sich von dieser Bezugsquelle unabhängig zu machen. Im Zuge dieser Versuche machte der irische Arzt Robert Talbot 1679 das Rezept für die Zubereitung des Heilmittels Quinquina, für das man Chinarinde pulverisieren und mit Weißwein versetzen musste, am französischen Hof bekannt und erhielt dafür eine großzügige Entlohnung.78 Die Aufnahme des Quinquina in die europäische Medikalkultur entlang konfessioneller bzw. kulturräumlicher Grenzen erklärt, warum auch Elisabeth Charlotte dem Mittel zunächst eher ablehnend gegenüberstand. Als sie selbst das Quinquina im Jahr 1721 einnehmen musste, zeigte sie sich skeptisch gegenüber der Wirkung79 und argumentierte auf der Grundlage eigener Körpererfahrungen mit den erschröckliche[n] magen-schmertzen, die die Einnahme ausgelöst habe.80 Grundsätzlich erschien Elisabeth Charlotte der als ‚miraculeux‘81 gepriesene rasante Heilerfolg 75

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Vgl. WOLTERS, Drogen, S. 75–77. Vgl. zur Chinarinde auch HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 187, S. 324, Anm. 12. Vgl. Art. „Kina-Kina, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 15, Sp. 636–639, hier Sp. 637; WENDT, Heilung, S. 36–37; ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 184 u. Sabine ANAGNOSTOU, Missionsmedizin und Missionspharmazie im kolonialen Amerika, in: Johannes MEIER (Hg.), Sendung – Eroberung – Begegnung. Franz Xaver, die Gesellschaft Jesu und die katholische Weltkirche im Zeitalter des Barock (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte Asien, Afrika, Lateinamerika 8), Wiesbaden 2005, S. 262–291, bes. 283–284. Vgl. ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 185; WOLTERS, Drogen, S. 77; HOBHOUSE, Pflanzen, S. 26. Vgl. HOBHOUSE, Pflanzen, S. 26–27. Vgl. POULIQUEN, Sévigné, S. 323; Mémoires du COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 1, 9.9.1682, S. 142. S. auch An Luise, St. Cloud, 14.8.1695, HO, 6, N, 29, S. 531–532: Ich glaube, man bereit hir daß quinquina beßer, alß in Teütschlandt; den sie habens hir von dem englischen chevallier Talbot gelernt, der so viel schöne curen mitt gethan hatt. Ludwig XIV. soll diese Herstellungsart, die den bitteren Geschmack des Quinquina mit zahlreichen Zusätzen neutralisierte, besonders geschätzt haben. Vgl. POULIQUEN, Sévigné, S. 323; LEBRUN, Médecins, S. 560; COSNAC u. PONTAL (Hg.), SOURCHES, Bd. 1, 9.9.1682, S. 142. Vgl. zu den Anwendungsweisen auch An Luise, Paris, 15.12.1718 u. St. Cloud, 9.10.1718, HO, 3, 976, S. 469 u. 957, S. 403; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 18.9.1718, H, 285, S. 463, 29.9.1720 u. 21.5.1722, H, 382, S. 661 u. 462, S. 804. Vgl. kritisch An Luise, Paris, 23.1.1721, HO, 6, 1195, S. 10. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 312. An Luise, Paris, 30.1.1721, HO, 6, 1197, S. 11. Vgl. auch An Luise, Paris, 6.2.1721, HO, 6, 1199, S. 13; An Görtz, Paris, 19.2.1721, K, 24, S. 87; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 21.5.1722, H, 462, S. 804; An Luise, Paris, 20.2.1721 u. 8.3.1721, HO, 6, 1203, S. 21 u. 1208, S. 37. Zu den möglichen Nebenwirkungen von Chinarinde s. WOLTERS, Drogen, S. 81. So etwa in den Worten Madame de Sévignés. Vgl. POULIQUEN, Sévigné, S. 322.

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des starken Medikaments wohl suspekt.82 Ihre Ansicht reflektierte die grundlegenden Argumentationsmuster kritischer Stimmen innerhalb des europäischen Diskurses um die Chinarinde seit dem 17. Jahrhundert83 und ihre eigenen helmontisch geprägten Vorstellungen gegenüber stark wirkenden Medikamenten.84 Spätestens mit der Jahrhundertwende hatte sich die Chinarinde wohl aber in der europäischen Medikalkultur etabliert – 1737 wird sie etwa auch in Zedlers Universallexikon als Mittel der Wahl zur Behandlung von Fieberkrankheiten beschrieben.85 Die zunehmende Beliebtheit des Mittels am französischen Hof stieß bei Elisabeth Charlotte – wie die Ausstattung der Apotheken im Allgemeinen86 – jedoch auf Unverständnis.87 Ihr Sohn, so schilderte sie allerdings in der Zeit der Régence mehrfach, habe kaum die Zeit, sich in aller Ruhe auszukurieren – er müsse sich deshalb mit dem kinkina eyllen.88 Hier ist erkennbar, dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts für die Wahl eines Heilmittels und damit eines bestimmten medikalen Konzepts zunehmend auch zeitökonomische Erwägungen wichtig wurden und Patienten nicht den mildesten Weg der Heilung suchten, sondern den effektivsten. Das geduldige Abwarten einer natürlichen Verbesserung – allenfalls eine milde Unterstützung der purgativen Kraft der Natur – waren aus Elisabeth Charlottes Sicht auf die Dauer jedoch gesünder89 als der Einsatz des starken Heilmittels. Am liebsten war es ihr deshalb, wenn sie es wie im Juli 1701 schaffte, eine Fiebererkrankung einzig durch den Einsatz diätetischer Maßnahmen zu überwinden. Triumphierend schrieb sie an ihre Tante, man habe ihr verboten, während des dreitägigen Fiebers Kirschen zu essen, was

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Vgl. etwa An Sophie, St. Cloud, 24.7.1695, NLA-HStAH, V, 227r: Er [Philippe] braucht immer daß quinquina, welches ihm daß fieber zum 2ten mahl verjagt, Man muß aber sehen er es ablauffen wirdt, wen er es wider quittiren wirdt, den daß letzte mahl wie ihm daß fieber wieder ahnstieß war es just der 3te tag nach dem er es quittirt hatte. 15.9.1695, ebd., V, 239r. Vgl. ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 185; Art. Kina-Kina, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 15, Sp. 637. Vgl. WEAR, Knowledge, S. 395–397; NEUBURGER, Heilkraft, S. 28; ELMER, Chemical Medicine, S. 124. Vgl. Art. Kina-Kina, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 15, Sp. 637. Vgl. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, Paris, 22.3.1718, V, 21, S. 37–38; An Leibniz, Paris, 21.11.1715, GWLB/NLB, LBr. II, 25, 10v, vgl. BODEMANN (Hg.) Leibniz, 4, S. 29; An Luise, St. Cloud, 17.6.1698, HO, 1, 60, S. 105, Versailles, 27.12.1714, HO, 2, 678, S. 493, Paris, 27.9.1715, HO, 2, 730, S. 636–637, St. Cloud, 24.5.1721, HO, 6, 1230, S. 127: In gantz Paris, ja gantz Franckreich, würdet Ihr, liebe Luise, kein froschleich-pflaster finden. In den apothecken hir ist nichts zu finden, alß clistir, hemetiquemedecinen, quinquina, opium, sonst nichts; von pflaster undt allerhandt waßer wißen sie kein wordt. Vgl. außerdem E. Ch.s Kritik an mangelnder Sorgfalt in den frz. Apotheken An Luise, Paris, 3.2.1720, HO, 5, 1093, S. 38. Vgl. An Luise, Paris, 20.2.1721, HO, 6, 1203, S. 21. An Luise, Paris, 5.1.1719, HO, 4, 982, S. 5: Mein armer sohn hatt leyder keine zeit, kranck zu sein, hatt sich also mitt dem kinkina eyllen müßen, es auffzuhalten. Die docktoren leyden hir nicht, daß man das meladie-Kindtpulver braucht. S. auch An Luise, Paris, 15.12.1718, HO, 3, 976, S. 469, St. Cloud, 9.10.1718, HO, 3, 957, S. 403; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 18.9.1718, H, 285, S. 463; An Étienne Polier, o.O., 29.12.1709, VdC, Lf, 454, S. 418: Ma pauvre petite-fille de Valois a la petite vérole très forte avec une grosse fièvre. J’ai porposé la poudre de Milady Kent, mais je vois bien qu’on n’en pas grande envie. Zu dieser Kritik vgl. An Karl Ludwig, St. Cloud, 17.5.1688, HO, 6, N, 18, S. 511–512; An Luise, Paris, 15.12.1718, HO, 3, 976, S. 469.

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sie jedoch missachtet habe und sich nun wieder bester Gesundheit erfreue.90 Mit ihrem Gespür lag Elisabeth Charlotte nicht falsch, denn Kirschen wirken tatsächlich leicht entzündungshemmend.91 In leichten Fiebern, so bekundete Elisabeth Charlotte, versuchte sie zudem sich nicht übermäßig zu schonen, sondern die Heilkraft der Natur durch etwas Bewegung anzuregen: Ich habe manch fieber mitt jagen verdrieben92 , rühmte sie sich etwa 1719 gegenüber von Görtz. Neben solchen diätetischen Praktiken vertraute Elisabeth Charlotte – auch wenn die Ärzte am französischen Hof dies nicht schätzten93 – auf das altbewährte Mylady-Kent-Schwitzpulver.94 Offenbar war Elisabeth Charlotte die genaue Zusammensetzung des Pulvers allerdings nicht bekannt,95 denn sie grenzte es explizit von einem seiner Bestandteile ab96 – dem ebenfalls als schweißtreibendes Mittel bei Fieber und Infektionskrankheiten verwendeten Bezoar.97 Die als Allheilmittel betrachtete Konkretion unverdaulicher Materialien aus Ziegenpansen war Elisabeth Charlotte zufolge in ihrem Umfeld so beliebt, dass Monsieur und Madame de Bouillon sich einmal fast darum geschlagen hätten.98 Als der Earl of Stair, der englische Gesandte am französischen Hof,99 ihr Anfang des Jahres 1715 einen Bezoar-Stein als Geschenk ihrer Briefpartnerin, der Kronprinzessin Caroline von Wales, überbrachte,100 war Elisabeth Charlotte allerdings 90

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Vgl. An Sophie, Versailles, 10.7.1701, NLA-HStAH, XI,1, 317r, vgl. B, 2, 458, S. 5 [sic! Datum]: Das 3 tagige fieber hatt mich vorgestern verlaßen, ich glaube ich habe mich mitt kirschen eßen courirt den man hatte mir die kirschen verbotten man brachte mir aber von St. Cloud ein korb voll schöner kirschen, die habe ich heimblich gefreßen undt seÿderdem daß fieber nicht wider bekommen. Vgl. KNEBEL, Überlebensstrategie S. 227; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 152; An Étienne Polier, o.O., 20.6.1711, VdC, Lf, 581, S. 480. Vgl. KNEBEL, Überlebensstrategie, S. 227. Möglicherweise hatte auch Luise aus diesem Grund bei einer späteren Erkrankung E. Ch.s Kirsch-Wasser empfohlen. Vgl. An Luise, Paris, 20.2.1721, HO, 6, 1203, S. 21. An Görtz, St. Cloud, 21.9.1719, K, 8, S. 70. Vgl. An Luise, St. Cloud, 11.6.1696, HO, 1, 39, S. 67; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 152. An Luise, Paris, 5.1.1719 u. 20.2.1721, HO, 4, 982, S. 5 u. HO, 6, 1203, S. 21. Vgl. etwa An Luise, Versailles, 17.6.1702, HO, 1, 172, S. 292, Paris, 18.10.1715, HO, 2, 736, S. 655, St. Cloud, 22.5.1699, HO, 1, 83, S. 145. Ausführlich 4.III.2. Vgl. An Luise, Versailles, 18.1.1715, HO, 2, 681, S. 505–506: Wie Ihr mir von die artzeney sprecht, so ein stein ist, den man schabt, so muß es ein bezouar sein, aber daß Melady-Kent-pulver thut alles, waß der bezouar thut, undt erhitzt nicht so sehr. Vgl. Art. Bezoar, in: LÉMERY, Dictionnaire (1716), S. 79–80; Art. Bezoar, Bezaar, Bezahard, Bezehard, Pa-Zahar, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 3, Sp. 1658; SCHNEIDER, Lexikon, S. 21–22, hier 21; ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 151–152. S. etwa An Luise, Versailles, 7.2.1715, HO, 2, 685, S. 516: Es hatt mich einmahl woll hertzlich lachen machen. Wie es [Bezoar] Monsieur entpfing, war die duchesse de Bouillon dabey, die vergangen jahr gestorben; die stahl ein par von dieße eyer undt lieff damitt weg. Monsieur lieff nach, umb es wider zu nehmen; sie schlugen sich mitt einander schir, madame de Bouillon behilt den sieg; es war gar possirlich. John Dalrymple (1673–1747), der zweite Earl of Stair, war 1715 Gesandter des aus dem Haus Hannover stammenden englischen Königs George I. Er sollte Kontakte zum künftigen Regenten Philippe d’Orléans, E. Ch.s Sohn, aufbauen. Vgl. H[?]. M[?]. STEPHENS, Dalrymple, John, second earl of Stair (1673–1747), rev. William C. LOWE, in: Oxford Dictionary of National Biography, Online-Edition. Vgl. An Luise, Versailles, 1.2.1715 u. 7.2.1715, HO, 2, 683, S. 514 u. 685, S. 516. Caroline glaubte offenbar, dass der Stein besonders selten sei, was am frz. Hof trotz seiner Kostbarkeit kaum zutraf.

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mehr als verwundert über die Popularität des Heilmittels in England, denn die Jesuiten hatten neben der Chinarinde auch den Handel mit dem kostbaren Bezoar, das sie am St.Pauls-Kollegium im indischen Goa nach einer Rezeptur des portugiesischen Paters Gaspar António künstlich aus Ton, Moschus und Ambra herstellten, im Laufe des 17. Jahrhunderts in Europa monopolisiert.101 Sie schrieb: Mich wundert, daß man in Engellandt etwaß von Jessuwitter nimbt undt ihnen so viel trawet. Ich habe es ahn mylord Stairs gesagt, der hatt hertzlich drüber gelacht. 102 Dass der Earl of Stair Elisabeth Charlottes Vorstellungen von der englischen Medikalkultur mit einem Lächeln bedachte, zeigt, wie ‚unzeitgemäß‘ sie ihm erschienen sein mussten. Elisabeth Charlotte hatte sich gegen Ende ihres Lebens nicht mehr nur darüber zu wundern, dass das Mylady-Kent-Pulver von den Ärzten am französischen Hof nicht angewendet wurde, sondern musste auch feststellen, dass es offenbar den Zenit der Beliebtheit beim englischen Hochadel längst überschritten hatte. Tatsächlich waren spätere Auflagen von ‚A choice Manual‘ ohne den medizinischpharmazeutischen Teil erschienen. 103 Auch hier hatte sich die Chinarinde als Mittel der Wahl für die Fieberbehandlung durchgesetzt.104 Es geht dem meledi-Kent-pulver, wie daß sprichwordt lautt: „Kein prophet gilt in seinem vatterlandt“105 , äußerte sie sich mit Unverständnis über die Veränderungen. Während der verschiedenen Aufenthalte ihrer Halbschwester Luise am englischen Hof hatte sie zwar die Chance genutzt, um sich von dort Mylady-KentPulver zuschicken zu lassen – der Inhalt eines Pakets von Luise, das sie am 13.9.1715 erreichte, entsprach jedoch nicht ihren Erwartungen. Schon im Postskriptum des während der Übergabe des Paketes geschriebenen Briefes an Luise stellte sie fest: Mich deücht, man macht die kugeln nun viel kleiner, alß vor dießem; den die, so I.G. mein herr vatter hatte von der graffin selber, warn viel großer und noch einmahl so groß.106

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Zur Kostbarkeit mit zunehmender Größe des Steins vgl. Art. Bezoar, in: LÉMERY, Dictionnaire (1716), S. 79. Bekannt ist dies u.a. aus dem Reisebericht des englischen Arztes John Fryer, der 1672 mit der Ostindien-Kompagnie nach Indien aufbrach und Goa im Jahr 1675 besuchte. Vgl. John FRYER, A New Account of East India and Persia. Being Nine Years’ Travels 1672–1681, hg. v. William CROOKE, 3 Bde. London 1909–1915, ND Nendeln 1967, Bd. 1, S. xi–xxxviii; zum Bezoar von Goa Bd. 2, S. 11–12. Vgl. auch Fátima DA SILVA GRACIAS, Health and Hygiene in Colonial Goa 1510– 1961, Neu Delhi 1994, S. 282; Charles J. BORGES, The Economics of the Goa Jesuits 1542–1759. An Explanation of Their Rise and Fall, Neu-Delhi 1994, S. 87; zur Rezeptur des auch Pedra Cordial genannten Heilmittels ausführlich Ana Maria AMARO, A famosa pedra cordial de Goa ou de Gaspar António, Revista de Cultura 2,7–8 (1988/89), S. 87–108, hier 87–108; SCHNEIDER, Lexikon, S. 21– 22. An Luise, Versailles, 7.2.1715, HO, 2, 685, S. 516–517. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 312. Vgl. HUNTER, Sisters, S. 178. In Dtl. erschien 1713 allerdings noch eine Übersetzung. Vgl. Art. Kent, (Gräfin von), in: Zedlers Universallexikon, Bd. 15, Sp. 464. Zu dieser Feststellung s. HOBHOUSE, Pflanzen, S. 27. An Luise, Versailles, 27.8.1715, HO, 2, 724, S, 618; vgl. auch 15.8.1715, HO, 2, 722, S. 608: Mich wundert, daß man in Engellandt kein meledi-Kent-pulffer [braucht], welches doch mir undt allen meinen kindern in blattern, röttlen undt fleckfieber daß leben errett hatt. An Luise, Paris, 13.9.1715, HO, 2, 727, S. 629. Vgl. auch 24.9.1715, HO, 2, 729, S. 635: Ich habe Eüch schon geschrieben, daß ich daß meledy-Kendt-pulver, so die printzes von Wallis mir die ehr gethan, zu schicken, ist anderst, alß die ballen, so I.G. unßer herr vatter von obgedachter graffin von Kent hatten.

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Auch was Geschmack, Farbe und Geruch anging, stellte Elisabeth Charlotte später Unterschiede fest. Das neüe war längst nicht mit dem alten Pulver vergleichbar.107 Diese Beobachtungen sah sie einige Jahre später bestätigt, als sie einen gewissen Mylord Kent am französischen Hof traf, angeblich ein Enkel der Countess.108 Er habe ihr erzählt, das Pulver seiner Großmutter bekomme man in der einstigen Herstellungsart nirgendwo mehr und die neue Version sei in der Wirkung nicht mehr mit dem alten zu vergleichen.109 Das Mylady-Kent-Pulver hatte sich offenbar überlebt, denn selbst ihre Tante Sophie verwendete es 1705 wohl nicht mehr zum Schwitzen, was Elisabeth Charlotte mit einiger Verwunderung aufnahm.110 Aufgrund der zahlreichen positiven Verläufe der Fiebererkrankungen, die man mit Quinquina behandelte, schwankte auch Elisabeth Charlottes Bewertung besonders in späteren Jahren.111 1722 berichtete sie sogar selbst von eigenen positiven Erfahrungen mit dem Fiebermittel,112 womit bereits angedeutet sein soll, wie bedeutend Aneignungsprozesse im Laufe ihres Lebens für ihr medikales Repertoire sind.113

2. unßer schuldigkeit, alles zu thun114: Religiöse Pflicht als Handlungsspielraum Wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt werden konnte, war Elisabeth Charlottes Gesundheitsregime mit einem hohen Maß an eigenverantwortlicher Selbstsorge und dem Insistieren auf die Handlungsautonomie über den eigenen Körper verbunden. Dieses aktive Gesundheitshandeln scheint jedoch gerade im Blick auf ihre ablehnende Haltung gegenüber menschlichem Eingreifen in die Ordnung der gottgegebenen Natur erklärungsbedürftig. Muss ihr vor diesem Hintergrund nicht konsequenterweise jegliche Form von Medizin und Gesundheitsprävention durch den Menschen letztlich als Versuch erschienen sein göttliche Souveränität zu beschneiden?115

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An Luise, Paris, 24.9.1715 u. 27.9.1715, HO, 2, 729, S. 636 u. 730, S. 636 (Zit.): Es mag woll gutt sein, es ist [aber gantz] waß anderst, alß was es den nahmen führt, den daß alte pulver, wen man es schabt, ist weißgraw, dießes aber ist schwartz, hatt auch einen gantz andern geruch. An Luise, Paris, 18.10.1715, HO, 2, 736, S. 655: Daß alte englische pulver ist ein wenig weißer, alß daß neüe, undt gar nicht bitter, wie daß, so Ihr mir geschickt habt, so ebenso bitter ist, alß daß saltz von Ipsom. Vgl. CONSIDINE, Art. Grey, Elizabeth, S. 833. Laut diesem Artikel starb die Gräfin kinderlos, was auch für die Mutterschaft in Bezug auf den Grafen von Seltz, Karl Ludwigs illegitimen Sohn, interessant ist. An Luise, St. Cloud, 30.10.1717, HO, 3, 861, S. 117: Ich habe einen mylord Kent hir gesehen, der sagt daß seiner großmutter, weillen man keines mehr von dem alten findt undt man den handtgriff dazu verlohren, daß es niemandts mehr machen kan, undt daß daß neüe gar nichts mehr deücht undt den selben effect nicht mehr thut, so daß alte getahn. Es ist schadt, den es war ein trefflich pulver, mir hatts 2 oder 3 mahl das leben errett. Vgl. An Luise, Trianon, 23.7.1705, HO, 1, 259, S. 406, Marly, 10.7.1712, HO, 2, 556, S. 286: Daß weiße pulver, so I.L. nehmen, ist es nicht meledy-Kendt-pulver, umb zu schwitzen? Vgl. etwa An C. F. v. Harling, Versailles, 17.9.1711, H, 187, S. 324–325, St. Cloud, 18.9.1718, H, 285, S. 463, Paris, 20.4.1719, H, 312, S. 509–510; An Luise, St. Cloud, 17.9.1719 u. 21.9.1719, HO, 4, 1053, S. 245 u. 1054, S. 246; An Görtz, St. Cloud, 21.9.1719, K, 8, S. 70. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 21.5.1722, H, 462, S. 804: Hatt mir doch daß fieber benohmen. Ausführlich 4.III.2. An Luise, St. Cloud, 6.11.1721, HO, 6, 1276, S. 265–266. Vgl. GREYERZ, Natur, S. 51.

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Ihrer calvinistischen Erziehung entsprechend finden sich in Elisabeth Charlottes Korrespondenz vielfach Auseinandersetzungen mit reformierten Glaubensgrundsätzen, vor allem mit der Vorstellung von göttlicher Vorsehung und Erwählung. Die calvinistische Lehre von der (doppelten) Prädestination, also der von Geburt an bestehenden Vorherbestimmung eines Menschen zur Verdammung oder zum ewigem Leben, impliziert – im Übrigen ähnlich wie die lutherische Rechtfertigungslehre116 – eine direkte Abkopplung des (zu erwartenden) Seelenheils des Einzelnen von dessen irdischen Taten.117 Schon in zeitgenössischen Debatten wurde als Konsequenz dieser Grundlegung eine entscheidende Frage gestellt, die Volker Reinhardt in seiner Untersuchung zur calvinistischen Reformation treffend paraphrasiert: „Musste die Vorstellung, dass der Mensch schier gar nichts zu seiner Erlösung beitragen konnte, nicht einen grenzenlosen Fatalismus zur Folge haben? Würde dieses Vorgehen, ohne Anschauung des Willens, des Strebens und des Lebenswandels zu verurteilen, nicht dazu führen, dass die Menschen sich keinerlei Zwang mehr antun, ja ihren zerstörerischen Anlagen die Zügel schießen lassen?“118 Aus zahlreichen Studien ist ersichtlich, dass im Gegenteil ein gesteigerter religiöser Eifer die praktizierte Religiosität von Calvinisten, Pietisten und Methodisten prägte. In seiner Abhandlung ‚Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‘ (1905)119 machte Max Weber auf diesen eklatanten Gegensatz von Dogma und Frömmigkeit aufmerksam. Angesichts der in der Lehre formulierten menschlichen Ohnmacht habe sich unter den Anhängern der calvinistischen Lehre zunehmend ein Gefühl der Angst vor ewiger Verdammung breit gemacht, so vermutete Weber.120 Die Prädestinationslehre, von Calvin als „Anlass und Gegenstand freudiger Gewissheit“ angelegt,121 sei auf diese Weise zu einer „pathetischen Unmenschlichkeit“ umgedeutet worden.122 Zweifelsohne stellte das interpretationsoffene calvinistische Dogma die praktische Frömmigkeit reformierter Christen vor eine besondere Herausforderung. Tugendsame Werke waren für Calvin lediglich „Folge und Wirkung der Erwählung“.123 Aber genau diese Auffassung ließ sich 116

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Vgl. zu praktizierter Werkgerechtigkeit in lutherischen Kreisen TREPP, Glückseligkeit, S. 36–37; TREPP, Order, S. 127; DEASON Theology, S. 174; Sabine HOLTZ, Die Unsicherheit des Lebens. Zum Verständnis von Krankheit und Tod in den Predigten der lutherischen Orthodoxie, in: Hartmut LEHMANN u. Anne-Charlott TREPP (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152), Göttingen 1999, S. 135–157, hier 142. S. etwa Christian LINK, Erwählung und Prädestination, in: Martin Ernst HIRZEL u. Martin SALLMANN (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag (Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 4), Zürich 2008, S. 139–157, hier 143–145. Volker REINHARDT, Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009, S. 63. Vgl. Max WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe, hg. u. eingeleitet v. Dirk KAESLER, 2. Aufl., München 2006, S. 149. Vgl. die von Weber zitierte Westminster confession (1647), WEBER, protestantische Ethik, S. 142– 143. LINK, Erwählung, S. 141. Vgl. WEBER, protestantische Ethik, S. 145. LINK, Prädestination, S. 147. Vgl. Inst. III, 22, 9, in: CALVIN, Unterricht, hg. v. FREUDENBERG, S. 523.

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zum Ausweg aus dem Dilemma umdeuten,124 indem man annahm, die Art und Weise der alltäglichen Lebensführung sei ein sichtbares Zeichen der prädestinierten Erwählung.125 Elisabeth Charlottes Korrespondenz zeugt von einer lebendigen Auseinandersetzung mit der Prädestinationslehre. In ihren Briefen lässt sich das Funktionieren von Religion als jene „Deutungskultur“ nachvollziehen, die – so die Definition von Thomas Nipperdey – die „Wirklichkeit der Lebenswelt konstituiert, das Verhalten der Menschen und ihren Lebenshorizont, ihre Lebensinterpretationen prägt“.126 Elisabeth Charlotte reflektiert die Glaubensgrundsätze dabei sowohl in Bezug auf ihren eigenen Lebensweg und ihre alltägliche Praxis als auch in Bezug auf Jenseitsvorstellungen. Insbesondere ihre Überzeugungen von der zukünftigen Existenz in jener welt, die sie in ihrem Todesjahr mit Luise teilte, offenbaren ein hohes Maß an Vertrauen in die göttliche Erwählung der Glücklichen wie auch in die Verdammung der Unglücklichen. Der Sorge, um das Seelenheil geliebter Personen begegnete sie,127 indem sie sich vorstellte, in jener welt würde man sehr verendert sein: sich nicht kenen und ahn nichts mehr von dießer welt gedencken nur occupirt sein, gott zu dancken, glücklich geworden zu sein.128 Frühere Briefe wie etwa vom August 1714 zeigen hingegen, dass es Elisabeth Charlotte nicht immer leicht fiel, auf diese Vorstellung zu vertrauen. Würde sie überzeugt sein können, ihre Lieben in der Ewigkeit wiederzusehen, so würde ihr der todt leichter ahnkommen. In Bezug auf den ersten Paulusbrief an die Korinther 2,9 meinte sie jedoch, in jener welt werde sein, waß kein aug gesehen, kein ohr gehört undt nie in keines menschen hertz kommen ist. Man werde dann so vollständig von Gott erfüllt, dass alles Irdische bedeutungslos werde.129 Eine solche theozentrische Jenseitsvorstellung begegnet zeitgleich neben reformprotestantischen Kreisen interessanterweise auch im französischen Jansenismus, etwa in den Briefen Madame de Sévignés.130 Aber auch in Bezug auf das Hier und Jetzt legte Elisabeth Charlotte Glaubensgewissheit an den Tag, wenn sie etwa im Juni 1695 an ihre ebenfalls calvinistisch erzogene Halbschwester Luise131 schrieb: 124 125 126

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LINK, Erwählung, S. 147. Vgl. WEBER, protestantische Ethik, S. 153. Thomas NIPPERDEY, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988, S. 7. Für die FNZ bezieht sich Claudia ULBRICH, Shulamith, S. 31, auf dieses Verständnis von Religion. S. auch GREYERZ, Kultur, S. 11; Matthias POHLIG, Ute LOTZ-HEUMANN, Vera ISAIASZ, Ruth SCHILLING, Heike BOCK u. Stefan EHRENPREIS, Einleitung: Säkularisierung, Religion, Repräsentation; in: Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (ZhF Beiheft 41), Berlin 2008, S. 9–20, hier 16–18. Vgl. An Luise, St. Cloud, 28.5.1722, HO, 6, 1331, S. 403: Zu dem so were es auch gewiß, daß man nie recht glückseelig sein könnte; den es mögte geschehen, daß personnen, so man liebt, vielleicht nicht seelig werden. Welch ein hertzenleydt würde man nicht entpfinden, wen man sich kenen solte. Ich kans also nicht glauben. Ebd. S. auch An Luise, Paris, 16.4.1722, HO, 6, 1320, S. 374. An Luise, Versailles, 28.8.1714, HO, 2, 660, S. 428. Vgl. Bernhard LANG u. Collen MC DANNELL, Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt a.M. u. Leipzig 1996, S. 213–214, 229–245, bes. 232–233 u. 245; Cornelia Niekus MOORE, Expectations of Heaven. The Poetic Discipline of Augusta Elisabeth von Posadowsky (1715–1739), in: Marion KOBELT-GROCH u. dies. (Hg.): Tod und Jenseits in der Schriftkultur der Frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen 119), Wiesbaden 2008, S. 227–238, hier 232–233. Aus Luises Lebenslauf ist bekannt, dass sie in Hannover ein reformiertes Bethaus gründete und sich besonders für die hugenottischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich einsetzte. Vgl. KNEBEL, Verwandte, S. 82.

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Were man nicht persuadirt, daß alleß vorgesehen undt nicht zu endern stehet, müste man in stätter qual leben undt allezeit meinen, man hätte sich waß vorzuwerffen; aber sobaldt man betracht, daß gott der allmächtige alles vorsehen hatt undt nichts geschicht, alß waß so lange undt zu allen zeitten von gott verortnet ist, muß man sich woll mitt gedult in alles ergeben undt kan man allezeit mitt sich selber zufrieden sein, wen, waß man thut, in gutter meinung geschicht; daß überige steht nicht bey unß.132

Elisabeth Charlotte verstand also durchaus, aus der Prädestination einen Gewinn zu ziehen, war man doch auf diese Weise zumindest von der qualvollen Verantwortung für das eigene Seelenheil befreit. Dies ermögliche es, die Wege, die das eigene Leben bereithielt, anzunehmen und mit der gleichen Geduld zu ertragen wie den natürlichen Heilungsprozess einer Krankheit. Dem eigenen Handeln setzte Elisabeth Charlotte dennoch klare Grenzen. Man könne mitt sich selber nur dann zufrieden sein, wen, waß man thut, in gutter meinung geschicht. Die ehrliche, gute Absicht galt ihr als oberste Richtschnur des Handelns. Nach calvinistischer Auffassung war Sünde nicht nur der „äußere Vollzug einer von Gott verbotenen Handlung, sondern schon der geringste Antrieb in der menschlichen Seele, dem Bösen nachzugeben (...).“133 Auch die Erwählten seien Calvin zufolge von solchen sündhaften Anfeindungen nicht per se gefeit, Gott aber habe ihnen die innere Stärke verliehen, den Anfeindungen standzuhalten. In den Erwählten allein lebe die Zuversicht, die notwendig sei, um den Glauben bis zum Ende zu bewahren.134 So meinte auch Elisabeth Charlotte im Dezember 1712, die Gerechten seien nicht schwer zu erkennen: In welcher religion es auch sein mag, man kan allein durch die wercke von rechten glauben judiciren; wehr woll thut, liebt gott undt seinen negsten, daß seindt die gesetz undt prophetten, wie unßer herr Christus unß lehrt.135 Aus der Hoffnung auf das Jenseits eröffnete sich also auch und gerade im Calvinismus eine sehr diesseitige Beharrungskraft im Glauben und der aktiven Lebensgestaltung des Einzelnen,136 die sich auch immer wieder in den Briefen Elisabeth Charlottes niederschlägt. In ihrem alltäglichen Schreiben interessierte sie sich insbesondere für die Frage nach der göttlichen Determination von Gesundheit und Krankheit. Auch wenn in ihren Briefen an keiner Stelle die im 17. Jahrhundert noch weitverbreitete Vorstellung von Krankheit als einer göttlichen Strafe zu finden ist,137 waren religiöse Erklärungsmuster dennoch primäre Sinngeneratoren im Angesicht schwerer Erkrankungen. Auch hier spielt die Vorsehung eine wesentliche Rolle, denn wie sie mehrfach überzeugt schrieb, sei einem

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An Luise, St. Cloud, 25.6.1695, HO, 1, 20, S. 35. Vgl. auch Paris, 20.2.1718, HO, 3, 891, S. 189–190. REINHARDT, Tyrannei, S. 65. Vgl. Inst. III 24, 4 u. 2,11 in: CALVIN, Unterricht, hg. v. FREUDENBERG, S. 651 u. 349; REINHARDT, Tyrannei, S. 65–66. An Amalie Elisabeth, Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. Vgl. LINK, Calvin, S. 51: „Die Hoffnung auf die vita futura ist keine Flucht aus dem Diesseits. sie ist die Kraft des Diesseits. Mag das Motiv der Fremdlingsherrschaft sich gelegentlich bis zur Weltverachtung steigern: Calvin bleibt der Anwalt der Erde.“ S. 52: „Der Ausblick auf die jenseitige Vollendung gibt uns das Maß an die Hand, das uns befähigt, unsere irdische Wirklichkeit nicht sich selbst zu überlassen, sondern sie aktiv zu gestalten und so den Schritt vom Glauben ins Leben zu tun.“ Zum Wandel in der Gottesauffassung s. etwa GREYERZ, Natur, S. 45.

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jeden sei sein ziel undt art von sterben bestimbt.138 Selbst mitt allen den remedien entgehe man der stunde nicht, die einem der allmächtige bestimbt hatt, hielt sie 1705 dafür.139 Dabei rekurrierte sie auf die Vorstellung einer ‚therapeutischen Allianz‘ zwischen Gott und Ärzten – ein Muster, das auch Gudrun Piller in Quellen des 18. Jahrhunderts vorfand.140 Das oftmals fatale Handeln der Ärzte erklärte Elisabeth Charlotte dementsprechend bisweilen als von Gott geschickte Verblendung. Wen unßere stundt nicht kommen ist, seindt die docktoren geschickt; ist sie aber kommen, werden sie verblendt undt thun daß contrari, so helffen konnte,141 gab sie 1709 gegenüber der erkrankten Amalie Elisabeth zu bedenken. Dass die docktoren alles finden, was nützlich sein könne, beobachtete sie auch 1719, als sie sich überzeugt zeigte, Gott habe ihrem Leibarzt eingeben, wie ihre Stickflüsse am besten zu behandeln seien, da er sie noch nicht gewolt habe.142 Sei man hingegen zum sterben predestinirt,143 könnten die besten Ärzte, wie gelehrt und von welcher nation sie auch sein mögen,144 keine Heilung herbeiführen. Daran erinnerte sie auch ihre Halbschwester Luise, die im November 1720 vom plötzlichen Tod eines Bediensteten berichtet hatte: Ach, liebe Luise man stirbt nicht von dießes, noch von jenes; man stirbt, weillen die stundt gekommen; den ich bin woll persuadirt, daß ein jedes seine stundt gezehlt hatte, die man nicht überschreitten kan. Also mag man daß leben müdt sein oder nicht, stirbt man doch kein augenblick eher, noch spätter. 145

Während sie in jüngeren Jahren oft bekannte, der starcke glauben sei leÿder ihre sache gar nicht146 , fungierte das Sich-Fügen in den göttlichen Ratschluss gegen Ende ihres Lebens als eine Strategie, die es ihr erlaubte, mit der Unsicherheit des Gesundwerdens besser umzugehen. Ohne sich zu sehr zu sorgen, wolle sie ce que le Seigneur en décidera abwarten,

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An Sophie, Marly, 19.2.1705, NLA-HStAH, XV,1, 95v, vgl. B, 2, 564, S. 100. Ähnliche Aussagen finden sich auch in den von Sophie verfassten Briefen an Luise zum Tod des Raugrafen Karl Moritz, Herrenhausen, 12.10.1702, in: BODEMANN (Hg.), BK, 256, S. 235. S. auch HOLTZ, Unsicherheit, S. 147. An Luise, Marly, 22.2.1705, HO, 1, 229, S. 372. Vgl. auch An Sophie, Versailles, 5.3.1705, NLAHStAH, XV,1, 120r, hier als Rechtfertigung, sich mitt keinen remedien [zu] plage[n]. Vgl. PILLER, Körper, S. 52. An Amalie Elisabeth, Versailles, 16.3.1709, HO, 2, 412, S. 86. Vgl. bereits an Sophie, Marly, 9.4.1693, NLA-HStAH, IV, 65v–66r, B, 1, 167, S. 183; An Luise, St. Cloud, 9.5.1720 u. 26.4.1721, HO, 5, 1120, S. 140 u. HO, 6, 1223, S. 93. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, Paris, 29.12.1719, V, 39, S. 72. An Sophie, Versailles, 3.6.1708, NLA-HStAH, XVIII,1, 347r, vgl. B, 2, 659, S. 180. An Luise, Versailles, 15.8.1715, HO, 2, 722, S. 608. An Luise, St. Cloud, 30.11.1720, HO, 5, 1179, S. 352–353 Vgl. An Sophie, Versailles, 7.5.1702, NLA-HStAH, XII,1, 262v, vgl. B, 2, 500, S. 43: Ich sage leÿder weilen Ich sehe daß es glücklich macht undt Ich halte vor ein groß glück weillen man ja sterben muß, persuadirt zu ein können daß man nach dem todt viel glücklicher alß vor her sein kan undt also mitt freüden stirbt. Vgl. auch 22.12.1709, ebd., XIX,2, 1058/1059r [fehlerhafte Nummerierung], B, 2, 714, S, 233 [sic! Datum]; An Luise, Marly, 20.5.1706, HO, 1, 313, S. 463; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 4.7.1722, H, 467, S. 810; An Étienne Polier, Fontainebleau, 21.9.1702, VdC, Lf, 168, S. 192; LÜDER, Religion, S. 53 u. 57.

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schrieb sie beispielsweise 1703 an Polier.147 Auch beim Herannahen der Pest 1720 erlaubte diese Überzeugung ihr offenbar furchtlose Gewissheit:148 Daß erschreckt mich gar nicht; es wirdt mir nur begegnen, waß gott der allmächtige über mich vorsehen hatt. Stirb ich von der pest, so werde ich nicht von waß anderst sterben. 149 Dieser Gleichmut in Bezug auf die Unwägbarkeiten des Lebens, Krankheit und Tod wird von Van der Cruysse und Forster auf stoizistisches Gedankengut zurückgeführt, von dem ihre Tante Sophie, ihr Vater Karl Ludwig und folglich auch Elisabeth Charlotte geprägt gewesen sein sollen. 150 Sophie etwa gab in ihren Briefen des Öfteren folgende devise aus: „Senza turbarmi al fin m’acosto – Ich gehe meinem Ende entgegen ohne mich zu beunruhigen.“151 Auch bei ihr stehen stoizistische Vorstellungen aber in jener spezifischen Verbindung zu religiösem Prädestinationsglauben, der für Elisabeth Charlotte konstitutiv war.152 Ihren Husten etwa nahm auch Sophie mit gedult, wie Gott es schickt und ärgerte sich, dass sie sich alle remedi, die mir gesacht werden von alle die mir besuchen, die alle underschiedlich sein, anhören müsse.153 Die Wirkmächtigkeit menschlichen Eingreifens wird hier genauso deutlich relativiert, wie in der folgenden Aussage Elisabeth Charlottes aus einem Brief an Luise vom November 1721: Man hatt offt gespürt, nicht allein in kranckheitten, sondern in allerhandt begebenheitten, daß waß wir menschen offt thun, ein unglück zu verhütten, daß macht es geschehen. Daß erweist woll, daß der menschen vorsorg wenig hilfft.154

Nie ist diese Haltung jedoch als ‚Fatalismus‘ zu verstehen – weder in jüngeren Jahren noch im Alter. Vielmehr resultiert aus dem religiösen Glauben gleichzeitig unßer schuldig-

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An Étienne Polier, Versailles, 5.2.1703, VdC, Lf, 185, S. 242; vgl. auch 24. u. 25.5.1711, VdC, Lf, 568 u. 569, S. 474; An C. F. v. Harling, St Cloud, 17.9.1721, H, 426, S. 753; An Luise, St. Cloud, 13.11.1721 u. 25.6.1722, HO, 6, 1278, S. 268–269 u. 1338, S. 420. Zur Normativität der Furchtlosigkeit s. Andreas BÄHR, Furcht und Furchtlosigkeit. Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17. Jahrhundert (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 14), Göttingen 2013, hier 228–260. An Luise, St. Cloud, 5.12.1720, HO, 5, 1180, S. 355. Diese Aussagen stehen eventuell in einer Verbindung mit einer wenige Monate später artikulierten Lebensmüdigkeit. Vgl. An Luise, Paris, 13.2.1721, HO, 6, 1201, S. 16. Vgl. FORSTER, Illness, S. 308 u. 316; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 462. Etwa Sophie an Luise, Herrenhausen, 12./22.2.1697, in: BODEMANN (Hg.), BK, 163, S. 154. Vgl. ROHR, Sophie, S. 37; KNOOP, Kurfürstin, S. 221. An Sophie, Marly, 16.5.1696, NLA-HstAH, VI, 70r–71v: waß E.L. undt ich so vest glauben nehmblich daß alles verhencknuß ist, zu gedenken daß ich noch ärger sein konte ist die eintzige kunst so ich gefunden daß unglück mitt gedult zu fassen undt bin gantz stoltz, daß ich hirin mitt E.L. gedancken eingefunden. Versailles, 15.12.1712, ebd., XXII, 737r: Ich bin woll E.L. meinung daß alles von gottes providentz undt seinem verhenknuß kompt undt daß man mitt allem zu frieden sein muß, mein parthie ist auff alles gefasst, kan alles außstehen außer E.L. verlust. Sophie an Luise, Herrenhausen, 21.10.1708, in: BODEMANN (Hg.), BK, 324, S. 290. Vgl. dazu das von Tante und Nichte geteilte religiös geprägte Konzept des verhengnuß, das mit einer stoischen Haltung gegenüber Unglück und Traurigkeit verknüpft wird (4.I). An Luise, St Cloud, 6.11.1721, HO, 6, 1276, S. 265–266. Vgl. auch An Étienne Polier, o.O., 31.5.1711, VdC, Lf, 572, S. 475: Vous me donnez le meilleur médecin [seinen seelsorgerischen Beistand als frommer Calvinist]; sans celuis-là, les autres ne peuvent rien.

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keit, alles zu thun, waß wir vor unß wißen undt ersinen können zu unßerem besten,155 so setzte Elisabeth Charlotte fort. Dies bedeute zum einen, da man die eigene Todesstunde nicht kenne, dass mans woll mitt den Ärzten wagen müsse;156 zum anderen aber auch die Pflicht zum verantwortungsbewussten Umgang mit dem Körper nach bestmöglichem menschlichen Wissen.157 Daraus eröffnete sich gleichzeitig ein sehr diesseitiger Handlungsspielraum, um den Körper im Rahmen der eigenen – menschlichen – Kräfte gesund zu erhalten.158 Ein langes Leben bei guter Gesundheit galt wiederum als Zeichen (vorweggenommener) göttlicher Gnade159 – während eine ungenügende diätetische Selbstsorge die von Gott gegebene Lebenszeit zu verkürzen drohte.160 In diesem Sinne versuchte Elisabeth Charlotte ihre Tugend an ihrem Umgang mit dem Körper sichtbar werden zu lassen.161 An Herrn von Harling schrieb sie im Mai 1721 voller Unverständnis, sie könne nicht begreifen, wie um sie herum die Tugend so wenig gesucht undt gefolgt wirdt, undt man lieber alles thun will, waß so billig alle verachtung, ellende boße gesundtheit, undt gefahr sehl undt lebens nach sich zicht. Denn Gott habe uns durch sein hëyliches wordt und seine gnade doch die mittel gegeben, uns aus alledem zu retten, mit Hilfe gutte[r] undt tugendtsame[r] wercke tun, der früchte unßeres glaubens.162

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Ebd. Jegliche Handlungen gegen die Gesundheit waren in diesem Sinne unrecht. Vgl. 11.6.1722, HO, 6, 1334, S. 410–411. An Sophie, Versailles, 3.6.1708, NLA-HStAH, XVIII,1, 347r, vgl. B, 2, 659, S. 180. Diese wird auch bei Luther und Melanchthon betont. Vgl. Joachim MEHLHAUSEN, Art. Krankheit VI., Reformationszeit, in: Gerhard MÜLLER (Hg.), Theologische Realenzyklopädie [TRE], Bd. 19, Berlin, New York 1990, S. 696–697; Mitchell Lewis HAMMOND, „Ora Deum, & Medico tribuas locum“. Medicine in the Theology of Martin Luther and Philipp Melanchthon, in: Kaspar von GREYERZ, Thomas KAUFMANN, Kim SIEBENHÜNER u. Robert ZAUGG (Hg.), Religion und Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 210), Heidelberg 2010, S. 33–50, hier 34 u. 49–50 u. ausführlich zu Luther S. 38–41 sowie zu Melanchthon, S. 43–45. S. etwa An Luise, Marly, 31.5.1711, HO, 2, 528, S. 253: Man muß die kranckheitten verhütten, so viel man kan. S. JÜTTE, Medizin, S. 15; Roy PORTER, Pain and Suffering, in: W. F. BYNUM u. Roy PORTER (Hg.), Companion encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 2, New York 1997, S. 1574–1591, hier 1585 u. Religion and Medicine, in: Ebd., S. 1449–1468, hier 1451; mit Bezug auf die Autobiographie Augustin Güntzers (1596–um 1657) Dominik SIEBER, Erlesenes Leid und selbstbewusste Gesten. Die religiösen Leitbilder Augustin Güntzers, in: Fabian BRÄNDLE u. Dominik SIEBER u. M. v. Roland E. HOFER u. Monika LANDERT-SCHEUBER (Hg.), Augustin Güntzer. Kleines Biechlein von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert (Selbstzeugnisse der Neuzeit 8), Köln, Wien, Weimar 2002, S. 28–58, hier 30. Vgl. LABISCH, Homo Hygienicus, S. 72–73. Vgl. BERGDOLT, Leib, S. 223–225. Zur Verbindung von Körperpraxis und Frömmigkeit im Calvinismus s. etwa ELWOOD, Theologie, S. 128–129 u. 132: Calvin „bestand darauf, dass der Leib eines Christen den inneren Zustand der Seele in unverfälschter Weise widerspiegeln müsse; wer Gott in Wahrheit anbetet, müsse die äussere Form des Gottesdienstes der inneren Frömmigkeit von Herz und Verstand anpassen.“ LINK, Calvin, S. 34. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 11.5.1721, H, 403, S. 711: Aber weilen unß gott durch sein hëyliches wordt doch auß barmherzigkeit lernt – wie wir durch wahren glauben ahn seinen sohn, undt gutte undt tugendtsame wercke – so die früchte unßeres glaubens sein, durch gottes gnaden, die mittel haben, unß auß unßer ellendt zu erretten, so

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Aus der Antike stammende und in der Renaissance aktualisierte diätetische Wissensbestände um aktives Gesundheitshandeln ließen sich auf diese Weise in den christlichen Lebensentwurf integrieren. Selbstsorge und Selbstverantwortung gegenüber dem Leib und der Gesundheit lebte Elisabeth Charlotte in einem weitgehend selbst konzipierten und über das tägliche Schreiben selbst kontrollierten diätetischen Programm aus. Handlungsspielraum bedeutete somit auch Freiraum, den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu folgen. Diese Selbstverantwortung und die Sinnangebote der Religion wirken somit, anders als lineare säkularisierungs- und individualisierungstheoretische Entwicklungsmodelle annehmen,163 in direkter Verknüpfung als sich ergänzende Prinzipien.164

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kompt es mir unsinig vor, daß die leütte – undt dazu die vornehmbsten, so mit lust ihre seeligkeit – reputation undt gesundtheit verschertzen wollen – vor nichts als wüstereÿen. Zur Diskussion um den Säkularisierungsbegriff s. Hartmut LEHMANN, Jenseits der Säkularisierungsthese. Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 178–190 u. Säkularisierung, Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Wallstein, Göttingen 2004, S. 57; POHLIG u.a., Einleitung, bes. S. 12–13. So auch das Fazit von Alfons LABISCH, The social construction of health, in: Jens LACHMUND u. Gunnar STOLLBERG (Hg.), The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 1), Stuttgart 1992, S. 85–101, hier 88: „Health-orientated behaviour developed into the value-rational principle of everyday individual behaviour. These principles fitted in smoothly with the supreme religious orientation. Healthorientated public conditions became the prerequisite for this way of life.” In Bezug auf Gesundheit liest man jedoch auch 2005 in einer Einführung zur Körpersoziologie SCHROER, Einleitung, S. 17: „Im Zuge dieses Prozesses [Individualisierungsprozess] erscheint Gesundheit nicht mehr länger als göttliche Gabe, sondern als durch indviduelle Lebensführung erlangbares Gut.“

ZWISCHENFAZIT

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IV. Zwischenfazit: Das Selbst und die ‚somatische Kultur‘ der Familie Der erste Teil ‚DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN‘ rekonstruierte aus Elisabeth Charlottes Briefen die Bedeutung der familiären Herkunft für ihr Wissen über den Körper, ihre praktischen Umgehensweisen mit ihm und ihr leibliches Empfinden. Parallel dazu wurden verschiedene Korrespondenzen aus ihrem familiären Umfeld herangezogen und gemeinsame Deutungs- und Handlungsmuster herausgearbeitet. Schon vor Elisabeth Charlottes Verheiratung wurden im Briefwechsel zwischen Kurfürst Karl Ludwig und Anna Gonzaga Konsequenzen einer Veränderung ihres Lebensumfeldes intensiv diskutiert (I.1). Den Pfälzer und den französischen Hof betrachtete man in Bezug auf die vorherrschenden Umweltbedingungen, die diätetischen Gewohnheiten der Lebensführung und die im Krankheitsfall üblicherweise angewandten Behandlungsmethoden als äußerst unterschiedlich. Kurzfristige oder dauerhafte Ortswechsel bei Reisen und Migration erschienen deswegen als Herausforderung für den körperlichen Leib und seine Gesundheit. Karl Ludwig, dessen unehelicher Sohn bereits 1660 bei einem Parisaufenthalt gestorben war, war höchst besorgt um Elisabeth Charlotte. Selbst in seinem öffentlich gemachten Antwortschreiben auf ihr Konversionsbekenntnis, von dem er selbstverständlich vorher wusste, verpflichtete er seine Tochter deshalb nachdrücklich auf die im familiären Zusammenleben gewohnte gesunde Lebensführung. Das Konfliktpotential zwischen diesen alten Verpflichtungen und den ‚neuen Anforderungen‘, die man am französischen Hof an die Lebensweise der neuen Madame stellte, zeigte sich schon in Elisabeth Charlottes ersten Briefen nach der Übersiedlung, in denen sie unterschiedliche Lebensgewohnheiten hir und bey unß feststellte (I.2). Im Februar 1672 erkrankte sie das erste Mal am französischen Hof – aus ihrer Sicht ein Zeichen dafür, dass der gewohnte Umgang mit dem körperlichen Leib in der neuen Umgebung mit ihren klimatischen Bedingungen und den üblichen diätetischen Ernährungs- und Bewegungspraktiken in Unordnung geraten war. Zu allem Überfluss sah sich der auf das diätetische Regime der Herkunftsfamilie konditionierte Leib auch noch mit ungewohnten und vielmehr für gefährlich gehaltenen medikalen Behandlungsmethoden konfrontiert. Gegen diese setzte Elisabeth Charlotte sich, so ihre brieflichen Aussagen, energisch zur Wehr und verteidigte somit die explizit vermittelten und implizit erlernten Prinzipien der ‚somatischen Kultur‘1 ihrer Herkunftsfamilie. Nicht allein in Bezug auf diese erste 1

Der Begriff wurde 1971 von dem frz. Soziologen und Bourdieu-Schüler Luc Boltanski zum ersten Mal verwendet, um die Gesamtheit der Regeln zu bezeichnen, die einen „Kodex der guten Sitten für den Umgang mit dem Körper“ innerhalb einer sozialen Gruppe bilden. Vgl. Luc BOLTANSKI, Die soziale Verwendung des Körpers, in: Dietmar KAMPER u. Volker RITTNER (Hg.), Zur Geschichte des Körpers, Wien, München 1976, S. 138–183. Vgl. auch MEUSER, Frauenkörper, S. 278 u. Petra KOLIP, Geschlecht und Gesundheit im Jugendalter. Die Konstruktion von Geschlechtlichkeit über somatische Kulturen, Opladen 1997, S. 17, die den Begriff versteht als „kollektive Stile der Auseinandersetzung mit der Umwelt, die in somatischen Reaktionen und Verhaltensweisen ihren Ausdruck finden. Sie beschreiben die Art und Weise, wie Individuen mit ihrem Körper umgehen, wie er erfahren, gelebt und präsentiert wird. Der Begriff meint nicht nur das Erleben und Ausdrücken von körperlichen Empfindungen, sondern umfasst ebenfalls gesundheitsrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen sowie subjektive Bewertungen des eigenen Gesundheitszustandes. Somatische Kulturen reflektieren auf psychischer, somatischer und Verhaltensebene die Verarbeitung kollektiver und individueller Erfahrungen.“

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DAS GENEALOGISCHE SELBST ERZÄHLEN

Krankheitsphase konnte gezeigt werden, dass Verwandtschaft, wie Robert Jütte für die Frühe Neuzeit allgemein annimmt, als „entscheidende[s] Bezugssystem für die Interpretation von Krankheit“2 fungierte.3 Familie und Verwandtschaft, die zentralen Strukturprinzipien der frühneuzeitlichen Gesellschaft, prägten Wissenskonzepte, alltägliche Praktiken wie auch das affektivleibliche Empfinden. Die Mitglieder der kurpfälzischen Familie definierten sich selbst über den gemeinsam geteilten gesunden und starken Leib, dem eine besondere natürliche Heilkraft innewohnte, ein Erbe, das man auf Elisabeth Charlottes Großmutter Elizabeth Stuart zurückführte (II.1). Die familiäre bzw. genealogische Zugehörigkeit war dem körperlichen Leib förmlich eingeschrieben – Subjektivität äußerte sich also gerade über den (im Sinne Kormanns) heterologen4 Bezug zur familiären Gemeinschaft. Gleichzeitig erwuchs aus dieser Teilhabe für Elisabeth Charlotte aber auch die Verpflichtung, die eigene leibliche Stärke durch entsprechende Praktiken zu bewahren. Dies implizierte, sich von medizinischen Eingriffen fernzuhalten und die Natur selbst operiren zu lassen. Diese Praktiken korrespondierten dabei in hohem Maße mit leiblichen Empfindungen, z.B. den Aversionen gegen den Geschmack von Heilmitteln oder dem intensiven Erleben eigener körperlicher Schwäche nach Aderlässen, und wurden durch diese stabilisiert und fürderhin legitimiert. Der Bezug zur familiären Gemeinschaft prägte nachhaltig, wie und was Elisabeth Charlotte leiblich fühlte, wann, wie oft und womit sie ihre Krankheiten behandeln ließ bzw. wie sich selbst behandelte (bes. II.2 u. III.1). Dabei konnte durch einen genaueren Blick auf das von Elisabeth Charlotte so häufig angewendete vom englischen Hof stammende Mylady-Kent-Pulver nachgewiesen werden, wie die damit verbundene Behandlungsstrategie in der kurpfälzischen Familie über Generationen hinweg tradiert und das Heilmittel als materieller Artefakt zwischen den verschiedenen Höfen Europas verbreitet wurde (II.2 u. 3). Diese sind mitnichten homogene Entitäten, sondern im Gegenteil als von vielfältigen Einflüssen geprägte Knotenpunkte kultureller Verflechtung zu verstehen.5 Die Rezeption des Mylady-Kent-Pulvers in der medikalen Kultur am französischen Hof als Teil einer als regime à l‘allemande interpretierten Behandlungsmethode eröffnete den Blick aber auch auf die Bedeutung von nationalkultureller Zugehörigkeit als Kategorie für die Zuordnung und Bewertung wahrgenommener kultureller Unterschiede (II.2). Dies führt vor Augen, dass die Prozesse der Nationalisierung der Mentalitäten im frühneuzeitlichen Europa ohne die Rolle des Körpers bzw. körperlicher Gewohnheiten nicht zu denken sind. 2

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JÜTTE, „Weib“, S. 15; JÜTTE, Krankheit, S. 234. Vgl. auch den ähnlichen Befund der medizinsoziologischen Untersuchung von Jutta DORNHEIM, Kranksein im dörflichen Alltag. Soziokulturelle Aspekte des Umgangs mit Krebs (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde 57), Tübingen 1983, S. 132 im dörflichen Umfeld im Dtl. der 1970er Jahre. Vgl. in Bezug auf kulturelle Gewohnheiten auch NOLDE u. OPITZ-BELAKHAL, Kulturtransfer, S. 8, denen zufolge zahlreiche ins Ausland verheiratete adlige Frauen eine besonders enge Bindung an die kulturellen Gewohnheiten der Herkunftsfamilie zeigten. Vgl. zur familiären Prägung der somatischen Kulturen auch die in II. zitierten Beispiele Wilhelms VII. von Hessen-Kassel und der Anna d’Este. Vgl. FORSTER, Illness, S. 320: „Her views about illness, health and the medical practitioners must be understood in the context of her cultural heritage.” KORMANN, Ich, S. 300. Vgl. zu dieser Sichtweise NOLDE u. OPITZ-BELAKHAL, Kulturtransfer, S. 5. S. 4.III.

ZWISCHENFAZIT

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Aus medikalen und diätetischen Praktiken sowie den damit verbundenen Wissenskonzepten leiteten sich vielfältige Selbst- und Fremdpositionierungen im sozialen und diskursiven Gefüge ab (II.2 u. 3). Neben der Bedeutung kulturräumlich-‚nationaler‘ Zuschreibungen war entscheidend, dass der Umgang mit dem körperlichen Leib die Würde des Adelsstandes ausdrückte. Dabei gab es jedoch unterschiedliche, um nicht zu sagen konkurrierende Auffassungen, wie dies zu erreichen sei. Während sich Adelswürde für Elisabeth Charlotte in einem von Natur aus, d.h. gottgegebenen, gesunden und kräftigen Leib ausdrückte (II.1 u. III.2), dokumentierte man am französischen Hof hegemoniale Statusansprüche gerade dadurch, dass man die körperliche Natur durch den exzessiven Gebrauch aller den Menschen zur Verfügung stehenden Methoden beherrschte (II.1). Hier vertraute man folgerichtig auf die Heilkünste akademisch gebildeter, d.h. ausschließlich männlicher Ärzte, während Elisabeth Charlotte, den familiären Maximen entsprechend, eine auf der praktischen Erfahrung heilkundiger Personen – und dies waren zum großen Teil Frauen – beruhende naturbelassene Medizin präferierte. Die Wahl einer medikalen Strategie war also auch eine Positionierung in Bezug auf die sich verändernden Geschlechterverhältnisse in der Frühen Neuzeit (II.2). Elisabeth Charlottes briefliche Erzählungen bzw. Beschreibungen von der Praxis und den damit verbundenen situativen sozialen Positionierungen wurden vor allem im dritten Kapitel in den zeitgenössischen diskursiven Kontext eingeordnet,6 um zu analysieren, in welchen Wechselbeziehungen die ‚somatische Kultur‘ der Familie mit naturphilosophischen Wissenskonzepten stand. Dabei ließ sich über die Verbindungen der kurpfälzischen Familie zu Gelehrten wie Leibniz und van Helmont eine Nähe zu organischvitalistischen, d.h. anticartesianischen Naturauffassungen und zu paracelsischhelmontischen medikalen Konzepten nachweisen, die ihrerseits in konfessionellpolitische Kontexte eingebunden waren. Die medikalen und diätetischen Praktiken der Familie (II.1 u. III.1) rekurrierten dabei in vielfältiger Weise auf diese Wissensordnungen und stellten gleichzeitig eine effektive Praktik der sozialen Verortung dar. Ausgehend von Familie und Verwandtschaft als Mittlerinstanz für die Ausbildung einer ‚somatischen Kultur‘ konnte somit gezeigt werden, wie aus dem Körperwissen und der entsprechenden Praxis diskursive und soziale Postionierungen abgeleitet wurden. Diese rekurrieren wiederum auf vielfältige intersektional miteinander verknüpfte ständische, religiöskonfessionelle, kulturräumliche und geschlechtsbezogene Differenzierungen.7

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Vgl. SARASIN, Mapping, S. 447. Aufgabe der Körpergeschichte sei zu zeigen, „wie die Vorstellung dessen, was mein ‚individueller‘ Körper sei, von bestimmten Diskursen angeleitet wird“. Vgl. auch MEUSER, Frauenkörper, S. 278.

TEIL 3 – DAS VERGESCHLECHTLICHTE SELBST ERZÄHLEN

Im Fokus des folgenden Teils steht die Lektüre der Briefe Elisabeth Charlottes aus einer dezidiert geschlechtergeschichtlichen Perspektive. Körper bzw. Leib bildet dabei das Brennglas, unter dem die interaktiven Herstellungsprozesse von Geschlecht durch Handlung und Kommunikation (doing gender) in den Blick genommen werden sollen. Denn Vorstellungen von Geschlecht manifestieren sich in vielfältiger Weise am Körper und zugleich werden Selbstbilder in ihrer Geschlechterbezogenheit mittels gelebter Körperpraxis zum Ausdruck gebracht. Doing gender… while doing the work of bodies1 – so werden diese Zusammenhänge in der konstruktivistischen Geschlechtertheorie formelhaft zusammengefasst. Lebensgeschichtliche Erzählungen jedweder Art eröffnen den Blick auf solche Herstellungsprozesse (in der Wahrnehmung derjenigen, die sie erzählen). Denn in Erzählungen werden Personen bzw. Figuren in bestimmter Weise geschlechtlich markiert und als solche adressiert sowie Handlungen in Bezug auf geschlechtliche Zuschreibungen geschildert. Sie repräsentieren damit bestimmte diskursive, d.h. in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit denk- und sagbare Auffassungen von Geschlecht bzw. vom Frau- oder Mannsein. Wie die Erzähl- und Biographieforschung herausgearbeitet hat, stellt die Praxis des Schreibens bzw. Erzählens selbst eine äußerst wirkmächtige Form des doing gender dar. Denn im Prozess des Erzählens bzw. Schreibens wird Geschlecht in bestimmter Weise performativ hergestellt (narrating gender).2 Erzählungen vom vergeschlechtlichten Körper bzw. Leib in Selbstzeugnissen dürften folglich in besonderer Weise geeignet sein, um das Handeln einzelner Personen in der Verschränkung mit diskursiv konstruierten Normvorstellungen zu beleuchten. Indem die folgenden Kapitel analysieren, wie Elisabeth Charlotte unter Rückgriff auf Körper und Leib das alltägliche Tun von Geschlecht erzählt, werden beide Dimensionen in ihrem Zusammenwirken betrachtet. Dabei werden verschiedene Themenbereiche von der höfischen Jagd über Strategien der Körpergestaltung (Schminken, Figurkontrolle) sowie den Konsum von Genussmitteln (Alkohol und Tabak) bis hin zu sexuellen Verhaltensweisen in den Blick genommen.3 Es soll analysiert werden, welche Geschlechterkonzeptionen in den Erzählungen und Beschreibungen einzelner Praktiken zum Ausdruck kommen und in welchem Verhältnis diese zu gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen 1 2

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Vgl. WEST u. ZIMMERMAN, Gender, bes. S. 4–5; TURNER, Body, S. xiii u. 1.I u. II. S. OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 32; WAGNER u. LAFERL, Anspruch, S. 44 u. 47; aus literaturwiss. Sicht Sigrid NIEBERLE u. Elisabeth STROWICK, Narrating Gender. Einleitung, in: Dies. (Hg.), Narration und Geschlecht. Text – Medien – Episteme, Köln 2006, S. 7–22, hier 7–8; Vera u. Ansgar NÜNNING, Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart, Weimar 2004; aus Sicht der Biographieforschung DAUSIEN, Leben, S. 58 u. 71. Die Auswahl erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. So konnte etwa der im Themenbereich der aktiven Körpergestaltung und -zurichtung sicherlich ebenso interessante Aspekt der Kleidung und Frisurgestaltung aus pragmatischen Gründen nur exemplarisch untersucht werden. Zur Kleidung vgl. insbesondere die hervorragende Studie von JONES, Sexing, S. 7–70, bes. 19–20 u. 47– 64.

DAS VERGESCHLECHTLICHTE SELBST ERZÄHLEN

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an ‚adelige Frauen‘ stehen. Im Anschluss an Joan Scotts Plädoyer für Gender als „nützliche[r] Kategorie“ wurde Geschlecht in zahlreichen Arbeiten erstens als Strukturfaktor sozialer Differenzierung, zweitens als zentrale Argumentationsfigur wirkmächtiger Diskurse und drittens als prägendes Element von Subjektpositionen bzw. Selbstbildern untersucht.4 Für die Frühneuzeitforschung konnte dabei gezeigt werden, dass und wie Geschlecht in der ständischen Gesellschaft mit zahlreichen weiteren Kategorien wie „Lebensalter, Zivilstand und sozialer Schicht“ zusammenwirkt,5 wobei kritisch anzumerken ist, dass die von Heide Wunder zur Charakterisierung der frühneuzeitlichen Verhältnisse ins Feld geführte Vorstellung einer „universellen Strukturierungskraft“ von Geschlecht in der bürgerlichen Moderne zweifelhaft erscheint.6 Es scheint geschlechtertheoretisch eher von zeitloser Gültigkeit zu sein, dass, wie Claudia Ulbrich und David Sabean für die Frühneuzeitforschung feststellen, Geschlecht als Kategorie „dezentriert und in ihrer jeweiligen Interdependenz mit anderen Determinanten (in der Frühen Neuzeit besonders: Stand, Religion, Verwandtschaft) und in der Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Normensystem“ untersucht werden müsse.7 Auch Karins Hausens äußerst einflussreiches Konzept der Erfindung polarer Geschlechtscharaktere in den bürgerlichen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts stützte eine vor allem in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft zu findende Überzeichnung der Frühen Neuzeit als einer Epoche freiheitlicher und damit die Person weniger stark determinierender Geschlechterverhältnisse. Daher scheint mir sinnvoll, von der heteronormativen Differenzierung der Gesellschaft als analytischem Fixpunkt auszugehen. Auch Judith Butler hat in ihrem Aufsatz ‚Bodies and Pleasures revisited‘ auf das kritische Potential dieser Interpretationsfolie aufmerksam gemacht und vor einer allzu romantisierenden Betrachtung der Vormoderne gewarnt.8 Zu fragen ist in Bezug auf die Frühe Neuzeit, Claudia Ulbrich folgend, vielmehr nach dem jeweiligen Spannungsverhältnis zwischen der „binären Grundstruktur der Geschlechterdifferenz“ und den in Texte eingeschriebenen geschlechtsbezogenen Handlungsmöglichkeiten in sozialen In4

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Vgl. den programmatischen und vor allem im deutschsprachigen Raum äußerst einflussreichen Aufsatz (Original 1986; dt. 1994) von SCOTT, Gender, S. 52–55. Vgl. aus Sicht der Frühneuzeitforschung etwa VOGEL u. WECKEL, Vorwort, S. 9; ULBRICH, Überlegungen, S. 361–363; Claudia ULBRICH u. David W[arren] SABEAN, Personkonzepte in der Frühen Neuzeit, in: Claudia von BRAUNMÜHL (Hg.), Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog (Schriftenreihe Wissenschaft), Berlin 2003, S. 99–112, hier 107; GRIESEBNER u. LUTTER, Selbst, S. 54–55; GRIESEBNER u. LUTTER, Kultur, S. 59. Vgl. WUNDER, „Er ist die Sonn“, S. 264: „Der Blick auf die Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit (…) hat gezeigt, daß in der ständischen Gesellschaft die ‚Kategorie Geschlecht‘ nicht die universelle Strukturierungskraft wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts besaß. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war die Wirksamkeit der Geschlechtszugehörigkeit nach Lebensalter, Zivilstand und sozialer Schicht gestuft.“ In die Gesamtbewertung müsste m.E. auch einfließen, wie sich die Verhältnisse an den Rändern des Bürgertums bzw. im außereuropäischen Raum gestalteten. ULBRICH u. SABEAN, Personkonzepte, S. 107. Vgl. Judith BUTLER, Revisiting Bodies and Pleasures, in: Theory, Culture & Society (1999), S. 11–20, hier 16 u. 18: „But I do think that the fantasy of transcending gender in the name of sexuality, when and where it is installed as a heuristic for sexuality studies, keeps us from asking certain crucial questions about the formation of sexuality across gender (…).”

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DAS VERGESCHLECHTLICHTE SELBST ERZÄHLEN

teraktionen und Kommunikationen.9 Die Orientierung am Konzept doing gender ermöglicht in diesem Sinne, Aufführungsweisen von Geschlecht auf der Handlungsebene in den Selbstzeugnissen zu fokussieren, die dem gesellschaftlichen Zwang entspringen, sich als ein Geschlecht zu erkennen zu geben, potentiell aber auch eine Ressource für Grenzgänge und -überschreitungen bestimmter Geschlechterkonventionen bereitzustellen.10 Der intersektionalen Herangehensweise der Arbeit verpflichtet, werden die interaktiven Herstellungsprozesse von Geschlecht im Text in ihrer Verschränkung mit verschiedenen anderen Kategorien analysiert, mit Hilfe derer Menschen sich selbst und andere wahrnehmen, definieren, sich abgrenzen (doing difference)11 und somit positionieren bzw. positioniert werden.12 Gefragt werden muss, wie und in Bezug auf welche weiteren Kategorien die Schreiberin sich selbst und andere Personen im Text geschlechtsbezogen markiert und an welchen Wissensbeständen und normativen Konzepten sich diese Darstellungen orientieren. Dies erfolgt im Wesentlichen in zwei Analyseteilen, in denen die Körperpraktiken im Kontext ihrer dynamischen (2) und beharrenden (3) Ausprägungen untersucht werden. Als Grundlage für die Analyse wird zunächst das komplexe Verhältnis zwischen Körper und Geschlecht in der Frühen Neuzeit diskutiert (1). Eingeleitet wird dieser forschungsbezogene Problemaufriss mit einer Passage aus den Briefen Elisabeth Charlottes, die die Relevanz dieser Fragen für die Analyse des zu Grunde liegenden Quellenmaterials aufzeigt.

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Vgl. ULBRICH, Überlegungen, S. 363. S. etwa WEST u. ZIMMERMAN, Gender, S. 5; GRIESEBNER, Geschlecht, S. 46. Zum Konzept s. Candace WEST u. Sarah FENSTERMAKER, Doing Difference, in: Sarah FENSTERMAKER u. Candace WEST (Hg.), Doing Gender. Doing Difference. Inequality, Power and Institutional Change, London 2002, S. 55–79, bes. 60. Vgl. auch GRIESEBNER u. LUTTER, Selbst, S. 56–57, 61–63 u. 68–69 u. Kultur, S. 59 u. 61; ULBRICH u. SABEAN, Personkonzepte, S. 104.

KÖRPER UND GESCHLECHT

I.

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Körper und Geschlecht – ein forschungsbezogener Problemaufriss

1718, im Alter von 66 Jahren, berichtete Elisabeth Charlotte ihrer Briefpartnerin Caroline von Wales eine Anekdote, die den Blick auf das Spannungsfeld von Geschlecht‚ Körperlichkeit und sozialen Praktiken ermöglicht. Retrospektiv schrieb sie über ihre Kindheit1: Ich bin mein Lebetage lieber mit degen und flinten umgegangen als mit puppen, wäre gar zu gern ein junge gewesen, und das hätte mir schier das leben gekostet, denn ich hatte erzählen hören, daß Maria Germain vom springen zum mannsmenschen geworden, das hat mich so erschrecklich springen machen, daß es ein mirakel ist, daß ich nicht hundertmal den hals gebrochen habe.2

Den in die Kindheit projizierten Wunsch3 erklärte Elisabeth Charlotte, indem sie auf Vorstellungen unterschiedlicher Spielgewohnheiten von Jungen und Mädchen Bezug nahm. Vom bewegungsaffinen Spiel mit Degen und Flinten4 war die Kurfürstentochter5 offenbar so fasziniert, dass sie dieses nicht nur der Beschäftigung mit Puppen vorzog, sondern mit körperlicher Bewegung sogar eine Veränderung ihres ungeliebten Geschlechts herbeizuführen suchte. Die Differenzlinie zwischen den als typisch für Jungen bzw. für Mädchen geltenden Spielpraktiken verläuft in der zitierten Passage also entlang der Pole ‚Aktivität‘ und ‚Passivität‘ – erfolgte das Spielen mit Degen und Flinten doch häufig im Freien unter körperlicher Anstrengung,6 während das Puppenspielen zumeist im geschlossenen Raum in körperlicher Passivität stattfand. 1

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‚Kindheit‘ und ‚Jugend‘ sind Quellenbegriffe, die E. Ch. selbst verwendete. S. etwa An A. K. v. Harling, Versailles, 20.1.1694, H, 105, S. 220. An C. v. Wales, o.O., 18.8.1718, A, 8, S. 218. Vgl. auch die Interpretationen bei Dirk VAN DER CRUYSSE, „J’ai regretté toute ma vie d’être femme“. Madame Palatine féministe?, in: French Literature Series 16 (1989), S. 53–63, hier 54; JONES, Sexing, S. 49; Sigrun PAAS, Das „Bärenkatzenaffengesicht“ der Liselotte von der Pfalz in ihren Bildnissen, in: Dies. (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-JahrFeier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 65–98, hier 67–69. Vgl. An Luise, Port Royal, 15.5.1701, HO, 1, 131, S. 225: Zu Ewerm wunsch hette ich von hertzen consentirt; den es mir all mein leben leydt geweßen, ein weibsmensch zu sein, undt churfürst zu sein, wehre mir, die warheit zu sagen, beßer ahngestanden, alß Madame zu sein; aber weillen es gottes willen nicht geweßen, ist es ohnnötig, dran zu gedencken. Daß landt hette ich nicht geschunden, wie dießer churfürst thut, undt alle religionen woll in ruhen gelaßen. Vgl. auch Véronique NAHOUM-GRAPPE, Die schöne Frau, in: Georges DUBY u. Michelle PERROT (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, Arlette FARGE u. Natalie ZEMON DAVIS, Frankfurt a.M., New York 1994, S. 103–118, hier 113. Der Degen ist ein deutlich männlich konnotiertes Accessoire. Zur Geschlechtsbezogenheit von Attributen in der Jungen- und Mädchenkleidung vgl. Barbara PURRUCKER, Knaben in „Mädchenkleidern“, in: Waffen- und Kostümkunde 1 (1975), S. 71–89 u. 2 (1975), S. 143–161, hier 1, 71–75. Nach dem siebten Lebensjahr wechselten Jungen in Hosen. Ihnen wurden Hut und Kinderdegen beigegeben. Vgl. STANNEK, Brüder, S. 28; Philippe ARIÈS, Geschichte der Kindheit, 16. Aufl., München 2007, S. 115–116; Mark Edward MOTLEY, Becoming a French aristocrat. The Education of the Court Nobility 1580–1715, Princeton N. J., Oxford 1990, S. 47. Ausführlich 2.II u. 3.II. Vgl. zum Ideal körperlicher Stärke in der Erziehung von Jungen etwa Michel DE MONTAIGNEs Essai ‚Über die Knabenerziehung‘, in: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung, hg. v. Hans STILETT, Frankfurt a.M. 1998, S. 78–96, bes. 84–85 u. 90: „(…) härtet ihn ab gegen Schweiß und Kälte,

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In der Frühen Neuzeit konnte die hier zu Tage tretende Zuordnung von Männlichkeit zu Aktivität und Weiblichkeit zu Passivität bereits auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon in den Geschlechtervorstellungen der griechischen Antike begegnet dieses Moment etwa bei Aristoteles, der bekanntlich aus einer angeblichen Passivität des weiblichen Stoffwechsels die Minderwertigkeit von Frauen ableitete.7 Ihre Fortsetzung fand sie in der römischen Philosophieschule der Stoa.8 Mit dem Verweis auf das Beispiel Marie Germains, die schließlich vom springen zum mannsmenschen geworden war, verlieh Elisabeth Charlotte diesem Verständnis von Geschlechterdifferenzen Nachdruck. Wie viele Berichte über spontane Geschlechtsverwandlungen gehörte die Geschichte um Marie Germain oder Germain Garnier zum literarischen Schriftgut des 16. und 17. Jahrhunderts. In den Werken des französischen Mediziners und Leibarztes bei Hofe Ambroise Paré (1510–1590)9 sowie des Philosophen Michel de Montaigne (1552–1592)10 diskutiert, erlangte sie weitläufige Bekanntheit. Protagonistin ist das Mädchen Marie, das bis zu ihrem 15. bzw. in der Darstellung Montaignes bis zu ihrem 22. Lebensjahr als Mädchen erzogen worden war und bis dahin keinerlei äußerlich sichtbare Züge von Maskulinität aufgewiesen habe. Als sie bei der Verfolgung eines Schweines durch ein Weizenfeld über einen Graben sprang, seien jedoch plötzlich männliche Genitalien hervorgetreten. Auch durch mehrere ärztliche Visitationen habe diese Umwandlung nicht rückgängig gemacht werden können, so dass die Transformation schließlich durch den Bischof per Namensänderung bestätigt worden sei. So sei aus dem Mädchen Marie Ger-

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gegen Wind und Sonne und die Gefahren des Lebens, die er verachten lernen muß. Entwöhnt ihn aller Weiblichkeit, aller Verzärtelung beim Schlafen und Sichkleiden, beim Essen und Trinken – an alle Härten aber gewöhnt ihn! Er soll kein weibischer Schönling sein, sondern frisch und voller Kraft.“ Vgl. LABOUVIE, Körper, S. 170–171. Vgl. Joan CADDEN, Meanings of sex difference in the Middle Ages. Medicine, Science and Culture, Cambridge 1993, S. 24; Giulia SUISSA, Platon, Aristoteles und der Geschlechterunterschied, in: Georges DUBY u. Michelle PERROT (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 1: Antike, hg. v. Pauline SCHMITT PANTEL, Frankfurt a.M., New York 1993, S. 67–102, hier 72 u. 86–92; Nancy TUANA, Der schwächere Samen. Androzentrismus in der Aristotelischen Zeugungstheorie und der Galenschen Anatomie, in: Barbara ORLAND u. Elvira SCHEICH (Hg.), Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften (Gender Studies. Vom Unterschied der Geschlechter), Frankfurt a.M. 1995, S. 203–223, hier 203–212; Ingvild BIRKHAN, Ein philosophisches Paradigma der Geschlechtersymbolik. Aristoteles und seine Zeugungstheorie, in: Elisabeth MIXA, Elisabeth MALLEIER, Marianne SPRINGER-KREMSER u. Ingvild BIRKHAN (Hg.), Körper – Geschlecht – Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin, Wien 1996, S. 44–59, hier 47 u. 53; Sabine FÖLLINGER, Differenz und Gleichheit. Das Geschlechterverhältnis in der Sicht griechischer Philosophen des 4. bis 1. Jahrhunderts v. Chr. Stuttgart 1996, bes. S. 133– 134 u. 165–166; DEUBER-MANKOWSKY, Natur/Kultur, S. 205; Rüdiger SCHNELL, Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln 2002, S. 61. Vgl. FÖLLINGER, Differenz, S. 256–287, bes. 285–286; Patricia PARKER, Gender Ideology, Gender change: The case of Marie Germain, in: Critical Inquiry 19 (1993), S. 337–364, hier 351 u. 354. Ambroise PARÉ, On Monsters and Marvels, übers. u. eingeleitet v. Janis L. PALLISTER, Chicago 1982, Kap. 7, S. 31–33, Memorable Stories about Women who have been degenerated into Men. Vgl. Michel DE MONTAIGNE, Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581, hg. v. Hans STILETT, Frankfurt a.M. 2002, S. 25 ; DE MONTAIGNE, Essais 1,21, in: Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 14), hg. v. Albert THIBAUDET u. Maurice RAT, Paris 1962, S. 96; dt. Übers.: DE MONTAIGNE, Essais, hg. v. STILETT, S. 53.

KÖRPER UND GESCHLECHT

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main geworden, der später als rotbärtiger Diener im Gefolge des Königs arbeitete, wo er dem berühmten Arzt Paré seine Geschichte erzählt habe.11 Körperlicher Bewegung wird also offensichtlich die Kraft beigemessen, eine Vermännlichung auszulösen.12 Zur Erklärung dieses Phänomens nahm Ambroise Paré Bezug auf antike medizinische Vorstellungen.13 Der Humoralpathologie zufolge war ein weiblicher Körper vom Phlegma bestimmt den Qualitäten ‚feucht‘ und ‚kalt‘ zugeordnet und besaß darum weit weniger innere Wärme (calor innatus) als ein männlicher, „der für gallereicher, also trockener und wärmer gehalten wurde“.14 Die bei anstrengender Körperbewegung entstehende Hitze führe, so Paré, dazu, dass sich die bei Frauen ins Innere zurückgezogenen Geschlechtsorgane nach außen kehrten. Vom Standpunkt eines frühneuzeitlichen Mediziners aus gesehen konnte körperliche Bewegung also einen Geschlechtswandel auslösen – allerdings nur in der hier aufgetretenen Richtung vom weiblichen zum männlichen Körper.15 Der amerikanische Historiker Thomas Laqueur versteht solche Berichte von spontanen Geschlechtsverwandlungen als Repräsentationen der vormodernen Vorstellung einer weitgehenden Ähnlichkeit von männlichem und weiblichem Geschlechtskörper („EinGeschlecht-Modell“). Vor 1750, so argumentiert Laqueur mit galenischen Schriften zur Anatomie, sei der weibliche Körper als baugleiche, aber minderwertige Ausgabe des männlichen Körpers verstanden worden. Lediglich der Penis sei bei Frauen inwendig eingestülpt und forme auf diese Weise die Vagina. Die humoralpathologische Vorstellung unterschiedlicher Säftemischungen im weiblichen und männlichen Körper deutet Laqueur nicht als leiblichen Unterschied, sondern vielmehr als Beweis dafür, dass der männliche Körper mit seinem spezifischen Temperament als teloshaftes Ideal bewertet 11

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Diese ausführliche Version geht auf Paré zurück. S. auch Thomas LAQUEUR, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M., New York 1992, S. 20 sowie den kurzen Hinweis bei VAN DER CRUYSSE, „J’ai regretté“, S. 54, Anm. 2. Vgl. LAQUEUR, Leib, S. 148. Vgl. PARÉ, Monsters, S. 32. Bei Montaigne fehlen diese medizinischen Erklärungselemente. Vgl. Erich SCHÖNER, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie (Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beiheft 4), Wiesbaden 1964, S. 91; CADDEN, Meanings, S. 170–174; Waltraud PULZ, Frauen und Männer – Fasten und Völlen? Geschlechterdifferenz und außergewöhnliches Eßverhalten in der Frühen Neuzeit, in: Christel KÖHLE-HEZINGER, Martin SCHARFE u. Rolf Wilhelm BREDNICH (Hg.), Männlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur. 31. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Marburg 1997, Münster, New York, München 1997, S. 209–223, hier 209; Valentin GROEBNER, Das Wissen von der Bezeichnung der Körper: ‚complexio‘ und die Kategorien der Personenbeschreibung zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert, in: Achim LANDWEHR (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens (documenta Augustana 11), Augsburg 2002, S. 173–188, hier 177 u. Complexio/Complexion: Categorizing Individual Natures, 1250–1600, in: Lorraine DASTON u. Fernando VIDAL (Hg.), The Moral Authority of Nature, London 2004, S. 361–383, hier 366. Zur Humoralpathologie s. 4.I. Vgl. PARÉ, Monsters, S. 32–33; PARKER, Gender, S. 339; SCHIEBINGER, Natur, S. 64; Judith C. BROWN, Immodest Acts. The Life of a Lesbian Nun in Renaissance Italy, New York, Oxford 1986, S. 12; Claudia OPITZ, Männliche Melancholie? Zum Verhältnis von Körper, Krankheit und Geschlecht in der Renaissance, in: Franziska FREI GERLACH, Annette KREIS-SCHINK, Claudia OPITZ u. Béatrice ZIEGLER (Hg.), Körperkonzepte/Concepts du corps. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung/Contributions aux études genre interdisciplinaires, Münster 2003, S. 167–178, hier 173.

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worden sei.16 Auf der leiblichen Ebene hätten in der vormodernen Vorstellungswelt also allenfalls graduell-hierarchische, keineswegs aber prinzipielle Unterschiede zwischen den geschlechtlichen Körpern bestanden.17 Darauf aufbauend postuliert Laqueur einen grundlegenden Wandel der biologisch-anatomischen Vorstellungen vom Geschlechtsunterschied im Zeitalter der Aufklärung. Demzufolge habe es sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt, die männlichen und weiblichen Körper dichotomisch entgegengesetzt in einem „Zwei-Geschlechter-Modell“ zu denken. Nun seien Geschlechtsdifferenzen erstmals in radikaler Weise an leiblich verortete Unterschiede gekoppelt worden.18 Am Ende der Argumentation steht die These eines historischen Paradigmenwechsels in der Vorstellung der Geschlechtskörper vom „Ein-GeschlechtModell“ der Vormoderne zum modernen „Zwei-Geschlecht-Modell“. Von Seiten derjenigen Disziplinen, die die Vormoderne zum expliziten Gegenstand haben, blieb Laqueurs These jedoch nicht unwidersprochen. Das Entwicklungsmodell beziehe sich ausschließlich auf die Vorstellungen der Genitalien, lasse andere Körpermerkmale, die zu dichotomen Denkweisen über das Äußere von Mann und Frau führten, außer Acht und sei somit zu verallgemeinernd und plakativ.19 Überhaupt blieben Denkmodelle und Diskurse außerhalb dieses engen Sichtfeldes des medizinisch-anatomischen Diskurses vollkommen unberücksichtigt, so die Kritik.20 Insbesondere die mediävistische Literaturwissenschaft betonte, es müsse sowohl in körperlicher als auch sozialer Hinsicht vielmehr von einer Pluralität der vormodernen Geschlechterauffassungen ausgegangen werden, die sich keineswegs auf das von Laqueur vertretene Modell reduzieren ließen.21 16

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Vgl. LAQUEUR, Leib, S. 16–18; PARÉ, Monsters, S. 33. Vgl. in ähnlicher Weise TUANA, Samen, S. 212–215; BIRKHAN, Paradigma, S. 47. Vgl. LAQUEUR, Leib, S. 18. Vgl. zusammenfassend GIULIANI, Körpergeschichten, S. 149–151; Ralf SCHLECHTWEG-JAHN, Geschlechtsidentität und höfische Kultur. Zur Diskussion von Geschlechtermodellen in den sog. priapeiischen Mären, in: Ingrid BENNEWITZ u. Helmut TERVOOREN (Hg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9), Berlin 1999, S. 85–109, hier 91. Diese Sichtweise auf die Humoralpathologie teilen Ortrun RIHA, Pole, Stufen, Übergänge – Geschlechterdifferenz im Mittelalter, in: Frank STAHNISCH u. Florian STEGER (Hg.), Medizin, Geschichte, Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen (Geschichte und Philosophie der Medizin 1), Stuttgart 2005, S. 159–180, hier 165–166 u. 180; Waltraud PULZ, Gula vs. Abstinentia = Materie vs. Geist = ?, in: Die sieben Todsünden in der Frühen Neuzeit, Frühneuzeit-Info 21 (2010), S. 161–169, hier 165– 166; OPITZ, Melancholie, S. 169–171. Vgl. LAQUEUR, Leib, S. 10 u. 18–21. Zur Kritik: SCHNELL, Sexualität, S. 76; Brigitte SPREITZER, Zur Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenz(en) im Mittelalter, in: Ingrid BENNEWITZ u. Ingrid KASTEN (Hg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), Münster 2002, S. 249–263, hier 253. Vgl. LAQUEUR, Leib, S. 37; SCHIEBINGER, Natur, S. 64. Vgl. SCHLECHTWEG-JAHN, Geschlechtsidentität, S. 91 u. 108; Lyndal ROPER, Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1995, S. 32; HIRSCHAUER, Frauen, S. 246–247; Joseph HARRIS, Hidden Agendas. Cross-Dressing in 17th century France (Biblio. Suppléments aux Papers on French Seventeenth Century Literature 17), Tübingen 2005, S. 129– 131. Vgl. CADDEN, Meanings, S. 2–3; SCHNELL, Sexualität, S. 68–77. Vgl. aus historischer Perspektive Katharine PARK u. Robert NYE, Destiny Is Anatomy, Rez. zu. Thomas LAQUEUR, Making Sex:

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Aber auch von Seiten der Medizingeschichte selbst blieb Laqueurs These in ihrer Ausschließlichkeit nicht unkritisiert. Wie Michael Stolberg am Beispiel von frühneuzeitlichen Vorstellungen über das weibliche Skelett und die Menstruation zeigen konnte, existierten auch hier durchaus unterschiedliche Auffassungen der Geschlechtskörper nebeneinander.22 Auch Vern und Bonnie Bullough verwiesen in ihren Arbeiten unter anderem auf den italienischen Arzt Paolo Zacchia (1584–1659), der schon während der Renaissance in seinen rechtsmedizinischen Schriften ein dezidiert binäres Modell körperlicher Geschlechtlichkeit vertrat, das bei der Geschlechtsbestimmung von intersexuellen Personen zum Einsatz kommen sollte.23 Auch mit Blick auf die antiken Autoren, auf deren Schriften Laqueur seine These stützte, wurde ähnlich lautende Kritik formuliert: Laqueur betreibe die Verallgemeinerung eines Modells, das nicht einmal für das Gesamtwerk des Aristoteles, Galens oder Parés stimmig sei.24 Aktuell herrscht aufgrund der vorgetragenen kritischen Stimmen weitgehend Konsens darüber, dass Laqueur einen Teildiskurs in unzulässiger Weise generalisiert habe und seine These des Paradigmenwechsels vom Ein-Geschlecht- zum Zwei-Geschlecht-Modell in dieser Zuspitzung unhaltbar sei. Ein hiervon zu separierender Strang der Kritik an Laqueur bezieht sich auf ein grundsätzliches Problem einer Körpergeschichte, die primär mit theoretisch-normativen Texten arbeitet. Die Frühneuzeithistorikerin Lyndal Roper wies im Rahmen ihrer psychoanalytisch orientierten Studie ‚Ödipus and the Devil‘ darauf hin, dass aus dem medizinischen Diskurs allein noch nicht darauf geschlossen werden könne, „daß die Menschen der Frühen Neuzeit ihren Körper mittels einer solchen Theorie verstanden“ hätten.25 Auch der Soziologe Stefan Hirschauer sieht eine Hauptschwäche der Arbeit Laqueurs darin, dass sie das ‚Alltagswissen‘ der historischen Akteur_innen selbst zu wenig berücksichtige.26

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Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge/MA 1990, in: The New Republic (18.2.1991), S. 53–57, hier 54; Lorraine DASTON u. Katharine PARK, The hermaphrodite and the orders of nature. Sexual ambiguity in early modern France, in: GLQ. A Journal of lesbian and gay studies 1 (1995), S. 419–438, hier 420; PARKER, Gender, S. 339–341 u. 359–360. Vgl. Michael STOLBERG, A woman down to her bones. The Anatomy of sexual difference in the sixteenth and early seventeenth centuries, in: Isis 94 (2003), S. 274–299; STOLBERG, Homo Patiens, S. 242; STOLBERG, Deutungen, bes. S. 914, 919 u. 923 zum Nebeneinander des sogenannten Katharsis-Modells sowie des Plethora-Modells; s. auch 2.II. Vgl. Vern L. BULLOUGH u. Bonnie BULLOUGH, Cross dressing, sex and gender, Philadelphia 1993, S. 89–90; mit anderer Deutung Zacchias LAQUEUR, Leib, S. 16. Vgl. PARK u. NYE, Destiny, S. 54; auch Heinz-Jürgen VOß, Geschlechter in der Antike, in: ROSA. Die Zeitschrift für Geschlechterforschung 37 (2008), S. 46–49 u. Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2010, S. 17– 18, 83 u. 313–314. Diese Art Kritiken hat LAQUEUR durchaus vorhergesehen, vgl. Leib, S. 37: „Mir liegt, um ein Beispiel zu nennen, nicht daran zu zeigen, daß es eine einzelne dominierende ‚Idee von der Frau‘ in der Renaissance gegeben hat und alle anderen weniger wichtig sind. Ich bin nicht daran interessiert, schlüssig zu beweisen, daß Galen zu irgendeinem Zeitpunkt wichtiger ist als Aristoteles oder eine bestimmte Theorie der Menstruation zwischen 1840 und 1920 eine hegemoniale Stellung innehatte.“ ROPER, Ödipus, S. 32. Vgl. ähnlich auch DUDEN, Geschlecht, S. 118; GIULIANI, Körpergeschichten, S. 155. Vgl. HIRSCHAUER, Frauen, S. 246–247.

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Schon die bloße Existenz von Geschichten wie der von Marie Germain widerspricht jedoch diesem Argument. Die Rezeption der Anekdote in den Briefen Elisabeth Charlottes zeigt nachdrücklich, dass von solcherart Legenden offenbar eine gewisse Faszination ausging, die mit einer von Lorraine Daston und Katharine Park konstatierten gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber Intersexualität, Transvestismus und Sodomie in den medizinischen und juristischen Traktaten der Frühen Neuzeit korrespondiert.27 Noch über 100 Jahre nach der Veröffentlichung von Montaignes ‚Essais‘ genügte in der brieflichen Kommunikationssituation zwischen Elisabeth Charlotte und der englischen Kronprinzessin Caroline allein die Nennung des Namens Maria Germain, um den Inhalt der Legende aufzurufen. Zumindest innerhalb des elitenkulturellen adeligen Wissensmilieus,28 dem Elisabeth Charlottes briefliches Netzwerk entspringt, gehörte die Anekdote also offenbar zum Alltagswissen.29 Ob Elisabeth Charlotte tatsächlich an die reale Möglichkeit solcher Geschehnisse glaubte oder ihren Versuch selbst durch Springen zum mannsmenschen zu werden, retrospektiv als kindliche Naivität darstellen will, wie der moderne Leser zu vermuten geneigt sein mag, kann aus der zitierten Passage nicht abgeleitet werden.30 Auch Montaigne war in seiner Haltung zum ‚Wahrheitsgehalt‘ der Geschichte offenbar schwankend. Heißt es im Tagebuch zu seiner Badereise, die Geschichte sei seriös, weil sie sowohl durch Paré als auch durch den höchsten Beamten der Stadt Vitry-le-François bestätigt worden sei,31 ordnete er sie in seinen ‚Essais‘ dem Unterkapitel ‚De la force de l’imagination‘ zu, in dem er einleitend zu bedenken gab, manche Geschehnisse seien nach Gelehrtenmeinung auf die Kraft der Einbildung zurückzuführen und auch er selbst werde von der Macht der Fantasie bisweilen stark beeinflusst.32 In ihrer Kritik zu Laqueurs Thesen haben Katharine Park und Robert Nye zudem auf eher skeptische zeitgenössische Reaktionen auf die Geschichte um Marie Germain hingewiesen33 und legen damit eine Rezeption als kuriose Erzählung aus dem Reich der ‚Mythen und Legenden‘ nahe. 27 28

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Vgl. DASTON u. PARK, Hermaphrodite, S. 419-420 u. 425. Vgl. Susanne SCHRÖTER, FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern, Frankfurt a. M. 2002, S. 67. E. Ch. besaß laut dem nach ihrem Tod erstellten Bibliotheksinventar ebenfalls selbst Werke von Montaigne. Vgl. MAGNE, Château, S. 173. Das in den Pariser Archives Nationales befindliche Originalinventar konnte leider nicht eingesehen werden. Eine Konsultationserlaubnis wurde aufgrund des schlechten materiellen Zustandes der Archivalien nicht gewährt. Auch ihre Tante und ihr Vater galten als eifrige Montaigne-Leser. Vgl. FORSTER, Illness, S. 308; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 90 u. 462. Dies mag an der quellenkritischen Problematik der Anekdoten (1.IV.2) liegen, wobei angemerkt werden muss, dass auch in vollständig erhaltenen Briefen aufgrund ihrer Anlage als Beantwortung der zuvor aufgekommenen Themen häufig kaum Kontextaussagen zu finden sind. Vgl. DE MONTAIGNE, Tagebuch, hg. v. STILETT, S. 25. Vgl. DE MONTAIGNE, Essais 1,21, in: Œuvres complètes, hg. v. THIBAUDET u. RAT, S. 96; dt. Übers.: DE MONTAIGNE, Essais, hg. v. STILETT, S. 25 u. 52. Vgl. PARK u. NYE, Destiny, S. 54: „We can find more typical contemporary reactions, even in France, among the (fictional) interlocuters of Guillaume Bouchet’s Serées (1584), who greeted the story of Germain Garnier with great scepticism, and the (real) participants in the meeting of the Parisian Bureau d’Adresse in 1636, one of whom denied any possibility of a perfect hermaphrodite (…).”

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Auch wenn die Frage nach dem zeitgenössisch angenommenen ‚Wahrheitsgehalt‘ der Anekdote also nicht zu einem Ergebnis führen kann, sollten die in ihr präsentierten Geschlechtervorstellungen als eine Sichtweise ernst genommen werden, die in ihrer Zeit denk- und formulierbar war und intensiv diskutiert wurde.34 Demnach wird der Körper als wesentlicher Bezugspunkt von Geschlechterdifferenz tatsächlich weniger substanziell als in späteren Jahrhunderten gedacht.35 Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass in der Frühen Neuzeit per se keine Vorstellungen von dezidiert körperlichen Geschlechtsunterschieden existiert hätten. Eine solche Unterscheidung nahm man sehr wohl vor; sie bestand in der differenten Säftemischung, die die frühneuzeitlichen Körper ausmachte. Nur weil diese Differenz flexibler und leichter veränderlich erscheint,36 ist sie nicht weniger körperlich im eigentlichen Sinne. Die enorme Deutungsmacht der Humoralpathologie im frühneuzeitlichen Alltagsleben wird wohl niemand ernsthaft in Zweifel ziehen, und sie konzipierte eben einen von verschiedenen Flüssigkeitsströmen geprägten Körper, der äußerst empfindlich sowohl gegenüber äußeren Einflüssen wie etwa klimatischen Bedingungen als auch in Bezug auf diätetische Alltagspraktiken war.37 Den allgemeinen Vorstellungen zufolge war der vormoderne Körper offener und wandlungsfähiger als der sich in scheinbar festen zellulären und organischen Strukturen materialisierende Körper des 18. und 19. Jahrhunderts oder der von genetischen Programmen gesteuerte Körper des 20. Jahrhunderts.38 Die grundlegende Historizität des Körperwissens führt auch die gegenwärtige Diskussion um das Schlagwort ‚Epigenetik‘ vor Augen, denn aktuell wird der Körper wieder stärker in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen gedacht, die bestimmte Genabschnitte nicht nur (de)aktivieren, sondern sogar strukturell modifizieren und somit ein höchst komplexes System körperlicher Variabilität begründen.39 Laqueur nimmt m.E. eine ahistorische Perspektive ein, wenn er die Flexibilität des vormodernen Körpers, die sich in humoralpathologischer Perspektive eben auf biologische und soziale Geschlechtlichkeit auswirkte, als Indiz für die Bedeutungslosigkeit kör34

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Als Bereich, in dem die Auffassung einer körperlichen Gleichheit der Geschlechter im Sinne Laqueurs tatsächlich wirksam ist, werden immer wieder Shakespeares Dramen genannt. Vgl. dazu SCHNELL, Sexualität, S. 73, bes. Anm. 252; STOLBERG, Woman, S. 276, bes. Anm. 5. Zu diesem Fazit s. auch Ingrid BENNEWITZ, Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mittelalters, in: Ingrid BENNEWITZ u. Ingrid KASTEN (Hg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), Münster 2002, S. 1–10, hier 5–6; SPREITZER, Konstruktion, S. 253. Vgl. VOß, Geschlechter, S. 46–47, dem zufolge in Galens Schriften die Frau auch durch Erhitzung ihres Temperaments nicht zur perfekten männlichen Konstitution gelangen könne. Eine Erhitzung hätte für sie lediglich Krankheit zur Folge. Darum riet Galen Frauen auch nachdrücklich davon ab, sich dem männlichen Temperament annähern zu wollen. Zu diesem Körperbild mit Bezug zur Wirkung von Wasser s. Georges VIGARELLO, Wasser und Seife, Puder und Parfüm. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt a.M. 1992, S. 17–26; STOLBERG, Leib, S. 37–57 u. 154–158; DUDEN, Geschichte, S. 145–158 u. 163–172. S. etwa Michael STOLBERG, Der gesunde und saubere Körper, in: Richard VAN DÜLMEN (Hg.), Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder (Publikationen der Arbeitsstelle für historische Kulturforschung, Universität des Saarlandes, Buch zur Ausstellung Prometheus. Menschen. Bilder. Visionen), Köln, Wien, Weimar 1998, S. 305–318, hier 312; NUTTON, Humoralism, S. 282. Zur ‚populäreren‘ zeitgenössischen Debatte um Epigenetik s. etwa Robert SPORK, Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unser Erbgut steuern können, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 16–18.

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perlicher Geschlechterdifferenzen heranzieht und auf dieser Grundlage postuliert, Geschlecht sei in der Vormoderne ausschließlich als soziale Kategorie zu denken.40 Laqueur unterstellt damit, die Vormoderne habe kategorial zwischen ‚sex‘ und ‚gender‘ unterschieden.41 Dass dies dem frühneuzeitlichen Denken kaum entsprochen haben dürfte, wird schon allein daran deutlich, dass zur Geschlechtsbestimmung in der Frühen Neuzeit auch die Stimme und das Verhalten heranzogen wurden – ohne dass Letztere in irgendeiner Weise als weniger ‚natürlich‘ gegolten hätten als Genitalien oder andere ‚körperliche‘ Merkmale.42 Der Blick auf die Geschichte um Marie Germain zeigt, wie sich gerade aus der humoralpathologisch ausgedeuteten Differenz vergeschlechtlichter Körper im 16. Jahrhundert äußerst heteronormative Konsequenzen ableiten ließen. Der flexiblere Körper erforderte förmlich dezidiert dichotome Handlungspraktiken. Montaigne zufolge waren die Mädchen aus Marie Germains Dorf nämlich von der Angst getrieben, ihnen könnte dasselbe Schicksal drohen, wenn sie sich ‚männlich‘ verhielten – also sich intensiv körperlich anstrengten. Laut Montaigne pflegten die Mädchen „in dieser Gegend noch ein Lied zu singen, in dem sie einander warnen, allzu ausgreifende Schritte zu machen, damit sie nicht zu Burschen würden – wie Marie Germain“.43 Auch trinkende Frauen setzten sich offenbar der Gefahr aus, die natürliche Geschlechterordnung zu pervertieren, wenn sie ihre Temperamente durch Alkohol erhitzten, wie wir etwa aus den Studien von Beverly Ann Tlusty zu Trinkpraktiken im frühneuzeitlichen Augsburg wissen.44 In diesen Fällen bestimmte der angenommene körperliche Unterschied in der Säftemischung über die kulturelle Bewertung von Handlungen – die sozialen Geschlechtervorstellungen (gender) hatten auch in dieser Zeit ihre Grundlage in der ‚Natur‘ des Körpers. Erhitzende Körperpraktiken wie anstrengende körperliche Bewegung und Alkoholkonsum waren in dieser Matrix strikt männlich konnotiert. Übten Frauen sie aus, war dies nicht nur gefährlich für deren Gesundheit, sondern auch für ihre soziale und körperliche Geschlechtlichkeit und damit für die Ordnung der Gesellschaft an sich. Das immense Interesse an Erzählungen von Geschlechtswandlungen sowie an realen Fällen von ‚Intersexualität‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit erklärt sich gerade aus einer tiefen Verunsicherung in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse, die die Vormoderne prägte. Wie Lorraine Daston und Katharine Park am Beispiel des frühneuzeitlichen Frankreich überzeugend de40 41

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Vgl. LAQUEUR, Leib, S. 21. Vgl. SPREITZER, Konstruktion, S. 250; VOß, Making, S. 19; Sylvie STEINBERG, La confusion des sexes. Le travestissement de la Renaissance à la Révolution, Paris 2001, S. xii. Vgl. DASTON u. PARK, Hermaphrodite, S. 428. DE MONTAIGNE, Essais 1,21, in: Œuvres complètes, hg. v. THIBAUDET u. RAT, S. 96; dt. Übers.: Essais, hg. v. STILETT S. 53. Vgl. DE MONTAIGNE, Tagebuch, hg. v. STILETT, S. 25. Vgl. B[everly] Ann TLUSTY, Crossing Gender Boundaries. Woman as Drunkards in Early Modern Augsburg, in: Sibylle BACKMANN, Hans-Jörg KÜNAST, Sabine ULLMANN u. B. Ann TLUSTY (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana 8), Berlin 1998, S. 185–197, hier 192–193; B[everly] Ann TLUSTY, Bacchus and the civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany (Studies in Early Modern German History), Charlottesville, London 2001, S. 134: „Drunken women, by heating their temperaments and becoming more sanguine, were in effect guilty not only of participating in male behavior but of inverting the natural order of the physical world.“ Vgl. zu diesem bereits aus der Antike bekannten Topos auch VOß, Making sex revisited, S. 86.

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monstrieren, herrschte ein Klima (männlicher) Angst vor der Überschreitung von Geschlechtergrenzen. Dies zeigt sich am Umgang mit intersexuellen Personen, deren Geschlecht – wie auch im Fall von Marie Germain – nun von Medizinern und Rechtsvertretern bestimmt werden musste, genauso wie in einer weitläufigen Ablehnung gegenüber jeglichen grenzüberschreitenden Praktiken von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen bis zum Kleidertausch (cross-dressing).45 Es handelte sich bei diesen Praktiken im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit um „Störfälle“, wie Brigitte Spreitzer sie treffend bezeichnet, keineswegs jedoch um „fröhlich hier und dorthin gleitende Identitäten im Sinne Laqueurs“.46 Ein historischer Paradigmenwechsel in der Begründung von Geschlechterdifferenzen um 1750 kann vor diesem Hintergrund nicht als Bedeutungsverschiebung der Kategorien von ‚gender‘ zu ‚sex‘ beschrieben werden. Was sich um 1750 ändert, ist vielmehr, wie Londa Schiebinger in ihrer Arbeit ‚Nature’s Body‘ formuliert hat, die Methodologie, mit der die Geschlechterdifferenz in den Blick genommen wird.47 Konketer: Körper bzw. Leib werde zunehmend substanziell-materialistisch gedacht. In der Anatomie suchte man folglich nach einer stabilen Dichotomie als Begründung des Geschlechtsunterschieds. Mit dem Verweis auf die ‚Exaktheit‘ der modernen Wissenschaften zementierte man zudem deren konstruierte ‚Richtigkeit‘.In zunehmend szientistischer Manier vorgetragene anatomisch-biologische Aspekte der Geschlechterdifferenz wurden seit Mitte des 18. Jahrhunderts gezielt für die Erklärung und Legitimation asymmetrischer sozialer, politischer und kultureller Geschlechterverhältnisse funktionalisiert. Im Zuge der neuen Begründungsmethodologie habe die einsetzende Vorstellung der Geschlechterdichotomie nicht nur eine erstaunliche Stabilität, sondern auch eine legitimatorische Radikalität eigener Art erhalten. In der deutschen Historiographie akzentuierten Karin Hausen und Claudia Honegger mit ihren Untersuchungen zur „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“48 und der Entwicklung einer weiblichen „Sonderanthropologie“49 an der Schwelle zum 18. Jahrhundert diese Sichtweise. Unkonturiert bleibt nach wie vor – auch aufgrund 45

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Vgl. DASTON u. PARK, Hermaphrodite, S. 427 u. 430–431; BULLOUGH u. BULLOUGH, Cross dressing, S. 74–90, bes. 76 u. 90. SPREITZER, Konstruktion, S. 255. Vgl. auch HARRIS, Agendas, S. 22–24 u. 131; VOß, Making, S. 87: „So wird seitdem [seit den Debatten um Laqueurs Modelle] ein vermeintlich ‚vorgeschlechtliches‘ Zeitalter vor dem 17./18. Jhd. in biologischer und medizinischer Hinsicht vorausgesetzt (...). Damit beraubt man sich wichtiger Analysemöglichkeiten und verleitet zur Romantisierung des antiken naturphilosophischen Geschlechtsmodells.“ Vgl. dagegen SCHNELL, Sexualität, S. 66: „Was im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit noch als Variante auf einer breiten Skala von Geschlechtsidentitäten galt, wurde vom 18. Jahrhundert an zur Perversion erklärt und ausgegrenzt.“ Vgl. SCHIEBINGER, Natur, S. 64–66 u. 303; in ähnlicher Weise SPREITZER, Konstruktion, S. 250– 252; LAQUEUR, Leib, S. 18–19 u. 23–24; SCHNELL, Sexualität, S. 72–73. Vgl. Karin HAUSEN, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner CONZE (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen (Industrielle Welt, Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 21), Stuttgart 1976, S. 363–393, bes. 367 u. 369: Als „Gemisch aus Biologie, Bestimmung und Wesen“ seien die Geschlechtscharaktere „im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ‚erfunden’“ worden. Mit ihnen gewinne die „Kontrastierung“ der Geschlechterdifferenz eine „spezifisch neue Qualität“. Vgl. Claudia HONEGGER, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt a.M. 1991, bes. S. 143–151.

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einer Nichteinbeziehung der Studien von Hausen und Honegger in die ansonsten umfassende Kritik der Laqueur-These50 –, inwieweit dieser Ansicht einer qualitativen Verschärfung der Grenzen zwischen den Geschlechtern aufgrund einer substanziell-körperlichen Legitimation tatsächlich zuzustimmen ist. Für Park und Nye steht zumindest fest: „None of this [der Argumentationen Laqueurs] means, however, that the gulf between the sexes was somehow greater or more unbridgeable after 1750 than before. Sex difference was as crucial a part of premodern mentality as it is of our own, though each historical epoch expressed this difference in language appropriate to its own cosmology.”51

Die angerissenen Forschungsdiskussionen führen zu den zentralen Leitfragen des folgenden Teils. Untersucht werden soll, welche Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und insbesondere von den Differenzen zwischen den Geschlechtern sich in Elisabeth Charlottes Briefen finden, welche Verhaltenserwartungen in ihrem sozialen Umfeld an sie herangetragen wurden und wie sich ihre alltägliche Handlungspraxis zu diesen diskursiven Vorstellungswelten verhielt.

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Vgl. SCHNELL, Sexualität, S. 63, bes. Anm. 205 u. S. 69, bes. Anm. 231; SPREITZER, Störfälle, S. 251. Vgl. PARK u. NYE, Destiny, S. 57.

GENDER IN BEWEGUNG ERZÄHLEN

II.

205

Gender in Bewegung erzählen

Im Zentrum der folgenden Analysen stehen die in Elisabeth Charlottes Briefen erzählten Alltagspraktiken körperlicher Bewegung in ihrer Eigenschaft als Ressourcen für Selbstdefinition und Selbstpositionierung im sozialen Umfeld. Bewegung hat dabei eine doppelte Bedeutung – denn über die Praktiken körperlicher Übungen geraten buchstäblich auch tradierte Geschlechtervorstellungen in Bewegung. Schon im Februar 1672 hatte Elisabeth Charlotte, wie bereits erwähnt, geschrieben, die leütte am französischen Hof seien so lam wie die gänße und kaum in der Lage, die körperliche Anstrengung des Spazierengehens zu ertragen.1 Um Differenzierung bemüht fügte sie allerdings hinzu, dies betreffe selbstverständlich nicht sie selbst und ebenso wenig den für seine Bewegungsfreude und eiserne Gesundheit bekannten König sowie eine gewisse Madame de Chevreuse.2 Mit Marie de Rohan, der späteren Duchesse de Chevreuse, einer Hofdame Annas von Österreich, verwies sie dabei auf eine für ihre körperliche Stärke und Aktivität bekannte sogenannte femme forte, der man nachsagte, bereits in ihrer Kindheit und Jugend in den Kleidern ihres Bruders gejagt, gefochten und an Pferderennen teilgenommen zu haben. Ihr breites Erfahrungswissen über Pferde und Falknerei soll Ludwig XIII., den sie des Öfteren zur Jagd begleitete, überrascht und nicht minder beeindruckt haben.3 Bei näherem Hinsehen lassen sich in diesen Bezügen also geschlechtsbezogene Deutungsmuster ausmachen, die die Differenzierung des hir vom bey unß4 durchkreuzen. Wo Elisabeth Charlotte vermeintlich allgemein formulierte, transportierte sie gerade eine dominante Vorstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit, die durch Bewegung als Körperpraxis hergestellt wurde.

1. dressed like a man : Handlungsspielräume auf der höfischen Jagd 5

In zahllosen Passagen ihrer Korrespondenz – vor allem in Elisabeth Charlottes Erzählungen von der höfischen Jagd, die im Fokus der folgenden Ausführungen stehen – wird Bewegung als hochgradig vergeschlechtlichte Körperpraxis sichtbar. Im Unterschied zum Spazierengehen handelte es sich beim Reiten interessanterweise offenbar um eine Bewegungspraktik, an die die Kurfürstentochter – im Übrigen anders als in den normati1 2

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An Sophie, St. Germain, 5.2.1672, ebd., I, 1v, vgl. B, 1, 1, S. 1. Es ist anzunehmen, dass diese Aussage übersteigert war. Zwischen 1689 und 1705 verfasste Ludwig XIV. zumindest sechs normative Instruktionen zur Manière de montrer les Jardins de Versailles, wobei allerdings laut Inventar auch Rollstühle zum Spazierenfahren zum Einsatz gekommen sein müssen. Vgl. KOLESCH, Theater, S. 105–106. Vgl. Michael PRAWDIN, Marie de Rohan. Duchesse de Chevreuse, London 1971, S. 18–19. Zur femme forte Christa SCHLUMBOHM, Der Typus der Amazone und das Frauenideal im 17. Jahrhundert. Zur Selbstdarstellung der Grande Mademoiselle, in: Romanistisches Jahrbuch 29 (1978), S. 77–99, hier 79; Renate KROLL, Von der Heerführerin zur Leidensheldin. Die Domestizierung der Femme forte, in: Bettina BAUMGÄRTEL u. Silvia NEYSTERS (Hg.), Die Galerie der starken Frauen. Les galeries des Femmes Fortes. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, Düsseldorf 1995, S. 51–63, hier 55. S. 2.II. John LOCKE, Travels in France, 1675–9. As related in his Journals. Correspondence & other papers. Ed. with an Introduction and Notes by John LOUGH, London 1953, S. 173.

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ven Erziehungsinstruktionen vorgesehen6 – in ihrer Kindheit nicht herangeführt worden war. Lediglich aus der Erinnerung an die Zeit bei ihrer Tante Sophie in Hannover berichtete Elisabeth Charlotte, dass sie ein Pferdchen geschenkt bekam, das ihr postwagelgen zog und mit dem sie so manche Fahrt gemacht habe.7 Doch erst nach ihrer Ankunft in Frankreich, so belegt ein Brief vom August 1673, erlernte sie das Reiten. Ihrer Tante Sophie schrieb sie, wie fro sie sei, nun reitten zu lernen, denn es passe so trefflich woll zu Liselotts raußchenbeüttelichen kopff.8 Ohne Mühe brachte sie also die am französischen Hof erlernte Praxis in Einklang mit ihrem ‚genealogischen‘ Selbst(bild) des bewegungsfreudigen Rauschenplattenknechts. Mit einiger Sicherheit war es, wie bereits ausgeführt,9 Christian Friedrich von Harling, von dem sie diesen eigenwilligen Spitznamen erhalten hatte und mit dem sie ihn über lange Jahre hinweg teilte. Wie der englische Romanist William Brooks und andere in einer etymologischen Studie nachweisen konnten, verwendete man den Ausdruck rauschenplatt(en) vor allem im norddeutschen Sprachraum für ein ‚ausgelassenes, wildes Mädchen‘, imaginierend, wie dessen Schürze in der Bewegung hin- und herrausche.10 Die besondere Kombination aus rauschenplatten und knechtgen im Spitznamen konnten Brooks et al. allerdings in keinem der von ihnen herangezogenen zeitgenössischen Wörterbücher nachweisen, so dass sie annehmen, Christian Friedrich von Harling habe das knechtgen angefügt, „in order to do justice to her tomboyish nature“11. Die Wahl dieser Bezeichnung als charakterisierender Beiname weist darauf hin, dass Elisabeth Charlottes Bewegungsfreude und körperliche Aktivität für ein Mädchen als ungewöhnlich, wenn nicht gar als ‚unpassend‘ wahrgenommen wurde. Auch Elisabeth Charlotte muss die geschlechtsbezogene Konnotation des Spitznamens bewusst gewesen sein, immerhin bezeichnete sie in einem Brief an ihre Tante im September 1683 ihre Tochter als rauschenblatten knecht und wünschte, diese könne mit ihrem Bruder von humor tauschen, denn er ist possé [posé = bedächtig, ruhig] undt ehrbar, wie ein medgen sein sollte, undt sie ist doll wie ein pub.12 In der Liselotte-Forschung ist bereits über die Gründe des ungewöhnlich erscheinenden Umstandes, dass die Kurprinzessin in ihrer Kindheit und Jugendzeit nicht reiten lernte, spekuliert worden. William Brooks vermutet etwa, dass finanzielle Gründe im Zusammenhang mit der rigiden Hofhaltung von Kurfürst Karl Ludwig nach dem Dreißigjährigen Krieg dazu geführt haben könnten, dass Elisabeth Charlotte in ihrer Jugend 6 7

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Vgl. WEECH, Erziehung, Nr. 7, S. 115 u. Nr. 3, S. 118,. An Sophie, Fontainebleau, 30.6.1708, NLA-HStAH, XVIII,1, 413r, vgl. B, 2, 661, S. 182 [sic! Datum]. Vgl. auch KNOOP, Madame, S. 7. An Sophie, St. Cloud, 5.8.1673, NLA-HStAH, I, 6v, vgl. B, 1, 3, S. 3. Vgl. auch Hatto ZEIDLER, Von der Jagd, vom Glück und von einer pfälzischen Diana, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 209–214, hier 212. S. 2.II. Vgl. die Originalzitate aus verschiedenen zeitgenössischen Wörterbüchern bei BROOKS u.a, Rauschenplattenknecht, S. 409–410. S. dazu auch ein zeitgenössisches Kinderporträt E. Ch.s beschrieben bei PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 67–69, Kat.-Nr. 9. Vgl. BROOKS u.a., Rauschenplattenknecht, S. 411. Vgl. An Sophie, Fontainebleau, 29.9.1683, NLA-HStAH, I, 302v, vgl. B, 1, 47, S. 61.

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weder reiten lernte noch auf die Jagd ging.13 Einige Jugendbriefe aus dem jüngst vollständig edierten Harling-Korpus zeigen jedoch, dass ihr Bruder Karl mit dem Vater sehr wohl zur Jagd fuhr. Elisabeth Charlotte aber nahm – obwohl mit 17 Jahren sicherlich alt genug – daran zumindest nicht aktiv teil.14 Eine spätere Äußerung gegenüber ihrer Halbschwester Luise legt ebenfalls nahe, dass finanzielle Erwägungen nicht entscheidend gewesen sein können, denn I.G. unßer herr vatter s., so schrieb Elisabeth Charlotte 1699 an Luise, habe nie (...) leyden wollen, daß man jagen solle undt reitten; daß habe ich auch erst hir gelernt.15 Die Biographin Mathilde Knoop spekulierte, Karl Ludwigs offensichtliche Abneigung rühre daher, dass ihm die Jagd „von seiner ersten Gemahlin her in unliebsamer Erinnerung“16 geblieben sei. Insbesondere durch die Memoiren Sophies wird Elisabeth Charlottes Mutter, Charlotte von Hessen-Kassel, als wenig tugendhafte, dem höfischen Pomp über Gebühr zuneigende Person beschrieben,17 worauf Knoop hier möglicherweise Bezug nimmt. Es gibt also durchaus Hinweise, dass Elisabeth Charlotte gezielt a l s M ä d c h e n nicht an die Bewegungsform des Reitens herangeführt werden sollte. Am französischen Hof entfaltete Elisabeth Charlotte jedoch binnen kürzester Zeit eine große Leidenschaft für die Jagd. Im November 1675 berichtete sie ihrem Halbbruder Karl Ludwig, sie gehe nunmehr fast alle tage mit dem König, der ihr auch noch ein über die maßen schön pferdt18 geschenkt habe, auf die Jagd. Zupass kam der bewegungsfreudigen Madame vor allem, dass man am französischen Hof, wie an anderen westeuropäischen Höfen, vor allem par force jagte. Im Unterschied zu den in deutschen und österreichischen Landen üblichen eingestellten Jagden, bei denen ein kleines Areal mit Netzen und Tüchern abgespannt wurde und der Beute der Todesstoß von einem Jagdschirm aus versetzt wurde,19 war die Parforcejagd schon eher mit körperlichen Herausforderungen verbunden. Einem einzigen ausgewählten Tier, einem Hirsch, Wildschwein oder Wolf, folgte die Jagdgesellschaft auf der Fährte einer Hundemeute zu Pferd oder in wendigen Kutschen ohne Dach, den sogenannten Caleschen,20 für die eigens Schneisen in den 13

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Vgl. William BROOKS, Artists’ Images and the self-descriptions of Elisabeth Charlotte, Duchess of Orleans (1652–1722), The Second Madame, New York, Queenston, Lampeter 2007, S. 134. Vgl. An A. K. v. Harling, 2.10. u. 14.10.1669, H, 12, S. 82 u. 13, S. 84. Vgl. auch An Sophie, Marly, 8.8.1709, NLA-HStAH, XIX,2, 603v. E. Ch. schreibt hier, dass sie auf einem Jagdereignis am Rhein von Spinnen gestochen worden sei, woraufhin ihre Tante sie mit einer eigens hergestellten Pomade behandelt habe. Vgl. An Luise, Versailles, 3.4.1699, HO, 1, 76, S. 129. KNOOP, Madame, S. 16. Vgl. dagegen WINKELMANN, Jugendzeit, S. 79, der von einem Versehen Karl Ludwigs spricht. Vgl. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 55; dt. Übers. TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 39; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 32. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 42–46; MEISNER, Kindheit, S. 43. GOLDSCHMIDT, Liselotte, S. 9, schreibt dagegen, Charlotte habe bei einem Sturz vom Pferd auf einer Jagd in Augsburg ihre Beine entblößt, was Karl Ludwig anstößig gefunden habe, gibt jedoch leider keinen Beleg an. Vgl. An Karl Ludwig, 27.11.1675, HO, 6, N, 4, S. 493. Vgl. Werner RÖSENER, Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Düsseldorf, Zürich 2004, S. 281–285; Uwe PIRL, Von mancherley Arten der Lust-Jagten und Jagt-Divertissements, in: Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg (Hg.), Die Lust am Jagen. Jagdsitten und Jagdfeste am kurpfälzischen Hof im 18. Jahrhundert, Ubstadt-Weiher 1999, S. 33–42. Vgl. Rosine LAGIER, La Femme et le Cheval, Janzé 2009, S. 137.

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Wald geschlagen wurden.21 Daneben nahm Elisabeth Charlotte auch gemeinsam mit dem König an der Beizjagd mit Falken, Reihern und Milanen teil, wie sie ebenfalls im November 1675 schrieb: Itzunder in 14 tagen kommen die vogel ahn, den werden wir fast alle tagen fli[e]gen. Der könig hatt reyer und millanen setzen laßen, damitt wir den gantzen wintter durch spaß haben mögen. Zu dem hatt mir der könig gesagt, daß wir diß jahr bessere falcken haben werden, alß niemahl[e]n; drumb wünsche ich von hertzen, daß es frieden mögte werden, damitt ihr herkommen köntet undt mitt unß jagen.22

Dass sowohl die Jagd zu Pferde als auch mit Greifvögeln Elisabeth Charlottes Vorstellungen zufolge ‚männlich‘ konnotierte Praktiken waren, führt eine vergleichende Beschreibung Ludwigs XIV. und seines Bruders Philippe, Elisabeth Charlottes Gatten, aus einem Brief an Caroline von Wales deutlich vor Augen: Der König und Mons. seel. sollte man in seinem Leben für keine Brüder gehalten haben. Der König war groß, mein Herr gar klein, er hatte lauter weibliche Inclinationen, liebte das Putzen, hatte Sorge für seinen Teint, liebte alle Weiber-Arbeit und Ceremonien. Der König war gantz contrair, fragte nicht nach Putzen, liebte die Jagd, das Schiessen, und hatte alle Inclinations von Mannsleuten, sprach gerne vom Krieg. Monsieur hielt sich wohl im Kriege, aber er sprach nicht davon.23

Reiten und Schießen, die Tätigkeiten der Jagd und des Krieges, werden in der zitierten Passage in einem heteronormativen Denksystem den männlichen Neigungen (inclinations)24 zugerechnet. Dies entspricht den adeligen Geschlechterkonventionen der Zeit, die Kriegs- und Leibesübungen als konstitutiven Bestandteil idealhafter Maskulinität verstanden.25 Die Exerzitien zur Kultivierung von Geist und Körper wurden auf den soge21

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Vgl. RÖSENER, Geschichte, S. 286; Cecile HOLLBERG, „Die Lust am Jagen“ – Höfische Jagd vom 16. bis zum 17. Jahrhundert, in: Gerhard QUASS im Auftrag des Deutschen Historischen Museums (Hg.), Hofjagd. Aus den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums, Wolfratshausen 2002, S. 8–27, hier 14–16; KNOOP, Madame, S. 34. An Karl Ludwig, 27.11.1675, HO, 6, N, 4, S. 493. Zur Beiz- und Hasenjagd und zur Jagd mit Leoparden s. auch An Sophie, Versailles, 2.5.1706, NLA-HStAH, XVI, 263v–264r. An C. v. Wales, o.O., 14.7.1719, A, 46, S. 90. S. auch o.O., 9.1.1716, A, 33, S. 283: Man hat nie differentere Brüder gesehen, als Ihr. Maj. der König seel. und Mons. seel. waren, haben sich doch sehr lieb gehabt. Der König war groß und cendré oder lichtbraun, und sahe männlich aus, hatte außerdermaaßen hohe Mienen. Mons. sage nicht ignorable aus, aber er war sehr klein, hatte pechschwarze Haare, Augenbrauen und Augenlieder, große braune Augen, ein gar lang und ziemlich schmal Gesicht, eine große Nase, einen gar zu kleinen Mund und hässliche Zähne, hatte mehr weibliche als Manns-Manieren an sich, liebte weder Pferde noch jagen, nichts als Spielen, cercle halten, wohl essen, tanzen und geputzt seyn, mit einem Worte, alles was die Damen lieben. Der König aber liebte die Jagd, die Musik, die Comedien; mein Herr nur die großen Assemblen und Maskeraden. Vgl. dazu VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 167–168; zur idealhaften Männlichkeit Ludwigs XIV. Wolfgang SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien, Köln, Weimar 2003, S. 126–129 u. 148; zur weiblichen Konnotation der Maske vgl. Nina TRAUTH, Maske und Person. Orientalismus im Porträt des Barock, München 2009, S. 34–36. Inclinations = mouvement de l’âme par lequel on est porté à quelque chose; affection, amitée, amour. Vgl. Art. Inclination, in: Dictionnaire de la langue française, hg. v. Émile LITTRE, 4 Bde., 2. Aufl., Paris 1863– 1877; online. Vgl. LABOUVIE, Körper, S. 171; BENDER, Prinzenreise, S. 230; Claudia KOLLBACH, Aufwachsen bei Hof. Aufklärung und fürstliche Erziehung in Hessen und Baden, Frankfurt a.M. 2009, S. 174, 223–

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nannten Ritterakademien erlernt. Insbesondere Adelsfamilien aus dem deutschen Raum legten Wert auf eine gründliche Exerzitienschulung, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts zum unerlässlichen Bildungsprogramm einer Grand Tour gehörte und besonders häufig in Frankreich absolviert wurde.26 In Abgrenzung zu den Leibesübungen stellte Elisabeth Charlotte Schönheitspflege (putzen), die Sorge um das eigene Aussehen sowie die Freude an Feierlichkeiten (Ceremonien) als typisch weibliche Praktiken dar. Obwohl sie einräumte, dass auch Monsieur sich im Krieg bewährt habe, machte sie den Unterschied zwischen den Brüdern gerade daran fest, dass Ludwig XIV. eine besondere Vorliebe für die Jagd und den Krieg hatte. Damit umschrieb sie den Intensitätsgrad, mit dem eine Person sich mit bestimmten Praktiken emotional identifizierte. Mann- bzw. Frausein äußerte sich also vorrangig über geschlechtsbezogene Zuschreibungen an soziale Praktiken. Geschlechtlich konnotierte Neigungen, Handlungspraktiken und Affekte27 dienten Personen zur Selbstidentifikation und waren gleichzeitig entscheidend für die Wahrnehmung anderer. Dies zeigt sich auch in Elisabeth Charlottes Beschreibung ihrer Enkelin Louise Adélaïde (1698–1743), der Mademoiselle de Chartres: sie hat rechte Buben Inclinationen, liebt Hunde, Pferde, Reiten, Schiessen, fürchtet nichts in der Welt, und fragt nach nichts was die Weiber lieben, fragt nichts nach ihrer Figur, ob sie zwar gar nicht häßlich ist und recht wohl geschaffen.28

Elisabeth Charlottes eigene durch zahlreiche Zeugnisse belegte Jagdlust muss vor diesem Hintergrund geschlechtsbezogener Differenzierungen von idealhaft männlichen und weiblichen Praktiken und Identifikationsmomenten interpretiert werden. Auch wenn die Beteiligung von Frauen an der Hetzjagd zu Pferde keineswegs unüblich war29 und im

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230 u. 332–364. Zum Begriff des Honnête Homme vgl. Anette HÖFER u. Rolf REICHARDT, Hônnete homme, Honnêteté, Honnêtes gens, in: Rolf REICHARDT u. Eberhard SCHMITT i. V. m. Gerd VAN DEN HEUVEL u. Anette HÖFER, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Heft 7, München 1986, S. 7–73, hier 2–14, die betonen, dass dieses Persönlichkeitsideal über höfische Kreise hinaus Geltung erlangt habe. Vgl. LEIBETSEDER, Kavalierstour, S. 105–106; BENDER, Prinzenreise, S. 206–208 u. 314; vgl. zur Bedeutung der Exerzitien die Korrespondenz des Franz Anton v. Landsbergs (1675–1678) mit seinem Vater Dietrich, Paris, 14.3.1676 u. 10.5.1676, in: Gerd DETHLEFS (Hg.), Die Kavaliersreise des Franz Anton Freiherr von Landsberg 1675–1678. Tagebuch und Briefwechsel (Vereinigte westfälische Adelsarchive 5), Münster 1984, S. 160 u. 163. Auch E. Ch. teilte diese Ansicht. Vgl. An A. K. v. Harling, Versailles, 10.2.1695, H, 113, S. 30: Es ist gar gewiß daß diß landt hir gar deüchtig vor die junge leütte ist maniren zu lehren, undt auch die welt zu kenen. Undt kan man in dem fall mehr hir einem monat lehrnen – alß in andern örtern jahr undt tag; Die excerzitien auch – so einen jungen edelman ahnstehen, lernt man beßer hir alß nirgendts. Vgl. zur maskulinen Konnotation der Affekte Furcht, Zorn und Mut durch die männlicharistokratischen Beschäftigungen der Jagd und des Krieges Catherine NEWMARK, Weibliches Leiden – männliche Leidenschaften. Zum Geschlecht in älteren Affektenlehren, in: Feministische Studien 26,1 (2008), S. 7–18, bes. 13 u. Vernünftige Gefühle? Männliche Rationalität und Emotionalität von der frühneuzeitlichen Moralphilosophie bis zum bürgerlichen Zeitalter, in: Manuel MORUTTA u. Nina VERHEYEN (Hg.), Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010, S. 41–55, hier 48. An C. v. Wales, o.O., 11.8.1716, A, 4, S. 325–326. Vgl. auch o.O., 14.7.1719, A, 46, S. 90; zu ähnlichen Stereotypen in der Literatur des 17. Jhd.s HARRIS, Agendas, S. 197. Vgl. Hans-Jörg CZECH, Katalogbeschreibung 158, Elisabeth Charlotte von der Pfalz, Herzogin von Orléans, im Jagdkostüm, in: Gerhard QUASS im Auftrag des Deutschen Historischen Museums

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höfischen Umfeld für einzelne Frauengestalten bereits seit dem Mittelalter belegt ist, war Elisabeth Charlottes Name in der Wahrnehmung der Zeitgenossen offensichtlich in besonders ausgeprägter Weise mit der Jagd verbunden. Als die Dauphine Maria Anna von Bayern begonnen hatte, Gefallen an der Jagd zu finden, spöttelte die Marquise de Sévigné beispielsweise, dies führe dazu, dass man nun auch wieder etwas mehr über Elisabeth Charlotte rede.30 Auch in der höfischen Chronik des Marquis Dangeau wird Elisabeth Charlotte gemeinsam mit dem jagdbegeisterten Grand Dauphin Louis (1661– 1711), der wie der König eine eigene Equipage unterhielt,31 als Hauptperson der Jagdereignisse erwähnt.32 So berichtet der Marquis in den Jahren 1683 bis 1685 mehrfach, wie der König mit einer überwiegend aus Frauen bestehenden Jagdgesellschaft in Caleschen zur Jagd fuhr. Im Jagdgebiet angekommen, sei jedoch einzig Madame auf ein Pferd umgestiegen, um mit Monseigneur, so der Hoftitel des Dauphins, par force zu jagen.33 Auch in der Hofberichterstattungszeitschrift Mercure galant34 wurde Elisabeth Charlottes Jagdpassion der Leserschaft auf unmissverständliche Weise vor Augen geführt. Im Kapitel Tout ce qui s’est passé à Fontainebleau der Ausgabe vom Juni 1680 heißt es: Je ne vous en diray rien. Vous sçavez que c’est une Amazone à cheval, & qu’il est peu d’Hommes qui ayent plus de viquer

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(Hg.), Hofjagd. Aus den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums, Wolfratshausen 2002, S. 124. Vgl. im Gegensatz dazu den Brief an Sophie, Marly, 6.11.1710, NLA-HStAH, XX,2, 999r: alle jungen damen (lat.) wahren zu pferdt, vndt ich folgte mitt made de bourbon in einer calesche (lat.) wie ordinarie. Vgl. auch Katharina FIETZE, Im Gefolge Dianas. Frauen und höfische Jagd im Mittelalter. 1200– 1500 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 59), Köln, Weimar, Wien 2005, S. 95–98. LAGIER, Femme, S. 57–58; SEYBERT, Liselotte, S. 57, der zufolge die Jagd „den Hofdamen verhasst“ gewesen sei. Mme de Sévigné an Mme de Grignan, 30.6.1680, in: DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SEVIGNE, Bd. 2, 779, S. 994: Madame la Dauphine se met à courir les bêtes. Il ne semblait pas qu’elle voulut faire tant de chemin pour les attraper; Vous voyez comme les goûts changent. Cela fait qu’on parle un peu de Madame; sans cela, il n’en ètait plus question. Mais la chasse réunira ces deux branches de Bavière, depuis longtemps mal ensemble. S. LEBIGRE, Liselotte, S. 90. E. Ch. hatte selbst keine Equipage und war deswegen darauf angewiesen, mit dem König oder Monseigneur gemeinsam zur Jagd zu gehen. Vgl. An Luise, Versailles, 22.2.1710, HO, 2, 462, S. 163–164. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 1 (1684–1686), S. 8, 47, 49, 69, 73, 122, 132, 135, 141, 144, 146, 153–155, 161, 168, 176–177, 179–180, 194, 208, 223, 227–231, 233, 238, 244, 297, 334, 355. Vgl. auch BROOKS, Images, S. 133, ohne Angabe der Belegstellen bei Dangeau. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 1, 30.10.1684, S. 64: Le roi courut le cerf en calèche avec madame la princesse de Conty et mademoiselle de Nantes; dans le derrière, il y avoit mesdames de Ventadour, de Montespan et de Maintenon; Madame étoit venue aussi en calèche avec lui, mais elle monta à cheval et courut avec Monseigneur; après le premier cerf pris , le roi s'en retourna et donna à diner aux dames, qui l'avoient accompagné, dans son cabinet en particulier. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 1, 6.11.1684, S. 67, 8.10.1685, S. 229, 12.9.1685, S. 220: Monseigneur et Madame avoient accompagné le roi à la chasse, et montèrent à cheval au laisser courre. MERCURE GALANT. Dedié à Monseigneur Le Dauphin. A Lyon chez Thomas Amaulry Rue Merciere. Avec le Privilège du Roy, Bd. Juni 1680. Vgl. JONES, Sexing, S. 25–27; Monique VINCENT, Donneau de Visé et le Mercure galant, Paris 1987, S. 5. Die Zeitschrift wurde 1672 von dem frz. Romancier und Theaterschreiber Jean Donneau de Visé (1638–1710) gegründet. Mit einem anekdotenhaften, gefälligen Erzählstil, der besonders bei Schilderungen der Ereignisse (Geburten, Hochzeiten, Feierlichkeiten und Divertissements) und Personen am Hof zum Tragen kommt, kreierte Donneau de Visé einen bis dato in der Pressegeschichte neuen Stil. S. ausführlich Pierre MÉLÈSE, Un homme de lettres au temps du Grand Roi. Donneau de Visé Fondateur du Mercure galant, Paris 1936.

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qu’elle dans cet exercise.35 Erklärungsbedürftig ist hier zunächst der Terminus Amazone, mit dem der oder die anonyme Verfasser/in36 Elisabeth Charlotte bedachte. Die reale historische Existenz des kriegerischen Frauenvolkes der Amazonen, die um 1200 v. Chr. an der Nordküste Anatoliens und im Kaukasus gelebt haben sollen, ist umstritten.37 Ihre Bedeutung als Gegenspielerinnen männlicher Helden wie Herakles oder Achilleus in der griechischen Epik38 aber wurde seit dem Spätmittelalter im Rahmen der europäischen Diskussion über die Geschlechterordnung (Querelle des Femmes)39 zunehmend rezipiert und revitalisiert. Hier wird der Begriff der Amazone mit dem Weiblichkeitsideal der femme forte, einer besonders tapferen, kämpferischen, aber gleichwohl tugendhaft-keuschen und schönen Frau, verknüpft.40 Dieser Frauentypus wurde hochadeligen Frauen des frühen 17. Jahrhunderts, darunter Regentinnen wie Anna von Österreich41 und hochrangige Damen wie die Duchesse de Montpensier42 , die schon erwähnte Duchesse de Chevreuse 35

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MERCURE GALANT, Juni 1680, S. 172; dt. Übersetzung bei: VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 211: „‚Sie wissen, daß sie eine Amazone zu Pferde ist und daß es nur wenige gibt, die sie in dieser Sportart übertreffen‘“; anders FRASER, Love, S. 138: „‚few men were as vigorous in pursuit of this exercise‘“. Vgl. VINCENT, Donneau de Visé, S. 254 u. 258–260. Die Verfasser bleiben im Mercure galant meist anonym. Da auch einige berühmte femmes de lettres nachweislich für die Zeitschrift geschrieben haben, kann hier nicht zweifelsfrei von einem männlichen Schreiber ausgegangen werden. Vgl. Jochen FORNASIER, Amazonen. Frauen, Kämpferinnen und Städtegründerinnen (Zaberns Bildbände zur Archäologie, Sonderbände der Antiken Welt), Mainz 2007, bes. S. 10; Lena LINDHOFF, Art. Amazone, in: Renate KROLL (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2002, S. 8; Hedwig APPELT, Die Amazonen. Töchter von Liebe und Krieg, Stuttgart 2009, bes. S. 11 u. 178–180; SCHRÖTER, FeMale, S. 97; Art. Amazonen, in: Das Weiberlexikon, hg. v. Florence HERVÉ u. Renate WURMS, Köln 2006, S. 15. S. dazu etwa Herodots ‚Histories Apodexis‘ sowie Diodorus‘ ‚Bibliotheka Historica‘, die die Gesellschaft der Amazonen als Negation der griechischen Geschlechterordnung entwarfen. Vgl. SCHRÖTER, FeMale, S. 95–97. Vgl. Margarethe ZIMMERMANN, Querelle des Femmes, in: Renate KROLL (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2002, S. 329–330. Vgl. SCHLUMBOHM, Typus, S. 77–78; KROLL, Heerführerin, S. 56 u. 60; STEINBERG, Confusion, S. 229–238; LINDHOFF, Art. Amazone, S. 8; Silvia NEYSTERS, Regentinnen und Amazonen, in: Bettina BAUMGÄRTEL u. Silvia Neysters (Hg.), Die Galerie der starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, München 1995, S. 98–103, hier 102–103; Susanne SCHRÖTER, Female Masculinity. Ein neues Phänomen des Gender Bender?, in: Elisabeth ROHR (Hg.), Körper und Identität. Gesellschaft auf den Leib geschrieben, Königstein im Taunus 2004, S. 144–160, hier 145; LAGIER, Femme, S. 19–20; HARRIS, Agendas, S. 194; zu Amazonen in zeitgenössischen Opern Jennifer VILLARAMA, „Ein herz bedenket nichts / das Lieb‘ und Eifers voll“. Liebe und Intrige in Friedrich Christian Bressands „Hercules unter den Amazonen“ (1693) – Die Amazone als Leit- und Idealbild im 17. Jahrhundert, in: Sabine FLICK u. Annabelle HORNUNG (Hg.), Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel, Bielefeld 2009, S. 157–177, hier 157 u. 169–170. Vgl. LAGIER, Femme, S. 58 berichtet, dass Anna gegen Ende ihres Lebens sehr häufig in Männerhosen zur Jagd gegangen sei. Zu Anne Marie Louise d’Orléans, Duchesse de Montpensier (1627–1693) vgl. SCHLUMBOHM, Typus, S. 77–99; KROLL, Heerführerin, S. 56.

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oder Geneviève Prémoy, die als Chevalier Balthazar in männlicher Verkleidung im Heer Ludwigs XIV. diente,43 zugeschrieben.44 Eine zweite speziellere Bedeutung kam dem Terminus in der französischen Ritterpoesie zu, wo Amazone eine „kühne Reiterin“ bezeichnet. Noch heute wird der Begriff im Springreitsport auf diese Weise verwendet.45 Im Mercure galant scheinen beide Bedeutungsebenen durch: Zum einen wird durch den Zusatz à cheval auf Elisabeth Charlottes ‚amazonengleiche‘ Reitkunst Bezug genommen. Während über die Dauphine Maria Anna angemerkt wird – elle manioit son cheval sans aucune peine46 – und bei Madame la Princesse de Conti47 beschrieben wird, wie sie die Jagdgesellschaft avec le bon air & la grace qui luy est si naturelle48 begleite, wird im Absatz zu Elisabeth Charlotte die außergewöhnliche Kraft (viquer) hervorgehoben, die sie bei der Leibesübung an den Tag legte. Diese wird nicht etwa mit der anderer Frauen verglichen, wie sich dies im Text zweifellos angeboten hätte und wie es etwa auch im gleichgeschlechtlichen Vergleich des modernen Wettkampfsports bis auf wenige Ausnahmen fest etabliert ist. Als Referenz gilt vielmehr ein durch Großschreibung herausgehobenes peu d’Hommes. Leider ist aus dem Kontext nicht zu erschließen, ob hiermit ‚wenige Menschen‘ oder ‚wenige Männer‘ gemeint sind. Selbst eine Übersetzung mit ‚Menschen‘, die aufgrund der Großschreibung weniger wahrscheinlich scheint, würde ohnehin die männliche Genusgruppe mit einschließen. Bei den normativ männlich konnotierten Leibexerzitien (exercise) konnte Elisabeth Charlotte dem Mercure galant zufolge also durchaus mit Männern konkurrieren.49 Wichtige Hinweise auf Elisabeth Charlotte in der Rolle der Reiterin und Jägerin liefert darüber hinaus eine Bildquelle, die Aufschluss über die zeitgenössische Mode50 der

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Vgl. Histoire de la Dragone. Contenant Les Actions Militaires & les Avantures de Geneviève Prémoy sous le nom du Chevalier Baltazar, Brüssel 1704. S. auch Rudolf DEKKER u. Lotte VAN DE POL, Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte, Berlin 1990, S. 116; KROLL, Heerführerin, S. 55 u. 61; LAGIER, Femme, S. 32; HARRIS, Agendas, S. 195. Vgl. KROLL, Heerführerin, S. 52–54, 56 u. 60; SCHLUMBOHM, Typus, S. 79–80. Art. Amazonen, in: Weiberlexikon, S. 15. MERCURE GALANT, Bd. Juni 1680, S. 171. Die Princesse de Conti [Marie-Thérèse de Bourbon, Prinzessin von Conti, 1666–1732] gehörte zu den Damen am Hof des Sonnenkönigs, die ebenfalls zu Pferde jagten. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 1, 17.11.1684, S. 122. MERCURE GALANT, Bd. Juni 1680, S. 172. Konkurrenzdenken spielte bei vormodernen Leibesübungen eine untergeordnete Rolle. Diese Feststellung ist jedoch kaum aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive reflektiert worden. S. etwa Franz X. EDER, Von der Geschichte des Körpers und den „Übungen des Leibes“ in der Moderne, in: Hubert Ch. EHALT u. Otmaß WEIß (Hg.), Sport zwischen Disziplinierung und neuen sozialen Bewegungen (Kulturstudien Bibliothek der Kulturgeschichte 23), Wien, Köln, Weimar 1993, S. 45– 54, hier 47–48; Rebekka von MALLINCKRODT, Leibesübungen, in: Dies. (Hg.), Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 89), Wiesbaden 2008, S. 303–316, hier 303. Vgl. Gertrud LEHNERT, Wenn Frauen Männerkleidung tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte, München 2007, S. 26 u. 28. Für die Geschlechtergeschichte ist die Analyse zeitgenössischer Männer- und Frauenmoden ein wichtiger Ansatzpunkt, da diese mit Bezug zueinander „fiktive Geschlechtervorstellungen“ und damit kulturell erzeugte Geschlechtsidentitäten formten.

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Jagdkleidung gibt.51 Auf einem vermutlich von ihr selbst in Auftrag gegebenen Dreiviertelporträt (Abb. 2), das zwischen 1673 und 1680 entstand und dem Pariser Maler Louis Ferdinand Elle zugeschrieben wird52 , ist Elisabeth Charlotte sitzend dargestellt, bekleidet mit einer taillierten blauen Jacke im der Militärkleidung entspringenden Juste-au-corpsStil53 sowie Spitzenkrawatte54. Mit dem Juste-au-corps – der gängigen Oberbekleidung für adelige Männer55 – und den Accessoires wie Federhut56 und den starken, mit weiten Stulpen versehenen Lederhandschuhen57 entspricht das abgebildete Kostüm der Jagdkleidung für Männer am französischen Hof. Das Porträt zeigt keine sichtbaren Schmuckstücke.58

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Vgl. auch BÖTH, Practices [i. Dr.]. Vgl hierzu die Datierungsüberlegung von BROOKS, Images, S. 134–136 in der Auseinandersetzung mit der Datierung von Sigrun PAAS, Katalogbeschreibung Nr. 26, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-JahrFeier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 245. Paas revidiert die Angabe in der Katalogbeschreibung allerdings selbst in ihrem Aufsatz, in dem sie das Porträt mit dem Besuch Sophies 1679 am frz. Hof in Verbindung bringt. Sophie hatte danach beschrieben, dass E. Ch. das Tragen des Jagdkleides besonders liebe. Vgl. PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 74 u. 80. Vgl. Ingrid LOSCHEK, Reclams Mode- und Kostümlexikon, 4. Aufl., Stuttgart 1994, S. 275, Stichwort Justaucorps. Vgl. etwa die Kleidung Geneviève Prémoys als Chevalier Baltazar im Regiment des Königs Histoire de la Dragone, S. 275 u. Kupferstich auf dem Frontispiz der Ausgabe. Vgl. LOSCHEK, Mode- und Kostümlexikon, S. 326, Stichwort Krawatte. Aufgrund der Frisurenmode der Herren trugen diese ab 1670 eine Krawatte statt eines Spitzkragens. Diese war meist weiß mit Spitzenende verziert und hing über dem Just-au-corps bis zum Brustansatz. Sie wurden zweimal um den Hals geschlungen und über dem niedrigen Stehkragen des Hemdes getragen. Nach 1675 wurde er mit einer separaten, meist farbigen Schleife zusammengehalten. In den 1680er Jahren wurden diese Schleifen abgesteift und doppelt getragen. Vgl. ebd., S. 275, Stichwort Justaucorps; JONES, Sexing, S. 23. Vgl. ebd., Stichwort Plumage, S. 381 u. Stichwort Feder, S. 184. Zwischen 1670 und 1780 gebräuchlicher Federbesatz aus einer gespaltenen Straußenfeder, die den inneren Rand des Filzhutes mit rund aufgebogener Krempe säumte. Vgl. dazu den Hut auf einem Porträt Ludwigs XIV. zu Pferd, 1679 von R.-A. Houasse, Abb. in: PAAS (Hg.), Liselotte, S. 20. Vgl. dagegen LAGIER, Femme, S. 58, die einen Damenhut (la capeline) identifiziert, der auch während der Bälle am Hof in Mode gewesen sei. Vgl. LOSCHEK, Mode- und Kostümlexikon, Stichwort Handschuhe S. 234. Vgl. BROOKS, Images, S. 136.

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Abb. 2: Louis Ferdinand Elle, Elisabeth Charlotte im Jagdkostüm (um 1674) Deutsches Historisches Museum, Berlin

Besonders auffällig ist zudem Elisabeth Charlottes Frisur, die in langen Locken – im Stile der für Männer üblichen Allongeperücken59 – herabfällt.60 Die Allongeperücke galt als 59

Zur Allongeperücke vgl. STOLZ, Handwerke, S. 162–167; Max von BOEHN, Menschen und Moden im 17. Jahrhundert (Die Mode 3), 5. Aufl. durchges. v. Ursula von KARDORFF, München 1964, S. 103 u. 118–119.

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maskuline Konvention, während für die Damen bis etwa 1680 die sogenannte ‚Kohlkopffrisur‘ (Hurluberlu)61 und danach die von Elisabeth Charlotte spöttisch beschriebene Fontanges62 tonangebend war.63 Einzig und allein der farblich zum Kostüm passende, auf dem Dreiviertelporträt nur angedeutete lange Rock weist die Porträtierte als Frau aus.64 Er ermöglichte es, im Damensattel zu reiten, was Elisabeth Charlotte ihren eigenen Aussagen zufolge auch tat. Der Herrensattel galt als unschicklich und unzivilisiert – nur auf dem Lande, keinesfalls aber am französischen Königshof würden adelige Damen auf diese Weise reiten, so Elisabeth Charlotte.65 Auch im Damensattel, in dem die Reiterin ihr rechtes Knie an einem Knauf stabilisierte, muss Elisabeth Charlotte jedoch als besonders abenteuerlustig und risikobereit wahrgenommen worden sein, wie die Bezeichnung als ‚Amazone zu Pferde‘ im Mercure galant zu verstehen gibt.66 Als Kniestück betont das Porträt jedoch primär die maskulinen Elemente des Jagdkostüms. Von der bekannten zeitgenössischen Darstellungskonvention en Diane, bei der die Weiblichkeit der mythologischen Figur der Jagdgöttin sehr viel stärker ins Bild gesetzt wurde, ist es weit entfernt.67 60 61

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Vgl. CZECH, Katalogbeschreibung 158, S. 124; PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 73–80. Vgl. BOEHN, Menschen, S. 133: Die Frisur wurde 1671 in Paris erfunden. Dabei wurden die zuvor angesagten Korkenzieherlocken ausgekämmt und um den Kopf gelegt festgesteckt. Vgl. zur Frisurenentwicklung STOLZ, Handwerke, S. 167–171; LOSCHEK, Mode- und Kostümlexikon, Stichwort Fontanges, S. 189–190; BOEHN, Menschen, S. 134–135; JONES, Sexing, S. 10. Vgl. auch STOLZ, Handwerke, S. 168; Hélène LOETZ, Die höfische Mode. Von der Rhingrave zur Fontange, in: Sigrun PAAS (Hg.), Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 189–198, hier 197; BROOKS, Images, S. 136; BOMBEK, Kleider, S. 195. Vermutlich handelt es sich auch hier um eine Perücke. Bekräftigt wird dies durch den Mercure galant, der im Juni 1680 ein Jagdereignis mit Beteiligung E. Ch.s schildert, bei dem einzig die Dauphine Maria Anna ohne Perücke erschien. Vgl. MERCURE GALANT, Juni 1680, S. 172. Vgl. zur Fontanges An Sophie, Fontainebleau, 8.10.1688, NLA-HStAH, II, 332v, vgl. B, 1, 83, S. 101: alle tag setzt man sich höher auff ich glaube daß man endtlich wirdt gezwungen sein die thüren höher zu machen, den sonsten wirdt man nicht mehr in den kammern auß undt ein gehen können. An Luise, Versailles, 11.12.1695, HO, 1, 31, S. 53 u. Paris, 12.4.1721, HO, 6, 1218, S. 76: Die moden von den gar hohen coeffuren habe ich nie a l‘exces gefolgt, also mich desto eher wider zu den niedrigen bekennen können. Vgl. BROOKS, Images, S. 133. Vgl. An Sophie, Paris, St. Germain, 11.1.1678, NLA-HStAH, I, 96v, vgl. B, 1, 17, S. 19: daß man hier schriettlingen auf die jagt reitt, ist ein großer irrtum, nicht allein itzunder zu meinen zeitten schlegt man den schenckel umb den sattelknopff, sondern, der könig hat mir selbsten gesagt, daß man hir niemahlen anders geritten hatt, in den provintzen aber da reitten die damens alle schrietlingen, drumb scheindt es, daß obgemelte dame [Eléonore d’Olbreuse, Frau v. Harburg] sich mehr an einen undt letzten alß ersten ort auffgehaltten. Vgl. PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 74, Anm. 15, ohne Angabe des Belegs. Vgl. im Gegensatz zu E. Ch.s Aussagen Michaela OTTE, Geschichte des Reitens von der Antike bis zur Neuzeit, Warendorf 1994, S. 184–186; Max JÄHNS, Ross und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der Deutschen. Eine kulturhistorische Monografie, 2. Bd., Leipzig 1872, S. 294. Vgl. MERCURE GALANT, Juni 1680, S. 172. S. bspw. die mythologisch inszenierte Diana-Darstellung von E. Ch.s Tante Elisabeth von der Pfalz als Diana Willem van Honthorst (um 1640). Auf dem Brustbild ist sie mit Pfeil und Bogen dargestellt. Ihre Wangen und die Lippen sind rot geschminkt; sie trägt ein Diadem und eine dazugehörige Kette aus Perlen sowie ein Kleid mit Schmuckschärpe, das der zeitgenössischen Damenmode entspricht. Abb. in: BEI DER WIEDEN (Hg.), Elisabeth, S. 49.

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Bei der Darstellung handelt es sich jedoch nicht um eine individuelle Aufmachung, sondern um die allgemein übliche Jagdkleidung für Frauen in dieser Zeit.68 Die britische Kostümhistorikerin Janet Arnold geht in ihrem Aufsatz ‚Dashing Amazones‘ den Spuren der Jagdmode nach und findet erste Hinweise auf ein spezielles Kostüm für Frauen am englischen Hof des 16. Jahrhunderts. Als frühester Beleg kann eine Lieferung schwarzen Satins vom November 1502 gelten, aus dem ein Jagdkleid für Elizabeth von York (1466– 1503), die Gemahlin Heinrichs VII., geschneidert werden sollte.69 Betont maskuline Züge in der Jagdkleidung für Frauen können, so Arnold, zunächst vor allem in der Hutmode seit den 1570er Jahren nachgewiesen werden. In den folgenden Jahrzehnten lässt sich jedoch beobachten, wie sich auch die Oberbekleidung des Jagdkostüms der Mode für Männer anpasste und sich fortan mit ihr verändern sollte. Seit Ende des 16. Jahrhunderts bestand die Jagdkleidung für Frauen aus dem in der spanischen Hofmode typischen Wams70 , in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahm sie, wie auf dem Porträt Elisabeth Charlottes, den neuen Stil des Juste-au-corps auf. Auch in Details wie den Handschuhen oder der Frisurenmode glichen sich die Stile der männlichen und weiblichen Jagdkleidung immer stärker an. Obwohl die Vorzüge der praktischen Jagdkleidung für Männer auf der Hand lagen und die Kostüme primär in den Händen von Schneidern, d.h. Männern, hergestellt wurden, identifiziert Arnold in dieser Phase vor allem einen Nachahmungswillen von „fashionable women“71 als wichtigstes Kriterium für den Wandel der Jagdbekleidung. Als eindrucksvolle Kulmination der Maskulinisierung des Jagdkostüms kann eine 1666 von Samuel Cooper geschaffene Miniatur gelten, die Frances Stuart (1647/48–1702), eine Hofdame der englischen Königin Katharina von Braganza (1638–1705) und spätere Duchess of Richmond and Lennox, zeigt.72 In den Jahren zwischen 1660 bis 1700 ist insbesondere im englischen Raum eine gewisse Experimentierfreude mit Geschlechterinszenierungen nachweisbar, die sich unter anderem auch darin zeigt, dass es als chic galt, wenn Frauen auf der Theaterbühne in betont männliche Rollen schlüpften.73 Der maskuline Eindruck des Jagdkostüms wird im Porträt auch durch die Handhaltung Elisabeth Charlottes verstärkt. In einer auffälligen Geste ist ihre rechte Hand unter die Jacke geschoben und erinnert den heutigen Betrachter an die Bildnisse Napoléon

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VAN DER CRUYSSE, „J’ai regretté“, S. 55, bezeichnet das Jagdkleid als „semi-masculin“; anders ders., Madame, S. 211; BROOKS, Images, S. 131–133 beide mit Bezug auf BARINE, Madame, S. 112–113. Vgl. Janet ARNOLD, Dashing Amazones: the development of women’s riding dress, c. 1500–1900, in: Amy De la HAYE u. Elizabeth WILSON (Hg.), Defining Dress. Dress as object, meaning and identity, Manchester, New York 1999, S. 10–29, hier 10. Vgl. ebd., S. 12–14. Ebd., S. 16. Vgl. für den frz. Raum ähnlich JONES, Sexing, S. 35; SCHRÖTER, Masculinity, S. 148; LEHNERT, Frauen, S. 31, die den hochsymbolischen Wert von Kleidung als Movens der Modeentwicklung von praktischen Erwägungen abgrenzt. Frances Teresa Stuart, later Duchess of Richmond and Lennox, Miniatur von Samuel Cooper, um 1663, British Library Stowe MS 567, in: Catherine MACLEOD u. Julia MARCIARI ALEXANDER, Painted Ladies. Women at the Court of Charles II. (National Portrait Gallery), London 2001, S. 96– 97; Daphne, FOSKETT, Samuel Cooper 1609–1672, London 1974, 40, S. 20–21 u. 56–57. S. auch ARNOLD, Amazones, S. 17; BROOKS, Images, S. 132. Vgl. BULLOUGH u. BULLOUGH, Cross dressing, S. 76 u. 86.

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Bonapartes, der mehr als 100 Jahre später in dieser Haltung porträtiert wurde.74 Wie die Kunsthistorikerin Arline Miller zeigt, ist die an antike Vorbilder anschließende ‚hand-inwaistcoat‘-Geste vor allem als Konvention der englischen Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts bekannt. Sie sollte den von „manly boldness tempered with modesty“75 geprägten englischen ‚Nationalcharakter‘ ins Bild setzen. Die frühesten Darstellungen der Geste finden sich allerdings in Kostümbildern, die um 1680 im Umfeld des französischen Hofes entstanden waren und die dortige Mode repräsentierten. Miller führt in diesem Zusammenhang zwei Kupferstiche aus den Pariser Ateliers Bonnart und Trouvain an, die Elisabeth Charlottes Gatten Philippe in dieser Haltung zeigen. Miller zufolge geben die Kostümstiche „a candid glimpse of social etiquette at Versailles“.76 Sie zeigen also idealhafte Darstellungen des höfischen Edelmannes der Zeit. Das Porträt Elisabeth Charlottes im Jagdkostüm ist jedoch nicht nur deutlich vor 1680 zu datieren – vielmehr scheint es auch die einzige zeitgenössische Darstellung einer Frau in dieser Haltung zu sein. Zeitgenossen zeigten sich einigermaßen irritiert vom Anblick der Jagdteilnehmerinnen in einer solchen maskulinen Aufmachung. Seine Eindrücke in Whitehall schildert beispielsweise der Marinesekretär Samuel Pepys in seinem Tagebucheintrag zum 12. Juni 1666 besonders eindrücklich: Walking here in the galleries, I find the Ladies of Honour dressed in their riding garbs, with coats and doublets with deep skirts, just for all the world like men, and buttoned their doublets up the breast, with perriwigs and with hats; so that, only for a long petticoat dragging under their men's coats, nobody could take them for women in any point whatever – which was an odde sight, and a sight [sic] did not please me. It was Mrs. Wells and another fine lady that I saw thus.77

Auch der am französischen Hof weilende John Locke berichtete in seinem Reisetagebuch aus dem Jahr 1677 mit ähnlicher Verwunderung: At Fountainbleau [sic] yesterday [26 September] the king & court went a staghunting in the afternoon & at night had an opera, at all which Madame appeard [sic] in a peruke & upper parts dressed like a man.78

Dass William Brooks mit der Alltäglichkeit der Jagdkleidung argumentierend feststellt: „If Locke was suprised, he perhaps should not have been“, ändert nichts an dem offenbar ‚seltsamen‘ Eindruck, den die höfische Maskerade auf die beiden aus bürgerlichen Kreisen stammenden Besucher machte. Freilich könnte man mit Brooks‘ Argument der ‚Normalität‘ schlussfolgern, dass das Jagdkostüm im höfischen Kontext als vollkommen

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Vgl. Arline MILLER, Redressing Classical Statuary: The Eighteenth-Century „Hand-in-waistcoat“Portrait, in: The Art Bulletin 77 (1995), S. 45–63, hier 61–63. S. auch Faramerz DABHOIWALA, The Origins of Sex. A History of the First Sexual Revolution, London 2012, S. 128–138, Abb. 1: Edward Rigby 1702. Ebd., S. 45, 53 (Zit.) u. 57. Ebd., S. 53. Samuel PEPYS, Tagebucheintrag vom 12.6.1666, in: The Diary of Samuel Pepys. A new and complete transcription, hg. v. Robert LATHAM u. William MATTHEWS, Bd. 7, London 1972, S. 162. Einen kurzen Hinweis auf Pepys gibt auch BROOKS, Images, S. 133. LOCKE, Travels, S. 173. Vgl. zur Interpretation des Zitats bei BROOKS, Images, S. 132.

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gewöhnlich galt und unaufgeregt zur Kenntnis genommen wurde.79 Erklärungsbedürftig erscheint dann jedoch die Aussage von Elisabeth Charlottes Tante Sophie, die ihre Nichte 1679 am französischen Hof besucht hatte und ihrem Bruder Karl Ludwig nach Hause berichtete: Je trouve Madame engraissée et d’un humeur le plus agreable du monde; son habit de chasse luy va mieux que les autres, car elle n’aime pas trop à se mettre bien d’une autre manière, quoiqu’on en fasse une affaire icy.80

Laut Sophie gab Elisabeth Charlottes Vorliebe für das Jagdkleid also durchaus Anlass zu Diskussionen am französischen Hof. Dass sie in dieser Zeit bisweilen den ganzen Tag über im Reitkostüm verbrachte,81 sich für offizielle Anlässe wie die Oper eher widerwillig umkleidete82 und sich überhaupt nur ungern wie für Frauen gebührend herrichten wollte, wurde ganz offensichtlich in der Hofgesellschaft als Affront verstanden. Der Anblick von Frauen im Jagdkostüm, die kaum mehr eindeutig einer der Genusgruppen zuzuordnen gewesen sein sollen, konnte also nicht nur bei Bürgerlichen, sondern auch in einem genuin adeligen Kontext offenbar Irritationen auslösen. Mit ihrem spielerischen Impetus ist die männliche Verkleidung bei der höfischen Jagd83 freilich nur bedingt mit dauerhaf79

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Vgl. JONES, Sexing, S. 25. Ludwig XIV. duldete das Tragen des Jagdkleides wohl bei E. Ch. und seiner Cousine, der Grande Mlle, Anne Marie Louise d’Orléans (1627–1693). Sophie an Karl Ludwig, 24.8.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 373, S. 372; VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 251; dt. Übers. Ders., Madame, S. 263–264: „Ich finde, daß Madame dicker geworden ist und die beste Laune von der Welt hat: ihr Jagdgewand steht ihr besser als die anderen Kleider, denn sie liebt es nicht allzu sehr, sich anders herzurichten, obwohl man hier eine große Affäre daraus macht.“ Vgl. PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 74; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 211; BROOKS, Images, S. 133. Diese Annahme An Luise, Marly, 27.7.1702, HO, 1, 178, S. 302: Den wie ich mich nun viel zu alt finde, umb den gantzen tag im justaucorp undt peruque zu bleiben, mich also von haubt zu den füßen wider anderst ahnkleyden undt ich ordinarie sehr schwitze, so muß ich gar lange zeit haben, mich wider ahnzukleyden; daß nimbt die zeit zu schreiben weg. An Karl Ludwig, St. Cloud, 17.5.1688, HO, 6, N. 18, S. 513: Und weillen ich kein leibstück ahnthun konte undt den arm in escharpe tragen muste, hab ich mich alß die gantze zeit über in jagtskleyder gekleidt, welches mich dan ahn die tournir erinert. Vgl. auch An Amalie Elisabeth, Marly, 21.8.1707, HO, 2, 378, S. 38: Hertzliebe Amelise, vergangen donnerstag war es mir ohnmöglich, auff Ewer liebes schreiben vom 8 zu andtwortten; den wir wahren den gantzen tag auff der hirschjagt undt hernach must ich mich von kopff zu füßen anderst kleyden undt abendts war mussiq. An Luise, Marly, 4.9.1710, HO, 2, 489, S. 199: Wir hatten heütte gar eine lange jagt getan, hatt 3 halb stundt gewehrt, war aber schön undt daß wetter auch. Ich muß mich noch von haupt zu füßen anderst ahnkleyden, umb zu deß königs nachteßen zu gehen, aber vorher muß ich noch nothwendig 4 brieff schreiben. E. Ch. begrüßte aber wohl die Entscheidung des Königs, das ‚grand habit‘ aus Korsett (Leibstück) und Reifrock zum verbindlichen Gewand bei offiziellen Anlässen zu machen, da sie den lockeren, einem Schlafrock ähnelnden, tief dekolletierten und ohne Korsett getragenen ‚Manteau’ ablehnte. An Luise, Versailles, 5.3.1695, HO, 1, 17, S. 30: Meine eintzige continuirliche kleydungen seindt grand habit undt jagtskleydt, wen ich reitte; sonsten trag ich nichts, auch mein leben keine robe de chambre noch manteau, habe auch in meiner garderobe nur einen entzigen nachtsrock, nur damitt auffzustehen undt zu bette zu gehen, sonst nichts. An Luise, St. Cloud, 31.7.1718, HO, 3, 937, S. 336; Marly, 27.7.1702, HO, 1, 178, S. 306; Versailles, 13.8.1705, HO, 1, 262, S. 410; 25. 8.1718, HO, 3, 944, S. 359. Vgl. auch BOMBEK, Kleider, S. 187– 188 u. 194–195; JONES, Sexing, S. 25, 47, 50, 52, 55 u. 61–62. Vgl. Annegret FRIEDRICH, Männliche Maskeraden in der Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts, in: Frauen, Kunst, Wissenschaft, H. 33: Tomboys. Que(e)re Männlichkeitsentwürfe (2002), S. 19–27, hier 21.

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teren Formen des Gender-Crossings zu vergleichen – wie etwa der oft aufgrund existentieller Zwänge getroffenen Entscheidung vieler Frauen aus den Unterschichten der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, dauerhaft als Mann zu leben.84 Kam der Geschlechtertausch ans Licht, so drohte gesellschaftliche Ächtung und häufig sogar die Todesstrafe.85 Dennoch folgt die Bewertung der höfischen Jagdverkleidung einer ähnlichen Logik, denn als bedrohlich wurde vor allem das Verwischen der Geschlechtergrenzen und eine damit einhergehende Pervertierung der Geschlechterordnung empfunden.86 Deshalb waren gesellschaftlich akzeptierte Formen von kurzzeitigem Cross-Dressing etwa auf der Bühne, bei Karneval und Maskenbällen87 oder eben bei der Jagd auch in der höfischen Kultur strikt normiert. Ihnen war die gesellschaftliche Erwartung inhärent, dass als Frauen positionierte Personen außerhalb dieser Ereignisse wieder den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaftsordnung einnahmen.88 Wo feminine Schönheit verloren zu gehen drohte, wo also der Kern der Weiblichkeitskonzeption und damit der Geschlechterordnung zur Disposition stand,89 konnte auch die höfische Gesellschaft mit Ablehnung reagieren. Dem Ideal einer femme forte, das der Romanistin Renate Kroll zufolge ein von männlichen Zeitgenossen bewusst gefördertes und letztlich die patriarchale Gesellschaftsordnung stabilisierendes Weiblichkeitskonzept war,90 waren also enge Grenzen der Legitimität gesetzt.91 84

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Vgl. DEKKER u. VAN DE POL, Frauen, S. 18–20, 23 u. 48–51; Lillian FADERMAN, Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft und Liebe zwichen Frauen von der Renaissance bis heute, Zürich 1990, S. 49–64, bes. 57–58; HARRIS, Agendas, S. 194; Valerie R. HOTCHKISS, Clothes Make the Man. Female Cross Dressing in Medieval Europe (The New Middle Ages 1), New York, London 1996, S. 127; BULLOUGH u. BULLOUGH, Cross dressing, S. 68; Angela STEIDELE, In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 30 u. 32; SCHRÖTER, FeMale, S. 102–105, die auf die fließenden Grenzen zwischen CrossDressing und anderen Praktiken des Gender-Crossing hinweist. So etwa bei Catharina Margaretha Linck (1721) oder bei Katerina Hetzeldorfer (1477). Vgl. STEIDELE, Männerkleider, S. 181–223, bes. 216; Helmut PUFF, Female Sodomy, The Trial of Katherina Hetzeldorfer (1477), in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies 30 (2000), S. 41–61, hier 59. Vgl. FADERMAN, Liebe, S. 15, 29 u. 49–52, kommt zu dem Schluss, dass intime Beziehungen zwischen Frauen geduldet wurden, wenn Frauen die weibliche Geschlechtsrolle aufrechterhielten, hingegen bestraft wurden, wenn die traditionellen sozialen Geschlechterrollen überschritten wurden. S. auch Martha VICINUS, „They Wonder to Which Sex I Belong“: The Historical Roots of the Modern Lesbian Identity, in: Feminist Studies 18,3 (1992), S. 467–497, hier 477–478; Angela TAEGER, Intime Machtverhältnisse. Moralstrafrecht und administrative Kontrolle im ausgehenden Ancien Régime (Ancien Régime und Aufklärung 31), München 1999, S. 8. Vgl. HARRIS, Agendas, S. 55 u. 59; DEKKER u. VAN DE POL, Frauen, S. 18–20 u. 43. Vgl. BULLOUGH u. BULLOUGH, Cross dressing, S. 90: „There were limits on how much gendercrossing a woman could do, and everything supposedly remained right in the world if the women, after some play with role reversal, contentedly resumed their subordinated status.” Vgl. auch HARRIS, Agendas, S. 66–67; DEKKER u. VAN DE POL, Frauen, S. 59; LEHNERT, Frauen, S. 14. Vgl. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 108–109: „Eine richtige Frau hatte sowohl ‚weiblich‘ als auch ‚schön‘ zu sein, sie stellte einen Idealtyp dar – im Weberschen Sinne, einen Typ reich an Bedeutungen.“ Vgl. SCHLUMBOHM, Typus, S. 99; KROLL, Heerführerin, S. 54 u. 62–63. Die Hochphase erlebte das Ideal in der Zeit der Fronde um 1650 bis in die 1670er Jahre. Danach nahm die Bindekraft des

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Den Handlungsmustern adeliger Frauen des 17. Jahrhunderts, die sich im Jagdkostüm porträtieren ließen und sich außerhalb der Jagdereignisse in dieser Aufmachung zeigten, liegt folglich mit einiger Sicherheit ein subversives Element inne. Mit den Porträts Frances Stuarts und Elisabeth Charlottes wäre der Beginn eines „unruhestiftenden Diskurs[es] über die performativen Möglichkeiten der Geschlechtersubversion“92 , wie ihn die Kunsthistorikerin Annegret Friedrich für die Mitte des 18. Jahrhunderts beschreibt, schon weitaus früher anzusetzen. Die strikte Reglementierung in Bezug auf die geschlechtsbezogene Kleiderordnung verschärfte sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten weiter. Das Jagdkostüm bildete gewissermaßen nur den Auftakt zu einer langfristigeren Entwicklung in diese Richtung. Während des 18. und 19. Jahrhunderts veränderte sich die Jagdkleidung für Frauen parallel zur Männermode und wurde zum Vorbild für die weibliche Ausgeh- und Reisekleidung.93 Verließen Frauen die ihnen im System bürgerlich konzipierter ‚polarer Geschlechtscharaktere‘ zugedachte räumliche Lebenssphäre94 , schien die geeignete Kleidung einmal mehr in der Nachahmung maskuliner Mode zu bestehen.95 Dies zeigt noch einmal nachdrücklich, dass wesensgemäße Geschlechtervorstellungen – dies meint letztlich der von Karin Hausen geprägte Begriff ‚Geschlechtscharaktere‘ – nicht plötzlich vom Bürgertum gegen Ende des 18. Jahrhunderts ‚erfunden‘ wurden.96 Wesentliche Traditionslinien der ‚bürgerlichen‘ Geschlechterperzeption verweisen auf

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Konzepts bereits sukzessive wieder ab. Im direkten Umfeld des Hofes sind negative Konnotationen aufgrund der Verbindung zur Fronde schon seit den 1660er Jahren zu beobachten. Vgl. HARRIS, Agendas, S. 62–67; STEINBERG, Confusion, S. 216. Vgl. SCHLUMBOHM, Typus, S. 81; KROLL, Heerführerin, S. 58; Renate KROLL, Art. Heroinismus/ heronism/Amazonomanie, in: Dies. (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2002, S. 174–175, hier 174: „Die Viragos, die mit spezifisch männlichen Eigenschaften ausgerüstet waren (Verstand, Urteilskraft, Aktivität, militärische Schlagkraft), durften jedoch ihre Weiblichkeit, Schönheit und Sittsamkeit nie verlieren.“ FRIEDRICH, Maskeraden, S. 22. Friedrich untersucht ein Porträt der Marie-Louise-Élisabeth de Bourbon (1727–1759) von Marc Nattier, das nach deren Tod vermutlich von einer ihrer Schwestern in Auftrag gegeben worden war. Vgl. ARNOLD, Amazones, S. 20. In diesem System wird die Frau qua Natur etwa als „schwach“, „empfindsam“ und „wankelmütig“ definiert und somit auf den häuslichen Bereich festgelegt. HAUSEN, Polarisierung, S. 367–369; vgl. Annegret PELZ, „Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?“ Das „reisende Frauenzimmer“ als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang GRIEP (Hg.), Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Eutiner Forschungen 1), Heide, 1991, S. 125–135, hier 125; zur Symbolik des Spazierengehens als Verlassen der häuslichen Sphäre im Bürgertum vgl. Gudrun M. KÖNIG, Eine Kulturgeschichte des Spazierengehens. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850, Wien 1996, S. 44–50. Vgl. PELZ, Frauenzimmer, S. 127; FRIEDRICH, Maskeraden, S. 22. Vgl. SCHNELL, Sexualität, S. 64: „Der Diskurseffekt ‚Geschlechtscharakter‘ ist also keine Erfindung des 18. Jahrhunderts.“ So auch Brita RANG, Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jutta DAHLHOFF, Uschi FREY u. Ingrid SCHÖLL (Hg.), Frauenmacht in der Geschichte. Beiträge des Historikerinnentreffens 1985 zur Frauengeschichtsforschung, Düsseldorf 1986, S. 94–204.

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Diskurse und Praktiken in den Hofgesellschaften des 17. Jahrhunderts97 und lassen sich durch die Analyse materieller Kultur, die den Lebensalltag von Menschen wesentlich strukturiert, herauspräparieren.98 Vor dem Hintergrund der Irritationen, die die Übertretung von Geschlechtergrenzen also selbst im höfischen Umfeld der Frühen Neuzeit auslöste, soll im Folgenden (2.) analysiert werden, wie sich Elisabeth Charlotte über ihre Bewegungspraxis in ihrer Lebensumgebung aktiv selbst positionierte und welche Konsequenzen diese Positionierung in konkreten sozialen Beziehungen zeitigte.99

2. Wer ahn jagten gewohnt ist : Doing difference im höfischen Kontext 100

Körperliche Bewegung wurde also sowohl im allgemeinen Diskurs wie in Elisabeth Charlottes eigener Wahrnehmung als maskulin konnotierte Praktik wahrgenommen; gleichwohl wurde sie in diätetischen Ratgebern der Zeit als unabdingbar gehandelt, um den allgegenwärtiger existentieller Bedrohung ausgesetzten Körper dauerhaft gesund zu erhalten. Auch für Elisabeth Charlotte war Bewegung somit eine gesundheitliche Notwendigkeit.101 Unweigerlich aber rückte ihre Bewegungsleidenschaft und insbesondere ihre Begeisterung für die Jagd sie in die Nähe des Männlichen. Genau an diesem Punkt ergab sich für Elisabeth Charlotte jedoch auch eine signifikante Erweiterung ihrer alltäglichen Handlungsoptionen.102 Denn mit der Teilnahme an der Jagd verschaffte sie sich einen Freiraum von den typisch weiblichen Alltagsbeschäftigungen,103 vor allem von Hand- und Nadelarbeiten, die ihr nach eigener Aussage zuwider waren, da sie in ihrer Jugend so sehr dazu gezwungen worden sei.104 Noch 1719, als sie aus gesundheitlichen Gründen längst nicht mehr in der Lage war, an den Jagden teilzunehmen, schrieb sie in diesem Sinne an ihre Halbschwester Luise: Wer ahn jagten gewohnt ist, kan sich mitt der weiber arbeydt105 nicht behelffen noch spaß drin nehmen.106 Selbst über ihre geliebte und sonst gegen jede 97

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So die im Typus der femme forte angelegte „Symbiose von Stärke und Keuschheit“ in Weiblichkeitsidealen, die vom Bürgertum adaptiert wurde. Vgl. KROLL, Heerführerin, S. 62. Vgl. Ulinka RUBLACK, Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe, Oxford, New York 2010, S. 3. Vgl. LEHNERT, Frauen, S. 18–19 u. 36–38, der zufolge Verkleidung einen Übergangsraum zwischen den geschlechtsbezogenen Selbst- und Fremdbeschreibungen erzeuge, der von der sozialen Umwelt wahrgenommen und womöglich von der verkleideten Person selbst intendiert sei. Lehnert benutzt hier den aus der Ethnologie übernommenen Begriff der Liminalität, der als Übergangsriten empfundene Phasen kennzeichne. An Luise, St. Cloud, 29.6.1719, HO, 4, 1031, S. 163. Vgl. zur Interpretation des Zitats etwa KNOOP, Madame, S. 66–67. Vgl. etwa An C. F. v. Harling, St. Cloud, 4.9.1721 u. 2.10.1721, H, 423, S. 749 u. 429, S. 757; An A. K. v. Harling, Marly, 9.12.1700, H, 168, S. 300: heütte habe ich bey 3 gantzer stundten den hirsch gerent. Darauß sicht mein lieb fraw von Harling woll – daß Ich in vollkommener gesundtheit bin. S. 2.I.2 u. 2.III.1. Vgl. FRIEDRICH, Maskeraden, S. 23; SCHRÖTER, FeMale, S. 104–105 u. Masculinity, S. 147. Vgl. zu dieser Entgegensetzung KROLL, Heerführerin, S. 60. An Luise, St. Cloud, 29.6.1719, HO, 4, 1031, S. 163. Vgl. dazu die Erziehungsinstruktionen WEECH, Erziehung, S. 115, Nr. 8; auch KNOOP, Madame, S. 13. Zur Bedeutung des eng mit Nadelarbeit verknüpften Terminus Weiber-Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft vgl. Pia SCHMID, „Weibliche Arbeiten“. Zur Geschichte von Handarbeiten, in:

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Kritik erhabene Tante Sophie, die an der Jagd zeitlebens keinen Gefallen fand,107 äußerte Elisabeth Charlotte sich in einem Brief an Anna Katharina von Harling durchaus missbilligend: Sie solle zumindest auf die ungefährliche Art jagen, nämlich in Kaleschen108 , da sie dies alle Male mehr divertiren (vergnügen)109 würde als den gantzen tag sitzen undt nehen.110 Die Jagd an der frischen Luft war für Elisabeth Charlotte nicht nur ein willkommenes Angebot, um sich von den ungeliebten Handarbeiten abzugrenzen,111 sondern eröffnete ihr auch die Möglichkeit, sich zumindest zeitweise dem am Hof gängigen Schönheitshandeln zu entziehen.112 Die Jagd sei ein rechter lust vor ein rauschenblattenknecht wie ich bin, den man darf sich da nicht viell butzen noch rott ahnthun alwie beÿ den bal113 , so schrieb Elisabeth Charlotte im Jahr 1677 in einem Brief an ihre Tante. Auch 1681 ließ sie Anna Katharina von Harling aus St. Cloud wissen, die anstehenden Bälle würden kein spas für sie sein, denn sie tanze nicht gerne und möge es noch weniger, sich schminken und ausstaffieren zu lassen: Aber, so fuhr sie fort, ich hoffe – das wir auch in der zeitt hir jagen werden, vndt das ist meines thuns.114 Auch wenn am französischen Hof bekanntermaßen nicht nur Frauen geschminkt waren, ordnete Elisabeth Charlotte die Sorge um die eigene Schönheit eindeutig den von Frauen präferierten Praktiken (weibliche inclinationen) zu.115 Der Kontrast zwischen diesem Bild von

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Walburga HOFF, Elke KLEINAU u. Pia SCHMID (Hg.), Gender-Geschichte/n. Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 49–71, hier 50. An Luise, St. Cloud, 29.6.1719, HO, 4, 1031, S. 163. Zur Interpretation des Zitats vgl. KNOOP, Madame, S. 66–67. Vgl. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 56 u. 151; dt. Übers. TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 40 u. 133; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 34 u. 153: „Die Frau Kurfürstin [Charlotte von Hessen-Kassel] liebte die Jagd und das Spiel, und ich war weder an das eine noch an das andere gewöhnt.“ – „Am folgenden Tag ging der König mit dem Herrn Dauphin und Madame auf die Jagd; ich sah sie von meinem Fenster aus. (...) Monsieur hatte inzwischen die Güte, mir das Palais und die Gärten zu zeigen, die wunderschön sind.“ Auch Luise jagte offenbar auf diese Weise. Vgl. An Luise, Marly, 17.11.1712, HO, 2, 565, S. 294. Zu diesem Ausdruck s. KAPP, Ehrlichkeit, S. 179. An A. K. v. Harling, 7.8,1698, H, 152, S. 280: Ich hoffe – daß es ma tante woll bekommen wirdt lufft geendert zu haben; Ich meinte – ma tante würde sich beßer divertiren – wen I.L. in caleschen den hirsch jagen sollten, alß wen sie den gantzen tag sitzen undt nehen. Zu diesem von Sophie geliebten Zeitvertreib s. ROHR, Sophie, S. 35; ROHR, Sophie Begleitheft, S. 79–82. Vgl. An Luise, Marly, 12.4.1695, HO, 6, N, 27, S. 529. S. auch einen bei Bodemann edierten Brief an Sophie, Paris, 1.11.1699, B, 1, 395, S. 381, der sich allerdings im Original nicht auffinden ließ. Vgl. NLA-HStAH, IX,2, 573r–614r. Vgl. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1700, HO, 1, 115, S. 207–208: Waß daß schmincken ahnbelangt, so findt man hir wenig weiber, es seye auff den theatrum oder bey hoff, so es nicht sein. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 21.9.1704, HO, 1, 218, S. 358: Es ist war, daß viel hir geschminckt sein; es seindt aber auch viel, so es nicht sein. An Luise, Versailles, 10.5.1715, HO, 2, 704, S. 559: Ich finde daß schmincken auch abscheülich; es ist sehr gemein jetzt hir. An Sophie, Versailles, 4.11.1677, NLA-HStAH, I, 88v, vgl. B, 1, 15, S. 16. Vgl. auch St. Cloud, 14.6.1696, ebd., VI, 98r–98v, Versailles, 27.5.1706, ebd., XVI,1. 314r, vgl. B, 2, 601, S. 134 [sic! Datum]: ich bin ein rauschen platten knecht die nie darnach gefragt ob ich hübsch oder heßlich bin, undt habe mich nie gern gebutzt. S. auch BROOKS, Images, S. 25 u. 133; KNOOP, Madame, S. 34. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 10.4.1681, H, 62, S. 163. Vgl. An C. v. Wales, o.O., 14.7.1719 u. 11.8.1716, A, 46, S. 90 u. 4, S. 325–326. S. Georges VIGARELLO, Histoire de la Beauté. Le corps et l’art d’embellir de la Renaissance à nos jours, Paris

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Weiblichkeit und dem Selbstbild des rauschenblattenknechts zeigt deutlich, wie sehr sie sich mit ihren Handlungen von aus ihrer Sicht zentralen Elementen eines solchen Weiblichkeitsbildes distanzierte.116 Wiederholt berichtete sie wie in einem Brief an Sophie aus dem Jahr 1702: mein haut ist vom viellen jagen verdorben undt roht worden.117 Sonne und Wind, so meinte sie, hätten ihre Haut nicht nur derart unschön gerötet, sondern auch rau und grob gemacht sowie unzählige ronsellen verursacht.118 Der Gebrauch des Wortes ‚verdorben‘ zeigt an, dass ihr klar war, dass sie sich damit jenseits des gängigen weiblichen Schönheitsideals höfischer Eliten bewegte, das möglichst helle und reine Haut vorsah. Wie sehr dieses Ideal in der Wahrnehmung der Zeitgenossen insbesondere mit den kulturell hegemonialen Gewohnheiten der französischen Hofgesellschaft in Verbindung gebracht wurde, zeigt etwa das Stichwort ‚Frauenzimmer‘ in Zedlers Universallexikon (1735).119 Ein blasser Teint galt als Privileg der sich überwiegend im Innenraum der Schlösser aufhaltenden adeligen Frauen.120 Dies machte die Unterschiede zu Männern wie Frauen aus unteren Schichten sichtbar, deren Haut die Spuren der existenznotwendigen täglichen

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2004, S. 27–32 u. 83–87, dem zufolge Schönheit in der Renaissance mit Bezug auf die geschlechtsbezogene Differenzierung der Temperamentenlehre eindeutig weiblich konnotiert war. Im 17. Jhd. lockerten sich diese eindeutigen Zuweisungen, die Grundkonstellation sei jedoch erhalten geblieben und somit auch die Notwendigkeit für Frauen, ‚Schönsein‘ durch entsprechende Praktiken zu forcieren. Vgl. Sabine GIESKE, Schönheit und Schminken – Reine Frauensache?, in: Gabriele MENTGES, Ruth-E. MOHRMANN u. Cornelia FOERSTER u. M. v. Britta SPIES (Hg.), Geschlecht und materielle Kultur. Frauen-Sachen, Männer-Sachen, Sach-Kulturen (Münsteraner Schriften zur Volkskunde/Europäischen Ethnologie 6), Münster, New York, München, Berlin 2000, S. 93–109, hier 94, der zufolge „sich schön zu machen und Schminken zu gebrauchen“ ab Mitte des 18. Jhd.s im Zuge des Aufkommens eines bürgerlichen Schönheitsideals zur „‚Frauensache‘“ erklärt werde. Vgl. An Luise, Meudon, 16.2.1702, HO, 1, 154, S. 267: Die leütte, so die jagt lieben, fragen wenig nach butzen. An Sophie, Versailles, 17.9.1702, NLA-HStAH, XII,2, 496v, vgl. B, 2, 508, S. 50. Vgl. ebd., 2.5.1706, NLA-HStAH, XVI, 265r–265v: sie [eine nicht näher bezeichnete margräffin] muß vielleicht ihr hautt in der son undt windt verdorben haben daß macht die haut grob undt rott daß weiß ich durch meine eÿgene experientz. Fontainebleau, 13.10.1693, GWLB/NLB, 23r–23v. Versailles, 29.12.1701, NLA-HStAH, XI,2, 663r–663v, vgl. B, 2, 483, S. 26: Ich bin gewiß, dass E.L. nicht so viel ronsellen haben, alß ich, mir kompts daß ich so offt undt manche jahren bin auff der jagt von der sonnen verbrent worden, aber ich frage gantz undt gar nichts darnach, bin nie schön geweßen, habe also nicht viel verlohren, undt ich sehe daß die so ich vor dießem so schön gesehen habe, jetzt eben so heßlich sein alß ich. An Luise, Versailles, 3.6.1706, HO, 1, 314, S. 463; An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 144, S. 247–248: wen man offt in die son undt in den windt geht, runtzelt man ohnfehlbar. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 98r–98v: wen E.L. sehen solten wie gelb ich von der sonne verbrent bin. Art. Frauenzimmer, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 9, Sp. 1782–1784, hier Sp. 1785. Vgl. Gabriele SIMON, Kosmetische Präparate vom 16. bis 19. Jahrhundert (Braunschweiger Veröffentlichungen zur Geschichte der Pharmazie und der Naturwissenschaften 27), Braunschweig 1983, S. 55–60 u. 69–70; GIESKE, Schönheit, S. 100; Sabine SANDER, Die dreißig Schönheiten der Frau – Ärztliche Ratgeber der Frühen Neuzeit, in: Frank STAHNISCH u. Florian STEGER (Hg.), Medizin, Geschichte, Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen (Geschichte und Philosophie der Medizin 1), Stuttgart 2005, S. 41–62, hier 51; SNOOK, Women, S. 36, 40 u. 57; Simone TAVENRATH, So wundervoll sonnengebräunt. Kleine Kulturgeschichte des Sonnenbadens, Marburg 2000, S. 7–15; Claudia BÖLLING u. Rolf HORST, Schirme. Der Himmel auf Erden, Berlin 1995, S. 77–78. Vgl. Art. Schönheit des Frauenzimmers, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 35, Sp. 822–830, hier Sp. 822 u. 827.

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Feldarbeit offenbarte. Mit der weißen Haut der adeligen Damen wurde jedoch gleichzeitig eine Grenzlinie zwischen den Geschlechtern innerhalb des Adels markiert, denn die männlichen Standesgenossen verbrachten ebenfalls viel Zeit unter freiem Himmel, beispielsweise wenn sie ihren Verpflichtungen zu Feldzügen nachgingen.121 Während ein dunkler Teint folglich als Zeichen von männlicher Robustheit galt, symbolisierte das Weiße feminine Zartheit.122 Elisabeth Charlotte war sich durchaus bewusst, dass ihre Haut sie in ihrem höfischen Lebensumfeld in die Nähe des Männlichen rückte.123 1682 schrieb sie ihrer Tante, wenn sie sich ihren Halbbruder Karllutz in weiberkleyder[n] vorstelle, dann erscheine er ihr wohl ebenso heßlich wie sie selbst. Ihre Haut sei nämlich von Wind und Sonne so gebräunt, dass sie dem dunklen Teint des Offiziers in nichts mehr nachstehe und man beide wohl nur noch an der Körpergröße unterscheiden könne.124 Dennoch war sie in ihren Briefen sichtlich um eine klare Hierarchisierung der Werte Schönheit und Gesundheit bemüht und versuchte auch ihr Handeln als möglichst geradlinig darzustellen. Die gesundheitsfördernde Jagd bzw. das Spazieren an der frischen Luft und in der Sonne wegen der negativen Effekte auf ihr Äußeres einzustellen, kam ihr nie in den Sinn. Diese eindeutige Haltung stellte sie im Juni 1696 als eine weitere Gemeinsamkeit mit ihrer Tante dar, wenn sie schrieb: wen E.L. sehen solten wie gelb ich von der sonne verbrent bin, würden sie noch mehr versichert sein, daß Ich eben so wenig nach meiner haut fragen alß E.L.125 Als ihre Blatternerkrankung nur wenig später auch ihre Haut sehr stark angegriffen hatte, sollten ihre gewohnten Körperpraktiken allerdings auf eine Probe gestellt werden. Als sie im August 1693 das Schlimmste überstanden hatte und sich in Colombes erholte, schrieb sie an Sophie, sie könne es gerade jetzt selbstverständlich nicht unterlassen, an die frische Luft zu gehen, denn die gesundtheit geht vor die haut. Das Beispiel einer gewissen made de nesle, einer gar galante[n] dame zeige, dass es sogar tödlich enden könne, andere Prioritäten zu setzen. Denn diese gar galante dame, sei vor 2 tagen ahn den blattern gestorben weillen sie zu große sorg vor ihr gesicht getragen undt dadurch die blattern wieder eingetrieben habe. Sie selbst – Lisselotte, wie sie sich hier bezeichnete – sei so geck freilich nicht gewesen. Mit Rücksicht auf ihre empfindliche, gerade erst abheilende Haut gehe sie jedoch nicht spazieren, bevor die Son untergeht,126 versicherte sie ihrer Tante. Bereits im Oktober 1693 war es mit ihrer Vorsicht aber wohl endgültig vorbei und sie ging wieder zur Jagd. An die Tante schrieb sie, diese habe schon Recht, dass das zu diesem Zeitpunkt vermutlich auch nur besser für die 121

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Vgl. etwa An Sophie, Versailles, 28.6.1693, NLA-HStAH, IV, 73r–73v: vorgestern umb 5 abendts seindt I.M. hir ahnkommen, mitt allen damens welche nicht schönner von ihrer weiße geworden seindt, undt alle von der Sonnen verbrent wie die junge Soldatten so ihr erster campagne gethan haben. Vgl. auch MATTHEWS GRIECO, Körper, S. 78; VIGARELLO, Histoire, S. 29; im Gegensatz dazu GIESKE, Schönheit, S. 100. Helle Haut war auch für femmes fortes das gängige Schönheitsideal. Vgl. SCHLUMBOHM, Typus, S. 81. Vgl. An Sophie, Versailles, 10.7.1682, NLA-HStAH, I, 224r–224v, vgl. B, 1, 38, S. 41: ich kan mir mein patgen [ihre Nichte Sophie Charlotte von Hannover, 1668–1705, die spätere Königin in Preußen] woll in justaucorps einbilden undt glaube, daß I.L. solches gar woll ahnsteht; aber Carllutz in weiber kleÿder glaube ich woll das er ebenso heßlich mag sein, alß ich; der continuirliche windt undt die sonn, haben mich itzunder auch so hallirt, daß ich persuadirt bin, daß ich Carllutz in der schwärtze nichts vorzuwerffen habe, also nichts mehr alß die lenge ahn unßerer gleichheit zu sagen ist. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 98r–98v. An Sophie, Colombes, 20.8.1693, ebd., IV, 83v.

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gesundtheit alß für den tain sein würde, gab aber zu bedenken, dass, seit sie sich von den bei der Jagd getragenen Schutzmasken127 verabschiedet habe, sie ohnehin nie keine ander, alß mans haut gehabt habe, also wirdt diß kein groß unterscheÿdt geben.128 Auch wenn sie der offensichtlich besorgten Sophie versicherte, dass sie damit gar nicht weiter auffalle, weil es jetzt die mode nicht mehr sei, sich derart um seine Haut zu bekümmern, zeigen andere Briefpassagen doch sehr eindeutig, wie sehr es zu ihrem Selbstbild gehörte, einen Körper zu haben, der nach außen demonstrierte, dass Gesundheit und Aktivität ihr wichtiger waren als feminine Schönheit. So schrieb sie beispielsweise im Mai 1713: Ich habe mich mein tag nicht von schönheit piquirt undt nichts nach meiner hautt gefragt, sonst würde ich nicht 30 jahr lang zu allen zeitten gejagt haben, wie ich gethan.129

Positive Identifikationsmuster fand Elisabeth Charlotte vielmehr, wenn sie sich selbst, wie im Oktober 1714, als Teil der männlich dominierten adeligen Jagdgesellschaft erzählte. Sie berichtete: Vergangen donnerstag fung man einen hirsch, der ein wenig böß war. Ein edelman stig auff den felßen hinter dem hirsch undt gab ihm einen hieb in den schenckel; da könte er den kopff nicht mehr bücken; war also ohne gefahr. Hinter meiner calesch war eine calesch mitt 3 geistliche, der ertzbischoff von Lion undt 2 abte, welche daß jagen nicht gewont sein; die, wie der hirsch sich ihnen nur wieß, sprangen 2 auß der calesch undt versteckten sich hinter der calesch plat auff dem boden. Es ist mir leydt, daß ich dieße scene nicht gesehen habe, hette mich braff lachen machen; den wir andere alte jäger scheüen die hirsche nicht so sehr.130

Elisabeth Charlotte zählte sich also zu den erfahrenen Jägern, die dem Ideal adeliger Maskulinität entsprechend unerschrocken zu Werke gingen. In ihrer Schilderung bildet das Verhalten der ungeübten (gleichwohl männlichen) Geistlichen ein negatives Gegenbild, für das sie nichts als Spott übrig hatte. Über die Erzählung ihrer eigenen gelassenen Reaktion beim Anblick des Hirsches identifizierte sie sich selbst mit dieser idealisierten adeligen Maskulinität. Die Praxis der Jagd versetzte sie in eine maskulin geprägte Sphäre, in der sie sich im Gegensatz zu der von weiberarbeydt131 wie Schönheitspflege und Nadelarbeit gekennzeichneten weiblichen Sphäre wohl fühlte. Schon 1695 hatte sie gegenüber Luise bekannt, ausschließlich weibliche Gesellschaft sei aus ihrer Sicht nur all zu langweylich, und begrüßte die Berichte ihrer Halbschwester über den Frankfurter Römer,132 in

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Zur Praxis des Masken-Tragens auch Art. Schönheit des Frauenzimmers, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 35, Sp. 827; LOETZ, Mode, S. 198; BÖLLING u. HORST, Schirme, S. 78; TRAUTH, Maske, S. 34–35 u. 31. Vgl. auch einen bei Bodemann edierten Brief an Sophie, Paris, 1.11.1699, B, 1, 395, S. 381: will auch lieber eine heßliche haut haben undt in die lufft gehen, alß weißer sein undt langeweill in der cammer haben oder durch ein masquen mich incommodieren. Der Brief ließ sich im Original (NLA-HStAH, IX,2, 573r–614r) nicht auffinden, wird aber zitiert bei FRASER, Love, S. 136. An Sophie, Fontainebleau, 13.10.1693, GWLB/NLB, 23r–23v, vgl. B, 1, 172, S. 187. An Luise, Marly, 10.5.1713, HO, 2, 576, S. 307–308. An Luise, Fontainebleau, 20.10.1714, HO, 2, 670, S. 465–466. An Luise, St. Cloud, 29.6.1719, HO, 4, 1031, S. 163. Bereits in der Frühen Neuzeit wurden die verschiedenen Gebäude auf dem Frankfurter Römer nicht nur als Rathaus, sondern während der Messen etwa auch als Herbergen genutzt. S. dazu Heinz SCHOMANN, Der Frankfurter Römer (Notizen zum Denkmalschutz 9), Frankfurt 1997, S. 1.

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dem man ohne weiberzeügs wie Etikette und Zeremonien gesellig zusammenkommen könne.133 Dass ihre Bewegungspraxis sie bei den Damen am französischen Hof in Verruf brachte, störte Elisabeth Charlotte indes kaum. Im Gegenteil schien sie es durchaus zu genießen, dass sie sich mit ihren Gewohnheiten von ihnen abhob. Nicht ohne einen gewissen Stolz vermeldete sie ihrer Tante im August 1706, dass ihre Gewohnheiten Stoff für höfisches Gerede lieferten: es ist viel die mode hir sich über die lufft zu beklagen, die princes de Conti mag gar nicht mehr gehen geht nie spatziren, mad. d’Orléans auch nicht, undt brauchen allezeit purgiren aderlaßen sauerbrunnen badt daß ist alß eins umbs ander undt was noch ahm rarsten ist sie ruffen all über meine gesundtheit sage ihnen alle tag daß wen ich wie sie leben sollte würde ich nicht allein kräncker werden alß sie, sondern auch undt daß ich gesundt bin weillen ich nichts brauch undt offt in die lufft gehe undt mich bewege daß wollen sie gar nicht glauben.134

Ihre körperliche Stärke und gute Gesundheit führte Elisabeth Charlotte auf ihre diätetischen Gewohnheiten und die Abstinenz von ärztlichen Eingriffen zurück, während sie im Umkehrschluss die chronische Kränklichkeit der anderen Damen in deren Lebensweise und Vertrauen in die medikale Kultur am französischen Hof begründet sah.135 In ihre Kritik an den Bewegungspraktiken der Damen flossen ebenfalls standesspezifische Vorstellungen ein. Diese verhandelte Elisabeth Charlotte in ihrer Korrespondenz immer wieder am Beispiel der erwähnten Madame d’Orléans, ihrer Schwiegertochter. FrançoiseMarie (1677–1749), Mademoiselle de Blois, war eine illegitime Tochter Ludwigs XIV. und dessen früherer Mätresse Madame de Montespan (1640–1707) und hatte den Wünschen des Königs entsprechend 1692 Elisabeth Charlottes Sohn Philippe geheiratet. Für Elisabeth Charlotte war diese Verbindung zwischen Maußdreck und pfeffer,136 wie sie un133

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An Luise, Marly, 12.4.1695, HO, 6, N, 27, S. 529: Mich deücht, der magistrat von Frankfort hatt groß unrecht, die divertissementen zu verbi[e]tten, den in den trawerigen zeitten hatt man ahm meisten von nöhten, daß gemüht auffzumuntern, umb sich von der trawerigkeit nicht zu übermeistern zu lassen. Daß muß doch all artlich sein, daß man so einen 3ten ort hatt, wo man zusammen kompt, wie in dem Römer [in Frankfurt]; den daß verhindert die großen ceremonien, so ordinari in vissitten vorgehen, undt man ist nichts destoweniger beysammen. Lautter weiberzeüg ohne mannsleütte ist langweylich. Dieser sowie die im Kontext überlieferten Briefe von März bis Mai 1695 geben leider keinen Aufschluss über den Kontext der Aussage. Zur Bewertung gemischtgeschlechtlicher Geselligkeit s. etwa Claudia OPITZ-BELAKHAL, Von der kulturellen Differenz zur nationalen Identität. Kulturtransfer und Geschlecht in der Spätaufklärung am Beispiel der „Deutschen Encyklopädie“, in: Martina INEICHEN, Anna K. LIESCH, Anja RATHMANN-LUTZ u. Simon WENGER (Hg.), Gender in Trans-it. Transkulturelle Perspektiven, Zürich 2009, S. 105–115, hier 110–111. An Sophie, Versailles, 1.8.1706, NLA-HStAH, XVI,2, 447r–447v, vgl. B, 2, 611, S. 140. S. auch Marly, 9.5.1711, ebd., XXI,1, 412r, vgl. B, 2, 758, S. 275; FORSTER, Illness, S. 308. Aderlässe dienten wohl auch dazu, das Schönheitsideal der Blässe herbeizuführen. Art. Frauenzimmer, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 9, 1735, Sp. 1782–1784, hier Sp. 1785; VIGARELLO, Histoire, S. 77–78. S. etwa An Luise, St. Cloud, 5.2.1722, HO, 6, 1300, S. 320: Ich bin nicht ahn den remedien gewondt, wie die frantzösche weiber; ich bin nicht persuadirt, daß sie mir so woll bekommen, alß sie ihnen bekommen. An Sophie, Fontainebleau, 29.9.1681, NLA-HStAH, I, 207v–208r, vgl. B, 1, 35, S. 38. Vgl. auch An C. A. v. Haxthausen, Fontainebleau, 24.10.1694, in: ZIMMERMANN (Hg.), Briefe, II, S. 418; An Sophie, Port Royal, 21.9.1700, NLA-HStAH, X,2, 616r, vgl. B, 1, 428, S. 416, Versailles, 12.3.1690, ebd., III,1, 14v, vgl. B, 1, 97, S. 119; An Luise, Trianon, 1.7.1705, HO, 1, S. 403, Versailles, 3.12.1713, HO, 2, 611, S. 355. Vgl. PAAS, Leben, S. 94, ohne Angabe des Belegs; KNOOP, Madame,

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zählige Male formulierte, schlichtweg inakzeptabel; es hatten ihr jedoch die Mittel gefehlt, um sie zu verhindern. Die in ihren Augen von Geburt unstandesgemäße Schwiegertochter zeichnete sich durch eine besonders ungesunde Lebensführung aus, da sie praktisch ihr ganzes Leben im Liegen zubrachte.137 Die notwendige Folge war aus Elisabeth Charlottes Sicht Kränklichkeit und körperliche Schwäche: Ich bin persuadirt, daß alle die Incommoditäten und Schwachheiten, so Mde la Duch. d’Orléans hat, von nichts kommen, als daß sie immer im Bett und auf dem Bodenbett liegt; sie ißt und trinkt liegend, und das aus purer Faulheit.138

Angesichts dessen war es für Elisabeth Charlotte auch kaum verwunderlich, dass Madame d’Orléans nach Krankheiten längere Zeit benötigte, um wieder gesund zu werden, und rühmte sich beispielsweise im November 1720, woll 8 tag eher (...) courirt gewesen zu sein. Sie glaube kaum, dass in der welt eine faullere creatur kan gefunden werden könne, setzte sie fort,139 und diese Faulheit von Natur sei auch ursächlich dafür, dass sie es kein bisschen verstehe, wie eine rechte Hoheit oder gar wie eine petite fille de france, die sie qua Legitimation ja geworden war, zu leben.140 Durch diese deutlichen Bewertungen ihrer Schwiegertochter stellte Elisabeth Charlotte Distanz zu ihrer eigenen Person und zu ihrem Selbstverständnis als Prinzessin von hoher Geburt her. Dieses Distinktionsbewusstsein gehörte zu den ausdrücklichen Inhalten ihrer Erziehung, wie ein Blick auf die von ihrem Vater aufgestellten Instruktionen (1661) zeigt. Darin heißt es, die Gouvernante solle dafür Sorge tragen, dass die Kurprinzessin le port, le rang et le respect deu (dû) a sa naissance verinnerliche. Darüber hinaus dürfe sie keinesfalls dulden, dass irgendjemand sich ihr gegenüber ungebührlich verhalte, genauso wie sie selbst anderen Menschen selon son rang, la civilité et le respect qui leur appartient begegnen solle.141

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S. 61; Anna E. RÖHRIG, Wie die Spinne im Netz. Klara Elisabeth von Platen (1648–1700), in: Elisabeth E. KWAN u. Anna E. RÖHRIG (Hg.), Vergessene Frauen der Welfen, Göttingen 2008, S. 26–37, hier 32; Michael SIKORA, „Mausdreck mit Pfeffer“. Das Problem der ungleichen Heiraten im dt. Hochadel der Frühen Neuzeit, unveröff. Habilitationsschrift, Münster 2004; KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 51; Renate DU VINAGE, Ein vortreffliches Frauenzimmer. Das Schicksal von Éléonore Desmier d’Olbreuse (1639–1722), der letzten Herzogin von Braunschweig-LüneburgCelle, Berlin 2000, S. 22; FRASER, Love, S. 136 u. 235. Zu E. Ch.s Einstellung gegenüber ungleichen Heiraten vgl. etwa An Amelise, Port Royal, 15.5.1701, HO, 1, 132, S. 229: Die mißheüraht verdrießen mich immer, ist unßern Teütschen recht schimpflich; den sie hatten daß über andere nationen, ihre heüßer pur zu behalten, undt, gott verzeye mirs, ich glaube, ich vergebe einer damen er [eher?] 10 galants [Liebschaften], alß einen mißheürath. Vgl. etwa An Luise, Paris, 17.4.1718, HO, 3, 907, S. 238, An C. v. Wales, o.O., 5.7.1716, A, 4, S. 313 u. o.O., 4.11.1718, A, 27, S. 318. An C. v. Wales, o.O., 19.3.1716, A, 2, S. 313. An Luise, St. Cloud, 2.11.1720, HO, 5, 1171, S. 322: Madame d’Orléans ist auch courirt; ich bins aber woll 8 tag eher geweßen. Sie ist allezeit fro, wen sie eine occasion hatt, im bett zu fa[u]llentzen. Ich glaube nicht, daß in der welt eine faullere creatur kan gefunden werden, alß sie; sie gestehet es selber gar gern undt lacht drüber. Vgl. auch An C. v. Wales, o.O., 23.6.1716, A, 6, S. 314: Sie [Madame d’Orléans] ist zu faul von Natur, hätte gern daß ihr die gebrateten Lerchen ins Maul flögen, und wie wir nicht im Pays de Cocagne sind, so gehet das nicht an. Sie wollte gern regieren, aber rechte Hoheit verstehet sie gar nicht, sie ist gar zu niedrig erzogen worden, weiß wohl als eine simple Duchesse zu leben, aber nicht als petite fille de france. Vgl. WEECH (Hg.), Instructionen, Nr. 4, S. 409; auch den Passus für Kurprinz Karl ebd.

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Die Schärfe, mit der Elisabeth Charlotte bei der Aburteilung ihrer Schwiegertochter zu Werke ging, verwundert vor diesem Hintergrund weniger. Tugendhafte Körperpraxis, die zu guter Gesundheit führe, galt ihr als Signum adeliger Standesehre. Ein derart kritikwürdiges Gesundheitsverhalten müsse nicht nur zu allerhand Krankheiten bei der betreffenden Person selbst führen, sondern auch Einfluss auf die Gesundheit der Nachkommen haben, meinte sie im April 1718. Madame d’Orléans spilt ligendt, sie speist liegendt, sie list ligendt, suma, ihr meistes leben bringt sie ligendt zu, daß kan nicht gesundt sein; auch ist sie allezeit krank schier, denn klagt sie den kopff, einen andern tag den magen, es fehlt gar offtet waß. Daß kan ja keine gesunde kinder machen, resümierte Elisabeth Charlotte, auch wenn sie zugeben musste, dass die 3 älsten dochter gesundt undt starck seien.142 Gesundheitsbewusstsein erscheint hier sowohl in reproduktiver als auch in erzieherischer Hinsicht als Pflicht der adligen Frau gegenüber ihrem Stand. Denn das Verhalten einer Mutter müsse den Kindern stets zum Vorbild gereichen – gleichzeitig manifestiere sich mit einer bestimmten Körperpraxis die genealogische Abkunft in direkter Weise am Körper.143 Dieser Bezug auf vererbbare Eigenschaften, die es gleichzeitig mit den eigenen Gewohnheiten zu bewahren gelte, spielt auch in den zeitgenössischen Selbstdefinitionen des Adels eine entscheidende Rolle.144 Elisabeth Charlotte sprach dabei auch das Verhalten in der Schwangerschaft an, ließ sich doch das gar böß kindtbett ihrer Enkelin Madame de Berry im Sommer 1711 aus ihrer Sicht in direkter Weise auf deren von ihrer Mutter übernommene ungesunde Lebensweise zurückführen.145 In ihrer Kritik klammerte Elisabeth Charlotte die Verantwortlichkeit männlicher Adeliger für die ererbte Gesundheit der Nachkommen zwar nicht aus, verortete diese aber ursächlich im außerehelichem Sexualverkehr mit Mätressen. Gestützt auf ärztliche Autorität verwies sie sowohl 1705 als auch 1708 in Briefen an Amalie Elisabeth und Luise darauf, dass des Königs außereheliche Kontakte auch verantwortlich für die delicate Gesundheit der königin kinder, also seiner legitimen Nachkommen, seien – schließlich bleibe, nachdem er sich bereits bei seinen zahlreichen Mätressen verausgabt habe, nur noch das ‚Abwaschwasser‘ (rinçure) für die Königin.146 142 143

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Vgl. An Luise, Paris, 17.4.1718, HO, 3, 907 S. 238. Dies galt auch für andere Stände. Vgl. STOLBERG, Körper, S. 307: „(…) nach landläufiger ärztlicher Auffassung gingen auch erworbene körperliche Qualitäten und Krankheitsanfälligkeiten auf die Kinder über.“ Vgl. An Luise, St. Cloud, 12.7.1721, HO, 6, 1245, S. 177: Würde man die kinder nicht delicat erziehen, würden sie starcker undt gesunder sein, alß wen man sie delicat helt. Vererbung einmal erworbener Eigenschaften kann als konstitutives Prinzip des Adels gelten. Vor allem von adeligen Frauen wurde die Reproduktion von Dynastie und Stand als wichtigste Lebensaufgabe angenommen und verinnerlicht. Vgl. Beatrix BASTL, Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien, Köln, Weimar 2000, S. 524 u. 534. An Luise, Fontainebleau, 13.8.1711, HO, 6, N, 48, S. 562: daß es nur zu war ist, daß madame la duchesse de Bery ein gar böß kindtbett gehabt hatt. Daß konnte nicht anderst sein, wie man sie gouverirt hatt; es hatt ihrer fraw mutter genung gerewet, ich hatte es ihr gesagt, daß es kein gutt thun konnte, sie hatt mir aber nicht glauben wollen, wen ich gesagt, waß ich mein, daß meine schuldigkeit ist. S. auch St. Cloud, 20.7.1719, HO, 4, 1036, S. 178: Sie ist in der that ein gutt mensch; hette die mutter mehr sorg vor sie gehabt undt sie beßer erzogen, were nichts, alß lautter guts, auß ihr geworden. An Luise, St. Cloud, 25.6.1718, HO, 3, 927, S. 300: Wie der könig so gallant undt überall verliebt war, fragte er monsieur Gueneau [seinen Leibarzt], warumb der königin kinder so delicat wehren undt schir alle stürben. Da sagte er: „Sire, c’est que V.M. ne porte a la reine que la reinsure du vere, ou il n’y a plus ny esprit ny force. Donnes luy ce que vous donnes a vos maistresse! et ces enfant seront forts.“ Rinçure fungiert offenbar als Metapher für Sperma von minderwertiger Qualität. S. ebenso An Amalie Elisabeth, Versailles, 23.5.1705, HO, 1,

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Die Unterscheidung zwischen geburtsmäßigem und vom König nobilitiertem Adel147 ist hier zentral für die Bewertung von Personen zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss. Während es sich in Frankreich im 17. Jahrhundert als Prinzip und Praxis durchgesetzt hatte, als ‚adelig‘ auch alle diejenigen zu verstehen, die vom König mit Privilegien versehen und somit in ihrem Stand erhöht worden waren, wurde im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation das Nobilitierungsrecht des Kaisers von den Landesherren nicht per se anerkannt.148 Elisabeth Charlotte und ihre Tante Sophie scheinen ein gemeinsames Muster der Selbstvergewisserung ihrer hohen Geburt gefunden zu haben, indem sie sich auf das Gesundheitsverhalten solcher „Damen, (...) die ihr Leben durch eine außergewöhnliche Führung berühmt gemacht haben“149 , bezogen, wie Sophie in den einführenden Worten ihrer Memoiren formulierte. Es sind gerade die Körperpraktiken, die den zentralen Ansatzpunkt bilden und zum Signum für die Lebensweise von Frauen wurden, die im Gegensatz zu ihnen nicht von hoher Geburt waren, sondern ihr Aussehen und ihren Charme eingesetzt hatten, um eine ihren Rang aufwertende Heirat zu erreichen.150 In einigen Briefen vom Dezember 1710 wurden diese Fragen am Beispiel der Eléonore Desmier d’Olbreuse (1639–1722), Tochter eines hugenottischen Landadeligen,151 besprochen. 1676 hatte Sophies Schwager Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg (1624– 1705) seine langjährige Mätresse Eléonore geheiratet. Diese Verbindung bedeutete für Sophie, ihren Standesstolz und ihre politischen Ambitionen einen Affront, hatte ihr Schwager doch versprochen, sich nicht zu verheiraten, um die Erbansprüche seines jün-

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249, S. 398; An Sophie, Versailles, 20.11.1710, NLA-HStAH, XX,2, 1042v–1043r; auch Wilhelm TREUE, Mit den Augen ihrer Leibärzte. Von bedeutenden Medizinern und ihren großen Patienten, Düsseldorf 1955, S. 58. Vgl. ASCH, Adel, S. 16–17; MÜNCH, Lebensformen, S. 79; BASTL, Tugend, S. 525 stellt in ihrer Untersuchung zu österreichischen Adelsfrauen der Frühen Neuzeit fest: „Gerade die aus dem Uradel stammenden Geschlechter hatten vor nichts mehr Angst, als mit einer der ‚neuen‘, kürzlich nobilitierten Adelsfamilien in Zusammenhang gebracht zu werden.“ Vgl. ASCH, Adel, S. 16–17. E. Ch. bemängelte, dass nobilitierte Personen am frz. Hof ihren Rang nicht würdigten und sich des Öfteren einfach vor ihr niedersetzten. Vgl. dazu etwa An Sophie, Versailles, 7.3.1694, GWLB/NLB, 32v–33r, vgl. B, 1, 177, S. 190. Zur Bedeutung von Standesunterschieden durch Platzierung von Personen im sozialen Raum in den Memoiren Sophies vgl. Peter BURSCHEL, „j’avais le plaisir de me voir comparée à tous les astres“. Gelebte Räume in den Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: Claudia ULBRICH, Hans MEDICK u. Angelika SCHASER (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (Selbstzeugnisse der Neuzeit 20), Köln, Weimar, Wien 2012, S. 335–347, bes. 340. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 11; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 22; VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 35: ces dames romanesques qui ont rendu leur vie célèbre par leur conduite extraordinaire. Vgl. auch VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 81; BURSCHEL, „j’avais le plaisir“, S. 342 u. 345. Vgl. Cornelia BOHN u. Alois HAHN, Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft, in: Herbert WILLEMS u. Alois HAHN (Hg.), Identität und Moderne, Frankfurt a.M. 1999, S. 33–61, hier 42, die argumentieren, in der ständisch geprägten Vormoderne habe ein Aufstieg des Individuums aus eigenen Kräften nicht als Verdienst, sondern als Makel gegolten. Vgl. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 111–112; auch WILLE, Pfalzgräfin, S. 205–206. Vgl. zu Eléonore d’Olbreuse die Biographie von DU VINAGE, Frauenzimmer, S. 10; NOLDE, Eléonore, S. 107–109; Elisabeth E. KWAN, Fürstliche Rivalinnen. Sophie von der Pfalz (1630–1714) und Eleonore d’Olbreuse (1639–1722), in: Dies. u. Anna E. RÖHRIG (Hg.), Frauen vom Hof der Welfen, Göttingen 2006, S. 49–63, hier 53–55.

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geren Bruders, Sophies Gatten, nicht zu gefährden.152 Zustimmend kommentierte Elisabeth Charlotte demzufolge die Erzählungen ihrer Tante über das Gesundheitsverhalten der ungeliebten Eléonore: die hertzogin von Zelle konte sich auch woll eine nische153 machen laßen wie made de Maintenon, umb ohne lufft zu sein sie werden aber nicht gewahr daß dieß eben ursach ist daß ihnen die lufft ungesundt wirdt, den sie seindt der lufft nicht mehr gewondt, (...). Es ist kein wunder mitt dem leben daß die hertzogin von Zelle führt daß sie Schwindel hatt, daß kan nicht anderst sein.154

Sie selbst sei wie ihre Tante gantz contraire und öffne sofort die Fenster, wenn ein augenblick schön wetter sei.155 Am liebsten würde sie ihrer Tante in Dero gläßern cabinet die probe weißen, wie gut ihr die Sonne bekomme, so schrieb sie einige Monate später im Mai 1711.156 Dieses Beispiel führt vor Augen, wie sehr Tante und Nichte sich gegenseitig in ihren Briefen in ihrer eigenen Haltung und der Distanzierung zu anderen Formen weiblicher Lebensentwürfe bei Hof bestärkten und welche zentrale Rolle dem Körper dabei zukam.157 Die Missbilligung unstandesgemäßer adeliger Lebensformen und Körperpraktiken verschränkte sich im Besonderen mit einer kritischen Betrachtung der Verhältnisse am fran152

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Vgl. DU VINAGE, Frauenzimmer, S. 32–52; NOLDE, Eléonore, S. 108 u. „Une histoire peut en cacher une autre: mémoires de femmes et historiographie au XVIIe siècle. Sophie de Hanovre (1630–1714) et Éléonore d’Olbreuse (1639–1722)“, in: Sylvie STEINBERG u. Jean-Claude ARNOULD (Hg.), Les femmes et l’écriture d’histoire. 1400–1800, Rouen 2008, S. 143–153, hier 147; Helga MÖBIUS u. Harald OLBRICH, Mit Tugend ist sie wohl geziert. Das Barock, Hamburg 1994, S. 151– 153; TALKENBERGER, Selbstverständnis, S. 135; KWAN, Rivalinnen, S. 52–53; VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 80–82; zur Inszenierung des Konflikts in Sophies Memoiren entlang zeremonieller Fragen BURSCHEL, „j’avais le plaisir“, S. 345. Gemeint ist hier ein dreiseitiger Paravent, der gegen Zugluft schützen sollte. Vgl. DERUISSEAU, Krankheit, S. 1803. Vgl. E. Ch.s Beschreibung An Sophie, Versailles, 20.11.1710, NLA-HStAH, XX,2, 1036v–1037r, vgl. B, 2, 739, S. 258 [sic! Datum]: daß ist der frantzosche weiber nareÿdeÿ allezeit in dunckele örter stecken wollen made de maintenon macht man rechte nische wo sie hingeht umb sich gleich hinein zu [setzen?] es ist wie ein klein lotterbett worumb man mitt brettern so woll schließen wie ein heüßgen herumb macht undt aber wie ein pavillon, die duchesse de Bourgogne hatt auch eine nische undt die princesse de Conti. Ebd. Vgl. An Sophie, Versailles, 11.12.1710, NLA-HStAH, XX,2, 1105r–1105v, vgl. B, 1, 741, S. 259 [sic! Datum]: wen die hertogin von Zel kein asme hatt muß ihr kurtzer ahtem nur kommen weillen sie nicht genung geht undt sich nicht in ahtem helt, aber mitt dicken leütten wie ich bin ist es ein ander sach, den die last macht unß schnauffen im dunckelen könt ich ohnmöglich sitzen. S. auch die bereits zitierte Passage An Sophie, Versailles, 1.8.1706, ebd., XVI,2, 447r–447v, vgl. B, 2, 611, S. 140. An Sophie, Versailles, 20.11.1710, NLA-HStAH, XX,2, 1036v–1037r, vgl. B, 2, 739, S. 258 [sic! Datum]: Ich erstickte wen Ich darin sitzen oder liegen müßte, made de berry so nur 15 jahre alt fengt schon ahn den hellen tag nicht gern zu haben Ich fandt gestern morgen in ihrer Cammer alle vorhang vor gezogen vor die fenster Ich sehe gern die liebe helle sonne, (...). Ich bin gantz contraire, ist es ein augenblick schön wetter mache Ich alle meine fenster auff. S. auch An Étienne Polier, o.O., 22.5.1710, VdC, Lf, 470, S. 426; An Sophie, Versailles, 4.12.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 1078v. An Sophie, Marly, 9.5.1711, ebd., XXI,1, 412r, vgl. B, 2, 758, S. 275: Viel leütte können hir die sonn nicht leÿden, aber mir schadt es nie, wolte Gott, ich konte E.L. in Dero gläßern cabinet die probe weißen, ich weiß gar woll wo daß gläßerne Cabinet sein muß, zwischen den alten eßsahl undt wo man zum stall geht, wen es hir schön wetter ist wie heütte so schreibe ich vor mein fenster auff der terasse schopffe also die frische lufft undt schreibe nicht desto weniger. Sophie bezeichnete Eléonore in einem Brief an ihren Bruder Karl Ludwig, Iburg, 8.6.1667, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 128, S. 120, als fort mal saine. S. DU VINAGE, Frauenzimmer, S. 102.

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zösischen Hof.158 Dort war Elisabeth Charlotte mit einer ihr bis dato unbekannten ausufernden Nobilitierungspraxis konfrontiert, gegenüber deren Folgen sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in Frankreich selbst verstärkt Zweifel regten.159 In Abgrenzung zu einem als entmachtet empfundenen französischen Adel, der ausgeschlossen von politischer Beteiligung und mit zahlreichen Divertissements an den Hof und die Person des absoluten Herrschers gebunden war,160 bezog sie einen wesentlichen Anteil ihres Standesstolzes aus ihrer Herkunft aus einem als frei und unabhängig verstandenen deutschen Geburtsadel.161 Eléonores französische Herkunft wird von Elisabeth Charlotte in dieses Bewertungsmuster eingefügt, indem sie einen Vergleich zwischen den Praktiken französischer Hofdamen, allen voran Madame de Maintenons, der Mätresse Ludwigs XIV., anstrengt.162 Problematisch erschien Elisabeth Charlotte vor allem das unausgesetzte Thematisieren schlechter körperlicher Befindlichkeiten,163 dass die Damen am französischen Hof und Eléonore offenbar teilten. Gesundheit bzw. deren Fehlen, so kritisierte sie, werde nicht als Wert verstanden, den es mit entsprechender Körperpraxis herzustellen gelte, sondern diene vielmehr zur Inszenierung der eigenen Person und dem Erreichen persönlicher Interessen in sozialen Beziehungen.164 Gegenüber Luise resümierte sie 1706: Frantzösche weiber seindt nie so kräncklich alß sie sich ahnstellen. Daß dint zur conversation, sich zu klagen; ich sehe es taglich hir.165 Ständische und nationalkulturelle Differenzziehungen werden hier von geschlechtsbezogenen durchkreuzt. Die drei Kategorien führen zu einem potenzierten Gegenbild der sich unstandesgemäß verhaltenden Mätresse französischer Herkunft, mit 158

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Vgl. etwa An Luise, Versailles, 4.12.1710, HO, 2, 502, S. 217: Ma tante heist den parforcejagt-jagermeister nicht Polier sondern Beaulieu; daß seindt gar gemeine nahmen hir undt glaube, daß der adel kurtz dort ist. Vgl. Ronald G. ASCH, Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 14–15. Henri de Boulainvillers etwa versuchte im Begriff der ‚Tugend‘ einen Kern adeligen Seins zu definieren. Dieser bezog sich vor allem auf vornehme Geburt und Standesehre, woraus sich persönlich-charakterliche Vorzüge ableiten ließen, die die Standesangehörigen im wörtlichen Sinne ‚adelten‘. Eine ähnliche Form von Standeskritik wie in E. Ch.s Briefen findet sich in prominenter Weise auch in den Memoiren des Duc de Saint-Simon. S. dazu Emmanuel LE ROY LADURIE, Saint-Simon ou le systéme de la cour, Paris 1997, bes. S. 146–162. Zur Disziplinierung des Adels durch das höfische Protokoll am Beispiel Versailles vgl. Norbert ELIAS, Die Höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 135–200; relativierend ASCH, Adel, S. 225–234, bes. 230–231 u. 233; in Bezug auf E. Ch. MICHELSEN, Genie, S. 154–155; KAPP, Pathos, S. 194–195. Vgl. Sigrun PAAS, Liselotte von der Pfalz. Leben neben dem Sonnenkönig, in: Otto BORST (Hg.), Frauen bei Hof (Stuttgarter Symposium 6), Tübringen 1998, S. 88–110, hier 92–93; MICHELSEN, Genie, S. 154–155. Zum Standesstolz ihrer Tante s. auch Sophie an Karl Ludwig, Maubission, 16.9.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 377, S. 378; VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 261; VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 84. Vgl. NOLDE, Eléonore, S. 111–114, die den außergewöhnlich ‚französischen‘ Lebensstil hervorhebt, den Eléonore am Celler Hof verbreitet hat. Leider enthält die Studie keinerlei Hinweise auf Körperund Medizinkultur. Da zahlreiche Franzosen und Französinnen Eléonore an den Celler Hof folgten, darunter auch Ärzte und Chirurgen, wäre es sicher lohnend, diese Frage weiterzuverfolgen. Zur Thematisierung körperlicher Befindlichkeiten am Hof s. APPELT, vapeurs, S. 53. S. zu dieser Feststellung etwa BASTIAN, Diplomatie, Abs. 7. Mme de Maintenon setzte unter dem Vorwand schwacher Gesundheit durch, bei der Königsfamilie sitzen zu dürfen. An Luise, Versailles, 15.7.1706, HO, 1, 320, S. 469.

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dem Elisabeth Charlotte und Sophie sich in zahlreichen Lebenszusammenhängen intensiv auseinandersetzten. Es lässt sich resümieren, dass Elisabeth Charlotte die Praktiken körperlicher Bewegung166 als effektive Möglichkeit nutzte, um sich selbst schreibend in ihrem Lebensumfeld zu positionieren (doing difference). Körperliche Bewegung war für sie der erste Ansatzpunkt, um sich mit gegensätzlichem Verhalten von ungesunden Praktiken und vom Bild schwacher und kränkelnder Personen abzugrenzen, das die Sicht auf Frauen bei Hofe, vor allem nach der Wende zum 18. Jahrhundert, dominierte.167 Männlich konnotierte Körperpraktiken beinhalteten für Elisabeth Charlotte die einzige Möglichkeit, eine gesunde, starke und somit des Adelsstands und der Familienehre würdige Frau zu sein. Sie trugen dazu bei, dass Elisabeth Charlotte selbst sowohl traditionellen Momenten adeliger Weiblichkeit etwa in Bezug auf die Mutterpflichten entsprach und diese auch in ihrem Umfeld einforderte, gleichzeitig aber sich eröffnende Handlungsspielräume nutzte, um über tradierte Geschlechtergrenzen hinauszugehen. Das mit der Jagd verbundene Selbstbild mochte sie an sich selbst so gern, dass sie noch 15–20 Jahre nach der Entstehung des Porträts im Jagdkleid eine Kopie an ihre Halbschwester verschickte – mit der Begründung, diese Darstellung ihrer Selbst sei ihr noch immer am liebsten.168 Sowohl das Porträt als auch die Kleidung fungierten ohne Frage als persönliche Lieblingsdinge Elisabeth Charlottes, die ein von ihr als äußerst wünschenswert empfundenes Ideal ihrer eigenen Person symbolisierten.169 Als Objekt der Selbstbetrachtung und Vergewisserung sowie als Medium, das eine spezielle Vorstellung von der Person Elisabeth Charlottes bei ihren Verwandten hervorrufen bzw. bestärken sollte, erfüllte es einen doppelten Zweck. Das damit verbundene Selbstbild hielt Elisabeth Charlotte in ihrer Erinnerung stets lebendig. Noch in ihrem Todesjahr 1722, als sie Luise zum Jahreswechsel ein a-la-mode-schachtelgen zukommen ließ, erinnerte sie die darauf abgebildete dame in jagts-kleydern, so schießen gehet, an sie selbst, auch wenn sie aufgrund ihres Alters und Gesundheitszustandes längst weder zu fuß, zu pferdt, noch in caleschen jagen konnte.170

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Vgl. VAN DER CRUYSSE, „J’ai regretté“, S. 55, der in diesem Zusammenhang von „allures sportives“ spricht. Anders FRASER, Love, S. 138: „(...) perhaps virtue and exercise went together.“ An Étienne Polier, o.O., 26.4.1705, VdC, Lf, 240, S. 277: Et les femmes y [den Stimmungen] sont plus sujettes que les hommes, comme étant plus faibles. Chacun fait du mieux qu’il peut. An Luise, Versailles, 1.1.1696, HO, 1, 32, S. 55: Ich will Eüch mein contrefait schicken undt in jagtskleydt, weillen die mir beßer gleichen, oder, umb die warheit zu sagen, beßer geglichen haben alß die andern; den seyder daß ich die kinderblattern gehabt, habe ich mich nicht mahlen laßen undt bin noch viel abscheülicher worden. Vgl. auch PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 75. Vgl. zum ‚identitätskonstitutiven‘ Gebrauch von persönlichen Objekten Tilmann HABERMAS, Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt a.M. 1999, S. 14–19, bes. 19: Persönliche Objekte „verfügen so, bereits bevor die Person sie sich aneignet, über kulturell geteilte Bedeutungen praktischer (…) wie symbolischer Natur.“ An Luise, Paris, 14.2.1722, HO, 6, 1303, S. 325: Ich glaube, daß die dame in jagts-kleydern, so schießen gehet, mich bedeütten solle, ob ich zwar auff keine manir, wie es auch sein mag, weder zu fuß, zu pferdt, noch in caleschen mehr jage. Vor dießem aber war ich von allerhandt jagten undt damahl war ich lustiger undt gesunder, alß ich nun bin. Aber alles hat seine zeit, wie Salomon gar recht sagt.

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Dass sie sowohl mit ihrer äußeren Erscheinung als auch mit ihrem Benehmen aus dem ordnenden Rahmen der Gesellschaft fiel, zeigt eine Passage aus dem Nachruf des Duc de Saint-Simons (1675–1755)171 auf Elisabeth Charlotte (1722): Madame tenait en tout beaucoup plus de l’homme que de la femme. Elle était forte, courageuse, allemande au dernier point, franche, droite et bienfaisante, noble et grande en toutes ses manières et petite au dernier point sur tout ce qui regardait ce qui lui était dû. (...) la figure et le rustre d’un suisse; capable avec cela d’une amitié tendre et inviolable.172

Der Herzog nimmt hier Bezug auf Standeszugehörigkeit, nationale Herkunft und Geschlecht, um Elisabeth Charlottes Person zu beschreiben und einzuordnen. Die übergeordnete Feststellung lautet, sie habe in allem eher wie ein Mann gewirkt. Im nachstehenden Satz wird näher ausgeführt: Sie sei kräftig und mutig gewesen, ehrlich und von Standesstolz durchdrungen173 – und durch und durch deutsch. In der Beschreibung wird also zunächst die nationale Herkunft in einem Atemzug mit Standesvorstellungen zur Erklärung einer eher maskulin wirkenden Person herangezogen. Der Bezug auf le rustre bzw. la rusticité174 im letzten Teil der zitierten Passage macht jedoch darauf aufmerksam, dass sich aus dieser geschlechtsbezogenen Bestimmung Ambivalenzen für die Wahrnehmung der gesamten Persönlichkeit ergaben. Der Duc de Saint-Simon vergleicht ihr Äußeres (la figure) und ihr bäuerliches Betragen (le rustre/la rusticité)175 mit dem eines Schweizers, womit er vermutlich auf einen Soldaten in der Schweizer Garde des Königs anspielt. An diesem Punkt beginnt die Bewertung ins Negative zu kippen: Offensichtlich hatte Elisabeth Charlotte die männlichen Züge sowohl in der Gestaltung ihres Äußeren als auch mit einer Grobheit im Verhalten derart überbetont, dass Saint-Simon sie mit seiner Wortwahl in die Nähe des Bäuerlichen rückte. Vom Stereotyp der unfeinen, naturnahen, männlich anmutenden bäuerlichen Frau versuchte sich der Adel von jeher mit einem

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Zum Verhältnis E. Ch.s zu Saint-Simon s. Dirk VAN DER CRUYSSE, Saint-Simon et Madame Palatine, in: Francia 14 (1986), S. 245–261, bes. 251 u. 257; Yves COIRAULT, L’image de la Palatine dans les Mémoires de Saint-Simon, in: Klaus J. MATTHEIER u. Paul VALENTIN i. V. m. H. Peter SCHWAKE (Hg.), Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Elisabeth Charlotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (Romanica et Comparatistica 14), Tübingen 1990, S. 83–94, hier 90; LEFÈVRE, Sprache, S. 30–32 COIRAULT (Hg.), Saint-Simon, Bd. 8, S. 553; dt. Übers. MASSENBACH (Hg.), Memoiren, Bd. 4, S. 228–229: „Madame glich weit mehr einem Mann als einer Frau. Sie war kräftig, mutig, durch und durch deutsch, offen und geradezu, gut und wohltätig, nobel und groß in ihrem ganzen Gehabe, aber ungeheuer kleinlich, was die ihr gebührende Haltung betraf. (...) Äußere Erscheinung und bäuerliches Betragen wie ein Schweizer, und dennoch der zärtlichsten und unverbrüchlichsten Freundschaft fähig.“ S. dazu VAN DER CRUYSSE, Saint-Simon, S. 257–258; LEITNER, Skandal, S. 82 legt diesen Vergleich ohne Anführung von Belegen dem Hofmaler Hyacinthe Rigaud in den Mund. PAAS, Leben, S. 109, gibt keinen Verweis an, bezieht sich vermutlich aber auf Saint-Simon. Auch dies war ein wichtiges Kennzeichen der femmes fortes. Vgl. KROLL, Heerführerin, S. 56; SCHLUMBOHM, Typus, S. 88. Diese Hilfe zum Wortverständnis gibt die kommentierte Edition COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 8, S. 1000, Anm. 10. Vgl. Le Grand Robert de la langue française, 2. Aufl., Bd. 8, hg. v. REY, S. 512: „Rusticité 1.) Manières rustiques, 2.) Caractère de ce qui est rustique, 3.) Chose de la campagne (...) Ce qui est simple, grossier, sans délicatesse.“

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eigenen Ideal von Weiblichkeit abzugrenzen,176 zu der Elisabeth Charlotte und ihre Körperpraktiken offensichtlich nur schwerlich passten. Die geschlechtsbezogene Selbstpositionierung über körperliche Bewegung, Kleidung, Frisur und Aufmachung hatte also durchaus negative, von Elisabeth Charlotte unzweifelhaft keinesfalls intendierte Folgen für die (Fremd-)Wahrnehmung ihrer Person als standesgemäße Adelige. Zahlreiche Historiker und Historikerinnen haben dieses Bild Elisabeth Charlottes als ‚ulkige Eigenheit‘ ihrer Person dargestellt,177 ohne auf die konkurrierenden Anforderungen an Weiblichkeit hinzuweisen, mit denen sie konfrontiert war.

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Vgl. Sylvia PALETSCHEK, Adelige und bürgerliche Frauen (1770–1870), in: Elisabeth FAHRENBACH (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994, S. 159–185, hier 164. Vgl. LEBIGRE, Liselotte, S. 77: „Ganz unzweideutig ist dagegen die brüderliche Zuneigung, die Ludwig XIV. damals für die lebhafte und gewitzte Schwägerin empfindet, die mehr einem jungen Burschen gleicht als einer königlichen Prinzessin.“ HARTMANN, Prinzessinnen, S. 271: „Wie mochte die Ehe dieser urwüchsigen, temperamentvollen, fast männlichen Frau mit einem weibischen Mann wie Philipp d’Orléans gutgehen (…).“ BERTIÈRE, Femmes, S. 365, bezeichnet E. Ch. als „une campagnarde, une sauvageonne“. S. auch das m.E. überzogene psychoanalytische Urteil von VAN DER CRUYSSE, „J’ai regretté“, S. 54: „Voilà donc une jeune princesse qui s’accomode fort mal de sa féminité, pas coquette du tout et visiblement travaillée par la convoitise du pénis.“

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III. Gender in der Beharrung erzählen Mit ihrer alltäglichen Bewegungspraxis dynamisierten sich auch die Selbst- und Fremdpositionierungen in Elisabeth Charlottes Briefen Briefen. Diese Dynamiken standen jedoch, wie bereits angedeutet, in einem engen Wechselverhältnis zu tradierten Weiblichkeitsidealen, denen am und mit dem Körper zum Ausdruck verholfen werden musste. Den Prozessen der verkörperten Inszenierung dieser beharrungskräftigen Geschlechtervorstellungen soll im folgenden Kapitel (III) anhand verschiedener Alltagspraktiken und Einstellungen im Umgang mit dem Körper nachgespürt werden – von Schönheitspraktiken (1) und Praktiken der Körperformung (2) über den Konsum von Alkohol und Tabak (3) bis hin zu sexuellen Praktiken (4).

1. nicht coquet von meiner natur1: Praktiken zur Beförderung der Schönheit Als Gegenpol von Tugend und Gesundheit spielte Schönheit für Elisabeth Charlotte eine bedeutende Rolle. Die Auseinandersetzung mit Schönheit sowie ihr erzähltes Schönheitsh a n d e l n im engeren Sinne soll dabei im Anschluss an die Arbeiten der Soziologin Nina Degele als „Medium der Kommunikation und Inszenierung der eigenen Außenwirkung“2 verstanden und als Aspekt sozialer Positionierungsprozesse mit dem Ziel, soziale Anerkennungseffekte zu erzielen, in den Blick genommen werden. In ihren Briefen beschrieb Elisabeth Charlotte ihr Äußeres durchgängig als problematischen Aspekt ihrer Person. Die zu Tage tretende Selbstkritik mutet bisweilen makaber und fast selbstzerstörerisch an. Mehrfach behauptet Elisabeth Charlotte, sie sei bereits seit ihrer frühesten Kindheit hässlich gewesen.3 Als ‚Urerlebnis‘ für diese Überzeugung betrachtet Sigrun Paas in ihrer Studie zu Elisabeth Charlottes Bildnissen eine Begebenheit am Haager Hof ihrer Großmutter Elizabeth Stuart, die sie 1660 gemeinsam mit ihrer Tante Sophie besucht hatte. Wie Elisabeth ihrem Sohn Karl Ludwig in einem Brief vom Februar 1660 berichtete, sei es bei diesem Besuch zu einem bedauerlichen Vorfall (a sad business) zwischen Sophie und der Kurprinzessin gekommen.4 Elisabeth Charlotte habe 1 2

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An Amalie Elisabeth, Versailles, 30.3.1704, HO, 1, 207, S. 345. Vgl. DEGELE, Sich schön machen, S. 10. Schönheit lässt sich demgegenüber aufgrund der inhaltlichen Variabilität von Schönheitsnormen nur als sozial „relevante Auffassungen von dem, was Schönheit als hegemoniale Norm” sein soll, definieren (S. 11). Vgl. An Luise, St. Cloud, 22.6.1729, HO, 4, 1029, S. 155–156: Ich habe mein leben nichts darnach gefragt, heßlich zu sein, nur drüber gelacht. I. G. s. unßer herr vatter undt mein bruder s. haben mir offt gesagt, daß ich heßlich [sei]. Ich habe aber drüber gelacht undt mich nie drüber betrübt. Mein bruder hieß mich daksnahß, das machte mich von hertzen lachen. KNOOP, Madame, S. 17; PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 65, die dieses Muster als „Fama vom „heßlich Morönchen“‘, wie Charlotte von Hessen-Kassel ihre neugeborene Tochter in einem Brief genannt hatte, bezeichnet. Vgl. auch KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 4, Anm. 4, S. 64. Vgl. Elisabeth Stuart an Karl Ludwig, Den Haag, 13./23.2.1660, in: WENDLAND (Hg.), Briefe, 91, S. 132; dt. Übers. PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 65: „Gestern abend ist es zu einem bedauerlichen Vorfall zwischen Eurer Schwester und Liselotte gekommen. Sie sagte auf englisch, ihr Bruder habe ein hübscheres Gesicht als sie, aber sie hat es verstanden und bitterlich geweint. Ich habe darauf bestanden, daß sie das schönere Gesicht hat, was sie sehr freute. Sie ist sehr gutartig, so daß jedermann hier sie liebt.“

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ihre Tante sagen hören, ihr Bruder Karl habe ein sehr viel schöneres Gesicht als sie. Sophie habe zwar vorsorglich auf Englisch gesprochen – Elisabeth Charlotte aber konnte die Bemerkung sehr wohl verstehen und weinte bitterlich darüber, so berichtet die Großmutter. Interessanterweise nahm Sophie in ihren Memoiren (1680) für sich selbst eine auffallend ähnliche Anekdote in Anspruch, die beweisen soll, dass sie nicht gerade durch ihr Äußeres bestach. Ihrer Schilderung zufolge wurde auch ihr Aussehen an dem ihres nur unwesentlich jüngeren Bruders gemessen: Il est fort beau, mais elle est maigre et laide. J’espère qu’elle n’entend pas l’anglais5, soll Frau Goring, eine Dame am Haager Hof von Sophies Mutter, über sie gesagt haben. Mais je ne l’entendais que trop bien pour me chagriner, et j’etais bien triste, car je croyais mon mal son remede6, fasste Sophie in der Retrospektive ihre Gefühle zusammen. Beide Erzählungen weisen merkwürdig viele Gemeinsamkeiten auf: das Alter der beiden Mädchen, der Ort des Geschehens (Haager Hof), der Vergleich mit dem jüngeren Bruder, dass die Bemerkung in der Fremdsprache Englisch abgegeben wurde, die trotz des Alters verstanden wurde, die anfängliche Traurigkeit. Wie lassen sich diese Parallelen erklären? Entweder Sophie selbst hat das Erlebnis mit ihrer Nichte unbewusst oder bewusst in die Erinnerung an ihre eigene Kindheit übernommen7 oder aber das eigene Erlebnis mit pädagogischen Zielen an ihrer Nichte wiederholt. In Sophies Darstellung zeigt bereits die Verwendung des Konjunktivs („ich glaubte, daß es gegen mein Übel kein Mittel gäbe“) an, dass sie für sich reklamierte, gestärkt aus dem zunächst schmerzlich empfundenen Erlebnis hervorgegangen zu sein. Es existierte nämlich sehr wohl ein Mittel gegen die äußerlichen Nachteile: Es gab ‚innere Werte‘, persönliche Qualitäten, mit denen es gelingen konnte, anderen Personen dennoch zu gefallen und vor allem zufrieden mit dem eigenen Selbst zu sein.8 Für Sophie ist dies, wie Heike Talkenberger in ihrer Untersuchung zum Selbstverständnis der Kurfürstin überzeugend darlegt, vor allem der eigene scharfe Verstand.9 Er ermöglichte es, mit persönlichen Qualitäten zu gefallen und daraus Selbstbewusstsein und Stärke für die eigene Person zu ziehen. Im Memoirenschreiben vergewisserte sich Sophie dieser persönlichen Qualitäten. Die 5

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VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 40; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 25; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 15: ‚„Er ist sehr schön, aber sie ist mager und häßlich; ich hoffe, sie versteht nicht Englisch.“ Ebd.: „Aber ich verstand es nur zu gut, um mich darüber zu ärgern, und ich war sehr traurig, weil ich glaubte, daß es gegen mein Übel kein Mittel gäbe.“ Vgl. zu den Formen ‚falscher‘ Erinnerung MARKOWITSCH u. WELZER, Gedächtnis, S. 27. Vgl. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 40; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 25; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 15. In den Memoiren setzte Sophie die Geschichte wie folgt fort: „Es [ihr Übel] war trotzdem nicht so groß wie das meines armen Brüderchens, das bald nachher unter schrecklichen Schmerzen starb; ich war sehr gerührt und betrübt darüber.“ Vgl. TALKENBERGER, Selbstverständnis, S. 136. E. Ch. bestärkte ihre Tante in dieser Vorstellung, An Sophie, Versailles, 29.12.1701, NLA-HStAH, XI,2, 663v–664r, vgl. B, 2, 483, S. 26: E.L. haben schönheitten, so nie vergehen [im Gegensatz zu den nur äußerlich schönen Mätressen Mme de la Vallière und Mme de Montespan], nehmblich dero großen verstandt undt vivacitet dero genrositet undt gütte dero beständigkeit vor die jenigen so sie ein mahl gnädig geweßen, auch macht dießes daß man sich dermaßen ahn E.L. attachirt daß man E.L. biß ahn sein endt gantz leibeÿgen ergeben bleibt. Mit ‚Verstand‘, so wusste E. Ch., konnte sie ihrer Tante gefallen, vgl. An Sophie, Fragment o.O., vermutlich 18.5.[1703], GWLB/NLB, 96v., vgl. B, 2, 522, S. 66: wen mir nur noch verstandt genung bleiben kan, E.L. zu gefahlen, bin ich schon mitt zufriden.

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Selbstbeschreibung erhält jedoch erst durch Abgrenzungen von anderen Personen eine sinnstiftende Komponente. Sophie distanzierte sich in ihren Memoiren von verschiedenen Frauen: beispielsweise von ihrer Mutter Elizabeth Stuart, die höfische Repräsentation über Mutterpflichten gestellt habe,10 von ihrer zwar gelehrten, aber dennoch eitlen, nicht zur Selbstironie fähigen Schwester Elisabeth11 oder ihrer Schwägerin Charlotte, die nur mit ihren Kleidern und ihrem Schmuck beschäftigt, „nicht sehr geistreich“12 gewesen sei. Schönheit und die Sorge um das eigene Aussehen erscheinen in Sophies Memoiren als beinahe gefährlich für die eigene Persönlichkeit13 – als bedrohten sie sowohl die Bescheidenheit als auch den Verstand einer Person, insgesamt also entscheidende persönliche ‚Tugenden‘. Elisabeth Charlottes wiederholte Aussagen, sie lege keinen Wert auf Äußerlichkeiten, erweisen sich als Ergebnis eines bewussten Erziehungshandelns.14 Schon die kurfürstlichen Anweisungen zur Erziehung der in Hannover befindlichen Tochter zeigen, wie überaus wichtig es Karl Ludwig war, jeglichen Anflügen von Koketterie bei seiner Tochter entgegenzuwirken. Im siebten Abschnitt der 1661 aufgestellten Erziehungsinstruktionen hatte er verfügt, die Gouvernante habe dafür zu sorgen, die Kurprinzessin von allen Einflüssen fernzuhalten, die Anlass zur Koketterie geben könnten.15 In den Instruktionen von 1663 heißt es sogar noch detaillierter, man solle Elisabeth Charlotte und den Fräulein ihres Hofstaates nicht erlauben, Gesprächen, Intrigen oder Lektüren nachzugehen, qui peuvent donner mauvaises impressions, et s’emparer des mauvaises affections. Die befürchteten schlechten Einflüsse konkretisierte Karl Ludwig als alles, was dem religiösen Pflichtgefühl und dem artigen Betragen einer Person ihrer Herkunft u n d ihres Geschlechts ent10

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Vgl. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 37–38; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 23; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 12: „Kaum war ich so weit, daß ich fortgeschafft werden konnte, als die Königin, meine Mutter, mich nach Leyden schickte, das nur drei Stunden vom Haag entfernt liegt, und wo Ihre Majestät alle ihre Kinder fern von sich erziehen ließ, denn der Anblick ihrer Affen und ihrer Hunde war ihr angenehmer als der unserige.“ Vgl. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 44; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 28–29; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 18–19: „Meine Schwester Elisabeth (…) hatte schwarze Haare, einen frischen Teint, braune strahlende Augen, schwarze, breite Augenbrauen, einen schönen roten Mund, wunderschöne Zähne und eine feine Adlernase, die jedoch leicht rot wurde; sie liebte die Wissenschaften, aber alle ihre Philosophie hinderte sie nicht, sehr ärgerlich zu werden, wenn schlechte Blutzirkulation das Unglück veranlasste, daß sie eine rote Nase bekam; sie verbarg sich dann vor jedermann.“ GEERDS (Hg.), Mutter der Könige, S. 32; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 39; VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 55. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 42–46; MEISNER, Kindheit, S. 43. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 93 ; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, s. 76; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 80: „Ich hatte immer gelernt, daß die Koketterie ein Verbrechen sei (…).“ S. auch BURSCHEL, „j’avais le plaisir“, S. 339. Es ist in der Literatur mehrfach spekuliert worden, E. Ch.s Beharren auf der eigenen Hässlichkeit sei eine bewusste oder unbewusste Abgrenzung von ihrer Mutter und deren Eitelkeit gewesen. Vgl. dazu die Argumentation bei PAAS, „Bärenkatzenaffengesicht“, S. 70; BROOKS, Images, S. 23; KNOOP, Madame, S. 17; GOLDSCHMIDT, Liselotte, S. 11–15. Vgl. WEECH (Hg.), Instructionen, Nr. 7, S. 410: Elle aura soign de faire eviter a la dite Princesse, aussi bien qu’aux autres demoiselles soubs sa charge, la conversation ou les livres qui donnent subject ou occasion a la Coquetterie.

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gegenstehe.16 Elisabeth Charlotte sollte zu einer adeligen Frau heranwachsen, die ihr Leben im Einklang mit den Anforderungen dieser Position führte. Auf einer abstrakteren Ebene betrachtet, bedeutet dies, dass sich Tugend- und Moralitätsstandards und somit Handlungsspielräume von Personen im 17. Jahrhundert inhaltlich nur definieren ließen, wenn Standeszugehörigkeits- und Geschlechtszuschreibungen in ihrer spezifischen Relation zusammengedacht werden. In einer zugespitzten Interpretation der beiden Abschnitte aus den Erziehungsinstruktionen implizierte Weiblichkeit eine Gefahr für adelige Standesehre – schließlich wird die Koketterie im zeitgenössischen Denken vor allem als schlechte Angewohnheit von Frauen beschrieben.17 Sie stand in Verruf, genau jene mauvaises affections hervorzubringen, vor denen Karl Ludwig so eindringlich warnte. Dahinter steht eine Auffassung, wie sie unter dem Stichwort ‚Tugendsames Weib‘ in Zedlers Universallexikon (1734) zum Ausdruck kommt. Eine tugendhafte Frau sei diejenige, die den stetigen Kampf von Tugend und Lastern mit tapffern und männlichen Muthe18 siegreich ausfechte, so die Kernaussage des Artikels. Implizit werden hier also Zweifel daran formuliert, dass Frauen den notwendigen Mut und die erforderliche Tapferkeit für diese lebenslange Konfrontation zwischen Tugend19 und Laster aufbringen könnten. Obwohl Frauen grundlegenden Vorstellungen des zeitgenössischen Eva-Topos folgend als anfälliger für untugendhafte Affecte erschienen, idealisierte man die Verkörperung von Tugend in all ihren Aspekten vor allem bei Weiblichkeitsbildern.20 Um dem Ideal der Tugendhaf16

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WEECH, Erziehung, Nr. 10, S. 115: Elle aura soin de faire eviter à nostre fille, aussi bien qu’aus autres demoiselles qui sont sous sa conduite, toutes les conservations et intrigues qui peuvent donner mauvaises impressions, et s’emparer des mauvaises affections, sous quel pretexte de liaision ou autre consideration qui se puisse estre; et les lectures des livres qui peuvent detourner de la pieté et sage conduite une personne de sa naissance et de son sexe. Vgl. WINKELMANN, Jugendzeit, S. 74–75 u. 79; An Luise, St. Cloud, 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 189. Die Konnotation von Koketterie und Weiblichkeit ist ein zentrales Merkmal der praktischmoralistischen Schriften des 17. Jhd.s und findet sich etwa auch in der frz. Philosophie. Vgl. DE LA ROCHEFOUCAULD, Maximes, hg. v. TRUCHET, 241, S. 62: La coquetterie est le fond de l’humeur des femmes. Mais toutes ne la mettent pas en pratique, parce que la coquetterie de quelque-unes est retenue par la crainte ou par la raison. Nr. 332, S. 80: Les femmes ne connaissent pas toute leur coquetterie. Die Maximen Nr. 277, S. 71, 332, S. 80, 334, S. 81, 406, S. 95, 418, S. 97 beziehen sich ebenso auf Frauen. Vgl. zum allgemeinen Tugendkonzept La Rochefoucaulds, das in der Annahme eines stetigen Kampfes zwischen Tugend und Selbstliebe (amour propre) besteht: COENEN, Kränkung, S. 2–3. Als Überblick zur frz. Moralistik vgl. etwa Margot KRUSE, Die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts, in: Margot Kruse. Beiträge zur französischen Moralistik, hg v. Joachim KÜPPER i. V. m. Andreas KABLITZ u. Bernhard KÖNIG, Berlin 2003, S. 1–27; WILD, Montaigne, S. 249–251 u. 260–262. Vgl. Art. Tugendsam Weib, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 7, Sp. 1517–1518, hier Sp. 1517, der sich auf die Bibelstellen Richter 6,12 u. 11,1 bezieht. Dort werde das Attribut ‚tugendsam‘ einem edelmütigen und tapferen Helden zugeschrieben. Bezogen auf das Ideal einer tugendhaften Frau bedeutet dies, daß also ein solches Weib darunter angedeutet wird, die ihre Laster mit tapffern und männlichen Muthe bestritten, darinne obgesieget, und die Tugend als eine angenehme Beute davon gebracht hat. Es haben sich also dieses vortrefflichen Titels [des tugendsamen Weibes] diejenigen Frauen nicht anzumaßen, die ihren Affecten und Lastern noch nicht den Gehorsam aufgekündiget haben, (…). Diesbezüglich ließe sich die Tugend hier analog zur frz. Moralistik als „Fähigkeit zur Beherrschung von Emotionen und Wünschen“ definieren. Vgl. WILD, Montaigne, S. 253. Eva galt als Modell einer Frau, die aufgrund ihrer „Willensschwäche“ anfällig für Verfehlungen geworden war. Vgl. etwa STOLLBERG-RILINGER, Liebe, bes. S. 247; zum Zusammenhang von Weiblichkeit und Affektgeneigtheit NEWMARK, Leiden, S. 14–15 u. Gefühle, S. 48–49, die anhand der Riche-Sources Disputation (1661) zeigt, dass diese Auffassung nur eine Position im

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tigkeit zu entsprechen, mussten Frauen sich also vom ‚eigentlichen‘ weiblichen Wesen entfernen und einem maskulin konnotierten Verhalten annähern.21 Elisabeth Charlottes persönliche Werthaltungen an angemessenes weibliches Verhalten sind an den normativen Ansprüchen dieses maskulin geprägten Diskurses orientiert. Koketterie verwies aus ihrer Sicht auf weibliche Eitelkeit und Gefallsucht, 22 von der sie sich selbst mit allen Mitteln distanzieren wollte. In einem Brief an Luise vom April 1695 stellte Elisabeth Charlotte klar, diejenigen, die viel von butzen undt moden halten, könne man mitt einem wort beschreiben: coquet.23 Die Vermittlung von touttes les vertues morales et Chrestiennes, wie es in den Instruktionen von 1661 und 1663 übereinstimmend hieß24, war in dieser Hinsicht direkt an die Prozesse der Körpersozialisation gekoppelt. Elisabeth Charlotte hatte die Grundsätze des moralisch-religiösen Erziehungsprogramms ihres Vaters und ihrer Tante,25 so zeigt eine Äußerung Sophies aus dem Jahr 1679, wohl verinnerlicht. Während ihres Aufenthaltes in Paris berichtete sie ihrem Bruder nach Heidelberg, Ludwig XIV. schätze an Elisabeth Charlotte vor allem ihre conduite26 (...) car elle n’est infectée d’aucune coqueterie. Sichtlich zufrieden fügte sie an: et je puis vous assurer, qu’elle me fait grand honneur, quant elle dit, que je l’ay eslevée.27 Noch 43 Jahre später sollte Elisabeth Charlotte von sich behaupten: Ich bin nicht coquet von meiner natur, daß kan man mir woll zeügnuß geben.28 Die Normen und Werte ihrer Erziehung zu einer tugendhaften adeligen Frau sind hier so vollkommen internalisiert,29 dass sie zur Beschreibung der eigenen Persönlichkeit herangezogen werden. Es handelt sich bei dieser Selbstaussage also sowohl um eine diskursive als auch um eine interaktive Positionierung in sozialen Beziehungen. In der Abgrenzung

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frühneuzeitlichen Diskurs war. So galten Frauen auch als grundsätzlich anfälliger für sexuelle Ausschweifungen vgl. BROWN, Acts, S. 5. S. dazu in Bezug auf das Weiblichkeitsideal der femme forte KROLL, Heerführerin, S. 51 u. 54. So etwa in den folgenden Passagen an Amalie Elisabeth, Versailles, 19.1.1709, HO, 2, 404, S. 72: Ihr machts in Ewerm brieff, liebe Amelisse, wie die coquetten, die allezeit vor heßlich schelten, waß sie ahm hübschten haben, damitt man sich loben mag. An Luise, Paris, 24.4.1718, HO, 3, 909, S. 245, An Luise, Paris, 19.2.1722, HO, 6, S. 330–331. An Amalie Elisabeth, Versailles, 18.8.1702, HO, 1, 179, S. 308: Coquetten weiber seindt nichts rares, ich glaube man findt deren überall. An Luise, Marly, 12.4.1695, HO, 6, N, 27, S. 529–530: Wie ihr mir dieße fürstin [Henriette Dorothea v. Oettingen, verheiratete Fürstin v. Nassau-Idstein, 1672–1728] beschreibt, gefiehl sie mir beßer, alß ihre tanten; den die, so viel von butzen undt moden halten undt, mitt einem wort zu sagen, coquet sein, stehen mir gar nicht ahn, drumb gehe ich auch hir mitt gar wenig damens umb, bin lieber allein, alß in geselschafft, die mir nicht gefelt, den ich bin zu naturlich, umb mich zu zwingen zu können. Vgl. WEECH (Hg.), Instructionen, Nr. 4, S. 409 u. Erziehung, Nr. 4, S. 114, Nr. 4. Zur Erklärung der Phrase s. 2.I. S. in diesem Zusammenhang Sophies Äußerungen über ihre eigene Erziehung durch streng calvinistische Hofmeisterinnen VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 38: Leur intention était aussi droite devant Dieu que devant les hommes. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 12–13; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 23. S. dazu VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 78, die hervorhebt, Sophie spiele hier mit den Bedeutungen des frz. hommes als Männer und Menschen. Vgl. zum Verhältnis zwischen E. Ch. und Ludwig XIV. STRICH, Liselotte, S. 44. Sophie an Karl Ludwig, 13.9.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 376, S. 376 u. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 259. An Amalie Elisabeth, Versailles, 30.3.1704, HO, 1, 207, S. 345. Zu diesem sozialisationstheoretischen Zusammenhang s. etwa DAUSIEN, Leben, S. 63–64; DEGELE, Sich schön machen, S. 18.

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zu den Damen in ihrem Umfeld wird diese doppelte Positionierung in der Korrespondenz und mit den Briefpartner_innen ständig aktualisiert, beispielsweise wenn Elisabeth Charlotte anfügt, am französischen Hof finde man gar wenig weibsleütte, so nicht von natur coquet sein.30 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht mehr nur als humorige Episode, sondern als konsequente Umsetzung normativer Ansprüche an tugendhafte adelige Weiblichkeit31 am und mit dem Körper,32 wenn Elisabeth Charlotte in ihren Briefen ihre Reaktionen schildert, als ihr äußerst kosmetikkundiger Ehemann Philippe sie an die gängigen Schönheitspraktiken am französischen Hof heranführen wollte: Monsieur s. hatt mirs [weiße Schminke] einmal auff daß gesicht schmiren wollen, ich habe es aber nie leyden wollen, will lieber sein mitt meinen runtzellen, alß weiße sachen auf mein gesicht schmiren, den ich haße allen schminck, kan kein rohdt vor mich selber leyden.33

Elisabeth Charlotte spricht hier zwei Schönheitspraktiken an: das Auftragen von Rouge etwa auf Wangen, Ohren und Dekolleté und das Weißen der Haut.34 Für Letzteres verwendete man mit Spiritus35 (esprit de vin) gemischten und dadurch sehr dünnflüssigen, aus

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An Luise, Versailles, 17.2.1704, HO, 1, 204, S. 341: Hir findt man gar wenig weibsleütte, so nicht von natur coquet sein, undt ist es recht rar, wen man eine findt, so es nicht ist. Vor gott mag es woll schlim sein, aber vor der weldt ist es lustiger, daß ist gewiß. Die coquetten flattiren sich, weillen man in der heylligen schriefft findt, daß unßer herr Christus so viellen von ihren gattungen gnädig geweßen, daß er sich ihrer schwachheit auch erbarmen wirdt, alß nehmblich der Marie Magdaleine, der Samaritin, dem weib, so im ehebruch begriffen war; daß flatirte sie. Ihr meindt, Ihr würdet der coquetterie baldt müde werden; allein ich habe ahn viellen hören sagen, daß wer einmahl verliebt geweßen ist, kan sonst kein spaß mehr ohne den leyden undt daß mans nie müde wirdt. Wie ich sehe, so ist Ewer humor jalous, liebe Amelisse! Wolt Eüch also nicht rahten, coquet zu sein; Ihr müstet zu große qual außstehen. Bekannt ist bspw. die Kritik am Schminken von ERASMUS VON ROTTERDAM, Lob der Narrheit. In der Übersetzung von Lothar Schmidt und mit Federzeichnungen von Gabriele Mucchi, Frankfurt a.M. 2006, S. 33. Zum Zusammenhang von Tugend- und Ehrbegriff und Körperlichkeit s. BASTL, Tugend, S. 381: „All diesen Instruktionen ist immanent, daß den abstrakten Begriffen – Ehre und Tugend – eine eigene Körperlichkeit innewohnt. Dieselben müssen auch unter Körpereinsatz verteidigt werden; gleichzeitig sind diese Begriffe innerhalb eines – nämlich des eigenen Körpers festgeschrieben (z.B. die Virginität).“ An Luise, Versailles, 28.2.1711, HO, 2, 514, S. 233. Vgl. auch An C. v. Wales, o.O., 29.10.1717, A, 21, S. 225: Wenn große Feste vor diesem waren, machte mich Mons. seel. roth anthun; ich that es ungern, denn ich habe den Putz nie geliebt, und liebe nichts was mir ungemächlich ist. An Luise, Versailles, 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 242: Mitt kein geschmer bin ich mein leben umbgangen, werde es nicht im alter ahnfangen. Vgl. hingegen LEITNER, Skandal, S. 86, die ohne Anführen von Belegen davon ausgeht, E. Ch. habe in ihrer Position einen „Hauch von Schminke“ tragen müssen. Vgl. An Luise, Versailles, 10.5.1715, HO, 2, 704, S. 559: Roth heist man hir kein schminck, nur daß weiß. Ich finde daß schmincken auch abscheülich; es ist sehr gemein jetzt hir. S. ebenso Paris, 26.12.1720, HO, 5, 1186, S. 375; auch MATTHEWS GRIECO, Körper, S. 77–78; LOETZ, Mode, S. 198. Esprit de Vin bzw. Weingeist, Spiritus od. spirit of wine sind ältere, heute noch in der Umgangssprache gebräuchliche Synonyme für die chemische Verbindung Ethanol. Diese kam bei der Anrichtung von Mischungen und zur Konservierung in unzähligen Kosmetika, etwa zur Haarpflege und -färbung, bei diversen Hautkosmetika, Seifen und Waschmitteln und bei der Zahnpflege zum Einsatz. Vgl. etwa SIMON, Präparate, S. 66, 89, 105, 117, 126–127, 146–147, 159, 168, 172–173, 186, 192, 211, 243, 268, 285.

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Konstantinopel importierten Balsam, den sogenannten beaume blanc.36 Elisabeth Charlotte zufolge war der Balsam, welchen die sultanin zu ihrem schminck brauchen, (...) aber auch sonst ein gutt remede (...) zu viel sachen.37 Damit differenzierte sie zwei Verwendungsarten des beaume blanc – als kosmetisches Präparat zur Verschönerung des Äußeren (schmink) und als Heilmittel zur Beförderung der Gesundheit (remede). Eine solche Überlagerung beider Anwendungsbereiche war in der Frühen Neuzeit durchaus typisch. Kosmetik und Heilbehandlung wurden dabei nicht etwa als zwei Pole möglicher Anwendungen beschrieben, sondern in einem inneren Zusammenhang als „Arzneimittel zur Schönheit“ gedacht.38 Elisabeth Charlotte brach diese Verbindung auf, indem sie die Verwendungsmöglichkeiten strikt voneinander trennte und mit gegensätzlichen Wertungen versah. Die Anwendung als Heilmittel wird als die tugendhafte und damit legitime Alternative dargestellt. Als sie Luise im März 1711 etwa mitteilte, diese müsse mit dem zugesandten Balsam nicht sparsam sein, da bald eine neue Lieferung zu erwarten sei, lobte sie ausdrücklich: Ihr thut gar woll, es nur, wozu es recht gutt ist, zu gebrauchen.39 Die ausschließlich gesundheitsbedingte Anwendung des beaume blanc diente Elisabeth Charlotte dazu, sich von den an ihr Äußeres gestellten Ansprüchen zu distanzieren und einen eigenen Persönlichkeitsbereich zu markieren.40 Auch wenn sie sich bisweilen durchaus verständnisvoll gegenüber der Praxis anderer Personen äußerte, Blatternnarben mit Gesichtsweiß zu repariren41, lehnte sie dies für sich selbst ab. Im Gegenteil zeige das Beispiel ihrer Mutter Charlotte, die hier zumindest implizit als Negativfolie herangezogen wird, dass sich das Schminken selbst wiederum als schädlich für die Haut erweisen konnte: Ordinarie, wen man viel ahn der haut künstelt, verdirbt man sie gantz, so ist es meiner fraw mutter s. gangen.42 Bereits im Adel des 36

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An Luise, Versailles, 26.1.1710 u. 28.2.1711, HO, 2, 458, S. 157 u. 514, S. 233: Ich weiß viel damen hir, so auch den beaume blanc auffs gesicht schmiren, wen er mitt esprit de vin zugerichtet wirdt. Vgl. zur Zubereitungsart Art. Balsamum Judaicum, in: LÉMERY, Dictionnaire, S. 70. An Luise, Versailles, 22.2.1710, HO, 2, 462, S. 164: Der weiße beaume ist, waß man ordinari le beaume blanc de Constantinopel heist undt welchen die sultanin zu ihrem schminck brauchen, welcher aber auch sonst ein gutt remede ist zu viel sachen. Genauere Anwendungsbereiche konnten aus den untersuchten Briefen nicht ermittelt werden. Zum Baume Blanc s. 4.II.1. Vgl. SIMON, Präparate, S. 4; SNOOK, Women, S. 49, spricht von „beautifying physic“. Vgl. auch Art. Schönheit des Frauenzimmers, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 35, Sp. 823, in dem die Gesundheit als „Mutter der Schönheit“ bezeichnet wird. An Luise, Versailles, 28.3.1711, HO, 2, 517, S. 238. In den Rezeptbüchern des englischen Hochadels, in denen auch das Mylady-Kent-Pulver erwähnt wurde, spielte Schönheit hingegen eine herausragende Rolle. Vor allem eine reine, weiße Haut symbolisierte hier gerade die Gesundheit der adeligen Frau. Vgl. SNOOK, Women, S. 47–52, bes. 52; SNOOK, receipts, § 3. An Amalie Elisabeth, Versailles, 23.4.1700, HO, 1, 103, S. 188: Die gräffin von Fürstenberg ist possirlich mitt ihrem schmincken; sie hats keine scheü, sagt blat herauß, daß sie die kinderblattern so verdorben hetten, daß, wen sie ihr gesicht nicht mitt schminck reparirte, würde jederman bang vor sie werden. An Luise, Marly, 10.5.1713, HO, 2, 576, S. 307. Vgl. dazu eine ähnliche Aussage in Bezug auf die Mätressen des Königs Mme de la Valière und Mme de Montespan in einem Brief an Sophie, Versailles, 29.12.1701, NLA-HStAH, XI,2 663v, vgl. B, 2, 483, S. 26: aber ich frage gantz undt gar nichts darnach, bin nie schön geweßen, habe also nicht viel verlohren, undt ich sehe daß die, so ich vor dießem so schön gesehen habe, jetzt eben so heßlich sein alß ich, made de la valliere kann kein seele mensch mehr kenen, made de Montespan hatt ihr gantze haut alß wen die kinder künsten mitt papir machen undt es klein zu samen legen, den ihr gantz gesicht ist gantz voller kleinen runtzellen ahn einander daß es zu verwundern ist, ihre schöne haar seindt

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17. Jahrhunderts existierte also ein Bewusstsein für mögliche negative Folgen der hier angesprochenen artifiziellen Zurichtung des Körpers.43 Auch wenn zu bedenken ist, dass in den höfischen Gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts Schönheitspraktiken wie das Schminken oder das Tragen von Schmuckstücken bei Männern nicht minder beliebt waren als bei Frauen,44 so werden diverse Praktiken der Körperzurichtung gerade Ende des 17. Jahrhunderts im Umfeld des französischen Hofes verstärkt als weiblich identifiziert. Dies weist die amerikanische Historikerin Jennifer M. Jones beispielsweise für die Assoziationen von Mode und Geschlecht in der bereits erwähnten Hofberichterstattungszeitung Mercure Galant nach.45 Auch Elisabeth Charlottes Briefe zeugen von geschlechtsbezogenen normativen Zuschreibungen an diese Körperpraktiken. In den meisten Fällen richtete sich ihre Kritik am Schminken explizit gegen die Damen in ihrem Umfeld am französischen Hof (die weiber hir).46 Freilich ohne ihren Gatten Philippe direkt anzusprechen, äußerte sich Elisabeth Charlotte besonders negativ über geschminkte Männer in ihrem Umfeld. Wenn diese sich wie der junge graff Castel schminkten, bezeichnete sie dies als affectirt.47 Mäner, so fasste sie an anderer Stelle zusammen und meinte damit die in ihren Augen ‚richtigen‘, d.h. ungeschminkten Männer, lachen über den schminck, auch wenn zu kritisieren bleibe, dass ihnen an anderen dennoch nichts besser gefalle.48 An ihrem Sohn Philippe etwa hob

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Schnee weiß undt das gantze gesicht ist roht, also gar nicht schön mehr, bin also gantz getröst, nie gehabt zu haben waß doch so geschwindt vergeht. Vgl. auch JONES, Sexing, S. 50; FRASER, Love, S. 234. Im Gegensatz dazu GIESKE, Schönheit, S. 97: „Doch bevor diese bürgerlichen Gesundheitswarnungen beginnen, werden Schminken, die zur aristokratischen Erscheinung von Frauen und auch von Männern gehören, positiv bewertet; sie sind nötig für das Wohlbefinden und für die körperliche Repräsentation der Vornehmen.“ Etwa seit Mitte des 18. Jhd.s wurden in einigen weißen Gesichtsschminken Stoffe wie Quecksilber und Blei nachgewiesen. Die Gesundheitsgefährdung wird nun wissenschaftlich begründet. Vgl. GIESKE, Schönheit, S. 97; ähnlich auch SANDER, Schönheiten, S. 56–57 u. 61; zu den in kosmetischen und medizinischen Traktaten beschriebenen Nebenwirkungen genauer SIMON, Präparate, S. 87–93; zur möglichen Todesursache der Gräfin Platen RÖHRIG, Spinne, S. 36. Vgl. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 206 u. 109–110; JONES, Sexing, S. 9, 23, 35, 39; Joanne ENTWISTLE, The Fashioned Body. Fashion, Dress and Modern Social Theory, Cambridge 2000, S. 180. S. etwa auch An Sophie, Marly, 16.11.1712, NLA-HStAH, XXII, 684v: hir pudert man sich nun auch gantz weiß Maner undt weiber mir gefelt es eben so wenig alß ahn E.L. JONES, Sexing, S. 35–36. Vgl. zur weiblichen „Putzsucht“ ähnlich auch LABOUVIE, Körper, S. 192. Vgl. etwa An Luise, Versailles, 28.2.1711, HO, 2, 514, S. 233 u. Fontainebleau, 20.10.1714, HO, 2, 670, S. 466: Er [Churprintz von Sachsen] ist choquirt, daß sich die weiber hir so sehr schmincken. An C. v. Wales, o.O., 14.7.1719, A, 46, S. 90; An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1700, HO, 1, 115, S. 207–208: Waß daß schmincken ahnbelangt, so findt man hir wenig weiber, es seye auff den theatrum oder bey hoff, so es nicht sein. An Luise, Marly, 6.8.1700, HO, 1, 110, S. 200: Wen der junge graff Castel her solte kommen, würde er woll leütte finden, so über ihn lachen würden, aber auch viel, so seines gleichen sein würden undt affectirt undt geschminkt sein. Zur Entgegensetzung von affectuös[er] und natürlich[er] Zierde des Leibes vgl. Art. Schönheit des Frauenzimmers, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 35, Sp. 827. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 21.9.1704, HO, 1, 218, S. 358: Es ist war, daß viel hir geschminckt sein; es seindt aber auch viel, so es nicht sein. Die mäner lachen über schminck, nichts gefählt ihnen doch beßer. Der Kontext der zitierten Passage kann aufgrund des Fehlens der Antwortbriefe leider nicht weiter erhellt werden. Vgl. mit ähnlicher Aussage An Sophie, Versailles, 24.4.1695, NLA-HStAH, V, 181v, vgl. B, 1, S. 215–

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sie lobend hervor, dass er sich nicht um Juwelen bekümmere und ebenso wie sie nicht gern geputzt sei.49 Anders als bei Männern, bei denen das Schminken aus Elisabeth Charlottes Sicht offenbar vor allem die Geschlechterordnung irritierte, galt ihr das Schminken bei Frauen in erster Linie als dem Adelsstand unwürdiges Verhalten. So übte sie etwa in einem Brief an Luise vom März 1711 mit ihrer Bemerkung, die verstorbene graffin Platten habe das weiße a la mode zu Hannover gemacht50 , implizit Kritik an den Schönheitspraktiken einer weiteren Aufsteigerin bei Hof. Denn Clara Elisabeth von Platen-Hallermund (1648–1700)51 stammte aus dem niederen Adel, war durch Heirat und spätere Nobilitierung in den Rang einer Gräfin aufgestiegen und unterhielt eine langjährige Liaison mit ihrem Onkel Ernst August von Braunschweig-Lüneburg,52 auf den sie auch maßgeblichen politischen Einfluss ausübte. Sophie und Elisabeth Charlotte breiteten darüber in ihrer Korrespondenz eher den Mantel des Schweigens aus.53 Zumindest aber in Sophies Briefen an Luise findet sich Kritik an den farben der Gräfin von Platen, die zwar schöner als sie kein maller machen kan, seien, jedoch weniger naturel als die der Fürstin von Eisenach, die es nicht nötig habe, es so plump zu machen, wie die Grefin von Platen, die wie eine gans masque es machen muß, um weis zu sein.54 Obwohl Sophie also zugeben musste, dass die Gräfin von Platen außergewöhnlich schön war, war diese gekünstelte Schönheit aus ihrer Sicht kaum eine dem Adelsstand würdige. Sie trug also einerseits dem Faktor Rechnung, dass in der frühneuzeitlichen Hofgesellschaft insbesondere für Frauen aus dem niederen Adel Schönsein gewissermaßen ‚soziales Kapital‘ war, mit dem der Aufstieg in die höchsten Kreise gelingen konnte.55 Weniger schöne Frauen galten dagegen per se als unweiblich und sogar einer „neutraleren, weniger geschlechtsspezifischen Kategorie“ zugehörig, wie die französische Anthropologin Véronique Nahoum-Grappe resümiert.56 Mit der hier

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216: Ich habe allezeit in acht genohmen daß alle die männer [welche] allezeit gegen die coquettereÿen affectereyen undt schminck reden, undt sobaldt sie doch ein solch weib sehen, werden sie verliebt darvon. An C. v. Wales, o.O., 30.7.1720, A, 100 [sic!], S. 206. An Luise, Versailles, 28.3.1711, HO, 2, 517, S. 238. Vgl. auch RÖHRIG, Spinne, S. 30. Vgl. LEITNER, Skandal, S. 11–76, bes. 17–18; RÖHRIG, Spinne, S. 26–27 u. 33; Elisabeth E. KWAN, Gefangene von Ahlden, in: Dies. u. Anna E. RÖHRIG (Hg.), Frauen vom Hof der Welfen, Göttingen 2006, S. 64–80, hier 66–67: „In Osnabrück hatte Klara von Meysenburg gezielt den Erzieher Ernst August Platen geheiratet, dem gerade die Erhebung in den Grafenstand bevorstand (…).“ Vgl. zu Sophies Umgang mit der Liebschaft ihres Mannes KNOOP, Kurfürstin, S. 76–77 u. 171–177; LEITNER, Skandal, S. 24; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 420; RÖHRIG, Spinne, S. 28–29. Vgl. LEITNER, Skandal, S. 18 u. 29; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 402; KNOOP, Kurfürstin, S. 78, 123, 158–159 u. 163; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 402; RÖHRIG, Spinne, S. 30; KWAN, Rivalinnen, S. 56, die die These aufstellt, Sophie habe sich in den Hass gegen Eléonore d’Olbreuse hineingesteigert, weil sie gezwungen war, die Beziehung zwischen der Gräfin Platen und ihrem Mann zu ignorieren. Sophie an Luise, Herrenhausen, 14./24.11.1697, in: BODEMANN (Hg.), BK, 176, S. 169; vgl. auch 15./25.8.1697, in: Ebd., 170, S. 162, derzufolge die stark geschminkte Gräfin vor allem den Moscovitern um den russischen Zaren Peter gefallen habe. S. etwa MARWICK, IT, S. x, 26 u. 49–69. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 108–109. S. auch Daniela HAMMER-TUGENDHAT, Otto PENZ u. Marie Luise ANGERER, Geschlecht und Schönheit. Ein Gespräch zwischen Daniela Hammer-Tugendhat, Otto Penz u. Marie Luise Angerer, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5,3 (1994), S. 412–423, hier 412.

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aufgerufenen Vorstellung aber, dass würdig schön nur sein konnte, wer dies nicht weiter befördern müsse, ließ sich allerdings ein – insbesondere aus Elisabeth Charlottes Sicht – willkommenes Argument finden, um sich selbst von dergleichen Zurichtungspraktiken freizustellen. Mitt kein geschmer bin ich mein leben umbgangen, werde es nicht im alter ahnfangen,57meinte Elisabeth Charlotte und unterstrich die für ihr Körperwissen zentrale Vorstellung einer von Gott gegebenen Natur, die den Lauf des Lebens und des Alterns bestimme. Im Unterschied zu ihrer äußerst aktiven Einflussnahme auf die Gesundheit war Elisabeth Charlotte in Schönheitsfragen bemerkenswert untätig, wenn sie, Jodelet, die bekannteste Figur der französischen Komödie des 17. Jahrhunderts,58 zitierend, feststellte: Es kompt mir nicht zu, von gesichtern zu reden, auch werde ich mein leben niemandes haßen oder lieben wegen der schönne oder heßlichkeit, allein wir müßen sagen wie Jodelet. „Maistre valet, si nous estions artissans de nous mesme, on ne veroit partout que des beautes extreme,“59 weillen wirs aber nicht sein, müßen wir so mitt durchlauffen, wie es gottes wille geweßen, unß zu machen.60

Weiter schrieb sie ihrer Stiefschwester Luise, die wohl ebenfalls nicht unbedingt mit herausragender Schönheit, dafür aber mit einem ‚guten Gemüt‘ gesegnet war:61 Mir gebürts nicht, nach andere leütte zu sehen, ob sie heßlich oder schön sein, nachdem mich der almachtige so gar heßlich hatt sein laßen; aber ich bin jetzt in einem alter, wo man sichs desto leichter zu getrösten haben kan, indem, wen ich schon schön geweßen were, müste ich doch jetzt schon heßlich geworden sein, geht also mitt einem hin; freylich halte ich mehr von innerlicher, alß eüserlicher schönheit.62

Der entscheidende Vorteil innerlicher Schönheit sei, dass sie im Stande war, die Persönlichkeit eines Menschen dauerhaft positiv zu prägen. Darum sei sie auch höher zu bewerten als die vergängliche äußerliche Schönheit,63 die sie auch im zeitgenössischen Diskurs 57 58

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An Luise, Versailles, 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 242. Vgl. Arthur POUGIN, Art. Jodelet, in: Grande Encyclopédie. Inventaire raisonée des sciences, des lettres et des arts, par une Société de savants et de gens de lettres, Bd. 21, Paris o.J., S. 168; Michel GILOT u. Jean SERROY, La comédie à l’âge classique, Paris 1997, S. 112–113. Sophie bezog sich in einem Brief an Karl Ludwig, Osnabrück, 30.11.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 395, S. 392 ebenfalls auf Jodelet. Vgl. Paul SCARRON, Jodelet ou le Maître valet. Comédie en cinq actes et en vers de Scarron, hg. v. Pascal DUMAIH, Clermont-Ferrand 2008, Akt I, 1. Szene, S. 14: „Et que, si nous éstions artisans de nous-mêmes / On ne verrait partout que des beautés extrêmes“; vgl. auch An Sophie, Versailles, 12.3.1702, NLA-HStAH, XII,1, 152r, vgl. B, 2493, S. 36. An Luise, Fontainebleau, 8.10.1695, HO, 1, 27, S. 48. S. auch Marly, 4.7.1698, HO, 1, 61, S. 107; An Amalie Elisabeth, Port Royal, 20.8.1700, HO, 1, 111, S. 202. An Amalie Elisabeth, Versailles, 15.12.1708, HO, 2, 400, S. 65: Es ist kein mensch in der weldt perfect undt ohne fehler, eines muß deß andern seine entschuldigen; aber wo gutte gemühter sein, alß wie bey Louisse, Ihr undt ich, da kompt man alß woll zu recht, daß geblütt lest sich fühlen. An Luise, Fontainebleau, 8.10.1695, HO, 1, 27, S. 48: allein waß mir allezeit ahn Eüch gefallen wirdt, ist Ewere tugendt, liebe Louisse, undt guttes gemüthe. Da sehe ich mehr nach, alß schöne gesichter, welche doch nicht lang schön bleiben. An Luise, Marly, 4.7.1698, HO, 1, 61, S. 107. An Luise, St. Cloud, 18.8.1699, HO, 1, 94, S. 170: Er [Graf Lutz] hatt recht, mehr in heürahten auff ein gutt gemühte gesehen zu haben, alß auff schönheit; dießes letzte vergeht baldt, ein gutt gemüht wehrt aber, so lang man lebt. Ahngenehm undt ein gutt gemühte ist im heürahten der schönheit weit vorzuziehen in meinem sin. An Görtz, St. Cloud, 26.11.1719, K, 13, S. 74: die schönheit muß vergehen, aber ein gutter humor kann allezeit bleiben

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aufgrund ihrer qualitativen Leere und Geistlosigkeit zuweilen als Gefahr betrachtet.64 Dass sie selbst über diese Aspekte von Schönheit vollkommen erhaben war und gleichzeitig so ‚geistreich‘, die Moden um sie herum zu beobachten und in spöttischem Ton zu kritisieren, bewies Elisabeth Charlotte ihrer Tante, indem sie schrieb: Ich weiß nicht wie es zu Hannover ist allein hir seindt die schönheitten über die maßen rar, dieße mode schön zu sein kompt gantz ab, die damen helffen auch dazu den mitt ihrem ohren weißen undt haar ahn den schläffen starck zu ziehen sehen sie alle auß wie die weiße caninger so man beÿ den ohren helt daß sie einem nicht entwischen, undt machen sich in meinem Sin recht heßlich mitt.65

Doch wie genau sind nun diese der Schönheit entgegengesetzten persönlichen Tugenden definiert? Ein Brief an Johanna Sophie von Schaumburg-Lippe aus dem Jahr 1719 gibt Aufschluss darüber. Elisabeth Charlotte schrieb hier, dass sie vom raisonabel sein mehr halte alß von schönheit die vergeht, denn gutte vernunfft undt verstandt wehrt so lang alß daß leben.66 Vernunft (raison), ein Zentralbegriff zeitgenössischer Moral- und Tugendlehren,67 ist hier als Selbstverantwortlichkeit eines Menschen konzipiert, in seinem Leben, soweit Gott ihm Handlungsspielraum zugedacht hat, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden und das eigene Handeln entsprechend zu reflektieren.68 Besonders schönen bzw. eitlen Menschen sprach Elisabeth Charlotte diese Fähigkeiten ab69 – denn Schönheit verführe all zu oft zu Koketterie.70 Verstand fungiert hier also als Mittel der Wahl, um untugendhaftem Fehlverhalten entgegenzuwirken. Davon sah der moralphilosophische Diskurs Frauen, trotz einer bisweilen geäußerten grundsätzlich gleichen Vernunftbegabtheit wie bei Män-

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undt die heßlichkeit verdecken. An Amalie Elisabeth, Port Royal, 22.8.1698, HO, 1, 65, S. 113, Versailles, 15.12.1708, HO, 2, 400, S. 65: Ewerserliche [äußerliche] schönheiten seindt gutt, im verbey gehen wie ein gemähls zu sehen, aber ehrlichkeit, tugendt undt gutt gemühter daß ist gutt, bey denen zu finden, so man all sein leben lieben will. Vgl. die Interpretation des Zitats bei LABOUVIE, Körper, S. 176. Vgl. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 118; MARWICK, IT, S. IX u. 28. An Sophie, Marly, 14.12.1704, NLA-HStAH, XIV, 530r–530v, vgl. B, 2, 557, S. 96; vgl. auch 25.10.1711, ebd., XXI, 862v: bloße ohren ist wüst undt noch mehr wen die haar dabeÿ gezogen sein wie canintier so man beÿ den ohren helt. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, 22.11.1719, V, S, 38, S. 70. Vgl. auch in Bezug auf ihre Tante An Sophie, Versailles, 29.12.1701, NLA-HStAH, XI,2, 663v–664r, vgl. B, 2, 483, S. 26. S. etwa Liane ANSMANN, Die „Maximen“ von La Rochefoucauld (Münchener Romanistische Arbeiten 39), München 1976, S. 36–44. Vgl. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, 20.5.1718, V, 25, S. 46: daß unßere stunden gezehlt sein ist woll gewiß aber, wie unßer herrgott alles mitt einander verhengt hatt, waß jn der weldt ist so Muß alß eine sach geschehen damit die ander geschieht undt daß macht wider ein anderst undt daß so fort so lang unßer leben wehret, unßer todt selbsten, macht geschehen waß geschehen solle, drumb glaube ich daß unß die vernunfft gegeben ist, sie zwar so viel möglich zu folgen, aber die allmächtige weißheytt weiß woll wo zu er unß geschaffen hatt, über seinen willen kan nichts gehen, also tröst Ich mich hirin In alles waß mir auch geschieht. Vgl. zur Fürstin v. Nassau-Siegen [vermutlich Amalie Luise v. Kurland, 1687–1750; seit 1708 zweite Gemahlin von Friedrich Wilhelm Adolf v. Nassau-Siegen, 1680–1722] An Luise, Paris, 17.3.1718, HO, 3, 898, S. 210: Der verstand engagirt offt mehr, alß eine schonne figur. An Luise, Paris, 25.3.1719, HO, 4, 1004, S. 71: Die fraw von Zachman, ob man sie zwar hir schön gefunden, hatt sich doch woll undt tugendtsam gehalten und ist gar nicht coquet geworden, hatt doch hir sehr deßwegen loben [machen]; den hübsch undt nicht coquet zu sein, ist etwaß gar rares hir.

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nern,71 besonders bedroht.72 Dementsprechend erschien es Elisabeth Charlotte äußerst bewundernswert, wenn sie beobachtete, wie es etwa ihrer Hofdame Anne Foudras de Châteautiers (1660–1741), einer Französin zumal,73 gelang, trotz äußerlicher Schönheit ihre weibliche Ehre zu bewahren.74 Moral und Tugend waren diesbezüglich in direkter Weise auf den Umgang mit dem Körper bezogen. Denn die angesprochene Vernunftbegabtheit verpflichtete den Menschen förmlich dazu, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten eher auf die Gesundheit des eigenen Körpers zu achten, als ihn als ‚soziales Kapital‘ zu begreifen, mit dem durch eine möglichst auffällige Aufmachung Aufmerksamkeit zu erheischen sei. Madame de Châteautiers beispielsweise bestach in dieser Hinsicht mit einem ausgeprägten Gesundheitsbewusstsein, das Elisabeth Charlotte in einem Atemzug mit ihrer Unempfänglichkeit für die Koketterie nannte. Sie lobte eindringlich, dass man mit dieser Dame einen regelrechten Kampf ausfechten müsse, wollte man sie dazu bewegen, Medizin einzunehmen.75 Flankiert von Treue, Verschwiegenheit und losgelöst von der Verfolgung persönlicher Ambitionen könne Madame de Châteautiers‘ Umgang mit dem Körper als Muster eines tugendhaften Lebensstils gelten.76 Interessanterweise lässt sich dieses Muster auch in der Korrespondenz ihrer Tante wiederfinden. Im November 1697 etwa berichtete Sophie Raugräfin Luise über die Schönheitspraktiken der Da71

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Vgl. NEWMARK, Leiden, S. 14–15, zeigt die Vielstimmigkeit der Auffassungen über weibliche Vernunftbegabtheit. Zu ähnlichen Befunden für das frühe 18. Jhd. Wolfram Malte FUES, Das Geschlecht der Vernunft. ‚Raison‘ und ‚Esprit‘ im Denken der Aufklärung, in: Claudia OPITZ, Ulrike WECKEL u. Elke KLEINAU (Hg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster, New York, München, Berlin, S. 173–193, hier 174–177. Vgl. NEWMARK, Gefühle, S. 49–50 u. 52 u. Leiden, S. 15: „Nicht wer stärkere Passionen hat, ist die wichtigste Frage, sondern wer die vorhandenen Passionen stärker zulässt.“ Die Bedeutung einer „Moderation des Gefühls“ hebt auch hervor RUBLACK, Körper, S. 101. In Bezug auf den Typus der femme forte KROLL, Heerführerin, S. 59–61; VILLARAMA, Amazone, S. 169–170. Vgl. die pauschalen Zuschreibungen der Koketterie der Französinnen: An Amalie Elisabeth, Paris, 13.11.1699, HO, 1, 99, S. 182; An Luise, St. Cloud, 11.8.1717 u. 2.10.1718, HO, 3, S. 79 u. 955, S. 398, 17.8.1719, HO, 4, 1044, S. 208: Es ist woll waß gar rares, wen Frantzoßinen kinder woll erzogen; den daß wißen sie ahm wenigsten, machen entweder coquetten oder bigotten auß ihnen undt selten waß rechts. Paris, 20.2.1721, HO, 6, 1203, S. 20: Aber waß zu wundern ist, ist, daß daß junge weibgen, so nun kaum 15 jahr alt ist [Françoise Adélaide de Noaille (1704–1776)], nicht coquet geworden, wie schir alle junge weiber in Franckreich sein, sondern in allen stucken gar eine gutte conduitte gehalten. Vgl. neutraler An Amalie Elisabeth, Versailles, 18.8.1702, HO, 1, 179, S. 308: Coquetten weiber seindt nichts rares, ich glaube man findt deren überall. Vgl. auch DE LA ROCHEFOUCAULD, Maximes, hg. v. TRUCHET, 241, S. 62–63: La coquetterie est le fond de l’humeur des femmes. Mais toutes ne la mettent pas en practique parce que la coquetterie de quelques-unes est retenue par la crainte ou par la raison. An Luise, Paris, 27.2.1718, HO, 3, 893, S. 195: Madame de Chasteautier hatt kein geschwollen gesicht mehr, aber auch husten undt schnupen. Dieße dame ist voller tugendt, gar nicht interessirt; wen man ihr waß geben will [d.h. Medizin geben], muß man sich prepariren, eine schlacht mitt ihr zu lieffern, ohne zanck geht es nicht ab. Ob sie zwar gar schön geweßen, ist sie doch nie coquet geweßen undt hatt ihren gutten nahmen allezeit behalten in dem frawenzimmer, wo viel andere, so nicht so hübsch wahren, alß sie, den ihrigen verloren. Sie ist auch verschwigen, trewe, hatt gar viel gutte qualiteten; drumb estimire ich sie so sehr. Als E. Ch. an den Blattern erkrankt war, hatte Madame de Châteautiers ihre Schönheit riskiert, um am Bett der Kranken zu wachen. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 4, 7.7.1693, S. 318; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 394.

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men in ihrem Umfeld, die an Schönheitsgeheimnissen nichts sparen undt in ihrem sinn ihr gelt nicht besser anwenden können. Sie kam dabei zu einem Resümee, das Elisabeth Charlottes Wertvorstellungen und Handlungspraktiken sehr nahekommt: Ich hätte es auch wol nötig, aber ich contentire mich Gottlob gesundt zu sein, da ich Gott nicht genungsam vor dancken kan.77 Wie sehr sich solche moralischen Einstellungen gegenüber äußerlicher Schönheit aber an den realen sozialen Gegebenheiten rieben, zeigen die unzähligen Passagen, in denen Elisabeth Charlotte selbst ausführlich auf Aussehen und Figur anderer Personen (Frauen wie Männer) zu sprechen kam.78 Schönheit war nun einmal ein zentraler Faktor in der höfischen Gesellschaft,79 der die Position einer Person, ihren „Kurswert“, wie Norbert Elias formulierte,80 mitbestimmte. Auch bei Elisabeth Charlotte stehen Schilderungen über das Äußere meist am Anfang der Personen-Porträts, die sie in ihren Briefen nicht selten anfertigte. Dabei thematisierte sie das Aussehen meist noch vor Bewertungen des Gemüts, also der Persönlichkeit,81 die sie an anderer Stelle für so entscheidend gehalten hatte. Selbst die Wirkung von Schönheitspraktiken wie dem ihr eigentlich verhassten Schminken hielt Elisabeth Charlotte in ihren Briefen fest, wenn sie schrieb, der gelbliche Teint der verwitweten englischen Königin Maria Beatrix trete nun, da sie daß rott quittirt habe, noch stärker zum Vorschein.82 Diese ambivalente Haltung gegenüber Schönheit83 zeigt sich auch darin, dass Elisabeth Charlotte bei der Pockenerkrankung ihrer Tochter nichts unversucht ließ, die unschönen Narben zu verhindern. Bereits 1698 hatte sie vorsorglich ein Rezept auf Französisch für ein spezielles Öl bei ihren Halbschwestern Amalie Elisabeth und Luise angefordert, die die Blattern gerade hinter sich hatten.84 Auch bei Frau von Harling erkundigte sie sich nach einem Rezept für eine pomade vor die leÿdige blattern. Als ihre Tochter Ende des Jahres 1699 tatsächlich an den Pocken erkranken sollte, wachte Elisabeth Charlotte genauestens darüber, dass sie sich nicht kratzte und behandelte ihre Haut mit kaltgepresstem Pinienöl, nach dem Rezept ihrer Halbschwestern. Dankbar schrieb sie im Januar 1700: 77 78 79

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Vgl. Sophie an Luise, Herrenhausen, 14./24.11.1697, in: BODEMANN (Hg.), BK, 176, S. 169. Vgl. dazu BROOKS, Images, S. 30. Vgl. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 106, 111 u. 117; JONES, Sexing, S. 36–37; Peter BROCKMEIER, Vom verliebten Haß über den erquickenden Verdruß zum schmerzlichsten Genuß. Weibliche Schönheit in Texten von Dante bis de Sade, in: Theo STEMMLER (Hg.), Schöne Frauen – Schöne Männer. Literarische Schönheitsbeschreibungen. 2. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Literatur des Mittelalters, Mannheim 1988, S. 199–229, hier 208–209. Dies zeigt nachdrücklich auch die höfische Literatur des Mittelalters, s. etwa Ingrid KASTEN, Häßliche Frauenfiguren in der Literatur des Mittelalters, in: Bea LUNDT (Hg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, S. 255–276, bes. 256–257. Vgl. ELIAS, Höfische Gesellschaft, S. 172–174. Zur Bedeutung von Schönheit im höfischen Umfeld des 17. Jhd.s s. auch VIGARELLO, Histoire, S. 60–61. Vgl. dazu in der Gesamtheit die Anekdoten aus den Briefen an Caroline von Wales. An Luise, St. Cloud, 29.5.1718, HO, 3, 919, S. 274–275. Prinzessin v. Modena, Witwe James‘ II. In Bezug auf Kleidung zeigt dies eindrücklich JONES, Sexing, S. 49. Vgl. An Luise, St. Cloud, 10.5.1698, HO, 1, 59, S. 104: Ich habe Amelisse letztmahl gebetten, mir doch daß recept auff frantzösch zu schicken, im fall, da gott für seye meine dochter dieße leidige kranckheit, so sie noch nicht gehabt, bekommen solte, daß ich ihr es auch brauchen mögte. Ich kan nicht begreiffen, waß benjole ist, wovon daß öhl gezogen wirdt.

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Ich habe es Eüch zu dancken, daß meine dochter keine mahler bekommen, den ich habe Ewer rezept mitt dem pinonohl ahn sie versucht, welches gar woll gerahten, dancke Eüch von hertzen davor.85

Pinienöl, ein Destillat aus Wasser, Alkohol sowie den Zapfen und Nadeln der Pinie, wurde in der zeitgenössischen Kosmetik gegen Falten und Hautunebenheiten eingesetzt. Das enthaltene ätherische Öl aus der Pinie sorgte wohl zumindest für ein subjektives Glättungsempfinden.86 Dass die Haut ihrer Tochter so ebenmäßig geblieben war, sah Elisabeth Charlotte als besonders wichtig an, denn daß ist, waß sie ahm besten im gantzen gesicht hatt. Da ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt bereits etwa seit zwei Jahren vermählt war, kann es Elisabeth Charlotte nicht darum gegangen sein, deren Heiratschancen zu wahren. 87 Dass sie aber dennoch die Ehe mit Herzog Leopold Joseph von Lothringen88 im Blick hatte, zeigt der zufriedene Kommentar: Mein dochter ist wider frisch undt gesundt bey ihrem herrn zu Nancie undt die lieb auff beyden seytten größer als nie. 89 Schönheit als zentrales Element idealhafter Weiblichkeit war also offenbar auch aus Elisabeth Charlottes Sicht wesentlich für das Gelingen einer adeligen Ehe. Im Zusammenspiel mit einer legitimen Abkunft vermochte Schönheit als „gleichsam magische[s] Zeichen“ die „soziale Sonderstellung“ des Adels am Körper zur Anschauung zu bringen und die Tugend einer Frau zu ‚adeln‘.90 Zumindest an ihrer Tochter galt es für Elisabeth Charlotte, diese Möglichkeit zur Vervollkommnung der Person und ihrer Möglichkeiten in sozialen Beziehungen zu wahren.

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An Luise, Versailles, 12.1.1700, HO, 1, 101, S. 185. Vgl. auch An A. K. v. Harling, Paris, 13.12.1699, H, 162, S. 294: Wir haben daß pignon öhl vor meine dochter gebraucht – so man ohne fewer zigt, welches ihr so woll bekommen – daß man ihr nicht mehr ansicht – daß sie die blattern gehabt hatt. Vgl. SIMON, Präparate, S. 166. Status und Schönheit spielten bei Heiratsentscheidungen wohl durchaus zusammen. Vgl. dazu etwa auch die Schilderungen Wilhelmines von Bayreuth in ihren Memoiren bei Ingeborg KELLERMANN (Hg.), Eine preußische Königstochter. Glanz und Elend am Hofe des Soldatenkönigs in den Memoiren der Markgräfin WILHELMINE VON BAYREUTH, Frankfurt a.M. 1990, S. 141 zu ihrer Blatternerkrankung 1729. Ähnliche Argumentationen finden sich allerdings auch bei Blatternkranken aus der Unterschicht vgl. WOLFF, Maßnahmen, S. 260. Die Hochzeit fand am 13.10.1698 statt. An Amalie Elisabeth, Marly, 21.1.1700, HO, 1, 102, S. 186: Nichts, als ewer recept, habe ich meiner dochter gebraucht zu ihren blattern; es hatt, gott lob, sehr woll geglückt, mein dochter behelt keine eintzige narve. Ich bin Eüch woll recht verobligirt, mir daß recept geschickt zu haben. Meiner dochter haut ist eben, wie sie vor, undt daß ist, waß sie ahm besten im gantzen gesicht hatt. Es scheindt nicht ahn madame Brun ihr haut, daß sie jemahlen die kinderblattern gehabt hette; diß ohl muß sie auch salvirt haben. Ich war immer bey meiner dochter nacht undt tag, hatt sich also nicht kratzen dorffen. Mein dochter ist wider frisch undt gesundt bey ihrem herrn zu Nancie undt die lieb auff beyden seytten größer als nie. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 114 u. 118: „Und schließlich manifestierte sich die Schönheit einer Frau nur, wenn sie eingegrenzt wurde durch eine sehr enge Definition von Weiblichkeit (…)“; KROLL, Heerführerin, S. 61; GIESKE, Schönheit, S. 102, der zufolge das in der Aufklärung konzipierte bürgerliche Schönheitsideal nur im Zusammenspiel von äußerlicher und innerlicher Schönheit, d.h. Tugend erreicht werden konnte. Vgl. auch SNOOK, Women, S. 60–61; JONES, Sexing, S. 36–37; Hannelore SCHLAFFER, Schönheit. Über Sitten und Unsitten unserer Zeit, München 1996, S. 12; zum Aspekt der Verkörperung von Status in der Körpersoziologie DEGELE, Sich schön machen, S. 14–16.

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Am Beispiel ihrer Einstellungen zu Schönheit und ihrem Schönheitshandeln lässt sich beobachten, wie Elisabeth Charlotte mit konkurrierenden normativen Anforderungen an die Position einer adeligen Frau umging. In gleichem Maße stark, gesund, tapfer und tugendhaft wie schön und anziehend zu sein, erforderte einen Drahtseilakt in praxi, der Elisabeth Charlotte freilich deutlich schwerer fiel als den Protagonistinnen der französischen Romane des 17. Jahrhunderts, die zwar stark und kämpferisch waren, aber so schöne Haut hatten, als würden sie in einem Palast leben.91 Ihre beharrlichen brieflichen Bezugnahmen auf die eigene innerliche Schönheit waren offenbar ihr Weg, um einen empfundenen Mangel an äußerlicher Schönheit zu verarbeiten und sich den normativen Anforderungen an das Ideal einer adeligen Frau, von dem sie sich mit ihrer Bewegungspraxis deutlich entfernt hatte, wieder anzunähern.

2. daß greüliche fett schmeltzen:92 Praktiken der Körperformung Obwohl die Briefe Elisabeth Charlottes ihre Protagonistin in zahllosen Facetten zeigen, hat sich in der kulturellen Erinnerung vor allem ein Bild festgesetzt – das der „kräftige[n] gesunde[n] Matrone im Hermelinmantel“, wie die Gertrude Aretz das berühmte vom Hofmaler Hyacinthe Rigaud angefertigte Porträt Elisabeth Charlottes in ihrer Biographie 1921 verbalisierte.93 Die Korrespondenz Elisabeth Charlottes bietet aber weitaus mehr als derart statische Perspektiven auf die Zusammenhänge von Körper und Selbst. Sie erlaubt vielmehr zu beobachten, wie eine frühneuzeitliche Akteurin über einen längeren Zeitraum hinweg ihren Körper zu formen und dabei eigenen und fremden Erwartungen zu entsprechen versucht. Der körperliche Leib wird dabei zum Handlungsträger, der in seiner Widerspenstigkeit immer neue Handlungen provoziert, die an ihm vorgenommen werden. Als Initialzündung körperlicher Veränderungen machte Elisabeth Charlotte einmal mehr ihre Pockenerkrankung verantwortlich,94 die nicht allein un étrange visage 95 oder eine von Narben brodirte Nase96 bewirkt habe, sondern an ihrem ständig zunehmen91

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SCHLUMBOHM, Typus, S. 81 mit Bezug auf Maurice MAGENDIE, Le Roman français au XVIIe siècle. De l’„Astrée“ au „Grand Cyrus“, Paris 1932, S. 240. Vgl. KROLL, Heerführerin, S. 55; HAMMERTUGENDHAT u.a., Geschlecht, S. 412. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 8.9.1694, H, 108, S. 225. ARETZ, Liselotte, S. 237 u. 179. Zum Porträt vgl. PAAS, „bärenkatzenaffengesicht“, S. 90–93 u. 245. Vgl. zum Ablauf der Krankheit 2.IV.1. Vgl. etwa An Mme de Ludres, Colombes, 17.8.1693, VdC, Lf, 88, S. 118: je vous ferais grand-peur, car ma petite vérole m‘a laissé un étrange visage. Mais j’espère que quand vous reviendrez que je serai un peu moins effroyable que présentement. Vgl. im Unterschied dazu die Bekundungen gegenüber ihrer Tante Sophie, Colombes, 23.8.1693, NLA-HStAH, IV, 89r: alle die mich sehen sagen daß ich nicht verendert bin, undt wen die rötte einmahl weg wirdt sein werde ich sein wie ich zu vor war geßlich genung, aber nicht von den blattern verdorben, die blattern seindt nun abgefahlen undt werde ich gar wenig mähler undt narben haben. Versailles, 26.11.1693, ebd., IV, 119r–199v, vgl. B, 1, 175, S. 189: die blattern haben mich sehr marquirt, aber doch im geringsten nicht geendert welches jederman wunder nimbt; je älter ich werde je heßlicher muß ich woll werden, aber mein humor und gemühte konnen nicht mehr ändern undt insonderheit der respect undt attachement so ich vor E.L. habe daß wirdt wehren biß ahn mein endt. Vgl. allg. WILLIAMS, Angel, S. 22 u. 34; HERZLICH u. PIERRET, Kranke, S. 103. An Luise, Port Royal, 22.8.1698, HO, 1, 65, S. 113: mein nasse ist ebenso scheff alß sie geweßen, aber durch die kinderblattern sehr brodirt. Frz. broder = sticken, ausschmücken.

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den Körperumfang schuld sei.97 Aus der Retrospektive datierte sie den Beginn dieser körperlichen Veränderungen mit einiger Genauigkeit, wenn sie etwa ihrer Halbschwester Amalie Elisabeth im Mai 1701 riet, sich nicht in Sicherheit zu wähnen: Ich bin erst nach 41 jahr fett worden; also mögte es Eüch auch noch woll geschehen, liebe Amelisse!98 Die Taille monstreux, dicke breitte axseln, einen abscheülichen dicken hindern undt hüfften undt bauch, gar keine brüste – so sei sie nach den kinderblattern (...) in kurtzer zeit geworden, so schrieb Elisabeth Charlotte an Sophie im März 1700.99 Das einschneidende Krankheitserlebnis fiel damit mit dem Beginn dauerhafter Unregelmäßigkeiten der Menstruation wenige Monate später zusammen,100 die von ersten Altersempfindungen begleitet waren.101 In den Briefen aus der folgenden Zeit dokumentierte Elisabeth Charlotte ihr Aussehen und ihre Körperfülle genauestens102 – eine intensive Körperbeobachtung und -registrierung, wie sie in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen nicht selten zu finden ist. Das berühmte ‚Trachtenbuch‘ des Matthäus Schwarz (1497–1574) etwa, das Elisabeth Charlotte auch selbst besaß, könnte ihr diesbezüglich als Vorbild gedient haben.103 Denn wie die Herzogin hatte auch der Augsburger Bürger die Veränderung seines Körperumfangs peinlich genau datiert, wenn er seine Aktdarstellung im Alter von 29 1/3 Jahren und 8 Tagen104 kommentierte: Primo Julius 1526 war das mein rechte gestalt hinderwertlingen, dar ich ward feist und dick worden.105 97

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Vgl. BROOKS, Images, S. 177–178; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 395–396; FUNCK-BRENTANO, Liselotte, S. 151. An Amalie Elisabeth, Port Royal, 15.5.1701, HO, 1, 132, S. 228. Vgl. An Luise, St. Cloud, 4.8.1694, HO, 6, N, 21, S. 519: Ich bin nun auff wenigst so dicke, wie die jungfer Colb war, undt daß springen undt lust ist mir sehr vergangen hir im landt, lache offt in einem mont nicht einmahl. An Sophie, Versailles, 28.3.1700, NLA-HStAH, X,1, 225v, vgl. B, 1, 409, S. 397 [sic! Datum]. E. Ch. interpretierte diese Unregelmäßigkeiten als Beginn der Menopause. Vgl. An A. K. v. Harling, Paris, 27.3.1694 u. 21.4.1694, H, 106, S. 221–222 u. 107, S. 222–223: Ich hoffe daß mein miltz mich hinfüro wordt mehr in ruhen laßen alß bisher geschehen – den jungfer Catrin hatt sich eben wider beÿ mir ahngemelt – wie ich ewern brieff entpfangen habe undt also 3 gantze monat außgeweßen; (…) Weillen sie aber so unrigtig in ihrem gang wirdt – glaube Ich – daß sie mir baldt gantz den abschidt geben wirdt. Vgl. auch An Sophie, Paris, 9.5.1694, NLA-HStAH, V, 14r; An A. K. v. Harling,Versailles, 8.4.1696, H, 126, S. 244; An Étienne, Marly, 29.11.1702, VdC, Lf, 179, S. 237. Hier schreibt E. Ch., es sei fünf Jahre her, dass sie zuletzt die Menstruation (quelque chose) hatte. Vgl. An A. K. v. Harling, Versailles, 16.12.1693, H, 103, S. 217: Ich fange doch woll schon ahn zu fühlen – daß ich alt werde, undt nicht mehr so viel kräfften undt stärcke habe, alß ich in meinen jungen jahren hatte. Ich werde auch woll morgen oder übermorgen groß[-]mutter sein, den meines sohnes gemahlin kompt jetzt in kindt nöhten. S. auch An Étienne Polier, Marly, 29.11.1702, VdC, Lf, 179, S. 237. Zu frühneuzeitlichen Alterswahrnehmungen s. etwa Lynn A. BOTELHO, Das 17. Jahrhundert. Erfüllter Lebensabend – Wege aus der Isolation, in: Pat THANE (Hg.), Das Alter. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2005, S. 113– 174, hier 113–117, die feststellt, es habe im 17. Jhd., ähnlich wie heute, eine individuelle Altersgrenze gegeben, die sich nach dem eigenen Gefühl und dem Äußeren richtete. In den Oberschichten habe diese meist zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr gelegen. Vgl. u.a. in Bezug auf E. Ch. LABOUVIE, Körper, S. 176–178. An Sophie, Versailles 29.10.1711, Marly, NLA-HStAH, XXI,2, 852r, vgl. B, 2, 774, S. 293. Vgl. auch August FINK, (Hg.), Die Schwarzschen Trachtenbücher, Berlin 1963, S. 9–10. S. auch das Faksimile zur Ausgabe aus der Pariser Bibliothèque Nationale, die E. Ch. selbst gehörte, Philippe BRAUNSTEIN (Hg.), Un banquier mis a nu. Autobiographie de Matthäus Schwarz Bourgeois d’Augsbourg, Paris 1992. Vgl. Valentin GROEBNER, Die Kleider des Körpers des Kaufmanns. Zum „Trachtenbuch“ eines Augsburger Bürgers im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1998), S. 323–

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Dieses genaue Verfolgen des Dickwerdens in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen verwundert, galt eine korpulente Körperform in Mittelalter und Früher Neuzeit doch als Zeichen von Gesundheit und Wohlergehen und damit auch der Standeszugehörigkeit einer Person.106 Die angesprochenen Konnotationen von Dicksein und Gesundheit finden sich des Öfteren auch in Elisabeth Charlottes Briefen. So berichtete sie sichtlich zufrieden etwa im Januar 1698 ihrer Tante, dass ihre noch nicht ganz zweijährige Enkelin Marie Luise Élisabeth nun allein laufen könne und starck undt fett sei.107 Und auch als Sophie selbst 1704 an Körperumfang zunahm, beruhigte sie dieses zeichen, daß alles noch woll stehet. 108 Doch nicht nur bei Babys, Kleinkindern oder älteren Personen finden sich die angesprochenen positiven Deutungen des Dickseins – auch etwa der 27-jährige Duc de Berry schien Elisabeth Charlotte so dick, fett undt gesundt, alß wen er hundert jahr leben sollte, dass sein plötzlicher Tod sie voller Verwunderung zurückließ.109 Selbst ihre eigene Körperfülle beschrieb sie beizeiten als Ausdruck besonders guter Gesundheit, etwa wenn sie im Mai 1697 schrieb: Meine gesundtheit ist nun nur gar zu perfect; ich werde so dick wie ein kügelreütter undt gar keine menschliche Figur schir mehr.110 Hinter einer solchen positiven Sichtweise stand die ungeheure Furcht vor auszehrenden und nicht selten tödlich endenden Krankheiten, bei denen eine gewisse Korpulenz einen überlebenswichtigen Vorteil darstellen konnte.111 Im Juli 1701 diskutierten Elisabeth Charlotte und ihre Tante jedoch ihre vermehrten Zweifel an dieser tradierten Vorstellung. Da auch eine längere Krankheit sie nicht magerer gemacht habe, zeigte Elisabeth Charlotte sich so woll alß E.L. (Sophie) persu-

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358, hier 329–331. Schwarz intendierte damit, sich im Alter von 30 bzw. 33 Jahren zu zeigen, also dem Alter Jesu bei seinem Tod und seiner Auferstehung. Vgl. Gabriele MENTGES, Fashion, Time and the Consumption of a Renaissance Man in Germany: The Costume Book of Matthäus Schwarz of Augsburg, 1496–1564, in: Gender & History 14,3 (2002), S. 382–402, hier 399 u. Konsum und Zeit. Zur Archäologie des Modejournals am Beispiel des Trachtenbuchs von Matthäus Schwarz, in: Angela BORCHERT u. Ralf DRESSEL (Hg.), Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800, Heidelberg 2004, S. 57–71, hier 68–71; GROEBNER, Kleider, S. 339, 341 u. 354–355. Die genaue Registrierung des Selbst und des Körpers ist eng mit Vorstellungen kaufmännischer Musterbuchhaltung verbunden, die Schwarz an anderer Stelle schriftlich abgefasst hatte. Vgl. im Gegensatz hierzu die Momente eines körperbezogenen Kontrollverlustes hervorhebend RUBLACK, Dressing up, S. 37–39, 60 u. 77. Schwarz hatte auf einer anderen Abbildung anlässlich der Hochzeit seines Bruders zwar bereits angedeutet, er beginne korpulenter zu werden, gibt diese prozesshafte Sicht jedoch in der Aktdarstellung auf. Vgl. BRAUNSTEIN (Hg.), Banquier, S. 55. Vgl. NAHOUM-GRAPPE, Frau, S. 71. An Sophie, Versailles, 30.1.1698, NLA-HStAH, VIII,1, 56v, vgl. B, 1, 327, S. 321. An Luise, Marly, 13.12.1704, HO, 1, 222, S. 364. Ebd., 10.5.1714, HO, 2, 647, S. 392. An Luise, St. Cloud, 15.5.1697, HO, 1, 49, S. 86. Vgl. etwa An Amalie Elisabeth, Versailles, 17.8.1703, HO, 1, 195, S. 328; An Luise, Versailles, 25.6.1707, HO, 2, 366, S. 27: Chasteauneuff wirdt Eüch sagen, wie er mich in gutter gesundtheit dick und vett verlaßen hatt. BROOKS, Images, S. 25. Vgl. etwa An Sophie, St. Cloud, 10.10.1673, NLA-HStAH, I, 9v–10r, vgl. B, 1, 4, S. 3: den mein kleiner ist von fett so dick gottlob, daß ich förchte daß er balt so dick alß lang wirdt sein, dißes aber förchte ich doch noch nicht so sehr, alß daß er nur gar zu viel abfallen undt mager wirdt werden, wan er nun balt seine zäne bekompt. Versailles, 21.4.1709, ebd., XIX,1, 274r–274v, vgl. B, 2, 688, S. 207: daß abnehmen ist beÿ den Königinnen die mode, die arme Königin in Engellandt hatt gantz die consomption ich fürchte sehr sie wirdt nicht lang mehr [leben].

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adirt, dass ihr fett kein recht gutt fett ist.112 Im Sommer des nächsten Jahres führte sie diese Überlegungen in einem Brief an Luise fort: Seyder ich aus der Pfaltz weg, ist mir der apetit gantz vergangen; ich habe nicht vier mahl des jahrs hunger, undt waß gar rar ist, ist, daß, da ich viel aß undt 3 mahl oder gar vier mahl deß tags aß, da war ich mager wie ein stück holtz, undt nun, da ich gar wenig undt nur zwey mahl deß tags eße, bin ich so fett, daß ich mich nicht zu behelffen weiß. Das macht mich glauben, daß es kein recht gesundt fett ist. Waß auch noch gar wunderlich ist, ist, daß, ob ich schon das fieber starck gehabt habe, zur ader gelaßen, purgirt, so nehme ich doch nicht ab undt werde nicht mager davon.113

Fettansammlungen am Körper, denen mit einem strengen Ernährungsregime und Bewegung nicht ‚beizukommen‘ war und die sich selbst in schweren Krankheitsphasen nicht reduzierten, stellte Elisabeth Charlotte also unter den Verdacht, ungesund zu sein. Als es im Winter der Jahre 1711/1712 mit ihrem Wohlbefinden nicht zum Besten bestellt war, spekulierte sie erneut über mögliche Zusammenhänge von Körperfülle und Gesundheit. Während ihre Ärzte ihre anhaltende Schläfrigkeit für gefährlich hielten, zeigte sie selbst sich im Dezember 1712 überzeugt, diese könne kaum als Anzeichen einer schweren Krankheit gelten, schließlich sei sie nach wie vor doch dick und fett.114 Nur wenige Wochen später jedoch hatte sie ihre Meinung geändert und schrieb die Beschwerden ihrem alter undt dicke zu.115 Binnen weniger Wochen also interpretierte Elisabeth Charlotte die Körperfülle einerseits als Zeichen von Gesundheit, anderseits als mögliche Ursache ihrer gesundheitlichen Beschwerden. Im Sommer 1715 formulierte sie bereits weitaus plakativer: fette leütte seien nicht gesunder, alß magere.116 Damit brach sie mit der tradierten Konnotation von Korpulenz mit Gesundheit. Ihre brieflichen Aussagen der nächsten Jahre zeigen sogar eine Umwertung des Zusammenhangs, schrieb Elisabeth Charlotte doch im Juni 1719 überzeugt, Dicksein könne gefährliche Krankheiten begünstigen und so mitunter drastische Auswirkungen auf die Lebenserwartung entfalten. So meinte sie, als der schlag ihre 85-jährige Tante Luise Hollandine, die Äbtissin von Maubisson, ereilte: Daß solte mir eher geschehen können; alß ahn I.L. s., indem sie so dur war wie ein scheydt holtz, ich aber dick undt fett.117 Elisabeth Charlotte hatte sich dabei offenbar von den Auffassungen in ihrem Umfeld überzeugen lassen, denn schon 1712 hatte sie ihrer Halbschwester Luise gegenüber mehrfach verlauten lassen: Man fürcht wegen meiner dicken corpolentz den schlag vor mir.118 Die sorgenvollen Gedanken Elisabeth Charlottes und ihres Umfeldes entsprachen durchaus den medikalen Vorstellungen der Zeit. Wie neuere Forschungsergebnisse zeigen, wurden Zusammenhänge von Adipositas und Krankheitsentstehung, insbesondere 112 113 114

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Vgl. An Sophie, Marly, 28.7.1701, NLA-HstAH, XI,1, 340r. An Luise, Marly, 19.7.1702, HO, 1, 176, S. 298. An Luise, Versailles, 12.12.1711, HO, 2, 537, S. 264: Ich bin doch dick undt fett, sehe nicht übel auß, fühle keine schmertz[en], habe gutten apetit, nur daß ich allezeit ein wenig schläfferig bin undt überall einschlaffe, welches man vor gar gefährlich hir helt. Ebd., 14.1.1712, HO, 2, 539, S. 267. An Luise, Marly, 2.7.1715, HO, 2, 714, S. 583–584; s. Paris, 21.2.1722, HO, 6, 1305, S. 332: Aber große, dicke undt starcke leütte leben nicht lenger, alß andere, welches wir ahn die arme fürstin von Ragotzi verwichen mitwog gesehen. An Luise, St. Cloud, 25.6.1719, HO, 4, 1030, S. 158. An Luise, Marly 17.11.1712, HO, 2, 565, S. 295; vgl. Versailles, 14.1.1712, HO, 2, 539, S. 267–268.

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in Bezug auf Schlaganfälle, Asthma und Fiebererkrankungen, in medizinischen Lehrbüchern und Dissertationen der Frühen Neuzeit intensiv diskutiert.119 Dabei konnten die Autoren sich auf antike und mittelalterliche Autoritäten wie Hippokrates, Aristoteles sowie Galen und Avicenna (980–1037 n. Chr.) stützen. Auf der Grundlage der Briefe Elisabeth Charlottes lässt sich anfügen, dass sich dieses Körperwissen auch in konkreten leiblichen Wahrnehmungen, Empfindungen und Ängsten der adeligen Elite niederschlug. Insbesondere Elisabeth Charlottes Briefpartnerin Luise scheint Dickleibigkeit mit verschiedenen körperlichen und gesundheitlichen Beschwerden in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht zu haben. In Übereinstimmung mit zeitgenössischen medikalen Auffassungen glaubte sie offenbar, Fettleibigkeit führe zur Entstehung und Ausbreitung krankmachender Säfte im Körper. Dicke Menschen mussten sich folgerichtig weitaus öfter entleerenden Therapieverfahren unterziehen, um ihre Gesundheit zu erhalten. Deshalb vermutete Luise, die Ärzte würden die alternde Elisabeth Charlotte vor allem wegen der gesundheitsschädigenden Auswirkungen ihrer Körperfülle häufiger purgieren als früher. Elisabeth Charlotte stellte aus ihrer Sicht allerdings richtig, diese Behandlung erfolge nicht primär wegen ihrer fettigkeit, sondern vielmehr, weil sie die gewohnten starken Exerzitien mit zunehmendem Alter nicht mehr ausüben könne.120 Auch in einem Brief vom November 1717 hatte sich Luise über die negativen Konsequenzen von Dickleibigkeit geäußert. Hier kam sie zu dem Schluss, die Kinderlosigkeit ihrer bereits verstorbenen Schwägerin, der pfälzischen Kurfürstin und dänisch-norwegischen Prinzessin Wilhelmine Ernestine (1650–1706), die das Ende des Hauses Pfalz-Simmern bedeutet hatte, sei auf deren Korpulenz zurückzuführen gewesen. Obwohl solche Vermutungen im zeitgenössischen medizinischen Denken durchaus eine Entsprechung finden,121 widersprach Elisabeth Charlotte in diesem Punkt der Deutung ihrer Halbschwester: Dick-sein verhindert daß kinderkriegen nicht, madame d’Armagnac undt die duchesse de Villeroy wahren beyde dicker, alß meines bruders gemahlin geweßen, undt haben doch viel kinder bekommen.122

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Vgl. Michael STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘. Fat and obesity in early modern medicine (c. 1500–1750), in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences (2011), online seit 15.11.2011 doi; 10.1016/j.shpsc.2011.10.029, S. 1–9, hier 3; auch Tilmann HABERMAS, Heißhunger. Historische Bedingungen der Bulimia Nervosa, Frankfurt a.M. 1990, S. 75; Christoph KLOTTER, Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem. Zur Geschichtlichkeit des Übergewichts, Heidelberg 1990, S. 53–54 u. Mächtiges Fressen. Adipositas als historisches Dispositiv, in: Alexander SCHULLER u. Jutta Anna KLEBER (Hg.),Verschlemmte Welten. Essen und Trinken historisch-anthropologisch, Göttingen, Zürich 1994, S. 132–149, hier 138. An Luise, St. Cloud, 18.7.1720, HO, 5, 1139, S. 204: Es ist nicht wegen meiner fettigkeit, daß man mir braucht, sondern weillen ich ahn ein gar starck exercitzien zu thun gewohnt bin undt diß nicht mehr leyder thun kan, sagt [man], ich müsse viel humoren samblen, so mich endtlich kranck machen würden, wen ich zu zeitten den sack nicht außlehre. S. im Gegensatz dazu An Luise, St. Cloud, 23.11.1720, HO, 5, 1177, S. 340: Man hatt daß purgiren von nöhten, wen man alt wirdt, dick ist undt gar kein exercitzien mehr thun kan. Dieße ursach hat mich allein consentiren machen, die medecinen zu nehmen; sonsten hette ich mich mein leben nicht dazu resolviren können. S. auch 4.II.4. So in der Tradition Avicennas etwa bei Nicolaus Falcuccio (1410/1411). Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 3. An Luise, St. Cloud, 7.11.1717, HO, 3, 862, S. 120; s. ebenso Paris, 14.3.1720, HO, 5, 1104, S. 80.

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Überzeugt zeigten sich hingegen beide Halbschwestern von der Vorstellung, Fett könne sich im Körper äquivalent zu anderen Flüssigkeiten frei bewegen, ausbreiten und somit zur Gefahr für Leib und Leben werden. Elisabeth Charlotte schreckte beispielsweise zu Beginn des Jahres 1706 vor der Anwendung von ‚Nürnberger Pflastern‘ am Fuß zurück, weil sie fürchtete, ihr Körperfett könne sich durch das Zugpflaster im Körper verteilen und Schaden anrichten.123 In den Sommermonaten 1719 besprachen Elisabeth Charlotte und Luise gar den wunderliche[n] todt einer fraw, so von fett gestorben124 sei. Eine binnen kürzester Zeit abscheülich dick gewordene Flämin habe sich, so berichtete Elisabeth Charlotte, nach Paris begeben, um sich von dem bekannten Arzt Dr. Helvetius125 behandeln zu lassen, der ad hoc jedoch auch keinen Rat zu ihrem Zustand gewusst habe. Kurz nach der ärztlichen Visite sei die Frau verstorben. Erst die Obduktion habe Klarheit über den mysteriösen Todesfall gebracht. Man habe gefunden, daß ihr daß fett im leib ahngangen undt geschmolzen ist, so sie erstickt hatt.126 Elisabeth Charlottes Annahmen über den Zusammenhang von Fettleibigkeit und Gesundheit veränderten sich also in ihrem Lebensverlauf nachdrücklich. Das tradierte Modell gerät ins Wanken – Dicksein wird nicht länger als Zeichen von Gesundheit angesehen, sondern im Umkehrschluss als Risikofaktor für die körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden thematisiert und empfunden. Bereits vor dieser Uminterpretation ist in den Briefen jedoch überdeutlich zu spüren, dass Elisabeth Charlotte ihre Körperfülle und damit ihr leibliches Selbst als unangenehm empfand. Schon im Juli 1694 hatte sie an ihre Tante Sophie geschrieben: Ich kan E.L. nicht genung sagen, wie leÿdt es mir ist, so greülich dick zu werden.127 Mehrfach äußerte sie daher in ihrer Korrespondenz, sie wünschte, dünnen Personen Fett abgeben zu können.128 Auch im Sommer 1715 wiederholte sie eindringlich, sie halte es für ein groß glück, wen man mager sein kan; fette leütte, wie ich bin, seindt in allem gar unbeholffen undt nicht gesunder, alß magere.129 Hier klingt an, dass sie vor allem die Unbeweglichkeit ihres korpulenten Körpers als störend empfand, ein Argument, das im medizinischen Diskurs der Zeit ebenfalls häufig zu fin123 124 125 126

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An Luise, Versailles, 31.1.1706, HO, 1, 291, S. 438. An Luise, St. Cloud, 4.6.1719 u. 2.7.1719, HO, 4, 1024, S. 136–137 u. HO, 6, N, 58, S. 574. Zu Jean Claude Adrien Helvétius vgl. Pierer’s Universallexikon, Bd. 8, Altenburg 1859, S. 228. An Luise, St. Cloud, 4.6.1719, HO, 4, S. 136–137: Es ist gestern eine fraw zu Paris todt in ihrem bett gefunden worden. Die ist ahn etwaß wunderliches gestorben; sie war in kurtzer zeit so abscheülich dick geworden, daß sie gemeint, sie were waßer-süchtig geworden, undt hatt viel dagegen gebraucht, so sie nur immer dicker gemacht. Derohalben ist sie auß Flandern herkommen, nach paris, will ich sagen, umb sich in deß hollandischen docktors Helvetius [behandlung] zu begeben, welcher ein gar gutter docktor ist undt von großer reputation. Vatter undt sohn seindt beyde docktoren undt gar geschickt undt gelehrt[e] leütte. Wie Helvetius zu ihr kam, erschrack er, ihre dicke zu sehen, sagte, er könnte ihr nichts ordonniren, er müste erst die kranckheit examiniren. Diß war Donnerstag abendst; freytag morgendts, wie er wider zu madame Doujat kompt, findt er sie todt. Abendts hatt man sie geöffnet undt funden, daß ihr daß fett im leib ahngangen undt geschmolzen ist, so sie erstickt hatt. Daß ist ein wunderlicher todt. An Sophie, St. Cloud, 8.7.1694, NLA-HStAH, V, 37v, vgl. B, 1, 183, S. 195. Vgl. An Luise, Marly, 16.10.1710, HO, 2, 495, S. 207 u. Versailles, 15.8.1715, HO, 2, 722, S. 611: Ich wolt, daß Ich Eüch, liebe Louisse, etliche gutt pfundt von dem fett, so ich zu viel habe, schicken könte, so were unß beyden geholffen; aber wünschen hilfft leyder zu nichts. An Amalie Elisabeth, Marly, 6.2.1699, HO, 1, 72, S. 123 u. 26.5.1707, HO, 2, 363, S. 26; An Sophie, Versailles, 21.4.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 274r– 274v, vgl. B, 2, 688, S. 207. An Luise, Marly, 2.7.1715, HO, 2, 714, S. 583–584. S. auch Versailles, 27.12.1710, HO, 2, 505, S. 223 u. Paris, 27.2.1721, HO, 6, 1205, S. 27.

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den ist.130 In den folgenden Jahren beklagte sie unzählige Male, wie sehr ihr dicker wanst sie am Spazieren hindere.131 Die in späteren Jahren veränderte Sichtweise auf die Zusammenhänge von Körperfülle und Gesundheit hat ihren Ursprung vermutlich in diesem negativen Körperempfinden. Für Elisabeth Charlotte gab es nichts Ungesünderes, als sich nicht zu bewegen,132 wie konnte ein voluminöser und bewegungsunfähiger Körper also als gesund gelten? Auch in den folgenden Jahren dokumentieren die Briefe ein gesteigertes Nachdenken sowohl über die Gründe der Zunahme als auch über Möglichkeiten zur Reduktion ihrer Körperfülle. Schon im Juli 1694 begab Elisabeth Charlotte sich in einem Brief an ihre Tante auf Ursachensuche: Ich kann nicht begreiffen wo von ich so fett werde niemandes in franckreich ist [ißt] weniger alß ich, ich schlaffe nicht viel keine 7 stundt ahn einem stück, ich gehe viel, lache gar wenig, kan also nicht begreiffen, waß mich so dick macht. Ich wolte lieber mager wie ein stock sein, alß wie ich bin.133

Erster Ansatzpunkt für die Begründung von Dickleibigkeit war also übermäßiges Essen und damit mangelnde Selbstkontrolle,134 denn das Halten des richtigen, d.h. gesunden Maßes beim Essen und Trinken war die zentrale diätetische Maxime in antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesundheitslehren.135 Auch in Elisabeth Charlottes Erziehung hatten Mäßigkeitsgebote eine wichtige Rolle gespielt. In den Erziehungsinstruktionen an die Hofmeister und Gouvernanten seiner Kinder hatte Kurfürst Karl Ludwig mehrfach darauf hingewiesen, dass alles überflüssige trinkhen und schlemmen durchauß zu meyden sei,136 wobei vor allem der Genuss von Fleisch nicht übertrieben werden dürfe.137 Das

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Etwa in den Schriften des dt. Arztes Daniel Sennert (1572–1637). Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 2–3. An Luise, Marly, 10.5.1710, HO, 2, 473, S. 177. Aus der Fülle der Belege s. An Sophie, St. Cloud, 8.7.1694, NLA-HStAH, V, 37v, vgl. B, 1, 183, S. 195; An Luise, Marly, 4.7.1698, HO, 1, 61, S. 107, Fontainebleau, 3.10.1701, 143, S. 245, Versailles, 17.4.1704, 208, S. 346, Marly, 25.4.1705, 243, S. 390: Mir ist nichts gesonders in der welt, alß die bewegung; bin aber ein wenig faul geworden; den es kost mühe, so einen dicken bauch zu schlepen, wie der meine ist. An Amalie Elisabeth, Versailles, 31.3.1706, HO, 1, 304, S. 453 u. BROOKS, Images, S. 177. Vgl. An Luise, Marly, 17.6.1706, HO, 1, 316, S. 466: Nichts ist ungesunder, alß nie zu gehen; davon werden die fraw von Rotzenhaussen undt ich hir nicht kranck werden; den wir spatziren alle abendt 5 viertelstundt. An Sophie, St. Cloud, 8.7.1694, NLA-HStAH, V, 37v, vgl. B, 1, 183, S. 195. Vgl. auch Versailles, 24.2.1695, ebd., V, 129r, vgl. B, 1, 196, S. 209; An Luise, Versailles, 17.6.1702, HO, 1, 172, S. 293– 294 u. BROOKS, Images, S. 177. Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 5. Vgl. ebd.; Leander PETZOLDT, Das Leben – ein Fest. Essen und Trinken in der Frühen Neuzeit, in: Richard VAN DÜLMEN (Hg.), Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder (Publikationen der Arbeitsstelle für historische Kulturforschung, Universität des Saarlandes, Buch zur Ausstellung Prometheus. Menschen. Bilder. Visionen), Köln, Wien, Weimar 1998, S. 175–195, hier 187–194; MERTA, Schlank, S. 125–127; Rolf SCHOTT (Hg.), Regimen Sanitatis Salernitanum. Die Kunst, sich gesund zu erhalten. Regimen Sanitatis Salernitanum. Deutsche Nachdichtung, Zürich, Stuttgart 1964, bes. S. 8. Instruktionen an den Erzieher des Kurprinzen Karl (Februar 1657 u. April 1657), in: WEECH, Erziehung, Nr. 4, S. 107, Nr. 5 u. 8 (Zit.), S. 110.

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Gesundheitsverhalten ihres Vaters (I.G. unßer herrn vatter s. sobrietet) betrachtete Elisabeth Charlotte selbst als idealhaftes und nachahmenswertes Beispiel.138 Anforderungen an Mäßigkeit waren dabei immer auch Anforderungen an adelige Tugend, so zeigen besonders eindrücklich die Memoiren von Elisabeth Charlottes Tante Sophie, in denen diese Kritik am Essverhalten der bereits erwähnten, in ihren Augen unstandesgemäßen Eléonore d’Olbreuse übte.139 Frau von Harburg, so Eléonores Titel nach der Heirat mit Sophies Schwager Georg Ludwig, soll bei einem Treffen mit der dänischen Königin in Altona zugegen gewesen sein. Dabei habe die dänische Königin Eléonore nur widerwillig – ohne den üblichen Kuss zur Begrüßung – empfangen und nicht mit ihr gemeinsam gespeist. Eléonore sei darüber „pikiert“ gewesen und habe, „um sich zu rächen“, über die „schlechte Bewirtung“ gespottet, die es an der Tafel der Königin gegeben habe.140 Dieses Verhalten Eléonores erklärte Sophie in ihren Memoiren mit Verweis auf Eléonores in ihren Augen geringe Abkunft: car elle avait des sentiments trop bas pour avoir pu pénétrer que les dieux en terre se nourrissent des choses plus relevées ques des ragouts, et qu’ils ne se servent de la viande que pour soutenir la vie.141

Ranghohe Adelige werden hier als Götter auf Erden (dieux en terre) betrachtet, denen fleischliche, somit weltliche Genüsse, symbolisiert durch die typisch französischen Ragouts,142 nicht alles bedeuten. In Sophies Memoiren wird selbst das untugendhafte Essverhalten der französischen Königin Marie-Thérèse kritisiert, die als spanische Infantin so standesgemäß wie nur irgend möglich war. Die im negativen Sinne weiblich besetzte Sorge um Aussehen und Schönheit wird im Verbund mit ausgiebigem Essen aber auch an ihrem Beispiel als Beweis niederer Ansichten dargestellt.143 Um derartigen Bewertungen zu entgehen, schilderte Elisabeth Charlotte ihrer Tante ihr diätetisch einwandfreies und diszipliniertes Verhalten so genau wie nur möglich und ließ sie an ihrer bisher ergebnislosen Suche nach den Ursachen ihrer Figurveränderung teilhaben. Obwohl sie in ihrem Alltagsregime durchaus diszipliniert sei, sich viel bewege, wenig esse und nicht zu viel schlafe – denn Schlaf galt im zeitgenössischen medizinischen Denken als effektivste Phase der Nahrungsassimiliation144 – werde sie immer di137

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Vgl. Instruktionen an die Gouvernante (1663), in: WEECH, Erziehung, Nr. 5, S. 114. Dies war auch ein Thema in der späteren Korrespondenz mit Polier, der diese Instruktionen als Stallmeister ja mit umsetzen musste. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 9.2.1707, VdC, Lf, 331, S. 333. Vgl. An Amalie Elisabeth, Paris, 13.11.1699, HO, 1, 99, S. 182. S. 3.II.2. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 115; TRAUSCHKE (Hg.), Memoiren, S. 103; VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 120–121. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 120–121; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 115: „Denn sie hatte zu niedrige Ansichten, um es verstehen zu können, daß die Götter dieser Erde sich von erhabeneren Dingen als von Ragouts nähren, und daß sie sich des Fleisches nur bedienen, um ihr Leben zu erhalten.“ S. 4.II.1. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 157–158: „Diese gute Königin verstand sich nicht auf Feinheiten; sie liebte es nur zu essen und sich zu putzen, darin fand sie ihre Befriedigung.” VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 155. Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 4.

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cker, schrieb eine sichtlich ratlose Elisabeth Charlotte im zitierten Brief vom Juli 1694. Im September desselben Jahres vertraute sie ihrer früheren Hofmeisterin allerdings an, sie sei gewillt, gegen ihre ungeliebten Körperformen anzukämpfen: morgen über 8 tag werden wir nach Fontainebleau – alwo ich viel jagen werde; Undt will ich versuchen – ob ich dadurch daß greüliche fett ein wenig werde schmeltzen können; Ich fürchte aber daß - weillen ich ordinari wen ich jag ja beßer es[se] undt schlaffe, so wirdt es noch ärger werden.145

Elisabeth Charlotte nutzte Bewegung demnach gezielt in der Hoffnung, überflüssiges Körperfett reduzieren zu können. In Übereinstimmung mit zeitgenössischen medizinischen Vorstellungen glaubte sie, dass flüssiges Fett durch Kälte bzw. ein kälteres Temperament zu fester Materie werde und im Umkehrschluss durch die bei körperlicher Betätigung entstehende Wärme zum Schmelzen gebracht und durch das Schwitzen ausgeführt werden könne.146 Sie war sich also durchaus bewusst, dass man den Körper mit Bewegung zur Wunschfigur hin formen und gestalten könne.147 Elisabeth Charlottes Äußerungen aus dem nächsten Jahr zeigen, wie sehr sie in ihren Handlungspraktiken zwischen Essenslust und familiären bzw. ihr zu eigen gewordenen Anforderungen an diszipliniertes Essverhalten einer adeligen Frau148 hin und her gerissen war. Im Februar 1695 berichtete sie Sophie, sie habe einen deutschen Koch angestellt, der ihr ihre deftigen Lieblingsspeisen zubereitete.149 Selbstkritisch bekannte sie jedoch, dies habe durchaus Anteil an ihrer Gewichtszunahme: Ich habe jetzt einen teütschen koch der richt mir auff recht gutt teütsch zu, daß macht mich ein wenig mehr eßen, ich glaube aber, daß dießes auch schuldt ist, daß ich diß jahr so dick undt fett geworden bin.150

Ihre Bemühungen, dem Dickerwerden mit Bewegung entgegenzuwirken, waren, wie sie schon befürchtet hatte, nicht von Erfolg gekrönt. Im Oktober 1695 schrieb sie: Seÿder ich hir bin [in Fontainebleau]151 thue ich nichts alß jagen undt bin leÿder noch ein daumen breit dicker worden, alß ich war, wie ich her kame.152

Körperliche Veränderungen kontrollierte Elisabeth Charlotte anscheinend mit einfachsten Methoden. Auch eine weitere Passage aus dem Jahr 1719 weist darauf hin, dass sie 145 146 147

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An A. K. v. Harling, St. Cloud, 8.9.1694, H, 108, S. 225. Vgl. BROOKS, Images, S. 177. Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 3–4. Vgl. GLEYSE, Gymnastik, S. 126; zur gesteigertenZurichtung des Körpers im 17. Jhd. allgemein VIGARELLO, Sain, S. 90. Vgl. die Kritik an mangelnder Selbstdisziplin bei ihrer Schwiegertochter und ihren Enkeln An Luise, St. Cloud, 13.5.1719, HO, 4, 1018, S. 115. Es ist kein wunder, daß mein[es] sohn[es] (...) gemahlin undt kinder große kranckheitten außstehen; sie seindt gar zu freßig, können sich nicht zwingen. Vgl. BROOKS, Images, S. 178. An Sophie, Versailles, 24.2.1695, NLA-HStAH, V, 129r–129v, vgl. B, 1, 196, S. 209. Vgl. Janine SOISSON u. Pierre SOISSONS, Versailles und die Königsschlösser der Île-de-France, Stuttgart 1983, S. 33–39 [ohne durchgehende Paginierung]. Schloss Fontainebleau lag inmitten des wildreichen Bière-Waldes und wurde bereits 1169 unter Ludwig VII. erstmals urkundlich erwähnt. Schon in dieser Zeit wurde es vornehmlich als Jagdschloss genutzt. An Sophie, Fontainebleau, 5.10.1695, NLA-HStAH, V, 261r, vgl. B, 1, 217, S. 225. Vgl. An Luise, Marly, 16.10.1710, HO, 2, 495, S. 207; BROOKS, Images, S. 178.

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Veränderungen ihrer Körperform per Fingermaß anhand älterer Kleidungsstücke überprüfte.153 Drastische Veränderungen der Figur wie in den letzten Monaten vor ihrem Tod stellte Elisabeth Charlotte ebenfalls an der Kleidung fest, etwa am Schößchen des Leibstücks154 oder an den benötigten Fischbein-Einsätzen.155 Diese Aussagen verwundern – hatte sich im Laufe der späten 1670er Jahre doch die manufakturelle Herstellung von Spiegeln in Frankreich etabliert,156 wodurch eine Selbstkontrolle der Figur erheblich vereinfacht wurde.157 Das wohl berühmteste Zeugnis des französischen Produktionserfolges war bekanntlichdie 1682 eingeweihte und 1684 endgültig fertiggestellte siebzehn großzügige Wandspiegel beinhaltende Galerie des Glaces im Versailler Schloss.158 Neben dem Spiegelsaal waren aber auch die anderen Räume des Schlosses, das die Hofgesellschaft seit 1682 dauerhaft bewohnte,159 mit Spiegeln ausgestattet worden.160 Zudem hatten sich am Hof sowohl kleinere Schminkspiegel als auch größere Tischspiegel für die Toilette bis etwa 1690 längst durchgesetzt. Elisabeth Charlotte hatte also in jedem Fall die Möglichkeit, ihre körperlichen Veränderungen durch einen Blick in den Spiegel zu kontrollieren.161 Vermutlich ist die Anwendung des Fingermaßes wohl eher auf eine Abneigung gegen die Selbstbetrachtung im Spiegel zurückzuführen. Wie sie 1704 an ihre Tante schrieb, habe sie aufgrund ihrer lebenslangen Hässlichkeit keinen lust nehmen können, ihr berenkatzenaffengesicht in spiegel zu betrachten.162 Gleiches 153

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Vgl. An Luise, Paris, 31.12.1719, HO, 4, 1083, S. 365: Paris schlegt mir weniger woll zu, alß nie. Ich bin seyder 3 wochen so mager geworden undt abgenohmen, daß es zu verwundern ist. Mein leibstück, daß ich vor 3 wochen getragen, ist mir vier finger breydt zu weitt geworden; daß ist aber kein wunder, den ich habe auff alle weiß außgestanden, seyder ich wider hir bin. Zur Figurkontrolle s. auch das Beispiel Matthäus Schwarz‘, der seinen Bauchumfang maß. Vgl. RUBLACK, Dressing up, S. 60, Fig. 35. Gewichtskontrolle mit Hilfe einer Waage spielte bis ins 19. Jhd. hinein kaum eine Rolle. Dickleibigkeit wurde auch nicht als ‚Übergewicht‘ betrachtet oder bezeichnet. Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 7. An Luise, St. Cloud, 17.9.1722, HO, 6, 1362, S. 464: auch habe ich erschrecklich abgenohmen seyder meiner unglücklichen aderläß, habe auch 4 basquen undt 6 fischbein abgenohmen. Vgl. DE JEAN, Essence, S. 177–178 u. 181–182. In den 1660er Jahren hatte die Republik Venedig das Monopol der Spiegel-Herstellung inne. Colbert errichtete im folgenden Jahrzehnt auch in Frankreich diesen Wirtschaftszweig. S. auch Guy WALTON, Louis XIV’s Versailles, Chicago 1986, S. 97 u. 190. Vgl. Claudia GOTTFRIED, „Spieglein, Spieglein an der Wand...“ – kontrollierte Schönheit, in: Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Industriemuseum (Hg.), „Kleiderlust und Körperfrust – die Suche nach der Traumfigur“. Begleitbuch in sechs Bänden zur Verbundsausstellung „Geschmackssachen – Kulinarisches in sechs Gängen“, Bd. 6, S. 30, die für Dtl. festhält, dass großflächige Wandspiegel im Allgemeinen erst um 1900 aufkamen. Vgl. SOISSON u. SOISSONS, Versailles, S. 26 [ohne durchgehende Paginierung]; WALTON, Versailles, S. 25. Die Spiegel waren in der frz. ‚Manufacture Royale des Glaces de Miroir’ in Faubourg SaintAntoine gefertigt worden. DE JEAN, Essence, S. 187–188 u. 191–194. Vgl. WALTON, Versailles, S. 14; DE JEAN, Essence, S. 187. Vgl. ebd., S. 190; ebd., S. 180 u. 194–197. Ihren Briefen zufolge hielt E. Ch. sich am 3. September 1695 zuletzt in Versailles auf. Nach Aufenthalten in Saint-Cloud, Port-Royal, Fontainebleau und Paris schrieb sie am 24. November 1695 den nächsten Brief aus Versailles. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 992. An Sophie, Versailles, 26.10.1704, NLA-HStAH, XIV, 410r, vgl. B, 2, 550, S. 91: es solte mir woll ahngestanden haben, nach meinem butz zu fragen, den ich bin ja all mein leben heßlich geweßen, drumb habe ich keinen lust nehmen können, mein beren katzen affen gesicht in spiegel zu betrachten, also kein wunder daß ich mich

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galt eventuell auch für die Figur und würde erklären, warum das Spiegelbild als Instanz der Figurkontrolle in den Briefen nicht erwähnt wird. Neben der Ursachensuche mit Blick auf den erwähnten Zusammenhang von Essund Schlafgewohnheiten sowie körperlicher Bewegung zog Elisabeth Charlotte auch psychische Aspekte in Betracht. In Briefen vom Mai 1697 sowie vom September 1702 glaubte sie den Grund für ihre Zunahme bei dem steten Kummer gefunden zu haben, der ihr Leben begleitete: Wen ihr wissen soltet, wie alles hir ist, sollte es Eüch gar kein wunder nehmen, daß ich nicht mehr lustig bin. Ein andere in meinem platz, so nicht auß dem grundt lustig geweßen were, würde vielleicht vor kummer lengst gestorben sein; ich aber werde nur dick undt fett darvon.163

Mit einer – wie ihre Biographin Arlette Lebigre formulierte – „erstaunlichen Intuition für psychosomatische Phänomene“ und einem bemerkenswerten Gespür für den eigenen Körper164 schlussfolgerte Elisabeth Charlotte, dass sie entgegen der Auffassung, Magerkeit sei der stetige Begleiter von Kummer und Seelenleid, dick werde, weil sie unglücklich sei. In diesem Zusammenhang erwähnte sie 1711 und 1718 das passende sprachliche Bild von den verdrießlichkeiten (...), die ich alle in mir eße.165 Auch in diesem Fall verabschiedete Elisabeth Charlotte die traditionelle Auffassung, Beleibtheit sei ein Indiz für persönliches Glücksempfinden. Hatte sie zunächst noch eine Erklärung im Rahmen dieser Vorstellung gesucht, indem sie meinte, die Abwechslung von Kummer und Trost bewirke, dass sie nicht mager werde,166 überlagerten sich auch hier zunehmend die Erklärungsmuster.167 Deutlich wird, dass Elisabeth Charlotte in einem lebenslangen Prozess die Geltung überkommener Denkmuster und Bedeutungszuschreibungen mehr als einmal an ihren eigenen seelischen und leiblichen Empfindungen prüfte und sich nicht nur bemühte, Erklärungen durch Erweiterung dieser Vorstellungen zu finden, sondern durchaus bereit war, diese vollkommen zu revidieren. Um zu erklären, warum das Dickerwerden einige Menschen eher betraf als andere, nutzte sie die vorhandenen konzeptionellen Wissensbestände als Ansatzpunkte: Sie dachte im diätetischen Bereich, wie gesehen, über die Faktoren Ernährung, Schlaf, (körperliche) Bewegung und seelische Affekte nach. Desgleichen bezog sie sich aber auch auf die frühneuzeitliche Temperamentenlehre. Im November 1709 debattierten Elisabeth Charlotte und Luise über den so gar stämmig[en] preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1688–1740), woraufhin Elisabeth Charlotte re-

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nicht offt betracht habe, aber jung undt schön sein undt nicht lust haben sich im spiegel zu sehen wie die princes von Ahnspach daß ist waß extraordinaries. Vgl. auch SIMON, Präparate, S. 71. An Luise, St. Cloud, 15.5.1697, HO, 1, 49, S. 85. Vgl. LEBIGRE, Liselotte, S. 166. Vgl. auch LEITNER, Skandal, S. 106, die E. Ch. als „Kummeresserin“ bezeichnet. An Luise, Marly, 18.2.1711, HO, 2, 512, S. 231; vgl. St. Cloud, 25.7.1718, HO, 3, 953, S. 390, anlässlich der Hochzeit ihres Sohnes mit der illegitimen Tochter des Königs: Waß mir noch übel that, war, daß ich auch böß wurdt undt doch nichts sagen wollte, sondern den zorn in mir fraß; daß ist nicht gesundt. Vgl. An Luise, Marly, 9.9.1702, HO, 1, 178, S. 305: Chagrin macht nicht allezeit mager, sonst müste ich wie ein sponhöltzel sein. Wen man hertzenleydt undt wider trost dabey hatt, so ersetzt man sich leycht. Vgl. im Gegensatz dazu An Luise, Versailles, 7.12.1713, HO, 2, 612, S. 356: Nicht[s] macht magerer, alß übermäßige betrübtnuß, den es hindert ahm schlaffen undt eßen, welche bey[de] stück allein fett machen. S. auch Versailles, 19.10.1709, HO, 2, 444, S. 135: Es wundert mich nicht, daß Ihr mager geworden. Lange betrübtnuß machen nicht fett; nichts macht fetter, alß ein faul undt langweilliges leben.

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sümierte: Wen man ein temperament hatt, fett zu werden, mag man auch thun, waß man will, so bleibt man fett.168 In der Frühen Neuzeit wurde die Temperamentenlehre als Ableger der Viersäftelehre sukzessive erweitert und immer mehr in Richtung der Disposition von Personen ausgeformt.169 Es konnte also ebenso in der Disposition begründet sein, wenn der Einsatz verschiedenster diätetischer Maßnahmen wirkungslos blieb. Gerade in Bezug auf die Ernährung hatte Elisabeth Charlotte bereits früher festgestellt: Ordinari eßen die magern mehr, alß die fetten170 – eine Beobachtung, die sich nur zu gut mit der erweiterten Temperamentenlehre kombinieren ließ und von der belastenden Selbstverantwortung für die eigene Körperform befreite. Statt länger gegen den dieserart widerständigen Körper anzukämpfen, musste er als Ausdruck des eigenen Selbst akzeptiert werden – was die einzelne Person zwar hilflos zurückließ, andererseits aber zweifellos auch eine Chance bot. In den folgenden Jahren war Elisabeth Charlotte deshalb eher mit der Hoffnung befasst, durch willkommene Nebeneffekte abzunehmen, statt sich noch strengeren Maßnahmen der Selbstregierung zu unterwerfen. 1698 etwa teilte sie ihrer Tante mit, sie hoffe, ein starcker durchlauff könne dazu betragen, dass sie ein wenig schmeller würde.171 Selbst dem Kaffee, dem sie eigentlich mit dezidierter Ablehnung gegenüberstand, konnte sie in Bezug auf ihre Körperform nun doch etwas abgewinnen. Im Juni 1713 schrieb sie an Luise: Ich trincke alle tag einen becher mitt caffé, daß jagt mir die windt weg undt verhindert mich, dicker zu werden, drumb continuire ich es.172 Ihre Abneigung gegen das ‚Modegetränk‘ überwand sie also nicht aus klar abgrenzbaren gesundheitlichen Gründen,173 sondern eben auch, weil sie sich ihrer Wunschfigur annähern wollte, wovon sie sich positive Effekte auf Aussehen und Körpergefühl versprach.174 In jedem Körperideal, sei es gesellschaftlich oder persönlich motiviert, spielt eine gewisse Vorstellung von Ästhetik eine Rolle. Selbst Elisabeth Charlotte, die nach eigenen Aussagen dem Wunsch, schön zu sein, längst abgeschworen hatte,175 beschrieb ihr Äußeres und ihre Körperfülle mit bisweilen so drastischen Formulierungen,176 dass es schwerfällt zu glauben, die Bewertung beziehe sich 168 169

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An Luise, Versailles, 16.11.1709, HO, 2, 448, S. 141–142. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 117–119, dem zufolge „die Rede vom ‚Temperament‘ oder der ‚Complexio‘ gleichbedeutend mit der – oft ausdrücklichen – Rede über die eigene ‚Natur‘ oder ‚Person‘ unter dem Einfluß von Ernährung, Lebensweise, aber auch elterlichem Herkommen und Lebensgeschichte“ gewesen sei (Zit. S. 119). An Luise, Marly, 9.9.1702, HO, 1, 178, S. 305. An Sophie, Versailles, 25.12.1698, GWLB, NLB, 387b, 64v, vgl. B, 1, 365, S. 351. An Luise, Versailles, 24.6.1713, HO, 2, 581, S. 315. Vgl. im Gegensatz dazu Annerose MENNINGER, Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Wissenskulturen der Frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 8, Nr. 3 [23.12.2009], Abs. 72, S. 4.II.2. Kaffee schrieb man am frz. Hof sowohl appetitanregende als auch appetithemmende Wirkung zu. Vgl. Michèle DIDOU-MANENT, Tran KY, Hervé ROBERT, Dick oder dünn? Körperkult im Wandel der Zeit, München 1998, S. 146–147. Vgl. etwa An Amalie Elisabeth, Port Royal, 22.8.1698, HO, 1, 65, S. 113; auch BROOKS, Images, S. 23–32. Bspw. die Verwendung des Wortes monstreux, monstrueuse = grässlich, monströs. Vgl. An Sophie, Versailles, 28.3.1700, NLA-HStAH, X,1, 225v, vgl. B, 1, 409, S. 397. S. auch An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 681: wen ich mich nicht selber threhe, könten mich keine 3 menschen umbwenden, so dick undt schwer bin ich. An Sophie Fontainebleau, 14.10.1699 u. Versailles, 3.12.1712, NLA-HStAH,

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einzig auf einen ungeliebten, weil unbeweglichen und tendenziell ungesunden Körper. Als sie im November 1706 ihrer Halbschwester auf deren Kommentar zu einem übersandten Gemälde antwortete, zeigt sich recht deutlich, dass ‚dick‘ und ‚schön‘ für Elisabeth Charlotte eher eine Ungleichung bildeten: Ich muß von hertzen lachen, liebe Amelise, daß Ihr findt, daß ich in meinem contrefait, so ich ma tante geschickt, schon undt woll außsehe. Wen ein groß dick gesicht, plat maul undt kleine enge augen waß schons sein so bin ichs gar gewiß undt werde noch alle tag schönner; den ich werde noch alle tag dicker.177

Auch aufgrund ihrer Beleibtheit verstand Elisabeth Charlotte sich also als weniger schön. Zu ihrer Vorstellung von Tugendhaftigkeit gehörte es dennoch, Toleranz gegenüber den ‚Anderen‘, den Schlankeren, zu üben. Recht harsch wies sie Luise in diesem Sinne im November 1715 zurecht: Meint Ihr, liebe Luise, daß, weillen ich fett bin, daß ich deßwegen die magere leütte nicht leyden kan? Contrarie, ich bedauere, daß ich nicht sein kan, wie sie; aber im überigen so müst Ihr mich woll vor capricieux halten, wen Ihr meint, daß ich nach den figuren sehe ahn leütte, die tugendtsam sein, mich lieb haben undt mir so nahe sein, wie Ihr, liebe Louisse!178

Aufgrund dieser Ergebnisse muss bezweifelt werden, dass die (maskuline) Idealvorstellung weiblicher Körper, die in Kunst und Literatur aus Renaissance und Barock begegnet, tatsächlich so universale Geltung beanspruchte, wie dies Publikationen, die den Körperkult des Schlankseins als ‚Erfindung der Moderne‘ darstellen, nahelegen.179 Einschränkend muss hier allerdings angefügt werden, dass schriftliche Äußerungen einer historischen Person selbstverständlich niemals eine genaue Vorstellung davon erzeugen können, wie die Adjektive dick, fett, schmahl, ran180 und mager, die Elisabeth Charlotte zur

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IX,2, 579r, vgl. B, 1, 394, S. 380 [sic! Datum] u. XXII,2, 711r–711v, vgl. B, 2, 808, S. 323 [sic! Datum]. An Amalie Elisabeth, Versailles, 18.11.1706, HO, 1, 338, S. 487. An Luise, Paris, 26.11.1715, HO, 2, 746, S. 676; vgl. auch 13.12.1715, HO, 2, 751, S. 686–687: Ey, liebe Luise, wen man alt undt nie schön geweßen, wie ich bin, ist es dan ein wunder, daß ich nicht darnach frage, ob die, womitt ich umbzugehen habe, mager oder fett, dick oder schmahl, schön oder heßlich sein? Ich muß nur gott dancken, wen man mich selber leyden will; mir aber kompts nicht zu, so delicat zu sein, liebe Luise, insonderheit mitt denen, so man ursach zu lieben hatt sowoll wegen ihrer tugendten, alß proximitet. Daß ist gar keine tugendt, liebe Louisse, sondern nur die natürlich vernunfft folgen. Vgl. Angelika GRAUER u. Peter F. SCHLOTTKE, Muss der Speck weg? Der Kampf ums Idealgewicht im Wandel der Schönheitsideale, München 1987, bes. S. 143–146; MATTHEWS GRIECO, Körper, S. 70–71; KLOTTER, Fressen, S. 138; Claudia GOTTFRIED u. Christian SYRÉ, Die Suche nach der Traumfigur. Rundgang durch die Ausstellung, in: Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Industriemuseum (Hg.), „Kleiderlust und Körperfrust – die Suche nach der Traumfigur“. Begleitbuch in sechs Bänden zur Verbundsausstellung „Geschmackssachen – Kulinarisches in sechs Gängen“, Bd. 6, S. 8–11, hier 11; Claudia GOTTFRIED, Fress-Sucht und „Dickenwahnsinn“, in: Ebd., S. 32–34, hier 32; in der Perspektive auf das 17. Jhd. ebenfalls recht pauschal MERTA, Schlank, S. 128 u. 389. DIDOU-MANENT, KY u. ROBERT, Dick, S. 137–140, betonen mittelalterliche Schlankheitsideale, von denen man sich in Renaissance und Barock habe absetzen wollen. Ein regional gefärbter frühneuhochdeutscher Ausdruck für ‚rank und schlank‘. Vgl. dazu An Luise, St. Cloud, 24.11.1718, HO, 3, 970, S. 444, Paris, 27.4.1719, HO, 4, 1013, S. 99 u. Versailles, 27.5.1703, HO, 1, 194, S. 326.

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Beschreibung unterschiedlicher Körperformen heranzog, genau zu definieren und im Vergleich mit heutigen Vorstellungen zu verstehen sind.181 In vielen Passagen kommt allerdings zum Ausdruck, dass Elisabeth Charlotte nicht nur übermäßige Beleibtheit für hässlich hielt, sondern auch extreme Magerkeit.182 Gegenüber ihrer Tante, deren schmahle taille sie bewunderte,183 hatte Elisabeth Charlotte dennoch bekundet, sie wäre lieber zu mager als allzu korpulent.184 Das Wort mager taucht sonst fast durchgängig in Zusammenhängen auf, in denen von den Spuren körperlicher Krankheiten185 oder seelischer Belastungen wie etwa dem Verlust naher Angehöriger186 die Rede ist. Elisabeth Charlotte zog die, traditionellen Vorstellungen zufolge, so eng mit Krankheit verbundene Magerkeit also durchaus ihrer Dickleibigkeit vor. Betont werden muss also, dass die Existenz eines ausladenderen Körperideals Frauen keineswegs vom Streben nach der Wunschfigur entlastete. An Elisabeth Charlottes Aussagen wird deutlich, dass man in der Frühen Neuzeit nicht nur danach strebte, mit besonders gehaltvoller Ernährung eine rundliche Idealfigur zu behalten,187 wie der italienische Arzt Fabio Glissenti es bei Venezianerinnen und Neapolitanerinnen beobachtet und 1609 in seinen ‚Discorsi Morali‘ beschrieben hatte,188 sondern gezieltes Abnehmen ebenfalls ein Weg sein konnte, um sich Idealvorstellungen anzunähern.189 Die unterschiedlichen Praktiken der Vermeidung oder Beförderung von Gewichtsverlust verweisen darauf, dass im Lauf der Frühen Neuzeit und im europäischen Raum differente Ideale existierten.190

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In medizinischen Studien bezeichnet der Begriff Fettleibigkeit eine eklatante Körperfülle, die den Patienten am Gehen hinderte. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 6–7. Einen Überblick über die Veränderung in der Definition von ‚schlank‘ im 20. Jhd. gibt MERTA, Schlank, S. 380–381. S. etwa die Beschreibung bei der Ankunft zweier Kavaliere in Paris An Luise, Marly, 12.7.1715, HO, 2, 715, S. 586: Der erste ist dür, wie ein holtz, hatt eine gantze weiße crepirte peruque undt feuerrohte augen undt voller kinderblatternmähler, eine naht ahn die ander; er ist so mager, daß er drüber gebogen ist, undt hatt ein abscheülich maul undt gar wüste zähn. Der von Ostfrießlandt ist dick, den kopff in den axellen undt daß gantze gesicht im fett versuncken, die naß dick undt blatt; suma, sie seindt beyde gar heßlich. Vgl. An Luise, Marly, 9.11.1713, HO, 2, 607, S. 352: Mich deücht, ich sehe ma tante mit I.L. schmahle taille singen undt dantzen, den daß pflegten sie oft zu tun. An Sophie, Paris, 9.5.1694, NLA-HStAH, V, 105, vgl. B, 1, 180, S. 193, Versailles, 19.12.1694, ebd., V, 75v, vgl. B, 1, 189, S. 202; Versailles, 17.11.1701, ebd., XI, 2, 572v, Marly, 8.11.1705, ebd., VXV,2, 630r. Zur Bedeutung der Taille in zeitgenössischen Bewertungen von Schönheit vgl. VIGARELLO, Histoire, S. 61–63. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 8.7.1694, NLA-HStAH, V, 37v, vgl. B, 1, 183, S. 195. Vgl. aus der Fülle dieser Belege etwa An Luise, Paris, 8.4.1696; HO, 1, 36, S. 32 u. 30.4.1717, HO, 3, 832, S. 68. Vgl. etwa An Luise, St. Cloud, 24.11.1718, HO, 3, 970 S. 445. So etwa DIDOU-MANENT, KY u. ROBERT, Dick, S. 142–143. Fabio GLISSENTI, Discorsi Morali. Contra il dispiacer del morire, Venedig 1609, S. 401–402. Vgl. Emmanuel-Pierre RODOCANACHI, La femme italienne à l’époque de la Renaissance. Sa vie privée et mondaine, son influence social avant, Paris 1907, ND Rom 2005, S. 110–111; MATTHEWS GRIECO, Körper, S. 71. Vgl. zu Abnehmkuren STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 6. Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 6; HABERMAS, Heißhunger, S. 75, dem zufolge Essig in der Frühen Neuzeit als Laxans zum Abnehmen eingesetzt wurde. Vgl. MATTHEWS GRIECO, Körper, S. 71.

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In ihren Briefen wendete Elisabeth Charlotte dieses Körperideal auch auf Männer an.191 So schrieb sie etwa im Dezember 1701 über einen gewissen Herrn Ferdinant, der all sein leben ein wenig dick geweßen sei, er solle reisen, umb ein wenig magerer zu werden192 , oder bezeichnete die taille des Grafen von Schulenburg als nicht gar löblich.193 Gleichwohl räumte sie ein, wenn Männer älter werden, würde eine stattliche wohlgenährte Figur weitaus besser zu ihnen passen.194 Tendenziell geben die Briefe Elisabeth Charlottes eher den Eindruck, dass ein Zwiespalt zwischen Ernährung und Körperideal von Frauen sehr viel stärker und bisweilen quälender wahrgenommen wurde. Besonders deutlich wird dies am Beispiel ihrer Enkelin Marie Louise Élisabeth, deren ambivalenten Umgang mit Ernährung, Figurveränderungen und Körperidealen Elisabeth Charlotte ausführlich thematisierte.195 Die exzessive Esslust der Duchesse de Berry veranlasste Dirk van der Cruysse zur Rückwärtsdiagnose ‚Bulimie‘.196 Solch eine Begriffsverwendung birgt freilich die Gefahr eines Anachronismus, da Bulimie als Begriff mittlerweile eher mit dem erstmals in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich erfassten Krankheitskonzept der bulimia nervosa in Verbindung gebracht wird, als dass man mit diesem Terminus lediglich das durchaus länger bekannte Symptom wiederkehrender Heißhungerattacken umschreiben würde.197 Es ist schwerlich möglich, die heute zur Diagnose einer Bulimie angewandten Kriterien auf den historischen Zusammenhang zu übertragen.198 So wird in der psychologischen Literatur beispielsweise davon ausgegangen, Bulimie betreffe im Gegensatz zur Magersucht (anorexia nervosa) tendenziell eher ‚normalgewichtige‘ Personen und vor allem Frauen, die mit ihrem Ess- bzw. Nicht-Essverhalten ein leicht ‚untergewichtiges‘ Körperideal anstrebten.199 Ob die Duchesse de Berry dieser Kategorie zuzuordnen ist, kann aus den Quellen nicht zweifelsfrei eruiert werden. Einerseits wird ihre besonders schlanke Taille gerühmt,200 andererseits berichtet Elisabeth Charlotte, sie sei 191

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Sehr dicken Frauen sprach man ihre Weiblichkeit ab, während dicke Männer Gefahr liefen, ihre männliche Stärke und Kraft einzubüßen. Vgl. STOLBERG, ‚Abhorreas pinguedinem‘, S. 7–8. An Amalie Elisabeth, Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. An Luise, Paris, 11.2.1720, HO, 5, 1096, S. 48; vgl. auch 16.3.1720, HO, 5, 1105, S. 83: es war ein hübscher herr [Herr von Schönburg] von gesicht, aber ein wenig zu dick von taille. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 12.10.1701, HO, 1, 140, S. 239–240. An Luise, St. Cloud, 23.8.1718, HO, 3, 961, S. 419: Wen mäner alt werden, steht es ihnen beßer, dicker, alß mager, zu werden; daß gibt ihnen gutte minen. Vgl. An Sophie, Versailles, 14.12.1710, NLA-HStAH, XX,2 1110v–1111r, vgl. B, 2, 742, S. 260: abends ahm nachteßen hatt unß die Duchesse de Berry einen großen schrecken eingejagt (...) der Duc de Bourgogne undt Bery beÿ welchen ich saß hatten kaum außgerett so höre ich ahm andern endt von taffel die Duchesse de Bourgogne a mon Dieu ruffen wie ich mich umb sehe [sehe] ich die Duchesse de Bery wie todt auff meinen sohn fallen Ich meinte es wer ein schlag man schüttet ihr gleich eßig ins gesicht da kame sie wider zu sich selber undt stundt von taffel auff sie war aber noch nicht in der gallerie da kotzte sie wie ein jet d’eau das nimbt mich aber gar kein wunder, denn sie frist den gantzen tag undt allerhandt wüstereÿen, Confituren, Kästen Kaß, salat allerhandt durch einander. S. auch An Luise, 19.12.1710, Versailles, HO, 2, 503, S. 218–219, St. Cloud, 18.11.1717 u. 18.11.1718, HO, 3, 951, S. 385 u. 865, S. 127. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 607: „Madame sprach oft voller Mitleid von den Unmengen von Leckereien, die ihre Enkelin, die an Bulimie litt, jeden Tag verschlang.“ Vgl. PULZ, Gula, S. 163; HABERMAS, Heißhunger, S. 14, 22 u. 26–27. Vgl. HABERMAS, Heißhunger, S. 26. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. dazu LEITNER, Skandal, S. 107 u. 113 ohne Angabe eines Quellenbelegs.

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aufgrund ihres Essverhaltens so fett wie eine gemäste ganß201 geworden. Das zentrale Merkmal der Bulimie – Essanfälle und der gleichzeitige mit verschiedenen Methoden (wie etwa selbst herbeigeführtem Erbrechen, Laxanzienabusus, Diätphasen etc.) beförderte Wunsch, schlank zu bleiben202 – trifft den Kommentaren der Großmutter zufolge aber durchaus zu. Elisabeth Charlotte zeichnete das Bild einer jungen Frau, die trotz ihrer extremen Esslust vom Wunsch getrieben war, eine als ‚schön‘ geltende Idealfigur zu bewahren.203 So trug sie etwa aus Elisabeth Charlottes Sicht ungesunde, zu enge Schnürstücke, um trotz ihrer Essgewohnheiten eine schöne taille zu haben.204 1711 berichtete Elisabeth Charlotte gar, ihre Enkelin hätte sich gezielt den magen gantz verdorben, umb schmahl zu werden.205 Dieser hier zu Tage tretende Widerspruch zwischen Essenslust und gleichzeitiger Vermeidung zunehmender Körperfülle charakterisiert psychologischen Untersuchungen zufolge in der Gegenwartsgesellschaft ein suchtähnlich gestörtes Essverhalten, das als spezifisch weibliches Problem angesehen wird.206 Demnach wird die ambivalente Einstellung gegenüber dem Essen aus einer „Widersprüchlichkeit des Weiblichkeitsdiktats“207 hergeleitet, das Frauen die Ernährungsverantwortlichkeit für die Familie bei einem gleichzeitigen Anspruch an die eigene Zurückhaltung im Essen auferlege.208 Historische Betrachtungen können hingegen zeigen, dass zeit- und gesellschaftsspezifische Geschlechterarrangements nicht Ursache, sondern eher konkrete Ausformung einer solchen Ambivalenz darstellen. Hochadelige Frauen des 17. Jahrhunderts waren von der Pflicht 201

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An Luise, St. Cloud, 18.6.1719, HO, 4, 1028, S. 149: Hirauß scheindt woll, daß ihre kranckheit von dem abscheülichen freßen kompt, so sie vergangen jahr getahn. Sie kam her, setzte sich in die Seine, blieb 3–4 stundt im waßer, fraß patettetten, kuchen, salat, schincken, würscht, allerhandt so zeüch, fuhr wider a la Meutte, spatzirte biß gegen mitternacht; den setzen sie sich wider ahn taffel undt fraßen auffs neü biß umb 3 uhr morgendts undt drauff gleich [zu bette]; wurde auch so fett wie eine gemäste ganß. Vgl. HABERMAS, Heißhunger, S. 13–15. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 29.6.1719, HO, 4, 1031, S. 163: Einen tag frist sie nichts, den ander[n] tags ist sie recht kranck [d.h. ist ihr übel]. Vgl. HABERMAS, Heißhunger, S. 31–36. In medizinischen Quellen wurde eine solche Phobie vor Gewichtszunahme bzw. der Wunsch abzunehmen erstmals gegen Ende des 19. Jhd.s in Frankreich und in signifikanter Zahl seit den 30er und 40er Jahren des 20. Jhd.s beschrieben. Zu dieser Zeit werden auch der Gebrauch von Abführmitteln und die Praxis selbstinduzierten Erbrechens als Maßnahmen zur Gewichtskontrolle nachweisbar. Vgl. An Sophie 14.12.1710, Versailles, NLA-HStAH, XX,2, 1111r–1111v, vgl. B, 2, 742, S. 260: Ich habe sie gewarndt daß sie sich den magen gantz verderben wirdt, allein sie will mich nicht glauben sie will sich auch in nichts schönen [?] wen sie jungfer Cathrin hatt frist sie ebenso doll alß vorhin undt Löffel voll eßig, zu dem so will sie eine schöne taille haben schnürt sich eng ein daß alles macht den magen leÿden, also kein wunder wen sie sich übel befindt. S. in Bezug auf das Korsett im Gegensatz dazu auch An Luise, 25.8.1718, HO, 3, 944, S. 359; An Sophie, Marly, 14.12.1704, NLA-HStAH, XIV, 530v, vgl. B, 1, 557, S. 96: die faulheit so sie nun auch haben [die Damen am frz. Hof] den gantzen tag ungeschnurt zu gehen macht Ihnen dicke leiber daß sie keine taille mehr haben. An Luise, Marly, 10.1.1711, HO, 2, 508, S. 226. Anders DIDOU-MANENT, KY u. ROBERT, Dick, S. 151: „Die furchtbar abgemagerte Taille der Herzogin du Berry, die aus Trauer um ihren Gemahl abgenommen hat, rundet sich dank der ‚Bouillon piquant‘ [einem Abführmittel, dem man appetitanregende Wirkung zuschrieb] wieder.“ S. etwa Elke TOMFORDE SCHÖNI, Esssucht und Schlankheitsdiäten, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte. Revue d’histoire, 1 (1994), S. 100–110; HABERMAS, Heißhunger, S. 15. Susie ORBACH, Hungerstreik, Düsseldorf, Wien 1987, S. 33; vgl. KOSPACH, Julia, Der Körper als Selbstzweck. Interview mit Susie Orbach, in: Frankfurter Rundschau online, 6.4.2009. Vgl. TOMFORDE SCHÖNI, Esssucht, S. 106.

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zur Zubereitung des Essens vollkommen enthoben, dennoch standen ständische Zugehörigkeit und geschlechtsbezogene Selbst- und Fremdzuschreibungen in einem Verhältnis, das durchaus zu Esssucht im oben definierten Sinne führen konnte. Internalisierte Schönheits- und Körpernormen für adelige Frauen standen im Widerspruch zu männlich zentriertem ständischen Selbstverständnis, das in der Demonstration von Wohlstand und Luxus bestand und in Form eines Überangebots von Nahrung auf die Essgewohnheiten zurückwirkte.209 So beschrieb Elisabeth Charlotte ein völlendes Essverhalten bei den männlichen Mitgliedern der famille royale sogar als trefflich.210 Damen von qualitet waren aus ihrer Sicht diejenige Personengruppe, der am wenigsten zuträglich sei, viel zu essen, denn sie seien nicht so starck wie die mansleütte und weniger ahm gehen gewohnt als gemeine leütte undt bürger.211 Unbestreitbar war es demzufolge bereits im 17. Jahrhundert vor allem für Frauen aus den höheren Ständen problematisch, das ‚richtige‘ Maß zu finden, um sowohl am gesellschaftlichen Ereignis ‚Essen‘ teilzuhaben als auch den Körper in einer von sich selbst und anderen als schön und attraktiv angesehenen Form zu halten.

3. Sauffen und taback schmauchen : Praktiken des Genusses 212

Im Zentrum der folgenden Kapitel (3. und 4.) stehen die Verknüpfungen von alltäglichen Körperpraktiken und spezifisch weiblichen Ehrvorstellungen. Analysieren lassen sich diese Zusammenhänge in Elisabeth Charlottes Briefen besonders gut anhand des Konsums von Genussmitteln wie Alkohol und Tabak. Letzterer kam in höfischen Kreisen um 1700 in Mode und war nach einhelliger Forschungsmeinung auch bei Damen weitgehend akzeptiert.213 Auch die Briefe Elisabeth Charlottes zeugen davon, dass sauffen 209

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Am frz. Hof setzte der Prozess des Übergangs von Ernährung als Suchaufgabe hin zu Ernährung als Entscheidungsaufgabe aufgrund von Nahrungsmittelüberfluss deutlich früher ein als in anderen Gesellschaftsteilen. Vgl. Volker PUDEL, Psychologie des Essens, in: Felix ESCHER u. Claus BUDDEBERG (Hg.), Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kult und Kultur, Zürich 2003, S. 123. Vgl. An C. v. Wales, o.O., 26.8. o.J. (1717?), A, 4., S. 76: Der König, Msgr le Dauphin, Mr le Duc de Berri und Monsieur sell. waren treffliche Esser. Ich habe den König oft essen sehen. Vier Teller voller unterschiedlicher Suppe, einen ganzen Fasanen, ein Feldhuhn, einen großen Teller voll Salat, geschnitten Hammelfleisch in seiner Brühe mit Knoblauch, 2 gute Stück Schinken, ein Teller voll paionne und noch dabei Obst und Confitüren. Zum Essverhalten des Königs und Monseigneurs s. auch DIDOU-MANENT, KY u. ROBERT, Dick, S. 147– 148 u. 150–151; zur Inszenierung von Maskulinität durch völlendes Essverhalten PULZ, Gula, S. 163–164. An Luise, St. Cloud, 17.7.1721, HO, 6, 1247, S. 186: Die mansleütte seindt stärcker, alß die weibsleütte, konnen also mehr vert[r]agen; zu dem, so seindt die gemeine leütte undt bürger mehr ahm gehen gewohnt, alß die damen von qualitet. Hier spielen vermutlich humoralpathologische Vorstellungen von einer größeren inneren Wärme und somit gesteigerten Verdauungsfähigkeit von Männern eine Rolle. An Amalie Elisabeth, Versailles, 29.4.1704, HO, 1, 209, S. 347–348; An C. v. Wales, o.O., 4.7.1719, A, 20, S. 278–279. Vgl. Roman SANDGRUBER, Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte der Genussmittel, Wien, Köln, Graz 1986, S. 104 u. 125; Wolfgang SCHIVELBUSCH, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, 5. Aufl., München, Wien 2002, S. 143–144; MENNINGER, Tabak, Abs. 65 u. 75 mit Bezug auf einen Brief E. Ch.s (An Luise, Marly, 6.8.1713, HO, 2, 587, S. 328); Thomas HENGARTNER, Tabak, in: Ders. u. Christoph Maria MERKI (Hg.), Genussmittel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. u. Leipzig 2001, S. 191–220, hier 202; Christian HOCHMUTH, Globale Güter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im

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nur gar zu sehr in der mode unter den jungen weibspersonnen undt von der besten qualitet214 sei und ebenso viele junge Damen, wie auch ihre Nichte Frederica von Schomburg (1688–1751), dem Schnupftabak zusprächen.215 Beides war aus Elisabeth Charlottes Sicht jedoch ungesund oder unhygienisch und damit als laster oder fehler der Person zu bewerten.216 Sie kritisierte in ihren Briefen auch Männer wie etwa ihren Halbbruder Karl Moritz, die dem Branntwein217 oder dem Tabak über Gebühr zuneigten.218 Trotz dieser allgemeinen, geschlechterneutralen Kritikebene zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass Elisabeth Charlotte Alkohol- und Tabakkonsum dennoch gewissermaßen als maskulines Privileg ansah. Die Praktiken von Männern galten ihr als Vergleichsmaßstab für das Verhalten von Frauen. Entrüstet schrieb sie beispielsweise im November 1701 an Luise mit Blick auf die Trinkpraxis am französischen Hof (hir im landt), dass die weiber den Männern in nichts nachstünden. Sie hätten eben so große fehler und würden den Lastern mit noch weniger scheü folgen.219 Doch worauf stützte sich diese ungleiche Bewertung und verstand Elisabeth Charlotte sich in Relation dazu? Im männlich zentrierten allgemeinen Alkohol-Diskurs der Frühen Neuzeit war jenseits der bisweilen drastischen gesundheitlichen Auswirkungen das wesentliche Kritikelement am übermäßigen Trinken der Verlust von Selbstkontrolle.220 Dieser Kontrollver-

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frühneuzeitlichen Dresden (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 17), Konstanz 2008, S. 60; Uwe SPIEKERMANN, Das Deftige für den Mann, das Leichte für die Frau? Über den Zusammenhang von Ernährung und Geschlecht im 20. Jahrhundert, in: Ingeborg JAHN u. Ulla VOIGT (Hg.), Essen mit Leib und Seele. Theorie und Praxis einer ganzheitlichen Ernährung. Mit ausgewählten Rezepten (Beiträge der Bremer Volkshochschule zur Erwachsenenbildung 2), Bremen 2002, S. 51–73, hier 54; FRASER, Love, S. 253–254. An Amalie Elisabeth, Versailles, 29.4.1704, HO, 1, 209, S. 347–348; vgl. auch Marly, 7.8.1699, HO, 1, 93, S. 169. An Luise, Marly, 8.8.1715, HO, 2, 720, S. 604: Wie hatt der duc de Schomburg [Meinhard von Schomberg, 1641–1719, Gatte von E. Ch.s Halbschwester Raugräfin Karoline] seiner elsten dochter [Frederica von Schomberg, 1688–1751, in erster Ehe verheiratete Countess of Holderness, in zweiter Ehe Countess Fitz Walter] erlaubt, schnupfftaback zu schnupffen? Es ist nichts heßlicher. Vgl. zu Karoline und Meinhard von Schomberg KAZNER, Louise, S. 67–69. An Luise, Fontainebleau, 3.11.1701, HO, 1, 143, S. 245. Vgl. aus der Fülle der Belege zum Alkoholkonsum ihres Halbbruders Karl Moritz An Amalie Elisabeth, Versailles, 22.4.1702, HO, 1, 165, S. 281; des russischen Zaren Peter I. An Luise, St. Cloud, 27.8.1718, HO, 3, 945, S. 364; des Duc d’Estrées An Sophie, Port Royal, 21.9.1700, NLA-HStAH, X,2, 617v–618r, vgl. B, 1, 428, S. 416–417; Christian Augusts von Haxthausens An C. A. v. Haxthausen, Fontainebleau, 19.9.1694, in: ZIMMERMANN (Hg.), Briefe, 1, S. 413. Zum Tabakkonsum Ernst Eberhards v. Harlings s. A. K. v. Harling, 10.11.1700, Fontainebleau, H, 167, S. 299. An Luise, Fontainebleau, 3.11.1701, HO, 1, 143, S. 245. S. ebenso Paris, 23.12.1717, HO, 3, 875, S. 154. Vgl. Hasso SPODE, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, Opladen 1993, S. 100 identifiziert den Aufbau einer „Selbstkontrollapparatur“ beim Trinken als Signum des „Beginns der modernen Welt“. Bereits im 16. und 17. Jhd. wird dies entlang eines kritischen Punktes des Alkoholkonsums, bei dem aus Heldenmut und Ehrenhaftigkeit persönlicher Kontrollverlust entsteht, thematisiert: Michael FRANK, Trunkene Männer und nüchterne Frauen. Zur Gefährdung von Geschlechterrollen durch Alkohol in der Frühen Neuzeit, in: Martin DINGES (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Frühen Neuzeit, Göttingen 1998, S. 187–212, hier 195 u. 198–201; Katharina

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lust über den Körper galt bei Frauen jedoch als besonders beschämend.221 Wie Elisabeth Charlottes Briefe zeigen, war aus ihrer Sicht jedoch längst nicht nur problematisch, wenn die Damen sauffen biß sie kotzen, undt kein fuß mehr vor den andern setzen können.222 Besonders verabscheuungswürdig konnte aus ihrer Sicht das von Alkohol hervorgerufene Verhalten noch in anderer Hinsicht werden, wie sie in einem Brief an ihre Tante aus dem Jahr 1702 genaustens ausführte: Sauffen ist ein heßlicher brauch, wirdt hir im landt erschrecklich gemein unter die weiber von qualitet vielle tag hört man schir von einer, so im voll sein waß begegnet ist. Kürtzlich hatt man mir noch verzehlt ohne mir die Nahmen zu Nehnen daß 5 sich voll undt doll miteinander gesoffen hetten, undt wie sie nicht mehr gewust waß sie thun wolten haben sie eine so am volsten war genohmen sie auff den boden gelegt undt mitt ihren füßen so sie in die höhe gehoben auff undt zu geschlagen, haben sie einen blaßbalck von ihr gemacht Ich glaub aber daß der windt von dießem blaßbalck nicht woll roche.223

Anders als in den zahlreichen frühneuzeitlichen Berichten männlicher Trinkexzesse fürchtete Elisabeth Charlotte offenbar nicht, dass aggressives oder gewalttätiges Verhalten die Konsequenz des Alkoholkonsums darstellen könne.224 Es ging ihr vielmehr um den Verlust sozial begründeter Hemmungen, der nicht selten jenes unkontrollierte und zügellose Benehmen zur Folge hatte, das Elisabeth Charlotte beschrieb. Das Verhalten

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SIMON-MUSCHEID, Der Umgang mit Alkohol. Männliche Soziabilität und weibliche Tugend, in: Gerhard JARITZ (Hg.), Kontraste im Alltag des Mittelalters (Österreichische Akademie der Wissenschaften Philosophisch-Historische Klasse; Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Diskussionen und Materialien 5), Wien 2000, S. 35–60, hier 43–44 u. 54–55. Vgl. FRANK, Männer, S. 196–198 u. 200; A. Lynn MARTIN, Alcohol, Sex, and Gender in Late Medieval and Early Modern Europe, New York 2011, S. 38–51; Véronique NAHOUM-GRAPPE, La culture de l’ivresse. Essai de phénoménologie, Paris 1991, S. 126–133; PULZ, Frauen, S. 212–216; SIMON-MUSCHEID, Umgang, S. 44–46; TLUSTY, Bacchus, S. 115–146; TLUSTY, Crossing, bes. das Motto des Aufsatzes aus dem ‚Trinkbüchlein‘ des Johannes von Schwarzenberg, S. 1 (Zit.) u. 94: „Although drunkenness brings honor to none, it shames a woman more than a man.“ ROPER, Ödipus, S. 115–117. Zu Ropers Deutungen einer typisch männlichen Trink-Praxis vgl. kritisch und ergänzend Martin DINGES, Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: Sibylle BACKMANN, Hans-Jörg KÜNAST, Sabine ULLMANN u. B. Ann TLUSTY (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana 8), Berlin 1998, S. 123–147, hier 127–128 u. 140. Alle Autor_innen verweisen auf das Wetttrinken zwischen Männern im öffentlichen Raum als Ritual, das konstitutiv für die Herstellung von akzeptierter Männlichkeit war. An Sophie, Versailles, 29.5.1712, NLA-HStAH, XXII, 368v. An Sophie, Versailles, 14.2.1704, ebd., XIV, 9v–10r, vgl. B, 2, 527, S. 70. Vgl. Lyndal ROPER, Männlichkeit und männliche Ehre, in: Karin HAUSEN u. Heide WUNDER (Hg)., Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte (Geschichte und Geschlechter 1), Frankfurt a.M., New York 1992, S. 154–172, hier 156–157 u. 160; ROPER, Ödipus, S. 114; Maren LORENZ, Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650– 1700), Köln, Wien, Weimar 2007, S. 292–293; Gudrun GERSMANN, Orte der Kommunikation, Orte der Auseinandersetzung. Konfliktursachen und Konfliktverläufe in der frühneuzeitlichen Dorfgesellschaft, in: Magnus ERIKSSON u. Barbara KRUG-RICHTER (Hg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jahrhundert), Köln, Weimar, Wien 2003, S. 249–267, hier 250–251; SIMON-MUSCHEID, Umgang, S. 54–55; DINGES, Ehre, S. 143–145, dem zufolge zumindest für die unteren Schichten gewalttätiges und provozierendes Verhalten auch bei betrunkenen Frauen belegt ist.

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im zitierten Beispiel verweist auf Lüsternheit und mangelnde Schamhaftigkeit225 , muss die Frau mit ihren unfreiwilligen Bewegungen doch den Blick auf den körperlichen Ort sexualisierter weiblicher Ehre freigegeben haben.226 Der übermäßige Alkoholkonsum ließ die Frau somit in Elisabeth Charlottes Augen zum willfährigen Spielball und damit auch zum Gespött der gesamten Hofgesellschaft227 werden.228 Auch sie selbst stimmte hier mit ein, indem sie die Frau als blaßbalck bezeichnete, die, nicht mehr in der Lage, ihre Körperfunktionen willentlich zu kontrollieren, vermutlich einen übelriechenden windt abgelassen habe. Wenig Mitleid hatte Elisabeth Charlotte auch mit einer gewisse Madame de Saint-Sulpice, der die Prinzen von Condé – wie in unzähligen Spottliedern verbreitet wurde – einen Feuerwerkskörper unter den Rock gesteckt hatten.229 Dass man daraufhin ihren Tod befürchten musste, bewegte Elisabeth Charlotte indes kaum, schließlich habe die St. Sulpice einfach nicht aus ihren Fehlern lernen wollen, denn es sei noch kein mont her, dass sie von ihrem Liebhaber, dem Compte de Charolais230 , betrunken gemacht, nackendt ausgezogen und mit heißem brey ahn einem wüsten ort231 gottsjamerlich gebrent worden sei. Dass ihr nun noch Schlimmeres zugestoßen war, betrachtete Elisabeth Charlotte als woll verdint und gar recht geschehen. 232 225

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Zur Schamhaftigkeit als einer wichtigen Komponente von Tugend- und Ehrvorstellungen vgl. SIMON-MUSCHEID, Umgang, S. 50–51; MARTIN, Alcohol, S. 38; speziell zu adeligen Frauen BASTL, Tugend, S. 385–386 u. 546–547. Vgl. DINGES, Ehre, S. 135; NAHOUM-GRAPPE, Culture, S. 131: „comme si toute activité corporelle de la femme ne pouvait être qu’un métaphore de son fonctionnement sexuel.“ Ehrvorstellungen beziehen sich immer auf mehr oder weniger ‚öffentliche‘ soziale Kontexte. Am Hof verschmolzen die Sphären der Privatheit und Öffentlichkeit allerdings noch stärker als in anderen frühneuzeitlichen Lebenswelten. Vgl. Susanna BURGHARTZ, Rechte Jungfrauen oder unverschmähte Töchter? Zur weiblichen Ehre im 16. Jahrhundert, in: Karin HAUSEN u. Heide WUNDER (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte (Geschichte und Geschlechter 1), Frankfurt a.M., New York 1992, S. 173–183; RUPPEL, „Das Pfand und Band aller Handlungen“, S. 214. Vgl. zu diesem Aspekt für andere soziale Kontexte TLUSTY, Crossing, S. 190; SIMON-MUSCHEID, Umgang, S. 49. Vgl. BÖTH, Practices [i. Dr.]. Frz. Vergleichsquellen sprechen von „un pétard“, also einem Feuerwerkskörper. Vgl. etwa Mélanges Historiques. Satiriques et Anecdotiques de M. de B. Jourdain, Bd. 2, Paris, 1807, S. 10; An Luise, Paris, 8.3.1721, HO, 6, 1208, S. 39–40, Anm. 1. Zu den Spottliedern s. auch An Luise, Paris, 8.3.1721 u. 29.3.1721, HO, 6, 1208, S. 40 u. 1214, S. 65. Charles de Bourbon-Condé (1700–1760). Vgl. zu den Praktiken des Compte de Charolais, der dem Marquis de Sade als Beispiel für einige Szenen in dessen Romanen gedient haben soll, auch Iwan BLOCH, Der Marquis de Sade und seine Zeit. Ein Beitrag zur Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts, München 1978, S. 273–274. Zu ähnlichen Bezeichnungen vgl. Laura BALBIANI, „das ein yeglicher man mit messiger mynne mynnen mag“. „Sexualität“ in der Frühen Neuzeit, in: Claudia BRUNS u. Tilmann WALTER (Hg.), Von Lust und Schmerz. Eine Historische Anthropologie der Sexualität, Köln, Wien, Weimar 2004, S. 23–59, bes. 45. An Luise, Paris, 8.3.1721, HO, 6, 1208, S. 40: Man meint, daß sie [Mme de Saint-Sulpice] sterben wirdt; aber sie hatt es woll verdint, den es war noch kein mont, daß sie mitt dem conte de Char[o]lois zu nacht geßen hatte; er soff sie sternsvoll zog sie spätter nackendt auß undt goß hir [ihr?] heißen brey ahn einem wüsten ort undt sagt: „Il faut que petit Bichon mange aussi“ hatt sie gottsjamerlich gebrent, hernach in ein dißduch [Tischtuch] eingewickelt undt in einem fiacre nach hauß geschickt. Nachdem ihr dießes geschehen, geht sie wider in ihre geselschafft, ist ihr also gar recht geschehen, kan sie nicht beklagen. Zur Erzähltechnik der Anekdote KAPP, Pathos, S. 180–181.

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Das auch hier zugrunde liegende Bild opferhafter weiblicher Passivität unter Alkoholkonsum beschreibt Lyndal Roper in ihrer Untersuchung städtischer Trinkpraktiken wie folgt: „Während Frauen das Eindringen in das Innere ihres Körpers und somit die Verunreinigung und Zerstörung ihrer Ehre fürchten mussten, drohten die verunreinigenden Körper der Männer sich selbst und andere zu beschmutzen.“233 Humoralpathologische Erklärungen, denen zufolge Alkoholgenuss den Körper erhitze und somit eine generelle Gefahr für das natürliche, feuchte und kalte Temperament des weiblichen Geschlechts darstelle, die Ann B. Tlusty in ihren Untersuchungen zum Alkohol-Trinken im Augsburg des 16. Jahrhunderts als Grundlage des Alkohol-Verbotes für Frauen beschrieben hatte, spielen zumindest explizit in Elisabeth Charlottes Briefen keine Rolle.234 Dass es ihr bei ihrer Kritik am Alkoholkonsum von Frauen tatsächlich zuvorderst um den Verlust von Selbstkontrolle und daraus resultierende Auswirkungen auf die weibliche Geschlechtsehre235 ankam, zeigt eine Passage, in der sie fast anerkennend, zumindest nicht kritisch über die trinkfeste Madame de Montespan und deren älteste Tochter schrieb. Die beiden hätten brav schöppeln können, ohne einen Augenblick voll zu werden. Ich habe sie ohne was sie sonst getrunken, 6 Rasaden [d.h. volle Gläser] vom stärksten Turnier Rosolis236 trinken sehen, ich meinte sie würde [würden, sic!] unter die Tafel fallen, aber es war ihr wie ein Trunk Wasser.237

Besaßen Frauen also die Fähigkeit, sich den Wirkungen des Alkohols ‚mannhaft‘ entgegenzustellen, so war dies für Elisabeth Charlotte durchaus anerkennenswert.238 Aus ihrer Sicht aber blieb die Angleichung der Alltagspraktiken zwischen den Geschlechtern generell zu kritisieren. 1700 berichtete sie wiederum ihrer Tante, die ihre Bewertungsmuster offensichtlich teilte,239 über Tabak schnupfende Frauen: daß mäner noch taback schnauffen ist heßlich zwar undt unsauber, ich ließ es endtlich noch woll hingehen, daß man aber weiber durch die naß hört reden, weill sie die naß voll taback haben,

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ROPER, Ödipus, S. 116. Vgl. auch ROPER, Ehre, S. 162–164; TLUSTY, Crossing, S. 197; SIMONMUSCHEID, Umgang, S. 46; MARTIN, Alcohol, S. 38–39 u. 48. Vgl. TLUSTY, Crossing, S. 192–193 u. Bacchus, S. 134; auch SANDGRUBER, Genüsse, S. 104; SPIEKERMANN, Deftige, S. 54, die eine Geschlechtsspezifizierung der sozialen Praxis des Rauchens auf die bürgerlichen Geschlechtervorstellungen des 19. Jhd. datieren, wohingegen Tabakrauchen und -schnupfen bei adeligen Frauen eine unkritisch hingenommene Praxis gewesen sei. Zum Ehrverlust adeliger Frauen s. BASTL, Tugend, S. 646–547; für untere Schichten: Renate DÜRR, Die Ehre der Mägde zwischen Selbstbestimmung und Fremddefinition, in: Sibylle BACKMANN, Hans-Jörg KÜNAST, Sabine ULLMANN u. B. Ann TLUSTY (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana 8), Berlin 1998, S. 170–184, hier 172. Vermutlich handelt es sich hier um rosée du soleil (rossoly), das das Lieblingsgetränk Ludwigs IV. gewesen sein soll. Zur Zubereitung ließ man Fenchel, Anis, Koriander, Dill und Kümmel in der Sonne aufquellen und fügte eine reichliche Menge Branntwein hinzu. Vgl. DE JEAN, Essence of Style, S. 143. An C. v. Wales, 10.12.1717, o.O., A, 8, S. 117. S. eine ähnliche Aussage über Mme de Maintenon zitiert bei VOSS, Fürstin, S. 50. Zum Stereotyp der trinkfesten femme forte s. NAHOUM-GRAPPE, Culture, S. 133. Vgl. etwa An Sophie, Fragment o.O., vermutlich 15.4.[1703], GWLB/NLB, 84r, vgl. B, 2, 521, S. 63: ich bin wie E.L., weiber sauffen zu sehen undt taback nehmen (…), ist mir unleÿdtlich.

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undt die finger stehts in der männer tabacktiere stecken, daß kompt mir abscheülich vor, undt es ist nichts gemeiners jetzt hir.240

Auch hier wird die schon bei den Trinkpraktiken verfolgte Argumentationslinie deutlich: Zwar sei es auch für Männer unschön und unhygienisch (unsauber),241 Tabak zu schnupfen – bei Frauen aber vielmehr abscheülich. Im nächsten Satz konkretisiert Elisabeth Charlotte, es sei ‚unschicklich‘, wenn die weibliche Nase voller Tabak sei – vor allem aber wenn Frauen ihre Finger in die Tabatière der Männer – anders formuliert, ihre Nasen in männliche Angelegenheiten steckten.242 In diesen Aussagen scheint ebenfalls eine auf die hochgradig sexualisierte weibliche Ehre bezogene Komponente durch. Die beschriebene weibliche Ungezwungenheit sah Elisabeth Charlotte als ‚untugendhaft‘ und ‚unkeusch‘ an.243 Immerhin ging von Frauen, die ihre Finger in die Tabakdose von Männern steckten, ein Signal zu körperlicher Annäherung und damit zu einer Intimisierung der (Geschlechter-)Beziehung aus.244 Wenn Frauen sich dieses männlichen Privilegs bemächtigten, 245 sei es nicht verwunderlich und gantz der damen schuldt daß die cavalier grob sein undt ungehobelt, wenn sie ihren met verlöff rotz mitt einander mischen in den tapack doßen,246 meinte Elisabeth Charlotte. Obwohl zeitgenössische Benimmbücher das ‚richtige‘ Anbieten der Tabakdosen lehrten247 und das gegenseitige Tauschen der Tabatièren weitverbreitet war, gab es ‚feine Unterschiede‘, unter welchen Umständen und für wen diese Praktiken legitim waren. Während Sophie Charlotte von Preußen mit dem russischen Zaren Peter I. ungezwungen tobacksdosen weckselten, wie Sophie in ihren Briefen schrieb,248 demonstrierten andere Frau240

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An Sophie, 4.7.1700, St. Cloud, NLA-HStAH, X,2, 450r, vgl. B, 1, 417, S. 405–406. S. auch An Luise, Marly, 6.8.1713, HO, 2, 587, S. 328. Auch in den Briefen Sophies wird Tabak-Schnupfen (bei Männern) als unhygienisch bezeichnet. Vgl. Sophie an Luise, Hannover, 6.5.1703 u. 19.4.1708, in: BODEMANN (Hg.), BK, 274, S. 251 u. 312, S. 279. Vgl. BÖTH, Practices [i. Dr.]. Vgl. etwa An Sophie, Versailles, 2.9.1696, NLA-HstAH, VI, 160v–161r: wie ich sehe so lieben E.L. den taback eben so wenig alß ich, ich kan ihn nicht vertragen muß gleich husten so baldt Ich taback rieche, nehmblich eben schnupfftaback, eben den in pfeÿffen, rieche ich nicht so ungern, hir seindt es nehmblich viel weiber auch die den taback schnupffen, Ich weiß mehr alß 6 beÿ hoff, es ärgert mich recht, den es sicht so desbauchirt auß. Auf diesen ästhetisch-hygienischen Aspekt des Tabakschnupfens bei Frauen verweisen auch MENNINGER, Genuss, S. 301 mit Bezug auf An Luise, Marly, 6.8.1713, HO, 2, 587, S. 328 u. APPELT, Vapeurs, S. 116. Eine ähnliche Argumentation findet sich beim gemeinsamen Trinken von Männern und Frauen. Vgl. TLUSTY, Crossing, S. 194. Vgl. Sabine ALFING, Weibliche Lebenswelten und die Normen der Ehre, in: Dies. u. Christine SCHEDENSACK (Hg.), Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster (Münsterische Studien zur Frauenund Geschlechtergeschichte 1), Bielefeld 1994, S. 17–185, hier 38 u. 41–43; MARWICK, IT, S. 26; LABOUVIE, Körper, S 186; DINGES, Ehre, S. 134–135; ROPER, Ehre, S. 166. An Sophie, Versailles, 14.1.1712, NLA-HStAH, XXII,1, 28v. Vgl. SANDGRUBER, Genüsse, S. 103–104; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 144 u. 154–155. Vgl. SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 144 u. 156: „Der Tabatierentausch wurde zum Symbol menschlicher Verbrüderung.“ S. Sophie an Luise, Herrenhausen, 1./11.8.1697, in: BODEMANN (Hg.), BK, 169, S. 161: Mein tochter undt ich setzten I.M. schwischen uns undt hatten I.M. an beyden seiten ein Dollmetscher, waren recht lustig undt gar frei undt machten wir grosse fründtschaft zusammen. Mein tochter undt I.M. weckselten von tobacksdosen; auf die seine war I.M. Ziffer, welges mein tochter in grossen ehren helt.

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en damit ehrloses Verhalten und wurden mit Vorwürfen, bisweilen sogar mit dem der „Hurerei“, konfrontiert.249 Wie im zitierten Beispiel gingen solche Aussagen sehr häufig von anderen Frauen aus, die an ihr Geschlecht adressierte Ehrvorstellungen auf diese Weise bestätigten und verteidigten.250 Elisabeth Charlotte verhandelte ihre Kritik an der besagten weiblichen Offenheit auch anhand des bereits erwähnten Begriffes der coquetterie.251 Die Grenzen zwischen Gefall- und Vergnügungssucht, mit denen der Terminus sowohl in ihren Briefen252 als auch im zeitgenössischen Verständnis253 konnotiert war, und aktiver weiblicher Verführungsfähigkeit gestalteten sich an dieser Stelle durchaus fließend. Der Wunsch, sich beliebt zu machen und den eigenen Vergnügungen in leichtfertiger Manier nachzugehen, führe bei koketten Frauen des Öfteren dazu, dass sie sich einem ausschweifenden Lebenswandel hingäben, so schlussfolgerte Elisabeth Charlotte.254 Trinken, TabakSchnupfen sowie die im zeitgenössischen Diskurs als eine der sieben Todsünden konzipierte Völlerei (gula) galten ihr als Anzeichen weiblicher Koketterie,255 die fast folgerichtig in sexueller Ausschweifung (luxuria) enden musste.256 249

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Vgl. BURGHARTZ, Jungfrauen, S. 174–175 u. 180–181; DINGES, Ehre, S. 138; TLUSTY, Crossing, S. 186 u. 195–196 u. Bacchus, S. 136–137; Kathryn NORBERG, Prostitution, in: Georges DUBY u. Michelle PERROT (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hg. v. Arlette FARGE u. Natalie ZEMON DAVIS, Frankfurt a.M., New York 1994, S. 474–492, hier 479. Vgl. DINGES, Ehre, S. 138–141; TLUSTY, Crossing, S. 193–194; ALFING, Lebenswelten, S. 39. Zum Zusammenhang von weiblicher Koketterie im Verhältnis zu Männern vgl. An Luise, Marly, 27.7.1702, HO, 1, 178, S. 303: Carllutz macht mich noch die princes von Allen haßen; den hette die ihn nicht so mitt ihrer verfluchten coquetery verfolgt, were er zu Hannover blieben undt nicht umbkommen. Vgl. An Luise, Paris, 28.4.1696, HO, 1, 37, S. 64: daß daß hohenloische freüllen lustig sein kan (…) wundert mich gar nicht, den ich habe gehört, daß sie gar coquet sein solle, undt die coquetten fragen nach nichts; wen sie nur viel admirateurs haben, ist schon alles gutt. 10.4.1718, HO, 3, 905, S. 234: Man kan nicht allezeit ernstlich sein, aber es ist ein großer unterschiedt in, sich etlichmahl verenderung zu geben, oder ahn nichts, alß divertissementen, zu gedencken, wie alle coquetten thun; sie wollen alle sehen undt gesehen werden. St. Cloud, 20.8.1718, HO, 3, 960, S. 413 u. 21.2.1720, HO, 5, 1141, S. 213. Vgl. DE LA ROCHEFOUCAULD, Maximes, hg. v. TRUCHET, 274, S. 71: Les femmes croient souvent aimer encore qu’elles n’aiment pas. L’occupation d’une intrigue, l’émotion d’esprit que donne la galanterie, la pente naturelle au plaisir d’être aimées, et la peine de refuser, leur persuadent qu’elles ont de la passion lorsqu’elles n’ont que de la coquetterie. S. das Beispiel der Fürstin v. Nassau-Siegen [vermutlich Amalie Luise v. Kurland, 1687–1750, seit 1708 zweite Gemahlin von Friedrich Wilhelm Adolf v. Nassau-Siegen, 1680.1722]: An Luise, St. Cloud, 24.5.1721, HO, 6, 1230, S. 129 u. Paris, 26.1.1719, HO, 4, 988, S. 18: Daß dolle leben, so die fürstin von Nassau-Siegen führt, hatt sie Franckreich zu dancken; da hatt sie daß coquette leben gelernt, sowie Frau von Börstel als Gegenbeispiel An Luise, St. Cloud, 26.4.1721, HO, 6, 1223, S. 94: Sie (...) ist weder desbauchirt, noch coquet, wie es der große brauch jetzt hir in Frankreich, da man taglich sachen hört, daß einem die haar zu berg stehen mögen. Vgl. An Amalie Elisabeth, Marly, 28.1.1705, HO, 1, 225, S. 368: Hir were man nicht so difficile undt die cavalier trünken so woll mitt der cammermagt, alß ihrem freüllen, wen sie nur coquet ist. Sauffen haben sie auch gern; aber die warheit zu bekenen, so seindt es nicht mägte, so sich hir voll sauffen, sondern leütte von gar großer qualitet. Vgl. PULZ, Frauen, S. 222; PULZ, Gula, S. 163; SIMON-MUSCHEID, Umgang, S. 48; Helmut PUFF, Wollust lernen, in: Die Sieben Todsünden in der Frühen Neuzeit, Frühneuzeit-Info 21 (2010), S. 8– 21, hier 13; Werner BECKER, Von Kardinaltugenden, Todsünden und etlichen Lastern. Bilder und Plastiken zur Kultur- und Sittengeschichte des 12. Bis 19. Jahrhunderts, Leipzig 1975, S. 78–92. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 29.6.1721, H, 412, S. 731:daß dolle undt leichtfertige leben zu Paris wirdt alle tag ärger undt abscheülicher. Auch so – daß wen es donnert – wirdt mir angst vor Paris; 3 damen von qualitet

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Insbesondere in der Régence, die nach dem Tod Ludwigs XIV. 1715 anbrach und allgemein als Zeit einer „Lockerung der Sitten“257 bezeichnet wird, thematisierte Elisabeth Charlotte in ihren Briefen die Lebensführung ihres Sohnes Philippe. Im Dezember 1717 schrieb sie: Viel zu drincken, ist freylich schlim vor die augen, undt zu allem ungluk sauffen die damen hir mehr, alß die mansleütte, undt mein sohn (unter unß gerett) hatt eine verfluchte maitres, die seüfft wie ein bürstenbinderin, ist ihm auch gar nicht treü. Aber da fragt er kein haar nach, ist gar nicht jaloux258 ; daß macht mich alß bang, daß er noch etwaß schlimes von dießem commers ertappen wird; gott bewahre ihn davor! Dieße verteüffelte compagnie, wo er bey alle nacht zu nacht ist undt sein ahn taffel biß 3 oder 4 uhr morgendts, daß muß gewiß ungesundt sein; aber daß argste ist, daß weillen er nicht jaloux, kan er kein abscheü vor seiner boßen compagnie leben nehmen. Gott wolle unß beystehen undt nicht straffen! Ich bitte Eüch, last [betet, WLH] fleißig vor seine bekehrung!259

Elisabeth Charlottes Kritik richtet sich hier primär auf den sozialen Umgang ihres Sohnes, der zu dieser Zeit hauptsächlich aus einer Gruppe ehrgeiziger Emporkömmlinge bestand, die den Regenten umgaben, um persönliche Einflüsse geltend zu machen. Was auf den ersten Blick wie die sorgenvolle Einschätzung einer Mutter aussieht, ist durchaus als Muster zur Bewertung höfischer Sozialbeziehungen zu verstehen. Auch der Duc de Saint-Simon mokierte sich in seinen Memoiren zum Jahr 1716 über den Regenten und seine Entourage,260 die Philippe, laut Saint-Simon, mehrfach selbst als des roués bezeichnet hatte.261 Die Bezeichnung als roués – als diejenigen, die die Marter des Rades verdienen, rücke die Günstlinge in die Nähe von Dieben und Prostituierten, so konstatiert Michel Delon in seinen Überlegungen zum Begriff der débauche (Ausschweifung). Durch das Zusammensein mit den sittenlosen roués drohte auch dem Regenten die Übernahme von deren „Vulgarität und Gewalt“, was unweigerlich zu einer sozialen Deklassierung führen müsse.262 Auch Elisabeth Charlotte machte auf diese Zusammenhänge von Körperpraktiken, Lebensführung und höfischer Ehre aufmerksam263 – sie allerdings bezog sich ein

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haben waß abscheüliches gethan. Sie seindt den turcken biß nach Paris gefolgt – haben deß ambassadeurs sohn zu sich gezogen – ihn voll undt doll gesoffen, undt 2 tag nach einander in dem labirinth mitt dem großbartigen kerl zu thun gehabt. An C. F. v. Harling, Paris, 6.1.1718, H, 263, S. 429. S. dazu Michel DELON, Débauche, Libertinage, Libertin, in: Rolf REICHARDT u. Hans-Jürgen LÜSEBRINK (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Heft 13, München 1992, S. 9–45, hier 17. Hier bedeutet jaloux interessengeleitet. Vgl. zum Begriff KAPP, Pathos, S. 183–184. An Luise, Paris, 23.12.1717, HO, 3, 875, S. 154. Zu Philippes diätetischen Gewohnheiten des Aderlasses und Badens auch An Luise, St. Cloud, 12.6.1718, HO, 3, 924, S. 294: Mein gott, wie seindt die mansleütte aplicirt, sich selbsten an der gesundtheit zu schaden. Vgl. COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 5, S. 246 u. 823–824; dt. Übers.: MASSENBACH (Hg.), Memoiren, Bd. 4, S. 37–40. Vgl. COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 5, S. 246, Anm. 7; DELON, Débauche, S. 19. Vgl. DELON, Débauche, S. 19. S. auch An Sophie, Versailles, 16.3.1698, NLA-HStAH, VIII,1, 147v, vgl. B, 1, 336, S. 328: mein sohn haben die favoritten von Monsieur gantz eingenohmen, er liebt die weiber, undt sie seindt seine couplers schmarotzen freßen undt sauffen mitt ihm, undt stecken ihn in ein solch luderleben, daß er nicht wider herauß kan kommen, undt weillen er weiß, daß ich sein leben nicht aprobire, so scheüt er mich undt hatt mich gantz undt gar nicht lieb, Monsieur ist fro daß er seine favoritten lieb hatt undt mich nicht, leÿdt also alles von meinem sohn.

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ums andere Mal vor allem auf eine Frau, die aus ihrer Sicht die kritikwürdigste Person in der Gruppe der roués darstellte. Die Kurtisane (verfluchte maitres) wird in zweifacher Hinsicht charakterisiert: zu allem ungluck trinke sie einerseits nicht nur mehr als die Männer in ihrem höfischen Umfeld – ihr Trinkverhalten entspreche vielmehr dem einer den unteren Ständen zugehörigen bürstenbinderin.264 Daraus resultiere Untreue, also ein Verhalten, das dem Ideal der adeligen Frau diametral entgegengesetzt war. Diese moralisierende Argumentation zwischen Vorstellungen ständischer und geschlechtsbezogener Ehre wird mehrfach direkt an gesundheitliche Aspekte rückgebunden. Schon einleitend bemerkte Elisabeth Charlotte, dass das Trinken freylich schlimm vor die Augen sei und ihrem Sohn, der schon seit längerer Zeit unter Problemen mit den Augen litt,265 nicht guttun könne. Gegen Ende des zitierten Abschnitts kommt sie noch einmal auf das nächtelange Wachen und übermäßige Essen an der Tafel zu sprechen, das gewiß ungesundt sein müsse. Die Untreue der Mätresse ist auch in gesundheitlicher Perspektive direkt angesprochen, wenn Elisabeth Charlotte befürchtet, die Promiskuität der Mätresse könne dazu führen, dass ihr Sohn etwaß schlimes von dießem commers ertappen könnte. Angedeutet ist hier vermutlich eine sexuell übertragbare Erkrankung. Die Mätresse disqualifizierte sich selbst mit ihren Praktiken also im Blick auf diätetische Normen auf der ganzen Linie.266 In ihren Sorgen um Gesundheit und persönliche Integrität ihres Sohnes wusste Elisabeth Charlotte letztlich keinen Rat, als das Urteil bereitwillig der göttlichen Macht zu überantworten, die ihre und Luises Gebete um seine Bekehrung erhören und ihn auf den rechten Weg zurückführen werde, wenn sie es für richtig halte. Ähnliche Erzählmuster prägten auch Elisabeth Charlottes Schreiben über die Kamarilla ihres Gatten Philippe. Am Beispiel Madame Granceys, einer Vertrauten von Philippes Favoriten, dem Chevalier de Lorraine, führte Elisabeth Charlotte aus: Sie that nichts als mit ihren Liebhabern spielen, bis 3 oder 6 Uhr des Morgens, fressen, Tabak schmauchen, und hernach thun, was ihr gemein Handwerk267 war. Wie sie ihre Zeit [ihre Menstruation] verlohr, wollte sie verzweifeln, rief: je deviens vieille & ne pourrai plus avoir d’enfans! Das lautet wohl für eine Jungfer, alle Menschen, ihre Freunde und ihre Feinde haben drüber gelacht.268

Spielen, fressen, Tabak schmauchen sind hier explizit als notwendige Voraussetzungen für das gemein Handwerk der Kurtisane benannt. Das von Madame de Grancey beklagte Altern hingegen wird mit der Aufgabe dieser Gewohnheiten verbunden – letztlich ist es also der ‚Lauf der Natur‘, der sich den untugendhaften Praktiken entgegenstelle. Die Uneinsichtigkeit Madame de Granceys in diese Zusammenhänge wird von Elisabeth Charlotte als lächerliches Verhalten dargestellt.

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Zur Etymologie des Sprichwortes s. Karl Friedrich Wilhelm WANDER, Deutsches SprichwörterLexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Bd. 4, Leipzig 1873, Sp. 30–31, Nr. 58; auch SPODE, Trunkenheit, S. 97. Vgl. den Brief An Luise, Paris, 25.11.1717, HO, 3, 867, S. 132, dem zufolge Philippe sich bereits eineinhalb Jahre zuvor am Auge verletzt hatte. S. auch APPELT, Vapeurs, S. 125. Zu ähnlichen Formulierungen s. BALBIANI, „Sexualität“, S. 45–46. An C. v. Wales, o.O., 4.7.1719, A, 20, S. 278–279.

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Trinkende und Tabak schnupfende Frauen seien vielmehr verantwortlich für ‚Entgleisungen‘ in der höfischen Geschlechterordnung.269 Im Juli 1708 schrieb sie an ihre Tante: mich wundert nicht mehr daß die mannsleütte die weiber verachten undt sich unter einander lieben, die weiber seindt gar zu verachtliche creaturen itzunder mitt Ihrer tracht mitt ihrem sauffen undt mitt ihrem taback, welches sie greslich stinkendt macht.270

Die Erfüllung normativer Anforderungen an die weibliche Ehre erscheint also als entscheidender Punkt für die gelungene Verkörperung des Personkonzepts271 der adeligen Frau und somit für stabile Geschlechterverhältnisse und eine Ordnung des ‚Sexuellen‘ in der höfischen Gesellschaft. Dass ausgerechnet Elisabeth Charlotte, deren Gatte für seine gleichgeschlechtlichen Neigungen durchaus bekannt war, den ehrlosen Trink- und Schnupfpraktiken der Frauen Schuld an der zunehmenden Bedeutung der mänerliebe272 gab, ist auffällig und führt ins Zentrum des folgenden Abschnitts, in dem ihre sexuellen Praktiken und Einstellungen näher beleuchtet werden sollen.

4. lit à part : Praktiken des ‚sexuellen‘ Begehrens 273

Sexualität und Liebe werden gemeinhin als überzeitliche Universalien menschlicher Existenz verstanden.274 Geschichtswissenschaftliche Forschungen haben im Anschluss an Michel Foucaults Arbeiten hingegen die historische Bedingtheit bestimmter ‚Kulturen des Sexuellen‘ herausgearbeitet und die zeitspezifischen Konnotationen des im Bereich der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts entstandenen Begriffs ‚Sexualität‘ aufgezeigt.275 Ohne Anachronismen aufzusitzen, kann für vormoderne Zusammenhänge also 269 270

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Vgl. TLUSTY, Crossing, S. 186–187. An Sophie, Versailles, 1.8.1706, NLA-HStAH, XVI,2, 448r–448v, vgl. B, 2, 611, S. 140–141; vgl. auch 25.10.1711, ebd., XXI, 862v–863v: der König sagt alß recht possirlich es seÿe ihm leÿdt daß zu seiner zeit die damen nicht die tracht undt maniren gehab hetten alß nun den mitt dießen coeffuren mitt dem taback würde ihn [in] keine versuchung gebracht haben mitt ihren ungeschnürte leiber undt escharpen hirauß sehen E.L: daß sie undt ich nicht allein sein so die itzigen moden mißfallen. D.h. mit dem ‚manteau‘ anstelle des ‚grand habit‘. Vgl. BOMBEK, Kleider, S. 193–194; JONES, Sexing, S. 21–22. Vgl. JANCKE u. ULBRICH, Individuum. Der Terminus ließe sich definieren als Konzeptionen des Person-Seins, womit als Perspektive angedacht ist, dass personale Existenzweisen immer in Relation zu ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz gedacht werden müssen. An Sophie, Paris, 12.5.1695, NLA-HStAH, V, 191r, vgl. B, 1, 207, S. 216 [sic!]. An Sophie, Versailles, 21.1.1703, ebd., XIIIa, 55v–56r, vgl. B, 2, 517, S. 57. Vgl. Robert PADGUG, Sexual Matters. On Conceptualizing Sexuality in History, in: Edward STEIN (Hg.), Forms of desire. Sexual orientation and the social constructionist controversy, London 1992, S. 41–67, hier 47–54. Vgl. Michel FOUCAULT, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983; PADGUG, Sexual Matters, S. 53–54; Louise FRADENBURG u. Carla FRECCERO, Preface, in: Dies. (Hg.), Premodern Sexualities, New York, London 1996, S. vii–xii, hier viii; OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 118; Isabel HULL, Sexuality, State and Civil Society in Germany. 1700– 1815, Ithaca, London 1996, S. 6; Franz X. EDER, Sexualitäten und Geschlechtergeschichte, in: Johanna GEHMACHER u. Maria MESNER (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven (Querschnitte 14), Innsbruck, Wien, München, Bozen, S. 203–219, hier 203–204; BALBIANI, „Sexualität“, S. 23.

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schwerlich von ‚Sexualität‘ gesprochen werden.276 Dieser begrifflichen Problematik kann jedoch produktiv begegnet werden, indem die Sprache in den zu analysierenden Materialien selbst ins Zentrum gerückt und nach den Bedeutungen der Quellenbegriffe gefragt wird.277 Elisabeth Charlotte verwendete in ihren Briefen primär den Begriff der Liebe. Dabei fällt auf, dass das Bedeutungsspektrum des Wortfeldes aus heutiger Sicht ungewöhnlich breit angelegt ist. So beschreibt Elisabeth Charlotte als Liebe sowohl Handlungen (amour machen)278 als auch Neigungen (haßen vs. lieben)279 und unterschiedliche Beziehungsqualitäten (sich lieben, ineinander verliebt sein)280 . Dabei ist die Verwendung des Verbs lieben mitnichten auf bestimmte Personenkreise festgelegt. Vielmehr gibt es Liebe von mänern zu weibern, die Elisabeth Charlotte in die Liebe in den ehestand und die Liebe zu maistressen281 differenziert; sie spricht von Liebe zwischen Männern (mäner lieb)282 , wobei sie insbesondere die Liebe zu jungen kerls bzw. puben283 hervorhebt, von weibsleütten, die in einander verliebt sind,284 von der Liebe einer Ehefrau zu ihrem herrn,285 aber auch von Personen, die zwei Geschlechter gleichermaßen lieben.286 Es gibt Liebe aus leidenschaftlicher Hingabe (passion)287 , genauso wie aus Loyalitätsgefühlen (schuldigkeit)288 – Liebe, die nach persönlichem Vergnügen (divertissement)289 sucht, und solche, die zur Ausschweifung (débauche)290 führt. Auch wenn Elisabeth Charlotte also nur einen Begriff zur Bezeichnung dieser verschiedenen Motive, Praktiken und Beziehungsformen verwendete, so sind ihre Briefe von dezidierten Bewertungen durchzogen, die für Fragen nach der (Be-)Deutung von ‚Sexualität‘ und ‚Liebe‘ in der Frühen Neuzeit besonders reizvoll sind. Im Unterschied zu 276

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Wenn ich im Folgenden dennoch stellenweise nicht umhinkomme, ‚Sexualität‘ oder das Adjektiv ‚sexuell‘ zu verwenden, beziehe ich mich damit auf in bestimmte Macht- und Gewaltverhältnisse eingebettete Handlungen, die je nach situativem Kontext und historisch-kultureller Rahmung unterschiedliche Praktiken und Beziehungen hervorbringen können, denen jeweils kontingente psychosoziale Bedeutungsaspekte, Präferenzen in der Wahl der Partner_innen bzw. der Objekte und verschieden ausgeprägte Bezüge zu Reproduktion zugrunde liegen können. Diesen Weg schlägt vor BALBIANI, „Sexualität“, S. 41–47. In Bezug auf die Begriffe „Lust und Liebe“ auch Marion LISCHKA, Liebe als Ritual. Eheanbahnung und Brautwerbung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe (Westfälisches Institut für Regionalgeschichte, Landschaftsverband Westfalen-Lippe Münster, Forschungen zur Regionalgeschichte 55), Paderborn, München, Wien, Zürich 2006, S. 16. An Luise, Paris, 10.11.1697, HO, 1, 54, S. 96. An Amalie Elisabeth, Versailles 3.12.1705, HO, 1, 280, S. 426. An Luise, St. Cloud, 25.6.1718, HO, 3, 927, S. 300. Ebd., 21.7.1720, HO, 5, 1141, S. 209. An Sophie, Paris, 12.5.1695, NLA-HStAH, V, 191r, vgl. B, 1, 207, S. 216 [sic! Datum]. An Amalie Elisabeth, Versailles 3.12.1705, HO, 1, 280, S. 426; An Luise, St. Cloud, 21.7.1720, HO, 5, 1141, S. 209. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154. An Luise, Paris, 4.2.1719, HO, 4, 991, S. 27. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 144, S. 249; An Sophie, Versailles, 24.4.1695, NLA-HStAH, V, 179r. An Luise, St. Cloud, 21.7.1720, HO, 5, 1141, S. 209. Ebd. An Amalie Elisabeth, Versailles 3.12.1705, HO, 1, 280, S. 426. An Luise, Versailles, 5.12.1697, HO, 1, 55, S. 96.

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den weitaus zahlreicheren Selbstzeugnissen, in denen das Sprechen über ‚Sexualität‘ und ‚Liebe‘ zumeist tabuisiert und allenfalls ‚zwischen den Zeilen‘ thematisiert wird, ermöglichen ihre im Stil des Grand Siècle bisweilen durchaus ‚geschwätzigen‘291 Briefe Einblicke in diesen hochgradig gesellschaftlich normierten Bereich der Körperpraxis. Auch wenn es letztlich unmöglich bleibt, reales Verhalten aus diesen Briefen abzulesen, also „hinter den Spiegel“ zu schauen, wie Michelle Perrot in ihrer Einleitung zum vierten Band der ‚Geschichte des privaten Lebens‘ treffend formulierte292 – so erlauben die Briefe dennoch, den Zusammenhängen von diskursiv hervorgebrachten Vorstellungen und Wissensbeständen sowie konkreten Praktiken und leiblichen Empfindungen nachzuspüren.293 Im Folgenden soll deshalb analysiert werden, wie Elisabeth Charlotte in ihren Briefen sowohl über legitime als auch über abweichende Formen von sexuellem Verhalten schrieb, auf welche gesellschaftlichen Erklärungsmuster und Normvorstellungen sie dabei Bezug nahm, welche Vorstellungen über die Geschlechterordnung implizit in ihre Auffassungen eingewoben waren und wie sie ihre eigenen Neigungen und Praktiken zu diesen Ansichten ins Verhältnis setzte. Über ‚Liebe‘ und ‚Sexualität‘ sprach Elisabeth Charlotte vor allem in den Briefen an ihre Halbschwestern, die Raugräfinnen Luise und Amalie Elisabeth, sowie in den ‚Anekdoten‘, die vermutlich an die englische Kronprinzessin Caroline von Wales adressiert waren. Die Harling-Briefe und die Briefe an ihre Tante Sophie enthalten hingegen kaum derartig detaillierte und vor allem auf die eigene Person bezogene Schilderungen. Vermutlich war dafür entscheidend, dass die der gleichen Generation angehörenden Halbschwestern beide unverheiratet geblieben waren und Elisabeth Charlotte bei ihnen eine Sicht auf das Thema anzutreffen hoffte, die ihrer eigenen nicht unähnlich war. Während Debatten um ihre eigene sexuelle Lebenspraxis mit Tante und Hofmeisterin als weniger schicklich galten, fiel es Elisabeth Charlotte wohl wesentlich leichter, darüber mit den Schwestern (* 1663 und 1661) aus der gleichen Generation und der deutlich jüngeren Caroline (* 1683) zu sprechen. Seit ihrem 19. Lebensjahr lebte Elisabeth Charlotte in einer patriarchal strukturierten Adelsehe mit all den ihr anhaftenden gesellschaftlichen Erwartungen wie vor allem der Erfüllung repräsentativer und dynastischer Pflichten für das königliche Haus Orléans.294 Allerdings führte sie diese Ehe mit einem Gemahl, der ihren eigenen Aussagen zufolge sein Tag des Lebens von keinem Weibesmensch verliebt gewesen295 sei. Nach der Geburt zweier 291

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Vgl. FOUCAULT, Wille, S. 41 spricht von einer „geschwätzige[n] Aufmerksamkeit, die seit zwei oder drei Jahrhunderten ihren Lärm um den Sex macht (…).“; TAEGER, Nachtverhältnisse, S. 8; Katherine CRAWFORD, European Sexualities 1400–1800 (New Approaches to European History), Cambridge 2007, S. 214 u. 232–233, die für das 17. Jhd. eine gesteigerte kritische Aufmerksamkeit gegenüber gleichgeschlechtlicher Sexualität konstatiert. Michelle PERROT, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 7–11, hier 10–11; Vgl. auch OPITZBELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 116–117; BALBIANI, „Sexualität“, S. 41. Vgl. EDER, Sexualitäten, S. 205–207. Vgl. zur Konzeption der Maisons royales ELIAS, Höfische Gesellschaft, S. 88–89. Vgl. An C. v. Wales, o.O., 24.5.1716, A, 7, S. 274: Mons. seel. ist sein Tag des Lebens von keinem Weibesmensch verliebt gewesen, hat sich aber Schande halber, um dem König zu gefallen, angstellt, als wenn ers wäre, hat sich aber nicht lange zwingen können. An C. v. Wales, o.O., 21.4.1719, A, 6, S. 274: Die Maréchale de Grançai war die albernste, sotteste Frau von der Welt. Mons. seel. hatte sich angestellt, als wenn er verliebt von der

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Söhne und einer Tochter (1676) kamen Monsieur und Madame überein, getrennt zu schlafen (lit à part).296 Sexuelle Handlungen haben, nach allem, was über Elisabeth Charlottes Leben bekannt ist, seitdem für sie keine Rolle mehr gespielt.297 Aufgrund der Neigungen ihres Gatten (3.III.3),298 der er nach der Erfüllung seiner reproduktiven Pflichten offenbar intensiver nachging,299 befand sich Elisabeth Charlotte schon im Alter von 24 Jahren – deutlich vor Monsieurs Tod 1701 – in einer ähnlichen Situation wie eine adelige Witwe. Irritierend war dieser Zustand für sie selbst offenbar schon, zumindest schrieb sie ihrer Tante: wen man jungfer wider kan werden, nach dem man in 19 jahren nicht beÿ sein Man geschalffen hatt, so bin ich es gar gewiß wider.300 Auch wenn Elisabeth Charlotte ihre eigenen sexuellen Praktiken also durchaus ansprach, sind es dennoch eher ihre Einlassungen über die verschiedensten – aus ihrer

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Grançai wäre, aber hätte sie keinen andern Liebhaber gehabt als diesen, hätte sie ihre Reputation gar nicht verlohren. Es ist nichts übels zwischen ihnen vorgegangen. Er hat sich allzeit gehütet, allein bei ihr zu seyn. Sie sagte, wenn man ihn allein bei ihr gelassen, wäre ihm angst und bange geworden, und sagte allezeit er wäre krank. Vgl. An C. v. Wales, o.O., 14.7.1719, A, 46, S. 90 sowie eine ähnliche Aussage von Madame de Lafayette zitiert bei VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 169; auch HARRIS, Agendas, S. 61. Vgl.: An Sophie, Versailles, 21.1.1703, NLA-HStAH, XIIIa, 55v–56r, vgl. B, 2, 517, S. 257 Es ist lengst daß Ich vor solch ungemach [dem Kindbett] sicher bin undt nach meiner dochter Kindtbett habe ich kein gefahr dazu außgestanden den Monsieur hatt gar baldt hernach lit apart gemacht undt der handel gefiel mir nicht genung Monsieur S. zu bitten wider in mein bett zu kommen, wen I.L. in mein bett schlieffen must ist [sic!] so auff dem bordt liegen daß Ich etlichmahl im schlaff aus dem bett gefahlen bin, den I.L. konten nicht leÿden daß man Ihn ahn rührt, undt wens mir ungefehr im schlaff geschah daß ich ein fuß außstreckte undt ihn anrührte, so machte er mich wacker undt filtzte mich eine halbe stundt, ich war also hertzlich fro, wie I.L. von sich selber die parthien nahmen in dero kammer zu schlaffen undt mich ruhig in mein bett liegen zu lassen ohne forcht nachts gefiltzt zu werden oder auß dem bett zu fallen. An C. v. Wales, o.O. 11.6.1717, A, 19, S. 221–222: Ich bin recht froh geweßen, wie mein Herr seel. gleich nach meiner Tochter Geburt lit à part gemacht hab, denn ich habe das Handwerk, Kinder zu bekommen gar nicht geliebt. Wie mir’s I.L. proponirten, antworte ich: Oui, de bon coeur, Monsieur, j’en serai trés contente pourvû que Vous ne me haïsfiés pas, & que Vous continués à avoir un peu de bonté pour moi. Das versprach er mir, und wir waren beide sehr content von einander. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 199: „Ja, sehr gerne Monsieur, ich bin sehr damit einverstanden, vorausgesetzt, Ihr haßt mich nicht dafür, sondern bleibt mir auch weiterhin ein wenig wohlgesonnen.“ Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 200. Vgl. ebd, S. 169–191; CROMPTON, Homosexuality, S. 339–345, bes. 340–341; Maurice LEVER, Les Bûchers de Sodome. Histoire des „infâmes“, Paris 1985, S. 145–151; Javier BENITO DE LA FUENTE, Sodoma en Versalles. La homosexualidad en la corte de Luis XIV a travès de las cartas de la Princesa Palatina, in: Àngels SANTA y Cristina Solé CASTELLS con la colaboración de Carmen FIGUEROLA, Montserrat PARRA y Pere SOLA (Hg.), Texto y sociedad en les lettras francesas y francófones, Lleida 2009, S. 99–108, hier 101–102; mit psychoanalytischer Deutung Nancy NICHOLS-BARKER, Brother to the Sun King. Philippe, Duke of Orléans, Baltimore, London 1989, S. 56–65; mit aus heutiger Sicht anachronistischer Deutung, der zufolge Monsieurs erste Ehefrau die Chance gehabt hätte, ihn aus „seinen bisexuellen Verstrickungen“ zu „erlösen“ KNOOP, Madame, S. 37 Mit FOUCAULT, Wille, S. 106–109 ließe sich hier von einer typischen Konstellation innerhalb des Allianzdispositivs ausgehen. An Sophie, Versailles, 2.9.1696, NLA-HStAH, VI, 163r, vgl. B, 1, 251, S. 254. Vgl. Paris, 15.5.1695, ebd., V, 196r, vgl. B, 1, 208, S. 216–217. Vgl. mit abweichender Datierung An A. K. v. Harling, Paris, 27.3.1694, H, 106, S. 221–222: Schwanger kan ich nicht sein, den seÿder 12 jahren schlaff ich allein. An Sophie, St. Cloud, 19.3.1693, NLA-HStAH, IV, 56r–56v, vgl. B, 1, 163, S. 180: weillen ich unmöglich schwanger sein kan in dem ich gantz alleine schlaffe.

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Sicht – ehrlosen sexuellen Ausschweifungen (débauche),301 die die Seiten ihrer Briefe füllten. Dabei teilte sie die traditionellen normativen Vorstellungen, die Mittelalter und weite Teile der Frühen Neuzeit dominierten, denen zufolge jegliche sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe als Unzucht bzw. Sünde galten.302 Aus ihrer Sicht waren solche Handlungen nur legitim, wenn sie gottgefällig, d.h. maßvoll innerhalb einer monogamen Ehe zwischen Mann und Frau stattfanden. Jegliche hiervon abweichende Praktiken betrachtete Elisabeth Charlotte kritisch: vom allzu frühen ‚Verlust der Unschuld‘303 über das aktive Verhalten unverheirateter weibsleütte304 bis zum gemeinschaftlichen Exzess (unerhörte sachen) unter ganzen 6 par ehe[-]leütte[n] von qualitet.305 Ausdrücklich wandte sie sich auch gegen die gesellschaftlich weitgehend akzeptierte eheliche Untreue von Männern mit Konkubinen bzw. Mätressen.306 Dabei erschien ihr besonders verwerflich, wenn die bei solchen Kontakten übertragenen ansteckenden Krankheiten zu einer Gefährdung für die Gesundheit der Beteiligten führten.307 Im Falle des Duc de Chantilly bezog Elisabeth Charlotte sich zudem auf gesellschaftliche Folgen eines verantwortungslosen Umgangs mit der eigenen Gesundheit. An Luise schrieb sie im Mai 1721, der Duc sei aufgrund des Verkehrs mit seiner desbeauchirte[n] metres so schwer erkrankt, dass chronische Schwindelattacken zu-

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Débauches = Sittenlosigkeit, Ausschweifungen; débaucher qn. pour faire qc. = jmd. zu Ausschweifungen verführen. Zum Begriff, dessen zeitgenössische Bewertung zwischen honnête débauche und débauche malhonnête schwankten, vgl. DELON, Débauche, S. 9–17. Vgl. bspw. Pierre RICHELET, Dictionnaire François. Contenant les mots et les choses plusieurs nouvelles remarques sur la langue françoise, 2 Bde., Genf 1680, ND Hildesheim, New York 1973, S. 210. Vgl. FOUCAULT, Wille, S. 42; Karma LOCHRIE, Presidential Improperties and Medieval Categories. The Absurdity of Heterosexuality, in: Glenn BURGER, Steven F. KRUGER (Hg.), Queering the Middle Ages (Medieval Cultures 27), Minneapolis 2001, S. 87–96, hier 92; CRAWFORD, Sexualities, S. 190 u. 199; Helmut PUFF, Sodomy in Reformation Germany and Switzerland 1400–1600, Chicago 2003, S. 137; Susanna BURGHARTZ, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn, München, Wien, Zürich 1999, S. 26 u. 287; GLEIXNER, „Das Mensch“, S. 12; OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 118. An C. v. Wales, o.O., 16.6.1719, A, 155, S. 193: Im 13ten Jahre war mein Sohn schon ein Mann, eine Frau von Qualitäten hat ihn gelehrt gemacht. An Luise, Paris, 13.3.1718, HO, 3, 897, S. 205: Ich [glaube,] die zeit ist herbey kommen, wie in der h. schriefft stehet, daß 7 weiber nach eines mans hoßen lauffen werden. Niemahlen seindt die weibsleütte geweßen, wie man sie nun sicht; sie thun, alß wen ihre seeligkeit drauff bestunde, bey mansleütte zu schlaffen; die ahn heürahten gedencken, seindt noch die ehrlichsten. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 29.6.1721, H, 412, S. 731. Zur Marquise de Richelieu An Amalie Elisabeth, Versailles, 23.12.1701, HO, 1, 149, S. 261–262; zur untreuen Frau des Duc de Chantilly An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 100–101. An C. F. v. Harling, Versailles, 14.2.1715, H, 203, S. 342–343. An Luise, St. Cloud, 4.9.1697, HO, 1, 52, S. 92. Vgl. Margaret R. SOMMERVILLE, Sex and Subjection. Attitudes to Women in Early-Modern Society, London, New York 1995, S. 141–173. Im Laufe des europäischen Mittelalters kam es zu einer von der Kirche getragenen Neubewertung des Konkubinats, in deren Folge Konkubinen zu unrechtmäßigen Mätressen und ihre Kinder zu Bastarden degradiert wurden. S. dazu Jack GOODY, Die Entwicklung von Ehe und Familie, Frankfurt a.M. 1989, S. 89–90. Vgl. An C. v. Wales, o.O., 1.12.1719, A, 178, S. 199; An Luise, Versailles, 30.3.1709, HO, 2, 415, S. 91 u. 27.1.1710, HO, 2, 344, S. 3, St. Cloud, 12.11.1719, HO, 4, 1069, S. 307 u. 26.4.1721, HO, 6, 1223, S. 94. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 304.

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rückgeblieben seien, die ihm nicht erlaubten, zu Pferd oder in Kutschen zu reisen, weshalb er les estats de Bourgogne in seinem gouvernement diß jahr nicht halten308 könne. Bevorzugtes Objekt von Elisabeth Charlottes Kritik an solchen débauches mit Mätressen war aber ihr eigener Sohn. 1697 beklagte sie sich in einem Brief an Luise über Philippe: weillen er nur die weiber lieb hatt undt nicht von der anderen desbauchen ist, so jetzt gemeiner hir ist, alß in Itallien, so meint er, man solle ihn noch dazu loben undt danck wissen; mir aber stehet sein leben gar nicht ahn.309

Elisabeth Charlotte zufolge unterschied ihr Sohn also die Weiberliebe von den anderen desbauchen, die zeitgenössisch auch als italienische Ausschweifungen bekannt waren. Damit meinte Philippe Kontakte zwischen Männern, die er offenbar für weitaus verwerflicher hielt als seine galanterien310 mit Frauen. Auch wenn Elisabeth Charlotte sich in ihrem Brief nicht gewillt zeigte, Philippes Lebensweise als ‚kleineres Übel‘ zu bagatellisieren, zeigen andere Aussagen, dass die desbauches zwischen Männern aus ihrer Sicht am ärgsten waren.311 Im Mai 1695 hatte sie etwa nicht ohne einen gewissen Stolz geschrieben, dass die mänerlieb am französischen Hof so häufig anzutreffen sei, dass man hir außer den König mons. Le dauphin undt mein sohn (…) nicht 3 andere fände, so nicht so sein.312 Dass Philippe ausschließlich weiber liebe, erscheint hier als besondere Qualität seiner Person, rückte ihn diese doch in die Nähe des Ideals adeliger Maskulinität bzw. maskuliner Adelswürde, die von Ludwig XIV. und dessen legitimem Nachfolger, dem Dauphin, verkörpert wurde. In seinem Werk ‚Sexualität und Wahrheit‘ hat Michel Foucault auf Wandlungsprozesse im Sexualitätsdiskurs im Laufe der Frühen Neuzeit aufmerksam gemacht, im Zuge derer Heterosexualität als ausschließliche Norm initiiert und abweichende Sexualitäten kriminalisiert worden seien.313 In der sich zumeist auf Gerichtsakten stützenden diskursanalytischen Forschung blieb die Dynamik dieses Wandels im Zusammenwirken von Diskurs und Praxis allerdings eher unterbelichtet.314 Ausgeklammert wurden mit Blick auf diese Wandlungsprozesse vor allem Ungleichzeitigkeiten und Überlagerungen ambivalen-

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An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 100–101. An Luise, Versailles, 5.12.1697, HO, 1, 55, S. 96. An Luise, St. Cloud, 4.9.1697, HO, 1, 52, S. 92. Vgl. folgende Aussagen über den Günstling ihres Gatten Philippe, den Marquis d’Effiat: An Sophie, Versailles, 26.8.1689, NLA-HStAH, II, 406r, vgl. B, 1, 92, S. 111–112: den es ist gewiß daß kein größer sodomit in franckreich ist alß dießer; undt daß es ein schlechter ahnfang vor einen jungen printzen (wie mein sohn ist) seÿe, mitt den ärgsten debauchen von der welt sein leben ahnzufangen. St. Cloud, 20.5.1689, ebd., II, 368r, vgl. B, 1, 87, S. 107: welcher der desbauchirtste kerl von der welt ist, undt insonheit auff die schlimbste art. An Sophie, Paris, 12.5.1695, NLA-HStAH, V, 191r, vgl. B, 1, 207, S. 216 [sic! Datum]. Vgl. FOUCAULT, Wille, bes. S. 42–43. Foucault spricht dabei von einem Prozess, im Zuge dessen sich auch der „unklare zivilrechtliche Begriff der ‚Ausschweifung‘“ dissoziiert habe: „Für die Gerichte bedeutete es kaum einen Unterschied, ob sie Homosexualität oder Untreue verurteilten, Heirat ohne Zustimmung der Eltern oder Sodomie.“ Vgl. OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 120; Helmut PUFF, Männergeschichten/ Frauengeschichten. Über den Nutzen einer Geschichte der Homosexualität, in: Hans MEDICK u. Anne-Charlott TREPP (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 125–170, hier 146–148.

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ter Diskursaussagen.315 Neuere Untersuchungen konnten herausarbeiten, dass auch im ausgehenden Mittelalter verschiedene ‚Unzuchtsformen‘ voneinander differenziert, unterschiedlich bewertet und sogar hierarchisiert wurden. So zeigt etwa Bernd-Ulrich Hergemöller in seinen Arbeiten anhand des populären (katholischen) Katechismus ‚Christenspiegel‘ des Münsteraner Bettelmönches Dietrich Koelde (1485), dass es im Anschluss an Augustinus üblich geworden sei, vier Grade von ‚Unzuchtssünden‘ zu unterscheiden: erstens die Prostitution als ‚einfache Unzucht‘, zweitens den Ehebruch, drittens die Blutschande (Inzest) und viertens die ‚Sodomie‘. Diese sei, so Hergemöller, als „gravierender“ eingestuft worden, „weil nur sie – im Unterschied zu den anderen Formen der Sexualsünden“ als „wider die Natur gerichtet“ verstanden worden sei.316 Gerade diese von Foucault im Wandlungsprozess der Sexualitätsregime besonders hervorgehobene „spezifische Dimension der ‚Widernatur‘“317 existierte also bereits in spätmittelalterlichen diskursiven Vorstellungen.318 Auch in Elisabeth Charlottes Briefen überlagern sich die diskursiven Deutungs- und Erklärungsmuster. Einerseits bezeichnete sie ähnlich wie im rechtlichen Diskurs in undifferenzierter Weise sowohl gleichgeschlechtliche als auch nicht monogame gegengeschlechtliche Praktiken als débauches, laster oder unzucht. So differenzierte sie in einer Aufzählung von aus ihrer Sicht devianten sexuellen Orientierungen und Handlungen etwa wie folgt: 315

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Verschiedene neuere Forschungen zeigen Kontinuitätslinien zwischen dem von Foucault im 19. Jhd. situierten Sexualitätsdispositiv und der ständischen Gesellschaft des Mittelalters sowie der Frühen Neuzeit auf. Vgl. dazu kritisch OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 118 mit Verweis etwa auf Leah OTIS-COUR, Lust und Liebe. Geschichte der Paarbeziehungen im Mittelalter (Europäische Geschichte), Frankfurt a.M. 2000, mit Bezug auf die Liebesheirat S. 179. Vgl. Bernd-Ulrich HERGEMÖLLER, Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter, Hamburg 2000, S. 162–163, 175, 8, zur These einer Verschärfung in der theologischen Argumentation gegen die Sodomie S. 166. Zur Bewertung des mann-männlichen Sexualverkehrs als ‚schlimmste Sünde‘ auch Helmut PUFF, Die Rhetorik der Sodomie in den Schriften Martin Luthers und in der Reformationspolemik, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 6 (2002), S. 328–342, hier 337. Vgl. FOUCAULT, Wille, S. 43. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 14.6.1721, HO, 6, 1237, S. 150. E. Ch. meint hier, dass man in Frankreich Ehebruch nicht mehr als verbottene Liebe betrachte und die Bezeichnung stattdessen auf gleichgeschlechtliche Liebe verweise. Vgl. PUFF, Männergeschichten, S. 158: „Sodomie kann in der mittelalterlichen Theologie jede Form des illegitimen Sexualverkehrs bedeuten, sexueller Verkehr zwischen einem Christen und einer Jüdin genauso wie heterosexueller Analverkehr; zugleich aber ist die primäre Konnotation des Worts in den spätmittelalterlichen Volkssprachen männliche Homosexualität.” TAEGER, Machtverhältnisse, S. 8, die in den frz. polizeilichen Quellen nur selten ‚Sodomie‘ als Oberbegriff für die verschiedenen Formen ‚abweichender‘ Sexualitäten findet. Im Gegensatz hierzu LOCHRIE, Improperties, S. 92 u. 95, die konstatiert, dass Heterosexualität in der Vormoderne nicht der normative Stellenwert zugekommen sei, den sie in der Moderne habe, Judith KLINGER, Ferne Welten, fremde Geschlechter. Gender Studies in der germanistischen Mediävistik, in: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 3,1 (1999), S. 49–63, hier 55–56 u. GenderTheorien, in: Claudia BENTHIEN u. Hans Rudolf VELTEN (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 267–297, hier 280, der zufolge Sodomie alle sexuellen Akte außerhalb der Ehe fasste, „ohne dass immer schon zwischen den Objektklassen gleich- und andersgeschlechtlicher Partner unterschieden würde“.

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wer alle die haßen woldt, so die junge kerls lieben, würde hir kein 6 menschen lieben können oder auffs wenigst nicht haßen. Es seindt deren allerhandt gattungen; es seindt, die die weiber wie den todt haßen undt nichts alß mannsleütte lieben können; andere lieben mäner undt weiber, von denen ist mylord Raby; andere lieben nur kinder von 10, 11 jahren, andere junge kerls von 17 bis 25 jahren undt deren seindt am meisten; andere desbauchirten sein, so weder mäner noch weiber lieben undt sich allein divertiren, deren ist die menge nicht so groß, alß der andern. Es seindt auch, so mitt allerhandt desbauchiren, vieh undt menschen, waß ihnen vorkompt. Ich kene einen menschen hir, so sich berümbt hatt, mitt alles zu thun gehabt zu haben, biß auff krotten [Kröten]; seyder ich es weiß, kan ich den kerl ohne abscheü nicht ahnsehen. Er war in meines herrn s. dinsten undt ein rechter boßer mensch, hatte gar keinen verstandt. Da segt Ihr, liebe Amelisse, daß die weldt noch schlimmer ist, alß ihr gemeint habt.319

Obwohl sie hier in Bezug auf die Wahl der Sexualpartner bzw. -objekte sowohl geschlechts- als auch altersbezogen differenziert, ist der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen eindeutig ein männliches Subjekt. Elisabeth Charlotte beginnt mit strikt gleichgeschlechtlichem und bisexuellem Begehren320 und unterscheidet in der Folge weiter nach dem Alter der begehrten ‚Objekte‘, wobei die größte Gruppe junge Männer im Alter von 17 bis 25 Jahren präferiere, während andere ihre Liebe auf Kinder im Alter von 10 bis 11 Jahren richten würden. Danach kommt sie auch auf die zu sprechen, die sich allein divertiren, und solche, die keinerlei Unterschied machen und mit was auch immer ihnen vorkompt (...) zu thun haben. Der kanadische Historiker Michael Sibalis hat in seiner Studie ‚Männliche Homosexualität im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution‘ aus diesem Zitat zweifellos überzeugend das parallele Existieren „verschiedener Arten gleichgeschlechtlichen Verlangens“321 abgeleitet. In anderen Aussagen erscheinen Elisabeth Charlottes Auffassungen jedoch deutlich heteronormativer – so etwa, wenn sie gegenüber Amalie Elisabeth 1701 darauf verweist, dass die mäner entweder eines oder das andere lieben322 oder wenn sie 1699 schreibt, alle Damen am französischen Hof, deren humor zur Weiberliebe tendiere, liebten gleichzeitig auch Männer.323 In diesem Sinne zeigen die zitierten Passagen aus Elisabeth Charlottes Briefen die Vielfalt verschiedener Aussagen in der diskursiven Praxis. Lineare Entwicklungsmodelle berücksichtigen viel zu selten die einzelnen Kommunikationskontexte,324 in denen be319

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An Amalie Elisabeth, Versailles 3.12.1705, HO, 1, 280, S. 426. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 195–196; BENITO DE LA FUENTE, Sodoma, S. 106. Vgl. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 144, S. 249: Es seindt aber noch vielle, die beyde lieben; deren findt man hir gar viel undt mehr alß von denen, so nur von eine inclination sein. S. auch das Beispiel des Grafen Philipp Ludwig Wenzel (1671–1742) von Sintzendorf An Amalie Elisabeth, Versailles, 23.12.1701, HO, 1, 149, S. 261. Vgl. Michael SIBALIS, Die männliche Homosexualität im Zeitalter der Aufklärung und Französischen Revolution (1680–1850), in: hg. v. Robert ALDRICH (Hg.), Gleich und anders. Eine globale Geschichte der Homosexualität, Hamburg 2007, S. 103–123, hier 109. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 144, S. 249: die mäner seindt so, sie müssen eines oder das andere lieben. Vgl. auch Versailles, 23.12.1701, HO, 1, 149, S. 261; An Luise, St. Cloud, 21.7.1720, HO, 5, 1141, S. 209: Es ist ein ihrtum, zu glauben, daß man einen man wehren kan, maistressen oder puben zu lieben; es muß eins oder daß ander hir sein. An Luise, St. Cloud, 17.7.1699, HO, 1, 90, S. 162: So seindt sie hir nicht; den alle, die von dem humor [der lesbischen Liebe zugeneigt], lieben auch die mäner. Zu den Kommunikationskontexten der zitierten Passagen s. 4.II.3 u. 3.IV.3.

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stimmte Aussagen, vor allem auch solche aus normativen Schriften, stehen. Im Folgenden sollen Elisabeth Charlottes Aussagen über gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken deswegen differenziert betrachtet und konsequent als Akte der Selbstpositionierung im diskursiven Gefüge und in ihrem sozialen Umfeld genauer in den Blick genommen werden. In ihrer Kritik folgte Elisabeth Charlotte vorrangig religiösen Argumentationslinien. So rezitierte sie in einem Brief an Luise vom Juni 1699 etwa die biblische Ankündigung der Sintflut nach der Genesis indem sie schrieb: Man kan woll von hir im landt sagen, wie in der heylligen schriefft stehet: „Alles fleisch hatt sich verkehret.“325 Die im Kontext des Zitates erwähnte gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern, aber auch zwischen Frauen erscheint hier als unmoralische Handlung, die die gottgegebene Ordnung pervertiere. Diesem tradierten Bewertungsmuster folgte auch die von Elisabeth Charlotte häufig verwendete Bezeichnung laster326 , womit die gleichgeschlechtlichen Liebespraktiken als eine Art Versündigung gegen die von Gott geschenkte Existenz verstanden wurden und somit auf Vorstellungen von Diätetik als gottgefälliger Lebensführung verwiesen.327 Das Praktizieren von Sodomie entlarvte für Elisabeth Charlotte zwar nicht mehr in direkter Weise die ‚falschen Christen‘, wie eine durchaus übliche Position im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Diskurs lautete. Dennoch aber war es aus ihrer Sicht irritierend, wenn eine Person wie der Kirchenälteste der reformierten Gemeinde in Charenton, Henri de Massue de Ruvigny (1648–1720), ehrlich und gutt war sowie gottesfürchtig die Bibel las, aber gleichzeitig mitt den manßleütten desbauchirt war.328 Auch zum Abbé d’Entragues,329 der zwar gewiß so viel verstandt wie irgendmöglich habe, aber wie ein Mädchen erzogen und d e s h a l b coquette geworden undt dem gemeinen laster, so hir regirt, anheimgefallen sei, schrieb Elisabeth Charlotte: Wen ich hören werde, daß er sich von dießem laster hinfüro abhelt, werde ich ihn vor recht bekehrt halten; aber führt er sein alt [leben] forth, wirdt er nicht bekehrt sein undt wirdt den Reformirten keine ehre ahnthun. Aber gott ist alles möglich undt gibt seine gnaden, wem er will.330

Wenngleich sie von sich selbst behauptete, nicht daß glück zu haben, so gotsfür[c]htig zu sein, alß ich sein sollte331 , so verstand sie der reformatorischen Glaubenslehre und Agitation ent325

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An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154; vgl. auch Paris, 15.3.1721, HO, 6, 1210, S. 47. S. 1. Mose, 6, 12; zur Deutung der Sintflut als Strafe für weibliche „Begierde nach ‚heterosexuellem‘ Verkehr“ auch HERGEMÖLLER, Sodom, S. 165–166. Ebd. Vgl. PUFF, Sodomy, S. 136; OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, S. 117–120; zum Calvinismus KOCH, Art. Calvinismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 618. An Luise, Paris, 29.2.1720, HO, 5, 1101, S. 65: Der gutte Rivigny, den man nun mylord Galway heist undt hir ein ancien in der reformirten kirchen zu Charanton war, war in allen stücken ein gar ehrlicher man, außer daß er daß laster hatte, mitt den manßleütten desbauchirt zu sein. Die fraw von Ratzamshaussen heist daß „ein bubenschelm sein“. S. auch An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416: Ruffigny, der ein elster von der kirch von Charanton war, ist einer von den ärgsten von dießem handtwerck, undt sein bruder, la Caillemotte, welche reformirt wahren undt die bibel immer laßen, wahren ärger, alß keine, so hir sein, undt verstanden gar woll raillerie, wen man sie mitt vexirt. Zu Bernard-Angélique de Crémeaux, Abbé d’Entragues s. LEVER, Bûchers, S. 151–154. An Luise, Paris, 29.2.1720, HO, 5, 1101, S. 65; vgl. auch 25.1.1720, HO, 5, 1090, S. 25: Kein heylliger wirdt nie auß ihm werden, er ist gar zu verliebt von manßleütten; wen er daß nachläst, werde ich ihn vor einen bekehrten halten, in welchen religion er auch sein mag, aber ehe nicht.

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sprechend332 die sexuelle Libertinage in ihrem Umfeld (hir im landt) als Zeichen für die Zersetzung der Sitten und die Verneinung Gottes, der man allein begegnen könne, indem man für die Betroffenen beständig hoffe: Gott wolle sie bekehren!333 Dabei bezog sich Elisabeth Charlotte wie zeitgenössisch üblich334 besonders häufig auf die alttestamentlichen Erzählungen und Sodom und Gomorrha.335 Das Schicksal der biblischen Städte, die Gott aufgrund der Verfehlungen ihrer Bewohner unter einem Regen von Schwefel und Feuer hatte untergehen lassen, beschäftigte auch Elisabeth Charlotte. Denn wie sie ihrer Halbschwester Ende des Jahres 1701 berichtete, habe sie am französischen Hof etlich mahl (…) davon reden hören und sei darum geradezu gelehrt (…) in dießem text geworden.336 Nach Kapitel 18–19 der Genesis hatte der aus der Stadt Sodom stammende Lot zwei unbekannte Männer – von Gott geschickte Boten bzw. Engel – in seinem Haus aufgenommen. Als die Einwohner der Stadt wenig später von Lot forderten, die Gäste auszuliefern, versuchte dieser die Bewohner zum Schutz der Gäste zu beschwichtigen, indem er ihnen seine jungfräulichen Töchter als Unterpfand anbot. Die Szene endet in einem Gewaltexzess gegen Lot. Die Engel aber retteten ihn und schlugen die Angreifer mit Blindheit. Am Morgen des nächsten Tages bricht die göttliche Strafe über die Städte herein. Einzig Lot und seine Familie konnten entkommen, wobei Lots Frau zur Salzsäule erstarrt, als sie sich auf der Flucht nach der Stadt umsieht.337 Heutige Exegesen differenzieren, Gott strafe hier in dieser, ähnlich wie in der Parallelerzählung über Gibea in Benjamin (Ri 19), die Elisabeth Charlotte ebenfalls zitierte, 338 keineswegs gleichgeschlechtliches Begehren per se339 – sondern vielmehr einen kollektiv verübten, das Gastrecht verletzenden, gewaltsamen sexuellen Übergriff, der die Ordnung der Ge331 332

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An Luise, St. Cloud, 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 189. Vgl. DELON, Débauche, S. 6–7; PUFF, Rhetorik, S. 329; mit Bezug auf E. Ch. auch Helmut PUFF, Die frühe Neuzeit in Europa 1400–1700, in: Robert ALDRICH (Hg.), Gleich und anders. Eine globale Geschichte der Homosexualität, Hamburg 2007, S. 79–101, hier 101, dem zufolge die neue Sittsamkeit der Reformationszeit im Gegensatz zu den Umgangsformen an einigen Königshöfen gestanden habe. An Luise, St. Cloud, 24.7.1721, HO, 6, 1 247, S. 189: Hir im landt würde man es vor ein affront halten, wen man sagen sollte, daß jemandts zu from wehre, buben zu lieben; von geheürahte weiber macht man sich eine ehre undt hatt es gar keine scheü. Ich gestehe, daß, ob ich zwar daß glück nicht habe, so gotsfür[c]htig zu sein, alß ich sein sollte, so gestehe ich doch, daß [ich] ein recht abscheüen vor dieße gottlosigkeit habe. Gott wolle sie bekehren! Vgl. etwa HERGEMÖLLER, Sodom, S. 166–167. 1. Mose 18 u. 19. An Amalie Elisabeth, Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. S. auch Fontainebleau, 12.10.1701, HO, 1, 140, S. 239: Die von könig Wilhelms inclination sein, fragen nach keine weiber nichts. In dießer sach bin ich so gelehrt hir in Franckreich worden, daß ich bücher davon schreiben könnte. Vgl. Michael BRINKSCHRÖDER, Sodom als Symptom. Gleichgeschlechtliche Sexualität im christlichen Imaginären – eine religionsgeschichtliche Anamnese (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 55), Berlin, New York 2006, S. 184–185, Andreas KRAß, Queer Studies – eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt a.M. 2003, S. 7–28, hier 11. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416. Vgl. BRINKSCHRÖDER, Sodom, S. 185–193; Ilse MÜLLNER, Tödliche Differenzen. Sexuelle Gewalt als Gewalt gegen Andere in Ri 19, in: Luise SCHROTTHOFF u. Marie-Theres WACKER (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus (Biblical Interpretations Series 17), Leiden, New York, Köln 1995, S. 81–100, hier 95.

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schlechter wie die Grenzziehung zwischen Göttlichem und Irdischen zu verletzen drohte, indem er die männlichen Engel in eine weiblich konnotierte Opferposition brachte. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch in Elisabeth Charlottes Rekursen auf Sodom und Gomorrha die thematisierten gleichgeschlechtlichen sexuellen Praktiken in vielfältigen Relationen zu anderen Aspekten von Unzucht bzw. Ordnungsbrüchen stehen. Dies zeigt etwa eine Beschreibung der Zustände am französischen Hof aus einem Brief an Luise vom April 1721, in der Elisabeth Charlotte die Kollektivität der sexuellen Handlungen und ihre gesundheitlichen Folgen hervorhob: Alles, waß man in der Bibel list, wie es vor der sündfluht undt zu Sodom undt Gomora hergangen, kompt dem Parisser leben nicht bey. Von 9 junge leütte von qualitet, so vor etlichen [tagen] mitt meinem enckel, dem duc de Chartre[s], zu mittag aßen, war[en] 7, so die Frantzoßen hatten. Ist daß nicht abscheulich?340

Auch als sie im März 1721 einmal mehr ihr Unverständnis äußerte, dass Paris nicht untergeht, wegen den abscheülichen sachen, so täglich drinen vorgehen, war dies keineswegs exklusiv auf das Umsichgreifen gleichgeschlechtlicher sexueller Praktiken bezogen. Vielmehr stand ihre Kritik am sodomittischen leben, das der Prinz de Conti341 und der Compte de Charolais342 continuirlich undt ohne scheü miteinander führten, in einem untrennbaren Zusammenhang zu deren sozialer Positionierung. Denn die beiden aus illegitimen Beziehungen hervorgegangenen nobilitierten printzen von geblüdt waren an einer Verschwörung gegen ihren Sohn, den aus ihrer Sicht einzig legitimen Nachfolger Ludwigs XIV., beteiligt. Besonders abscheülich und unerhört wurde diese die Ordnung der Genealogie wie des Sexuellen irritierende Verbindung zudem dadurch, dass die beiden in einem doppelten Verwandtschaftsverhältnis zueinander standen und nicht nur Schwager durch Heirat sondern auch Cousins von Geburt waren.343 Es handelte sich hier also um eine Beziehung zweier unstandesgemäßer Personen, die aus Elisabeth Charlottes Sicht so inzestuös wie sodomitisch war und deren Folgen – nämlich das illegitime politische Handeln – nur aus der Überschneidung der verschiedenen Zuschreibungen verstanden werden konnten. Dass der göttliche Zorn aus Feuer und Schwefel Paris bisher verschont hatte, beschäftigte offenbar aber auch die der Sodomie zugeneigten Christen am Hof. Diese nahmen Elisabeth Charlotte zufolge allerdings eine weitaus offenere Auslegung in Anspruch, um die biblische Erzählung mit ihrer eigenen Lebenspraxis in Einklang zu bringen. Demnach argumentierten diejenigen, die von dem laster seindt undt die h. schriefft glauben, 340

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An Luise, St. Cloud, 26.4.1721, HO, 6, 1223, S. 94. S. auch An Amalie Elisabeth, Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. Louis Armand II, prince de Conti (1695–1727). Charles de Bourbon-Condé, compte de Charolais (1700–1760). An Luise, Paris, 8.3.1721, HO, 6, 1208, S. 37–38: Solche boßheit undt geitz, alß in den 3en printzen vom geblüdt steckt, ist nicht zu begreiffen. So lang mein sohn monsieur le duc hatt gelt schaffen können, hatt er gethan, alß wen niemandts ihn lieber hette; nun er nichts mehr gewinen kann, ist er gegen meinem sohn in allen stücken und hatt sich mit seinem ärgsten feindt, seinen schwager, dem printz de Conti vereinigt, umb gegen meinen sohn zu sein, undt sein bruder, der compte de Charolois auch. Aber von dem ist es kein wunder nach dem sodomittischen leben, so er continuirlich undt ohne scheü mitt dem printz de Conti führt, der doch sein leiblicher schwager ist; den deß printz de Conti gemahlin ist ja deß comte de Charolois leibliche schwester; daß ist ja waß abscheüliches und unerhört. Ich weiß nicht, wie Paris nicht untergeht wegen den abscheülichen sachen, so täglich drinen vorgehen; es müßen noch gutte undt fromme leüdt in Paris [sein], sonst were es lengst untergangen. Vgl. BÖTH, Positionierungen [i. Dr.].

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ihre Neigung sei nur in Zeiten eine Sünde gewesen, in der die Menschheit sich auf der Erde auszubreiten suchte. Nun, da die welt gantz peuplirt ist, halten sie es nur vor ein divertissment oder wie bei leütte[n] von qualitet gar vor eine gentilesse, von der öffendtlich zu sprechen man sich nicht schämen müsse. 344 In diesen Erklärungsmustern vermischen sich, wie auch in zeitgenössischen normativen Traktaten üblich, die tradierten religiösen Ausdeutungen von Sodomie als sündhafter Häresie mit zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Argumentationen, die die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft betonen.345 Bereits im Zuge der milderen Strafpraxis seit der ordonance criminelle (1670) hatte ein umfassender Wandel in der Interpretation von Sodomie eingesetzt, im Zuge dessen sodomitische Handlungen nur noch zur Anklage gebracht wurden, wenn sie einen eklatanten Verstoß gegen die öffentliche Ordnung darstellten.346 Elisabeth Charlotte zufolge deutete man die Situation um 1700 am französischen Hof nun derart, dass das gleichgeschlechtliche Begehren den Fortbestand der Gesellschaft nicht länger gefährde und somit in den Bereich persönlicher Freiheit falle. Die Richtigkeit dieser gedanklichen Zusammenhänge belege man mit Blick auf den Umstand, dass Gott seit dem Untergang von Sodom und Gomorrha nicht mehr aktiv gegen dieses Laster vorgegangen sei.347 Religiöse Deutungen wie die Interpretation der biblischen Erzählung von Sodom und Gomorrha wurden – schenkt man Elisabeth Charlottes Berichten Glauben – in ihrem Umfeld im Zusammenhang mit neueren Fragestellungen gedeutet, um mit der eigenen Lebenssituation besser umgehen zu können. Obwohl Elisabeth Charlotte aufgrund dieses Arguments vielleicht ins Grübeln kam, hielt sie den Kern der Überlegungen jedoch für moralisch verwerflich: nämlich die hier angedeutete Trennung von Reproduktion(sauftrag) und sexuellen Handlungen zum eigenen Lustgewinn (divertissement).348 In ihrer Bewertung kam sie also wieder

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An Amalie Elisabeth, Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. Zur argumentativen Einbindung des Zitats vgl. dagegen VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 195: „In einem Brief an Amelise, den sie ein halbes Jahr nach dem Tode Monsieurs schrieb, bringt sie allen Ernstes eine ‚biblische‘ Begründung von Homosexualität ins Spiel.“ Vgl. FOUCAULT, Wille, S. 31–32; TAEGER, Machtverhältnisse, S. 30; Louise FRADENBURG u. Carla FRECCERO, Introduction. Caxton, Foucault, and the Pleasures of History, in: Dies. (Hg.), Premodern Sexualities, New York, London 1996, S. xiii–xxiv, hier xiv. Obwohl das überkommene Strafmaß für sodomitische Handlungen, meist der Feuertod, formal unangetastet blieb, gestaltete sich die Praxis der Strafverfolgung Taeger zufolge eher „verschleiernd als eindeutig regelnd“. Vgl. TAEGER, Machtverhältnisse, S. 23 u. 26–27. SIBALIS, Homosexualität, S. 110. Dieses Verhältnis zwischen formalem Strafmaß und einer gewissen Toleranz in der Strafverfolgung betont auch FOUCAULT, Wille, S. 101. Dies beobachtete auch E. Ch. Vgl. An Luise, Fontainebleau, 3.11.1701, HO, 1, 143, S. 244: In Franckreich ist man nicht so scrupullos auff der mannsleütte leben; wen sie nur nicht stehlen noch falsch zeugnuß geben, alles ander lest man passiren undt geht nicht desto weniger mitt ihnen umb, ob sie gleich mitt manner oder weiber desbauchirt sein. Vgl. für Zürich, wo eine Lockerung der Strafpraxis um 1720 belegt werden kann, Thomas LAU, Müßiggang ist aller Laster Anfang? Sodomitenverfolgung im Zürich des 17. Jahrhunderts, in: Die sieben Todsünden in der Frühen Neuzeit, Frühneuzeit-Info 21 (2010), S. 58–66, hier 62. An Amalie Elisabeth, Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. Zur modernen Trennung von Fortpflanzung und Lust Heike JENSEN, Sexualität, in: Christina von BRAUN u. Inge STEPHAN (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln, Wien, Weimar 2005, S. 100–116, hier 100.

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zu ihrem grundlegenden christlichen Bezugsrahmen zurück, denn divertissements349 standen für sie per se unter dem Verdacht, sünde zu sein. Eine beiläufige, vielleicht auch nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung aus einem Brief an Christian Friedrich von Harling führt diese grundlegende Auffassung über leibliches Vergnügen vor Augen: den rücken kratzen zu laßen – findt Ich eine solche lust undt delice, daß es mich wünder nimbt – wie es nicht in den todt sünden begriffen ist.350 Lustvolles leibliches Empfinden – und ganz besonders das sexuelle divertissement des Einzelnen – war also stets ein zweifelhaftes Vergnügen mit fließenden Grenzen zur Ausschweifung (débauche) bzw. zur Todsünde der Wollust (luxuria).351 Ihre dezidierten Tugendvorstellungen bewahrten Elisabeth Charlotte aus ihrer Perspektive also vor derartigen Verfehlungen: Sie wusste sich vielmehr mit toutes sortes de plaisir innocents wie etwa ihrer Münz- und Gemmensammlung zu divertiren, so schrieb sie 1709 an Polier.352 Die Zusammenhänge von Tugend und Verstand, Koketterie und äußerer Schönheit wirkten sich direkt auf Elisabeth Charlottes Liebespraktiken aus, so zeigt ein Brief an Luise aus dem Jahr 1719: Von gutten gemühtern halte ich mehr, alß von schonheit; denn ich bin gar nicht von denen, so in weiber verliebt sein können; also sehe ich nur auffs gemühte.353 Auch diese Haltung gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen unter Frauen war impliziter Inhalt von Elisabeth Charlottes Erziehung. So hatte ihr Vater neben dem Verbot koketter Lektüren in den Erziehungsinstruktionen (1663) weiterhin verfügt, dass die Hofmeisterin seiner Tochter im Falle von excés ou desbauches soit en paroles ou actions beim Personal der Kurprinzessin hart durchgreifen solle.354 Ein Brief vom Juli 1699 gibt zudem Aufschluss darüber, woher Elisabeth Charlotte ihre dinstinkten Einstellungen gegenüber der Weiberliebe hatte. Sie berichtete hier von ihrer ersten Begegnung mit der Möglichkeit, daß weiber einander unzüchtiger weiß können lieb haben.355 Als ihre Tante Elisabeth (1618–1680) im Jahr 1667 Äbtissin von Herford356 wurde, sei bekannt geworden, dass ihre unlängst verstorbene Vorgängerin357 ein derartiges Verhältnis mit einer der Nonnen in ihrem Stift unterhalten habe. Ihr Vater, so schildert Elisabeth Charlotte, wollte sich halb krank lachen 349

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E. Ch. grenzte allerdings divertissements als Ablenkung bzw. Veränderung von übertriebener Vergnügungssucht ab. Vgl. An Luise, Paris, 10.4.1718, HO, 3, 905, S. 234. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 18.9.1718, H, 285, S. 463. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 30.4.1719, HO, 4, 1014, S. 103: den ich finde, daß den rücken kratzen eine solche große lust, daß viel sachen, so man vor lust helt, nicht dabey kommen. Vgl. DELON, Débauche, S. 16; BURGHARTZ, Zeiten, S. 286; KLINGER, Gender-Theorien, S. 280. An Étienne Polier, o.O., 21.9.1709, VdC, Lf, 429, S. 405. An Luise, St. Cloud, 29.10.1719, HO, 4, 1065, S. 288. Vgl. 3.III.1. Vgl. WEECH, Erziehung, Nr. 15, S. 116: Ladite gouvernante tiendra la main que toutes les susdites personnes fassent exactement leur devoir sans souffrir parmi eus aucune messeance, moins excés ou desbauches soit en paroles ou actions; et en cas qu’ils en fassent, si ce sont des hommes, elle en advertira l’escuyer de notre fille, pour y remedier suivant ses instruction; et pour les femmes, si après deus ou trois reprimandes de ladite gouvernante elles ne s’amendent elles les cassera, ou en cas que la faute fust criminelle, elle nous en fera faire rapport, pour estre punies de la maniere que le delict le requerra. An Luise, St. Cloud, 17.6.1699, HO, 1, 90, S. 162. Vgl. BEI DER WIEDEN, Elisabeth, S. 49–50. Es handelt sich hier um Elisabeth Luise v. d. Pfalz-Zweibrücken, die von 1649 bis 1667 Äbtissin des Nonnenstifts Herford war. Vgl. Helge BEI DER WIEDEN, Die Äbtissinnen der Reichsabtei Herford in der Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 7 (2000), S. 31–53, hier 41.

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über die dolle[n] sachen von dem dinst. Sie habe allerdings schnell bemerkt, dass waß unrechts dahinder sein müste.358 Elisabeth Charlottes Erinnerungen an die Bewertung von sexuellem Begehren zwischen Frauen sind durch die Reaktionen ihres Vaters, eines Mannes, geprägt; in der Vorstellungswelt der damals 15-Jährigen wurden sie mit Lächerlichkeit konnotiert – gleichzeitig aber auch mit einem Verbot belegt. Was Elisabeth Charlottes eigene sexuelle Praxis nach dem lit à part mit Philippe 1676, aber auch in der Zeit nach dessen Tod 1701 anging, erlaubte ihr die strikte Ablehnung aller sowohl gegen- als auch im Besonderen gleichgeschlechtlicher Liebe nur eine gleichsam zölibatäre Lebensweise. Beziehungen zu Frauen kamen für sie ebenso wenig in Frage wie zu anderen Männern. Im Juni 1699 schrieb sie Luise: Waß noch mehr ist, die weibsleütte sein in einander verliebt, welches mich noch mehr ekelt, alß alles.359 Und auch im Juli desselben Jahres bekräftigte sie noch einmal rhetorisch geschickt, was Luise ohnehin annehmen konnte: Ich gestehe, daß ich diß laster durchauß nicht begreiffen kan; ein weibsmensch kompt mir noch taußendtmahl eckelhaffter vor, alß ein mansmensch.360 Das entscheidende in diesem Satz ist der Komparativ, zeigt er doch deutlich, dass – obschon sie diese nicht per se als Laster tituliert – auch sexuelle Handlungen mit Männern ihr eckelhafft erschienen sein mussten. An den in der Korrespondenz immer wieder aufgerufenen Reaktionen des Ekels, des Hasses oder des Sich-Grauens, die – so lässt sich aus Elisabeth Charlottes Briefen rekonstruieren – wohl auch Luise und Amalie Elisabeth teilten,361 lässt sich erkennen, wie tief sich Vorstellungen von ‚richtigem‘ und ‚unrichtigem‘ sexuellen Verhalten in das leiblichemotionale Empfinden der Halbschwestern eingeschrieben hatten.362 In diesem Sinne bildeten sie eine ‚emotional community‘,363 deren per Brief zum Ausdruck gebrachten leiblichen Empfindungen Zugehörigkeit unter Beweis stellten und auf diese Weise die familiär vermittelten Werte und Überzeugungen glaubhaft verkörperten.364 358

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An Luise, St. Cloud, 17.6.1699, HO, 1, 90, S. 162: Wo ich ahm ersten erfahren, daß weiber einander unzüchtiger weiß können lieb haben, daß war, wie ich von Iburg widerkam undt die alte abtißin von Herford gestorben war, so viel ahn eine von ihren jungfern, ein Donep von geschlegt, gelassen hatte. Da wollte sich I.G. unßer herr vatter s. halb kranck lachen undt sagt so dolle sachen von dem dinst, so die Donnepen dießer abtißin geleist, in welcher platz ma tante, die printzes Lisbet, kommen war, daß ich woll merckte, daß waß unrechts dahinder sein müste; hatt mich also kein wunder genohmen, wie ich wider davon gehört. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154. Ebd., 17.7.1699, HO, 1, 90, S. 162; vgl. auch 29.10.1719, HO, 4, 1065, S. 288 u. 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154: Waß noch mehr ist, die weibsleütte sein in einander verliebt, welches mich noch mehr ekelt, alß alles. Vgl. An Amalie Elisabeth, Versailles, 3.12.1705, HO, 1, 280, S 426: wer alle die haßen woldt, so die junge kerls lieben, würde hir kein 6 menschen lieben können oder auffs wenigst nicht haßen. Fontainebleau, 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416: Wen Ihr Euch vor den leütten grawen wolt, liebe Amelisse, müst Ihr mitt wenig leütten umbgehen. Zum leiblichen Spüren von Emotionen in der Moralistik vgl. WILD, Montaigne, S. 251–252. Der Begriff wurde von der amerikanischen Mediävistin Barbara H. ROSENWEIN, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca u. London 2006, hier 2, geprägt und bezeichnet „groups in which people adhere to the same norms of emotional expression and value – or devalue – the same or related emotions“. Vgl. ROSENWEIN, Communities, S. 196: „People train themselves to have feelings that are based on their beliefs. At the same time, feelings help to create, validate and maintain belief systems.” Zum Zusammenhang von Emotionen und Werten auch Anne-Charlott TREPP, Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), S. 86–103, hier 88–89. Vgl. auch E. Ch.s Wunsch, mit ihren

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In ihrem Umfeld warf solch eine in den Idealen des moralisch-theologischen Diskurses verhaftete Einstellung allerdings durchaus Fragen auf. 1717 berichtete Elisabeth Charlotte, wie Madame de Monaco,365 selbst der gleichgeschlechtlichen Liebe zugeneigt, sie ebenfalls auf diesem Sprung bringen wollte.366 Nachdem das Unterfangen allerdings erfolglos geblieben war, habe diese versucht, sie in einen Chevalier (…) verliebt [zu] machen, was nicht minder schlecht funktioniert habe. In Anbetracht dessen habe die Dame einigermaßen verwundert gefragt, von welcher Natur Elisabeth Charlotte sei, nichts nach Weibs und Mannsleuten zu fragen.367 Auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung für den als rätselhaft empfundenen Umstand habe sie einen Ansatzpunkt in deren Herkunft gesucht, demjenigen Aspekt, der die geborene pfälzische Kurprinzessin offensichtlich als ‚anders‘ kennzeichnete und in der Hofgesellschaft heraushob.368 Die Teutsche Nation müsse also gewiss kälter seyn als alle andere[n], wenn eine Deutsche in ihrem Leben weder Männer noch Frauen liebe, habe Madame de Monaco geschlussfolgert. ‚Kälte‘ wird hier sowohl als Ursache für Elisabeth Charlottes persönliches Nicht-Begehren als auch als kollektives Merkmal der ‚Deutschen‘ interpretiert. Vorstellungen eines direkten Zusammenhangs von klimatischen Lebensbedingungen und menschlicher Komplexion verschwimmen zu Landes- bzw. Nationalstereotypen,369 die in Bezug auf sexuelle Aktivität ausgedeutet werden. Eine ähnliche Assoziation findet sich in Elisabeth Charlottes Briefen, wenn vom Spanischen Temperament der Königin Marie-Thérèse die Rede ist – also einer Umschreibung ihres starken sexuellen Verlangens.370 Elisabeth Charlotte zog mit den nationalkulturellen Stereotypen ein diskursives Muster heran, das in ihrer Zeit durchaus Konjunktur hatte. Insbesondere die hier präsentierte Vorstellung eines hitzigen und damit zur Wol-

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Halbschwestern zusammen leben zu können. An Amalie Elisabeth, Versailles, 15.12.1708, HO, 2, 400, S. 65. Gemeint ist hier Catherine-Charlotte de Gramont, Prinzessin v. Monaco u. Kammerfrau bei E. Ch. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 233– 234. An C. v. Wales, o.O., 5.8.1717, A, 21, S. 222: Daß Mde de Monaco die Weiber liebt, das ist wahr. Sie hätte mich auch gern auf diesem Sprung gesetzt, hat aber nichts dabei gewonnen, welche sie so sehr verdrossen, daß sie darüber geweint. Hernach wollte sie mich in den Chevalier de Vendome verliebt machen, das gieng auch nicht an. Sie sagte oft, sie wüste nicht von welcher Natur ich wäre, nichts nach Weibs- und Mannsleuten zu fragen. Die Teutsche Nation müste kälter seyn als alle andere. Vgl. zur sexuellen Orientierung Madame de Monacos auch einen an C. v. Wales gerichteten Brief, o.O., 14.10.1718, A, 10, S. 293. An C. v. Wales, o.O., 5.8.1717, A, 21, S. 222. Vgl. BENITO DE LA FUENTE, Sodoma, S. 106; FRASER, Love, S. 138; CROMPTON, Homosexuality, S. 344: „Liselotte was in fact largely indifferent to sex and broke the rules by taking no other lovers.” Vgl. Waldemar ZACHARASIEWICZ, Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert (Wiener Beiträge zur englischen Philologie), Wien, Stuttgart 1977, S. 40–41; KIESEL, Klima, S. 126–127. Ähnliche Stereotype findet sich auch unter den Stichworten ‚Naturell der Völker‘ und ‚Frauenzimmer‘ in: Zedlers Universallexikon, Bd. 23, Sp. 1246–1251, hier v.a. Sp. 1248 u. Sp. 1250; Bd. 9, Sp. 1782–1784, hier Sp. 1782. Zur Bildung nationalkultureller Stereotypen im Rahmen der Kavaliersreisen adeliger Männer des 17. Jhd.s vgl. STANNEK, Brüder, S. 219–220. An C. v. Wales, o.O. 11.4.1719, A, 12, S. 146–147: Der König hat alle Nacht in der Königin Bett geschlafen, aber nicht allezeit wie sie es sich nach ihrem Spanischen Temperament gewünscht hätte; dadurch hat sie wohl gespürt wenn er Nebenwege gegangen ist. S. auch 24.3.1719, A, 6, S. 144: Sie war froh, wenn der König bei ihr schlief, denn auf gut spanisch haßte sie dieses Handwerk nicht; sie war so lustig wenn es geschehen war, daß man es ihr grade ansahe; hatte auch gerne, daß man sie damit vexierte; lachte, blinzelte und rieb ihre kleinen Händchen zusammen.

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lust neigenden Temperaments der Menschen in südlichen Ländern und einer im Vergleich dazu eher kühlen Komplexion in nördlichen Ländern gehörte zu den populären Stereotypen des 17. Jahrhunderts.371 Im November 1697 hatte Elisabeth Charlotte etwa davon berichtet, dass dieses Sujet auch im Theater aufgegriffen wurde. Sie berichtete Luise von dem unlängst uraufgeführten Stück L’Europe galante,372 das thematisiere, wie die Frantzoßen, Spanier, Ittaliener undt Turquen amour machen. Der nationen humor sie so perfect drin observirt, daß es recht possirlich ist.373 Der aus der Antike tradierte Begriff des Humors erweist sich hier in der Übertragung auf Kollektivgemeinschaften einmal mehr als äußerst flexibel für die verschiedensten Zuschreibungen. Mit ihrer ‚kühlen Haltung‘ stand Elisabeth Charlotte jedoch unter einem gewissen Rechtfertigungszwang. Ihre Antwort auf einen Brief Luises vom April 1717 zeigt, dass die Schwestern in diesem Punkt durchaus eine auf ähnlichen Erfahrungen beruhende Erzählgemeinschaft374 bildeten: Waß Ihr aber sagt, ist woll war, daß einem die mannsleütte beschuldigen, daß man die weiber liebt, wen man nach ihnen nichts fragt.375 Zweierlei ist hieran bemerkenswert: Elisabeth Charlotte zufolge konnten Männer es also nicht mit ihren Ehrvorstellungen vereinbaren, von Frauen verschmäht zu werden, und würden sie darum beschuldigen376 , die weiber zu begehren. Das hier und in anderen Passagen verwendete Vokabular (beschuldigen, accusiren, im Ruf stehen) zeigt an, dass als der Weiberliebe anhängig zu gelten für Elisabeth Charlotte eine äußerst unliebsame Unterstellung, wenn nicht gar ein ‚ungeheuerlicher Verdacht‘ war. Gleichzeitig weist die zitierte Passage auf ihren fest verankerten Glauben an eine essentielle Verbindung von Männlichkeit und sexuellem Begehren hin – eine überaus verbreitete gesellschaftliche Vorstellung, die unter anderem auch dazu führte, dass vorrangig sexuelle Handlungen zwischen Männern in den Fokus

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Vgl. Art. ‚Naturell der Völker‘ und ‚Frauenzimmer‘ in: Zedlers Universallexikon, Bd. 23, Sp. 1246– 1251, hier v.a. Sp. 1248 u. Sp. 1250; FINK, Alamodestreit, S. 24. Es handelt sich hierbei um ein am 24. Oktober 1697 im Palais Royal uraufgeführtes Ballet von André Campra (Musik) und Antoine Houdar de la Motte (Livret). Nach einem Streit zwischen Venus, der Göttin der Liebe, und La Discorde, der Göttin der Zwietracht, wird in vier Akten die Haltung der Länder Frankreich, Spanien, Italien und der Türkei zur Liebe dargestellt. Vgl. Herbert SCHNEIDER, André Campra. L’Europe Galante, in: Carl DAHLHAUS und das Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring (Hg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett, Bd. 1: Werke Abbatini – Donizetto, München 1986, S. 494–495. An Luise, Paris, 10.11.1697, HO, 1, 54, S. 96. Vgl. zum Begriff der generationell geprägten Erinnerungs- bzw. Erzählgemeinschaft Aleida ASSMANN, Geschichte im Gedächtnis, in: Martin HUBER u. Gerhard LAUER (Hg.), Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 15–28, hier 20 u. dies., Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 25; für die Biographieforschung DAUSIEN, Leben, S. 67. An Luise, St. Cloud, 17.7.1699, HO, 1, 90, S. 162–163. Vgl. die zahlreichen ‚Gerüchte‘ über die Weiberliebe in den Briefen E. Ch.s, etwa An C. v. Wales, o.O., 4.11.1718, A, 6, S. 122: Die alte Zott [Mme de Maintenon] ist vor diesem auch accusirt worden, die Weiber zu lieben u. 4.11.1718, A, 15, S. 257: Sie [die zweite Dauphine Marie-Adélaïde] war im starken Ruf die Weiber zu lieben.

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der Strafgerichtsbarkeit sowie der aufkommenden Sexualwissenschaft (und somit übrigens auch in den Fokus der älteren Historiographie) gerieten.377 Die Möglichkeit, dass sexuelles Handeln, egal ob gegen- oder gleichgeschlechtlich, im Leben einer Person schlichtweg keine Bedeutung haben könne, liege außerhalb des Vorstellungsvermögens von Männern, so Elisabeth Charlotte im November 1702: Die mäner glauben, die weiber können nicht sein, ohne waß zu lieben, weillen sie selber so sein; drumb muß man ihnen dieße frage zu gutt halten.378 Ihrer Halbschwester Luise hatte Elisabeth Charlotte bereits mehrfach deutlich vor Augen geführt, dass es ihrer Meinung nach keine mannsleütte ohne desbauche – also ohne Neigung zur (sexuellen) Ausschweifung – gebe. Männer, die nur eine fraw379 allein (…) lieben, seien vielmehr so selten anzutreffen wie phenix.380 Anders als bei ihren Aussagen zu gleichgeschlechtlicher Liebe ließ sie in diesem Punkt keinen Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland gelten, sondern unterstellte eine verschiedene Kulturräume umfassende überzeitliche männliche Eigenschaft. Zudem sprach sie auch die normativen Erwartungshaltungen an Maskulinität an, wenn sie deutlich machte, dass es wohl kaum einem Mann gefallen würde, wenn über ihn erzählt werde, er habe keine galanterie [Liebschaft]. Ganz im Gegenteil würden viele Männer es als besondere Ehre ansehen, desbauchirt zu sein.381 Dies ginge sogar so weit, dass ein monogam lebender Mann von jederman verspot und veracht werde.382 Sexuelle Aktivität wird hier als konstitutiver Bestandteil (adeliger) Maskulinität konzipiert.383 Elisabeth Charlotte selbst nahm hierzu 377

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Vgl. TAEGER, Machtverhältnisse, S. 8–9; BROWN, Acts, S. 6, Anm. 5 u. S. 9–10. Vgl. zu Geschichte lesbischer Liebe in der historischen Forschung PUFF, Männergeschichten, S. 135–137; VICINUS, They, bes. S. 469–470 u. 473 u. Martha VICINUS, Lesbian History. All Theory and No Facts or All Facts and No Theory?, in: Radical History Review 60 (1994), S. 57–90, hier 57. Zu den Gerichtsprozessen von Katerina Hetzeldorfer (1477), Benedetta Carlini (um 1623) und Catharina Margaretha Linck (1721) vgl. PUFF, Female Sodomy; BROWN, Acts; STEIDELE, Männerkleider. S. auch 4.II.3. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 144, S. 249. S. auch im gleichen Brief: glaubt mir, liebe Amelisse! die mäner seindt so, sie müssen eines oder das andere lieben. An Amalie Elisabeth, Versailles, 23.12.1701, HO, 1, 149, S. 261: Dießer fürst [Friedrich Wilhelm Adolf v. Nassau-Siegen, 1680–1722] muß endtwetter eine ungemächlichkeit haben, so nicht zum heürahten tauglich ist, oder ein Phenix sein; den ich glaube nicht, daß ein junger mansmensch in der welt sein kan, ohne inclination vor desbauche zu haben, es seye vor mäner oder weiber, aber etliche seindt schamhafftiger, alß andere, undt können ihr spiel beßer verbergen, alß andere, seindt auch offt die gefährlichsten undt bey welchen die laster ahm lengsten kleben bleiben. Als fraw bezeichnet E. Ch. in ihren Briefen primär eine legitime Ehefrau. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154. Ebd., S. 154–155. Die Redewendungen eine galanterie [Liebschaft] haben und desbauchiert sein werden von E. Ch. synonym gebraucht. Die Verschiebung im Vokabular, wonach galanterie zunehmend als Euphemismus für debauche angewendet worden sei, findet hier deutlich vor der Zeit der Régence statt. Vgl. DELON, Débauche, S. 18. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154–155: Ich muß lachen, daß Ihr glaubt, daß mannsleütte sein, so gar keine desbauche haben; daß müßen phenix sein, undt glaube ich, daß die, so Ihr beschuldigt, keine galanterie zu haben, es Eüch mehr undanck wissen würden, alß die, so Ihr beschuldigt, desbauchirt zu sein, oder die Teütschen müßen sehr different von den Frantzoßen sein; den sie halten sichs vor eine rechte ehr, desbauchirt zu sein; undt wer sich piquiren solte, seine fraw allein zu lieben, würde vor ein sot passiren undt würde von jederman verspot und veracht werden; so ist es hir beschaffen. S. auch 11.8.1717, HO, 3, 845, S. 79 u. 4.8.1718, HO, 3, 938, S. 342: Die mäner seindt warlich coquetter, alß die weiber, undt hertzlich fro, wen vielle sie lieb haben. Vgl. An Amalie Elisabeth, Marly, 5.11.1705, HO, 1, 274, S. 419: Heyden oder Christen, wo menner seindt, da ist desbauche. An Luise, St. Cloud, 9.6.1718, HO, 3, 923, S. 292: Mansleütte finden selten lust in waß in

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eine ambivalente Haltung ein: Sie kritisierte zwar einerseits männliche Promiskuität wie am Beispiel ihres Sohnes, andererseits schien für sie jedoch kein Zweifel zu bestehen, dass ein ‚richtiger Mann‘ Damen vom Standpunkt des Begehrens her betrachten müsse.384 In diesem Sinne hatte sie 1719 die Beschreibung des Königs und Monsieurs fortgesetzt: Monsieur liebte die Damen wie Gespielinnen, mochte immer bei ihnen seyn. Der König sahe die Damen gerne bei nahen, und nicht so in allen Ehren wie Monsieur; hatten sich doch sehr lieb, und waren possierlich bei einander zu sehen, vexierten einander recht artig und mit Verstand, wurden aber nie bös auf einander.385

Diese Verknüpfung von aktivem Begehren und maskulinem Status zeigte sich in Elisabeth Charlottes Briefen aber auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, etwa am Beispiel des englischen Königs William III. (1650–1702), eines geborenen Prinzen von Oranien-Nassau.386 Man erzähle sich am Hof,387 so Elisabeth Charlotte 1701 an Amalie Elisabeth, William sei in seinen Günstling Arnold Joost van Keppel388 , den Earl of Albemarle verliebt gewest (...) wie von einer damen und habe ihm die händt vor alle menschen geküst (...).389 Der zwanzig Jahre ältere und ständisch höherrangige William wird von Elisabeth Charlotte als aktiv begehrender Part in der Beziehung dargestellt. Er ist es, von dem die Liebe und deren sichtbares Zeichen – der Handkuss – ausgeht. Die leibliche Geste wirkt dabei als Performativ,390 denn sie bringt den Earl of Albermarle (1670–1718) für die höfischen

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ehren geschieht. Zu den unterschiedlichen moralischen Standards für Frauen und Männer s. Elizabeth ABBOTT, A History of Celibacy, Cambridge 2001, S. 268–269; aus der Perspektive der Männlichkeitsforschung SCHMALE, Geschichte, S. 134. Vgl. SCHMALE, Geschichte, S. 148. Der Typus des heldenhaften Mannes des 17. Jhd.s, dem Ludwig XIV. entsprochen habe, bereite die „heterosexuelle Normierung von Männlichkeit“ vor. An C. v. Wales, 14.7.1719, A, 46, S. 90. S. ebenso 9.1.1716, A, 33, S. 283: der König liebte Galanterie mit Damen, ich glaube nicht, daß mein Herr in seinem Leben verliebt gewesen. Zur maskulinen Konnotation von legitimem sexuellen Begehren bei Hobbes s. NEWMARK, Leiden, S. 13. Zu William III. s. Eckhart HELLMUTH, Wilhelm III. und Maria II. 1689–1702 und 1689–1694, in: Peter WENDE (Hg.), Englische Könige und Königinnen der Neuzeit. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II., München 2008, S. 157–175; Tony CLAYDON, William III and II (1650–1702), in: Oxford Dictionary of National Biography, Online-Edition; zur Beziehung zu E. Ch. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 80. Vgl. CLAYDON, William, S. 26: „What has been far less clear is the nature of his relationship with his two closest friends. Jacobite propaganda, and much contemporary gossip, accused William of homosexual liaisons – first with Bentinck [sic!] (who was made earl of Portland once in England), and after 1695 with the handsome courtier Keppel, who seems to have displaced Portland in William's affections. Historians will probably never know the truth of these accusations.“ Vgl. auch CLAYDON, William, S. 26; CROMPTON, Homosexuality, S. 405–410; PUFF, Neuzeit, S. 92. Keppel wurde 1696 zum Earl of Albermale ernannt. Vgl. HELLMUTH, Wilhelm III., S. 164; CLAYDON, William, S. 17 u. 26; CROMPTON, Homosexuality, S. 405–406. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 244, S. 249. Zu einer durchaus positiven Sicht auf diese Beziehung s. An Sophie, Versailles, 9.4.1702, NLA-HStAH, XII,1, 205v, vgl. B, S, 498, S. 40; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 463. Vgl. BÖTH, Positionierungen [i. Dr.]. S. BUTLER, Unbehagen, S. 200; auch LOREY, Körper, S. 12. Zum Performanz-Begriff auch BUTLER, Körper, S. 22; zum performativen Charakter von gender in der Vormoderne vgl. etwa Ruth Mazo KARRAS u. David Lorenzo BOYD, Ut cum muliere. A Male Transvestite Prostitute in Fourteenth Century London, in: Louise FRADENBURG u. Carla FRECCERO (Hg.), Premodern Sexualities, New York, London 1996, S. 101–116, hier 109.

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Zuschauer der Szene in die Position einer Dame, die die Hand zum Kuss reicht.391 Im Gegensatz zu seinem Günstling bleibt der König jedoch in der Attribution seines männlichen Subjektstatus unberührt.392 So undenkbar eine ‚öffentlich‘ zur Schau gestellte Umkehrung dieser durch Rang und Alter definierten gleichgeschlechtlichen Beziehungsstruktur bzw. ihrer Inszenierung auf der höfischen Bühne war,393 so grundlegend sind die Konnotationen idealhafter Maskulinität und aktiven Begehrens. Frau-Sein äußerte sich für Elisabeth Charlotte also darin, sich selbst gerade nicht mit sexuellem Verlangen oder aktiver Handlungspraxis zu identifizieren.394 Dies erklärt auch ihre äußerst ablehnende Haltung gegenüber der Weiberliebe, wurde doch durch die gleichgeschlechtliche Präferenz nicht nur gegen das Gebot ehelicher Sexualität verstoßen, sondern durch die Aktivität von Frauen in diesen Beziehungen vielmehr die heteronormative Geschlechterordnung pervertiert.395 In den Interaktionssituationen, von denen Elisabeth Charlotte erzählte, stehen Lebensentwürfe legitimer Enthaltsamkeit und solche von ‚normalem‘ Begehren in direktem Kontrast. Tugendhaftes weibliches Sexualverhalten war einzig mit legitimem prokreativen Sex innerhalb der zweigeschlechtlichen Ehe, wie sie seit der Antike und der Frühzeit des Christentums proklamiert wurde, vorstell-

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Zu den sexuellen Konnotation des Kusses zwischen Männern im Geschlechterdiskurs um 1700 s. Wolfgang SCHMALE, Männergeschichte als Kulturgeschichte, in: Geschlecht und Kultur. Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Sondernummer 2000, Wien 2000, S. 30–35, hier 33: „Im neuen Geschlechterdiskurs seit der Zeit um 1700 wurden nicht nur Frauen und Männer geschlechtsspezifisch definiert und getrennt, sondern es wurden auch neue Kriterien für Männlichkeit entwickelt. In England wurde nach 1700 der Kuss unter Männern verpönt, Männer, die sich dennoch küssten, wurden als effeminiert angesehen. Der Kuss galt nun als ein gesellschaftlicher Code für Männer, die mit anderen Männern sexuelle Beziehungen unterhielten.“ S. auch zum Prozess im Fall John Rykeners (1394) KARRAS u. BOYD, Ut cum muliere, bes. S. 107 u. 109. S. dagegen EDER, Sexualitäten, S. 213, dem zufolge bis weit in die FNZ auch der passive Part in seinem männlichen Subjektstatus nicht in Frage gestellt worden sei. Ähnliche Bewertungsmuster scheinen auch in Bezug auf Philippe d’Orléans bestanden haben. Sein Begehren und als effeminiert bewertetes Auftreten scheinen seinen männlichen Subjektstatus nicht in Frage gestellt zu haben. Vgl. BOLOGNE, Nacktheit, S. 3; HARRIS, Agendas, S. 60–62. S. zu Alter und Status als strukturierenden Faktoren gleichgeschlechtlicher Beziehungen John BOSWELL, Revolutions, Universals and Sexual Categories, in: Martin DUBERMAN, Martha VICINIUS u. George CHAUNCEY (Hg.), Hidden From History: Reclaiming the Gay and Lesbian Past, New York 1989, S. 17–36, hier 32–33; KLINGER, Gender-Theorien, S. 280–281. Ähnliche Strukturen bestanden auch bei der Bewertung von Nacktheit in der höfischen Gesellschaft, denn beschämend war diese nur vor sozial höherrangigen Personen. Vgl. HARRIS, Agendas, S. 59–60. S. FADERMAN, Liebe, S. 158–159 u. 162–164: „Das 18. Jahrhundert war der Meinung, daß die Sexualität der anständigen Frau ein Schlummerdasein führte, und das 19. Jahrhundert verkündete diese Idee mit lauter Stimme.“ Die Verinnerlichung dieser Norm zeigte sich Faderman zufolge auch in den ‚romantischen Freundschaften‘ unter Frauen im 17. und 18. Jhd. FADERMAN, Liebe, S. 14. Vgl. dazu kritisch Laura GOWING, Lesbierinnen und ihre „Halbschwestern“ im Europa der frühen Neuzeit, 1500–1800, in: Robert ALDRICH (Hg.), Gleich und anders. Eine globale Geschichte der Homosexualität, Hamburg 2007, S. 125–143, hier 136–137; Angela STEIDELE, „Als wenn Du mein Geliebter wärest“. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750– 1850, Stuttgart 2003, S. 5–6. Vgl. FADERMAN, Liebe, S. 49–52; VICINUS, They, S. 477–478; TAEGER, Machtverhältnisse, S. 8.

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bar.396 Diese Konzeption war jedoch für Frauen gleichbedeutend mit ausgedehnten Phasen von erzwungener, erduldeter und im Einklang mit den Normen bisweilen auch erwünschter Enthaltsamkeit – nicht nur in Bezug auf voreheliche Jungfräulichkeit, sondern immer dann, wenn die Reproduktion abgeschlossen bzw. vom männlichen Familienoberhaupt als abgeschlossen erklärt wurde. Auch wenn hier mitnichten behauptet werden soll, ‚Sexualität‘ habe die Selbstbilder vormoderner Menschen im Sinne eines inneren Kerns der Subjektbildung geprägt, wie dies mit Foucault für das bürgerliche Zeitalter angenommen wird,397 so ist ein bestimmtes Verhältnis zum Sexuellen und der Vollzug bzw. Nichtvollzug entsprechender Praktiken auf der Grundlage dieser Ergebnisse durchaus als eine das Selbst formierende Position anzusehen. Auch wenn man von ‚Sexualität‘ kaum als einer „eigenständigen Kategorie der Selbst- und Fremdwahrnehmung“ im „Mittelpunkt der Subjektdefinition“398 wird sprechen können, wie dies für die Moderne unterstellt wird,399 so ist das Sexuelle nichtsdestoweniger eine bedeutungsvolle Kategorie, die in einer je spezifischen Verflechtung mit anderen Kategorien in vormoderne Vorstellungen vom Person-Sein eingewoben war. Dies zeigt sich auf der Ebene der Quellensprache, wenn Elisabeth Charlotte Personen über ihre sexuellen Handlungsweisen definiert, indem sie schreibt, diese s e i e n von diesem humor, dieser inclination oder von dem laster.400 Praktiken sind hier untrennbar mit Konzepten personaler Wesensbestimmung verknüpft401 und nehmen in dieser Logik vielmehr eine Position zwischen den fluiden „acts“ der Vormoderne und der verfestigten „identities“ späterer Zeiten ein.402 Im Personkonzept der adeligen Frau waren bestimmte Anforderungen ansozialisiert, die die Ausprägung sexueller Neigungen, Empfindungen und Handlungsweisen in vorgeprägte Bahnen zwang. Adelige Frauen wurden gleichzeitig sowohl auf prokreative 396

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S. BASTL, Tugend, S. 376 u. 380–382; Philippe ARIÈS, Liebe in der Ehe, in: Ders. u. André BÉJIN (Hg.), Ariès, Bejin, Foucault u.a. Die Maske des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt a.M. 1992, S. 165–175, hier 169; zu den historischen Wurzeln des Keuschheitsideales Aline ROUSSELLE, Der Ursprung der Keuschheit, hg. v. Peter DINZELBACHER, Stuttgart 1989, S. 91–129. Vgl. FOUCAULT, Wille, bes. S. 47: „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle eine Spezies.“ Foucaults Thesen stützt auch die Untersuchung von Sabine MAASEN, Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt a.M. 1998, S. 107–129. S. auch PADGUG, Matters, S. 49, 58–59 u. 62–63; KLINGER, Welten, S. 55; EDER, Sexualitäten, S. 205; in Bezug auf E. Ch. JONES, Sexing, S. 57. Kritisch gegenüber Foucaults These FRADENBURG u. FRECCERO, Preface, S. vii u. Introduction, S. xx; CRAWFORD, Sexualities, S. 200; PUFF, Männergeschichten, S. 146–148; GOWING, Lesbierinnen, S. 126 u. 140; David HALPERIN, Forgetting Foucault: Acts, Identities and the History of Sexuality, in: Representations 63 (1998), S. 93–120. Vgl. EDER, Sexualitäten, S. 205. Vgl. MAASEN, Genealogie, S. 107–198. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Maasen in ihrer Studie mit normativen Schriften sowie in Institutionen produzierten Quellen wie bspw. therapeutischen Dokumentationen arbeitet. Hierbei werden logischerweise andere Bilder von Selbst- und Fremdwahrnehmung gezeichnet als in freiwillig geschriebenen Selbstzeugnissen. Vgl. An Luise, St. Cloud, 17.7.1699, HO, 1, 90, S. 162; An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416 u. Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. Zum Humor als Modus des Persönlichkeitsbestimmung auch STOLBERG, Homo patiens, S. 117– 119. Vgl. HALPERIN, Foucault.

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sexuelle Praktiken im Rahmen der Ehe als auch auf den Verzicht auf sexuelle Handlungen innerhalb bestimmter Lebensphasen sowie grundsätzlich außerhalb ehelicher Beziehungen verpflichtet.403 Eine besondere Bedeutung gewinnt die in dieses normative Personkonzept eingewobene Haltung in den Briefen Elisabeth Charlottes im Umfeld des französischen Hofes, an dem sich die Einstellungen zu außerehelichen und nicht prokreativen sexuellen Handlungen um 1700 liberalisiert hatten.404 Dies zeigt, dass Devianz nichts ist, was im Lebensverlauf einer frühneuzeitlichen Person ein für alle mal festgelegt war, sondern je nach Kontext ausagiert werden musste. Am französischen Hof konnte es durchaus als abweichendes Verhalten gewertet werden, wenn man wie Elisabeth Charlotte im Rekurs auf christlich-moralische Tugendvorstellungen weiblicher Keuschheit ‚asexuell‘ lebte. Gleichwohl zeigt das Beispiel Elisabeth Charlottes sowie ihrer unverheirateten Halbschwestern, dass es um 1700 nach wie vor auch möglich war, im Einklang mit diesem Konzept zu leben und zu empfinden.405 Dementsprechend gibt es in den Briefen Elisabeth Charlottes auch keinerlei Hinweise darauf, dass sie sich danach gesehnt haben könnte, ihre aus heutiger Sicht vermeintlich eingezwängte ‚Sexualität zu entfalten‘, wie Dirk Van der Cruysse in seiner Biographie mutmaßt.406 Die beiden retrospektiven Belegstellen aus den ‚Anekdoten‘,407 die er als Beleg für seine These anführt, sind m.E. nicht hinreichend, denn aus diesen Passagen kann lediglich geschlossen werden, dass Elisabeth Charlotte sich zu Monsieur hingezogen fühlte. Dieser Wunsch musste jedoch nicht gleichbedeutend mit dem modernen Konstrukt einer ‚zur Entfaltung gebrachten‘ Sexualität sein, sondern verweist zunächst einmal auf ihren Wunsch, eine Ehe im Einklang mit den Normvorstellungen zu führen.408 Emotionale Zuneigung galt dabei als anzustrebende Basis für eine einvernehmliche Beziehung im Dienste dynastischer Kontinuität und Machtsicherung.409 Interpretationen wie diejeni403 404

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S. etwa ABBOTT, Celibacy, S. 257–258. Vgl. neben den hier analysierten Passagen auch TAEGER, Machtverhältnisse, S. 7–8 u. 150–151, die diese Liberalisierung mit Foucault als Beweis für produktive Machtverhältnisse deutet, die zu einer diskursiven Vervielfältigung um das Thema Sexualität führten. Vgl. auch FOUCAULT, Wille, S. 20 u. 24. S. etwa An Amalie Elisabeth, Marly, 5.11.1705, HO, 1, 274, S. 419: Wer ohne man leben kan, ist nicht die unglücklichste. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 200: „Ein bewegendes Geständnis Caroline gegenüber zeigt, daß sie Monsieur wirklich liebte und daß es nicht ihre Schuld war, wenn ihre Sexualität sich nicht richtig entfaltet hatte.“ Zum Sprechen über Sexualität in Begriffen von Unterdrückung und Befreiung vgl. FOUCAULT, Wille, S. 15. Vgl. An C. v. Wales, o.O., 18.11.1718, A, 77, S. 241: Ich habe Mons. Seel. gehorsamt, indem ich nicht mehr ihn mit meinem embrassement importüniert habe aber doch mit großem Respect und Submission mit ihm gelebt. A, 10, S. 275: Mons, seel. war so importüniert, daß ich I.L. lieb hatte, und gern bei ihm seyn wollte, daß er mich um Gotteswillen bat, ihn weniger zu lieben, daß es ihm gar zu importün würde. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 200. Vgl. aus E. Ch.s Perspektive An Luise, St. Cloud, 4.9.1697, HO, 1, 52, S. 92: Liebe in den ehestandt ist die mode gar nicht mehr; die einander recht lieb haben passiren vor ridicule. An Luise, Meudon, 16.2.1702 HO, 1, 154, S. 267: Daß man einander lieb hatt, wen man geheüraht ist, daß aprobire ich sehr, aber nicht, daß man sich vor die leütte caressirt; daß choquirte mich sehr, wen ichs sehen solte. Paris, 20.2.1721, HO, 6, 1203, S. 20. Vgl. auch STRICH, Liselotte, S. 51. S. auch folgende Aussagen aus den Memoiren Sophies v. Hannover über das erste Zusammentreffen mit ihrem zukünftigen Ehemann Ernst August v. Braunschweig-Lüneburg in: VAN DER

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ge von Van der Cruysse übertragen hingegen heutige Konzeptualisierungen von ‚Liebe‘ und ‚Sexualität‘ auf historische Situationen und unterstellen unzulässigerweise, es gäbe eindeutige Definitionen und vor allem klare Verhältnisbestimmungen zwischen beiden.410 Fraglich ist vielmehr, ob solchen Aussagen nicht unsere eigenen westlich-europäischen Kulturspezifika zu Grunde liegen – etwa diejenigen der Sexuellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre, die die gesellschaftliche Erwartung hervorbrachte, Sexualität sei etwas, das es zu „befreien“ gelte. Liest man vor dem diskursiven Hintergrund normativer Anforderungen an das Personkonzept ‚adelige Frau‘ Elisabeth Charlottes Briefe, so wird man nicht nur Van der Cruysses Vorstellung einer nicht entfalteten Sexualität Elisabeth Charlottes als anachronistisch zurückweisen müssen, sondern ebenso Marcel Prousts Deutung ihrer harschen Kritik an der mänerliebe am Hof, bei der sie ihren eigenen Gatten, den wohl berühmtesten ‚Sodomiten‘ des Grand Siècle, konsequent aussparte. In ‚A la recherche du temps perdu‘ deutete Proust diesen Umstand als eine Strategie, mit der Elisabeth Charlotte sich selbst glauben machen wolle, dass ihre persönliche Situation als „femme d’une Tante“, nichts „Außergewöhnliches oder Entehrendes“ an sich habe.411 Van der Cruysse pflichtete dem bei, indem er schrieb Elisabeth Charlotte habe aufgrund ihrer eigenen (weil nicht zur Entfaltung gebrachten) sexuellen Gleichgültigkeit Monsieurs Verhalten ‚nachsichtiger‘ behandelt und sich lediglich aus finanziellen Erwägungen über seine Ausschweifungen beklagt.412 Weder Proust noch Van der Cruysse aber haben die zentrale Bedeutung gesellschaftlicher Normvorstellungen in ihre Erklärungen einfließen lassen, die zu konkurrierenden Anforderungen und durchaus ambivalenten Positionierungen führten – nämlich s o w o h l aus religiöser Sicht die Sodomie als abscheüliches laster413 abzulehnen a l s a u c h

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CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 72; dt. Übers. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 55: „ (…) und ich war sehr froh, ihn liebenswürdig zu finden, da ich entschlossen war, ihn zu lieben.“ In der Forschung wurden bisher vor allem die sozialen und ökonomischen Momente ehelicher Bindungen in der Frühen Neuzeit betont; vgl. ARIÈS, Liebe, S. 165–175, bes. 170–171; LISCHKA, Liebe, S. 8–9; GOWING, Lesbierinnen, S. 135. Vgl. kritisch hierzu Claudia JARZEBOWSKI, Loss and Emotion in Funeral Works on Children in Seventeenth-Century Germany, in: Lynne TATLOCK (Hg.), Enduring Loss in Early Modern Germany. Cross Disciplinary Perspectives (Studies in Central European Histories 50), Leiden, Boston 2010, S. 187–213, hier 197. In Bezug auf die unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs der Liebe verbieten sich jegliche Pauschalisierungen. S. etwa FADERMAN, Liebe, S. 17: „Meine Untersuchungen führten mich weiter zum Schluß, daß erst unser Jahrhundert die Liebe als Verfeinerung des Sexualtriebs empfindet, während früher Liebe und Sexualtrieb als voneinander unabhängig betrachtet wurden.“ Vgl. Marcel PROUST, A la recherche du temps perdu, Bd. 3: La Prisonnière (Bibliothèque de la Pléiade), hg. v. Pierre CLARAC u. Andrè FERRÉ, Paris 1954, S. 304; dt. Übers. Marcel PROUST, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 5 Die Gefangene (Frankfurter Ausgabe Werke II), Frankfurt a.M. 2000, S. 435: „Ferner spricht Madame nicht von den Lastern Monsieurs, doch spricht sie unaufhörlich von den gleichen Lastern bei anderen, wohlinformiert, wie sie ist, und zugleich aus der Neigung heraus, die wir haben, in fremden Familien den gleichen Makel festzustellen, unter dem wir selbst in der unseren leiden, um uns zu beweisen, daß daran nichts Außergewöhnliches oder Entehrendes ist.“ Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 192–193 (Zit.): „Wenn Madame so viel Nachsicht beweist, so wohl vor allem deshalb, weil die Homosexualität sie im Grunde genommen kaum schockierte. Sie war sexuell eher indifferent und beklagte sich nicht, dass Monsieur sie vernachlässigte.“ S. auch JONES, Sexing, S. 52–53 u. 57. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154.

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unbedingte Loyalität gegenüber ihrem Ehemann zu zeigen.414 Wenn Elisabeth Charlotte selbst in den schwersten Konflikten mit Monsieur ihren Briefen zufolge keinerlei offene Konfrontation suchte, entsprach sie damit im besten Sinne den Erwartungen ihrer Tante, der sie mitt gott dem gantzen hoff, undt allen meinen leütten versicherte, sie habe Monsieur nicht ein eintzig böß wort geben noch das geringste vor geworffen (…), noch hinterwertz von ihm gesprochen.415 Auch wenn Philippe erkrankt war, ließ sie es trotz aller Differenzen – zumindest in ihren Briefen an Sophie – nicht an der einer adeligen Ehefrau gebührenden Sorge fehlen und kümmerte sich aufopferungsvoll um ihn.416 Als Monsieur schließlich 1701 einen Schlaganfall erlitt, schrieb Elisabeth Charlotte an ihre Tante, dass er ihr in seinen letzten Stunden doch sein vertrawen erwiesen habe. Wie ungerecht er sie auch immer behandelt haben mochte, habe sie ihn doch nie gehast, sondern lieb gehabt und sein Tod komme ihr auf alle weiß sehr schmertzlich vor, wie E.L. leicht gedencken können.417 Die in diesen Zusammenhängen verschiedentlich auftauchende Redewendung wie E.L. gedenken können unterstreicht ihren Willen, mit dem präsentierten Handeln und Empfinden normativen Geboten zu entsprechen.418 Diese hier durchscheinende Bedeutung von Ehre und Loyalität in adeligen Ehekonzeptionen hatte bereits Norbert Elias in seiner Untersuchung zur höfischen Gesellschaft äußerst treffend charakterisiert: „Die Pflicht gegenüber der Gesellschaft (...), im weiteren Sinne die Aufrechterhaltung der Ehre des ‚Hauses‘, sie blieb als das Gemeinsame zurück, wenn andere individuelle Gemeinsamkeiten sich verloren (…).“419

Dass Elisabeth Charlotte adelige Ehen – aus ihrer Sicht realistischerweise – nach diesem Muster bewertete und verstand, zeigt ihr Resümee gegenüber Luise im Juli 1720: Es ist ein ihrtum, zu glauben, daß man einen man wehren kan, maistressen oder puben zu lieben; es muß eins oder daß ander hir sein. Daß beste ist, den man auß schuldigkeit, aber nicht mitt passion zu lieben, woll undt friedtsam mitt ihm zu leben, aber sich in nichts bekümern, wo er seine wüsterey hintregt. Auff dieße weiße bleibt man imm[e]r gutte freundt undt behalt friede undt ruhe im hauß.420

Elisabeth Charlottes Ansicht nach konnte eine adelige Frau zwar grundsätzlich auch in der Ehe leidenschaftliche Liebe (mitt passion) empfinden.421 Als Beispiel hierfür galt ihr ihre Tochter Elisabeth Charlotte, die ihren herrn, Leopold Joseph von Lothringen (1679– 414

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Zu den Loyalitätsbekundungen E. Ch.s vgl. etwa An C. v. Wales, o.O., 13.6.1719, A, 2, S. 273 u. 18.11.1718, A, 77, S. 241: habe aber doch mit großem Respect und Submission mit ihm [Monsieur] gelebt. An Sophie, Paris, 24.11.1682, NLA-HStAH, I, 268v–269r, vgl. B, 1, 42, S. 54. Vgl. auch St. Cloud, 20.5.1689, ebd., II, 365v–366r, vgl. B, 1, S. 106 Vgl. An Sophie, St. Cloud, 30.8.1676, NLA-HStAH, I, 42v–43r, Paris, 20.7.1692, ebd., III,2, 311r– 311v; zu Sophies Verhalten während der Krankheit ihres Gatten VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 89– 90. An Sophie, Versailles, 7.7.1701, NLA-HStAH, XI, 311v–312v, vgl. B, 2, 458, S. 5. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 30.8.1676, ebd., I, 42v–43r. ELIAS, Höfische Gesellschaft, S. 89(Zit)–91. Vgl. ROGGE, Töchter, S. 263. An Luise, St. Cloud, 21.7.1720, HO, 5, 1141, S. 209, vgl. auch 12.5.1720, HO, 5, 1121, S. 146–147; VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 82–83; CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 51. Vgl. im Gegensatz dazu ARIÈS, Liebe, S. 168–169, dem zufolge die loyale Liebe in der Ehe von der leidenschaftlichen Liebe außerhalb der Ehe strikt unterschieden wurde.

GENDER IN DER BEHARRUNG ERZÄHLEN

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1729), von grundt ihrer seelen liebte – was Elisabeth Charlotte insbesondere in Anbetracht ihrer Erziehung in Frankreich Respekt abnötigte.422 Aufgrund der weitverbreiteten und aus ihrer Sicht unabänderlichen Angewohnheit der Männer, ihre wüsterey jedoch außerhalb der Ehe mit maistressen oder puben auszuleben,423 sei die beste Form der ehelichen Liebe jedoch vor allem diejenige, die dauerhaft auf beiderseitiger Loyalität und Verantwortungsgefühl (schuldigkeit)424 für die gemeinsamen Belange (ruhe und frieden im hauß) beruhe.425 Abzulehnen war aus ihrer Sicht vielmehr, wenn Frauen diese loyale Liebe aus persönlicher ambition schuldig blieben, was sie in Frankreich vielfach beobachten zu können glaubte.426 Auch wenn das tatsächliche Empfinden historischer Akteurinnen wie Elisabeth Charlottes weiter hinter dem Spiegel bleibt, den Michelle Perrot beschrieb, lässt sich auf dieser Grundlage doch schlussfolgern, dass Liebe aus Loyalität bei gleichzeitiger ‚Asexualität‘ dem Personkonzept der adeligen Frau entsprechend phasenweise ein lebbarer, weil (in bestimmten Kreisen) akzeptierter Lebensstil war. Die in aktuellen Debatten, prominent etwa von dem deutschen Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch formulierte These, Asexualität werde aufgrund eines Banalisierungsprozesses von Sexualität erstmals in den gegenwärtigen Debatten als eine legitime Form im Spektrum möglicher Sexualitäten bzw. Nicht-Sexualitäten akzeptiert, beruht dagegen auf einem zeitspezifisch eingeschränkten und genderblinden Blick auf ‚Sexualität‘.427

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An Luise, Paris, 4.2.1719, HO, 4, 991, S. 27: den sie liebt ihren herrn nicht wie die frantzösche weiber, sondern von grundt ihrer seelen, ob er zwar anderwerts sehr verliebt ist. Vgl. auch St. Cloud, 4.9.1697, HO, 1, 52, S. 92. Vgl. in Kontext des zitierten Briefes An Luise, St. Cloud, 21.7.1720, HO, 5, 1141, S. 209: den es ist ja nicht billig, sich zu queellen [quälen] über waß man erstlich nicht endern. Vgl. ebd. den direkten Kontext: Die seinigen zu lieben undt in sorgen vor ihnen zu sein, kompt manner so woll, alß weibern zu. Diese Form von Liebe ist laut Philippe Ariès das Paradigma vormoderner Vorstellungen der ehelichen Liebe. Vgl. ARIÈS, Liebe, S. 168–170 u. 174; zu den mit der Ehe und ehelicher Liebe verbundenen Erwartungen auch STOLLBERG-RILINGER, Liebe, bes. S. 242, 246 u. zu ähnlichen Differenzierungen zwischen Passion und vernunftgemäßer Liebe im bürgerlichen Zeitalter S. 256. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 21.7.1720, HO, 5, 1141, S. 209–210: Von einem man solle eine fraw allezeit zu[frieden sein], wen er ruhig mitt ihr lebt undt ihr nichts zu leydt thut. Es seindt keine ewige lieben; lieben, ich verstehe verliebt sein, muß mitt der zeit ein endt neben, also muß man nur gedult haben, wie Ihr der gräffin gar woll gerahten habt. Vgl. ebd.: hir im landt findet man mehr leütte jalous von ihren mänern auß ambition, alß aus liebe; den sie wollen allezeit regieren undt es ist kein küchenmagt, so nicht meint, daß sie verstandt genung hatt, daß gantze königreich zu regieren; wollen auch auff alle staadtssachen allezeit raisoniren, machen mich so ungethultig offt, daß ich trappeln undt stampffen mögte. Vgl. Volkmar SIGUSCH, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Frankfurt a.M., New York 2005, S. 7–9, Zit. S. 8: „Zum ersten Mal in der überschaubaren Geschichte dürfen heterosexuelle sogar asexuell sein und ihr anhaltendes Desinteresse an den sexuellen Lüsten öffentlich bekunden, ohne verlacht oder gar verachtet zu werden.“ S. auch „Der Autor“, Asexualität: Sex? Ohne uns?, in: Zeit online, 16.7.2008.

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DAS VERGESCHLECHTLICHTE SELBST ERZÄHLEN

IV. Zwischenfazit: Das Selbst und die Positionierung als Frau Die Lektüre von Elisabeth Charlottes Briefen zeigt nachdrücklich, wie unerlässlich es war, normativen Anforderungen an das Person-Sein mit einer adäquaten Körperpraxis zu entsprechen. In einer zunehmend dynamischen Ständegesellschaft ließen sich ‚legitime‘ Ansprüche auf bestimmte soziale Positionen nur mit einem derart angemessenen Handeln und Empfinden bekräftigen oder reklamieren. Personkonzepte sind dabei als Bündel verschiedener Positionierungen im Diskurs zu verstehen, die in den sozialen Raum wirken. Eingenommen wurden diese Positionierungen, indem sie praktisch am und mit dem Körper gelebt und aufgeführt und möglichst authentisch ‚verkörpert‘ wurden. Wie kaum eine andere Analyseperspektive ermöglicht es eine geschlechtertheoretisch orientierte Lesart, diese Verkörperungsprozesse in ihrer Konflikthaftigkeit sichtbar zu machen. Denn den Vorstellungen idealer Weiblichkeit waren äußerst ambivalente Erwartungen inhärent, denen zu begegnen eine besondere praktische Herausforderung darstellte. So hatte man zeitgenössischen Konzeptionen adeliger Weiblichkeit, im französischen Raum etwa dem Typus der femme forte folgend, a l s Frau nicht nur gleichermaßen stark und tapfer wie schön und anmutig zu sein, sondern auch ebenso keusch wie (sexuell) anziehend (II.1).1. Gerade dieser schmale Grad zwischen weiblicher Stärke und Verführungsfähigkeit war jedoch vermutlich ursächlich dafür, dass Elisabeth Charlotte in ihrer Kindheit nicht an die Bewegungsform des Reitens bzw. Jagens herangeführt worden war. Die väterlichen Erziehungsinstruktionen wandten sich dezidiert gegen all jene Praktiken, die die untugendhafte Eitelkeit von Frauen befördern konnten und empfahlen stattdessen petits ouvrages des filles wie das Nähen und Sticken oder die Lektüre moralischer Bücher als angemessene Beschäftigungen (II.2 u. III.1). Betrachtet man Elisabeth Charlottes Umgang mit dem körperlichen Leib aus der Perspektive ihrer Briefe, so gewinnt man den Eindruck, dass es äußerst schwierig war, die diversen Konstituenten idealer adeliger Weiblichkeit glaubhaft zu verkörpern. Mit ihrer Begeisterung für die Jagd entsprach sie zwar dem Modell der femme forte – trug sie das für Frauen vorgesehene maskulin anmutende Jagdkostüm außerhalb der Jagdereignisse, wurde dies in der Hofgesellschaft jedoch als Affront, als subversiver Akt gegen die Geschlechterordnung empfunden (II.1).2 Weil sie sich weigerte, bei der Jagd eine Maske zu tragen oder ihre Haut nachträglich heller zu schminken, galt sie mit ihrer von den vielen Aufenthalten im Freien sonnengebräunten Haut als unweiblich und unstandesgemäß. Mit der Ablehnung von Schönheitspraktiken entsprach sie einerseits dem Tugendbegriff ihrer Herkunftsfamilie (III.1); von den typisch weiblichen Beschäftigungen wie dem Nähen grenzte sie sich andererseits – obwohl auch diese Teil ihrer Erziehung waren – scharf ab. Weiberzeüg ohne mannsleütte erschien ihr langweylich – stattdessen fühlte sie sich einer maskulin dominierten adeligen Jagdgesellschaft zugehörig (II.2). Mit ihrer körperlichen Kraft und Stärke und ihren gesundheitsfördernden Bewegungspraktiken stellte sie zwar die gute familiäre Disposition (2.II.1) unter Beweis, die damit einhergehende, von Zeitgenossen wahrgenommene rusticité im Benehmen entsprach hingegen wohl kaum 1 2

Zum Bild der amazone chrétienne als Verteidigerin ihrer Unschuld vgl. KROLL, Heerführerin, S. 60. Sophie an Karl Ludwig, 24.8.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 373, S. 372; VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 251.

ZWISCHENFAZIT

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dem Standesstolz der kurfürstlichen Familie (III.1).3 Ihre über weite Strecken ‚asexuelle‘ Lebensweise in der Zeit des lit à part und als Witwe entsprach den Tugendidealen für adelige Frauen, gab in Zeiten einer sexuellen Libertinage am französischen Hof jedoch nicht nur Madame de Monaco Rätsel auf (III.4). Angesichts der im Hinblick auf diese divergierenden Verhaltenserwartungen fast folgerichtigen permanenten Grenzgänge in der Praxis suchte Elisabeth Charlotte nach einem übergeordneten Wert, aus dem sich Konsequenzen für angemessenes praktisches Handeln ableiten ließen. Durch den wiederholten Bezug auf Gesundheit, so zeigt meine Argumentation, gelang es ihr, den letztlich inhaltsleer verbleibenden Begriff der Tugend4 handlungspraktisch zu füllen. In der Interaktion mit ihren Briefpartner_innen vergewisserte sich Elisabeth Charlotte immer wieder, dass nur diejenigen Handlungen und Praktiken ‚richtig‘ sein konnten, die die eigene Gesundheit beförderten. Sprichwörtlich erschrieb sie sich den Begriff der Tugend, indem sie Richtlinien für entsprechendes Handeln ausbuchstabierte. Den Ansichten ihrer Tante folgend resultierte eine gesunde und selbstverantwortliche Lebensführung für Elisabeth Charlotte in erster Linie aus einem guten Verstand. Dieser allein vermochte es, Tugend von Laster zu scheiden (3.I, 3.IV, 2.V.1). Diese Auffassungen waren an zeitgenössischen Moral- und Tugendlehren orientiert, die Verstand als Gegenmittel für weibliche Koketterie konzipierten. Vorstellungen, denen zufolge gutes Aussehen und eine als attraktiv empfundene Körperform notwendiger Ausweis adeliger und weiblicher Ehre waren, teilte Elisabeth Charlotte zwar – in Bezug auf sich selbst umging sie diese jedoch, indem sie einen Begriff innerer Schönheit (3.I–II) konzipierte. Wo sie es für gesund hielt, so bei der Jagdpraxis, näherte sie sich maskulin konnotierten Praktiken an und verurteilte ‚prototypisch‘ weiblich kodierte Schwäche und Kränklichkeit (3.II). Bei ungesunden Körperpraktiken wie dem Tabakund Alkoholkonsum (3.III) aber grenzte sie sich von angleichenden, die überkommene Geschlechterordnung in Frage stellenden Praktiken genauso scharf ab, wie sie zuvor über diese hinausweisende Handlungsspielräume für sich in Anspruch genommen und verteidigt hatte. Ausschweifende Sexualität letztlich galt als potentielle Gesundheitsgefahr. Die desbeauchirte metres geriet in dieser Hinsicht zum Gegenbild tugendhafter adeliger Weiblichkeit (3.IV). Aus diesen diskursiven Positionierungen und Handlungspraktiken entlang einer Achse von Gesundheit und Tugend ergaben sich im sozialen Umfeld verschiedene Konfliktmomente, die Elisabeth Charlotte, so machen ihre Briefe glauben, allerdings keineswegs scheute. Vielmehr ließ sie diese Begebenheiten in ihren Briefen vielfach Revue passieren und lebte auf diese Weise die Prozesse des doing difference (erneut) im Schreiben aus. Durch den Bezug auf eine gesundheitsfördernde, maßvolle und gottgefällige Körperpraxis gelang es Elisabeth Charlotte, die Würde ihres Standes und ihres Geschlechts vor sich selbst in angemessener Weise zu verkörpern. Einmal mehr zeigen ihre Briefe, wie unterschiedlich sich diskursive Vorstellungen und auf diese rekurrierende Positionierungen in verschiedenen Kulturräumen des früh3 4

COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 8, S. 553. Obwohl Tugend ein Schlüsselbegriff verschiedener Epochen ist, gibt es nur wenige Definitionsversuche. In den ‚Geschichtlichen Grundbegriffen‘ wird er schlicht nicht erwähnt. Auch BASTL, Tugend, S. 534 verbleibt in Bezug auf den Titelbegriff ihrer Studie bei der Feststellung, es gebe immer „eine Vielfalt möglicher Tugendausübungen im täglichen und nichtalltäglichen Leben“.

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DAS VERGESCHLECHTLICHTE SELBST ERZÄHLEN

neuzeitlichen Europas gestalten konnten. Hatte beispielsweise das Ideal der femme forte um 1700 im französischen Raum schon längst seine einstige Vormachtstellung eingebüßt, scheinen ähnliche Konnotationen und Normanforderungen im protestantischen deutschsprachigen Raum noch bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hoch aktuell gewesen zu sein,5 so zeigen etwa der Eintrag Tugendsam Weib in Zedlers Universallexikon (1745)6, aber auch Saint-Simons Charakterisierungen Elisabeth Charlottes (1722) als forte, courageuse – mit einem Wort als allemande au dernier point.7 Sprach man am kurfürstlichen Hof um 1650 von unzüchtiger Liebe zwischen Frauen, war dies am französischen Hof um 1700 offenbar eine denk- und praktizierbare Form der Liebe, so zeigt das Beispiel Madame de Monacos. Sowohl im zeitlichen als auch im räumlichen Sinne ist ein Nebeneinander verschiedener diskursiver Vorstellungen und Normen in der Frühen Neuzeit zu erkennen8, die sehr unterschiedliche Bezugnahmen und Positionierungen erforderten, aber auch ermöglichten. Lineare Modelle, wie sie in der historischen Forschung immer wieder konzipiert wurden und werden, reduzieren die Komplexität der sozialen und diskursiven ‚Wirklichkeit‘ in unzulässiger Weise und sind primär Ausdruck eines Strebens nach Ordnung, das Historiker und Historikerinnen oft gerade in der Frühen Neuzeit nachzuweisen versuchten. Die Prozesse der Positionierung historischer Personen können folglich nur adäquat konzeptualisiert und verstanden werden, betrachtet man sie aus einer intersektionalen Perspektive im Schnittfeld von ständischen, geschlechts- und altersbezogenen, kulturräumlichen und religiös-konfessionellen Zuschreibungen und normativen Anforderungen sowie deren praktischer Aushandlung – so lautet das zentrale Ergebnis der vorangegangenen Analysen.

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Dies änderte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jhd.s deutlich. Vgl. Ulrike WECKEL, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 61), Tübingen 1998, S. 573–585. Vgl. Art. Tugendsam Weib, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 7, Sp. 1517. Tugendsam sei ein solches Weib (…), die ihre Laster mit tapffern und männlichen Muthe bestritten, darinne obgesieget, und die Tugend als eine angenehme Beute davon gebracht hat. COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 8, S. 553. S. dazu GRIESEBNER u. LUTTER, Selbst, S. 69–70.

TEIL 4 – ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

Biograph_innen haben Elisabeth Charlotte – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – zumeist als widerständige Person beschrieben. Jacob Wille hob 1895 die „unverwüstliche Kraft“1 im „Charakter“2 Elisabeth Charlottes hervor, wie Arlette Lebigre (1988) über einhundert Jahre später eine bis zum Ende ihres Lebens „unbezähmbare Liselotte“3 imaginierte. In der Tat zeugen ihre Briefe davon, wie sie die Überzeugungen und praktischen Gewohnheiten ihrer ersten Lebensphase in einem als ‚anders‘ erfahrenen Umfeld zu bewahren versuchte (s. v.a. 2.I., 2.II.3, 2.III.1). Mit dem alleinigen Verweis auf diesen beharrungskräftigen Modus der Selbstdarstellung und -inszenierung lassen sie sich meiner Ansicht nach jedoch nur unzureichend beschreiben. So deutete sich bereits an verschiedenen Stellen an, dass Elisabeth Charlotte durchaus die Handlungsspielräume zu nutzen wusste, die sich ihr am französischen Hof boten. So hatte sie beispielsweise erst dort das Reiten bzw. Jagen erlernen können – eine Bewegungspraktik, die sie jedoch sofort mühelos mit dem aus der Kindheit stammenden Spitznamen rauschenplattenknecht verknüpfte und lebenslang zur Selbstbeschreibung heranzog (3.II). Der folgende Teil fokussiert solche Anpassungs- und Verarbeitungstechniken, im Zuge derer Praktiken und Deutungen im Schreibprozess verändert oder durch andere ersetzt, also gewissermaßen überschrieben werden. Den theoretischen Reflexionsrahmen bildet dabei ein grundsätzlich dynamisches, veränderungsoffenes Verständnis von personaler Identifikation und Körperpraxis. Dabei versuche ich herauszuarbeiten, dass weder Elisabeth Charlottes Wissen über den Körper noch die Praktiken im Umgang mit ihm und ihre damit eng verbundenen leiblichen Empfindungen einzig als „Wiederkehr des Immergleichen“4 verstanden werden können. Vielmehr soll gezeigt werden, dass und wie praktische Verhaltensweisen von neuen diskursiven Kontexten sowohl bestätigt und

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WILLE, Pfalzgräfin, S. 190, hier bezogen auf ihr „deutsche[s] Wesen“. KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 14 meinte sogar, sie sei „in der ganzen Zeit mit all ihrem Denken so deutsch und so stolz auf ihr Deutschtum geblieben, daß wir es ihr nicht genug danken können”. WILLE, Pfalzgräfin, S. 190 u. 201. LEBIGRE, Liselotte, S. 288. Vgl. auch VOSS, Zeuge, S. 190, der hervorhebt, E. Ch. habe sich „nur bedingt den dortigen Lebensgewohnheiten“ angepasst. CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 45 u. 48: „Zugleich scheint sie sich keineswegs darum bemüht zu haben, sich an die Anforderungen des Hoflebens anzupassen (…). In vielen Briefen kommt zum Ausdruck, dass Elisabeth kein Verständnis für die französische Kultur entwickeln konnte und eine Fremde am Hof in Versailles und Paris geblieben war“ und „daß sie sich dabei [beim Schreiben] einen persönlichen Freiraum schafft, aus dem sowohl die Politik als auch die französische Kultur ausgeschlossen sind“. JONES, Sexing, S. 62 „While Elisabeth Charlotte endured an unhappy marriage, a forced conversion to Catholicism, and exile from her beloved Germany, one is struck by the remarkable stability over a fifty-year period of her identity as German princess, aristocratic mother, and French courtier.“ Vgl. FÜSSEL, Kunst, S. 17.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

verfestigt als auch umgedeutet und modifiziert werden5 und somit Deutungs- und Handlungsrepertoires6 nachhaltig umgestaltet bzw. erweitert werden können. Für die Untersuchung solcher Prozesse äußerst anregend ist der Begriff der ‚Aneignung‘, wie er etwa von dem französischen Religionswissenschaftler und Historiker Michel de Certeau7 sowie von der wissenssoziologisch inspirierten Alltagsgeschichte um Alf Lüdtke8 diskutiert und in der Frühneuzeitforschung verschiedentlich aufgegriffen wurde.9 Wie dabei vielfach hervorgehoben wurde, eröffnet das Konzept den Blick auf die Auseinandersetzung historischer Personen mit den ihnen begegnenden gesellschaftlichen Verhältnissen und diskursiv hergestellten kulturellen Bedeutungen und betont die produktive Komponente dieser praktischen Auslegungen.10 Nach Lüdtke meint Aneignung „die Gleichzeitigkeit des Sich-Einfindens in Vorgefundenes, das dabei immer schon verändert und je Eigenes wird“.11 In diesem Sinne erscheint die Untersuchung von An5

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Vgl. Kathleen ASHLEY u. Véronique PLESCH, The Cultural Processes of „Appropriation“, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 32,1 (2002), S. 1–15, hier 6: „(…) appropriation is aimed at creating and/or consolidating identity (…).“ Im Grunde betont dies auch Bourdieu mit der Neufassung des Habitusbegriffs in seinem Spätwerk. Vgl. BOURDIEU, Antworten, S. 406–407: „Zum zweiten: Der Habitus, Produkt sozialer Konditionierungen, folglich einer Geschichte (im Gegensatz zum Charakter), ist in unaufhörlichem Wandel begriffen, sei es, daß er sich verstärkt, und zwar immer dann, wenn die korporierten Erwartungsstrukturen auf Strukturen von Chancen stoßen, die mit den Erwartungen objektiv übereinstimmen, sei es, daß er sich grundlegend verändert, wenn das Erwartungsniveau, die Anspruchslage sich erhöht oder aber sinkt (was zu sozialen Krisen führen kann).“ BOURDIEU U. WACQUANT, Ziele, S. 167: „Der Habitus ist nicht das Schicksal, als das er manchmal hingestellt wurde. Als ein Produkt der Geschichte ist er ein offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird.“ Vgl. zur Rezeption dieser Begriffsfassung etwa auch LÖW, Raumsoziologie, S. 187–188; RIEGER-LADICH, Determinismus, S. 289–293. Vgl. zu einem Kulturverständnis „als System produktiver Optionen“ auf Grundlage des Begriffs des Repertoires ALGAZI, Kulturkult, S. 111 u. 113 (Zit.)–116: „Kultur wird demnach als ein heterogenes System von Repertoires aufgefasst, die Optionen – Modelle, scripts, templates und fertige Elemente – für das Handeln sozialer Akteure bereithalten.“ Vgl. Michel DE CERTEAU, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 14–15. Vgl. Alf LÜDTKE, Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139– 153, hier 146, der davon ausgeht, dass Menschen beim „Wahrnehmen oder Übersehen, beim Artikulieren wie (Ver)Schweigen nicht nur den Codes jener Diskurse und Repräsentationen von Bedeutung und Wirklichkeit folgen, die sie vorfinden“, sondern diese zugleich in vielfältiger Weise „variieren“. Vgl. ALGAZI, Kulturkult, S. 115–116; Martin DINGES, Materielle Kultur und Alltag – die Unterschichten in Bordeaux im 16. und 17. Jahrhundert, in: Francia 15 (1987), S. 257–279, bes. 278; RUBLACK, Erzählungen, S. 230, Anm. 54; David Warren SABEAN, Selbsterkundung. Beichte und Abendmahl, in: Richard VAN DÜLMEN (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 145–162, hier 150; FÜSSEL, Kunst, S. 14–19 u. Rückkehr, S. 156–157. Vgl. FÜSSEL, Kunst, S. 9 u. 17; Belinda DAVIS, Thomas LINDENBERGER u. Michael WILDT, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Alltag, Erfahrung, Eigensinn, Frankfurt a.M., New York 2008, S. 11–28, hier 13; ALGAZI, Kulturkult, S. 111 u. 113. Alf LÜDTKE, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen GOETZ (Hg.), Geschichte – ein Grundkurs, 2. Aufl., Hamburg 2001, S. 557–578, hier 563. Lüdtke verwendete ebenfalls den Begriff des ‚Eigensinns‘. Dieser zielt „auf temporäre, flüchtige wie fragile

ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

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eignungsprozessen besonders geeignet, um die Prozesse der kreativen praxisbezogenen Aushandlung von Selbstverhältnissen zwischen Neuschöpfung, Umdeutung und vergewissernder Beharrung zu beleuchten.12 Im Folgenden sollen die jenseits des beharrenden Selbstinszenierungsmodus oft eher beiläufig erwähnten kreativen Aneignungs- und Verarbeitungsleistungen in Elisabeth Charlottes Briefen in ihrer jeweiligen zeitspezifischen biographischen Situierung in den Blick genommen werden. Dabei soll gefragt werden, ob und wie bestimmte Veränderungen von der Autorin reflektiert und erklärt werden bzw. in welcher Weise eine Integration neuer bzw. modifizierter Praktiken und Deutungen gelingt. Im ersten Teil der Analysen stehen Aneignungsprozesse in Bezug auf die frühneuzeitliche Säfte- und Temperamentenlehre und die damit verbundenen Deutungen und Körperpraktiken im Mittelpunkt (I). Im zweiten Abschnitt wird die kulturräumlich-nationale Semantik, die zahlreiche briefliche Erzählungen und Beschreibungen von der wissensförmigen Körperpraxis und dem leiblichen Empfinden durchzieht und in der Historiographie stark betont wurde, in ihrer spezifischen Zeitlichkeit als Aneignung diskursiver Positionen analysiert (II). Der dritte Abschnitt fragt daran anschließend nach Spuren einer Vervielfältigung und Überlagerung kulturräumlicher Identifikationsmomente (III).

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Praktiken und Verhaltensweisen mit keineswegs konsistenten, ja oft widersprüchlichen Motiven und Folgen, die gleichwohl nur von konkreten, unverwechselbaren Akteurinnen und Akteuren betrieben werden können“. Vgl. DAVIS, LINDENBERGER u. WILDT, Einleitung, S. 18. Vgl. ASHLEY u. PLESCH, Appropriation, S. 6; Marian FÜSSEL u. Tim NEU, Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive, in: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 215–235, hier 222; RECKWITZ, Subjekt, S. 37.

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I.

ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

Das melancholische Selbst erzählen

1. Daß die humoren endern : Biographischen Wandel am Körper verarbeiten 1

Die Humoralpathologie war zweifellos eines der wirkmächtigsten Körperkonzepte der Vormoderne. In der Frühen Neuzeit hatte die Lehre von den vier Säften (quattuor humores) bereits eine lange Tradition aufzuweisen, schließlich hat die Idee, das Funktionieren des menschlichen Körpers hänge von den ihn durchziehenden Flüssigkeiten ab, ihren Ursprung in der Medizin des antiken Griechenlands. In der gegen Ende des fünften vorchristlichen Jahrhunderts entstandenen hippokratischen Schrift ‚Über Luft, Wasser und Ortslagen‘ wurden die Konstitution des Menschen und seine Krankheitsanfälligkeiten erstmals auf das Vorkommen von Körpersäften zurückgeführt.2 In der empirischen Medizin hatte man beobachtet, dass Schleim (Phlegma) und Galle in Abhängigkeit von den jeweiligen klimatischen Bedingungen sowie Wärme- und Feuchtigkeitsgraden im Jahresverlauf zu- oder abnahmen und auf diese Weise den Zustand des Körpers zwischen Gesundheit und Krankheit bestimmten.3 Eine vermutlich aus der Feder des Hippokrates-Schülers und -Schwiegersohns Polybus stammende Schrift mit dem latinisierten Titel ‚De natura hominis‘ unterschied dann erstmals vier im Körper vorkommende Säfte. Die Galle wurde in zwei unabhängig voneinander existierende Säfte, die gelbe und die schwarze Galle, unterschieden und neben dem Phlegma wurde auch das Blut in die Lehre integriert. Darauf aufbauend definierten sich Gesundheit und Krankheit über das jeweilige Mischungsverhältnis der vier Körpersäfte (Krasis) – eine Idee pythagoräischen Ursprungs, die vom Verfasser von ‚De natura hominis‘ übernommen wurde. Ein relatives Kräftegleichgewicht (Eukrasie) bedeutete Gesundheit, während dem ausgeprägten Mangel bzw. Überwiegen eines Saftes pathologische Wirkung zugeschrieben wurde (Dyskrasie). Dieses Gleichgewichtsmodell dominierte das Denken über Körper, Gesundheit, Krankheit und heilkundliche Behandlungen in den folgenden Jahrhunderten.4 1 2

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An Luise, Versailles, 31.12.1705, HO, 1, 286, S. 433. Vgl. Hellmut FLASHAR, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966, S. 23–24; Raymond KLIBANSKY, Erwin PANOFSKY u. Fritz SAXL, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a.M. 1990, S. 45 u. 47; Jean STAROBINSKI, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, Basel 1960, S. 14. Die empirische Medizin kannte die Säfte sowohl als Krankheitserreger als auch als Krankheitssymptome, wenn sie z.B. beim Erbrechen auftraten. Vgl. FLASHAR, Melancholie, S. 23–28 u. 28–36; Isabelle GUNTERMANN, Mysterium Melancholie. Studien zum Werk Innokentij Annenskijs (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte, Reihe A Slavische Forschungen 35), Köln, Weimar, Wien 2001, S. 21; NUTTON, Humoralism, S. 284; Brigittte SCHULTE, Melancholie. Von der Entstehung des Begriffs bis Dürers Melencholia I, Würzburg 1996, S. 17. Vgl. FLASHAR, Melancholie, S. 36–49; GILL, Tradition, S. 101; GUNTERMANN, Mysterium, S. 22–24; Wolf LEPENIES, Melancholie und Gesellschaft. Mit einer Einleitung:Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie, Frankfurt a.M. 1998, S. 23–24; LINDEMANN, Medicine, S. 13; NUTTON, Humoralism, S. 285; Klara OBERMÜLLER, Melancholie in der deutschen Lyrik des Barock (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 19), Bonn 1974, S. 10–11; SCHIPPERGES, Homo patiens, S. 88–90 u. Melancholie, S. 965; SCHNEIDERS, Diätetik, S. 26; SCHÖNER, Viererschema, S. 17–18; SCHULTE, Melancholie, S. 18–19; STAROBINSKI, Geschichte, S. 10 u. 14; STOLBERG, Homo patiens, S. 117; Helen WATANABE-O’KELLY, Melancholie und die

DAS MELANCHOLISCHE SELBST ERZÄHLEN

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Der Fortbestand und die Weiterentwicklung der Humoralpathologie aber beruhten im Wesentlichen auf den Schriften des Arztes Galenos von Pergamon (130–200 n. Chr.), der bereits in seiner Jugend medizinische Studien begonnen und praktische Erfahrungen als Gladiatorenarzt gesammelt haben soll.5 Neben seiner späteren Tätigkeit als Leibarzt der römischen Kaiser Marcus Aurelius und Lucius A. Verso kompilierte er die verschiedenen ihm bekannten Lehren der Griechen und gliederte sie in ein einheitliches System ein, das Medizin und Körpervorstellungen von der römischen Antike über das Mittelalter hindurch bis weit in die Neuzeit hinein prägte.6 Grundlage dieses Systems war ein Viererschema. Bereits in ‚De natura hominis‘ und anderen griechischen Texten war die Säftelehre mit anderen Vierzahl-Lehren zu einem komplexen naturphilosophischen System verbunden worden: Den Kardinalsäften waren durch Analogieschluss so unterschiedliche Konstituenten wie Jahreszeiten, Lebensalter, Himmelsrichtungen, Elemente sowie je zwei Primärqualitäten aus den Gegensatzpaaren trocken-feucht und warm-kalt zugeordnet worden.7 Demzufolge galt das Blut als warm und feucht, die gelbe Galle als warm und trocken, die schwarze Galle als kalt und trocken und das Phlegma als kalt und feucht. Galen griff die bereits vorhandenen Zuordnungen auf und ergänzte sie um seelisch-geistige Eigenschaften. Diese Erweiterung schuf die Grundlage für eine umfassende Temperamentenlehre, die vor allem in, aber auch seit der Spätantike vielfach modifiziert und umgedeutet wurde und in ihren Hauptaspekten bis heute bekannt ist. 8 Der Mensch mit seinen Wesenszügen, Eigenschaften und Krankheitsanfälligkeiten wurde somit im umfassenden Sinne durch das Mischungsverhältnis der Säfte (temperamentum) bestimmt.9 Je nachdem, welcher Saft mit seinen Qualitäten im Körper im Zustand der Gesundheit

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melancholische Landschaft. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts, Bern 1978, S. 15; Antje WITTSTOCK, Melancholia Translata. Marsilio Ficinos Melancholie-Begriff im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 9), Göttingen 2011, S. 32–33. Vgl. Wolfgang U. ECKART, Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen, 6. Aufl., Heidelberg 2009, hier 43–44; SCHIPPERGES, Homo patiens, S. 104–105. Vgl. Esther FISCHER-HOMBERGER, Geschichte der Medizin, 2. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York 1977, S. 26–27; KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 40; SCHIPPERGES, Homo patiens, S. 101–104. Die Autoren betonen hier, dass Widersprüche gegen den „Galenismus“, wie sie etwa von Paracelsus formuliert worden waren, lange ungehört blieben. Vgl. FLASHAR, Melancholie, S. 116–117; KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 41 u. 47–48; RIHA, Naturbegriff, S. 66; SCHÖNER, Viererschema, S. 18–21; Klaus SCHÖNFELDT, Die Temperamentenlehre in deutschsprachigen Handschriften des 15. Jahrhunderts. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karl-Universität in Heidelberg, Heidelberg 1962, S. 9. Vgl. FLASHAR, Melancholie, S. 108–109 u. 117; GILL, Tradition, S. 106–107; GUNTERMANN, Mysterium, S. 33–35; KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 112–116; NUTTON, Humoralism, S. 287; SCHÖNER, Viererschema, S. 88–89; SCHULTE, Melancholie, S. 20; Andrea SIEBER u. Antje WITTSTOCK, Einleitung, in: Dies (Hg.), Melancholie zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit (Aventuiren 4), Göttingen 2009, S. 7–13; STAROBINSKI, Geschichte, S. 14; WATANABE-O’KELLY, Melancholie, S. 15. Vgl. SCHIPPERGES, Homo patiens, S. 109–110; SCHÖNER, Viererschema, S. 93; WITTSTOCK, Melancholia, S. 33–34; GROEBNER, Wissen, S. 176–178 u. Complexio, S. 365–370.

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leicht überwog, ließen sich Menschen ihrem Wesen nach als Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker oder Melancholiker beschreiben.10 Durch Experimentieren und Sezieren – wohlgemerkt an Tieren – entwickelte Galen des Weiteren eine auf die Säfte- und Temperamentenlehre abgestimmte Anatomie und Physiologie, die zu deren Stützpfeiler wurde. Ein wichtiger Bestandteil war die galenische Digestionslehre, die die menschliche Verdauung als einen mehrstufigen Prozess der Verkochung und Gärung (concoctio) beschrieb. Als Reststoffe aus diesem Vorgang blieben die Kardinalsäfte gelbe und schwarze Galle zurück, die sich in Gallenblase und Milz sammelten und über den sogenannten ‚Milz-Magen-Gang‘in den Magen-Darm-Kanal übergingen, von wo aus sie sich frei im Körper ausbreiteten. In einem dritten Schritt werde das Blut an der Körperperipherie in Fleisch und andere Gewebe umgewandelt. Die pflanzengleich in den Venen wurzelnden Organe, so die galenische Lehre, bedienten sich hierbei je nach Bedarf an den Bestandteilen des Blutes und assimilierten diese (facultates), bis das Blut aufgebraucht sei. Die Abfallstoffe würden als Schweiß über die Haut ausgeschieden.11 Schon in den Jahrhunderten, die zwischen den antiken Autoren und Galen lagen, hatte die Milz, insbesondere bei Plinius dem Älteren, beruhend auf seinen Erfahrungen mit Splenektomierten, ihren unumstrittenen Rang als unmittelbar mit einem der vier Säfte korrespondierendes Kardinalorgan eingebüßt. Mit Galens Revitalisierung der antiken Humoralpathologie aber gewann die Milz vor allem in der Spätantike ihre ursprüngliche Bedeutung zurück.12 Krankheit als Ungleichgewicht der Säfte im Körper wurde bei einer übermäßigen Ansammlung der schwarzen Galle als Versagen der Milz gewertet, die den dunklen Saft entgiften sollte, bis Eukrasie und damit Gesundheit hergestellt war.13 Im antiken und mittelalterlichen Kontext begegnet die Humoralpathologie also sowohl als Konzept zum Verständnis von körperlicher Beschaffenheit und Wesen der Menschen als auch als Krankheitslehre im engeren Sinne. Im Laufe der Frühen Neuzeit veränderte sich das Verständnis von Krankheit und Gesundheit sukzessive. Krankheit wurde nun nicht mehr primär als Ungleichgewicht der vier Säfte definiert, sondern durch das Wirken fauliger, scharfer und somit krankmachender Flüssigkeiten begründet, die von außen in den Körper gelangten oder zu denen körpereigene Säfte degenerieren konnten. Die humoralpathologische Temperamenten10

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S. ausführlich SCHÖNFELDT, Temperamentenlehre, S. 43–62; KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 118–124 u. 186–187; FLASHAR, Melancholie, S. 109–112 u. 112–117; SCHÖNER, Viererschema, S. 88; Ortrun RIHA, Das weinende Jahrhundert. „Melancholie“ im Zeitalter der Aufklärung, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 4 (1986), S. 23–28, hier 24; RIHA, Naturbegriff, S. 66–67; STOLBERG, Homo patiens, S. 117; LEPENIES, Melancholie, S. 30; WITTSTOCK, Melancholia, S. 34– 35. Vgl. FISCHER-HOMBERGER, Geschichte, S. 28–31; ECKART, Geschichte, S. 48; Karl Ed[uard] ROTHSCHUH, Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1978, S. 190; GUNTERMANN, Mysterium, S. 22. Vgl. Robert HERRLINGER, Die Milz in der Geschichte der Medizin, in: Leo WANNAGAT (Hg.), Leber und Milz. Vierte Lebertagung der Sozialmediziner, Stuttgart 1967, S. 3–17, hier 5; Ralf-Dieter HOFHEINZ, Art. Milzkrankheiten, in: Werner E. GERABEK, Bernhard D. HAAGE, Gundolf KEIL u.a. (Hg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin 2005, S. 993–994; SCHÖNER, Viererschema, S. 90; STAROBINSKI, Geschichte, S. 27. Vgl. HOFHEINZ, Art. Milzkrankheiten, S. 993; HERRLINGER, Milz, S. 7.

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lehre hingegen wurde als Ansatzpunkt für eine umfassende Wesensbestimmung der Menschen immer bedeutsamer. Sie gehörte stände- bzw. schichtübergreifend zum Alltagswissen frühneuzeitlicher Menschen.14 Dabei wurden die Temperamente bzw. Komplexionen, die zwar auch schon in den antiken Texten nach Geschlecht und Alter klassifiziert wurden,15 mehr und mehr in einem individualisierenden Sinne ergänzt und als Beschreibungsmodus für den durch verschiedene Erfahrungen geprägten Lebensweg des Einzelnen in den Vordergrund gerückt.16 Dieses Deutungspotential der humoralpathologischen Temperamentenlehre ist in den Briefen Elisabeth Charlottes in herausragender Weise zu beobachten.17 Grundsätzlich nahm sie in ihren Briefen für sich selbst in Anspruch, von Natur aus lustig zu sein.18 Dies entspricht zwar theoretisch einem sanguinischen Temperament, jedoch verwendet sie 14

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Als zentrales Konzept findet sich die Melancholie folglich in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen von Schreibenden, die verschiedenen Ständen angehören. Vgl. dazu etwa die Autobiographie des elsässischen Kannengießers Augustin GÜNTZER (1596–um 1657) Kleines Biechlein von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert, hg. u. kommentiert v. Fabian BRÄNDLE u. Dominik SIEBER u. M. v. Roland E. HOFER u. Monika LANDERT-SCHEUBER (Selbstzeugnisse der Neuzeit 8), Köln, Wien, Weimar 2002, bspw. 2r, S. 81, 4r, 83, 46v, 130, 205r, 272; dazu SIEBER, Leid, S. 47. Vgl. auch die Tagebücher und Lebensgeschichte des Schweizer Tagelöhners Ulrich BRÄKER (1735–1798). Sämtliche Schriften, hg. v. Andreas BÜRGI, Christian HOLLIGER, Claudia HOLLIGER-WIESMANN, Heinz GRABER u.a., Bd. 1: Tagebücher 1768– 1778, bearb. v. Alfred MESSERLI, München 1998, S. 66, Z. 5–6 u. Z. 22 u. 731, Z. 20; dazu Susanne HOFFMANN, Gesundheit und Krankheit bei Ulrich Bräker (1735–1798) (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen 297), Dietikon 2005, bes. S. 151. Vgl. Hartmut LAUFHÜTTE (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg, Bd. 12, Teil 1: Die Texte. Teil 2.: Apparate und Kommentare (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 49/50), Tübingen 2005, bspw. S. 93–96 u. 102; dazu Andrea SIEBER, Melancholische Attitüden? Catharina Regina von Greiffenberg, in: Dies. u. Antje WITTSTOCK (Hg.), Melancholie zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit (Aventuiren 4), Göttingen 2009, S. 237–255, hier 251. Eine Veränderung vom sanguinischen zum melancholischen Temperament im Alter findet sich in verschiedenen Selbstzeugnissen, bspw. in den Aufzeichnungen des Kölner Ratsherrn Hermann von Weinsberg. Vgl. etwa JÜTTE, Krankheit, S. 235; Wolfgang HERBORN, Hermann von Weinsberg (1518–1597), in: Manfred GROTEN (Hg.), Hermann von Weinsberg (1518–1597) Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk (Geschichte in Köln – Beihefte; Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 1), Köln 2005, S. 15–33, hier 29. Zu den geschlechtsbezogenen Zuordnungen in der Humoralpathologie s. 3.I. Dies heben hervor STOLBERG, Homo patiens, S. 117–119, mit kritischer Bezugnahme auf LINDEMANN, Medicine, S. 13; Harald TERSCH, Melancholie in österreichischen Selbstzeugnissen des Späthumanismus, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 105 (1997), S. 130–155, hier 134. S. auch KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 190; WITTSTOCK, Melancholia, S. 35; GROEBNER, Wissen, S. 181 u. 187 u. Complexio, S. 369 u. 383, der betont, dass der Begriff complexio verschiedenen Zwecken diente und sowohl als angeboren und unveränderlich als auch als variabel und wandelbar verstanden wurde. S. auch den Temperamentenwechsel in der Autobiographie des Bartholomäus Sastrow (1520– 1603), WITTSTOCK, Melancholia, S. 76. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 20.4.1676, H, 42, S. 130; An Karllutz, St. Germain, 1.1.1682, HO, 1, 11, S. 21; An Sophie, St. Cloud, 20.5.1689, NLA-HStAH, II, 365v, vgl. B, 1, S. 106; An Luise, Versailles, 17.3.1697, HO, 1, 48, S. 82; An Sophie, Versailles, 2.5.1697, NLA-HStAH, VII, 218r, vgl. B, 1, 288, S. 287; An C. F. v. Harling, Paris, 26.12.1715, H, 221, S. 373, St. Cloud, 25.5.1719, H, 315, S. 517; An Luise, St. Cloud, 12.12.1717, HO, 2, 849, S. 88.

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diese Bezeichnung an keiner mir bekannten Stelle.19 Als Gegenpol des lustigen Temperaments bzw. humors20 hielt Elisabeth Charlotte die Melancholie bzw. die miltzkranckheit für stets gegenwärtig. Insbesondere in schwierigen Lebenssituationen vermochte die Melancholie, so Elisabeth Charlottes Überzeugung, sich Bahn zu brechen und sich auf diese Weise im Laufe der Jahre zu einer grundlegenden Disposition zu entwickeln. Im Folgenden soll dieses Erzählmuster in seiner biographischen Situierung und in Relation zu spezifischen Wissensdiskursen der Zeit untersucht werden. In ihren ersten Jahren am französischen Hof gelang es Elisabeth Charlotte offenbar vergleichsweise schnell, traurige Stimmungen und Anflüge der melancholischen Krankheit zu überwinden. Der Abschied von der Familie in Straßburg im November 1671 hatte ihr zunächst zwar arg zugesetzt – immerhin erinnerte sie sich im Februar 1672 daran, dass sie die komplette erste Nacht lang ununterbrochen geweint habe, bis ihre seit dick geworden sei, vermutlich von der sich in der Milz sammelnden schwarzen Galle.21 Aus den wenigen überlieferten Briefen dieser Zeit lässt sich jedoch schlussfolgern, dass sie sich von ihrer Traurigkeit bald erholt zu haben schien und sich ganz dem Alltag in ihrem neuen Umfeld widmete.22 Im Frühjahr 1675 überkam Elisabeth Charlotte eine in ihren Briefen so bezeichnete große kranckheitt, die ihre Ärzte auf Probleme mit der Milz zurückführten. Auch diese durchaus ernsthafte Erkrankung vermochte sie jedoch zu bewältigen – und zwar vor allem dank positiver Emotionen. In einem Brief vom Mai des Jahres an ihre Tante schrieb die wiedergenesene Elisabeth Charlotte jedenfalls, sie glaube vestiglich, dass die freüde sich von ihrem Gatten, ihrem Vater, ihrer Tante und ihrem Onkel betauert zu sehn, ihre Milz eher purgiert habe, als die 72 clistier, die man ihr verabreicht habe.23 Beide Krankheitserzählungen zeigen die Wechselwirkungen von Milzkrankheit und Emotionen, denen Elisabeth Charlotte in ihrer Korrespondenz sowohl zuschreibt, physische Symptome auszulösen (Anschwellen der linken Körperseite) als auch effektiv zur Heilung von Krankheitszuständen beitragen zu können. Ihre ‚lustige‘ und somit gesunde Grunddisposition verhinderte dabei offenbar, dass die psychischen wie somatischen Melancholie-Symptome dauerhaft zur Entfaltung kommen konnten. Von ernsthaften Befürchtungen, dass ihr Temperament sich langfristig verändern und zu einer bleibenden Gefahr für ihre Gesundheit werden könnte, sprach Elisabeth Charlotte erstmals, als ihr Sohn Alexandre Louis im März 1676 im Alter von zwei Jahren

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Vgl. auch BAUMGARTNER, Illness, S. 63; ALBERT, ermite, S. 18; FORSTER, Illness, S. 303, die E. Ch. als Sanguinikerin bezeichnet. Der Terminus ‚Humor‘ bezeichnet in E. Ch.s Briefen sowohl die Flüssigkeiten im Körper als auch das persönliche Temperament und situative Stimmungen. Vgl. auch FORSTER, Illness, S. 303–304. Vgl. An Sophie, St. Germain, 5.2.1672, NLA-HStAH, I, 2r, vgl. B, 1, 1, S. 1: was madam de Warttenberg [ihre Hofmeisterin] ahn Dondorff gesagt wegen das ich so geschreitt, das mein seitt dick war ist war den ich von Strasburg biß challon nichts gethan die gantze nacht alß schreÿen, den ichs nicht verschmertzen kont den abschid so ich da genohmen ich hab mich zu Straßburg harter gestelt als mir umbs hertz war. Vgl. dazu An C. v. Wales, o.O., 25.2.1716, A, 5, S. 217: wenn mich etwas betrübt, geschwillt mir die linke Seite wie ein Kindeskopf. An Luise, Versailles, 14.1.1706, HO, 1, 288, S. 435, 2.7.1712, HO, 2, 554, S. 283 u. St. Cloud, 12.5.1720, HO, 5, 1121, S. 146. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 2, S. 973–974. Im Korpus der Briefe an Sophie sind lediglich zwei Briefe aus dem Jahr 1672 (5.2. u. 3.12./23.11.) überliefert. Vgl. An Sophie, Paris, 22.5.1675, NLA-HStAH, I, 23r, vgl. B, 1, 7, S. 5–6.

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gestorben war. Ihrer früheren Hofmeisterin, Anna Katharina von Harling, vertraute sie an:24 Dießes alles wirdt auff der lenge meinem miltz kein gutt nicht thun; Vndt so lustig alß ich auch von natur sein mag, so helt es doch keinen stich beÿ dergleichen abscheüliche vnglücke; Glaube nicht – daß man auß vbermäßiger trawerigkeit sterben kan – den sonsten were ich ohnen [sic!] zweiffel drauff gangen; Den waß ich in mir entpfunden ist vnmöglich zu beschreiben.25

Elisabeth Charlotte machte sich Sorgen, dass all ihre innerlichen schmertzen26 eine grundlegende Transformation ihrer Disposition hervorrufen könnten.27 Für den Moment zumindest erlebte sie sich selbst offenbar bereits als deutlich ‚verändert‘. Dies zeigt das Postskriptum zu diesem Brief, in dem sie Christian Friedrich von Harling ausrichten ließ: daß wan er mich jetzt sehen würde, so würde er mich nicht mehr kenen, den ich bin gar kein rau28 schenblatten[-]knechtgen mehr vndt ist mir das rauschen abscheülich vergangen.

Der Kinderspitzname rauschenplattenknecht29 fungiert hier einmal mehr als leibliches Sinnbild für ihre gutte natur, für die ein lustiger Humor konstitutiv erscheint. Über der Trauer um ihren Sohn habe sie die Freude an der körperlichen Bewegung (rauschen) eingebüßt und damit verloren, was ihr leibliches Selbst ausmachte und wofür sie als Person bekannt gewesen sei, so interpretierte sie. Begleitet wurden diese humoralen Veränderungen nach Schicksalsschlägen stets von Elisabeth Charlottes sorgenvoller Frage nach deren dauerhafter Wirkmächtigkeit und Reichweite. Auch der Tod ihres Vaters im September 1680 sei ihr, so schrieb sie ihrem Halbbruder Karllutz im April des folgenden Jahres, so dermaßen zu hertzen gangen, das ich vermeinet, das ich mein leben nimermehr würde lachen können!30 Den Verlust nahestehender Verwandter31 verstand Elisabeth Charlotte jedoch nicht nur als Gefahr für ihren aktuellen Gesundheitszustand,32 sondern ebenso als Risiko für

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In dem nur sieben Tage später verfassten Brief an ihren Halbbruder Karllutz wird der Tod ihres Sohnes interessanterweise nicht erwähnt. Der Brief wurde von einer Amme, die offenbar von Paris nach Heidelberg reiste, überbracht. Vgl. An Karllutz, St. Cloud, 27.4.1676, HO, 1, 1, S. 1. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 20.4.1676, H, 42, S. 130. Ebd. Vgl. auch VAN DER CRUYYSE, Madame, S. 226–227. Vgl. zu aufgrund von Sorgen, Unglück etc. erworbenen Temperamenten STAROBINSKI, Geschichte, S. 25. Vgl. auch An Sophie, Versailles, 6.9.1690, NLA-HStAH, III,1, 76r, vgl. B, 1, 102, S. 124: ich glaube daß wen man in seinem leben große betrübtnuß außstehet, so kann einen dergleichen sachen [damit sind Belanglosigkeiten gemeint] wenig mehr freüen, den mir ist es so ergangen. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 20.4.1676, H, 42, S. 130. Zur Bedeutung des Selbstbildes Rauschenplattenknecht s. 2.II. u. 3.II.1. An Karllutz, St. Cloud, 25.4.1681, HO, 1, 11, S. 14. S. An Raugräfin Caroline, St. Cloud, 13.10.1680, HO, 6, N, 8, S. 496 sowie Sophies Schilderungen zum Tod ihres Bruders, der ihr „Milzleiden“ verschlimmert habe, VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 173; dt. Übers. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 176. Zum Verlust des Lachens vgl. ALBERT, ermite, S. 19–20. Zum Tod ihres Halbbruders Karllutz s. An Sophie, Fontainebleau, 10.11.1688, NLA-HStAH, II, 334v, vgl. B, 1, 83, S. 101; zum Tod ihrer Tante Sophie An Luise, Marly, 24.6.1714, HO, 2, 652, S. 399–402, Fontainebleau, 14.10.1714, HO, 2, 669, S. 462, Marly, 1.7.1714, HO, 2, 653, S. 403, Marly, 26.7.1715, HO, 2, 717, S. 596, Versailles, 15.8.1715, HO, 2, 722, S. 608–609; zum Tod ihrer Enkelin, der Duchesse de Berry, An Luise, St. Cloud, 27.7.1719 u. 24.8.1719, HO, 4, 1038, S. 188 u. 1046, S. 214.

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ihre humorale Grunddisposition.33 In späteren Jahren finden sich in Elisabeth Charlottes Briefen mehrfach verallgemeinernde Aussagen wie etwa: Nichts in der welt endert mehr den humor undt macht melancolischer (…).34 Mit dem veränderten Temperament stand aber auch die Kontinuität des leiblichen Selbst auf dem Spiel, wie Elisabeth Charlotte etwa 1705 befand. Nach dem Tod ihrer Eltern und ihres Bruders, so schrieb sie, finde ich woll in mir selber, daß ich nicht mehr bin, wie ich vorher geweßen.35 Dabei war gerade der für Elisabeth Charlotte so schmerzliche Tod ihres Vaters im Jahr 1680 mit einer zunehmenden Entfremdung von ihrem Umfeld am französischen Hof verbunden. Denn für diesen machte sie die in den Jahren zuvor betriebene Expansionspolitik Ludwigs XIV. verantwortlich. In einem Brief an ihre Tante schrieb sie, ihr Vater sei letztlich auß kummer undt hertzenleydt36 über die ausweglose Lage der Kurpfalz gestorben. Im Zuge des sogenannten Französisch-Holländischen Krieges (1672–1679) waren französische Truppen beim Marsch nach Holland in die linksrheinischen Gebiete vorgedrungen, wodurch die Kurpfalz zur Aufgabe ihrer Neutralität im Konflikt zwischen Frankreich und den mit Holland im Bündnis stehenden kaiserlichen Truppen gezwungen wurde. Beim Durchzug durch die Pfalz nach der für die Franzosen siegreichen Schlacht bei Sinsheim im Juni 1674 unter Marschall Turenne waren infolgedessen große Teile des kurpfälzischen Gebiets verwüstet worden.37 Wie Dirk Van der Cruysse aus dem Briefwechsel zwischen Sophie und Karl Ludwig herausarbeitete, erwarteten Elisabeth Charlottes Verwandten, dass sie sich beim französischen König für ihre Herkunftsregion einsetzte38, was aber offenbar außerhalb ihrer

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S. etwa E. Ch.s Sorgen um ihre Tante Sophie nach dem Tod von deren Tochter Sophie Charlotte 1705: An Luise, Marly, 19.2.1705, HO, 1, 228, S. 370–371: Es ist woll kein wunder, daß dero [Sophies] miltz geschwollen ist; wie könte daß änderst sein bey einer so erschrecklichen – betrübtnuß! Gott seye danck nur, daß daß fieber außgeblieben! Vgl. auch EXTERNBRINK, Carnaval, S. 263–264 u. 267. Zum Tod ihres Onkels Ernst August von Braunschweig-Lüneburg s. An A. K. v. Harling, Paris, 10.4.1698, H, 149, S. 276– 277. S. auch das Beispiel des florentinischen Marquis Rangoni An Luise, Paris, 28.1.1720, HO, 5, 1091, S. 26. Vgl. An Luise, Versailles, 7.3.1705, HO, 1, 232, S. 376: Gar vergnügt wirdt ma tante nach dero Verlust nicht leben können. Wen sie gott nur gesundt erhelt undt daß sie nicht melancolisch werden. Zu humoralen Veränderungen s. auch das Bsp. des Grafen v. Nassau An Luise, St. Cloud, 17.7.1695, HO, 1, 22, S. 38. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 155. S. ebenso 2.9.1694, HO, 1, 16, S. 28, Port Royal, 9.6.1699, HO, 1, 85, S. 149: Nichts ist verdrießlichers in der welt, alß die zu verliehren, so man lieb hatt. Hirvon habe ich leyder eine lange undt nur gar zu offt widerholte experientz. An Luise, Versailles, 15.3.1705, HO, 1, 234, S. 379. Vgl. auch An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, Paris, 10.2.1719, V, 33, S. 64: also können es Nur melancholische gedancken sein, so ohnfehlbar auff große traurigkeitten folgen nichts ist jn der welt schmertzlicher alß verwanten zu verliehren so man [von] Hertzen liebt den diß unglück, ist ohne remede, und ersetzt sich Nie wieder. An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, NLA-HStAH, I, 181r, vgl. B, 1, 33, S. 35. Vgl. GOETZE, Kurpfalz, S. 24; HAUCK, Karl Ludwig, S. 151–163; KOHNLE, Geschichte, S. 146–148, Michael MARTIN, Pfalz und Frankreich. Vom Krieg zum Frieden, Stuttgart 2008, S. 31–34; MOERSMESSMER, Heidelberg, S. 335–336; SCHAAB, Pfalz, S. 31–32. Von den ins Ausland verheirateten Adelstöchtern erwartete man nicht selten solche klientelpolitischen Einflussnahmen. Vgl. etwa Matthias SCHNETTGER, Weibliche Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Einige Beobachtungen aus verfassungs- und politikgeschichtlicher Sicht, in: zeitenblicke 8, Nr. 2, [30.6.2009].

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Möglichkeiten lag.39 So blieb ihr nach dem Tod ihres Vaters nur das resignierte Fazit: Wenn der große mann undt seine ministers den Kurfürsten nicht chagrinirt hetten, hetten wir ihn lenger auff dießer welt gehabt undt ich hette ihn vielleicht auch wider einmahl zu sehen bekommen. Wehmütig fügte sie an: ja wenn ich daran gedencke, so bin ich gantz melancholisch.40 Zweifelsohne entfalteten diese offenkundigen Verstimmungen zwischen Elisabeth Charlotte und ihrem königlichen Schwager auch Auswirkungen auf ihre Position in der Hofgesellschaft. Bereits in ihrem Neujahrsbrief 1682 an Karllutz klingt das Resümee des vergangen Jahres bitter, wenn Elisabeth Charlotte schreibt, es sei woll eines von den verflüchsten jähren gewesen, die sie bisher erlebt habe, und konkretisierte: auch hatt es mich so reveux vndt melancolisch gemacht, das mich schir niemandes mehr kent. Selbst ihr aus Heidelberg stammender Kammerknecht Wendt41, so schrieb sie ihrem Halbbruder, meinte vor ein woch 3, da ich mich waß übel befunde, das ich sterben würde, weillen, wie er sagt, ich so verendert; drumb flente er den gantzen abendt.42 Die Erzählung verknüpft dabei auf eigentümliche Weise das schlechte gesundheitliche Befinden Elisabeth Charlottes mit ihrem veränderten Wesen – Kränklichkeit von Leib und Seele werden hier zum Sinnbild für eine Entfremdung von der bis dato so oft als Selbstbeschreibungsformel herangezogenen rauschenbeüttelichen Elisabeth Charlotte.43 Zunächst äußerte sie sich ihren Verwandten gegenüber nur sybillinisch über ihre Situation am französischen Hof, schließlich musste sie zu dieser Zeit davon ausgehen, dass ihre Briefe geöffnet und mit besonderer Sorgfalt gelesen wurden.44 Im Neujahrsbrief 1682 an ihrem Halbbruder Karllutz heißt es weiter:

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Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 276–281; An Sophie, St. Cloud, 24.9.1680, NLA-HStAH, I, 178r–178v, vgl. B, 1,32, S. 35. E. Ch.s Erklärung zufolge habe Ludwig XIV. ihr auf eine Intervention hin versprochen, seine Politik zu ändern, wenn beide gut zusammenleben würden, weswegen sie weitere Einmischungen unterlassen habe. An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, NLA-HStAH, I, 181r, vgl. B, 1, 33, S. 35. S. auch St. Cloud, 24.9.1680, Ebd., I, 178r–187v, vgl. B, 1,32, S. 34–35: ja ehe er [Ludwig XIV.] papa so verfolgt hatte gestehe ich das ich ihn sehr lieb hatte undt gerne beÿ ihm war aber seitterdem kan ich E.L. woll versichern das es mir sauer genung ahnkommen ist, undt hinfüro mein lebenlang ahnkommen wirdt. Vgl. STRICH, Liselotte, S. 51–61. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, 35, S. 119; anders VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 236; VdC, Lf, S. 472. An Karllutz, St. Germain, 1.1.1682, HO, 1, 11, S. 21. Gegenüber ihrer Tante ist E. Ch. zu diesem Zeitpunkt noch nicht so offen. Ihr schreibt sie erst am 19.2.1682 von den Auseinandersetzungen. Vgl. An Sophie, Paris, 23.1.1682, NLA-HStAH, I, 210r–213r, vgl. B, 1, 36, S. 38–39. S. auch An Sophie, Fontainebleau, 29.9.1683, NLA-HStAH, I, 302v, vgl. B, 1, 47, S. 61: daß raßen so sehr vergeht, alß es mir vergangen ist, seyderdem ich in Franckreich bin. Vgl. im Unterschied dazu St. Cloud, 5.8.1673, ebd., I, 6v, vgl. B, 1, 3, S. 3: wie fro ich bin, nun reitten zu lernen den es sich trefflich woll zu Liselotts raußchenbeüttelichen kopff schickt, wie man tante woll weiß, den umb die warheitt recht zu bekenen so bin ich eben noch nicht so gar sehr verendert. E. Ch. verwendete die Bezeichnung allerdings in späteren Briefen wieder. Vgl. etwa An C. F. v. Harling, St. Cloud, 20.10.1718, H, 288, S. 469, Paris, 26.1.1719 u. 1.3.1722, H, 300, S. 492–493 u. 449, S. 790. Zur Zensur s. An Sophie, St. Germain, 19.2.1682, NLA-HStAH, I, 216r, vgl. B, 1, 37, S. 40 u. 1.IV.4.

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Ich kan Euch nicht sagen, was mich ahnligt; allein Ihr kent das landt vndt den hoff hir genung, umb zu wißen, das einem allerhandt ungerechtigkeitten widerfahren können; also auch kan einen materie genung begegenen, melancolisch zu werden, so lustig man auch von natur sein mag.45

Hier verwies Elisabeth Charlotte überdeutlich auf die Abhängigkeit des Temperaments von gegenwärtigen Lebenserfahrungen. Das Alltagsleben am Hof mit seinen ständigen Rangkämpfen46 hielt für sie demzufolge genügend Gründe (materie) bereit, um einen melancholischen Humor hervorzurufen. In einem Brief an ihre Tante einige Wochen später führte sie die Zusammenhänge dieser Veränderung detailreich aus. Dabei geben ihre Ausführungen Einblick in ein komplexes Geflecht von sozialen Interaktionen, Affekten und körperlichen bzw. leiblichen Reaktionen, die in kranckheÿt resultierten: ich gehe meinen geraden weg in Gottes nahmen fort, undt meine wen ich niemandes nichts suche zu leÿdt zu thun, so soll man mich auch mitt frieden laßen, undt wen ich dan sehe, daß ich auff allen seiten ahngefochten werde, dan verdriest es mich, undt wie ich dan schon ohne das wenig gedult habe, so verliere ich dan mitt dießen hudellÿen noch die wenig gedult so mir überig bleibt, undt wie ich den alles in meinem eÿgenen kopff hervor suchen muß, umb mich auß dem labirint zu reißen, undt gar nirgendts weder raht noch hülff habe, in dem alles so interessirt undt falsch hir ist, daß man sich auff niemandes recht vertrawen kan, daß macht mich denn reveux undt grittlich, undt wen ich grittlich bin, geschwillt mein miltz, undt wenn es den geschwollen ist, schickt es mir dämpff in kopff, so mich trawerig machen, undt wen ich trawerig bin werde ich kranck, das seindt etlich ursachen von meiner gehabten kranckheÿt.47

Trotz ihres Bemühens, nicht weiterhin in Konflikte verwickelt zu werden, so schildert Elisabeth Charlotte, werde sie dennoch von allen Seiten angegriffen. In dieser Situation könne sie die erfahrenen Verdrießlichkeiten niemandem anvertrauen oder gar Rat oder Hilfe erbitten. Um die Komplexität der Verwicklungen, aus denen sie allein nicht mehr herausfinde, zu betonen, bemüht sie den zeitgenössisch prominenten Melancholie-Topos des Labyrinths.48 Rastlos herumirrende Gedanken (reveux)49 vermehrten den Ärger nur noch zusätzlich (grittlich).50 Diesen Affekten51 wird dabei ein eindeutig benennbarer kör45 46 47 48

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An Karllutz, St. Germain, 1.1.1682, HO, 1, 11, S. 21. Vgl. auch ALBERT, ermite, S. 19 u. 27. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 287. An Sophie, St. Germain, 19.2.1682, NLA-HStAH, I, 215v–216r, vgl. B, 1, 37, S. 39. Vgl. hierzu Christoph SIEGERIST, Labyrinth und Melancholie. Aspekte einer sozialpsychologischen Konfiguration in der deutschen Barockliteratur, in: Henriette HERWIG, Irmgard WIRTZ u. Stefan Bodo WÜRFFEL (Hg.), Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit, Festschrift für Peter Rusterscholz, Tübingen, Basel 1999, S. 112–131;, bes. 120. Auch C. R. v. Greiffenberg rekurriert auf das Labyrinth SIEBER, Attitüden, S. 151. Vgl. RICHELET, Dictionnaire, S. 319: reveuse: celle qui songe, qui réve, qui est sensive, qui a quelque chose de sombre dans l’humeur. Zur Verwendung des Adjektivs vgl. auch An Karllutz, Versailles, 21.7.1682, HO, 1, 12, S. 22. Vgl. etwa Art. Affectus, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 1, Sp. 718: Affectus, ist ein jedes natürliches Leiden, oder Kranckheit, mit welcher unser menschlicher Cörper behafftet ist. Vgl. zur Somatisierung von Affekten in der Frühen Neuzeit RUBLACK, Erzählungen, S. 220–222 u. Körper, S. 101; Michael STOLBERG, „Zorn, Wein und Weiber verderben unsere Leiber“. Affekt und Krankheit in der Frühen Neuzeit, in: Johann Anselm STEIGER (Hg.), Passion, Affekt, Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, Bd. 2 (Wolfenbüttler Arbeiten zur Barockforschung 43), Wiesbaden 2005, S. 1051–1077, hier 1053–1057; TREPP, Gefühl, S. 88–89.

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perlicher Ort zugewiesen: die Milz,52 die Elisabeth Charlotte auch in späteren Briefen als Sitz jeglicher Gemütsbewegungen identifizieren sollte.53 Ihre Schilderung weist damit auf zeitgenössisch wirkmächtige ätiologische Melancholie-Konzepte hin, denn die Affekte lösten, so Elisabeth Charlotte weiter, eine übermäßige Produktion von Humores aus, die sich in der Milz sammelten und die die hier und in vielen weiteren Passagen geschilderten Schwellungen54 hervorriefen. Es ist jedoch nicht allein das Übermaß der schwarzen Galle, das Elisabeth Charlotte für die weiteren Symptome verantwortlich machte. Denn die Humores wandelten sich ihrer Schilderung zufolge in Dämpfe um, die sich bis zum Kopf ausbreiteten, was auf die Vorstellung eines Verbrennungsprozesses melancholischer Materie schließen lässt. Von einer solch ‚verdorbenen‘ melancholischen Materie berichtet im 17. Jahrhundert etwa auch der englische Gelehrte und Kleriker Robert Burton (1577–1640) in seinem erstmals 1621 veröffentlichten und außerordentlich erfolgreichen Werk ‚The Anatomy of Melancholy‘.55 Bereits im zweiten nachchristlichen Jahrhundert kannte man jedenfalls neben der ‚natürlichen‘ schwarzen Galle auch einen schwarzgalligen Krankheitsstoff, der in der oberen Bauchgegend (hypochondrium) aus Verbrennung gelber Galle entstehe und sich durch das Blut oder in Form vergifteter Dämpfe im gesamten Körper ausbreite (hypochondrische Melancho-

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Die Zuordnung lässt sich aus der Dunkelfärbung der Milz erklären. Vgl. STAROBINSKI, Geschichte, S. 14. In neueren jatrochemischen Theorien wie der des englischen Arztes Thomas Willis (1621– 1675) wurde die Existenz der schwarzen Galle bezweifelt und die Melancholie auf eine Versalzung des Blutes zurückgeführt. S. dazu T[?]. H[?]. JOBE, Medical Theories of melancholia in the Seventeenth and Early Eighteenth Centuries, in: Clio medica 11 (1976), S. 217–231, hier 222–223. Vgl. An Amalie Elisabeth, Versailles, 7.1.1703, HO, 1, 183, S. 314–315: Daß starcke lachen, insonderheit wen es ohne ursach geschieht, kompt vom miltz eben so woll, alß weinen. Vgl. auch Lawrence BABB, Sanity in Bedlam. A Study of Robert Burton’s Anatomy of Melancholy, Westport 1977, S. 3; Heinz-Günter SCHMITZ, Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars iocandi im 16. Jahrhundert (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken, Reihe B: Untersuchungen zu den deutschen Volksbüchern 2), Hildesheim, New York 1972, S. 118. An Luise, Versailles, 31.12.1705, HO, 1, 286, S. 433: Die Ursachen machen woll betrübt, aber wen daß miltz nicht tournirt, findt man trost; tournirt es aber, so kompt einem alles verzweyffelt vor. An Luise, St. Cloud, 1.9.1718, HO, 3, 946, S. 366: Daß miltz rührt sich undt der schrecken ist mir in den schenckeln gefahlen. FORSTER, Illness, S. 303–304; ALBERT, ermite, S. 29–30. Auch das Träumen wird mit der Milz verbunden. Vgl. An Luise, St. Cloud, 10.5.1721, HO, 6, 1127, S. 112: Waß Ewern traumb bedeudt, so ist es nichts anderst, alß daß Ihr auff der lincken seytten müst gelegen sein undt daß miltz gebrest haben; daß gibt solche treüme. Ein Anschwellen der Magengegend wird bereits in antiken Texten thematisiert und begegnet ebenso in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen. Vgl. dazu STAROBINSKI, Geschichte, S. 23 u. 27; TERSCH, Melancholie, S. 138. Vgl. dazu etwa auch An Luise, Versailles, 14.1.1706, HO, 1, 288, S. 435, St. Cloud, 31.8.1700, HO, 1, 113, S. 205: Meine gesundtheit ist, gott sey dank, gar perfect nun, außer daß mir daß miltz etlich mahl geschwelt, welches aber nichts gefahrliches ist, gott lob! An C. v. Wales, o.O., 25.2.1716, A, 5, S. 217. Vgl. Robert BURTON, The Anatomy of Melancholy. What it is. With all kindes, causes, symptoms, prognostickes & severall cures of it, 6. Aufl., London 1651, S. 34 u. dt. Übers. Die Anatomie der Schwermut, übers. u. m. einem Essay v. Ulrich HORSTMANN, Frankfurt a.M. 2003, S. 178. Die Zitation erfolgt aus der sechsten Auflage 1651, die auch der dt. Auswahlübersetzung von Ulrich Horstmann zu Grunde liegt. Vgl. zu Burtons Werk LEPENIES, Melancholie, S. 19–34; GUNTERMANN, Mysterium, S. 70–74; BABB, Sanity, S. 1–3, 13–14 u. 30–32.

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lie).56 In Anlehnung an den Verbrennungsprozess wurde diese für besonders gefährlich gehaltene Form der krankhaften Melancholie auch melancholia adusta genannt.57 Auch als Elisabeth Charlotte im Februar 1676 in Verbindung mit ihrer Schwangerschaft erkrankt war und sich übergeben musste, folgte sie diesem Melancholiekonzept und berichtete, es sei lautter gebrente galle – schwartz wie ruß vom cammin zum Vorschein gekommen.58 Neben diesen auf einen Verbrennungsprozess verweisenden Vorstellungen von schwarzen Flüssigkeiten und umherwandelnden Dämpfen findet sich in ihren Briefen auch die Idee, dass das Blut von der Melancholie affiziert werde könne.59 So schrieb sie etwa im Juli 1714, dass ihr Arzt vermute, dass ihr geblüdt in der melancoley, in der sie seit der Nachricht vom Tod ihrer geliebten Tante sei, nicht recht circulliren könne.60 Elisabeth Charlottes Schilderungen zeigen, dass sie mit dem zeitgenössischen Melancholie-Wissen nicht nur vertraut war, sondern dieses auch aktiv zur Erklärung ihrer Befindlichkeiten heranzog.61 Die Aneignung zeitgenössischen Wissens ist gleichzeitig als Praxis der Selbstpositionierung zu verstehen, denn Elisabeth Charlotte gab sich mit den brieflichen Äußerungen gegenüber ihrer Bezugsgruppe eindeutig als Melancholikerin zu erkennen. Auffällig ist dabei vor allem die Differenzierung der verschiedenen Gemütsbewegungen, die sie vornimmt. So scheint für sie von besonderer Wichtigkeit zu sein, auslösende Affekte strikt von den affektiven Symptomen der Melancholie zu unterscheiden. Verdruss und Ärger identifizierte Elisabeth Charlotte nämlich als Ursache für das Anschwellen der Milz, wohingegen sie Traurigkeit erst als Konsequenz der körperlichen Reaktionen sah. Es ist zu vermuten, dass diese Unterscheidung einer besonderen familieneigenen Wertigkeit der Affekte entsprach und Ärgerlichkeit als Auslöser melancholischer Beschwerden möglich56

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Diese Auffassung begegnet bereits bei Galen, der sie wohl von Rufus von Ephesos übernahm, sowie in der FNZ prominent bei BURTON, Anatomy, S. 53 u. Anatomie, S. 181. Vgl. auch FLASHAR, Melancholie, S. 106–107 u. zu Rufus 84–104; GUNTERMANN, Mysterium, S. 32–33; WITTSTOCK, Melancholia, S. 34 u. 41; Hans-Jürgen SCHINGS, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in der Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 62; KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 101–109; SCHÖNFELDT, Temperamentenlehre, S. 69; FORSTER, Illness, S. 303; STAROBINSKI, Geschichte, S. 12, 15, 27–28 u. 30; TERSCH, Melancholie, S. 138. Vgl. KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 106–109; GUNTERMANN, Mysterium, S. 33; FISCHER-HOMBERGER, Hypochondrie, S. 15; JOBE, Theories, S. 224–225; SCHMITZ, Physiologie, S. 118; TERSCH, Melancholie, S. 134 u. 154; in Bezug auf E. Ch. FORSTER, Illness, S. 303. An A. K. v. Harling, St. Germain, 22.2.1676, H, 41, S. 129. S. auch An Luise, St. Cloud, 31.8.1719, HO, 4, 1048, S. 223, Paris, 6.2.1721, HO, 6, 1199, S. 13: Meine kranckheit ist nichts anderst, alß eine melancolische galle, so mich schir gantz verbrendt hatt. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 17.9.1721, H, 426, S. 752–754: Die ursach von meinem fieber war eine scharfe – brennete galle. Vgl. An Luise, St. Cloud, 25.6.1717, HO, 6, N, 53, S. 567. E. Ch. schreibt hier, dass sie oft briefliche Drohungen erhält, dass man ihren Sohn massacrieren wolle: daß setzt mir kein gutt bludt, wie Ihr, liebe Louisse, woll gedencken kont. S. auch An Sophie, Fontainebleau, 12.10.1701, NLA-HStAH, XI,2, 513r, vgl. B, 2, 475, S 20; An Luise, Paris, 29.10. u. 14.11.1715, HO, 2, 739, S. 661 u. 744, S. 668. An Luise, Marly, 29.7.1714, HO, 2, 657, S. 415: Die ursachen, so mein docktor vorwendt, mir die remedien zu thun, ist, daß er sagt, daß es unmöglich ist, daß mein geblüdt in der melancoley, worinen ich seyder die betrübte zeittung nicht recht circulliren könne, welches er daher abnimbt, weillen mir seyder dem die füß undt bein abendts geschwollen undt ich etlich tage her offt auß der naße blutte, aber daß bin ich ja doch all mein leben gewont. Vgl. auch An C. F. v. Harling, St. Cloud, 27.7.1719, H, 322, S. 532: Ich bin heütte nicht recht woll. Die schrecken – die betrübtnuß wegen made de Berry todt – wie auch die angsten – so Ich vor meinen sohn habe – so noch unvergleichlich betrübter ist alß Ich – daß alles hatt ein wenig trouble in mir gesetzt. Weillen es aber ein böß galle ist – so weg geht – hoffe ich – daß es mir nicht viel schaden wirdt.

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erweise annehmbarer erschien als Traurigkeit.62 Für ihre anhaltende Traurigkeit rechtfertigte sich Elisabeth Charlotte gegenüber ihrer Tante, indem sie diese auf einen somatisch begründeten und somit außerhalb ihrer Einflusssphäre liegenden Teufelskreis aus sozialen Umständen und leiblich-emotionalen Reaktionen zurückführte.63 Die Melancholie bot in Bezug auf die persönliche Selbstverantwortung der Kranken also durchaus Ansatzpunkte für (selbst)entlastende Argumentationen.64 Der Bezug auf die Melancholie findet sich in den Briefen der folgenden Monate und Jahre immer häufiger, bis sich die Auseinandersetzungen, die Elisabeth Charlotte als Auslöser ihres melancholischen Humors ansah, im Laufe des Jahres 1682 schließlich noch einmal verschärften. Insbesondere der seit längerer Zeit schwelende Konflikt zwischen ihr und einer Gruppe von ambitionierten Günstlingen Monsieurs entfaltete eine unheilvolle Wirkung.65 Denn Philippes Kamarilla hatte sich offenbar zum Ziel gesetzt, die Eheleute zu entzweien, damit Elisabeth Charlotte keinerlei Einfluss auf ihren Gatten ausüben und damit deren privilegierte Stellung nicht gefährden konnte. Man verleumdete Elisabeth Charlotte bei Monsieur, machte sich offen über sie, ihr Aussehen, ihren Kleidungsstil und ihre Sprache lustig und legte es offenbar darauf an, sie gesellschaftlich zu isolieren.66 Gerüchte kamen auf, sie unterhalte eine Liebschaft mit dem Offizier SaintSaëns, den sie des Öfteren bei der Jagd traf.67 Ludie de Théobon, eine enge Vertraute, beschuldigte man, Briefe und Geschenke zwischen den beiden überbracht zu haben und entfernte sie unter diesem Vorwand vom Hof.68 Als die Auseinandersetzung zwischen Monsieur und Madame eskalierte, bat Elisabeth Charlotte darum, den Hof verlassen und zu ihrer Tante ins Kloster Maubisson gehen zu dürfen, was der König allerdings ablehnte.69 Hatte Ludwig XIV. Elisabeth Charlotte in den Querelen 1682 noch unterstützt, kündigte er das gute Verhältnis zu seiner Schwägerin spätestens im Mai 1685 endgültig auf.70 Nach dem Tod der Königin Marie-Thérèse im Jahr 1683 hatte Ludwig Madame de Maintenon heimlich geehelicht – ein unübersehbares Anzeichen für deren zunehmenden 62

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Vgl. etwa BURTON, Anatomy, Part. 1, Sect. 2, S. 96 u. Anatomie, S. 245, dem zufolge Kummer und Betrübnis als Symptome und Auslöser von Melancholie bewertet wurden. Zur Unkontrollierbarkeit der Melancholie vgl. An Luise, Versailles, 17.6.1702, HO, 1, 172, S. 293– 294: Konte ich mein miltz so woll vor melancolie bewahren, alß mein magen von zu viellen speyßen, würde ich gesunder sein, alß ich bin. An Sophie, Versailles, 17.11.1701, NLA-HStAH, XI, 2, 380r u. Marly, 31.5.1711, ebd., XXI,1, 469r: mit ein schlim Miltz kan man nicht allezeit Meister über seinen humor sein. Vgl. zu ähnlichen autobiographischen Rechtfertigungsmomenten SIEBER, Leid, S. 47; TERSCH, Melancholie, S. 134. Zu den Funktionen somatischer Aspekte im Krankheitsbild Julia SCHREINER, Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des 18. Jahrhunderts (Ancien Régime Aufklärung und Revolution 34), München 2003, S. 77. Vgl. hierzu und im Folgenden ausführlich VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 287–301, hier 287–288; STRICH, Liselotte, S. 52–54. Vgl. An Karllutz, Versailles, 21.7.1682, HO, 1, 12, S. 22; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 289–293; ALBERT, ermite, S. 27. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 19.9.1682, NLA-HStAH, I, 244v–245v, vgl. B, 1, 41, S. 46–47. Vgl. etwa An Karllutz, Versailles, 23.8.1682, HO, 1, 13, S. 22–23. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 19.9.1682, NLA-HStAH, I, 253r, vgl. B, 1, 41, S. 45–54, bes. 49; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 295–296, ALBERT, ermite, S. 32–34. Dies zeigt ein Brief E. Ch.s an Ludwig XIV., St. Cloud, 24.5.1685, VdC, Lf, 28, S. 55–59. Vgl. auch STRICH, Liselotte, S. 63–77.

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Einfluss am Hof. Aufgrund ihrer offen artikulierten Opposition gegen Madame de Maintenon verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Elisabeth Charlotte und dem König zusehends.71 Aufgrund dieser Situation lebte Elisabeth Charlotte etwa seit Mitte der 1680er Jahre weitestgehend zurückgezogen von der Hofgesellschaft,72 was sich auch nach dem Tod Ludwigs XIV. 1715 keineswegs zum Positiven verändern sollte.73 In einem Brief vom Mai 1689 beispielsweise interpretierte sie ihre mehr als zehn Jahre zurückliegende Übersiedlung an den französischen Hof, an dem man ihr nach eigener Aussage so übel mitspielte, als biographischen Bruch.74 Sie schrieb: so lustig alß man auch von natur sein mag, findt man doch gar woll die kunst hir, einem alle lust zu vertreiben undt recht trawerig zu machen. (…) E.L. sagen, daß man einem alles nehmen kan außgenohmen ein frölligs hertz, wie ich noch in teütschlandt war, hette es auch woll so gemeint, seitter ich aber in franckreich bin, hab ich leÿder nur zu sehr erfahren, daß man einem dießes auch nehmen kan.75

Ursächlich für diese dezidierte Bewertung waren sicherlich auch die zwischenzeitlich intensivierten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und der Kurpfalz im sogenannten Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697). Nachdem die Linie PfalzSimmern mit dem Tod von Elisabeth Charlottes kinderlos gebliebenem Bruder Karl im Jahr 1685 erloschen war, hatte Frankreich unter Rückgriff auf alte lehnsrechtliche Bestimmungen im Namen Elisabeth Charlottes Erbansprüche auf das pfälzische Gebiet erhoben.76 Im September 1688 begann Frankreich diese nach Reichsrecht unbegründeten Forderungen militärisch durchzusetzen, marschierte in die Pfalz ein und besetzte bereits

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Vgl. STRICH, Liselotte, S. 80–97. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 292; ALBERT, ermite, S. 34 u. 36–41; CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 46–47; zu den Auseinandersetzungen mit Ludwig XIV. STRICH, Liselotte, S. 98–121. Vgl. An A. K. v. Harling, Versailles, 12.4.1692, H, 89, S. 198: bin lieber allein, in mein cabinet, undt dencke ein wenig nach – wie ellendt dießes leben ist, alß daß ich in geselschafften sein mag, wo ich nichts hören – noch sechen kan, so mir ahnstehet. Amalie Elisabeth, Versailles, 15.12.1708, HO, 2, 400, S. 65: Wie die leütte [bei Hof] nun sein, ist meine sach gar nicht, mitt ihnen umbzu [gehen]; drumb lebe ich auch wie ein hermit undt einsidtler bey dießem hoff undt gehe mitt gar wenig leütten umb, bin von zwey biß 8 gantz allein in meiner cammer, doch endert mein leben nach den stunden. An Sophie, Versailles, 21.4.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 273v, vgl. B, 2, 688, S. 207: ich lebe gantz a part wie ein reichsstättel undt mein partheÿ ist gott lob in alles gefast, will man mich irgendts haben gehe ich hin will man mich nicht gehe ich auff eine andere seÿdt undt bekümmere mich umb nichts ich laß ein jedes machen wie sie es verstehen undt ich machs wie ichs verstehe. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 1.10.1719, H, 333, S. 552. In der Zeit der Régence nach dem Tod Ludwigs XIV. habe sich diese Isolation noch verschlimmert, so E. Ch. rückblickend. An Luise, St. Cloud, 11.9.1721, HO, 6, 1260, S. 223: seyder deß königs s. todt bin ich den geselschaften gantz entwohnt, kann nicht mehr in geselschafft dawern, einsambkeit ist mein grostets vergnügen. An Luise, St. Cloud, 9.10.1721, HO, 6, 1268, S. 243: weillen die gall wieder ahnfangt, sich sehr zu rühren, welches woll gar kein wunder ist; den daß bürgerliche leben, so ich jetzt führe, ist gar meine sache nicht, habe große mühe mich dran zu gewohnen. Vgl. dazu BAUMGARTNER, Illness, S. 63; FORSTER, Illness, S. 303. An Sophie, St. Cloud, 20.5.1689, NLA-HStAH, II, 365v u. 367r, vgl. B, 1, S. 106. Vgl. auch St. Germain, 19.2.1682, ebd., I, 216v–217r, vgl. B, 1, 37, S. 39. Vgl. GOETZE, Erbfolgekrieg, S. 27; KOHNLE, Geschichte, S. 146–148; SCHAAB, Pfalz, S. 34–35; SCHAAB, Geschichte, S. 148–149.

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im Oktober und November Heilbronn, Heidelberg, Philippsburg und Mannheim.77 Das Vorrücken der französischen Truppen in den nächsten Monaten war von Zerstörungen, Brandschatzungen und Plünderungen begleitet, im Zuge derer viele Bewohner vertrieben und das Land fast vollkommen verwüstet wurde.78 Für Elisabeth Charlotte war in dieser Situation am schmerzlichsten, so schrieb sie im März 1689, dass man sich ihres Namens bedient habe, um die arme leütte in der Pfalz ins eüßerte unglück zu stürtzen und die Wiederaufbauarbeit ihres Vaters zunichtezumachen. Sie litt darunter, in personam ihres vatterlandts untergang zu sein.79 Noch im Traum standen ihr die Bilder der Verwüstung in Heidelberg und Mannheim vor Augen, ließen sie hochschrecken und melancholischen Gedanken nachgehen: wie alles zu meiner zeit war, in welchem standt es nun ist, ja in welchem standt ich selber bin, undt dann kann ich mich deß flenens nicht enthalten.80 Das Leiden an der Melancholie bindet hier Elisabeth Charlottes persönlichen Lebensweg an das Schicksal der Pfalz. Zugleich stellt es für sie eine zentrale Möglichkeit dar, diese Konflikte zu artikulieren und auf diese Weise zu verarbeiten. Die Geschehnisse um den Pfälzischen Erbfolgekrieg hatten indes nicht gerade zur Entspannung der ohnehin problematisch gewordenen Beziehung zwischen Ludwig XIV. und Elisabeth Charlotte beigetragen. Im April 1689 schrieb diese beispielsweise ihrer Tante, sie könne das Unglück der Pfalz kaum für einen Moment vergessen, schließlich würden dieselbige leütte, die für das Los ihres vatterlandtes verantwortlich seien, auch sie persönlich verfolgen und zu allem Überfluss müsste sie mit ihnen ihr leben, biß ahns endt zubringen.81 Angesichts der Situation, in der sich Elisabeth Charlotte seitdem am französischen Hof befand, verwundert es kaum, dass sie viele Jahre später, im Jahr 1715, einmal mehr resümierte: Mein lustiger humor, so mich vor dießem alles leicht machte, ist mir greülich hir im landt 77

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Entsprechend den erbrechtlichen Vereinbarungen übernahm die katholische Linie der pfälzischen Wittelsbacher, Pfalz-Neuburg, die Landesherrschaft in der Kurpfalz. Vgl. GOETZE, Erbfolgekrieg, S. 28–29; MARTIN, Pfalz, S. 35–36; MOERS-MESSMER, Heidelberg, S. 330, 333 u. 337–341; KOHNLE, Geschichte, S. 150–151 u. 155; SCHAAB, Pfalz, S. 35–37 u. Geschichte, S. 149–151; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 352–356. Vgl. GOETZE, Erbfolgekrieg, S. 29; KOHNLE, Geschichte, S. 152–153; MARTIN, Pfalz, S. 38–41; SCHAAB, Pfalz, S. 38–39; SCHAAB, Geschichte, S. 151–152. Zum weiteren Kriegsverlauf und zur Beilegung des Konflikts im Frieden von Ryswyk (1697) s. GOETZE, Erbfolgekrieg, S. 30; KOHNLE, Geschichte, S. 154; SCHAAB, Pfalz, S. 39; SCHAAB, Geschichte, S. 153–154. An Sophie, Versailles, 20.3.1689, NLA-HStAH, II, 344v, vgl. B, 1, 85, S. 103; vgl. auch Paris, 20.7.1692, ebd., III,2, 321r–321v u. Fontainebleau, 10.11.1688, ebd., II, 335v, vgl. B, 1, 83, S. 101: und was noch meine unlust vermehrt, ist daß ich alle tag hören muß, wie man sich preparirt daß gutte manheim zu brenen undt bombardiren, welches der Churfürst mein herr vatter S. mitt solchen fleiß hat bawen laßen, daß macht mir daß hertz blutten, undt man nimbt mir es noch hoch vor übel daß ich trawerig drüber bin. S. auch ALBERT, ermite, S. 30–31. Vgl. An Sophie, Versailles, 20.3.1689, NLA-HStAH, II, 345r, vgl. B, 1, 85, S. 103. S. auch ALBERT, ermite, S. 31. Zur emotionalen Bindung an die Pfalz s. auch An Sophie, St. Cloud, 5.6. u. 30.10.1689, NLA-HStAH, II, 372r–372v, vgl. B, 1, 88, S. 108, II, 443r–443v, vgl. B, 1, 94, S. 115; An Luise, St. Cloud, 23.10.1718, HO, 3, 961, S. 420 u. 12.5.1720, HO, 5, 1121, S. 146. An Sophie, Versailles, 14.4.1689, NLA-HStAH, II, 349v, vgl. B, 1, 86, S. 104–105. Vgl. auch 7.3.1694, GWLB/NLB, 32r–33v, vgl. B, 1, 177, S. 190: es ist leicht zu sagen daß man sich divertiren muß, wen aber nur beÿ gritlichen leütten ist die alles übel nehmen, waß man thut undt die unschuldigsten sagen [Sachen] übel außlegen, einen auch haßen, undt ohne gelt laßen, da ist es nicht leicht sich zu divertiren undt umb daß hertz in freüden zu haben muß man beÿ leütten sein so einen lieb haben nichts übels zu trawen, undt nichts mangeln laßen.

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vergangen. Wer es in dießem landt nicht verliehrt, wirdt es ewig behalten.82 Elisabeth Charlotte, die sich eigentlich als von Natur aus lustig verstand, schrieb in den folgenden Jahren intensiv über ihre veränderte humorale Disposition, über melancholische Stimmungen und die körperlichen Symptome ihrer miltzkrankheit. Daß die humoren endern, weiß ich nur gar zu woll durch eygene experientz83, ließ sie Luise etwa im Dezember 1705 wissen. Dass sie in dieser Zeit ihre humorale Disposition als verändert empfand,84 zeigt ein Brief an Luise vom Sommer 1707 besonders eindrücklich. Darin versicherte sie ihrer wohl ebenfalls melancholischen Halbschwester, dass man gegen eine solche Disposition machtlos sei und sich Schicksalsschläge dann unweigerlich mehr zu Herzen gehen lassen würde.85 Jedes sorgenvolle Nachdenken und jede Traurigkeit führte dann, so Elisabeth Charlotte in Übereinstimmung mit dem ätiologischen Melancholie-Modell, in letzter Konsequenz dazu, dass sich die Milz unweigerlich mit der bößen schwartzen Galle fülle und zu einer ernsthaften Gefahr für Leib und Leben würde.86 Sich selbst als melancholisch bzw. milzkrank zu bezeichnen, wurde für Elisabeth Charlotte mehr und mehr zu einer körperbezogenen narrativen Verarbeitungsstrategie der eigenen biographischen Erfahrungen. Dabei verknüpfte sie Vorstellungen einer möglichen Veränderung des Temperaments mit ihrem calvinistischen Vorsehungsglauben. Nicht nur ihr vor allem durch die Verheiratung geprägter Lebensweg erschien ihr wie der Tod als göttlich vorherbestimmtes verhengnuß,87 das man letztlich schlichtweg hinzunehmen hatte,88 sondern auch die humoren 82

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An Luise, Paris, 8.10.1715, HO, 2, 732, S. 645. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 12.12.1717, HO, 2, 849, S. 88: Mein got, wie offt habe ich in dem berg kirschen gefreßen morgendts umb 5 uhr mitt ein gutt stuck brodt! Damahl war ich lustiger, alß ich nun bin. An Luise, Versailles, 17.3.1697, HO, 1, 48, S. 82: Es ist keine so lustige complexion, so nicht endtlich endert, wen daß unglück dawerhafft ist; (…). Ich weiß nicht, ob Ihr Eüch noch erinnern könt, wie lustig ich in meiner jugendt geweßen; nun bin ichs gar nicht mehr, bin woll 6 wochen ohne lachen. An Luise, Versailles, 31.12.1705, HO, 1, 286, S. 433. Vgl. auch das folgende Zitat, in dem sich E. Ch. als milzsüchtig von Natur aus bezeichnet, An C. v. Wales, o.O., 25.2.1716, A, 5, S. 217: Ich bin von Natur ein wenig milzsüchtig, wenn mich etwas betrübt, geschwillt mir die linke Seite wie ein Kindeskopf. Vgl. im Unterschied dazu aber auch An C. F. v. Harling, St. Cloud, 11.5.1721, H, 403, S. 710–714, Paris, 9.3.1721, H, 397, S 688: Mein temperement ist gutt geweßen, welches woll erscheindt durch alles resistirt zu haben, waß mir begegnet. Vgl. An Luise, Marly, 27.7.1702, HO, 1, 178, S. 305–306: Wist Ihr, waß unß betrübt? Wen unßer verhengnuß unß ein unglück über daß ander schickt undt unßer temperement miltzsüchtig ist, so zieht man sich alleß zu hertzen undt wirdt melancolisch. An Sophie, Paris, 11.5.1692, GWLB/NLB, 3r, vgl. B, 1, 131, S. 148: ich bin nun gantz in der einsambkeit hir, den den alles ist gestern weg, ich ruffe die raison so viel mir möglich ist umb mich in die zeit zu schicken, aber nachdem daß Miltz es erlaubt, macht man es beßer oder schlimmer. Versailles, 2.5.1697, NLA-HStAH, VII,1, 218r, vgl. B, 1, 288, S. 287; An Luise, St. Cloud, 20.9.1698, HO, 6, N, 38, S. 548 u. Paris, 21.12.1720, HO, 5, 1185, S. 370; An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 144, S. 247–248. S. auch ALBERT, ermite, S. 20–23. Vgl. An Luise, Paris, 6.2.1721, HO, 6, 1199, S. 13: Viel sachen können mich noch betrüben, aber ich kan nichts erdencken, so mich erfreuen könte; also muß mein miltz sich mitt der zeit woll wider mitt der bößen schwartzen galle füllen, so mir endtlich den garauß machen wirdt. An Luise, St. Cloud, 27.7., 12.11. u. 31.8.1719, HO, 4, 1069, S. 307, 1038, S. 188, 1048, S. 223, 22.11.1721, HO, 6, 1281, S. 278, Paris, 26.12.1720, HO, 5, 1186, S. 373, 4.1.1721 u. 1.3.1721, HO, 6, 1189, S. 3 u. 1206, S. 30. An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 16.4.1699, HO, 1, 78, S. 134: Heüraht seindt wie der todt, stundt undt zeit ist dazu bestimbt; daß kan man nicht entgehen; wie es von unßerm herrgott verhengt ist, so muß es geschehen. Vgl. zu E. Ch.s Rede von ihrer gesellschaftlichen Position als beruff und handwerck auch An Luise, Versailles, 12.5.1702, HO, 1, 168, S. 286 sowie das Titelzitat der dt. Ausgabe von Van der Cruysses Biographie An Sophie, Port Royal, 21.9.1700, NLA-HStAH, X,2, 617r, vgl. B, 1, 428, S. 416.

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galten ihr als von Gott verhengt.89 Dass Elisabeth Charlottes Diagnose sich dabei primär auf ‚weibliche‘ Subjekte richtete, zeigt eine Aussage vom Februar 1718, in der ihre Betrachtungen zur Prädestination mit Assoziationen von Weiblichkeit und Traurigkeit verknüpft sind: Gott hatt jedem sein stundt undt ziehl gesetzt, daß kan niemandts überschreytten. Keine weibspersonnen sterben vor betrübtnuß, man gewendt unß zu sehr von kindtheit dran;90 es geht mitt, wie mit dem gifft von Mytridatte [Mithridates91 ] man gewendt unß so sehr dran, daß es unß nicht mehr ahm leben schaden kan, aber woll ahn der gesundtheit; drumb muß man sich doch vor hütten, so viel immer möglich ist.92

Nichtsdestoweniger ließen sich die aus der Verheiratung entspringenden Lebens- und Leidenserfahrungen durchaus positiv deuten, schließlich ließ Gott denjenigen besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden, die er mit einem melancholischen Humor versah. In diesem Sinne zeigte Elisabeth Charlotte sich 1703 überzeugt, ihre melancholischen Stimmungen seien ein Anzeichen, daß er mich züchtigt, damit ich es entpfinden mag.93 So gesehen konnte die Melancholie in negativer Deutungsperspektive als Auslöser und Symptom von Krankheiten nicht nur als Gefahr für ein wahrhaft christliches Leben verstanden werden,94 sondern gleichzeitig auch als Ausweis einer speziellen Nähe zu Gott.95 Auch 88

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Vgl. An Luise, Fontainebleau, 9.10.1697, HO, 1, 53, S. 93–94: Nichts stehet in unßer gewalt, wir seindt alle einem verhengnuß unterworffen; also ist es zwar woll gethan, zu suchen, sich in Unglück zu faßen, allein es geschieht nur, waß gott der allmächtige unß all lengst vorsehen hatt. Paris, 20.2.1718, HO, 3, 891, S. 189–190; Marly, 27.7.1702, HO, 1, 178, S. 305–306; 29.6.1709, HO, 2, 427, S. 113, Fontainebleau, 14.10.1714, HO, 2, 669, S. 462. An Sophie, Versailles, 20.5.1697, NLA-HStAH, VII, 218r, vgl. B, 1, 288, S. 287: An Amalie Elisabeth, Versailles, 7.1.1703, HO, 1, 183, S. 315: Ich gestehe meine schwachheit; geht mirs nach meinem gefallen, bin ich lustig; kommen mir verdrießlichkeit, bin ich unlustig, biß es vorbey ist. Ich strebe nicht wider dem allerhögsten, ich verzage nicht; ich dencke aber, daß er mich züchtigt, damit ich es entpfinden mag, bin also nach seinem Willen lustig oder trawerig, nachdem es gottes wille ist; daß hindert weder seine vorsehung noch barmhertzigkeit noch daß vertrawen, so man dazu haben solle. Unßer humoren gehen auch, nachdem es unßer herrgott verhengt hatt, also muß einer woll mitt dem andern gedult haben; zudem so begreift ein jeder nach dem verstandt, so ihm gott geben hatt. S. auch An Luise, St. Cloud, 2.9.1694, HO, 1, 16, S. 28; ALBERT, ermite, S. 21. Zu zeitgenössischen Assoziationen von Weiblichkeit und Betrübnis s. Juliana SCHIESARI, The Gendering of Melancholia. Feminism, Psychoanalysis, and the Symbolics of Loss in Renaissance Literature, Ithaca u. London 1992, S. 3, 166 u. 190. Pontischer König (134–63 v. Chr.), der der Legende nach durch kontrollierte Einnahme immun gegen Gifte geworden war. An Luise, Paris, 20.2.1718, HO, 3, 891, S. 190. Vgl. auch Versailles, 7.3.1705, HO, 1, 232, S. 377; ALBERT, ermite, S. 21. An Amalie Elisabeth, Versailles, 7.1.1703, HO, 1, 183, S. 315. Vgl. zu diesen Konnotationen SCHMITZ, Physiologie, S. 121–124; Lawrence BABB, The Elizabethan Malady. A Study of Melancholia in English Literature from 1580 to 1642, East Lansing 1965, S. 47– 54. An Amalie Elisabeth, Versailles, 7.1.1703, HO, 1, 183, S. 315. Vgl. zum Verständnis der Melancholie als göttlicher Prüfung SCHMITZ, Physiologie, S. 125–126; zum Zusammenhang von Leidenserfahrung und calvinistischer Erwählung Susan E[lizabeth] SCHREINER, Where Shall Wisdom be Found? Calvin’s Exegesis of Job from Medieval and Modern Perspectives, Chicago, London 1994, bes. S. 92 u. 95–98; zu ähnlichen Sichtweisen in Selbstzeugnissen vgl. die Autobiographie Güntzers SIEBER, Leid, S. 31.

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dezidiert religiöse Deutungen erlaubten also durchaus positivere Sichtweisen auf die Melancholie.96

2. sich selber helffen : Alltagspraktiken gegen die Melancholie 97

Trotz solcher ambivalenter Züge in der Bewertung der Melancholie als sündhafter Krankheit und als Zeichen göttlicher Erwählung überwog im frühneuzeitlichen Melancholie-Diskurs jedoch bei weitem die Vorstellung, man habe gegen die melancholische Krankheit tatkräftig vorzugehen, um sich gegen deren gesundheitliche Folgen zu schützen. Die Aneignung des melancholischen Temperaments erlaubte dabei nicht nur, sich mit bestimmten Aussagen dieses Diskurses zu identifizieren, sie bot darüber hinaus den unschätzbaren Vorteil, handlungspraktische Ansatzpunkte zu eröffnen, an denen man sich im Alltagsregime orientieren konnte.98 Auch Elisabeth Charlottes Briefe zeugen vom Versuch, ihren Briefpartner_innen gegenüber glaubhaft zu versichern, dass sie keineswegs passives Opfer der Milzkrankheit sei, sondern versuche, sich in ihrer Lebensführung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den melancholischen Stimmungen entgegenzustellen.99 Dabei befand sie sich im Kreise ihrer Familie durchaus in guter Gesellschaft, waren neben ihren Tanten Sophie100

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Grundsätzlich überwiegen innerhalb religiöser Deutungsversuche negative Sichtweisen auf die Melancholie. Zur mittelalterlichen acedia-Tradition s. 4.I.2. Die Positivierung der Melancholie, die in der Forschungsliteratur mit dem Genie-Diskurs der Renaissance verbunden wird, ist also keineswegs ausschließlich als säkulares Phänomen zu verstehen. Vgl. im Unterschied dazu SCHNEIDERS, Diätetik, S. 38. An Luise, Marly, 10.1.1711, HO, 2, 508, S. 226. Vgl. WEBER, Kampf, S. 172–174; TERSCH, Melancholie, S. 134 u. 140; SCHULTE, Melancholie, S. 33; Heinrich SCHIPPERGES, Melancholie, in: Werner E. GERABEK, Bernhard D. HAAGE, Gundolf KEIL u. Wolfgang WEBER (Hg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin, New York 2005, S. 962–967, hier 966–967; SCHMITZ, Physiologie, S. 135–151; SCHNEIDERS, Diätetik, S. 20–21. Einen Überblick über die Melancholie-Therapien von der Antike bis 1900 bietet STAROBINSKI, Geschichte, bes. S. 16, 20, 22–23, 30–31, 36, 40–45, 49–52 u. 75–93. Vgl. auch die ärztliche Verordnung gegen die Melancholie Ernst Eberhard v. Harlings (1665–1729), die aus Beschäftigungstherapie und Purgation mit Chinarinde bestand, An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.9. u. 29.10.1719, H, 332, S. 550–551 u. 337, S. 560. Vgl. An Sophie, Versailles, 8.1.1702, NLA-HStAH, XII,1, 16r, vgl. B, 2, 485, S. 27: Ich hütte mich so viel ich kan, melancolisch zu werden, suche immer waß zu schaffen umb nicht ahn das vergangene noch zu künfftige zu gedenken. Marly, 28.7.1701, ebd., XI,1, 340r [fehlerhafte chronologische Ordnung], vgl. B, 2, S. 9. Vgl. auch ihre Beteuerungen, an einer leichten Melancholie zu leiden bzw. gar nicht melancholisch zu sein, An Luise, Marly, 17.6.1706, HO, 1, 316, S. 466, Fontainebleau, 14.10.1714, HO, 2, 669, S. 461–462: jedoch so bin ich nicht melancolisch, finde, daß es genung ist, von andern gequellet zu werden, ohne mich selbsten noch zu plagen. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, St. Cloud, 20.7.1718, V, 28, S. 55; An C. F. v. Harling, Paris, 22.2.1720, H, 353, S. 592–593. In späteren Jahren waren wohl auch Luise und C. F. v. Harling mit melancholischen Stimmungen behaftet. Vgl. folgende Briefe An Luise, Paris, 20.2.718, HO, 3, 891, S. 189; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 9.10.1721, H, 431, S. 760. S. auch ALBERT, ermite, S. 26. Zu Todesgedanken als Indikator für die melancholische Krankheit s. An Sophie, Versailles, 27.11.1695, NLA-HStAH, V, 293r–293v, vgl. B, 1, 223, S. 229, 25.12.1698, GWLB/NLB, 64v, vgl. B, 1, 365, S. 351; An Luise, Marly, 14.7.1702, HO, 1, 176, S. 298. Vgl. Karl Ludwig an Sophie, 19./29.6.1680, in: BODEMANN (Hg.), BK, 425, S. 424.

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und Elisabeth101 auch ihre Eltern Karl Ludwig102 und Charlotte103 sowie ihr Bruder Karl104 von den Symptomen der Schwarzgalligkeit geplagt. Dabei konnte die Melancholie eines Familienmitgliedes bisweilen vielfältige Auswirkungen auf die Familie entfalten. Dass man sich als von der Melancholie betroffene Person darum sorgen musste, den Familienmitgliedern mit dem eigenen melancholischen Humor nicht zur Last zu fallen, zeigt ein Brief Karl Ludwigs an Luise von Degenfeld vom Juni 1668.105 Auch für die familiärherrschaftliche Verantwortung schien ein melancholischer Humor eine ernstzunehmende Gefahr darzustellen,106 konnten aus ihm doch bisweilen unverständliche Entscheidungen folgen. In der Frage der Versorgung der raugräflichen Halbgeschwister etwa hatte sich Elisabeth Charlottes Bruder Karl, nach dem Tod seines Vaters 1680 Oberhaupt des Hauses Kurpfalz, unnachgiebig gezeigt – für sie Grund genug zu konstatieren, es sei ein groß zeichen, daß seine miltzkranckheit stärcker als die ihrige sein müsse.107 Noch deutlicher wird die familiär geteilte überwiegend negative Sicht auf die Melancholie jedoch in Elisabeth Charlottes brieflichen Schilderungen über sich selbst. Anlässlich der offenen Auseinandersetzungen des Jahres 1682 beispielsweise (4.I.1) war es Elisabeth Charlotte besonders wichtig klarzustellen, ihre Tante dürfe keinesfalls annehmen, dass sie sich selbst durch caprice undt bößen humor unglücklich machen würde. Denn, so fuhr sie fort: wen ich glauben solte das E.L. undt oncle in der that ein solches von mir meinten würde mich dießes melancholischer machen alß all mein unglück undt verdruß, so ich bißher außgestanden.108 Solch eine deutliche Abgrenzung von der Melancholie erschien Elisabeth Charlotte offenbar 101

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Vgl. zur Interpretation des Briefwechsels zwischen Elisabeth von der Pfalz und Descartes als „vollendete[s] Beispiel einer ‚philosophischen Psychotherapie‘“ STAROBINSKI, Geschichte, S. 32. Vgl. ALBERT, ermite, S. 17, die hier jedoch Elisabeth von der Pfalz mit E. Ch. d‘Orléans verwechselt. Vgl. etwa Karl Ludwig an Luise, Frankfurt, 16.5.1658, in: HOLLAND (Hg.), SK, 79, S. 73. An Luise, Marly, 24.7.1707, HO, 2, 372, S. 34: Ich bin nun, gott lob, wider gantz gesundt, aber nur zu zeitten blagt mich mein miltz. Ich glaube, daß es auch ein erbstück von meiner fraw mutter ist, so woll alß der husten. Vgl. An Sophie, St. Germain, 19.2.1682, NLA-HStAH, I, 217v, vgl. B, 1, 37, S. 40; Karl Ludwig an Sophie, o.O., 22.9.1677, in: BODEMANN, (Hg.), Bw, 308, S. 304; Sophie an Luise, Hannover, 7./17.2.1681, in: BODEMANN (Hg.), BK, 15, S. 16; Sophie an Karoline, Hannover, 16./26.2.1685, in: Ebd., 41, S. 40. Vgl. auch MOERS-MESSMER, Heidelberg, S. 329. Vgl. Karl Ludwig an Luise, Frankenthal, 11.6.1668, in: HOLLAND (Hg.), SK, 212, S. 192. Ähnlich auch E. Ch. an Karllutz, Versailles, 23.8.1682, HO, 1, 13, S. 23: Ich bin doch zu nichts nutz, alß denen Unglück zu wegen zu bringen, so mich lieb haben. An Luise, Marly, 16.10.1710, HO, 2, 495, S. 207: drumb muß man suchen, sich mitt kleine sachen die melancolie zu vertreiben; den nichts ist schädtlicher vor die gesundtheit undt hilft zu nichts, alß unßere freünde undt die unß lieben zu betrüben undt die unß haßen zu erfrewen. Ähnlich auch das Verhalten des melancholischen Sigmund von Birken gegenüber seiner literarischen Freundin C. R. v. Greiffenberg SIEBER, Attitüden, S. 248. Zum Zusammenhang von Melancholie und Herrschaft s. LEPENIES, Melancholie, bes. S. 46. Vgl. An Sophie, St. Germain, 19.2.1682, NLA-HStAH, I, 217v, vgl. B, 1, 37, S. 40. Vgl. An Sophie, Paris, 24.11.1682, ebd., I, 269r–269v, vgl. B, 1, 42, S. 55. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass E. Ch. nach ihrem offenen Brief an ihre Tante vom 19.2.1682 eine längere Pause im Schreiben einlegte, was sie im nächsten überlieferten Brief vom 10.6.1682 ausführlich rechtfertigte. Vgl. An Sophie, Versailles, ebd., II, 223v: habe also lieber wartten wollen biß das dieße böße zeit ein wenig vorüber gehen möge, undt stelle mich den also hirmitt ein, E.L. aber auff alle dero gnädige schreiben hirmitt zu gleich zu antwortten. Vgl. zu ähnlichen Argumentationen An A. K. v. Harling, Versailles, 21.2.1692, H, 87, S. 195. Das Zitat zeigt allerdings auch, dass E. Ch. A .K v. Harling in diesem Punkt als verständnisvoller betrachtete.

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als notwendig, um das gute Verhältnis zu ihrer Tante Sophie zu bewahren. Diese Passage lässt auf die Erwartungshaltung schließen, die die ebenfalls milzkranke Sophie in Sachen Melancholie-Regime an ihre Nichte richtete.109 In einem Brief vom Dezember 1680 an Sophie werden diese Zusammenhänge noch deutlicher aufgegriffen. Elisabeth Charlotte berichtete hier ihrer Tante, dass es ihr nun gelungen sei, die traurig-melancholischen Verstimmungen über den Tod ihres Vaters, die bereits dazu geführt hatten, dass sie so dur (…) wie ein scheit holtz geworden war, zu überwinden, denn seiter E.L. mir gesagt das ich nicht melancholisch soll sein, so fern ich E.L. undt oncle lieb habe, so habe ich alles gethan was mir nur möglich geweßen umb wider zu sein wie ordenari, den all mein lebtag werde ich alles thun was mir möglich ist, E.L. solches zu persuadiren undt dießes ist wol, eine starcke probe den, ich habe mich ahnfangs unerhört gezwungen, biß ich wider geworden bin, alß ich mich nun befindt.110

Elisabeth Charlotte betrachtete das Ankämpfen gegen die Melancholie also als eine Erfüllung familiärer Erwartungen, mehr noch als Beweis ihrer aufrichtigen Liebe gegenüber Onkel und Tante.111 Gleichzeitig verstand sie es als Zurückkommen zu einem originären, nicht von der Melancholie veränderten ‚Ich‘, was freilich nur unter Aufbringung größter Selbstdisziplin möglich war. Die hier grundlegenden familiären Bewertungsmuster erfahren in zeitgenössischen diskursiven Positionen zur Melancholie eine Spiegelung. So zeigte etwa Wolf Lepenies in seiner Studie ‚Melancholie und Gesellschaft‘ (1969), dass eine melancholielose Gesellschaft den Zeitgenossen als Idealentwurf eines Gemeinwesens erschien.112 Gegen die Melancholie vorzugehen, war Teil des umfassenden frühneuzeitlichen Ordnungsstrebens,113 das sich nicht nur auf der Ebene der Gesellschaft bzw. der utopischen Imagination einer idealen Gesellschaft wie bei Burton und Campanella niederschlug, sondern sich

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Vgl. zu E. Ch.s Rechtfertigungen auch An Sophie, Versailles, 20.3.1689, NLA-HStAH, II, 344r– 344v, vgl. B, 1, 85, S. 102: mir kompt die trawerigkeit noch schwerer ahn alß ein anders, den mein hertz lieb matante weiß woll daß ich es nicht von natur bin, allein wen einen das unglück so auff allen seiten überheüfft, kann man doch nicht laßen, solches zu entpfinden. S. ebenso St. Cloud, 20.5.1689, ebd., II, 365v, vgl. B, 1, S. 106, Versailles, 22.3.1711, ebd., XXI,1, 248r–248v, vgl. B, 2, 751, S. 268: es ist woll war daß ich Miltzwehe habe undt daß mir daß Miltz beÿ dem feüchten wetter geschwilt, aber daß ich allezeit allein bin, ist met verlöff met eine lügen (...) mein leben habe ich weder freündt noch feindt auß meiner Cammer heißen gehen (...) daß ich nicht nüber zum spiel gehe geschicht nicht auß melancoley sondern weillen Ich daß spillen hat nicht liebe, undt wen Ichs gleich liebte erlaubt mir mein beüttel nicht dießes Divertissement beÿ zu wohnen zu dem so kan man hir die leütte nicht leÿden wen sie nicht selber spillen, bleib also lieber davon zu dem wen man allein alt undt so viel jungen leütten ist wirdt man wie eine eülle unter den vöglen, undt daß gefelt mir nicht. Vgl. zum Wetter als Melancholieauslöser auch FORSTER, Illness, S. 308. An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, NLA-HStAH, I, 183r, Fortsetzung 183r–183v. Dies zeigen auch die folgenden Passagen. An Sophie, Marly, 16.4.1711, NLA-HStAH, XXI,1, 359r: ich kan E.L. mitt warheit versichern, daß ich nicht Miltz süchtig bin, undt daß es eine rechte boßheit ist, undt man mich nur hatt unahngenehm beÿ E.L. machen wollen. S. ebenso 14.5.1711, ebd., XXI,1, 418r-418v. Vgl. LEPENIES, Melancholie, S. 34–42, hier 34. Vgl. ebd., S. 19 u. 34. Diese These wird bspw. bestätigt durch die Untersuchung von Markus SCHÄR, Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich 1500– 1800, Zürich 1985, bes. S. 59–70 u. 179–184.

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als normatives Disziplinierungsgebot an jeden Einzelnen richtete.114 Es erscheint durchaus folgerichtig, dass Burton in dem berühmten Zitat aus der Vorrede von ‚The Anatomy of Melancholy‘ konsequent bei sich selbst ansetzte und formulierte: If any man against my Subject, and will demand a reason of it, I can alleadge more than one, I write of Melancholy, by being busie to avoid Melancholy. There is no greater cause of Melancholy than idleness.115

Burton stellt seine schriftstellerische Tätigkeit hier voll und ganz in den Dienst der Melancholie-Bekämpfung – schließlich sei vor allem der Müßiggang Ursache melancholischer Verstimmungen. Die hier mit der Melancholie verknüpfte (vor allem geistige) Untätigkeit galt schon im christlichen Diskurs des Mittelalters als Ausformung des Kardinallasters der acedia (Trägheit des Herzens und des Geistes).116 In den einleitenden Sätzen ihrer Memoiren eignete sich auch Sophie einen Stilisierungsgestus à la Burton an,117 wenn sie mit antimelancholischer Rhetorik betonte, ihr eigentlicher Schreibimpuls bestehe darin, während der Abwesenheit ihres Gatten Zerstreuung und Vergnügen im Schreiben zu finden, pour eviter la mélancholie et pour conserver mon humeur dans une bonne assiette.118 Mit dem Schreiben wollte Sophie also in erster Linie der Melancholie entgegenwirken, gleichzeitig jedoch galt sie ihr, nicht weniger als Burton, in einem durchaus positiven Sinne als Antriebsfeder und Inspiration für das Schreiben.119 Erst sie ermöglichte Sophie die schriftstellerisch-kreative Beschäftigung als Memoiren-Schreiberin.120 Negativ114

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Vgl. LEPENIES, Melancholie, S. 35–36; WATANABE-O’KELLY, Melancholie, S. 19; SCHIESARI, Gendering, S. 243; RUBLACK, Erzählungen, S. 220 u. Körper, S. 102–103, die betont, dass das Alltagsregime gegen die Melancholie im frühneuzeitlichen England insbesondere von Männern von Stand praktiziert wurde. Vgl. BURTON, Anatomy, S. 6 u. Anatomie, S. 24; BABB, Sanity, S. 13–14; LEPENIES, Melancholie, S. 22, der hier interpretiert: „Dieser egozentrische Ansatz wird aber bald verlassen, beschrieben wird eine melancholische Gesellschaft (…).” Vgl. KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 354–355; FLASHAR, Melancholie, S. 11; WITTSTOCK, Melancholia, S. 49–50; GUNTERMANN, Mysterium, S. 38–39; SCHULTE, Melancholie, S. 30–31; OBERMÜLLER, Melancholie, S. 16–20; WATANABE-O’KELLY, Melancholie, S. 18–19; SCHNEIDERS, Diätetik, S. 35– 38. Zur Inszenierung von (maskuliner) Autorschaft bei Burton s. SCHIESARI, Gendering, S. 244–249. Vgl. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 35; dt. Übers. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 11: „Ich beabsichtige nur, mich während der Abwesenheit des Herrn Herzogs, meines Gemahls, zu zerstreuen, um der Melancholie zu entgehen und mich in guter Stimmung zu erhalten. Denn ich bin der Überzeugung, daß das die Gesundheit und das Leben erhält, das mir sehr teuer ist.” Vgl. zur Schreibmotivation Sophies BURSCHEL, „j’avais le plaisir“, S. 338; VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 78. Vgl. zu diesem Paradox SCHIESARI, Gendering, S. 245 (Zit.) u. 247: „(…) Burton both internalizes and incorporates melancholia as that which spurs him on but from which he must escape, a paradoxical flight from a condition that is the very condition of his creativity.” Vgl. auch VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 173; dt. Übers. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 11: „Dieser Verlust [der Tod ihres Bruders] hat mein Milzleiden so verschlimmert, daß ich immer jetzt, wo ich fünfzig Jahre alt bin, denke, daß es nicht lange dauern wird, bis ich meiner Schwester und meinem Bruder folge. Dazu noch die Abwesenheit des Herrn Herzogs. Alles das würde mich ganz zu Ende gebracht haben, hätte ich meinem Geist nicht irgendwelche Beschäftigung durch andere Gedanken gegeben, um ihn von jenen törichten Ideen abzubringen. Das ist der Grund, weshalb ich mich damit vergnügt habe, die Vergangenheit zu schildern, was ich sicherlich besser getan hätte, hätte ich mich in einer muntereren Stimmung befunden, an der trübe Gedanken und

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Konnotationen in antiker und mittelalterlicher Tradition vermischen sich hier mit in der florentinischen Renaissance aufgekommenen Diskurspositionen, die die Melancholie im Anschluss an Aristoteles als Voraussetzung primär männlich attributierter Genialität121 betrachten und somit aufwerten (melancholia generosa).122 Wie die Germanistin Antje Wittstock in ihrer Studie zur Rezeption des im Wesentlichen auf den Florentiner Humanisten Marsilio Ficino (1433–1499) zurückgehenden positiven Melancholie-Begriffs nicht nur an dramatischen Texten, sondern auch an Selbstzeugnissen des 16. Jahrhunderts zeigen konnte,123 war die zeitgenössische Bewertung der Melancholie vielfach von jener Ambivalenz zwischen „Gefährdung und Krankheit“ und „kreativer Potenz und Göttlichkeit“124 getragen,125 die auch Sophies Schreiben begleitet. Schließlich war dieses nicht nur Behandlungsmaßnahme gegen die Melancholie, sondern gleichzeitig sinnfälliger Ausdruck einer der Autorin eigenen Kreativität, die ihre schriftstellerische Tätigkeit ermöglicht wie legitimiert.126 Dabei regte das mal de rate127 Sophie allerdings nicht nur zum Verfassen ihrer Memoiren an, sondern vor allem zur brieflichen Pflege familiärer und

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Melancholie keinen Teil hatten. Ich hoffe, daß die Rückkehr des Herrn Herzogs, die in wenigen Tagen bevorsteht, mich wieder ganz herstellen wird, damit ich noch nicht so bald den Weg aller Sterblichen zu gehen brauche.“ Erzählungen über einen Zusammenhang zwischen Melancholie und schriftstellerischer Betätigung finden sich auch in anderen zeitgenössischen Selbstzeugnissen – selbst in solchen, deren Schreiber nicht aus der Oberschicht stammen. Vgl. zur Autobiographie Güntzers: SIEBER, Leid, S. 46–47 sowie zu Selbstzeugnissen aus dem österreichischen Raum TERSCH, Melancholie, S. 154: „Es ist die Schwermut, die den Autoren einen Weg zur Introspektion bietet, auch wenn diese durch einen didaktischen Rahmen begrenzt bleibt.“ Vgl. zur Vergeschlechtlichung des Genie-Diskurses SCHIESARI, Gendering, bes. S. 3–4 u. 7–8: „In other words, depression became translated into a virtue for the atrabilous man of letters. And it is significant that melancholia – at least this form of it – became an elite ‚illness‘ that afflicted men precisely as the sign [Hervorheb. i. Orig.] of their exceptionality.” SIEBER u. WITTSTOCK, Einleitung, S. 8–10; SIEBER, Attitüden, S. 237–238; BAUMGARTNER, Illness, S. 68. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Schiesaris These einer eindeutigen Zuschreibung von Melancholie zu Männlichkeit vgl. OPITZ, Melancholie, bes. S. 168, 171 u. 177–178. Vgl. zum Genie-Diskurs KLIBANSKY u.a., Saturn, S. 351–394, bes. 358; SCHIESARI, Gendering, S. 6– 7; WITTSTOCK, Melancholia, S. 55–56; OPITZ, Melancholie, S. 17; TERSCH, Melancholie, S. 131 u. 137–139; GUNTERMANN, Mysterium, S. 44; FLASHAR, Melancholie, S. 68–71; SCHMITZ, Physiologie, S. 127–134; SCHULTE, Melancholie, S. 17 u. 52–56; OBERMÜLLER, Melancholie, S. 11– 13; WATANABE-O’KELLY, Melancholie, S. 20–24; SCHNEIDERS, Diätetik, S. 46–52; BABB, Sanity, S. 3. Ambivalente Konnotationen der Melancholie finden sich neben den aristotelischen Werken auch in den im ersten vorchristlichen Jhd. entstandenen sogenannten Briefen des Hippokrates sowie in den Schriften Ciceros und Senecas. Vgl. WITTSTOCK, Melancholia, S. 146–179, bes. 149 analysiert die Selbstbeschreibung des Hieronymus Wolf (1516–1580) und die Autobiographie des Bartholomäus Sastrow. Vgl. ebd., S. 222. Vgl. im Gegensatz dazu OBERMÜLLER, Melancholie, S. 54–70 u. plakativ 13: „Was das Barock betrifft, so klammerte es, wie dies zuvor schon spätantike und mittelalterliche Autoren getan hatten, die aristotelische Melancholie-Auffassung bewußt aus.“ Weniger einseitige Betrachtungen bei WATANABE-O’KELLY, Melancholie, S. 26–41, bes. 40 u. in Bezug auf Burton 47; BABB, Sanity, S. 3– 6 ebenfalls zu Burton; SCHMITZ, Physiologie, S. 131–132 zu Ficino. Zu Melancholie und literarischer Kreativität von Frauen vgl. den kurzen Hinweis bei OPITZ, Melancholie, S. 175, Anm. 28 sowie das Beispiel der Barockdichterin C. R. Greiffenberg analysiert bei SIEBER, Attitüden, bes. S. 247–249 u. 254–255. VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 173; dt. Übers. GEERDS (Hg.), Mutter, S. 11.

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verwandtschaftlicher Beziehungen. Die Briefe an ihre Nichte, Raugräfin Luise, dokumentieren in diesem Sinne ein intensives alltagspraktisches Bemühen, sich durch die briefliche Kommunikation mit den Verwandten ihmer abzuhalten so viel man kan von das, so melancholisch macht.128 Elisabeth Charlotte versuchte in ihrem Alltagsregime dieser Devise ihrer Tante zu folgen. Es sei gewiß, daß man in der miltzsucht sich selber helffen muß – schrieb sie beispielsweise im Januar 1711 an Luise. Die beste Therapie sei es darum, stets für genügend Ablenkung (distraction) im Alltag zu sorgen129 und auf diese Weise sich selbst und die melancholischen Gedanken zu disziplinieren. Andernfalls drohten ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen, die es dringend zu vermeiden galt.130 Im Dienste der Gesundheit war auf jede neuerliche Betrübtheit, jedes Ärgernis und jeden noch so kleinen Anflug von Untätigkeit und Langeweile mit entsprechenden Handlungspraktiken zu reagieren.131 Ein jeder, so meinte Elisabeth Charlotte, müsse sich dabei selbst auf die Suche nach denjenigen Beschäftigungen machen, die die melancholischen Gedanken am besten zerstreuen könnten.132 Auch für Elisabeth Charlotte war das in erster Linie ihre Korrespondenz, die in diesem Sinne vor allem das reale gesellige Beisammensein mit den vertrauten Bezugspersonen ersetzte,133 dem in zeitgenössischen Melancholie-Therapien als Versuch, der Ein128

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Sophie an Luise, Herrenhausen, 14./24.4.1693, in: BODEMANN (Hg.), BK, 109, S. 102. Vgl. zur Bedeutung von Reisen zur Zerstreuung und zur Wichtigkeit religiöser Glaubensgewissheit in der Melancholie Sophie an Luise, Hannover, 1./21.5.1690 u. Herrenhausen, 13.6.1709, in: BODEMANN (Hg.), BK, 93, S. 90 u. 346, S. 310. Vgl. An Luise, Marly, 10.1.1711, HO, 2, 508, S. 226: Daß ist gewiß, daß man in der miltzsucht sich selber helffen muß, undt distraction suchen hilfft mehr, alß alles, waß man sich selber oder andern mitt der grösten vernunfft predigen mögen. Fontainebleau, 14.10.1714, HO, 2, 669, S. 461–462, An Sophie, Versailles, 8.1.1702, NLA-HStAH, XII,1, 16r, vgl. B, 2, 485, S. 27; An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, St. Cloud, 3.11.1720, V, 43. S. 76. An Karllutz, St. Germain, 1.1.1682, HO, 1, 11, S. 21: Aber seyder ich verspüre, das mir dießes so sehr ahn der gesundtheit zusetzt, schlage ich mir alles so viel auß dem sin, alß mir nur möglich ist. An Luise, St. Cloud, 5.9.1722, HO, 6, 1359, S. 459, 9.6.1718, HO, 3, 922, S. 288, 19.6.1718, HO, 3, 925, S. 295, 25.11.1718, HO, 3, 953, S. 391, Paris, 27.1.1718, HO, 3, 885, S. 174; J.-S. v. Schaumburg-Lippe, Paris, 5.4.1718, V, 23, S. 41; An C. F. v. Harling, Paris, 8.12.1720, H, 391, S. 677. Vgl. etwa An Sophie, Versailles, 19.5.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 368, vgl. B, 2, 693, S. 213: aber ich kan E.L. versichern, daß ich wen die fraw von Rotzenhaussen nicht hir ist, von 2 biß 8 gantz muttersallein bin undt keine lebendige creatur sehe alß meine hündtger, jedoch so felt mir die zeit nie gar lang finde allezeit waß zu thun undt zu schäffteln, so mir die zeit verteibt baldt schreibe ich, baldt leße ich, dan besehe ich meine medaillen ein ander mahl meine stein so gestochen sein, ein ander mahl sehe [ich] kupfferstück denen ich viel habe, aber man rufft mich zur taffel. An Luise, Versailles, 22.2.1710, HO, 2, 462, S. 163, 12.3.1715, HO, 2, 691, S. 528; Marly, 16.10.1710, HO, 2, 495, S. 207; St. Cloud, 29.5.1718, HO, 3, 919, S. 276, 3.9.1719, HO, 4, 1049, S. 229, 7.11. u. 9.11.1720, HO, 5, 1172, S. 326 u. 1173, S. 329, 11.9.1721, HO, 6, 1260, S. 220; Paris, 14.12.1720, HO, 5, 1183, S. 363, 20.2. u. 27.2.1721, HO, 6, 1203, S. 22 u. 1205, S. 27, 21.3. u. 28.3.1722, HO, 6, 1313, S. 352 u. 1315, S. 360. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, St. Cloud, 1.9. u. 22.11.1719, V, 37, S. 68 u. 38, S. 71. An Luise, Marly, 16.10.1710, HO, 2, 495, S. 207. Dies zeigt sich etwa in folgendem Brief, in dem E. Ch. die Briefe ihrer Tante mit den realen Begegnungen mit Étienne Polier gleichsetzt. An Luise, Marly, 26.7.1715, HO, 2, 717, S. 596: In allen andern verdrießlichen zeitten, so ich hir in großer menge gehabt, hatte ich ma tante brieffe, so mich gantz wider auffmunderten, ich hatte auch den gutten ehrlichen monsieur Polier, der mir viel trost gab; aber nun habe ich niemandts mehr, also nimbt meine trawerigkeit überhandt. Aus einem Brief an Sophie, Versailles, 22.3.1711,

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samkeit zuvorzukommen, besondere Bedeutung zukam.134 So meinte Elisabeth Charlotte etwa 1720, wen man betrübt ist – muß man ahn seine gutte freündt schreiben; Daß gibt distraction undt trost.135 Mehr noch als das Lesen der an sie gerichteten Briefe136 konnte das Schreiben Elisabeth Charlotte auf andere Gedanken bringen und somit die Melancholie vertreiben.137 Im Juni 1720 berichtete sie Luise über ihre alltägliche Handlungspraxis: ich kan kein augenblick sein, ohne waß zu thun; den nichts zu thun, macht mich melancolisch, muß endtweder leßen oder schreiben, sonsten kan ich nichts thun. Ich leße aber nicht so viel, alß ich schreibe; den ich habe nicht zeit genung zu leßen, den im schreiben kan man noch eher mitt den leütten reden, alß im leßen, undt daß muß ich immer thun. Also muß es Eüch nicht wundern, liebe Louise, wen ich offt überzwerg schreibe undt viel fehler in meinen brieffen sein, den es ist nicht außzusprechen, wie offt ich interompirt werde.138

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NLA-HStAH, XXI,1, 248v, vgl. B, 2, 751, S. 268 folgt, dass E. Ch. durchaus Briefe schrieb, wenn reale Gesprächspartner zugegen waren: Ich bin nie allein, made de Chasteautier undt die Rotzeheüsserin wen sie hir ist, seindt den gantzen tag beÿ mir schwetzen undt lachen offt, deßen E.L. offt in meinem schreiben gewahr werden können, den es macht mich offt überzwerg schreiben. S. auch An Luise, Marly, 27.7.1702, HO, 1, 178, S. 305–306: Da sitzt sie [Eleonore von Rathsamshausen] undt spindt seyden undt lacht über alles, waß ich schreibe. Vgl. zur Wirkung von Sophies Briefen im Kontext von Monsieurs Tod etwa An Luise, Marly, 24.6.1714, HO, 2, 652, S. 399–402. Vgl. zu E. Ch.s Briefverständnis 1.IV.4. Vgl. zu den Spazierfahrten in Geselligkeit, die C. R. v. Greiffenberg gegen die Melancholie unternahm, SIEBER, Attitüden, S. 249 sowie zu den gesprächstherapeutischen Maßnahmen bei Güntzer SIEBER, Leitbilder, S. 46. Vgl. aus E. Ch.s Sicht etwa auch An Luise, St. Cloud, 19.6.1718, HO, 3, 925, S. 295: Ich leße gern in Ewern brieffen, liebe Louisse, daß Ihr mitt gutter geselschafft spatziren fahrt; den daß vertreibt die trawerige gedancken undt melancoley, die gar ungesundt sein. An Luise, Marly, 26.7.1715, HO, 2, 717, S. 596; An Sophie, St. Cloud, 30.6.1691, NLA-HStAH, III,1, 166r, vgl. B, 1, 114, S. 134; An C. v. Wales, o.O., 31.3.1716, A, 1, S. 306. An C. F. v. Harling, Paris, 21.3.1720, H, 356, S. 601. Vgl. auch SEYBERT, Liselotte, S. 60; An Luise, St. Cloud, 13.8.1722, HO, 6, 1352, S. 448: Es ist mir leydt, daß Ihr so allein seydt; daß erweckt alle trawerige gedancken undt rührt daß miltz. An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, NLA-HStAH, I, 181v: undt wen mir die melancoleÿ zu hart zu setzt über laße ich mich E.L. wehrte schreiben, undt find ich mich alß dan viel leichter, undt ich versichere E.L. das mich E.L. gütte, undt beharliche affection gantz wieder zu recht gebracht hatt. Vgl. dazu ALBERT, ermite, S. 39; CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 50–51; FORSTER, Illness, S. 304, die das Schreiben und Lesen der Briefe E. Ch.s als „mental hygiene“ beschreibt. Auch für ihre Tante Sophie waren ihre Briefe wie ein stärkendes Heilmittel (cordial). An Sophie, Versailles, 17.11.1701, NLA-HStAH, XI, 2, 572v. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 12.10.1701, HO, 1, 140, S. 239: Ihr habt mir, liebe Amelisse, einen rechten gefallen gethan, mir alles zu schreiben, waß Ihr in der meß gesehen; daß gibt mir verenderung undt vertreibt die melancolische gedancken. Vgl. An Luise, Versailles, 31.12.1705, HO, 1, 286, S. 433; An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, St. Cloud, 20.7.1718 u. 11.10.1718, V, 28, S. 55 u. 31, S. 61; An Luise, St. Cloud, 17.8.1719, HO, 4, 1044, S. 208, 11.9.1721, HO, 6, 1260, S. 220. An Luise, St. Cloud, 20.6.1720, HO, 5, 1132, S. 179–180. Besuche und Treffen mit ‚realen‘ Personen empfand E. Ch. bisweilen als Störungen des Briefschreibens. Vgl. auch An Sophie, Colombes, 20.8.1693, NLA-HStAH, IV, 84v; An Luise, Paris, 14.11.1715, HO, 2, 744, S. 668 u. 13.3.1721, HO, 6, 1209, S. 41: Gott bewahre mich davor, meine corespondentzen abzubrechen! ich müste vor lange weill vergehen. Ich kan nicht leben, ohne gar nichts zu thun; arbeytten noch spinen kan ich ohnmöglich, allezeit plauderen were mir unerträglich undt würde mir mehr schaden, alß daß schreiben; allezeit leßen kan ich auch nicht, mein hirnkasten ist zu verwirdt, umb mich im leßen zu apliciren können; schreiben amussirt mich undt gibt meinen trauer[i]gen gedancken distraction. Zum Schreiben als Melancholie-Therapie vgl. etwa SCHNEIDERS, Diätetik, S. 42.

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In auffallend ähnlicher Weise wie ihre Tante Sophie zog Elisabeth Charlotte die Melancholie als Legitimation für das intensive Brief-Schreiben heran. Wir begegnen also denselben ambivalenten Konnotationen, schließlich versuchte Elisabeth Charlotte mit ihrem Schreiben einerseits der Melancholie zu entgehen, während andererseits das Narrativ von der Melancholie die bisweilen ausufernde Alltagspraxis erst rechtfertigte und somit ermöglichte. Elisabeth Charlottes Schreiben bewegt sich somit im Spannungsfeld von Melancholie-Therapie und, so ließe sich mit Karin Baumgartner zuspitzen, Selbstermächtigung als Autorin.139 Ihre persönlichen Bewertungen spiegeln in doppelter Weise die Janusköpfigkeit des zeitgenössischen Konzepts wider, indem sie die Melancholie nicht nur als göttliche Züchtigung und gleichzeitiges Zeichen seiner Nähe interpretierte, sondern ebenso als Krankheit, der zwar entgegengewirkt werden müsse, die aber auch eine Chance für neue persönliche Freiräume bot. Die Pflege der Korrespondenz war jedoch bei weitem nicht die einzige Handlungspraxis, mit der Elisabeth Charlotte in ihrem Alltag für Ablenkungen von Kummer, Langeweile und eintöniger Etikette sorgte.140 Vielmehr dokumentieren die Briefe gleichzeitig eine Vielzahl unterschiedlicher Beschäftigungen, denen Elisabeth Charlotte sich in ihrem Alltag gezielt zuwendete, um gegen ihre melancholischen Stimmungen vorzugehen. Besonders gut geeignet waren aus ihrer Sicht distractionen, bei denen man sich, wie beim Lesen141 oder beim Besuch der Komödie und der Oper,142 amüsieren konnte (divertisse-

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Vgl. BAUMGARTNER, Illness, S. 69: „Liselotte’s melancholia, I now want to suggest, can be read as the generative force for her creativity. Her letters demonstrate that melancholy is the very condition that makes possible the creation of Liselotte as an author.” Ebd., S. 70: „Melancholia served as justification to authorize and distribute an analysis of court life under the Sun King that focused almost entirely on Liselotte’s subjectivity.“ Vgl. in ähnlicher Weise CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 53. Zum erzwungenen Müßiggang als einem konstitutiven Faktor des höfischen Lebens im frz. Absolutismus vgl. LEPENIES, Melancholie, bes. S. 48–52; in Bezug auf Eliabeth Charlotte ALBERT, ermite, S. 28 u. 36. S. An Luise, Marly, 6.3.1699, HO, 1, 73, S. 125; An Sophie, St. Cloud, 27.9.1690, NLA-HStAH, III,1, 94r, vgl. B, 1, 106, S. 128; Versailles, 22.11.1692, ebd., III,2, 438r, vgl. B, 1, 153, S. 170 u. 7.3.1694, GWLB/NLB, 31r: ich habe auch dieße woche gejagt umb mein miltz ein wenig wider zu recht zu bringen, daß von der bludts langen weill, sehr geschwollen war. An Luise, St. Cloud, 26.5.1718, HO, 3, 918, S. 269–270, Paris, 21.12.1720, HO, 5, 1185, S. 370. Vgl. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, St. Cloud, 11.10.1718, V, 31, S. 61: wie fro würde Ich wen Ich erfahren könte daß dieße Lecture [gemeint ist Jacques Roergas de Serviez (1679–1727), ‚Les femmes des douze Césars‘ (1718)] der fraw gräffin Ihr Miltz Kranckheit erleichtert hette daß distractionen undt wer lachen konnte, gutt darzu ist daß ist gar gewiß. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 1.10.1719, H, 333, S. 552. Vgl. An Luise, Versailles, 3.4.1699, HO, 1, 76, S. 129; St. Cloud, 25.11.1718, HO, 3, 953, S. 391: drumb thue ich auch, waß ich kan, umb verenderung zu suchen, undt dieße ursach hatt mich gestern nach Paris in die comedie geführt undt wirdt mich noch biß donnerstag hinführen. Ich suche, wo ich kan, umb mir distractionen zu geben; es will aber nicht hafften, falle gleich wider in die trawerige reverie hinein. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 29.10.1719, H, 337, S. 560: Seines vettern kranckheit ist ziemblich opinaitre geweßen, den es ist ihm wie ein malancholie ahn gekommen. Der dockter – welches mein zweÿtter dockter ist undt auch gutt, so woll alß der erste, der hatt – ahn statt ihn weÿtter zu plagen – im ordonirt suchen sich zu divertiren – im opera – in den commedien – in lufft nehmen. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 12.10.1701, HO, 1, 140, S. 239; An Sophie, Fontainebleau, 17.9.1704, NLA-HStAH, XIV, 330r–330v, vgl. B, 2, 545, S. 86; An Luise, St. Cloud, 9.11.1719, HO, 4, 1068, S. 303, Paris, 23.3.1720, HO, 5, 1107, S. 96, St. Cloud, 19.9. u. 25.9.1720, HO, 5, 1158, S. 281 u. 1160, S. 288, 29.5.1721, HO, 6, 1231, S. 129.

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ment)143 – schließlich galt das Lachen als eine der wichtigsten Therapeutika gegen die Melancholie.144 Aber besonders körperlicher Betätigung schrieb Elisabeth Charlotte positive Einflüsse auf die Gesundheit zu.145 Gerade die Aufenthalte an frischer Luft bei der Jagd oder während ihrer zahllosen Spaziergänge146 trugen aus ihrer Sicht dazu bei, traurige Gedanken, Sorgen und Ängste zu vertreiben.147 So lang in die lufft kan fahren und bewegung haben – so ist meine gesundtheit allezeit in einem gutten standt,148 schrieb sie 1715 an Christian Friedrich von Harling. Ähnliche Auffassungen über die Wirkkraft von Bewegung an der frischen Luft für die Gesundheit hatte bereits Galen in seinen Schriften vertreten. Sie waren auch in der Frühen Neuzeit prominent und wurden etwa im Gymnastik-Diskurs seit dem 16. Jahrhundert aufgegriffen.149 Auch Elisabeth Charlottes Vater Karl Ludwig vertrat diese Ansichten. 1678 äußerte er sich gegenüber seinem Sohn Raugraf Karl Eduard besorgt, dass dieser 143

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Vgl. An Sophie, Versailles, 10.9.1690, NLA-HStAH, III,1, 81r, vgl. B, 1, 103, S. 125: Ich bitte E.L. thun mir doch die gnade undt schicken mir ein buch von dem teütschen opera so sie gesehen haben, den nun das heßliche wetter herbeÿ kompt, undt man gar keine divertissementen wegen der trawer hatt, mögte ich auffs wenigst gerne leßen, waß man anderwerts spilt, den die tage werden mir sehr lange, den ich habe kein gelt kan also nicht spiellen, derowegen finde ich offt lange stunden. Vgl. SCHMITZ, Physiologie, S. 143–49; SCHNEIDERS, Diätetik, S. 4–5. Vgl. zum Lachen als Melancholie-Therapeutikum in den Briefen E. Ch.s auch An Amalie Elisabeth, Marly 6.2.1699, HO, 1, 72, S. 121–122; An Luise, Versailles, 18.2.1697, HO, 1, 46, S. 77 u. 31.12.1705, HO, 1, 286, S. 433: aber wen man waß findt, daß von hertzen lachen macht, so findt sich doch daß miltz erleichtert. Gott gebe, daß es Euch offt geschehen möge, ursach zu finden, von hertzen zu lachen! An Sophie, Versailles, 28.2.1693, NLAHStAH, IV, 45v, vgl. B, 1, 161, S. 177. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 368, behauptet eine Nähe zur rabelaischen Komik bzw. Lachtheorie, für die sich jedoch kein direkter Quellenbeweis finden lässt. Vgl. ZEIDLER, Jagd, S. 212 u. 214; KNEBEL, Überlebensstrategie, S. 227; ALBERT, ermite, S. 23. Körperliche Bewegung war eine Komponente traditioneller Melancholie-Therapien. Vgl. SCHULTE, Melancholie, S. 33; WEBER, Kampf, S. 172. Vgl. zum Spazierengehen als Melancholie-Therapie An Sophie, St. Cloud, 14.9.1692, NLA-HStAH, III,2, 371r, vgl. B, 1, 145, S. 163, Paris, 6.11.1692, ebd., III,2, 423r 423v, vgl. B, 1, 151, S. 168; An A. K. v. Harling, Paris, 27.3.1694, H, 106, S. 221, Versailles, 8.4.1696, H, 126, S. 244; An Sophie, Versailles, 2.5.1697, NLA-HStAH, VII,1, 218r, vgl. B, 1, 288, S. 287; An Luise, Versailles, 10.2.1707, HO, 2, 347, S. 7, Marly, 26.7.1715, HO, 2, 717, S. 596, Versailles, 15.8.1715, HO, 2, 722, S. 608–611, St. Cloud, 19.9.1720, HO, 5, 1158, S. 281 u. 25.9.1720, HO, 5, 1160, S. 288; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 21.9. u. 9.10.1721, H, 427, S. 754–755 u. 431, S. 760–761. Vgl. auch FUNCKBRENTANO, Liselotte, S. 152. Vgl. etwa An Sophie, Versailles, 25.3.1694, NLA-HStAH, V, 2r; An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 12.10.1701, HO, 1, 140, S. 239; An Luise, Fontainebleau, 20.10.1714, HO, 2, 670, S. 465; An Luise, Marly, 26.7.1715, HO, 2, 717, S. 596, St. Cloud, 1.6.1720, HO, 5, 1127, S. 163; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 21.9.1721, H, 427, S. 755; An Sophie, Versailles, 5.3.1705, NLA-HStAH, XV,1 117r: Es ist nun so schön wetter, daß wen es zu hernhaussen so were wolte ich daß E.L. dort wehren, den die lufft dissipirt die threnen, undt daß spatziren ist gutt vor daß miltz, auch würde es E.L. vor die trawerige spectacle abziehen. An C. F. v. Harling, Versailles, 24.3.1715, H, 205, S. 345. Vgl. GLEYSE, Gymnastik, S. 130 u. 132; VIGARELLO, S’exercer, S. 280–281. E. Ch. ist somit keineswegs als „Vorläuferin moderner Bewegungstherapie“ zu betrachten, wie 2001 VOSS, Fürstin, S. 53 schrieb.

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bey Seiner letzt vorgenohmmenen cur sich nicht allerdings guten humeurs befindet, stehts im hauß bleibt, den leib nicht exerciret, noch das gemüth mit spatzieren gehen oder gesellschafft erlustiget, sondern die zeit fast nur mit leßen hinbringt, welches zwar ein löblich- und angenehmer zeitvertreib ist, selbiger je zu weilen sich zu bedienen, zu viel aber und zu lang darüber zu sitzen, verderbt die gesundheit und macht schwehrmüthig, welches dann ohne zweifel der cur keinen vortheil bringen kan, zumahln die jetzige sommers-lufft der balsam des lebens gehalten wird.150

Körperliche Bewegung sollte jedoch nicht allein für die notwendigen Ablenkungen von melancholischen Stimmungen sorgen – vielmehr erschien Bewegung zentralen physiologischen Vorstellungen zufolge als Mittel der Wahl in der Melancholie-Behandlung. Die Therapie zielte dem zeitgenössischen Körperverständnis folgend darauf ab, die schwarze Galle, die als Krankheitsstoff für die körperlich-seelisch gelagerte Symptomatik verantwortlich gemacht wurde, aus dem Körper des Patienten auszutreiben.151 Dass dies bei melancholischen Krankheiten für unerlässlich gehalten wurde, zeigt sich etwa auch an Elisabeth Charlottes Haltung gegenüber dem Durchfall, den sie bisweilen als willkommene Möglichkeit zur Reinigung des Körpers von den angesammelten melancholischen Säften ansah.152 Auch die dem Spazierengehen153 und der Jagd zugeschriebene Wirkung bestand darin, dass die von schwarzer Galle gefüllte Milz durch starke Bewegungen ‚geschüttelt‘ und dadurch entleert würde.154 Es ist nicht gar schlim, ein wenig gezwungen sein, zu raßen [zu rennen]; den daß schüdelt daß miltz, macht schwitzen undt vertreibt dadurch die bößen humoren undt verhindert, kranck zu werden155 , so die überzeugte Elisabeth Charlotte 1699. Die Entleerung der Milz und das gleichzeitige Schwitzen bewirkten also eine umfassende Reinigung des Körpers von der schwarzen Galle, die für die Erhaltung bzw. Herstellung der Gesundheit geboten schien.156 Bewegung konnte somit, Elisabeth Charlotte zufolge, das als schmerzhaft empfundene blähen, stechen und grimmen157 der Milz genauso verhin150 151

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Karl Ludwig an Karl Eduard, Friedrichsburg, 18.6.1678, in: HOLLAND (Hg.), SK, 333, S. 319. Vgl. SCHIPPERGES, Melancholie, S. 966. Vgl. zur Meinung von E. Ch.s Ärzten über die Notwendigkeit der Entleerung An Luise, 5.11.1722, HO, 6, 1370, S. 475. An Luise, Versailles, 27.1.1710, HO, 2, 344, S. 3; An Étienne Polier, o.O., 3.6.1711, VdC, Lf, 574, S. 476; An A. K. v. Harling, Marly, 7.1.1700, H, 163, S. 294–296. Ähnliche Vorstellungen lagen wohl auch dem Wunsch zu Grunde, den E. Ch. am 20.11.1718 gegenüber J.-S. v. SchaumburgLippe, St. Cloud V, 30, S. 58–60 aussprach, die See kranckheit bei der Überfahrt des Ärmelkanals möge Ihr Miltz lehren. An Luise, Versailles, 10.2.1707, HO, 2, 347, S. 7: Mein miltz plagt mich noch etlich mahl, aber so baldt ich spatziren gehe, wirdt es wider gutt. An Sophie, Versailles, 27.11.1695, NLA-HStAH, V, 292v–293r, vgl. B, 1, 223, S. 229. Vgl. FORSTER, Illness, S. 303. Vgl. etwa An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, St. Cloud, 19.5.1718, V, 25, S. 47; An Sophie, Marly, 13.11.1710, NLA-HStAH, XX,2, 1021r. An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 24.7.1699, HO, 1, 91, S. 164. Vgl. ebenso An Amalie Elisabeth, Marly, 25.4.1705, HO, 1, 244, S. 391; An Luise, Fontainebleau, 14.10.1705, HO, 1, 272, S. 417; An Sophie, Paris, 6.11.1692, NLA-HStAH, III,1, 423v, vgl. B, 1, 151, S. 168. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 60. Neben diätetischen Maßnahmen wurde die Austreibung der materia peccans schon in den Schriften von Constantinus Africanus (1017–1087) empfohlen. Vgl. SCHIPPERGES, Melancholie, S. 966–967. Vgl. auch die Melancholie-Therapie Ernst Eberhard v. Harlings am frz. Hof An C. F. v. Harling, St. Cloud, 29.10.1719, H, 337, S. 560. An Luise, Fontainebleau, 14.10.1705, HO, 1, 272, S. 417; An A. K. v. Harling, Paris, 27.3.1694, H, 106, S. 221: den wen ich nicht jage – spatziren gehe oder in die rechte lufft kan – thut mir das miltz wehe, sticht mich in die seÿtte undt macht mir kopffwehe. An Sophie, Marly, 7.1.1700, NLA-HStAH, X, 12r. Vgl. auch

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dern, wie dass sich die Humoren von der Milz übergoßen und im Körper weiter ausbreiteten.158 Auch die Schriften zur Gymnastik aus dem 16. Jahrhundert schätzten den Gesundheitseffekt der wärmeerzeugenden Exerzitien ähnlich hoch ein: Körperliche Bewegung sei ein ‚natürliches‘ Laxans ohne die sonstigen Unannehmlichkeiten des Abführens und trage zu einer gesunden Komplexion des Körpers bei.159 Insbesondere bei hypochondrischer Melancholie, so glaubte man, führe das Schütteln zum gewünschten Erfolg.160 Konnte sie sich nicht im notwendigen Maße Bewegung verschaffen und somit die Entleerung der Milz bzw. Reinigung des Körpers nicht oder nur in ungenügendem Maße stattfinden, traten folgerichtig die verschiedenen melancholischen Beschwerden auf, so war sich Elisabeth Charlotte sicher.161 Beispielsweise während ihrer ersten Schwangerschaft, bei der sie viel liegen musste, meinte Elisabeth Charlotte, die erzwungene Ruhe führe zur Melancholie.162 Auch als sie sich im Januar 1706 den Fuß verletzt hatte, war sie sich sicher, dass ihrer Milz das stette(n) sitzen163 gar nicht wohl täte. Auch wenn anhaltend schlechtes Wetter Elisabeth Charlotte vom Spazieren oder Jagen abhielt, kehrten die Beschwerden im vollen Umfang zurück: Mein miltz wollte woll wider ein wenig ahnfangen, mich zu plagen, weillen ich wegen daß schlime wetter lang habe einsitzen müssen undt kein excercitzien gethan, aber die zwey hirschjagten, so wir hir gethan, alß nehmblich vorgestern undt heütte, haben mich gantz wider zurecht gebracht..164

Von alternativen Behandlungskonzepten zeigte Elisabeth Charlotte sich wenig überzeugt. So meinte sie etwa 1705, dass ihr das Kapernöl, womit man die Bauchgegend um die Milz einrieb, um Verhärtungen zu lösen,165 nichts geholfen habe und resümierte: die bewe-

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An Luise, Versailles, 12.3.1698, HO, 1, 57, S. 100, 3.4.1699, HO, 1, 76, S. 129, 27.1.1710, HO, 2, 344, S. 3, Marly, 9.6.1712, HO, 2, 550, S. 277 u. 9.8.1714, HO, 2, 658, S. 419, Fontainebleau, 1.9.1714, HO, 2, 661, S. 433, St. Cloud, 13.6.1720, HO, 5, 1130, S. 169. An Sophie, Versailles, 25.12.1698, GWLB/NLB, 64v, vgl. B, 1, 365, S. 351. Vgl. GLEYSE, Gymnastik, S. 131–132. So z.B. in Jérôme de Monteux de Méribels (1530–1606) ‚Commentaire de la conservation de la santé et de la prolongation de la vie’ (1559). Vgl. auch An Étienne Polier, Fontainebleau, 17.10.1699, VdC, Lf, 131, S. 60: je m’y porte à merveille et je fais des très belles chasses qui me font bien du bien et me purgent de la bile comme une médecine. Vgl. STAROBINSKI, Geschichte, S. 15–16, 20, 29, 41 u. 45; ALBERT, ermite, S. 24, Anm. 24 mit Bezug auf den englischen Arzt Th. Sydenham (1682). Vgl. An Luise, Versailles, 18.1.1710, HO, 2, 457, S. 155; ALBERT, ermite, S. 24. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 30.5.1676, H, 43, S. 132. An Luise, Versailles, 14.1.1706, HO, 1, 288, S. 435: Es ist war, liebe Louise, daß sich mein miltz gar nicht woll von dem stetten sitzen befindt undt mich zimblich nachdenckisch macht. Kopffschmertzen habe ich selten, aber gar offt miltzwehe. Vor etlichen tagen war mein miltz so dick, daß man meinen solte, ich bette ein kindtskopff in der seytte; hatt mich ahm schlaff gehindert. S. auch ALBERT, ermite, S. 20–21. An Luise, Marly, 14.11.1709, HO, 2, 452, S. 149. Vgl. An Amalie Elisabeth, Versailles, 12.12.1698, HO, 1, 70, S. 120; An Luise, Versailles, 18.2.1697, HO, 1, 46, S. 77, 9.12. u. 31.12.1705, HO, 1, 282, S. 428 u. 286, S. 433: Mein miltz entpfindts woll, daß ich kein exercitzien thun kan; mitt dem schlimen wetter rast es, alß wens unsinig were. Vgl. Art. Capern-Oel, in: Zedlers Universallexikon, Bd. 5, Sp. 631. Dem Artikel folgend heilt das Öl die harten und scirrhoesen Geschwulsten der Miltz und derselben Verstopfungen. (…) Es ist herrlich wieder alle Verstoffungen derer Hypochondriorum, wenn man es damit salbet, benimmet die Härte der Milz und Leber, und zertheilet die Blehungen.

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gung allein bekompt mir woll.166 Spazierengehen und Jagen waren also zu einer gesundheitlichen Notwendigkeit für Elisabeth Charlotte geworden.167 Ihr Vertrauen in die Bewegung, die ein souverain medicin vor daß miltz sei, ging sogar so weit, dass sie 1711 äußerte, sie wäre lengst todt, wenn sie nicht so offt gejagt hette.168 Auch wenn die Bewegung gelegentlich nicht dafür sorgte, dass die melancholischen Beschwerden vollkommen verschwanden und auch einmal Zweifel aufkamen,169 war Elisabeth Charlotte sich sicher, es wer noch ärger170 ohne die regelmäßigen Leibesübungen. Resümierend erhob sie im April 1696, als sie sich nach einer insgesamt sechsstündigen Jagd gar woll befunden hatte, die Maxime: Es ist gewiß – daß nichts beßers vor die gesundtheit ist.171 Erst als Körperfülle und Altersbeschwerden zunahmen172 und Elisabeth Charlotte nur noch eingeschränkt, zeitweise überhaupt nicht mehr in der Lage war, spazieren zu gehen oder gar zu jagen, sah sie sich gezwungen, dauerhaft nach Alternativen zu suchen.173 So fern es ihr möglich war, fuhr sie mit der Kutsche aus.174 Die von außen zugefügte Bewegung in der Kutsche (einer Sänfte oder auch während einer Schifffahrt) war jedoch nur ein ‚Tropfen auf den heißen Stein‘ und den selbst verursachten Bewegungen in den Gymnastik-Schriften des 16. Jahrhunderts klar untergeordnet.175 166 167

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An Luise, Versailles, 31.12.1705, HO, 1, 286, S. 433; vgl. ALBERT, ermite, S. 25. Vgl. An Luise, Versailles, 3.4.1699, HO, 1, 76, S. 129: Die jagt ist jetzt die zeitvertreib nicht, so ich ahm meisten liebe, sondern die comedien. Auff der jagt gehe ich nunmehr nur wegen meiner gesundtheit; den wen ich keine starcke bewegung habe, so habe ich abscheüliche miltzschmertzen. Zu anderen Bedeutungszuschreibungen an die Jagd s. 3.II. An Luise, Marly, 10.1.1711, HO, 2, 508, S. 226. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 7.3.1707, VdC, Lf, 334, S. 335; An Luise, St. Cloud, 25.6.1695, HO, 1, 20, S. 35 u. 29.5.1718, HO, 3, 919, S. 276; ALBERT, ermite, S. 23. Vgl. An Luise, Versailles, 17.6.1702, HO, 1, 172, S. 292–293: Konnte ich mein miltz so woll vor melancolie bewahren, alß mein magen von zu viellen speyßen, würde ich gesunder sein, alß ich bin. Vgl. zur Interpretation dieser Passage ALBERT, ermite, S. 25. An Sophie, 28.2.1693, NLA-HStAH, IV, 45r, vgl. B, 1, 161, S. 177. An A. K. v. Harling, 15.4.1696, H, 127, S. 246. Vgl. auch An Luise, Paris, 14.5.1695, HO, 1, 18, S. 33, St. Cloud, 25.6.1695, HO, 1, 20, S. 35. Gelenkbeschwerden und ihre zunehmende Körperfülle ließen die Bewegung kaum mehr zu. Vgl. etwa An Sophie, 24.4.1712, NLA-HStAH, XXII,1, 281r, vgl. B, 2, 795, S. 313; An Luise, 19.5.1720, HO, 5, 1123, S. 148–149. Grundsätzlich verknüpfte aber auch E. Ch. Alter und Melancholie, vgl. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 30.5.1676, H, 43, S. 131; An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, St. Cloud, 20.7.1718, V, 28, S. 55. Es gab allerdings auch vorher schon Phasen, in denen E. Ch. nicht regelmäßig jagen konnte, weil sie keine eigene Equipage besaß und deswegen darauf angewiesen war, mit dem König oder Monseigneur gemeinsam zur Jagd zu gehen. Vgl. An Luise, Versailles, 22.2.1710, HO, 2, 462, S. 163–164; An Sophie, 27.9.1690, NLA-HStAH, III,1, 94r, vgl. B, 1, 106, S. 128: Ich glaube daß meine unpaßlichkeit [ein Fieber] mir gekommen, weillen ich gewont bin alle andere jahre, in dießer zeit sehr offt zu jagen, undt gar violent excercitzien zu thun, undt nun mons. le dauphin nicht hir ist, jage ich nur alle 3 wochen ein mahl, womitt sich mein miltz nicht genung behelffen will, in der kutsch zu fahren schüttelt mir das miltz nicht genung, umb alle humoren herauß zu preßen, so mir die lange weille gibt. Vgl. An Luise, Versailles, 9.12.1705, HO, 1, 282, S. 428; zum Genießen der frischen Luft während der Kutschfahrten z.B. An Luise, St. Cloud, 15.5.1718, HO, 3, 915, S. 260. Vgl. GLEYSE, Gymnastik, S. 130. Die Einteilung in selbst verursachte und von außen zugefügte körperliche Bewegung findet sich bspw. in Jérôme de Monteux de Méribels Schrift ‚Commentaire de la conservation de la santé et de la prolongation de la vie‘.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

Elisabeth Charlotte äußert sich über die Kutschfahrten in einem ähnlichen Sinne: In kutschen fahren kan mich nicht erhitzen, die ich gewohnt bin dreysich jahr lang, zu pferdt undt 10 jahr in caleschen176 den hirsch undt wolff zu jagen; also ist mir daß kutschenfahren, alß wen ich in einem bette lege. Meine kutschen seindt alle wie ein schiff so sanmfft; den sie seindt alle a resort [gefedert].177

Dass Elisabeth Charlottes Korrespondenz der späten Jahre von Klagen über die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit durchzogen ist,178 zeigt, wie schmerzlich es sein konnte, wenn die Ausführung einer lebenslang gewohnten Körperpraxis nicht mehr möglich war.179 Elisabeth Charlotte neigte in der Beschreibung dieses Umstands bisweilen sogar dazu, Vokabeln wie mortification180 oder todt181 heranzuziehen. Gleichzeitig sind in ihrer Korrespondenz immer wieder auch Aussagen zu finden, mit denen sie ihre Briefpartner_innen und womöglich vor allem sich selbst glauben machen wollte, sie verschwende kaum noch einen Gedanken an die Jagd. So schrieb sie etwa im Oktober 1719 betont nüchtern: Nach [dem] ich 30 jahr zu pferdt undt 10 jahr in caleschen gejagt, habe ich dießem handtwerck gutte nacht gesagt, dencke nicht mehr dran, alß [ob] ich mein leben nicht gejagt.182

Etwa seit dem Jahr 1711 begann Elisabeth Charlotte jedoch, ärztlich-medikamentöse Behandlungen sukzessive zuzulassen. Sie zeigte sich überzeugt, dass nun keine andere Methode mehr bleibe,183 um die notwendige Reinigung des Körpers von den schwarzgalligen Säften zu bewirken und somit die Milzkrankheit erfolgreich zu therapieren. In Ein176

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Etwa seit 1701 jagte E. Ch. offenbar nicht mehr zu Pferd. Vgl. An Amalie Elisabeth, Marly, 25.4.1705, HO, 1, 244, S. 391: Es ist lenger, alß 4 jahr, daß ich nicht mehr zu pferdt jage, sondern fahre, wie der könig, in kleinen caleschen mitt 4 pferdten, die gar geschwindt renen; man sieht oder hört die jagt immer; es schudelt daß miltz braff. Vgl. An Luise, St. Cloud, 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 183: ich habe 30 jähr zu pferdt undt 10 jähr in caleschen gejagt. So lang Monsieur s. gelebt, habe ich geritten undt seyder deß königs todt alles, waß jagten heist, abgesagt. An Étienne Polier, o.O., 7.3.1707, VdC, Lf, 334, S. 335. An Luise, St. Cloud, 4.6.1719, HO, 4, 1024, S. 136; vgl. Paris, 15.10.1715, HO, 2, 734, S. 649. Vgl. An Luise, St. Cloud, 1.6.1719, HO, 4, 1023, S. 131: bin, gott sey danck, woll, nur aber die stärckste nicht, den gestern wolte ich zu fuß im bois de Boulogne spatziren, ging kaum ein stündtgen, da wurde ich so müdt, daß ich wider in kutsch sitzen muste. Daß kompt mir gantz betrübt vor; den vor dießem ging in 5 stundt, ohne zu sitzen undt ohne mühde zu werden. An C. F. v. Harling, 1.8.1720, H, 373, S. 644–645, An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, V, 25, 20.5.1718, S. 46; An Sophie, 19.6.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 415v, vgl. B, 2, 800, S. 317: gestern ging ich wie will mitt mühe eine halbe stundt morgendts spatziren undt nahe bey einer stundt deß abendts, weitter kamme ich nicht meine heÿdelbegrische sprüng seindt lengst vorbeÿ alle berge dort herumb bin ich alle geklettert außer den Königssthuhl, da bin ich nie auff geweßen. Vgl. GLEYSE, Gymnastik, S. 135. Die Verankerung solch einer ‚lebenslangen Gewohnheit‘ bezeichnet Gleyse auch als Ziel der Gymnastik-Schriften des 16. Jhd.s. Vgl. An Luise, Versailles, 4.12.1710, HO, 2, 501, S. 217: ich glaub, daß, je weniger man gehen kan, je mehr mögte man gehen wollen, habe also eine rechte mortification, daß so gar schönnen frühlingswetter zu sehen, ohne spatziren zu gehen können. An Luise, St. Cloud, 19.5.1720, HO, 5, 1123, S. 148–149. An Luise, St. Cloud, 1.8.1720, HO, 5, 1144, S. 220–221: Ich finde die leütte glücklich, so noch gehen können. Wen ich eine stunde gangen, kan ich ohnmöglich weytter; daß macht mich trawerig, ist wie ein todt. An Görtz, St. Cloud, 26.10.1719, K, 12, S. 72. Vgl. auch 3.II.2. Diese Haltung scheint wiederum auf paracelsische Lehren zurückzugehen, die künstliche Entleerungen in der Melancholie-Therapie ablehnten. Vgl. SCHIPPERGES, Melancholie, S. 966–967. S. auch 4.II.2.

DAS MELANCHOLISCHE SELBST ERZÄHLEN

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zelfällen hatte sie auch schon zuvor Purgationen über sich ergehen lassen, um die melancholischen Säfte aus dem Körper auszutreiben. So etwa auch im März 1698, als sie an sehr starken, kolikartigen Milzschmerzen litt. Typisch für Elisabeth Charlottes medikale Haltung war jedoch, dass sie zunächst möglichst auf ärztliche Ordonanzen verzichtete. Stattdessen nahm sie eine Abführessenz ein, die ihr Étienne Polier, ihr nunmehr in Paris ansässiger früherer Stallmeister, empfohlen und zugesandt hatte.184 Nach der Entleerung mit lauter grüne[r] Galle sei sie vollständig genesen, so schrieb sie überzeugt von der Wirksamkeit der künstlich herbeigeführten Purgation.185 In den nächsten Jahren häufen sich in der Korrespondenz die Berichte von zu viel Galle, die verschiedenste Krankheitssymptome von Erschöpfung, Appetit- und Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen über Husten und Schnupfen bis hin zu Fieber auslöste.186 Nach den nun fast ausschließlich ärztlich verordneten Austreibungen gelber, grüner und bisweilen auch schwarzer Galle187 fühlte Elisabeth Charlotte sich ihren Aussagen zufolge besser und erleichtert.188 1709 fasste sie im Einklang mit den ärztlichen Erklärungen zusammen: Wen mein miltz sich zu starck mitt galle gefült hatt, muß ichs wider lehren, oder ich werde kranck.189 Auch wenn ihre generelle Abneigung gegen die ausleitenden Behandlungsverfahren wie Aderlass und Purgation (2.II.1 u. 2) noch in zahlreichen Aussagen präsent ist und deren Anwendung selbst zur Verstärkung der Melancholie führen konnte,190 finden sich nun vermehrt positive Bewertungen dieser Eingriffe.191 Auch ihre Einstellung zu den Kapern, die sie 1705 noch abgelehnt hatte, änderte Elisabeth Charlotte in späteren Jahren. 1720 und 1721 war sie von der 184

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An Luise, Versailles, 12.3.1698, HO, 1, 57, S. 100: Es ist war, daß ich zu Paris gar übel geweßen ahn einer miltzcoliq, welche gar starck wäre; monsr Polier aber, den Ihr woll kent, hatt mir eine essence eingeben, so mich unten undt über sich hatt gehen machen eine gantz grüne galle; dadurch bin ich gantz geneßen. In diesem Zeitraum sind keine Briefe an Polier überliefert; erwähnt wird das Mittel jedoch in einem Brief vom Februar 1702, allerdings ohne Spezifikation der Ingredienzen. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 6.2.1703, VdC, Lf, 186, S. 242–243: Je me souviens fort bien du remède que vous m’aviez donné contre le mal de rate, mais elle n’est pas enflée et me fait mal dessous le côtes. In ähnlicher Weise etwa auch An C. F. v. Harling, Paris, 2.4.1721, H, 398, S. 691. Vgl. auch ALBERT, ermite, S. 24; zur Vorstellung, dass die Galle ursächlich für die Schmerzen sei, An Luise, Paris, 20.3.1718, HO, 3, 899, S. 211. Vgl. An Luise, St. Cloud, 1.9.1716, HO, 3, 785, S. 35, 15.5.1718, HO, 3, 915, S. 260, 3.9.1719, HO, 4, 1049, S. 229; Paris, 10.4.1718, HO, 3, 905, S. 232, 8.12.1718, HO, 3, 974, S. 462; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 17.9.1721, H, 426, S. 752–754, Paris, 4.1.1722, H, 441, S. 774. Vgl. An Luise, Versailles, 12.3.1698, HO, 1, 57, S. 100, Paris, 8.12.1718, HO, 3, 974, S. 462, 10.4.1721, HO, 6, 1217, S. 72. St. Cloud, 19.10.1719, HO, 4, 1062, S. 274, 6.9. u. 30.10.1721, HO, 6, 1259, S. 215 u. 1274, S. 258, 20.6.1722, HO, 6, 1337, S. 418. Vgl. z.B. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 17.9.1721, H, 426, S. 752–754: Die ursach von meinem fieber war eine scharfe – brennete galle. So baldt man mir die außgetrieben – bin ich wider frisch undt gesundt worden, wie dießen winter, so bin ich auch nicht so lang kranck geblieben. An Luise, St. Cloud, 9.11.1719, HO, 4, 1068, S. 302. Vgl. auch ebd. 6.9. u. 30.10.1721, HO, 6, 1259, S. 215 u. 1274, S. 258; Paris, 12.3.1722, HO, 6, 1310, S. 340. Vgl. z.B. An Luise, Versailles, 29.1.1713, HO, 2, 571, S. 300: Ich bin alles daß brauchen unerhört müde, wie leicht zu glauben ist; es verleydt mir daß leben undt macht mich gantz melancolisch. St. Cloud, 15.5.1718, HO, 3, 915, S. 260. Vgl. z.B. An Luise, Paris, 10.4.1718, HO, 3, 905, S. 232: Ich muß woll von nöhten gehabt haben, purgirt zu werden. St. Cloud, 10.8. u. 13.8.1719, HO, 4, 1042, S. 201 u. 1043, S. 205, 24.8.1719, HO, 4, 1046, S. 214: Waß mir den husten geben, war lautter galle; den so baldt mich der grüne safft die galle außgetrieben, bin ich wider gantz gesundt worden. 27.8.1719, HO, 4, 1047, S. 217, 9.11.1719, HO, 4, 1068, S. 302.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

Wirkung dieses geringen remedes192 so überzeugt, dass sie dem in braunschweiglüneburgischen Diensten stehenden Sekretär und Librettisten Ortensio Mauro193 über Herrn von Harling ausrichten ließ, er solle kapern essen, um sein mal de ratte loszuwerden.194 Aus dem biographisch bedingten Wechsel der humoralen Disposition zur Melancholie resultierten also sowohl modifizierte Bedeutungszuschreibungen an Praktiken, beispielsweise im Wandel der Bewertung der Jagd von der rechte[n] lust vor ein rauschenblattenknecht195 zur gesundheitlichen Notwendigkeit,196 als auch (altersbedingte) Veränderungen in der Anwendung konkreter medikaler Alltagspraktiken. Die Selbstpositionierung als Melancholikerin erlaubte Elisabeth Charlotte, wesentliche biographische Wandlungsprozesse zu thematisieren, zu reflektieren und zu verarbeiten. Indem sie sich als melancholisch bezeichnete, eignete sie sich einen zentralen zeitgenössischen Wissensbestand an und machte diesen für sich nutzbar. Der Melancholiediskurs stellte dabei Deutungswissen für die Interpretation von biographischen Ereignissen und leiblich-emotionalen Reaktionen bereit, welches dem Sprechen über Lebens- und Leidenserfahrungen einen kollektiv akzeptierten Rahmen gab und dieses somit überhaupt erst ermöglichte. Mit der diskursiven Positionierung als melancholisch erlangte man erst die Legitimation, solchen Reflexionen über Leib, Selbst und Umwelt sprechend bzw. schreibend nachzugehen. Elisabeth Charlottes Schreiben über die Melancholie ist also auch als Erschreiben eines Subjektstatus zu verstehen, im Zuge dessen das Selbst – wie gesehen auch das weibliche Selbst – den Anspruch formulieren konnte, sich als solches zu begreifen und wahrgenommen zu werden. Dabei sind es die alltäglichen körperlichen Praktiken, die Elisabeth Charlotte gegenüber ihrem Umfeld immer wieder als Melancholikerin ausweisen. In der Praxis, allen voran mit dem Schreiben, das Therapie wie Dokumentation dieser Bemühungen ist, aber auch mit anderen Alltagsbeschäftigungen wie der körperlichen Bewegung gelang es Elisabeth Charlotte, sich selbst auch in ihrem sozialen Umfeld zu verorten. Dabei waren mit der Selbstbezeichnung durchaus ambivalente Zugehörigkeiten verbunden, schließlich hatte die Melancholie einerseits leibliche Spuren ihres Französisch-geworden-Seins hinterlassen, ihre alltagspraktische Abwehr jedoch ließ sich auch als ein Erfüllen familiärer Erwartungen interpretieren und konnte somit zur steten Vergewisserung der eigenen Zugehörigkeit werden.

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An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.10.1721, H, 433, S. 763: grüßt Sigr Ortence undt sagt ihm meinetwegen – er solle kapern essen. Daß ist gutt vor dass miltz undt nicht unahngenehm mitt fleisch zu essen; Es were mir lieb – wen ihm dieß geringe remede soulagiren konnte. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, 97, S. 209, Anm. 1. Vgl. An C. F. v. Harling, Paris, 8.12.1720, H, 391, S. 679: Ich bin fro – daß mein ahndencken den gutten Sigr Ortance ahn genehm geweßen. Ich jnteressire allezeit vor meine alte bekanten; Ich habe ein remede vor le mal de ratte zu St Clou gelaßen; Ich will es suchen laßen undt ahn Monsr Harling schicken. Es würde mich frewen – wen es dem gutten man woll bekommen mögte. Vgl. auch St. Cloud, 25.6. u. 16.7.1722, H, 466, S. 809 u. 468, S. 812–813; An Étienne Polier, Versailles, 6.2.1703, VdC, Lf, 186, S. 242–243: J’ai mange des câpres de genet [vermutlich Ginster-Knospen] qu’on dit être fort bonnes pour la rate. An Sophie, Versailles, 4.11.1677, NLA-HStAH, I, 88v, vgl. B, 1, 15, S. 16. An Luise, Versailles, 3.4.1699, HO, 1, 76, S. 129.

DAS TEÜTSCHE SELBST ERZÄHLEN

II.

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Das ‚teütsche‘ Selbst erzählen

In der älteren Forschung hat insbesondere die nationsbezogene Rhetorik in Elisabeth Charlottes Briefen starke Aufmerksamkeit erfahren. Die folgenden Analysen fragen daher, wie Elisabeth Charlotte auf ihre alltäglichen Praktiken und diesen entsprechenden leiblichen Empfindungen rekurrierte, um die Zugehörigkeit zur teütschen Nation zu imaginieren und für sich selbst und ihre Briefpartner_innen glaubhaft zu verkörpern. Im Fokus steht also die Bedeutung der Nation im Sinne einer„imagined community“1, der Elisabeth Charlotte in ihren Briefen sozialen Sinn zuschrieb und in der sie sich brieflich positionierte. 2 Zu fragen ist, welche Rolle eine Nation,3 die wie die teütsche in der Frühen Neuzeit ohne ein klar definierbares politisch-räumliches Äquivalent existierte, in Prozessen der Selbstpositionierung in Elisabeth Charlottes Briefen spielte und wie sie sie erzählend erinnerte und dabei imaginierend konstruierte.4 1

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Diese begriffliche Konzeption geht auf den amerikanischen Politologen Benedict ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2005, S. 14–17 zurück. Ähnliche Ansätze eines Nationsbegriffs als „gedachte Ordnung“ finden sich bereits bei dem Soziologen Emerich FRANCIS, Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens, München 1957, S. 100–106. S. auch Mario Rainer LEPSIUS, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: Heinrich August WINKLER (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute (GG, Sonderheft 8), Göttingen 1982, S. 12–27, hier 13, der Nation als „gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als Einheit bestimmt“, definiert. Obwohl Anderson sich auf den Kontext des 19. und 20. Jhd.s bezieht, wurde der Begriff wegen seiner Offenheit auch in Studien zur Vormoderne aufgegriffen. S. etwa Herfried MÜNKLER u. Hans GRÜNBERGER, Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten, in: Helmut BERDING (Hg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt a.M., 1994, S. 211–249, hier 217–218. u. 248; Georg SCHMIDT, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, S. 29–30. ‚Nation‘ gilt in der historischen Forschung als problematischer Begriff. Dies resultiert aus einem Begriffsverständnis, das Nation und Staat als einen territorial abgrenzbaren, politischen Verband, weitgehend gleichsetzt. Da sich Nationen erst im Kontext der Staatsbildung zu einer als ‚geschichtsmächtig‘ angesehenen Realität entwickelten, so die Annahme, wurde der Begriff ‚Nation‘ vor allem in der Historiographie des 19. und 20. Jhd.s in diesem Sinne überformt. Diese historische Begriffskonnotation liegt allzuoft auch dem Verständnis von ‚Nation‘ als wissenschaftlicher Analysekategorie zu Grunde. Zu den Diskussionen zum Nationenbegriff vgl. Dieter LANGEWIESCHE, ‚Nation‘, ‚Nationalismus‘, ‚Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: Dieter LANGEWIESCHE u. Georg SCHMIDT (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum ersten Weltkrieg, München 2000, S. 9–30, hier 17 u. 27: „Zwischen Staatsbildung und Nationsbildung zu trennen, fällt auch der jüngeren Forschung, die sich von den alten nationalen Ursprungsmythen gelöst hat, sehr schwer.“ Vgl. auch MÜNKLER u. GRÜNBERGER, Identität, S. 211; Georg SCHMIDT, Teutsche Kriege. Nationale und integrative Wertvorstellungen im frühneuzeitlichen Reich, in: Dieter LANGEWIESCHE u. ders. (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum ersten Weltkrieg, München 2000, S. 33–61; aus Sicht gegenwartsbezogener Forschungen Kerstin HEIN, Hybride Identitäten. Bastelbiografien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa, Bielefeld 2006, S. 58. Vgl. zu dieser Fragestellung Gisela ENGEL, Einleitung, in: Ulrich BIELEFELD u. dies. (Hg.), Bilder der Nation. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäischen Moderne, Hamburg 1998, S. 10–39, hier 15: „Die Re-Konstruktion von Gemeinschaft als ‚Nation‘

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

Als Fokus der Analyse bieten sich dabei die Alltagspraktiken des Essens und Trinkens an, denn ihnen kommt, so betonen diverse körpersoziologische Studien, in Prozessen der Kulturbegegnung eine besondere Bedeutung zu.5 Mit ihrer Symbolik des SichEinverleibens scheinen sie nicht nur eine Notwendigkeit zur bloßen Lebenserhaltung, sondern vielmehr privilegierter Gradmesser für Wahrnehmungen von Eigenem und Fremdem zu sein. Personen und Personengruppen identifizieren sich selbst offenbar in hohem Maße mit dem, was sie essen und trinken, und der Art und Weise, wie sie dies tun. Mehr oder weniger bewusst werden mit und über die alltäglichen Praktiken des Essens und Trinkens Zugehörigkeiten und Abgrenzungen artikuliert und markiert.6 Im Folgenden wird zunächst Elisabeth Charlottes alltagspraktischer Umgang mit und ihre Haltung zu den sogenannten Modegetränken Kaffee, Tee und Schokolade als diskursive Positionierungspraktik analysiert (1.), bevor im zweiten Abschnitt stärker konturiert wird, wie Elisabeth Charlotte im Schreiben über Essen und Trinken ein kontinuierliches, aber gleichzeitig dynamisches Selbst imaginierte (2.).

1. auf dem alten Schlag : Neue Heißgetränke alamode-kritisch betrachtet 7

Angeregt durch die europäische Expansion kamen insbesondere im Laufe des 17. Jahrhunderts zahlreiche Alltagsgüter sowohl aus Amerika als auch aus Asien nach Europa. Kräuter, Gewürze, Blumen, Früchte, Gemüse sowie insbesondere Kaffee,8 Tee,9

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betrifft das Selbstverständnis und die selbstverständlichen Praktiken ihrer Mitglieder, ihr Identitätsgefühl, ihre Körper, ihre Sexualität und die Konstruktion und Re-Konstruktion der ‚Anderen‘“. Vgl. etwa Eva BARLÖSIUS, Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung (Grundlagentexte Soziologie), Weinheim, München 1999, S. 156–164; Tahire KOCTÜRK-RUNEFORS, A Model for Adaption to a New Food. The case of immigrants, in: Elisabeth L. FÜRST u.a. (Hg.), Palatable Worlds. Socialcultural Food Studies, Oslo 1991, S. 185–192, hier 188. Zur historischen Forschung zu Ernährung und Kulturbegegnung vgl. etwa die Beiträge im Sammelband Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (Kulturthema Essen 2), hg. v. Hans-Jürgen TEUTEBERG, Gerhard NEUMANN, Alois WIERLACHER, Berlin 1997; zur Frühen Neuzeit NOLDE, Fremdheitserfahrung, S. 127–181 u. Dorothea NOLDE, Die Assimilation des Fremden. Nahrung und Kulturkontakt in de Brys America, in: Historische Anthropologie 3 (2004), S. 355–372, bes. 356–357 u. 371–372. Vgl. SCHOLLIERS, Meals, S. 7–9; FISCHLER, Food, S. 280–281; SETZWEIN, Ernährung, S. 303; Eva BARLÖSIUS, Gerhard NEUMANN u. Hans J. TEUTEBERG, Leitgedanken über die Zusammenhänge von Identität und kulinarischer Kultur im Europa der Regionen, in: Hans-Jürgen TEUTEBERG, Gerhard NEUMANN u. Alois WIERLACHER (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (Kulturthema Essen 2), Berlin 1997, S. 13–23, hier 13–14; NOLDE, Fremdheitserfahrung, S. 127. An C. v. Wales, o.O., 16.6.1716, A, 7, S. 218. Die Ursprünge der Kaffeepflanze liegen in Äthiopien; die Kultivierung sowie die Verarbeitung der getrockneten und gemahlenen Samen ist allerdings mit der arabischen Halbinsel verbunden, von wo aus der Kaffee bereits im 15. und 16. Jhd. ins Osmanische Reich sowie nach Persien gelangte. Ausgehend von Handelsstädten wie Venedig, Marseille, London und Amsterdam etablierte sich der Genuss des Kaffees in Europa vor allem im 17. Jhd. Vgl. MENNINGER, Tabak, Abs. 3–4; TEUTEBERG, Kaffee, S. 92–98 u. 104–105; Heinz-Peter MIELKE, Kulturgeschichte des Kaffees, in: Ders. (Hg.), Kaffee, Tee, Kakao. Der Höhenflug der drei „warmen Lustgetränke“, Viersen 1988,

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Trinkschokolade10 und Tabak bewirkten in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten eine nachhaltige Veränderung der europäischen Alltagskultur, sowohl in Bezug auf Ernährungsgewohnheiten als auch auf die medizinische Therapie.11 In ihren Briefen reflektierte Elisabeth Charlotte die Rezeption dieser Produkte aus ihrer persönlichen Sicht. Sie bezog sich dabei insbesondere auf die ‚neuen‘ Getränke12, die etwa um die Mitte des 17. Jahrhunderts an den Höfen aufkamen und von dort ausgehend die bisher in Europa vorherrschende Trinkkultur revolutionierten, denn bei Kaffee, Tee und Trinkschokolade handelte es sich mit alkoholfreien Heißgetränken um eine bis dato in Europa nicht gekannte Form des Getränks.13 Über die neuen Gewohnheiten äußerte Elisabeth Charlotte sich in ihren Briefen mehr als einmal äußerst ablehnend. Sie schrieb, die Getränke könne sie für ihren todt nicht leyden14 und fände nichts widerlichers in der weldt,15 wobei ihre Einschätzungen auf Geschmack,

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S. 19–41, hier 25–27; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 25–26; Ken ALBALA, Food in early modern Europe (Food through history), Westport, London 2003, S. 84. Der in China bereits seit Jahrhunderten angebaute Tee kam seit Mitte des 17. Jhd.s über die Schiffe der niederländischen und britischen Ostindien-Kompagnien in kleineren Mengen nach Europa. Bei seiner Verbreitung spielten die Höfe beider Länder eine entscheidende Rolle. Vgl. MENNINGER, Tabak, Abs. 5–6; Dietmar ROTHERMUND, Tee, in: Thomas HENGARTNER u. Christoph Maria MERKI (Hg.), Genussmittel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. u. Leipzig 2001, S. 161–190, hier 161, 164–165 u. 179; Günther SCHIEDLAUSKY, Tee, Kaffee, Schokolade – ihr Eintritt in die Europäische Gesellschaft, München 1961, S. 6; ALBALA, Food, S. 85; Heinz-Peter, MIELKE, Kulturgeschichte des Tees, in: Ders. (Hg.), Kaffee, Tee, Kakao. Der Höhenflug der drei „warmen Lustgetränke“, Viersen 1988, S. 143–149, hier 143 u. 148; Antonia FRASER, King Charles II., London 1990, S. 205; Roy MOXHAM, Tea, Addiction, Exploitation and Empire, London 2004, S. 17–19; Arend VOLLERS, Über die Teeverpackung, in: Heinz-Peter MIELKE (Hg.), Kaffee, Tee, Kakao. Der Höhenflug der drei „warmen Lustgetränke“, Viersen 1988, S. 156–163, hier 156. In der ersten Hälfte des 16. Jhd.s brachten die Spanier die aus den getrockneten Samen der Kakaofrucht gewonnene Schokolade mit nach Europa, wo sie zunächst noch wenig Anklang fand. Erst etwa 100 Jahre später begann sie in höfischen Kreisen als exklusives Modegetränk konsumiert zu werden. Vgl. ALBALA, Food, S. 85; Piero CAMPORESI, Der feine Geschmack. Luxus und Moden im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M., New York 1992, S. 126–140; MENNINGER, Tabak, Abs. 8–9; Albert PFIFFNER, Kakao, in: Thomas HENGARTNER u. Christoph Maria MERKI (Hg.), Genussmittel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. u. Leipzig 2001, S. 133–160, hier 135–139; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 97. Vgl. CAMPORESI, Geschmack, S. 63; MENNINGER, Genuss, S. 348–349; MENNINGER, Tabak, Abs. 79. Die im Laufe ihrer europäischen Rezeption mit verschiedenen Begriffen wie etwa ‚exotische Güter‘, ‚Kolonialwaren‘, ‚überseeische‘ oder ‚außereuropäische‘ Güter bezeichneten Erzeugnisse galten in der Frühen Neuzeit vor allem als Symbolisierungen des Neuen. Vgl. HOCHMUTH, Güter, S. 13, Anm. 1. Vgl. hierzu die These von SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 41 u. 45 vom Kaffee als dem „großen Ernüchterer“ der europäischen Welt, die bis dato durch die Kultur des Trinkens von Wein und Bier geprägt gewesen war. Vgl. auch MENNINGER, Tabak, Abs. 37. An Luise, St. Cloud, 26.5.1720, HO, 5, 1125, S. 159. An Luise, Paris, 16.4.1722, HO, 6, 1320, S. 372–373. Vgl. auch An Sophie, Fontainebleau, 8.10.1704, NLA-HStAH, XIV, 380v, vgl. B, 2, 548, S. 89.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

Geruch und Beschaffenheit der neuen Getränke rekurrierten.16 Besonders deutlich brachte Elisabeth Charlotte ihre Abneigung gegenüber dem Kaffee zum Ausdruck: Seine dunkle Farbe verglich sie mehrfach mit ruß,17 den bitteren Geschmack mit feigbohnen.18 Ihre Beschreibungen erinnern an die ersten Berichte von Arabien-Reisenden des 16. Jahrhunderts, die sich ebenfalls mit Unverständnis über das im europäischen Kulturkreis bis dato unbekannte arabische Alltagsgetränk äußerten und sogar ähnliches Vokabular verwendeten.19 In einem Brief an Luise 1714 und weiteren Briefen 1719 und 1722 hielt Elisabeth Charlotte ihre Geschmacks- und Geruchsassoziationen in besonders spöttischer Weise fest, indem sie schrieb, der Kaffee mit seinem so bitter übellen geschmack rieche noch dazu wie ein stinckender ahtem und erinnere sie an den verstorbene[n] ertzbischoff von Paris, der ebenso gerochen habe.20 Inzwischen hatte sich der Kaffee in der höfischen Lebenswelt, die Elisabeth Charlotte umgab, allerdings bereits weitgehend durchgesetzt.21 Als Startschuss für die Verbreitung des Kaffees am französischen Hof wird der Besuch des osmanischen Gesandten Suleiman Aga Mustapha Raca 1669 gehandelt; 22 und spätestens 1696, als das exklusive Getränk offiziell als Teil des Frühstücksmenüs Ludwigs XIV. benannt worden war,23 gehörte es zum festen Bestandteil höfischer Alltagskultur. Elisabeth Charlotte jedoch fragte sich noch im Jahr 1719 verwundert, wie man aus dem stinckende[n], bittere[n] wessen des Kaffees ein delice machen konnte, so wie es nunmehr von allen leütten in allen lände[r]n getan werde.24 Ihre Abneigung gegenüber den ‚neuen‘ Trinkpraktiken ist in der Forschungsliteratur zur Kulturgeschichte der Genussmittel vielfach exemplarisch zitiert 16

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An Luise, St. Cloud, 14.6.1721, HO, 6, 1237, S. 150–151: Ich nehme mein leben keins von dießen dreyen gedrencken, schocolatte thut mir wehe im magen, thé findt ich, alß wen man mist undt heü eßen, undt caffé findt ich ahn allerärgsten, ist bitter undt wie ein stinckender ahtem, mögte gleich speyen, findt nichts eckelhafftiger. An Luise, Versailles, 8.12.1712, HO, 2, 566, S. 296. An Luise, Marly, 15.1.1713, HO, 2, 570, S. 299: kan mich nicht ahn den bittern rußgeschmack [des Cafès] gewohnen. Gemeint sind hiermit wohl die rundlichen Samen der Feigbohnenlupine, die einen stark bitteren Geschmack besitzen. Vgl. Samuel HAHNEMANN, Apothekerlexikon, 1. Abt., 2. Teil, Leipzig 1795, 1. Abt., 2. Teil, S. 288. S. etwa Antoinette SCHNYDER-VON WALDKIRCH, Wie Europa den Kaffee entdeckte. Reiseberichte der Barockzeit als Quellen zur Geschichte des Kaffees, Zürich 1988, S. 50 u. 53, die Balthasar de Monconys ‚Journal des Voyages de Monsieur Monconys‘ (1665) u. George Sandys ‚A Relation of a Journey begun An. Dom. 1610‘ (1615) zitiert; MENNINGER, Tabak, Abs. 27 u. 37; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 25. An Luise, Marly, 22.7.1714, HO, 2, 656, S. 412; vgl. St. Cloud, 6.7.1719, HO, 4, 1032, S. 165–166: Mein gott, wie kan so waß bitters undt stinckentes erfrewen, wie daß caffé ist! Wir hatten vor dießem einen rohtkopffigten ertzbischoff von Paris, der roch auß dem maul eben wie der caffé; daß gibt mir so einen großen eckel davor. 27.6. u. 25.7.1722, HO, 6, 1339, S. 423 u. 1347, S. 435. Vgl. P[aul] J. YARROW, Fifty Years an Alien. Elisabeth Charlotte, Duchess of Orléans 1671–1722, in: Seventeenth-Century French Studies 17 (1995), S. 111–124, hier 115. Vgl. SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 26. Vgl. TEUTEBERG, Kaffee, S. 98–99; SCHNYDER-VON WALDKIRCH, Kaffee, S. 27–28; SCHIEDLAUSKY, Tee, S. 14; DE JEAN, Essence, S. 135. Vgl. DE JEAN, Essence, S. 145. An Luise, St. Cloud, 11.6.1719, HO, 4, 1026, S. 144: kan nicht begreiffen, wie jemandts daß stinckende, bittere wessen lieben kan; ich habe all mein leben ein eckel undt abscheü davor gehabt, welches alle welt wunder niembt, den es ist le delice von allen leütten in allen lände[r]n.

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worden – aufgrund der allgemeineren Fragestellungen dieser Studien zumeist jedoch ohne Bezugnahme auf hinter dieser Haltung stehende, ‚identifikationsstiftende‘ Argumentationsmuster.25 Über eine solche eher illustrativen Zwecken genügende Umgehensweise mit Elisabeth Charlottes brieflicher Auseinandersetzung soll hier hinausgegangen werden, indem untersucht wird, wie sie sich mit ihren Aussagen über die zeitgenössischen Genussmittelpraktiken im diskursiven Gefüge ihrer Zeit positionierte. Ein wichtiger Teil dieser Positionierungspraxis war Elisabeth Charlottes Kritik an leütten von qualitet, bei denen sich die Heißgetränke und der Tabak als „soziale Genussmittel“26 wachsender Beliebtheit erfreuten.27 Insbesondere bei den Damen am französischen Hof war das Kaffeetrinken gegen Ende der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits so populär, dass es regelrecht rituell zelebriert wurde.28 Der Adel nutzte seinen Zugang zu Kaffee, ebenso wie zu Tee und Schokolade, als soziales Distinktionsmittel, zur Inszenierung des eigenen Status, zur Darstellung von Machtfülle einerseits sowie von Eleganz und Exaltiertheit andererseits.29 Für die drei Getränke gab es folglich jeweils spezielles Geschirr – für Kaffee und Tee aus feinstem chinesischen Porzellan. Zudem bemühte man sich darum, die Exklusivität der Produkte durch servierende ‚Mohrenjungen‘ oder zumindest eine passende Kostümierung der Bediensteten zu unterstreichen.30 In Elisabeth Charlottes Briefen findet sich eine markante Beschreibung dieser Form der Inszenierung mit Hilfe der neuen Trinkkultur. 1688 berichtete sie ihrer Tante Sophie ausführlich, welch einen wunderlichen humor die duchesse de Lediguiere demonstriere, indem sie den gantzen tag (...) nichts in der welt tat, alß caffé oder thé zu trinken. Dabei war ihr laut Elisabeth Charlotte besonders wichtig, den Genuss der Getränke den – vermeintlichen – Ursprungsländern entsprechend zu inszenieren, denn

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Vgl. etwa PETER, Kulturgeschichte, S. 85; SCHIEDLAUSKY, Tee, S. 9, SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 38; MIELKE, Kaffee, S. 31; Robert PLÖTZ, In der Literatur durch den „Kakao ziehen“, in: Heinz-Peter MIELKE (Hg.), Kaffee, Tee, Kakao. Der Höhenflug der drei „warmen Lustgetränke“, Viersen 1988, S. 219–222, hier 220; MENNINGER, Genuss, S. 39, 272 u. 275 u. Tabak, Abs. 72. MENNINGER, Tabak, Abs. 1. Vgl. auch MENNINGER, Genuss, S. 23–24; HENGARTNER u. MERKI, Geschichte, bes. S. 15–16 u. 9–10. An Luise, St. Cloud, 26.5.1720, HO, 5, 1125, S. 159. Vgl. DE JEAN, Essence, S. 135–136 u. Abb. S. 144. Vgl. zur Rolle von ‚Luxus‘ als schichtspezifisches Kennzeichen etwa Thomas HENGARTNER u. Christoph Maria MERKI, Für eine Geschichte der Genussmittel, in: Dies. (Hg.), Genussmittel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. u. Leipzig 2001, S. 9–26, hier 12; PFIFFNER, Kakao, S. 142; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 26 u. 30. Vgl. SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 26, 30–31 u. 49; MENNINGER, Genuss, S. 423; ROTHERMUND, Tee, S. 168; PFIFFNER, Kakao, S. 140; SCHIEDLAUSKY, Tee, S. 11 u. zur Entwicklung des Porzellans ausführlich S. 18–30. Eine solche Inszenierungsweise ist auch in zeitgenössischen Gemälden aus dem höfischen Kontext nachvollziehbar. Allen voran muss hier ein Porträt erwähnt werden, das auf das Jahr 1697 datiert und dem niederländischen Maler Jan Weenix (ca. 1640–1719) zugeschrieben wird. Es zeigt eine adelige Dame – angeblich E. Ch. – neben einem als ‚Mohr‘ inszenierten Diener, der ihr Früchte auf einem Silbertablett serviert. Abbildung in: PAAS, „bärenkatzenaffengesicht“, S. 86 u. 80.

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wen sie caffé nimbt, müßen ihre cammerweiber undt sie selber auff türquisch gekleÿdt sein; nimpt sie thé, so müßen die es bringen auff indianisch gekleÿdt sein, die cammerweiber weinen offt die bittere threnen, daß sie sich zwey oder 3 mahl des tags anderst ahnthun müßen.31

Elisabeth Charlottes weiteren Berichten zufolge hatte die Duchesse de Lesdiguières auch ansonsten einen ausgeprägten Hang zu solcher Art stilisierter Alltagskultur, denn um sie in ihrer Kammer zu besuchen, müsse man mehrere Pforten passieren, die jeweils ein großer mächtiger mohr mitt einem Silbern Tourban undt großem sebel ahn der seÿdt bewachte.32 Auch wenn dieses Arrangement wohl zu einem großen Anteil auf den wunderlichen humor der Duchesse zurückzuführen war, weist es dennoch auf die Vorliebe hin, die frühneuzeitliche Hofgesellschaften für die kostbaren Produkte33 und entsprechende ‚exotische‘ Inszenierungen entwickelt hatten.34 Doch nicht nur am Versailler Hof konsumierte man die neuen Getränke auf diese Weise – auch in Paris, wo der Kaffee schon 1644 von einem Marseiller Kaufmann erstmals zubereitet worden sein soll,35 existierten zu dieser Zeit zahlreiche Kaffeehäuser, die der Selbstdarstellung der oberen Schichten dienten. Die Räumlichkeiten wurden auch hier mit allen Kostbarkeiten ausgestattet, mit denen sich im absolutistischen Frankreich aufwarten ließ: von exquisiten Wandteppichen über seltene Spiegel bis hin zu feinem Geschirr und entsprechender Kostümierung für die Kellner.36 Eine ähnliche Entwicklung ist auch für den Konsum von Tabak, der seit Ende des 15. Jahrhunderts durch Portugiesen und Spanier in Europa bekannt wurde, zu konstatieren. Vor allem in den adeligen Oberschichten galt um 1700 das Schnupfen mit den entsprechend luxuriös gestalteten Tabakdosen als modische Demonstration des eigenen Status.37 Nachdem der französische Gesandte am portugiesischen Hof Jean Nicot der französischen Königin Katharina von Medici Schnupftabak gegen ihre Migräne zugeschickt haben soll, 38 erlebte diese Praktik insbesondere am französischen Hof enormen 31 32 33

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An Sophie, Versailles, 8.3.1699, NLA-HStAH, IX,1, 144r, vgl. B, 1, 375, S. 361. Ebd. Neben den Heißgetränken betraf dies E. Ch. zufolge am frz. Hof wohl auch Kohl, der aus dem Königreich Siam importiert wurde. S. dazu An C. F. v. Harling, Paris, 16.2.1719, H, 304, S. 499. Vermutlich handelt es sich beim ‚chou de Siam‘ um die Gemüsepflanze Rutabaga, eine Art Steckrübe, die aus Schweden stammte und fälschlicherweise in Frankreich seit dem 17. Jhd. unter diesem Beinamen bekannt geworden war. Vgl. Derek B. MUNRO u. Ernest SMALL, Vegetables of Canada, Ottawa 1997, S. 97. Vgl. etwa den Untertitel des Sammelbandes Dominque LANNI (Hg.), Le rêve siamois du Roi Soleil. Récits d’une fièvre exotique à la cour du Très-Chrétien 1666–1727, Paris 2001; SCHIEDLAUSKY, Tee, S. 11; SCHNYDER-VON WALDKIRCH, Europa, S. 28. Vgl. auch E. Ch.s Schilderungen über Verkleidungen a la Turque auf Kostümfesten und Karnevalsfeierlichkeiten in Herrenhausen und Nancy: An Luise, St. Cloud, 22.5.1699, HO, 1, 83, S. 144, Marly, 6.3.1699, HO, 1, 73, S. 125, Paris, 12.4.1721, HO, 6, 1218, S. 76. Vgl. DE JEAN, Essence, S. 135. Vgl. ebd., S. 136–138; MIELKE, Kaffee, S. 29–31. Vgl. etwa zur Beliebtheit von Tabakdosen aus Achat An Luise, St. Cloud, 2.11.1720, HO, 5, 1171, S. 320: Ihr habt woll gethan, mir kein agath zu schicken; den ich brauch es nicht, den ich nehme mein leben kein taback undt selbige dosen seindt hir gar gemein. (...) Die agathen seindt greülich wollfeil in Franckfort. Hir hatt man keine bekommen, wie sie a la mode, vor 6 oder 8 louisd’or. S. auch HOCHMUTH, Güter, S. 143–144. Vgl. HENGARTNER, Tabak, S. 200; MENNINGER, Genuss, S. 296 u. 301–302; SANDGRUBER, Genüsse, S. 103–104; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 108–109 u. 143–155. Zu Ehren Nicots wurde die Tabak-Pflanze bereits um 1570 erstmals Nicotiana genannt, wovon später die Wirkstoffbezeichnung

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Zulauf,39 wo der Tabak nicht nur geschnupft, sondern (in geringerem Maß) auch geraucht oder gekaut wurde.40 Auf den ‚Siegeszug‘ dieser neuen Gewohnheiten am Versailler Hof und in Paris sowie auf die damit einhergehenden Veränderungen der höfischen Trinkkultur reagierte Elisabeth Charlotte mit einer ausgeprägten brieflichen Boykott-Rhetorik. An Luise schrieb sie 1718: ich nehme mein leben kein tapack, haße ihn abscheülich. Ich bin in nichts a la mode, ich nehme auch weder caffé, thé noch chocolat.41 Das hier ins Feld geführte Schlagwort ‚Alamode‘ ist in ihrer Korrespondenz um und nach 1700 immer wieder zu finden.42 Dass es in der Kommunikation mit den vertrauten Bezugspersonen als Gradmesser für Zugehörigkeit fungierte, wird offensichtlich, wenn Elisabeth Charlotte im Februar 1707 in einem ernsten und abwertenden Ton an ihre dem Tabak zugeneigte Halbschwester Amalie Elisabeth schreibt: Tragt Ihr taback im sack? daß hette ich nicht gemeint, ist eine heßliche mode. Ich dachte nicht, daß Ihr so a la mode wehret.43 In ihrer Kritik an einer absolutistisch-höfischen Kultur im Reichsadel, die sich gar zu sehr an allem orientierte, was als frantzösche mode galt,44 knüpfte sie an das im 17. Jahrhundert in deutschen Landen populäre Diskursmuster der Alamode-Kritik an. Etwa seit 1600, insbesondere aber in den Jahrzehnten nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs, hatte sich vor allem unter Schriftstellern und Gelehrten ein Selbstverständnis breit gemacht, das in Abgrenzung zu Frankreichs politischen und kulturellen hegemonialen Machtansprüchen an die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen teütschen nation appellierte. Von einer eher städtischen bzw. frühbürgerlichen Gesellschaftsschicht getragen, implizierte das Stichwort Alamode eine Kritik am Adel und dessen uneingeschränkter Nachahmung der Versailler Repräsentationskultur in ihrem höfischen Lebensstil.45 Zunächst richtete sich das Interesse insbesondere auf die aus Frankreich importierte Klei-

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‚Nikotin‘ abgeleitet wurde. Vgl. dazu HENGARTNER, Tabak, S. 196–198; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 109. Vgl. An Luise, Marly, 8.8.1715, HO, 2, 720, S. 604–605: Unßer könig liebt es ohne vergleichung ebenso wenig, jedoch so nehmens alß seine kinder undt kindtskinder, ohnangesehen, daß sie wissen, daß es dem könig mißfelt. Vgl. HENGARTNER, Tabak, S. 198–200; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 108. Auch E. Ch. sprach vom Rauchen als drincken des Tabaks mitt pfeyffen. Vgl. An Sophie, Versailles, 16.2.1696, NLA-HStAH, VI, 25v, vgl. B, 1, 231, S. 235; An Luise, Versailles, 2.9.1706, HO, 1, 326, S. 475. An Luise, Paris, 29.11.1718, HO, 3, 971, S. 449; vgl. auch 11.2.1720, HO, 5, 1096, S. 47–48. Vgl. z.B. auch An Sophie, Fontainebleau, 8.10.1704, NLA-HStAH, XIV, 380v, vgl. B, 2, 548, S. 89: Ich kan weder thé noch chocolat noch caffé drincken all das frembt zeüg ist mir zuwider den chololat findt ich zu süß caffé kompt mir vor wie ruß, undt daß thé wie eine halbe medecin, Suma ich kan in dießem stück wie in viellen andern gar nicht alamode sein. Vgl. auch MENNINGER, Genuss, S. 296, die das Stichwort Alamode mit einem Zitat E. Ch.s kurz belegt, diese Spur aber nicht weiterverfolgt; VOSS, Fürstin, S. 49, der anmerkt, E. Ch. kritisiere die „à-la-mode-Bewegung in Deutschland“. An Amalie Elisabeth, Versailles, 3.2.1707, HO, 2, 346, S. 6. Zum Ausmaß der ‚Modehörigkeit‘ in Frankreich JONES, Sexing, S. 38. Vgl. aus E. Ch.s Perspektive An Luise, St. Cloud, 7.8.1718, HO, 3, 939, S. 344 u. 9.11.1720, HO, 5, 1173, S. 328. Vgl. Brigitte BADELT, Die Alamode-Kritik im gesellschaftlichen Kontext neu gelesen, in: Frühneuzeitinfo 7,1 (1996), S. 9–17, hier 13–14; zur Haltung des Hochadels FINK, Alamodestreit, S. 19–25; Hans-Martin BLITZ, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000, S. 61 u. 70.

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dungsmode im engeren Sinne46 sowie auf die mangelnde Pflege der deutschen Sprache, die – so die Alamode-Kritiker – zunehmend von französischen Lehnworteinflüssen durchdrungen werde und somit gänzlich durch das Französische ersetzt zu werden drohte.47 Bald erfasste die Alamode-Kritik aber auch zahlreiche weitere Lebensbereiche und stand schließlich für alles, was „die patriotischen deutschen Schriftsteller (...) nur irgend an Frankreich erinnerte oder nach ihrer Auffassung dem deutschen Wesen widersprach“48, wie es der französische Germanist Louis Gonthier Fink treffend formuliert. Dementsprechend agitierte man gegen jegliche Form des französischen Einflusses auf Kultur und Politik und forderte eine Besinnung auf ‚deutsche‘ Eigenarten und Werte.49 Auch für Elisabeth Charlotte war das Teütsche auf das Engste mit Kontinuität und Traditionalität verbunden. Eindrücklich ist dies in einem Brief an ihre Tante vom April 1711 belegt, in dem sie über das Tabakschnupfen schrieb: (...) wen ich lang schnuptopack riche wirdt mir wie übel, bin recht fro daß E.L. es auch haßen, ich halte mich noch auff alt teütsch nehme keine fremdte sachen (...).50 Analog zu den Alamode-Kritikern findet sich auch bei Elisabeth Charlotte eine Ausweitung der Kennzeichnung à la mode auf verschiedene Alltagspraktiken – insbesondere auf den hier behandelten Genussmittelkonsum als Teil der

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S. dazu An Luise, Fontainebleau, 8.10.1695, HO, 1, 27, S. 48: Wie ich sehe, auß waß Ihr mir hirauff sagt, mercke ich woll, daß man verpichter als nie in Teütschlandt auff der moden ist. In meinem sin ist diß eine große thorheit. Paris, 22.1.1695, HO, 6, N, 26, S. 526: Unßere hertzogin von Hannover [Benedicta Henriette, 1652–1730, Tochter v. Eduard v. d. Pfalz u. Anna Gonzaga, verheiratet mit Johann Friedrich v. Braunschweig-Lüneburg] schreibt mir, daß die, so in gantz Teütschlandt ahm meisten auff die moden sollen verpicht sein, seyen die margräffin von Bareit [Sophie Luise v. Würtemberg, gest. 1702] undt die fürstin von Ostfrießlandt [Christine Charlotte v. Württemberg, 1645–1699]. (...) Ich aproprire Ewere conduitte hirinen sehr undt Ihr habt daß recht mittel gefunden, umb nie ridiculle in Ewerer kleydung zu sein. E. Ch. wusste ihren Zugang zu den Moden am frz. Hof allerdings auch zu nutzen. So schickte sie Luise jeweils zu Beginn der Jahre 1707, 1713, 1714 sowie 1720 u. 1722 so genannte Alamode-Schächtelchen und machte immer wieder Geschenke mit der Begründung, daß man in Teütschlandt wercks macht von alles, waß frantzösche mode sein. Vgl. Versailles, 13.1.1707, HO, 2, 342, S. 2, 8.7.1713, HO, 2, 583, S. 318, 4.2.1714, HO, 2, 623, S. 368, Paris, 11.2.1720, HO, 5, 1096, S. 45 u 14.2.1722, HO, 6, 1303, S. 325, 22.1.1695, HO, 6, N, 26, S. 525; vgl. auch St. Cloud, 9.5.1722, HO, 6, 1326, S. 389, Versailles, 12.12.1694, HO, 6, N, 24, S. 523. Vgl. BADELT, Alamode-Kritik, S. 10; FINK, Alamodestreit, S. 26–29. Vgl. zum Zusammenhang von Mode- und Moralkritik auf illustrierten Flugblättern Bärbel ZAUSCH (Hg.), Frau Hoeffart & Monsieur Alamode. Modekritik auf illustrierten Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts. Ausstellung vom 21. Juni bis 19. Juli 1998 in der Staatlichen Galerie Moritzburg, Halle, Halle 1998, bes. S. 26, Kat. 23. Vgl. aus E. Ch.s Perspektive An Amalie Elisabeth, Versailles, 29.4.1704, HO, 1, 209, S. 347–348 u. 7.4.1707, HO, 2, 356, S. 16: Es ist war, daß, waß lieben betrifft, nicht so woll auf Teütsch lautt, alß auff Frantzösch. In dem fall laß ich das Frantzösch passiren, aber daß man einander auff Frantzösch schreibt, aprobire ich nicht. Den warumb kan man nicht eben so woll ohne ceremonien in Teütsch, alß Frantzösch, schreiben? Vgl. FINK, Alamodestreit, S. 26; zur Ausweitung der Kritik von der Sprache auf die Sitten BLITZ, Liebe, S. 60–61. Vgl. FINK, Alamodestreit, S. 29 sowie den aufgrund der Entstehungszeit 1880 mit besonderer Vorsicht zu rezipierenden Aufsatz von Erich SCHMIDT, Der Kampf gegen die Mode in der deutschen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts, in: Im neuen Reich 10 (1880), S. 457–475, hier 459, 463–464 u. 468. An Sophie, Versailles, 19.3.1711, NLA-HStAH, XXI,1, 241r, vgl. B, 2, 750, S. 267.

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Körperpraxis.51 Die Kombination der Adjektive zeigt an, dass teütsch für Elisabeth Charlotte synonym für althergebrachte Kulturgewohnheiten stand, die über diese Bestimmung von angeblich neumodischen Körper- und Gesundheitspraktiken abgegrenzt werden sollten. Mit ihren brieflichen Bekundungen, sich von den modischen Getränken fernzuhalten, positionierte sie sich ihren Briefpartner_innen wie sich selbst gegenüber als traditionsbewusst, standhaft und teütsch.52 Noch 1716 schrieb sie über alte Gewohnheiten und die neuen Getränke an Caroline von Wales: Ich frühstücke selten, thue ich es aber, so nehm ich nur einen Butterram53. Alles fremde Zeug kann ich weder leiden noch vertragen, nehme weder Choccolade, Caffé noch Thee; alles dieses ist mir durchaus zuwider. Ich bin in allem ganz auf dem teutschen Schlag, finde im Essen und Trinken nichts gut, als was auf dem alten Schlag ist.54

Bemerkenswert erscheint, dass Elisabeth Charlotte hierbei mehrfach ihre teütschen Lieblingsspeisen anführte und sie gezielt gegen die modischen Heißgetränke abgrenzte.55 1711 etwa schrieb sie Luise: Ich nehme mein leben weder thé, caffé, noch chocolatte, habe mich ahn diße frembte nahrungen [nicht] gewohnen konnen. Ich eße auch mein leben keine frantzösche ragoust (...).56 Auf den ersten Blick suggeriert das Zitat, ihre Kritik an den französischen Speisen (4.II.2) gehe in einer allgemeinen Ablehnung ‚fremder‘ Esskultur (fremdte[n] sachen und nahrungen) auf. Bei näherem Hinsehen aber zeigt sich, dass die Modegetränke mit den als Paradebeispiel der französischen Esskultur geltenden Ragouts57 assoziiert und vielmehr als Vorposten französischer Kultur gedeutet werden. Das Attribut ‚fremd‘ war in Elisabeth Charlottes Denken unweigerlich mit ‚französisch‘ verknüpft. Es geht hier also nicht in erster Linie um die Fremdheit der Heißgetränke für einen als europäisch konstituierten Kulturkreis, sondern um einen ‚nationalkulturell‘ interpretierten Gegensatz. Dies zeigt sich auch in Bezug auf die Deutung der von Wolfgang Schivelbusch in seiner Geschichte der Genussmittel erwähnten Biersuppe. Diese zog Elisabeth Charlotte ihren Aussagen zufolge den neuen Heißgetränken durchaus vor.58 Schivelbusch argumentiert mit einem 51

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Wie es scheint, wurde der Tabakgenuss verschiedentlich im Rahmen der Alamode-Kritik interpretiert. Vgl. MENNINGER, Genuss, S. 296. Hinweise darauf finden sich auch bei SCHMIDT, Kampf, S. 470. Vgl. zu diesen Konnotationen des Teütschen Claudia BUBENIK, „Ich bin, was man will“: Werte und Normen in Johann Michael Moscheroschs Gesichten Philanders von Sittewald (Mikrokosmos Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 63), Frankfurt a.M. 2001, S. 96. Gemeint ist hiermit ein einfaches Butterbrot. Vgl. SCHIEDLAUSKY, Tee, S. 16. An C. v. Wales, o.O., 16.6.1716, A, 7, S. 218. An Luise, 22.11.1714, Marly, HO, 2, 676, S. 486: Ich bin gott lob undt danck, deß caffé quit, habe es nicht gewohnen können, kan weder caffé, chocolat, noch thee vertragen; kan nicht begreiffen, wie man darauß ein delice machen kan, mir were es gar kein regal; gutten braunen kohl, sawer krautt, schincken undt knackwürst schmeckten mir viel beßer undt einen gutten krauttsalat mitt speck; dieße delicatten speißen seindt mein sach. An Luise, Versailles, 7.12.1713, HO, 2, 612, S. 356–357 u. 8.12.1712, HO, 2, 566, S. 296. An Luise, Versailles, 5.4.1711, HO, 2, 518, S. 240. Vgl. etwa die bereits zitierten Passagen bei MOSCHEROSCH, Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, hg. v. HARMS, S. 137 u. bei VAN DER CRUYSSE (Hg.), Sophie. Mémoires, S. 120–121; GEERDS (Hg.), Mutter, S. 115; auch DE JEAN, Essence, S. 116 u. 3.II.2. Vgl. z.B. An Luise, St. Cloud, 7.8.1718, HO, 3, 939, S. 343: Von der kalte schal hette ich braff mitt geßen, aber warm drincken, insonderheit daß abscheülich caffé undt thee, daß were meine sache nicht; ich kan weder chocolat, caffé, noch thé leyden.

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verkürzten Zitat, Elisabeth Charlottes Haltung sei Ausdruck der Geschmacksaversionen eines Kulturkreises, der an die „Allgegenwart des Bieres“ gewohnt sei,59 übersieht dabei aber, dass sie im nächsten Satz in die übliche Kritik an Essen und Trinken am französischen Hof einschwingt, wenn sie schreibt: eine gutte kalteschal oder eine gutte biersup (...) kan [man] hir nicht haben, den daß bier deücht nichts hir.60 Die Biersuppe wird hier und an anderen Stellen eindeutig als teütsch konnotiert61 – sie steht nicht etwa für die Gemeinsamkeit des europäischen Kulturkreises, sondern als althergebrachtes Gegenstück der als französische Mode identifizierten Heißgetränke. Auch als Luise ihr 1719 berichtete, wie sie mit ihrer Mutter Charlotte Kaffee und Tee getrunken habe,62 wird dieser Zusammenhang deutlich. Elisabeth Charlotte zeigte sich nicht im Geringsten überrascht, schließlich habe ihre Mutter stets alle mode, undt waß frantzösch war (...) admirabel gefunden, so schrieb sie, freilich noch einmal die Chance nutzend, deutlich zu machen, dass sie selbst nicht nur in diesem Punkt ahn keine mode attachirt sei.63 Das bereits seit Anfang des 17. Jahrhunderts bekannte Muster der Alamode-Kritik wird hier also im Hinblick auf die Heißgetränke auf neue Zusammenhänge projiziert. Der zu Tage tretende Bezug auf eine gewisse ursprüngliche Kontinuität des Deutschen gehörte, wie angedeutet, zu den konstitutiven Prinzipien kollektiver Teütschland-Bilder des 17. und 18. Jahrhunderts. Neben Schriften für ein eher gebildetes Publikum wie dem bekannten ‚Ala mode Kehrauß‘ in Johann Michael Moscheroschs ‚Wunderliche[r] und Wahrhafftige[r] Gesichte Philanders von Sittewalt‘ (Erstausgabe 1640)64 zeigt sich dies etwa in volkstümlichen Kalendern und Almanachen der Zeit.65 Auch hier werden andere 59 60

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Vgl. SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 38 Vgl. das komplette Zitat An Luise, Versailles, 8.12.1712, HO, 2, 566, S. 296: ich kan weder thé, caffé, noch chocolatte vertragen, kam nicht begreiffen, wie man es gern drinckt. Thé kompt mir vor wie heü undt mist, caffé wie ruß undt feigbonnen, undt chocolatte ist mir zu süs, kan also keines leyden, chocolate tut mir wehe im magen. Waß ich aber woll eßen mögte, were eine gutte kalteschal oder eine gutte biersup, daß thut mir nicht wehe im magen. Daß kan [man] hir nicht haben, den daß bier deücht nichts hir. Man hatt auch hir kein braunen köhl noch gutt sawerkraut. Dieß alles esset ich hertzlich gern mitt Eüch, wolte gott, ich konte so glücklich werden! Vgl. An Sophie, Marly, 14.2.1706, NLA-HStAH, XVI,1, 89r, vgl. B, 2, 594, S. 125 [sic! Datum]; An Luise, Marly, 21.4.1712, HO, 2, 545, S. 273–274. Unklar ist, wann Luise und Charlotte gemeinsam die Heißgetränke konsumiert haben könnten. Wahrscheinlich für eine Begegnung ist der Zeitraum zwischen 1680, als Charlotte nach dem Tod Karl Ludwigs von ihrem Sohn wieder nach Heidelberg zurückgeholt worden war, und ihrem Todesjahr 1686. An Luise, St. Cloud, 6.7.1719, HO, 4, 1032, S. 165–166: Mein fraw mutter s. liebte alle mode, undt waß frantzösch war, fundt sie admirabel; ich bin aber gar ahn keine mode attachirt. Ihr hattet mir noch Ewer leben nicht verzehlt, wie Ihr mitt meiner fraw mutter s. thé undt caffé getruncken habt, alß nun, liebe Louisse! Vgl. auch MENNINGER, Genuss, S. 323. Vgl. zum Bezug auf ‚alte teütsche‘ Werte z.B. MOSCHEROSCH, Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, hg. v. HARMS, S. 74, der kritisiert, dass viele Menschen nicht nur den frz. Moden folgen würden, sondern die Frantzosen gar im Hertzen hätten: Gott gebe wo Alte Tugend vnnd Redlichkeit / Kuenste / Erfahrenheit / Weißheit / Gedult / Sittsamkeit vnd anderes /vmb deß willen die hienauß verschickt worden / bleiben. Vgl. auch BLITZ, Liebe, S. 60–63; BUBENIK, Werte, S. 101; zur Leserschaft Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewalt, hg. v. HARMS, S. 245–246; BADELT, Alamode-Kritik, S. 11; FLORACK, Deutsche, S. 525–527, bes. 132–133. S. etwa York-Gothart MIX, Nationale Selbst- und Fremdbilder in der Mode- und Alamodekritik des „Hinkenden Boten“ und anderer populärer Kalender des 18. Jahrhunderts, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der dt. Literatur 26,2 (2001), S. 56–71, hier 67, 71 u. Kulturpatriotismus

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europäische Länder über ihre wirtschaftlichen und technischen Errungenschaften als zukunftsgewandt imaginiert, während Teütschlandt eine ahistorische Idealisierung und mythische Verklärung von Ursprung und kontinuierlicher Wesensverfasstheit des Deutschen erfährt.66 Die Alamode-Kritik schrieb also Räumen eine eigene Zeitlichkeit zu und grenzte sie damit umso wirkungsvoller voneinander ab. Für den deutschen Adel des 17. und 18. Jahrhunderts waren alamode-kritische Auffassungen nach der einhelligen Forschungsmeinung eher untypisch.67 Dass und wie sie dennoch auch innerhalb dieses Standes rezipiert wurden, zeigt das Beispiel Elisabeth Charlottes eindrücklich.68 In ihren Vorstellungen vom alten Teütschen wird sichtbar, wie kollektive Deutungsmuster mit der individuellen biographischen Konstellation verschmelzen und identifikationsstiftend wirken konnten.69 Zieht man den Briefwechsel zwischen Karl Ludwig und Anna Gonzaga (1670), in dem ebenfalls alamode-kritische Vorstellungen aufgerufen werden,70 hinzu, so ist durchaus anzunehmen, dass eine gewisse negative Voreingenommenheit gegenüber dem französischen Hof und seinen kulturellen Gewohnheiten – möglicherweise in Kenntnis der zeitgenössischen Alamode-Literatur – in der kurpfälzischen Familie bereits existierte, bevor Elisabeth Charlotte mit dieser Lebenswelt tatsächlich in Kontakt gekommen war. Elisabeth Charlotte könnte ihre späteren Erfahrungen demnach auch auf der Grundlage dieses Vorwissens interpretiert und eingeordnet haben. Neben dieser individuellen Melange aus Wissen und Praxis wirkte sicherlich auch die Migrationssituation strukturell begünstigend auf die Ausprägung von Elisabeth Charlottes Haltung. Im Gegensatz zu allem Frantzöschen, dessen Wandlungen sie jeden Tag miterleben konnte, war das aus der Ferne imaginierte Teütsche keinerlei Umdeutungsprozessen mehr unterworfen. Was für sie als teütsch galt, war gewissermaßen in ihrer Lebenszeit in deutschen Landen, von ihrer frühen Kindheit bis zur Verheiratung und Übersiedlung nach Frankreich 1671, ‚eingefroren‘ worden.71 Nicht einmal mit Reiseeindrücken hatte

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und Frankophobie. Die Stereotypisierung nationaler Selbst- und Fremdbilder in der Sprach- und Modekritik zwischen Dreißigjährigem Krieg und Vormärz (1648–1848), in: arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 36 (2001), S. 156–185, bes. 182–185. Vgl. die Analyse des ‚Appenzeller Calenders auf das Jahr 1781‘ bei MIX, Selbst- und Fremdbilder, S. 67–69, Abb. S. 70. Vgl. MIX, Kulturpatriotismus, S. 161; FINK, Alamodestreit, S. 19–25. Vgl. dazu etwa MENNINGER, Genuss, S. 296, die aus dem Beispiel E. Ch.s verallgemeinert: „Der Tabakkonsum galt in aristokratischen Kreisen genauso als ‚alamode‘ wie unter Angehörigen einfacher Schichten.“ Vgl. FINK, Alamodestreit, S. 3–4, dem zufolge Auto- und Heterostereotype stets sozial- wie individualpsychologisch bedingt seien. Im Widerspruch dazu rekurriert Fink auf S. 24 direkt auf E. Ch., deren Haltung er jedoch allein aus ihrer persönlichen Situation heraus erklärt. Vgl. nochmals Karl Ludwig an Anna, 8./18.12.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 32, S. 475: il faut acquiesser à la sentence donnée contre son [U. M. Kolb] vieux pucelage, qu’il n’est plus à la mode. Darauf verweist in knapper Form auch KNOOP, Madame, S. 48: „Deutschland ist für sie immer ein Ausschnitt geblieben.“ Maria FÜRSTENWALD, Liselotte von der Pfalz und der französische Hof, in: August BUCK, Georg KAUFFMANN, Blake Lee SPAHR u. Conrad WIEDEMANN (Hg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. III. Referate der Sektionen 6 bis 10 (Wolfenbüttler Studien im 16. und 17. Jahrhundert), Hamburg 1981, S. 467–473, hier 469, diagnostizierte einen „rückwärts gewandten Tugendbegriff“ E. Ch.s. MICHELSEN, Genie, S. 158, stellt fest, Dtl. sei für

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sich dieses festgefügte Bild auseinanderzusetzen, da Elisabeth Charlotte bis zu ihrem Lebensende keinerlei Reisen außerhalb des französischen Gebietes unternehmen konnte.72 Dem Teütschen haftete somit jenseits aller kollektiven Stilisierung auch aufgrund der persönlichen Lebenssituation Elisabeth Charlottes etwas besonders Beharrliches und Unveränderliches an, das sich als Identifikationsanker73 förmlich anbot. Der kulturelle Raum, den Elisabeth Charlotte Teütschland zu nennen pflegte, war also ein Raum, der aufgrund der dauerhaften Migrationserfahrung in einem sehr engen zeitlichen Rahmen imaginiert, gleichwohl aber als überzeitliche Konstante gedacht und empfunden wurde. Als Erinnerungsraum stand Teütschland in einem höchst asymmetrischen Verhältnis zum ‚französischen‘ Raum: Während das ‚gegenwärtig existente‘ Franckreich sich in den Wandlungen der Zeit und der Mentalitäten ständig aufs Neue zu bewähren hatte, war das vorgestellte Teütschland per se ein emotional positiv besetzter Raum,74 der Raum einer ‚guten alten Zeit‘. Er suggerierte Kontinuität und Verlässlichkeit. Elisabeth Charlottes ständiger Rekurs auf diese Unterschiedlichkeit ist somit nicht nur als persönliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturräumen zu interpretieren: Vielmehr sind die diskutierten Differenzen zugleich ein Verarbeitungsmodus für Unsicherheitsgefühle. Elisabeth Charlottes grundlegend negative Haltung gegenüber den neüen moden75 ist neben einer Ablehnung gegenüber dem französischen Hof auch als eine allgemeine Absage an kulturelle Unbeständigkeit und damit an eine empfundene Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderung in ihrer Zeit zu verstehen.76 Nur mit einem auf diese Weise zeitlich definierten Begriff des Teütschen konnte es ihr gelingen, real vorhandene soziokulturelle Wandlungsprozesse auszuklammern und eine kulturelle Differenz zwischen dem absolutistischen Franckreich und dem reichsständischen Teütschland zu konstruieren und aufrechtzuerhalten, die längst nicht mehr in diesem Sinne existierte.77 Schon 1696 beispielsweise war das Tabakrauchen auch am

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E. Ch. „Imagination“ gewesen. MEYER, Madame Palatine, in: Dictionnaire du Grand Siècle, hg. v. BLUCHE, S. 931: „Liselotte a la sensibilité de la génération précedente.“ Zu E. Ch.s mangelnden Möglichkeiten zum Reisen vgl. An Amalie Elisabeth, Marly, 4.11.1706, HO, 1, 336, S. 48; An Luise, Fontainebleau, 26.9.1701 u. 13.8.1711, HO, 6, N, 44, S. 558 u. 48, S. 562, Paris, 21.3.1722, HO, 6, 1313, S. 352, Versailles, 8.12.1708, HO, 2, 399, S. 63; An Sophie, Versailles, 24.7.1701, NLA-HStAH, XI,1, 334r [fehlerhafte chronologische Ordnung], Marly, 30.6.1701, ebd., XI,1, 297v–298r, vgl. B, 2, 457, S. 4, Versailles, 22.3.1711, ebd., XXI,1, 247v–249v, vgl. B, 2, 751, S. 268: in kein badt könte ich leÿder ziehen, den man hatt mir die flügel dermaßen beschnitten, daß ich gar nicht weit fliegen kan. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 452–457; FÜRSTENWALD, Liselotte, S. 471. Vgl. zur identifikationsstiftenden Wirkung von ‚Raumausschnitten‘ WEICHHART, Raumbezogene Identität, S. 40–45, bes. 41. Zum Zusammenhang von Raum und Emotion/Gefühl s. etwa Gertrud LEHNERT, Raum und Gefühl, in: Dies. (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Gertrud LEHNERT, Bielefeld 2011, S. 9–25. Vgl. An A. K. v. Harling, Paris, 10.12.1699, H, 161, S. 293. Zum Zusammenhang von Mode und gesellschaftlichem Wandel vgl. etwa Carlo Michael SOMMER u. Thomas WIND, Mode. Die Hüllen des Ich (Psychologie heute Buchprogramm), Weinheim u. Basel 1988, S. 101; JONES, Sexing, S. 9 u. 37–38. Zur Anlehnung dt. Höfe an das frz. Vorbild vgl. vor allem ELIAS, Prozess der Zivilisation, Bd. 1, S. 98–105; ferner Hans-Jürgen LÜSEBRINK u. Rolf REICHARDT, „Kauft schöne Bilder, Kupferstiche…“ Illustrierte Flugblätter und französisch-deutscher Kulturtransfer 1600–1830.

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Hannoveraner Hof, der sich wie andere kleinere Höfe im Reich kulturell stark am Versailler Vorbild orientierte, gängige Praxis. Als Elisabeth Charlotte von einer ihrer an den Hannoveraner Hof gereisten Bediensteten78 erfuhr, wie es dort zuging, meldete sie dies voller Entrüstung sofort ihrer Tante: Babet hat die gräffin Platten mitt die fraw Busch fraw von Molck undt andere damen mehr taback mitt pfeyffen drincken sehen, die haben ihr gesagt daß man es durch gantz Hannover thette undt E.L. freüllen auch drincken.79

Schuld an dieser Praxis – da gab es für Elisabeth Charlotte keinen Zweifel – war der französische Hof, von dem ausgehend sich die aus ihrer Sicht verabscheuungswürdigen Moden verbreiteten. Im Dezember 1699 schrieb sie an Anna Katharina von Harling, sie sei nicht im Geringsten verwundert, daß man jetzt zu Hannover so sehr mitt der neüen moden occupirt ist, schließlich sei es in Fontainebleau ganz ähnlich gewesen, dass die Damen über dem Tabakrauchen eßen – drinken undt schlaffen (...) verlohren.80 Elisabeth Charlottes grundsätzlich konflikthafte Wahrnehmung zeitlichen sozialen Wandels, die auch anhand ihrer Einstellung zur europäischen Gartenkultur (2.I.1) und dem Festhalten an dem in England längst nicht mehr populären Mylady-Kent-Pulver (2.III.1) zu beobachten war, wurde aufgrund ihrer Migrationserfahrung erheblich verschärft. In ihren Briefen scheint vereinzelt durch, dass sich Elisabeth Charlotte dessen durchaus bewusst war. So schrieb sie im April 1704 mit Bezug auf den Wandel der deutschen Sprache: Ich würde gar altfranckisch sein, wen ich in Teütschlandt kommen; den die neüe art von reden würde ich mühe haben zu lernen.81 Trotz aller wahrgenommenen Veränderungen wird es Elisabeth Charlotte zusätzlich in ihrer Haltung bestärkt haben, dass sich ihre Tante – so zeigt ein Brief Sophies an Raugräfin Luise vom Januar 1712 – der gleichen Deutungsmuster bediente und sich selbst in ihrer Ablehnung gegenüber dem nun sehr modischen Kaffee und Schnupftabak als altfrenckisch bezeichnete.82

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Sonderausgabe für die Volkswagenstiftung, Mainz 1996, S. 19; SCHLOBACH, Frankreich, S. 82–85; FINK, Alamodestreit, S. 19–25; MENNINGER, Genuss, S. 423. Babette Jeme, Tochter des Sieur Jeme, der als Tanzmeister am braunschweig-lüneburgischen Hof eine Anstellung hatte. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 108–109. An Sophie, Versailles, 16.2.1696, NLA-HStAHVI, 25v, vgl. B, 1, 231, S. 235. Es handelt sich laut Bodemann bei den genannten Damen neben Clara Elisabeth v. Platen (3.III.1.) um Frau v. d. Busche und Frau v. Moltke. An A. K. v. Harling, Paris, 10.12.1699, H, 161, S. 293. Vgl. An Amalie Elisabeth, Versailles, 29.4.1704, HO, 1, 209, S. 347–348: Daß kompt mir alber [sic!] vor, daß unßere gutte Teütschen alß frantzösch schreiben wollen, alß wen man nicht auff Teütsch schreiben könte. Ich fürchte, daß Teütsche wirdt sich endtlich so verliehren, daß es keine sprache mehr sein wirdt. (...) Ich kan mich nicht genung [wundern], wie alles in Teütschlandt geendert ist. Mich deücht, es war alles beßer regullirt zu meiner zeit. Ich würde gar altfranckisch sein, wen ich in Teütschlandt kommen; den die neüe art von reden würde ich mühe haben zu lernen. Vgl. dazu MATTHEIER, Sprache, S. 230–231. Vgl. Sophie an Luise, Hannover, 7.1.1712, in: BODEMANN (Hg.), BK, 372, S. 332: Es wundert mir, daß ihr so viel werck tharvon macht, daß ich euch choquelate undt caffe habe geschickt, ich meinte, es werde euch früwen, daß ich tharan dechte, euch nach euren schmack ein gefallen zu thun, ob ich schon gar nicht von caffe aprobire, aber er ist nun à la mode sowohl als schnuptoback, muß also die ich altfrenckisch bin tharzu still schweigen. Vgl. zur ablehnenden Haltung Sophies zum Tabak auch Sophie an Luise, Hannover, 19.4.1708, in: Ebd., 312, S. 279 u. 6.5.1703, in: Ebd., 274, S. 251: Mr. Davenet wolle sie grüssen (...) estimire ihn sunsten sehr, wie auch seine geselschaft, dan von die kotzige nas voll toback will ich nichts sagen, ist nun die mode. Sophie selbst trank

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Raum und Zeit spielen in den individuellen Prozessen der Aneignung und erzählenden Deutung kultureller Praxis, wie sie in den Briefen Elisabeth Charlottes nachvollziehbar sind, in vielfältiger Weise ineinander83 und können nur in ihrer spezifischen Verflechtung verstanden werden.84 Elisabeth Charlotte nahm die räumliche Differenz zwischen den beiden Lebenswelten Heidelberg bzw. Hannover (2.I.1) und Paris sehr bewusst wahr und thematisierte sie sogar ausführlicher und ausdrücklicher, als sie dies für andere Prozesse kulturellen Wandels tat, die sich unzweifelhaft in ihrer Lebenszeit abspielten. Wie in den vorangegangenen Analysen herausgearbeitet werden konnte, war für Elisabeth Charlotte bei der Bewertung neuer Praktiken immer auch entscheidend, ob diese gesundheitsfördernd waren und sich in ihr diätetisches Alltagsprogramm integrieren ließen. Dementsprechend begutachtete sie auch den Konsum von Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak aus dieser Perspektive. Da die Produkte schon in den Ursprungskulturen nicht nur als stimulierende Genuss- sondern ebenso als Heilmittel angewendet wurden, hatten auch die europäischen Reisenden der Frühen Neuzeit ein vitales Interesse an dieser Verwendungsart gezeigt.85 So wurde nicht selten die gesundheitsfördernde Wirkung der Getränke bzw. des Tabaks gelobt oder die beobachtete gute Gesundheit der Einheimischen auf deren Konsum zurückgeführt. Umso verwunderlicher erscheint es, dass die europäische Rezeption der neuen Getränke und des Tabaks als Arzneimittel in der Forschung bisher eher vernachlässigt worden ist.86 Europäische Ärzte des 17. und 18. Jahrhunderts etablierten Kaffee, Tee und Schokolade sowie Tabak durchaus in der medizinischen Therapie, propagierten die Effektivität der Produkte und waren somit maßgeblich daran beteiligt, die insbesondere bei medizinischen Laien bestehenden Vor-

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aber wohl Schokoloade. Vgl. An Luise, Hannover, 13.4.1710, in: Ebd., 352, S. 314: Da kombt mein choquelate undt wirdt man baldt in die kirg leuten, verbleibe sie gans ergeben. Dies ist ein anderer Befund als in den Debatten der Raumforschung. Vgl. Frederic JAMESON, Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas HUYSSEN u. Klaus R. SCHERPE (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45–102, hier 60–61: „Es ist oft gesagt worden, daß wir in einer Zeit der Synchronie und nicht der Diachronie leben, und ich glaube, daß man in der Tat empirisch nachweisen kann, daß unser Alltag, daß unsere psychischen Erfahrungen und die Sprachen unserer Kultur heute – im Gegensatz zur vorangegangenen Epoche der ‚Hochmoderne’ – eher von den Kategorien des Raums als von denen der Zeit beherrscht werden.“ Vgl. BACHMANN-MEDICK, Turns, S. 303 u. 284, der zufolge eine kritische Raumforschung gerade die Verräumlichung von Zeit und Geschichte fokussiert. S. auch Michel FOUCAULT, Von anderen Räumen, in: Daniel DEFERT u. François EWALD u. M. v. Jacques LAGRANGE (Hg.), Michel Foucault, Schriften in 4 Bänden. Dit et Ecrits, Bd. 4: 1980–1988, Frankfurt a.M. 2005, S. 931–942; Wolfgang HALLET u. Birgit NEUMAN, Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spacial Turn, Bielefeld 2009, S. 11–32, hier 13–14. Dass sich Raum und Zeit in literarischen Erzählungen wechselseitig bedingen, wird von dem russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin mit Hilfe des Begriffes ‚Chronotopos‘ betont. Die Bedeutung von Zeitlichkeit für die soziokulturelle Hervorbringung von Raum betont bereits Reinhart Koselleck in seinem Vortrag auf dem Historikertag 1986. Vgl. Reinhart KOSELLECK, Raum und Geschichte, in: Reinhart KOSELLECK, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 78–96, hier 90; HALLET u. NEUMANN, Raum, S. 18 u. 21. Vgl. MENNINGER, Genuss, S. 25 u. Tabak, Abs. 29–33; SCHNYDER-VON WALDKIRCH, Europa, S. 18; HOCHMUTH, Güter, S. 54. Vgl. MENNINGER, Tabak, Abs. 38 u. 2.

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behalte gegenüber diesen Erzeugnissen abzubauen.87 Dies gelang vor allem aus zwei Gründen: zum einen, weil die auf antiken Konzepten fußende medikale Kultur der Frühen Neuzeit den Zusammenhang von Ernährungsgewohnheiten und gesunder Lebensführung von jeher hoch schätzte, und mehr noch, weil die purgative sowie harn- und schweißtreibende Wirkung der Inhaltsstoffe sich in die grundlegenden zeitgenössischen Körperkonzepte und die darauf aufbauende therapeutische Kultur ideal einfügten.88 Auch in der Korrespondenz Elisabeth Charlottes finden sich Hinweise auf eine solche gesundheitsbezogene Anwendung der Heißgetränke und des Tabaks im höfischen Kontext89 – interessanterweise insbesondere bei ihren deutschen Verwandten.90 1716 und 1719 etwa berichtete Elisabeth Charlotte ihrer Halbschwester Luise, wie ihr Vater sich selbst und die oberste Wildnerin91 aus Mannheim mit Schokolade von der Wassersucht kuriert habe.92 Da Karl Ludwig schon im Jahr 1680 gestorben war, muss die Schokoladentherapie in der Zeit davor, vielleicht sogar noch vor Elisabeth Charlottes Übersiedlung an den französischen Hof angewendet worden sein. In Elisabeth Charlottes Familie hatte man also durchaus schon früh Kenntnis von den Produkten aus der ‚neuen Welt‘ und dem ‚Orient‘ und wendete sie als Heilmittel an. Die therapeutische Anwendung von Tee hatte sich wohl – befördert durch familiäre Vernetzung nach Frankreich – auch in der Elisabeth Charlotte verwandtschaftlich verbundenen hessischen Landgrafenfamilie vergleichsweise früh durchgesetzt. Im Oktober 1684 schrieb Madame de Sévigné an ihre Tochter über Emilie von Hessen-Kassel, verheiratete Prinzessin von Tarent und Talmont93 und Elisabeth Charlottes Tante mütterlicherseits, diese nehme jeden Tag zwölf Tassen mit kochendem Wasser verdünnten Tee zu sich, von dem sie glaubte, er

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Vgl. ebd., 40–43; HOCHMUTH, Güter, S. 55–59. Vgl. MENNINGER, Tabak, Abs. 44–50 u. 63; SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 109. Vgl. SCHIVELBUSCH, Paradies, S. 29, der insbesondere die Anwendung des Kaffees als Heilmittel als typisch für die bürgerliche Gesellschaft betrachtet, die sich im Gegensatz zum Adel nicht für die Form (der Konsumierung), sondern für den Inhalt, also die physiologische Wirkung, interessiert habe. Vgl. zur Anwendung von Schokolade als Aphrodisiakum An Sophie, Fontainebleau, 24.9.1701, NLA-HStAH, XI,2, 479r–479v, vgl. B, 2, 470, S. 17: Man solte dießem König [Friedrich I. v. Preußen] ahn statt caffé chocollate machen drincken den der solle das contrarie vom caffé thun, aber da were vielleicht der lieben Königin [Sophie Charlotte] nicht mitt gedient. An Luise, Versailles, 25.2.1706, HO, 1, 297, S. 444. Vgl. MENNINGER, Genuss, S. 273; MIELKE, Kaffee, S. 208; Hans-Jürgen, TEUTEBERG, Die Eingliederung des Kaffees in den täglichen Getränkekonsum, in: Ders. u. Günter WIEGELMANN (Hg.), Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung (Studien zur Geschichte des Alltags 6), Münster 1986, S. 185–201, hier 190–191, HOCHMUTH, Güter, S. 59 mit Bezug auf E. Ch. Gemeint ist hier eine Wildbret-Händlerin. Vgl. J. Andreas SCHMELLER (Hg.), Bayrisches Wörterbuch. Sammlung von Wörtern und Ausdrücken (...), vierter Teil, Stuttgart, Tübingen 1837, S. 65. Vgl. An Luise, St. Cloud, 18.6.1719, HO, 4, 1028, S. 150 u. 19.11.1716, HO, 3, 789, S. 41: Wen mir die waßersucht ahnkommen solte, konte ich es nicht mitt chocolatte churiren, wie I.G. mein herr vatter s.; den mein magen kan die chocolade gar nicht vertragen; wen ich nur ein fingers lang chocolate nehmen, thut es mir gleich schwer im magen undt wehe. Die oberste Wildnerin zu Manheim haben I.G.s. auch mitt chocolatte von der waßersucht courirt. Kurz vor seinem Tod 1679 war K. L. aber wohl weniger erfolgreich mit dieser Therapie. Vgl. Karl Ludwig an Sophie, Friedrichsburg, 5./15.4.1679, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 357, S. 355. Vgl. zu E. Ch.s Verhältnis zu ihrer Tante Emilie KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 18–20.

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heile sie von allen Übeln.94 Des Weiteren sei auch ihr Neffe, Elisabeth Charlottes Cousin, Landgraf Karl von Hessen-Kassel (1654–1730), von der Heilkraft des Tees derart überzeugt, dass er jeden Tag vierzig Tassen trinke.95 Er sei dem Tod geweiht gewesen, habe sich aber durch eine Teekur zusehends erholt.96 Trotz dieser familiären Erfolgsgeschichten äußerte Elisabeth Charlotte in ihrer Korrespondenz mehrfach, wie etwa im April 1707, sie sei persuadirt, daß alle die frembte sachen nicht gesundt97 seien. Schon im September 1698 hatte sie sich dahingehend geäußert: Ich nehme noch weniger zeügs als E.L., den mein leben nehme ich weder café thé noch chocolat nehme ich caffé, glaube daß ich närisch würde werden, vor etliche jahren habe ich es ein mahl versuchen wollen, allein es stiege mir dermaßen im hirn daß ich kein aug zuthun konte undt die gantze nacht wachen muste undt hatte 10mahl mehr undt unruhigere gedancken alß ordinari, der chocolat thut mir wehe im magen, undt das thé verhindert mich met verlöff met verlöff auff den kackstuhl zu gehen, habe also allem dem zeüg abgesagt.98

Elisabeth Charlotte argumentierte hier auf der Grundlage intensiver eigener leiblicher Erfahrungen mit den drei Getränken. Hinter der Rhetorik eines dezidierten Boykotts in ihren Briefen steht also eine aktive praktische Auseinandersetzung mit den neuen Gewohnheiten im kulturellen Kontext des französischen Hofes. Die bereits zeitgenössisch beim Kaffee so geschätzte Wirkung der Ernüchterung und gesteigerten Konzentration äußerte sich bei Elisabeth Charlotte in Form einer unangenehmen inneren Unruhe oder sogar einer für gefährlich gehaltenen Schlaflosigkeit. Neben den Magenschmerzen nach Schokoladen-Konsum, von denen sie mehrfach sprach, schrieb sie dem Tee zu, er verhindere die für die Gesundheit notwendigen Ausscheidungen, so dass er angesichts solch einer Wirkweise wohl kaum als gesund gelten konnte. Ihre Gesundheitskritik am Kaffee verschärfte Elisabeth Charlotte in einem Brief an Luise vom Februar 1711, in dem sie sich überzeugt zeigte, dass nichts (...) ungesunder in der weldt sei als der Kaffee. Um der offensichtlich über lange Jahre hinweg leidenschaftlichen 94

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Es kann vermutet werden, dass der so verdünnte Tee wohl eher beruhigende Wirkung entfalten sollte. Insbesondere bei längerer Ziehzeit werden Gerbstoffe frei, die beruhigend auf den MagenDarm-Trakt wirken. Eine kurze Ziehzeit bei schwarzem Tee verursacht hingegen eine anregende Wirkung. Vgl. ROTHERMUND, Tee, S. 163–164. Solche Mengen wurden nachgewiesenermaßen auch von Medizinern wie etwa von dem niederländischen Arzt Cornelius Bentekoe empfohlen. Vgl. MIELKE, Tee, S. 143–144. Vgl. Mme de Sévigné an Mme de Grignan, Aux Rochers, 4.10.1684, in: DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SEVIGNE, Bd. 3, 891, S. 148–149. Für diesen Hinweis danke ich RoseMarie Biehlig. Vgl. auch Silke KÖHN, Vom Zauber einer Legende. Die Braut von Fikensolt. Das Porträt der Prinzessin Charlotte Amélie de la Trémoïlle, Gräfin von Aldenburg, hg. v. der Stiftung für Kunst und Kultur der Stadt Westerstede und der Oldenburgischen Landschaft, Oldenburg, 2005, S. 65–66 sowie den kurzen Vermerk bei SCHIEDLAUSKY, Tee, S. 7. An Amalie Elisabeth, Versailles, 14.4.1707, HO, 2, 357, S. 17. Vgl. auch An Amalie Elisabeth, Port Royal, 22.8.1698, HO, 1, 65, S. 113–114; mit ethnischem Argument An Luise, Paris, 7.1.1720, HO, 5, 1085, S. 10: Ich bin nicht persuadirt, daß caffé, the undt chocolat leütte, so nicht indianer sein, gesundt ist. An Sophie, St. Cloud, 18.9.1698, NLA-HStAH, VIII,2, 483v–484r, vgl. B, 1, 354, S. 344. Zu den von E. Ch. thematisierten Nebenwirkungen zählte auch das Schwitzen. Vgl. An Luise, 22.7.1714, Marly, HO, 2, 656, S. 413: Nach dem eßen habe ich caffé genohmen; daß hatt mich so unerhört schwitzen machen, daß ich mich von haubt zu füßen habe anderst ahnthun müssen undt die haar kammen undt poudern laßen, drumb fang ich wider ahn, so spät zu schreiben.

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Kaffee-Trinkerin Luise die Gefährlichkeit des Gebräus vor Augen zu führen, berichtete Elisabeth Charlotte, sie sehe alle tag (...) leütte hir, so es [den Kaffee] quittiren müssen, weillen es ihnen große kranckheitten verursachet.99 Zur näheren Erklärung bezog sie sich – ähnlich wie kritische Ärzte100 – auch auf Obduktionsbefunde. Sie schrieb: Die fürstin von Hannau, hertzog Christians von Bircken feldt dochter,101 ist davon [vom Kaffee] gestorben mitt abscheülichen schmertzen. Man hatt den caffé nach ihrem todt in ihrem magen gefunden, so hundert kleine geschwehrn drinen verursachet. Last Eüch doch daß zur warnung dinnen, liebe Louisse!102

Auch wenn aus heutiger Sicht wohl außer Frage stehen dürfte, dass hier mit Magensäure versetztes Blut aufgrund seiner optischen Ähnlichkeit fälschlicherweise als Kaffee gedeutet wurde, ist bemerkenswert, wie Kritiker des Kaffeegenusses aus den Obduktionen eine Bestätigung ihrer Auffassungen ableiteten, die in Laienkreisen weitergetragen wurde. Vorstellungen eines Zusammenhangs von Kaffeegenuss und anhaltenden Magenschmerzen sowie vermeintlich aus der Obduktion gewonnenes ‚Wissen‘ wirken hier direkt zusammen. Für Elisabeth Charlotte bestätigte sich damit nur, was sie ohnehin vermutete: Insbesondere daß heßliche caffé (...) so alles geblüdt corompirt103 , musste als höchst gefährlich gelten. In der folgenden Zeit sorgte sie sich, wie etwa in einem Brief an Luise vom Juli 1712, vermutlich vor dem Hintergrund des Schicksals der Fürstin von Hanau, dass gantz Hanover zu viel cavé nimbt, obwohl man wisse, dass das Heißgetränk magen undt brust recht schadtlich sein solle.104 Hier verknüpfte Elisabeth Charlotte das Muster der AlamodeKritik an der Übernahme der neuen Mode an deutschen Höfen mit Vorstellungen einer dezidierten Gesundheitsgefährdung. Indem sie die französische Mode des KaffeeTrinkens als Gesundheitsrisiko disqualifizierte, gelang es ihr, sich selbst nachhaltig von diesen Praktiken zu distanzieren. Auf diese Weise beanspruchte sie für sich eine diskursive Position, derzufolge vermeintlich alte teütsche Werte, zu denen auch die mit Tugend eng verbundene Gesundheit zu zählen war,105 über die Erfordernisse zeitgenössischer adeliger Repräsentationskultur zu stellen waren.

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An Luise, Marly, 5.2.1711, HO, 2, 511, S. 229–230; vgl. auch St. Cloud, 27.6. u. 25.7.1722, HO, 6, 1339, S. 423 u. 1347, S. 435. Vgl. MENNINGER, Tabak, Abs. 62. Es handelt sich hier vermutlich um Magdalena Claudia (auch Claudina) v. d. Pfalz-Zweibrücken, 1668–1704, die seit 1689 mit dem Grafen Philipp Reinhard v. Hanau-Münzenberg verheiratet war. S. dazu etwa Philipp Casimir HEINTZ, Beiträge zu einer Geschichte des Bayrischen Rheinkreises nebst urkundlichen Nachrichten von einigen Pfalzgrafen der Birkenfeld-Bischweiler-Linie, Zweibrücken 1835, hier 173. An Luise, Marly, 5.2.1711, HO, 2, 511, S. 229–230. Vgl. auch 31.5.1711, HO, 2, 528, S. 253: Nimbt Ewer cammermedgen viel caffé, mogte es ihr woll gehen alß wie die fürstin von Hannau, des printz von Birckenfelts [hier vermutlich Christian III. von Pfalz-Zweibrücken, 1674–1735] schwester. An Luise, Marly, 18.6.1711, HO, 1, 582, S. 258: Daß ma tante thé undt chocolate gern drinnkt, geht woll hin; wen sie sich nur nicht ahn daß heßliche caffé gewondt, so alles geblüdt corompirt. Ebd., 7.7.1712, HO, 2, 555, S. 284. Das zeigt sich etwa auch in Moscheroschs Philander in Bezug auf das mit der Syphillis assoziierte Frankreich-Bild, MOSCHEROSCH, Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, hg. v. HARMS, S. 41. Vgl. dazu FLORACK, Deutsche, S. 132; 3. IV.

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Auch die erste langfristige Erfahrung mit dem Kaffee als Heilmittel, die Elisabeth Charlotte auf Verordnung ihres Leibarztes106 seit Beginn des Jahres 1713 machte,107 führte nur zu einer zeitweiligen Akzeptanz. Den Verlauf der ‚Kaffee-Kur‘, mit der François Terray de Rosières, den Elisabeth Charlotte weitaus mehr schätzte als ihre vorhergehenden Ärzte,108 eine mit verschiedenen Muskelschmerzen einhergehende, für gefährlich gehaltene Schlafsucht zu kurieren versuchte, beobachtete und dokumentierte Elisabeth Charlotte in ihren Briefen genauestens. Im Februar 1713 beklagte sie sich gegenüber Luise über die Wirkungslosigkeit des Kaffees, den sie zweimal täglich einnehmen müsse.109 Auch wenn sie zwischenzeitlich positive Effekte der Kaffee-Diät auf Verdauung und Figur (3.III.2)110 ausgemacht hatte und Ende des Jahres sogar zugab, dass ihr der Kaffee in der that woll bekompt, blieb ihr Geschmacksurteil davon vollkommen unberührt. So beeilte sie sich im zitierten Brief anzufügen, dass sie mitnichten lüstern nach dem Kaffee sei, gar keinen gutten geschmack an ihm finden könne und ihn ausschließlich wie ein remede zu gebrauchen pflege.111 Als sich die Kaffee-Kur im November des Jahres 1714 vorerst dem Ende zuneigte, vermeldete Elisabeth Charlotte folgerichtig mit Erleichterung: Ich bin gott lob undt danck, deß caffé quit, habe es nicht gewohnen können (...).112 Im Rahmen einer zweiten ‚Kaffee-Kur‘, die Terray im März des Jahres 1717 verordnet hatte, um der neuerlich auftretenden Schläfrigkeit und den geschwollenen und schmerzenden Gliedmaßen beizukommen, verschärften sich Elisabeth Charlottes skepti106

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Terray hatte an der gegenüber der Chemiatrie aufgeschlossenen Fakultät von Montpellier studiert und folgte dem verstorbenen Arlot 1709 als Leibarzt E. Ch.s. Vgl. den Eintrag zu dessen Neffen, dem Abbé Joseph Marie Terray, in: Biographie universelle ancienne et moderne, hg. v. MICHAUD, Bd. 41, S. 172–179, hier 172. Vgl. auch An Sophie, Versailles, 7.3.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 136v– 137r: Mein neüer docktor ist gantz verwundert daß ich nichts brauchen will hatt mir schon etliche sachen vorgeschlagen so ich aber alle in gnaden abgeschlagen habe, er sicht woll daß ich keinen starcken glauben habe in allen remedien undt medecinen, undt daß clistirium donare posta seignaré [sic!] et ensuita burgare [sic!] beÿ mir nicht ahngeht, war [was?] er gutt hatt ist daß er lustig ist undt verstandt hatt undt von gutter conversation da werde ich ihn mehr zu brauchen er ist ein junger man von 42 jahren, der gutte minen hatt man solte ihn eher vor einen obersten ahnsehen alß vor einen docktor. An Luise, Marly, 15.1.1713, HO, 2, 570, S. 299: Ich muß Eüch noch sagen, daß mein dockter mir daß caffe ordinirt; ich finde es abscheülich, kan mich nicht ahn den bittern rußgeschmack gewohnen. MENNINGER, Genuss, S. 272, verweist anhand dieses Beispiels auf den „Weg der Wissensvermittlung über den Drogenwert der Genussmittel“ durch eine „Arzt-Patienten-Beziehung“. S. auch STOLBERG, Homo Patiens, S. 93–94. Vgl. zum Verhältnis zwischen Terray und E. Ch. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 610; FORSTER, Illness, S. 310–311, 315 u. 319; VOSS, Fürstin, S. 53. An Luise, Marly, 19.2.1713, HO, 2, 572, S. 301: Alle remedien, so man mir gebraucht, seindt umbsonst; ich bin eben so ellendt nun, wie ich zuvor war, schnauff eben so sehr, habe eben so groß lenden-, knie- undt fuß-wehe; der caffé, den man mir 2 mahl deß tags macht nehmen, thut mir weder guts noch böß, undt ich habe die schlaffsucht noch immer. An Luise, Versailles, 29.6.1713, HO, 2, 581, S. 315: Ich trincke alle tag einen becher mit caffé, daß jagt mir die windt weg undt verhindert mich, dicker zu werden, drumb continuire ich es; aber ich muß gestehen, daß mir der geschmack gar nicht gefählt, finde, daß es wie ein stinckender ahtem schmeckt. An Luise, Versailles, 7.12.1713, HO, 2, 612, S. 357: Nach dem caffé bin ich auch nicht lüstern, brauch es wie ein remede, daß mir in der that woll bekompt, aber ich liebe es nicht undt finde gar keinen gutten geschmack dran. S. ebenso 18.2.1714, HO, 2, 626, S. 371–372. An Luise, Marly, 22.11.1714, HO, 2, 676, S. 486.

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sche Äußerungen gegenüber dem Kaffee. Aufgrund dieser erfolglosen Kur113 steigerte sich ihre Abneigung im April so sehr, dass sie dem Kaffee sogar eine gegenteilige, ihre gliederschmertzen verstärkende Wirkung zuschrieb.114 Im gleichen Jahr berichtete sie zudem, sie habe observirt, dass plötzliche Todesfälle sehr viel häufiger auftreten würden, seit Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak so beliebt geworden seien.115 Im Januar 1720 bekräftigte sie gegenüber ihrer Halbschwester abermals diese Theorie, denn bevor Kaffee und Tabak a la mode wahren, hörte man gar gewiß nicht so viel von schlagflüßen [Schlaganfällen], alß nun.116 Dabei gibt ein wenige Wochen später geschriebener Brief Auskunft, dass zumindest in Bezug auf die Wirkungen des Tabaks hier eine ärztliche Auffassung grundlegend war. Monsieur Fagon, der verstorbene Leibarzt Ludwigs XIV., habe dem villen dapack schuldt an dem gehäuften Auftreten der ‚Schlagflüsse‘ am französischen Hof gegeben, so Elisabeth Charlotte.117 Obwohl sie bekanntermaßen ein unterkühltes Verhältnis zu den Leibärzten und insbesondere zu dem ehrgeizigen Fagon (2.II.3) hatte, rezipierte sie seine mit ärztlicher Autorität behaftete Meinung mit dem Ziel, ihre Halbschwester Luise von den gesundheitlichen Risiken des Tabakkonsums zu überzeugen. Dabei gab es mindestens ebenso laute ärztliche Stimmen, die den Tabak als stärkend für so ziemlich alle Organe beschrieben und ihn – ganz im Gegensatz zu Fagon – sogar als Heilmittel nach Schlaganfällen empfahlen118 , und auch Elisabeth Charlotte wusste in einem Brief an ihre Tante vom März 1700 von einem Fall zu berichten, in dem der Tabakkonsum offenbar der Gesundheit dienlich war. 119 Neben der gesteigerten Beharrung auf einer gesundheitsgefährdenden Wirkung des Kaffees blieben konsequenterweise auch die geschmacklichen Aversionen präsent.120 Die von ihrem Arzt initiierten medizinischen Therapien mit Kaffee hatten – anders als Anne-

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Vgl. An Luise, Paris, 5.4.1717, HO, 3, 825, S. 66 u. 19.3.1717, HO, 3, 820, S. 64: Meine gesundtheit ist noch nicht zum besten; den meine füß geschwellen; undt unahngesehen deß schonnen caffé schlaff ich überall, kan nichts mehr sagen, alß daß ich Eüch von hertzen lieb behalte, ich schlaff oder wache. An Luise, St. Cloud, 18.6.1719, HO, 4, 1028, S. 150: Es ist gewiß, daß caffé-drincken gliederschmertzen macht; wie ich es wider meinen willen genohmen, habe ich mehr gliederschmertzen [gehabt,] alß nun. S. auch 11.6.1719, HO, 4, 1026, S. 144. Vgl. An Luise, St. Cloud, 11.6.1719, HO, 4, 1026, S. 144: Jedoch so habe ich observirt, daß, seyder die frembte sache, alß thé, chocolat, caffé undt taba[c] regieren, hört man mehr von schlein[i]gen todtfallen, alß vorher. An Luise, Paris, 28.1.1720, HO, 5, 1091, S. 28. Ebd., 3.2.1720, HO, 5, 1093, S. 38: die schlagflüße sollen eben so gemein in Englandt sein, alß hir. Monsieur Fagon gab dem villen dapack schuldt, so man hir nimbt. (...) Wen die lahmung kompt bei dem schlag, ist daß leben salvirt. Seydt kein narr so, daß Ihr die schlimme mode folgt, den schlag zu bekommen, liebe Louisse! Vgl. MENNINGER, Tabak, Abs. 56 u. 60 u. Genuss, S. 294–295. Hierzu zählte auch die Auffassung, Tabak sei gesund, da er den Körper durch Abhusten purgiere. Auch Polier war als leidenschaftlicher Tabakkonsument dieser These zugeneigt. Vgl. An Luise, Versailles, 19.3.1702, HO, 1, 161, S. 274. Vgl. An Sophie, Versailles, 14.3.1700, NLA-HstAH, X,1, 188v–189r: unßer hertzog von Lotheringen drinckt alle abendt taback er kans aber wegen der gesundtheit nicht entberen, den wen er kein taback nimbt, fallen ihm gewäßer vom haubt auff die brust er schir erstickt, er muß immer speÿen, undt wie er ein pfeÿffe taback genohmen, so speit er nicht. An Luise, Paris, 5.4.1717, HO, 3, 825, S. 66 u. 12.3.1717, HO, 3, 818, S. 63: Mein schlaffsucht ist arger, alß nie; man hatt mir zwar die cour vom creüttersaft genhohmen, allein man will mich wider daß heßliche undt widerliche caffé drincken machen, welches mich recht betrübt.

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rose Menninger in ihrer Studie zu ‚Genuss im kulturellen Wandel‘ vertritt121 – eindeutig nicht dazu geführt, dass Elisabeth Charlotte ihre Geschmacksaversionen längerfristig überwand und das Getränk wegen der angenommenen gesundheitsfördernden Wirkung regelmäßig konsumierte.122 Die Vorstellung, bei eigentlich guter Gesundheit mit dem täglichen Kaffee eine Medizin zu sich zu nehmen, passte gerade nicht zum in der Herkunftsfamilie erworbenen medikalen Konzept Elisabeth Charlottes, dessen Basis es war, so wenig Eingriffe wie möglich in die Natur des Körpers vorzunehmen (2.II.1-2). So schrieb Elisabeth Charlotte denn auch noch im April ihres letzten Lebensjahres: Caffé drincken were auch meine sache [nicht], finde nichts widerlichers in der weldt; daß oder eine medecin were mir eins wie daß ander.123

2. in eßen undt drincken noch gantz teütsch : Neue Deutungen für gewohnte Praktiken 124

Zweifellos besaßen Ernährungspraktiken für Elisabeth Charlotte ein besonderes Identifikationspotential.125 Dies zeigt sich in ihren Briefen auch in Erinnerungssequenzen an das Essen und Trinken in ihrer ersten Lebensphase vor der Verheiratung und Übersiedlung an den französischen Hof. Im September 1672 beispielsweise dachte Elisabeth Charlotte in einem Brief an ihre frühere Hofmeisterin Anna Katharina von Harling zurück: Vndt ich hette woll wünschen mögen mitt unßere kleine princen vndt princes126 in eurem hauß zu sein. Dißes solte mich mehr divertirt haben als ein großer baal hir – weillen ich nicht gehrn mehr dantze; Vndt möchte lieber davor schincken vndt knackwürst eßen.127

Die Erinnerung an vergnügliche Tage, die sie im Hannoveraner Haus des Ehepaares Harling mit ihren Cousins und Cousinen verbracht hatte, ist hier untrennbar mit einer leiblichen Erinnerung verbunden – dem Genuss von Schinken und Knackwürsten. Dieser wird gegen die ‚großen Bälle‘ abgegrenzt, die Elisabeth Charlottes aktuelle Lebenssituation am französischen Hof repräsentierten. Auf diese Weise wird eine Brücke zwischen der Gegenwart der Schreibsituation und der Vergangenheit, mithin zwischen dem ‚Ich‘ der ersten Lebensphase und dem aktuell schreibenden ‚Ich‘ hergestellt, die konstitu-

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Vgl. MENNINGER, Genuss, S. 272, 275 u. Tabak, 80. Vgl. dazu Aussagen aus den letzten Lebensjahren An Luise, Paris, 11.2.1720, HO, 5, 1096, S. 47–48: Mir were es kein danck geweßen, wen Ihr mir vor meinen glückwünschungen thé, caffé undt chocolade geben hettet; ich nehme keines von allen 3en. St. Cloud, 8.10.1722, HO, 6, 1368, S. 473. Ähnlich auch beim Tabak, den ihr Arzt ihr ebenfalls verordnet hatte, den sie aber ablehnte. Vgl. An Sophie, Versailles, 18.12.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 746r. An Luise, Paris, 16.4.1722, HO, 6, 1320, S. 372–373. An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 99. S. auch VOSS, Zeuge, S. 201. Bereits in ihren frühesten Briefen vom frz. Hof war dieser Aspekt der Selbstvergewisserung deutlich zum Ausdruck gekommen. S. 2.II. Gemeint sind hier die Söhne und Töchter ihrer Tante Sophie von Hannover, deren Hofmeisterin A. K. v. Harling war. Vgl. dazu HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 35–37. An A. K. v. Harling, Versailles, 15.9.1672, H, 26, S. 105–106.

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tiv für die emotionale Bedeutung der hier aufgerufenen nostalgischen Erinnerung128 ist. Gegenwartsbezogenen sozialpsychologischen Untersuchungen zufolge wirken Erinnerungen dieser Art insbesondere in Phasen von Einsamkeit und Traurigkeit wie ein Stimmungsaufheller, indem sie das Gefühl sozialer Integration vermitteln.129 Bezieht man diese Erkenntnisse diachron auf Elisabeth Charlottes Lebenssituation, verwundert kaum, dass sie solche emotional positiv besetzten Geschmackserinnerungen in den folgenden Jahren nicht nur im Schreiben aktualisierte,130 sondern ebenso, indem sie sich von ihren Briefpartner_innen diejenigen Lebensmittel an den französischen Hof schicken ließ, deren Verzehr ihre wertvollen Erinnerungen aufzufrischen vermochte.131 Im Zuge des regen Transfers materieller Güter, der Elisabeth Charlottes verschiedene Korrespondenzen flankierte,132 entfaltete sich auch ein Austausch von Lebensmitteln.133 Zwischen den Höfen reisende Personen aus dem persönlichen Netzwerk von Verfasserin und Adressierten überbrachten dabei mit den üblichen Briefen auch die achtsam verpackten Begleitsendungen.134 Innerhalb des vollständig edierten Harling-Korpus, das mit dem Zeitraum von 1663–1722 auch die gesamte Spanne abdeckt, in der Elisabeth Charlotte als Briefschreiberin tätig war, ist erstmals im Januar 1677 eine solche Sendung nachweisbar, als Elisabeth Charlotte an Anna Katharina von Harling schrieb, sie warte mitt großem verlangen auf die angekündigten pumpernickel vndt die mettwürste.135 Auch in den frühen Briefen an Sophie finden sich zu Beginn der 1680er Jahre Hinweise auf die Über-

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Vgl. die Definition nostalgischer Erinnerung von Constantine SEDIKIDES, Tim WILDSCHUT u. Denise BADEN, Nostalgia. Conceptual Issues and Existential Functions, in: Jeff GREENBERG, Sander L. KOOLE u. Tom PYSZCYNSKI (Hg.), Handbook of Experimental Existential Psychology, New York 2004, S. 200–214, hier 202: „Nostalgia is yearning for aspects of one’s past (…).“ Die Prägung des Begriffs ‚Nostalgie‘ fällt ebenfalls ins 17. Jhd. Der Arzt Johannes Hofer (1662–1752) bezeichnete in seiner 1688 erschienenen Dissertation ein Krankheitsbild als ‚Nostalgia‘, das vermehrt unter Schweizer Söldnern auftrat, die fernab der Heimat ihren Dienst verrichteten. Zum Zusammenhang von autobiographischer Erinnerung und Emotionen aus neurowissenschaftlicher Sicht s. MARKOWITSCH, Relais, S. 43. Vgl. SEDIKIDES u.a., Nostalgia, S. 206–207; Jochen GEBAUER u. Constantine SEDIKIDES, Sehnsucht nach gestern, in: Gehirn und Geist 11 (2009), S. 14–21, S. 16–18 u. 20: „Offenbar stellt Nostalgie eine spezifische Form der autobiographischen Erinnerung dar. Zweitens ging es in den Retrospektiven um Beziehungen (...). Drittens bemerkten die Forscher häufig eine ‚Bewältigungssequenz‘.“ (Zit. S. 17) Die Ergebnisse der in Southampton durchgeführten Studie konnten auch an chinesischen Probanden bestätigt werden. Vgl. z.B. An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 99: Wie gern wolte ich den pfanen-kuchen von Ewer cammer-magtgen eßen! Daß solte mir beßer schmecken, alß alles waß meine köche machen. 6.9. u. 9.10.1721, HO, 6, 1259, S. 216 u. 1268, S. 242. Vgl. BARLÖSIUS, Soziologie, S. 82; zu Triggern für nostalgische Erinnerungen SEDIKIDES u.a., Nostalgia, S. 205. Vgl. zum höfischen Transfer über Briefe allgemein RUPPEL, Rivalen, S. 213–214. E. Ch. verschickt, zumindest an ihre Tante, wohl zumeist Pakete. Vgl. LEFÈVRE, Sprache, S. 14. S. auch die kurzen Hinweise über Nahrungsmitteltransfers bei MATTHEIER, S. 151; VOSS, Fürstin, S. 55. Zum Transfer eines blechern paquet mitt den metwürsten s. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 9.6.1720, H, 367, S. 627. An A. K. v. Harling, St. Germain, 31.1.1677, H, 47, S. 138.

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sendung bzw. Überbringung der von Elisabeth Charlotte heiß geliebten Mettwürste.136 Diese ließ sie sich mit großem Abstand vor anderen Erzeugnissen am weitaus häufigsten schicken.137 So dürften auch im ersten Halbjahr 1696, als zahlreiche Pakete von Anna Katharina von Harling mit einem am französischen Hof außerordentlich begehrten Balsam (4.III.3) von Hannover nach Paris geschickt wurden, diesen Sendungen Mettwürste beigelegen haben.138 Im Unterschied zum Balsam, den Elisabeth Charlotte in Hannover anforderte, weil man sie am französischen Hof darum gebeten hatte, betrachtete sie die Mettwürste gleichsam als ‚persönliche Bastion‘. Die Verwendung des zu erwartenden Paketinhalts planend bemerkte sie etwa im Mai 1696: Der balsam wirdt vor den publick sein139 – die würst aber vor mich allein.140 Die Mettwürste galten ihr in dieser Zeit also als ‚exklusives‘ Produkt zur Beförderung ihres persönlichen Wohlbefindens – während dem Balsam ein allgemeiner Anspruch eigen war, nämlich den französischen Höflingen Linderung ihrer gesundheitlichen Beschwerden (4.III.3) zu verschaffen. Der Lebensmitteltransfer erfüllte in dieser frühen Phase141 für Elisabeth Charlotte also eine ausschließlich auf ihre eigene Person bezogene Funktion der Selbstvergewisserung,142 indem ihre Erinnerung an die pfälzische und braunschweig-lüneburgische Heimat das eigene Herkommen und die 136

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An Sophie, St. Germain, 15.7.1683, NLA-HStAH, I, 281v–282r, vgl. B, 1, 43, S. 56, St. Cloud, 16.5.1696, NLA-HStAH, VI, 71v–72r, vgl. B, 1, 239, S. 244 u. 14.6.1696, ebd., VI, 97r, vgl. B, 1, 243, S. 247, Marly, 30.6.1714, ebd., XXIV, 405r, vgl. B, 1, 836, S. 348 [sic! Datum]; An A. K. v. Harling, La Ferté, 18.7.1683, H, 70, S. 172. Daneben werden über die Briefe Pumpernickel, Lachs- und Gänsefleisch, Rheinwein, Kohlsamen und sogar Samen für das Gewürzkraut Basilikum verschickt. Vgl. An A. K. v. Harling, St. Germain, 31.1.1677, H, 47, S. 138; An C. F. v. Harling, Paris, 4.4.1720, H, 359, S. 609–610; An Görtz, Paris, 4.4.1720, K, 16, S. 77. Zum Rheinwein vgl. An Sophie, Marly, 27.5.1711, NLA-HStAH, XXI,1, 449r, vgl. B, 2, 759, S. 275–276 [sic! Datum]; An Luise, St. Cloud, 11.9.1721, HO, 6, 1260, S. 221– 222, Paris, 21.2.1722, HO, 6, 1305, S. 333. Zu den Kohlsamen vgl. An C. F. v. Harling, Paris, 29.1.1719, 23.3.1719, 20.12.1721, 11.1.1722 u. 22.1.1722, H, 301, S. 494, 308, S. 505, 439, S. 772, 442, S. 777 u. 443, S. 779. Zum Basilikum vgl. An C. F. v. Harling, Paris, 22.1.1722 u. 12.1.1722, H, 443, S. 779 u. 445, S. 783–784. Bis zum Sommer 1669 hatte E. Ch. offensichtlich einen so großzügigen Vorrat der beiden Erzeugnisse anlegen können, dass sie das Angebot, ein weiteres Paket zu schicken, mit diesem Argument ablehnen konnte. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 12.7.1696, H, 131, S. 251. Vgl. dagegen FORSTER, Illness, S. 311–312, die betont, E. Ch. habe sich Medikamente aus Dtl. hauptsächlich zur Selbstmedikation zuschicken lassen. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 10.5.1696, H, 128, S. 247–248. Vgl. zu ähnlichen Aussagen An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 97r, vgl. B, 1, 243, S. 247: es ist aber auch einmahl zeit daß ich auff E.L. gnädiges schreiben komme, daß nur noch sagen, daß mir die metwürst daß hertz mehr stärcken, alß der gutte balsam, ahn alle damen de vapeurs, welche sich nun sie wißen daß ich wider neüen balsam hab gar starck beÿ mir ahn...(?). Vgl. auch Versailles, 18.8.1709, ebd., XIX,2, 640r–640v. Ausgehend vom vollständig edierten und den kompletten Schreibzeitraum E. Ch.s abdeckenden Harling-Korpus kann der Lebensmitteltransfer in zwei Hauptphasen eingeteilt werden: in eine Frühphase von Ende der 1670er Jahre bis etwa 1700 und in eine Spätphase, die etwa 1718 einsetzt und die letzten Lebensjahre umfasst. Zum Verhältnis von Gender und Selbstvergewisserungsprozessen über materielle Kultur s. Andrea HAUSER, Erb-Sachen – Historische Sachkulturforschung als Geschlechterforschung, in: Gabriele MENTGES, Ruth-E. MOHRMANN u. Cornelia FOERSTER u. M. v. Britta SPIES (Hg.), Geschlecht und materielle Kultur. Frauen-Sachen, Männer-Sachen, Sach-Kulturen (Münsteraner Schriften zur Volkskunde/Europäischen Ethnologie 6), Münster, New York, München, Berlin 2000, S. 21–48, hier 29.

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vertrauten Bezugspersonen über den Geschmackssinn angeregt und wach gehalten werden sollte.143 Offensichtlich gelang dies außergewöhnlich gut, denn noch rund zehn Jahre später, im Dezember 1705, schrieb Elisabeth Charlotte an ihre Halbschwester Amalie Elisabeth: Man ist gern, was man in seiner jugendt zu eßen gewohnt ist. Es ist nun 34 jahr, daß ich in Frankreich bin undt habe mich noch nicht ahn daß eßen hir im landt gewohnen können.144 Aufgrund ihrer unverbrüchlichen Neigung zu bestimmten Speisen beanspruchte Elisabeth Charlotte, ihrem Selbst(bild) aus der ersten Lebensphase treu geblieben zu sein. Auch in den Briefen der folgenden Jahre schrieb sie ausführlich über Essen und Trinken sowie über ihre eigenen Präferenzen und grenzte dabei die aus ihrer Heimat gewohnten Gerichte zunehmend deutlich von denen am französischen Hof (hir im landt) ab. Während sie in einem Brief an Luise vom November 1710 schwärmte, dass in der Pfalz (unßerm lieben vatterlandt) alles gut sei – lufft, waßer, wein, brodt, fleisch undt fisch145 –, wurde die Liste der Nahrungsmittel und Speisen, die es in Frankreich nicht gebe, die man dort weniger wohlschmeckend zubereite oder die quasi von Natur aus minderwertig beschaffen seien, im Laufe der Jahre immer länger. Neben Getränken wie schlapp und sewer bier146 oder frantzösche[m] wein, die nicht zur Zubereitung einer Kaltschale taugen147 , fanden sich darauf allerlei Obst- und Gemüsesorten von vergleichsweise schlechter Qualität. So hatte etwa das von Elisabeth Char-

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Zum Zusammenhang von Geschmackserinnerungen und Emotion bzw. Affekt s. SETZWEIN, Ernährung, S. 321–322; BEISE, Körpergedächtnis, S. 13–14. An Amalie Elisabeth, Versailles, 17.12.1705, HO, 1, 283, S. 430. S. ebenso St. Cloud, 24.7.1699, HO, 1, 91, S. 164–165; An Luise, Versailles, 4.2.1706, HO, 1, 293, S. 440–441, Fontainebleau, 20.9.1714, HO, 2, 664, S. 450. Vgl. Klaus J. MATTHEIER, Deutsche Eßkultur am Versailler Hof Ludwigs XIV. Über die kulinarischen Vorlieben und Abneigungen der Elisabeth Charlotte d’Orléans, in: Hans-Jürgen TEUTEBERG, Gerhard NEUMANN u. Alois WIERLACHER (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (Kulturthema Essen 2), Berlin 1997, S. 148–154, hier 148. Zur Bedeutung von Ernährung als kultureller Barriere auch E. Ch.s verständnisvolle Schilderung der kulinarischen Vorlieben von Marie Louise Gabrielle de Savoyen, die sich als Königin von Spanien dennoch ihr Essen auff frantzösch zubereiten ließ, vgl. An Sophie, Versailles, 17.11.1701, NLA-HStAH, XI,2, 573r–574v, vgl. B, 2, 479, S. 23. Vgl. An Luise, Versailles, 22.11.1710, HO, 2, 500, S. 213: Die Pfaltz ist ein gelibt landt gegen andere länder zu rechnen, den alles ist ja gutt in unßerm lieben vatterlandt, lufft, waßer, wein, brodt, fleisch undt fisch. Wälder seindt nicht unahngenehm, aber heyden seindt langweilig, daß muß ich gestehen, aber offt in den strohütten leben die leütte mit größerm vergnügen, alß in schönne palästen undt auff dem thron. Vgl. auch MATTHEIER, Eßkultur, S. 151; BROOKS, Nostalgia, S. 2 u. 6; YARROW, Years, S. 115. An Luise, Paris, 4.3.1697, HO, 1, 47, S. 79: Betterthel kan man hir nicht drincken; man hatt gar zu schlegt bier in Franckreich, es ist schlap undt so sewer, daß mans nicht drincken kan; den vor dießem habe ichs versuchen wollen. Ich erinerte mich noch gar woll, wie ich es zu Heydelberg getruncken hatte, aber, wie schon gesagt, es lest sich hir nicht trincken. Vgl. auch Marly, 21.4.1712, HO, 2, 545, S. 273–274; Paris, 20.3.1718, HO, 3, 899, S. 215: daß bier (...) ist sauer undt bitter, deucht nichts. An Luise, 26.2.1721, Paris, HO, 6, 1203, S. 21–22: Kalte schal eße ich gern (...). Wir habens hir probiren wollen, aber die frantzösche wein schicken sich gar nicht dazu. Hierbei handelt es sich um eine kalte Suppe, die aus Wein (bzw. Bier oder Milch) und einer Mischung aus Zucker, Zimt, Gewürzen, Früchten und Brot hergestellt und vor allem im Sommer serviert wurde. Vgl. Art. Kalte Schale, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 15, Sp. 133; Art. Kalte Schale, in: Damen Conversations Lexikon, hg. v. C[arl] HERLOßSOHN, Bd. 6, S. 49 [CD-Rom Ausgabe, S. 5853], bezeichnet die Kalte Schale als „ein ächt deutsches Gericht, das in heißer Jahreszeit in vielen Gegenden die Suppe ersetzt“.

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lotte geliebte sawer krautt in Frankreich den frischen geschmack nicht, wie bey unß,148 war wie waßer und noch dazu erbärmlich149 angerichtet, gröber geschnitten; den man hatt hir nicht die meßer, wie man es rein schneyden soll.150 Der Braunkohl 151 wachse nicht woll und sei bitter wie galle,152 der rettig waßerig,153 die Abricossen mehlig154 und wilde kirschen seien gleich gar nicht zu finden.155 Auch an Fisch, Fleisch und Wurstwaren am französischen Hof hatte Elisabeth Charlotte einiges auszusetzen: das Hasen- und Wildschweinfleisch sei schlapp und ungewürzt,156 Räucherwaren seien rar,157 die Bratwürste beßer bey unß, alß hier158 und die Krebse lehr, zehe und schmeckten nach morast.159 Das schwarz brodt sei ohnmöglich hir zu eßen160 und bretzeln161 148 149

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An Luise, Paris, 23.12.1717, HO, 3, 875, S. 155. An Luise, St. Cloud, 29.5.1721, HO, 6, 1231, S. 132: Aber ich kan gar seiten hir davon eßen, den erstlich so kan man hir kein gutt sawer-kraudt haben, den daß frantzösche kraut deügt gantz undt gar nicht, hatt keinen geschmack, ist wie waßer; undt zum andern, wen ich gleich gutt sauer-kraut auß Teütschlandt hette, könnens doch meine köch nicht zurichten; es ist erbärmlich, wie sie es zurichten, man kans nicht eßen. An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 680: Gestern hatt mir eine strasburgische fraw (...) eine schüßel voll sauerkraut undt speck geben undt eine ente drin. Es war nicht schlim, aber daß kraudt war frantzösch kraut, welches bey weittem nicht so gutt ist, alß unßer teütsch krautt, hatt wenig geschmack undt ist anch [sic!] gröber geschnitten; den man hatt hir nicht die meßer, wie man es rein schneyden soll; also war es zwar nicht schlim, aber auch nicht so gutt, alß ich es vor dießem geßen habe. Braunkohl ist eine andere Bezeichnung für Grünkohl. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, 304, S. 498. An C. F. v. Harling, Paris, 20.12.1721, H, 439, S. 772: den daß erdtreich ist so ellendt hir – daß – wen man den kohl übers jahr behelt – kan er nichts mehr deügen, undt wirdt bitter wie galle. An Sophie, Versailles, 17.12.1693, NLA-HStAH, IV, 122v–123v: daß Braunkohl waxst nicht woll hir sonsten möchte ich es woll dort pflantzen laßen es ist gesunder vor die brust alß jasmin. Vgl. auch 18.12.1712, ebd., XXII,2, 746v u. 1.1.1693, ebd., III,2, 470r–470v, vgl. B, 1, 157, S. 174; An Luise, Paris, 25.11.1717, HO, 3, 867, S. 134. An Luise, St. Cloud, 25.6.1722, HO, 6, 1338, S. 420–421: Die rettig deügen hir nichts, man kan ohnmöglich salat davon machen, sie seindt waßerig undt haben kein rechten rettig-geschmack. Ebd., 30.4.1719, HO, 4, 1014, S. 103–104: Abricossen finde ich nicht gutt hir im landt; entweder seindt sie gantz mehlig, oder schmecken nur wie waßer. An Luise, Paris, 26.2.1721, HO, 6, 1203, S. 21: man findt keine von denen wilden kirschen in den waldern hir. Ich habe offt in unterschiedliche walder hir gejagt, aber mein leben keine gefunden, noch gesehen. An Luise, St. Cloud, 26.10.1719, HO, 4, 1064, S. 280–281: Die schweinsköpffe stehlt man hir nicht auff, wie bey unß; sie legen sie gantz blat, wie verdruckt, in eine schüßel, sie saltzen undt würtzen es nicht genung; es ist kein vergleichung, wie man sie in Teütschlandt zubereydt, oder hir; daß fleisch ist auch schlaper, alß bey unß, Haßelhüner eße ich viel lieber, alß feldthüner. Pfaltzische haßen seindt auch ohn[e] vergleichung beßer, alß die hir im landt. Vgl. auch 6.9.1721, HO, 6, 1259, S. 21 u. 1.10.1719, HO, 4, 1057, S. 252–253. An Görtz, St. Cloud, 13.7.1719, K, 5, S 65. An Luise, St. Cloud, 11.6.[sic!]/7.1720, HO, 5, 1137, S. 192. Ebd., 16.7.1722, HO, 6, 1344, S. 429–430 u. 6.9.1721, HO, 6, 1259, S. 215–216: Wer graff Degenfelt hir im landt, würde er baldt von krebsen verlaydt sein, den sie deügen gantz undt gar nichts hir, seindt lehr, zehe undt schmecken nach morast. Ich liebe die krebs auch gar sehr, aber hir eße ich gar selten. Wo ich sie gutt geßen, war im Wolffsbrunen, zu Neyenheim undt Neckergemündt. Da seindt auch ex[c]ellente grundeln, die ist man hir im landt nicht; wens leben drauff bestunde, konte man keine eintzige finden, welches mir woll leydt ist; den ich eße sie hertzlich gern. An Luise, St. Cloud, 10.7.1721, HO, 6, 1244, S. 171 u. 174: Schwartz brodt ist ohnmöglich hir zu eßen, es deügt gantz undt gar nicht; wer ahn gutt schwartz brodt gewohnt, wie vor dießem zu Bruchhaussen geßen, kan ohnmöglich daß schwartz brodt hir leyden. An Luise, Paris, 29.10.1713, HO, 2, 739, S. 660: Hir im landt macht man keine bretzeln; es ist mir leydt, den ich eße sie hertzlich gern mitt frische butter, kümel undt saltz.

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gäbe es genauso wenig wie geißen butter.162 Die minderwertige Qualität der Erde mache kreütter, graß und vieh schwach, wodurch es weder gutte milch noch butter, noch die pfanenkuchen geben könne.163 Kurzum: Selbst nach fast fünfzig Jahren am französischen Hof, so schrieb Elisabeth Charlotte mehrfach, habe sie sich nie an das unleydtliche undt eckelhaffte frantzösche gefräß164 gewöhnen können. Elisabeth Charlottes Beschreibungen der Lebensmittel lassen erkennen, dass sie diese den Kategorien ‚stark‘, grob von ihrer Beschaffenheit her und die Gesundheit stärkend sowie ‚schwach‘, schlapp, wässrig, geschmacksarm und somit nicht kräftigend zuordnete. Die französischen Nahrungsmittel werden ausnahmslos als schwach tituliert und einer insgesamt weniger kräftigen und gesunden französischen ‚Natur‘ zugerechnet. Auf dieser Grundlage beharrte sie darauf, dass ihre Lieblingsspeisen ihr nicht nur besser schmeckten, sondern auch bekömmlicher und gesünder seien.165 1705 heißt es in einem Brief an ihre Halbschwester Amalie Elisabeth: Groben speyßen seindt nicht ungesundt undt geben gutte nahrung undt beßer alß viel bouillongeschlegs.166 Insbesondere in Krankheitsphasen sowie in der Rekonvaleszenz vertraute Elisabeth Charlotte deshalb auf rohen Schinken sowie appetitanregende Mettwürste und Brezeln, die sie schnell wieder zu Kräften bringen sollten,167 was in ihrem Umfeld deutliche Verwunderung auslöste.168 Im Juli 1720 kam sie sogar auf

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An A. K. v. Harling, Paris, 13.12.1699, H, 162, S. 294: Wir würden mühe hir gehabt haben – wen wir die geißen butter hetten machen wollen. Es gibt gar wenig geißen hir im landt; Glaubt nicht – daß man 3 geißen in gantz Paris – noch in den dörffern herumb – finden könnte. An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 98–99: Man kan hir keine gutte pfanen-kuchen machen, milch undt butter seindt nicht so gutt, alß bey unß, haben keinen süßen geschmack, seindt wie waßer; die kreütter seindt auch nicht so gutt hir, alß bey unß; die erde ist nicht fett, sondern zu leicht undt sandig, daß macht die kreütter, auch daß graß, ohne starcke undt das vieh, so es ist, kan also keine gutte milch geben, noch die butter gutt werden, noch die pfanen-kuchen. Auch haben die frantzosche koche den rechten griff nicht dazu. Wie gern wolte ich den pfanen-kuchen von Ewer cammer-magtgen eßen! Daß solte mir beßer schmecken, alß alles waß meine köche machen. An Luise, St. Cloud, 6.9.1721, HO, 6, 1259, S. 215–216. Vgl. auch Paris, 20.12.1721, HO, 6, 1288, S. 301: Ich bin keine gr[o]ßen eßerin nicht, habe selten großen apetit undt daß frantzösch gefräß verlaydt mir alles eßen, habe mich in 50 jahren nicht dran gewohnen konnen. Mein sohn hatt gutte koch, aber keine ragout eße ich. Vgl. z.B. An C. F. v. Harling, Paris, 16.2.1719, H, 304, S. 499. An Amalie Elisabeth, Trianon, 23.7.1705, HO, 1, 258, S. 405. Vgl. z.B. An Luise, St. Cloud, 16.6.1720, HO, 5, 1131, S. 174–176 u. 13.6.1720, HO, 5, 1130, S. 169: Ich befinde mich, gott seye danck, nun wieder gar woll, seyder ich ertberen undt kirschen eße undt köstliche metwürst, so mir monsieur Harling geschickt; die haben mich gesterckt. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 9.6.1720, H, 367, S. 628 u. 20.6.1720, H, 368, S. 632: Seÿder Ich die excellente metwürste eßen, so er mir geschickt – hatt sich mein magen gantz wider erholt, gott lob, wo Ich Monsr Harling sehr dancke. An Görtz, St. Cloud, 23.6.1720, K, 19, S. 80. E. Ch. empfahl die Mettwürste als Stärkung auch der erkrankten Madame de Berry. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 11.5.1719, H, 314. S. 516; An Luise, Paris, 29.10.1713, HO, 2, 739, S. 660. An Luise, St. Cloud, 8.6.1719, HO, 4, 1025, S. 140: Ich hab, gott lob, gar einen gutten magen, kan allerhandt eßen undt verdaue gar woll. Wen mir nur kein[e] fleischbrühe im magen kompt, habe ich keine indigestion; doch sobaldt ich rohen schincken eße, wirdt mein magen gleich wider gutt, welches jederman hir wunder nimbt. Vgl. VOSS, Fürstin, S. 53. E. Ch. vertrug offenbar keine Fleischbrühe. Vgl. An Luise, Versailles, 19.5.1712, HO, 2, 549, S. 276, Paris, 1.1.1719, HO, 4, 981, S. 1–2: wen ich nur nichts eße, wo fleischbrüh ahn ist, daß allein kan ich nicht vertragen. Ich mag auch kranck, oder gesundt sein, nehme ich mein leben keine fleischbrühe, noch sup; den es macht mich übergeben undt gibt mir indigestion. (…) Aber waß noch wunderlicher ist, liebe Louisse, ist, daß

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die Idee, die vom hannoverischen Diplomaten und Kammerpräsidenten Görtz169 geschickten Mettwürste hätten ihre hertzsterckung befördert.170 Diese heute merkwürdig anmutende Überzeugung beruht wie zahlreiche andere Aspekte von Elisabeth Charlottes medikaler Praxis auf helmontischen Vorstellungen (2.II.2), denen zufolge die Kranken auch in Zeiten der Krankheit auf ihren persönlichen ‚natürlichen‘, d.h. gewohnten Appetit vertrauen und sich nicht mit diätetischen Verboten plagen sollten, da dies die körperliche Heilkraft unterminieren könnte.171 Ganz ähnlich interpretierte Elisabeth Charlotte auch den Zusammenhang von gewohnter Ernährungsweise und Gesundheit. Im Juli 1721 ließ sie Luise wissen, sie glaube, die in der Kindheit – vor allem in Hannover172 – verzehrten groben Speisen hätten wesentlichen Anteil an ihrer guten gesundheitlichen Konstitution: Ich glaube, daß ich meiner gutten gesundtheit der hannoverschen erzie[h]ung zu dancken hab; den es ist gewiß, daß rohe schincken undt knackwürst einen gutten magen machen.173 Die kräftige und gesunde körperliche Disposition, die Elisabeth Charlotte so stolz ihr Eigen nannte,174 wird hier in direkter Weise an die Stoffe rückgebunden, die dem Körper in der Kindheit gewohnheitsmäßig zugeführt worden waren und somit dessen ‚Natur‘ begründeten.175 Die gewohnte Ernährung prägte also nicht nur lebenslang den Geschmack (Man ist gern, was man in seiner jugendt zu eßen

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mir, wen ich so gekotzt habe, [nichts] den magen wieder zurecht bringt, alß roher schincken, oder mettwürst. S. auch PETER, Kulturgeschichte, S. 85. Zum Briefwechsel zwischen Görtz und E. Ch. s. 1.IV.2. An Görtz, St. Cloud, 28.7.1720, K, 20, S. 82: Seine metwürst haben auch ihr teil ahn meine hertzsterckung gehabt. Vgl. auch An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 97r, vgl. B, 1, 243, S. 247. Vgl. WEAR, Knowledge, S. 402–40; An Luise, Marly, 29.4.1702, HO, 1, 166, S. 283: Meine meinung ist, daß man sich selber im eßen examiniren muß, laßen, waß man findt, daß einem schaadt, undt sich nicht zwingen in dem, wo man die experientz von hatt, daß es einem keinen schaden thun; den generalreguln können so woll schaden alß nutzen. Der menschen naturen seindt so different, alß die gesichter. Die Verbindung zwischen den Ernährungsvorlieben und den Kindheitsjahren in Hannover betonen auch KNOOP, Madame, S. 11; VOSS, Fürstin, S. 55. Vgl. auch PETER, Kulturgeschichte, S. 85: „Aufschlussreich für die realen Ernährungsgewohnheiten des deutschen Adels ist, dass sie trotz kurfürstlicher Abkunft offensichtlich mit derben Spezialitäten aufgewachsen ist.“ Dies scheint jedoch eher für die Essgewohnheiten im noch nicht zum Kurfürstentum aufgestiegenen Herzogtum Braunschweig-Lüneburg zuzutreffen. Vgl. zur Ernährung in der Pfalz, die offenbar weniger Fleischund Wurstwaren vorsah, die Instruktionen an die Gouvernante zur Erziehung E. Ch.s von 1663 bei WEECH, Erziehung, Nr. 5, S. 114; vgl. auch 3.III.2. An Luise, St. Cloud, 12.7.1721, HO, 6, 1245, S. 177. Zur Anerziehung einer ‚gutten Natur‘ vgl. An Sophie, St. Cloud, 26.9.1688, NLA-HStAH, 2, 323r–323v, vgl. B, S, 82, S. 99: IL. die Churfürstin haben woll großer recht E.L., dero Churprintzen nach Hannover in der gutten fraw von Harling händen zu geben, ahn keinen ort kan er ertzogen werden wo er gesunder undt stärcker könte werden alß dar, undt wir alle, so der fraw von Harling zucht sein, seindt deßen ein gutt exempel. 30.10.1689, ebd., II, 445v. Vgl. auch Sophie an Karoline, 2.6.1680, in: BODEMANN (Hg.), BK, 1, S. 3, die von Braunschweig-Lüneburg als einem knackwurst- und schinckenlandt spricht. Vgl. VAN DEN HEUVEL, Sophie, S. 78. E. Ch. glaubte allerdings, dass ihre ‚gutte Natur‘ im Alter verschleiße. Vgl. An Luise, St. Cloud, 9.10.1721, HO, 6, 1268, S. 241: Meine natur ist gutt, aber, liebe Louise, sie verschliest mitt dem alter, welches ich ohne schrecken sehe; den der almachtige gott, auff den ich all ein vertrawen setzte, hatt mir mein ziehl gesetzt, daß werde ich gewiß nicht überschreitten. An Luise, Marly, 4.9.1710, HO, 2, 489, S. 199: Wen man speist, wie mans gewont ist, schadt einem nichts; die gewohnheit ist die zweyte natur, wie Ihr woll wist, liebe Louisse! S. 2.II.1.

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gewohnt ist176 ), sondern auch die Natur des Körpers, die letztlich darüber entschied, welche Speisen der Gesundheit zuträglich waren oder nicht. Dabei verweist Elisabeth Charlottes Kategorisierung der Nahrungsmittel in ‚stark‘ und ‚schwach‘ sowohl auf die Identifikation ihres ‚genealogischen Selbsts‘ und ihres leiblichen Empfindens mit einer familiär geteilten gutten Natur als auch im negativen Sinne auf ihre Kritik an der in Frankreich um sich greifenden Naturzurichtung (2.II.1). Elisabeth Charlotte zufolge ließen sich Eigenschaften von Menschen an den Speisen und Getränken ablesen, die sie präferierten. 1703 schrieb sie in diesem Sinne an Amalie Elisabeth: Ich wollte lieber mitt leütte zu thun haben, so mir gutte metwürst, knackwürst undt breühan177 machten, alß mit naßeweißen, wie man sie hir hatt, denen man nichts zu recht sagen kan.178 Personen, die starke Lebensmittel bevorzugen, attestierte sie also, dass man mit ihnen offen und ehrlich reden könne, ohne sich auf hochmütige Belehrungen einstellen zu müssen. Dabei blieb kein Zweifel, dass diese vertrauenswürdigen Personen, mit denen man bodenständige Speisen wie Mettwurst und ein Glas Bier genießen konnte, den Kulturräumen ihrer ersten Lebensphase, also der Pfalz und Hannover zugeordnet werden müssten. Diese raumbezogene Komponente im Identifikationsprozess wird auch deutlich, wenn Elisabeth Charlotte etwa im November 1712 an Sophie schrieb: Ich gestehe Ich möchte gern noch einmahl eine teütsche comedie mitt pickelharing179 sehen, braunen köhl, gutt sawerkraut, undt rindtfleisch mitt merrettich [essen] Ich bin gewiß wen ich were wo man das zuricht, würde es mir beßer bekommen alß alle ordonantzen von den docktoren.180

Es verwundert angesichts dessen kaum, dass Elisabeth Charlotte etwa im September und Oktober 1721 bekannte, wie gerne sie mit ihrer Halbschwester Luise gemeinsam essen 176

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An Amalie Elisabeth, Versailles, 17.12.1705, HO, 1, 283, S. 430. Vgl. auch St. Cloud, 24.7.1699, HO, 1, 91, S. 164–165; An Luise, Versailles, 4.2.1706, HO, 1, 293, S. 440–441, Fontainebleau, 20.9.1714, HO, 2, 664, S. 450: Ob ich schon 43 jahr hir, kan ich doch daß ellende eßen nicht gewohnen. Vgl. MATTHEIER, Eßkultur, S. 148. Es handelt sich bei Breyhan od. Breühan um ein Weißbier, das häufig als Grundlage für die Biersuppe diente. Es soll von dem Hannoveraner Braumeister Cord Breyhan 1526 beim Versuch, Bier nach Hamburger Art zu brauen, entstanden sein. Vgl. Art. Breyhan, oder Weis-Bier, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 5, Sp. 1345. An Amalie Elisabeth, Versailles, 27.5.1703, HO, 1, 194, S. 327. Vgl. MATTHEIER, Eßkultur, S. 153. Anders als man zunächst vermuten könnte, finden sich hier keine explizit geschlechtsbezogenen Zuweisungen. Starke teütsche Speisen, die in Verbindung zur familiär geteilten ‚guten Natur‘ des Körpers stehen, werden nicht explizit geschlechtlich codiert, obwohl sie es im frühneuzeitlichen Diskurs bisweilen waren. Vgl. z.B. die Konnotationen des Fleischkonsums, der als ‚unpassend‘ für Frauen betrachtet wurde, weil er sexuelle Begierden wecke. Vgl. SIMON-MUSCHEID, Umgang, S. 47. Pickelhering ist ein niederdeutscher Ausdruck für gepökelten, in Salz eingelegten Hering – ein in der einfachen Bevölkerung beliebtes Essen. Nach dem Gericht war eine komödiantische Dienerfigur benannt, die mit dem englischen Schauspiel zu Beginn des 17. Jhd.s in Dtl. bekannt geworden war. Vgl. Art. „Pickelhering, -häring“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 13, Sp. 1839–1843. Auf die Figur des Pickelherings wird im Briefwechsel zwischen Sophie und Karl Ludwig mehrfach Bezug genommen. Vgl. dazu Adolf KÖCHER, Rezension zu: Eduard BODEMANN (Hg.), Briefwechsel der Herzogin Sophie von Hannover mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, und des Letzteren mit seiner Schwägerin, der Pfälzgräfin Anna (Publikationen aus den königlich preußischen Staatsarchiven 26), Leipzig 1885, in: HZ 57 (1887), S. 498–504, hier 501. An Sophie, Marly, 16.11.1712, NLA-HStAH, XXII, 684r–684v, vgl. B, 2, 807, S. 323 [sic! Datum].

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würde.181 Schließlich war Luise nach dem Tod ihres Vaters (1680), ihrer Mutter (1686), ihrer Tante (1714) sowie von zwölf ihrer dreizehn Geschwister Elisabeth Charlottes einzig verbliebene Bindung an ihre Herkunftsfamilie.182 Wie sie 1720 schrieb, war die Korrespondenz mit Luise in diesen Jahren für sie ein trost, daß noch etwaß von meinem herr vatter s.bey leben ist undt mich lieb hatt.183 Das von grundt der seelen ersehnte Zusammensein mit Luise wird an ein gemeinsames Essen auff gutt Teüttsch, d.h. mit sawerkraudt, braune[m] kohl, grundeln184 , krebs gebunden – ein Gedanke, bei dem Elisabeth Charlotte förmlich das waßer drüber in den mundt kam.185 Wie für die späteren Briefe Elisabeth Charlottes typisch, verschwimmen in dieser Aussage familiäre und ‚nationale‘ Identifikationsmuster.186 Indem sie sich immer häufiger in direkter Weise mit Teütschland identifizierte, gelang es Elisabeth Charlotte offenbar, den Verlust familiärer Bindung zu kompensieren. Dabei scheint konstitutiv zu sein, dass sie den Begriff vatterlandt sowohl für die Pfalz als auch für Teütschlandt verwendete187 und es für sie offenbar kein Widerspruch war, wenn sie, wie in einem Brief vom Dezember 1695, schrieb, dass es ihr teütsch hertz sei, das sich nicht darüber trösten könne, waß in der armen Pfaltz vorgangen.188 Das Zugehörigkeitskeitsgefühl zur imaginierten teütschen Gemeinschaft trat dabei gewissermaßen an die Stelle der brüchig werdenen Bindung zur Herkunftsfamilie.189 Für Elisabeth Charlotte besaß die „imagined 181 182

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Vgl. An Luise, St. Cloud, 9.10.1721, HO, 6, 1268, S. 242; St. Cloud, 6.9.1721, HO, 6, 1259, S. 216. Mit Ausnahme von C. F. v. Harling (1631–1724), der E. Ch. überlebte. Andere noch lebende verwandtschaftlich verbundene Personen wie etwa die Kinder ihrer Halbschwester Karoline hatte sie im Unterschied zu Luise nicht persönlich kennengelernt. Vgl. An Luise, St. Cloud, 24.8.1720, HO, 5, 1151, S. 253–254. Eine barschähnliche Fischart. Vgl. An Luise, St. Cloud, 9.10.1721, HO, 6, 1268, S. 242: Ja, liebe Luise, ich sage es Eüch recht von grundt der seelen, es würde mir eine rechte freüde sein, wen ich mitt Eüch eßen könte, auff gutt Teüttsch eßen könte, sawerkraudt, braunen kohl, grundeln, krebs. Vgl. auch 6.9.1721, HO, 6, 1259, S. 216: Ich glaube, ich würde Euch ein wenig bang machen, kenen kontet Ihr mich ohnmöglich, aber ich würde mich baldt zu erkenen geben undt mitt Euch eßen, den ich bin persuadirt, daß Ihr gantz auff gutt Teütsch est. Daß waßer kompt mir drüber in den mundt, aber dießer apetit vergeht mir gleich, wen ich ahn daß hießige gefräß gedencke. Vgl. in ähnlicher Weise An Luise, St. Cloud, 19.7.1697, HO, 1, 51, S. 89–90. Mit dem Tod von E. Ch.s Bruder Karl 1685 und dem Ende der Linie Kurpfalz-Simmern mussten die Raugräfinnen Luise und Amalie Elisabeth die Pfalz verlassen und befanden sich seitdem häufig auf Reisen. So auch im Juli 1697, als sie kurz vor ihrer Abreise nach London standen. E. Ch. schrieb: Daß Eüch daß Teütschlandt noch über andere länder geht, liebe Louisse, ist gar naturlich; waß man gewohnt, gefelt einem immer beßer, alß waß frembdt ist, undt daß vatterlandt steht unß Teütschen allezeit ahm besten ahn. Vgl. auch ALBERT, Madame, S. 76. Vgl. An Luise, Versailles, 10.12.1701, HO, 1, 147, S. 254: Ich bin fro vors vatterlandt, daß es mylord Oustack in Teütschlandt woll gefahlen, da er doch schon in Franckreich, Engellandt undt Hollandt gesehen, Hir hatt er nicht viel lust in geselschafft gesehen. Vgl. zur Verwendung für die Pfalz St. Cloud, 24.8.1720, HO, 5, 1151, S. 253–254: zum andern so divertirt Ihr mich ja alle post, zu verzehlen, waß in Teütschlandt vorgeht, welches ich sonsten nicht wißen konnte, insonderheit in vatterlandt. Im Zusammenhang mit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg intensiviert sich die nationale Rhetorik. Vgl. An Luise, Versailles, 11.12.1695, HO, 1, 31, S. 53: Ich finde, daß seine mutter recht gesprochen, undt halte es vor ein groß lob, wen man sagt, daß ich ein teütsch hertz habe undt mein vatterlandt liebe. Diß lob werde ich, ob gott will, suchen biß ahn mein endt zu behalten. Ich habe nur gar zu ein teütsch hertz; den ich kan mich noch nicht getrösten über waß in der armen Pfaltz vorgangen; darff nicht dran dencken, sonsten bin ich den gantzen tag trawerig. In Briefen an nicht verwandtschaftlich verbundene Personen wie etwa an ihren Freund aus Kindertagen Christian August von Haxthausen findet sich die teütsche Rhetorik bereits weitaus

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community“190 in dieser Zeit offenbar eine außerordentlich hohe Bindekraft, auch wenn ihr klar war, dass ihre gesellschaftliche Positionierung als Frau die Möglichkeiten wesentlich beeinflusste, diese Zugehörigkeit angemessen unter Beweis zu stellen. Bereits im Juli 1702 hatte sie ihrer Halbschwester Amalie Elisabeth beigepflichtet, dass diejenigen, die ihr gutt bludt vors vatterlandt geben, Hochachtung verdienten. Sie fügte an: Ich wolte, daß wir beyde mansleütte wehren undt im krieg; aber diß ist woll ein ohnnohtiger wunsch, man kans aber offt nicht laßen.191 Stattdessen konstruierte Elisabeth Charlotte sich im Schreiben über Essen und Trinken selbst als Teil der teütschen Gemeinschaft – und versuchte, so lässt sich zumindest annehmen, diese Zugehörigkeit mit Hilfe einer entsprechenden Alltagspraxis auch zu verkörpern. In ihren brieflichen Aussagen rekurrierte sie dabei auf ihr die Zeiten überdauerndes, kontinuierliches Selbst: Ich bin in allem, auch in eßen undt drincken, noch gantz teütsch, wie ich all mein leben geweßen192 , so ihr Fazit im Mai 1720. Dabei übertrug Elisabeth Charlotte ihre persönlichen Zugehörigkeiten in direkter Weise auf den körperlichen Leib, wenn sie etwa im Juli 1718 schrieb: Ich hab mein teütsch maul noch so auff die teütschen speißen verleckert – daß Ich keinen eintzigen frantzöschen ragout leÿden, noch eßen kann.193 In einer Aussage wie dieser wird die hohe symbolische Bedeutung von Ernährungspraktiken sichtbar, denn Nahrungsmittel und Getränke überschreiten die Grenze zwischen der Innenwelt des menschlichen Leibes und der ihn umgebenden Außenwelt und werden im Prozess der Verdauung in ihre Bestandteile zerlegt, absorbiert und somit vom Körper angeeignet. Wie der Philosoph Harald Lemke treffend formuliert, bedeutet sich zu ernähren, „das Einverleibte leiblich zu integrieren und es selbst zu verkörpern – verkörpern zu müssen“. Es ist gerade diese direkte leiblich-affektive Verbindung zwischen Selbst und Umwelt über die Körperpraxis,194 die Elisabeth Charlotte in ihren Briefen zu

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früher. Vgl. z.B. An C. A. v. Haxthausen, Fontainebleau, 23.10.1695, in: ZIMMERMANN (Hg.), Briefe, IV, S. 425: Eine sache, so mich recht in der seelen schmertzt, ist, daß man meiner dochter hir einen solchen abscheu gibt vor alles, waß teutschlandisch ist, ja ihr herr vatter selber hilfft hir zu, daß, wen sie, wie ich doch wünsche, hin müste, wirdt sie bludtsunglücklich werden. Den wen ich ihr ein wordt davon sagen will, flendt sie die bittere threnen. Mich quelt daß recht, undt je mehr man sicht, daß ich sie in teütschlandt wünsche, je mehr ist man verpicht, ihr unßer vatterlandt zu verleyden. Vgl. zur Beziehung zwischen E. Ch. u. C. A. v. Haxthausen (1653–1696), ebd., S. 403–411, bes. 407; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 24, S. 102, Anm. 1. Zum Begriff vgl. ANDERSON, Erfindung, S. 14–17; 4.II. An Amalie Elisabeth, Versailles, 22.7.1702, HO, 1, 177, S. 301. Hier ist wiederum nicht eindeutig festzustellen, ob es sich um die Pfalz oder um Teütschlandt handelt. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 18.8.1720, HO, 5, 1149, S. 245: Vor 20 jahren hette ich woll gewünscht, ein manßmensch zu sein können, meinem vatterlandt zu [dienen]; aber nun wer der wunsch ohnnötig, den ich muß ja nun baldt davon. An Sophie, Paris, 20.7.1692, NLA-HStAH, III,2, 321r–321v: Eine arme alter Jungfer zu sein ist woll nichts guttes hette ich aber so viel Mittel alß die große madmoiselle mögte ich es von hertzen gerne sein hette ich keinen an gehabt so were ein Vatterlandt nicht ruinirt worden wie es ist den Man hette kein pretext gehabt solches anzugreiffen, oder auffs wenigs alles würde sich beßer deffendirt haben. An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 99. Vgl. auch VOSS, Zeuge, S. 201. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.7.1718, H, 279, S. 453. Vgl. auch YARROW, Years, S. 115; PETER, Kulturgeschichte, S. 85. Vgl. FISCHLER, Food, S. 279–281; NOLDE, Fremdheitserfahrung, S. 127; BARLÖSIUS, Soziologie, S. 80–81; Pasi FALK, Essen und Sprechen. Über die Geschichte der Mahlzeit, in: Alexander SCHULLER u. Jutta Anna KLEBER (Hg.), Verschlemmte Welt. Essen und Trinken historischanthropologisch, Göttingen 1994, S. 103–131, hier 103–104; Harald LEMKE, Zur Metaphysik des

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lösen versucht, indem sie wiederholt berichtet, dass sie französisches Essen, vor allem die aus ihrer Sicht versalzenen195 und ungesunden196 Ragouts, weder möge noch überhaupt zu sich nehmen könne.197 ‚Man ist, was man isst‘ – so lässt sich dieser in der Philosophiegeschichte von Paracelsus (1493–1541)198 bis Hegel (1770–1831)199 und Feuerbach (1804– 1872)200 immer wieder thematisierte Aspekt der Einverleibung auf den Punkt bringen. Ähnlich wie in Moscheroschs ‚Philander‘201 einige Jahrzehnte früher beklagte Elisabeth Charlotte, sie könne ganz und gar nicht verstehen, dass alle Welt so viel gegraß [d.h. Gerase, Geschrei] von dem frantzöschen kochen undt zurichten mache.202 Mehrfach schrieb sie

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einverleibten Anderen, in: Dorothee KIMMICH u. Schamma SCHAHADAT (Hg.), Essen (Zeitschrift für Kulturwissenschaften I/2012), Bielefeld 2012, S. 49–60, hier 52, 56–57 u. 49. Vgl. An Luise, Versailles, 7.1.1714, HO, 2, 616, S. 361, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 680–681 u. 27.12.1715, HO, 2, 753, S. 690–691, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 99: Ich eße mein leben keine frantzösche ragoust, finde es ein unsauber undt widerlich geschmir, habe mich mein leben nicht dran gewohnen können. Monsieur le Dauphin pere undt sein sohn, der duc de Berry, haben die ragoust noch mehr verdorben; den sie aßen es nicht, es muste den handtvoll saltz drin sein, daß einen der halß davon brante. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 9.6.1720, H, 367, S. 628: Daß [die übersandten Mettwürste] hilfft mir eher wider zum apetit alß alle ragout von gantz Franckreich. Die habe Ich nicht eßen lernen können; Findt es verschmirt undt in meinem sin eckelhafft. Eße mein leben keine. Man meint – daß es ein glück vor mir ist – daß Ich keine eßen kan – den man helt sie hir selber vor ungesundt. Ich habe keine meritten – mich davon abzu[-]halten, den es schmeckt mir gantz undt gar nicht, welches die frantzoßen recht wundern nimbt. An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 99 u. Paris, 27.12.1715, HO, 2, 753, S. 691: Ich bin persuadirt, daß die art eßen [die überwürzten Ragouts] unßerm Dauphin undt seinen 2 söhnen daß leben verkürzt haben. Vgl. auch An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 24.7.1699, HO, 1, 91, S. 164–165; An Sophie, Marly, 14.2.1706, NLA-HStAH, XVI,1, 89r, vgl. B, 2, 594, S. 125 [sic! Datum]; An Luise, Versailles, 5.4.1711 u. 7.12.1713, HO, 2, 518, S. 240 u. 612, S. 356–357, St. Cloud, 9.6.1718, HO, 3, 922, S. 290–291; An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.7.1718, H, 279, S. 452–454 u. 9.6.1720, H, 367, S. 628. Vgl. PARACELSUS. Theophrast von Hohenheim, hg. v. SUDHOFF, Bd. 9, S. 94: dieweil nun der mensch aus dem limbo gemacht ist und der limbus ist die ganz welt (...). dieweils er aber aus ir ist, alles das das er aus ir isset, dasselbig ist er selbst; dan aus ir ist er. (...) darumb so isset der mensch dieselbigen in der spes oder arznei. S. auch Jakob TANNER, Der Mensch ist, was er ißt – Ernährungsmythen und Wandel der Eßkultur, in: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 399–419, hier 408–409. Vgl. zu Hegels Philosophie der Ernährung LEMKE, Metaphysik, S. 50–56. Vgl. Ludwig FEUERBACH, Die Naturwissenschaften und die Revolution [Über: J. Moleschott, Lehre der Nahrungsmittel] [1850], in: Ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866), hg. v. Erich THIES, Frankfurt a.M. 1975, S. 243–265, S. 263 (Zit.) u. 254: „Das Sein ist eins mit dem Essen; sein heißt essen; was ist, ißt und wird gegessen.“ Vgl. auch LEMKE, Metaphysik, S. 51–52; TANNER, Mensch, S. 411. Vgl. MOSCHEROSCH, Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, hg. v. HARMS, S. 137: thut es ein stuck rindfleisch / Speck vnd Saur-Kraut nicht mehr? Muß es alles mit Feld-huenern / Wachteln / Kramatzvögeln / Austern / Schnepffen/ Schnecken vnnd Trecken verpfeffert sein? Muß es dan mit eitel Melonen / Citronen / Lemonen / Pomerantzen / Ragousts vnd Ollipotridos hergehen? mit solchen Trachten: da mit einer jeden / Zwoelff arme Mänschen hätten erhalten vnd gespeiset werden mögen. S. auch SCHMIDT, Kampf, S. 465; PETER, Kulturgeschichte, S. 81–82. Vgl. An Luise, St. Cloud, 6.9.1721, HO, 6, 1259, S. 216: Man macht so viel gegraß von dem frantzöschen kochen undt zurichten, daß ist aber gar nicht nach meinem schmack undt in 50 jahren, daß ich in Franckreich bin, habe ich mich ahn keinen eintzigen ragoust gewohnen können, finde all daß frantzösche gefräß unleydtlich undt eckelhafft, eße nichts, alß hamel-fleisch, kalb-fleisch undt schlegt speyßen, so keine ragoust sein, gebrattens undt dergleichen. Zur Entwicklung der frz. Küche s. Stephen MENNELL, Die Kultivierung des Appetits. Die Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a.M. 1988; S. 94–95; DE JEAN,

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Luise und Amalie Elisabeth, die sich zwischenzeitlich bei ihrer Schwester Karoline und ihrem Schwager Meinhard von Schomberg in London aufgehalten hatten, dass auch das englische Essen, selbst die englischen Ragouts ihr deutlich besser schmecken würden.203 Neben ihrem im wahrsten Sinne des Wortes tief in den Leib eingeschriebenen Geschmackssinn (teütsch maul) interpretierte sie auch ihren des Öfteren gerühmten ‚guten Magen‘ national, wenn sie schrieb: Ich habe – gott lob noch einen gutten teütschen magen – der alles woll verdauet.204 Teütsch steht hier wie schon bei der Charakterisierung der Speisen synonym für die Stärke, Nahrungsmittel gut verdauen zu können, und erscheint als Signum für Elisabeth Charlottes gesunde Disposition.205 Die Bezugnahme auf den teütschen magen kulminiert, wenn Elisabeth Charlotte ihn wie im Juni 1720 in einem Brief an Görtz zur Abgrenzung von ärztlichen Eingriffen in der medikalen Kultur am französischen Hof heranzog: Seine und Monsr von Harlings metwürste haben mir den magen gantz wider zu recht gebracht, zur großen verwunderung aller Frantzosen, die eher gemeint, dass eau de chicorée206 dem magen dinerlich sein solte. Sie gedencken aber nicht, dass ich einen teutschen undt keinen frantzöschen magen habe, so zu Hannover ahn schincken undt metwürst von kindtheit ahn gewondt ist, undt nicht ahn bouillons207 undt eau de chicorée, wie man die leutte hir erzicht. Ich wollte meinen magen nicht vor die frantzöschen tauschen, denn ich sie immer klagen höre, ob sie zwar wie wölf fressen; dass macht mich offt lachen.208

Bemerkenswert an dieser Aussage ist, dass die Grenzen zwischen Nahrungs- und Heilmitteln verschwimmen. Schinken und Mettwürste, die es vermochten, Elisabeth Charlottes Appetit anzuregen und somit lebensspendende und heilende Wirkung zu entfalten, werden hier direkt gegen die am französischen Hof üblichen Purgativtränke, die bei-

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Essence, S. 105–132, bes 108; zur Entwicklung der dt. Küche in Bezug auf frz. Einflüsse seit der zweiten Hälfte des 17. Jhd.s PETER, Kulturgeschichte, S. 87–91. An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 24.7.1699, HO, 1, 91, S. 164; An Luise, Versailles, 7.1.1714, HO, 2, 616, S. 361, Paris, 27.12.1715, HO, 2, 753, S. 690–691: Die englische ragoust schmecken mir taußendtmahl beßer, alß alle frantzösche; die kan ich gar nicht leyden. Die englische Küche war nach 1660 jedoch stark von der frz. beeinflusst. S. dazu WILSON, Introduction, S. 15. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 3.7.1718, H, 277, S. 450. Vgl. zu Assoziationen von „Teutsche[n] starke[n] Leibern“ und Maskulinität im Alamode-Diskurs BLITZ, Liebe, S. 65–66. Diese Konnotationen finden sich bei E. Ch. nicht explizit. Chicorée, die abführend wirkende Wegwarte, war neben Brunnenkresse und Kerbel ein Bestandteil des sogenannten ‚grünen Safftes‘, den ihr Leibarzt E. Ch. als Purgativ zu verabreichen pflegte. Vgl. dazu etwa An Luise, Paris, 28.1.1720, HO, 5, 1091, S. 28. Sie schreibt hier, sie habe vergessen, was Chicorée auf deutsch heiße und schaue die Übersetzung in ihrem teütschen botanicum nach. Vgl. zu anderen Ingredienzen An Sophie, Versailles, 21.7.1701, NLA-HStAH, XI, 352r–352v: vergangen Montag hatt man mir meine letzte medecin geben die hatt mich hart ahngegriffen undt 18 mahl purgirt, sie sagen doch es seÿe eine medecin wie man ahn ein Kindt von 6 Jahren gibt 10 grain sel Tamaris 10 sel d’abinthe 15 sel vegetal 18 gr Rhubarbe undt eine once mana, hir mitt ist es aber auch gethan werde nun gar nichts mehr brauchen, bin nun gott lob courirt undt gehe alle tag braff spatziren. Zum am frz. Hof üblichen Purgiertrank bouillon piquant s. DIDOU-MANENT, KY u. ROBERT, Dick, S. 148. An Görtz, St. Cloud, 23.6.1720, K, 19, S. 80. Vgl. mit Bezug auf ihren pfälzischen Magen An Luise, St. Cloud, 20.8.1722, HO, 6, 1354, S. 452–453: Er [ihr Leibarzt Terray] ist gewiß der beste docktor von gantz Franckreich, aber er will nicht begreiffen, daß ein pfaltzischer magen kein frantzösischer ist undt sich mitt dem villen purgiren nicht behelffen kan. S. ebenso St. Cloud, 17.9.1722, HO, 6, 1362, S. 463.

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spielsweise aus Wermut oder Wegwarte (chicorée) hergestellt wurden, abgegrenzt und ausgespielt.209 War man am französischen Hof und dessen Umfeld offenbar habituell an die Anwendung von Medizin gewöhnt, so konnte Elisabeth Charlotte am Leib, das heißt an Körper und Seele, nur gesunden, wenn sie sich die aus der Kindheit gewohnten und nun als teütsch betitelten Speisen einverleibte. Im Zuge der Aneignung einer nationalen Rhetorik wurden somit gewohnte Ernährungspraktiken und damit verbundene geliebte Erinnerungen in Elisabeth Charlottes Briefen mit neuen Bedeutungen versehen. Dabei intensivierte sich die nationale Rhetorik in Bezug auf Ernährungspraktiken parallel zu den medizinischen Eingriffen, die Elisabeth Charlotte wegen zunehmender gesundheitlicher Beschwerden ungefähr ab 1711 verstärkt zulassen musste. Hatte sie noch in den Krankheitsphasen ihrer ersten Jahre am französischen Hof (2.I.2) sowie bei der Blatternerkrankung 1693 (2.II.2) die traditionelle galenische Medizin mit ihren ausleitenden Behandlungsmethoden strikt abgelehnt, veränderte sich dies im letzten Jahrzehnt ihres Lebens und besonders in den letzten beiden Lebensjahren erheblich. Elisabeth Charlottes eingeschränkte Bewegungsfähigkeit, die aus ihrer wachsenden Beleibtheit und dem fortschreitenden Alter resultierte,210 erforderte den zentralen frühneuzeitlichen Körperkonzepten zufolge nun künstliche Eingriffe in Form von Aderlass und Purgation, um die krankmachenden Humoren der Milz auf direktem Weg aus dem Körper auszutreiben (4.I.2).211 Hinzu kamen verschiedene andere Beschwerden wie langandauernde Erkältungen, das Anschwellen der Gliedmaßen, Knieschmerzen und andere Gelenkbeschwerden, Magenbeschwerden, Atemnot, Schlafstörungen und ein schlechtes Gedächtnis.212 Allen diesen Symptomen, die Elisabeth Charlotte primär auf ihr Alter zurückführte,213 war selbstverständlich ebenfalls nur beizukom209

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Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 16.7.1722, HO, 6, 1344, S. 429: Wen Ihr mir von unßer teütschen eßen sprecht, daß solte mir eher meinen apetit wider herbey locken, alß der wermet. Vgl. An Luise, St. Cloud, 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 183: Wie ich noch jung war, bin ich lange Jahren geweßen, daß mir gar nichts gefehlt hatt; daß habe ich der jagt zu dancken gehabt, negst gott hatt es mich bey so langen jähren gesundt erhalten. (...) aber seyder dem [sie nicht mehr zur Jagd geht] 3 gar große kranckheitten außgestanden; daß hatt mich glauben machen, daß mich daß jagen in gesundtheit in meinen jungen jahren erhalten hatte. S. auch VIGARELLO, S’exercer, S. 282; 2.III. Vgl. z.B. An Sophie, Versailles, 2.6.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 377v; An Luise, St. Cloud, 3.10.1720, HO, 5, 1162, S. 291; Paris, 12. 2.1719, HO, 4, 993, S. 34, Marly, 28.5. 1715, HO, 2, 708, S. 566–567. An Étienne Polier, Marly, 29.11.1702, VdC, Lf, 179, S. 238: Je suis vielle; c’est une grande maladie. An Luise, Versailles, 25.1.1714, HO, 2, 620, S. 365, 25.1.1715, HO, 2, 682, S. 512: Ich befinde mich all zimblich woll, aber ich kann gar wenig gehen, habe große schmertzen in den knien; daß ist gar langweillig undt hindert mich offt ahn schlaff. Es geht mir wie Mutter Anecken, daß alter kompt mir mitt manche gebrechen. Zu E. Ch.s Vorstellung im Alter nehme die Lebenswärme (calor innatus) ab, vgl. An Sophie, Fontainebleau, 21.10.1699, NLA-HStAH, IX, 589v–590r: Ich bin recht fro daß der brandenwein E.L. nicht gutt ist den dadurch erscheint daß E.L. noch alle Ihre natürliche hitze haben, undt keiner fremdren hitze von nöhten, daß macht mich hoffen, daß E.L. über die hundert jahr (…) werden. S. auch das Bsp. Hermann v. Weinsberg, der ebenfalls diverse Krankheiten als Alterserscheinungen interpretierte, analysiert bei JÜTTE, Krankheit, S. 237. Dies verweist auf eine grundsätzliche Negativ-Bewertung des Alters in der Frühen Neuzeit, s. STOLBERG, A Woman’s Hell, S. 404; Daniel SCHÄFER, Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase (Kultur der Medizin, Geschichte, Theorie, Ethik 10), Frankfurt a.M. 2004, S. 365–381; MÜNCH, Lebensformen, S. 401.

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men, wenn man die dafür verantwortlich gedachten Flüssigkeiten aus dem Körper ausführte. Immer häufiger sah sich Elisabeth Charlotte deshalb gezwungen, in die Anwendung von Purgation und Aderlass einzuwilligen.214 Dabei schien sie – wie schon in der ersten Krankheitsphase zu beobachten war – eher bereit, Behandlungen mit Abführmitteln bzw. Klistieren über sich ergehen zu lassen, als sich dem von ihr offensichtlich für gefährlich erachteten Aderlass zu unterziehen. Damit machte sie denselben Kompromiss, zu dem sich helmontische Ärzte in der Praxis ebenfalls gezwungen sahen.215 Auch wenn ersichtlich ist, dass sie die ärztlichen Argumentationen bisweilen durchaus nachvollziehbar fand,216 so gehört es gleichzeitig zu den wichtigsten narrativen Strategien ihrer Briefe zu betonen, wie widerwillig und ungern sie sich den Prozeduren – allen voran den präventiven – unterzog. Elisabeth Charlotte argumentierte implizit wie explizit, sie stehe in ihrem Umfeld unter einem gewissen Druck, der es ihr schwer mache, sich zur Wehr zu setzen, wie es noch in jüngeren Jahren ihre Handlungsmaxime gewesen sei.217 In diesen Beschreibungen verwendete sie zumeist ein unbestimmtes ‚man‘: man plage sie,218 um

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Vgl. dazu u. im Folgenden An Luise, St. Cloud, 11.6.1722, HO, 6, 1334, S. 410–411: Wen ich meine gutte ursachen gegen die remede de precaution sage, andt[wortet man]: „Vous aves toutte vostre vie hay les remedes, mais quand on vie[i]llit, il en faut faire; on previent plus tost les meaux, qu’on ne les guerit. Vous ne pouves plus faire de l’exercisse, comme quand vous esties jeune; il faut donc vous saigner et purger pour vous oster les mauvaises humeur[s] qui vous peuvent rendre malade.“ Ich sage, daß artzneyen die natur schwachen undt mich mehr, alß ein anderst, indem ich nicht dazu gewohnt bin worden; da antwort man mir: „Vous n’en avies pas besoin et dessipies... par vostre violent exercisse, mais vous n’en pouves plus faire ny a pied ny a cheval.“ Wen man mich den so plagt, so sage ich: „He bien, faittes ce que vous voudres, et qu’il n’en soit plus parles. En ar[r]ivera ce qui pour[r]a!“ So ist es dießmahl auch gangen, hatt aber bludts-übel außgeschlagen, ob es zwar übermorgen schon 6 wochen sein wirdt, daß ich zur ader gelaßen undt donnerstag, alß heütte, 5 wochen, daß ich purgirt. S. auch FORSTER, Illness, S. 310. Vgl. WEAR, Knowledge, S. 421–422 u. 425. Vgl. An Christoph Martin v. Degenfeld, St. Cloud, 21.5.1720, HO, 6, N, 61, S. 578: Herr graff von Deegenfelt, ich habe Sein schreiben vom 4. April sehr woll entpfangen, aber es ist mir durchauß ohnmöglich geweßen, eher, alß nun, drauff zu andtwortten; den man hatt mir im ahnfang, alß ich herkommen, nach frantzöscher manir tractirt undt zur precaution aderlaßen undt purgiren machen, welches mich so starck ahngegriffen, daß ich mich noch nicht wider davon erhollen kan. Ich hatte mich bißher davor gehütt, aber man hatt mir gesagt, daß, weillen ich gar kein exercitzien mehr thun kan, würde ich abscheülich kranckheitten außzustehen haben; daß hatt mich persuadirt, alles zu thun, waß man gewolt, gereüet mir doch jetzt, den ich gar zu sehr abgematt bin. Christoph Martin II. Graf v. Degenfeld-Schonburg (1689–1762), preußischer General, Kriegsminister, Cousin der Raugräfin Luise. S. auch An Luise, St. Cloud, 12.5.1720, HO, 5, 1121, S. 146: Es setzen sich offt humoren vom miltz in die seytten. Mir geschichts so offt, deßwegen gibt man mir alle 6 Wochen schir den grünen safft, meine seytte zu lehren. An Sophie, Marly, 24.11.1712, XXII, NLA-HstAH, 686r, Versailles, 10.12. u. 15.12.1712, ebd., XXII,2, 727v u. 736v: Man hatt mir zu marly 2 mahl zur ader gelaßen, weillen mein bludt zu dick ist, undt derowegen nicht circulliren kan, in der that ist es so dick, daß wan es ein stundt gestanden ist, kan man es mitt keinem meßer von einander bringen. Vgl. An Luise, Marly, 10.6.1714, HO, 2, 651, S. 398: Man hatt mir 2 paletten weniger gelaßen, alß ordinarie, hatt mich doch sehr abgematt. Ich bin des brauchen gar wenig gewont, bin über 20 jahr gewest ohne aderlaß undt mehr, alß 10 jahr, ohne purgiren. Dißmahl hatt man mich auch purgiren [wollen], ich habe es aber blat abgeschlagen, befinde mich zu woll dazu undt kan mich nicht so plagen, wens nicht hoch nohtig ist. Man lebt nicht [weniger lang], wen man nicht zu viel braucht. An Luise, Marly, 17.11.1712, HO, 2, 565, S. 294: Man plagt mich seyder 8 tagen, daß es nicht zu sagen ist, umb mich zur ader zu laßen, daß ich endtlich mich drin ergeben, morgen früh gegen 10 uhr zu lassen; bin gar nicht persuadirt, daß es mir woll bekommen wirdt, aber ich bin daß plagen zu müde, daß ichs nicht mehr außstehen kan. S. auch St. Cloud, 12.5.1720, HO, 5, 1121, S. 144, 5.2.1722, HO, 6, 1300, S. 320; An Sophie,

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ihrer Gesundheit willen doch endlich in den Aderlass und die Purgation einzuwilligen. In einem Brief vom September 1716 erklärte sie, dass es nicht in erster Linie ihr Leibarzt sei, der sie zu Aderlass und Purgation dränge, sondern die Personen aus ihrem Hofstaat, die ein gesteigertes Interesse an einer guten Gesundheit ihrer Herren bzw. Herrinnen hatten,219 da die Stellen im Hofstaat unmittelbar an ein Mitglied der Königsfamilie gebunden waren und mit dessen Leben erloschen.220 Im April 1715 schrieb sie an Luise, dass der gantze hoff sie dränge, den ärztlichen Empfehlungen Folge zu leisten. Fast entschuldigend fügte sie hinzu, dass sie dem Aderlass nicht wegen einiger unpaßlichkeit zugestimmt habe, sondern nur, umb nicht geplagt zu werden. Es schien also von besonderer Bedeutung für Elisabeth Charlotte zu sein, gerade ihren noch verbliebenen Bezugspersonen darzustellen, sie habe sich den Behandlungsmethoden nicht ganz freiwillig und ohne starken glauben an deren Erfolg unterzogen. 221 Dass es sich bei Bekundungen dieser Art um rhetorische Strategien handelt, die typisch für die Kommunikation mit ihrer im gleichen Umfeld sozialisierten Halbschwester sind, zeigt der Vergleich zweier Briefe vom 13. Mai 1713. Luise gegenüber rechtfertigte Elisabeth Charlotte die vorgenommene präventive Behandlung mit Aderlass und starker Purgationsgabe, indem sie darauf verwies, dass man ihr gepredigt habe, dass sie ohne den obligatorischen präventiven Aderlass und eine Purgation im Mai222 im darauffolgenden Winter wieder so krank werden würde wie schon im vorigen Jahr.223 Im Brief an ihre frühere Hofdame Madame de Ludres äußerte Elisabeth Charlotte sich zwar nicht weniger kritisch über die Behandlung, die typischen Legitimationsbemühungen entfallen jedoch.224 Offensichtlich war es Elisabeth Charlotte gegenüber Madame de Ludres weniger wichtig zu kommunizieren, dass sie der Behandlung nur unter erheblichem Druck zugestimmt habe. Die briefliche Kommunikation mit Luise war dagegen davon geprägt, dass die Halbschwestern sich in ihren Haltungen gegenseitig bestärkten und sich auch im Erleben und Deuten medizinischer Behandlungen emotional stützten. So schrieb Elisa-

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Versailles, 14.1.1712, NLA-HStAH, XXII,1, 25r–25v: daß der König meine Kinder undt meine leütte mich pressirt haben ader zu laßen, undt zu purgiren das muß E.L. kein gedancken machen. Vgl. An Luise, 1.9.1716, HO, 3, 785, S. 35: Mein dockter ist nicht gar kein charlatan undt liebt die remedien nicht sonderlich, aber meine leütte, so interessirt sein undt forchten, durch meinen todt ihre chargen zu verliehr[e]n plagen ihn. S. etwa DERUISSEAU, Krankheit, S. 1797. Vgl. An Luise, Versailles, 9.4.1715, HO, 2, 697, S. 541: Drumb habe ichs Eüch lieber selber sagen wollen undt dazu Eüch versichern, daß ich es nicht gethan wegen einiger unpaßlichkeit, sondern nur, umb nicht geplagt zu werden; den wen ich dem docktor eine aderläß oder medecin abschlage, plagt mich der gantze hoff; also umb ruhe zu haben, thue ich alles, waß man will, ohne starcken glauben, daß es mir gar woll bekommen mag. Dieses präventive Aderlassen wurde vor allem von Paracelsus und von paracelsisch inspirierten Ärzten kritisiert. Vgl. JÜTTE, Norm, S. 99 u. 101. Ein fester Termin im Frühjahr war jedoch in katholischen bürgerlichen Familien im Heiligen Römischen Reich des 16. u. 17. Jhd.s üblich, wie das Beispiel des Kölner Ratsherrn Hermann v. Weinsberg (1518–1597) sowie des Hofer Apothekers Michael Walburger (Hausbuch v. 1652–1667) zeigt. Vgl. An Luise, Marly, 13.5.1713, HO, 2, 577, S. 308: Ich bin in einem überauß schönnen gartten undt kan nicht spatziren, den die verfluchte aderlaß undt vergangenen-dinstagige medecin haben mich so unerhört abgematt, daß ich gar nicht gehen kan. Man hatt mir so gepredigt, daß wen ich mich dießen Mayen nicht würde zur ader lassen undt purgiren, würde ich unfehlbar wider in den ellenden standt fahlen, wie ich dießen wintter geweßen. Vgl. auch An Luise, Marly, 13.5.1713, HO, 2, 577, S. 308; FORSTER, Illness, S. 310. Vgl. An Mme de Ludres, 16.5.1713, VdC, Lf, 605, S. 493.

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beth Charlotte etwa im Februar 1715, als Luise wegen anhaltender Beschwerden zur Ader gelassen wurde, zustimmend, dass sie sich vorstellen könne, dass Luise kaum Lust habe, sich martirissiren zu laßen.225 Dabei findet sich im Bezug auf medikale Praktiken und Prinzipien die gleiche nationale Symbolik, mit der Elisabeth Charlotte auch über die Ernährungspraktiken schrieb. Den Aderlass beispielsweise bezeichnete sie wiederholt als frantzösche mode und knüpfte somit an die alamode-kritischen Bewertungsmuster an.226 Mehrfach beschrieb sie, wie etwa im Mai 1720, wie schlecht es ihr bekam, präventiv zur Ader gelassen – auff frantzösch tractirt – zu werden, denn dies wolle, selbst wenn es die Frantzoßen stärke,227 so gar nicht zu ihrer nunmehr wieder als alte[s] teütsche[s] temperament228 bezeichneten humoralen bzw. körperlichen Grunddisposition (4.I.1) passen.229 Das Schreiben über die vermeintliche Kontinuität ihres als teütsch begriffenen Leibs stellte insofern eine effektive Strategie dar, diesen unliebsamen, aber notwendigen Eingriffen zu begegnen, sie in Einklang mit dem eigenen Selbstbild zu bringen und somit zu verarbeiten. Insbesondere mit ihrem Schreiben über das Essen und Trinken gewann Elisabeth Charlotte somit ein Stück leiblicher Integrität zurück, das ihr beim Zulassen der medizinischen Eingriffe drohte abhanden zu kommen. Die nationale Rhetorik, im Zuge derer Elisabeth Charlotte sich als prinzipientreu und standhaft gegenüber allen modischen Einflüssen imaginierte, ist in ihren Briefen explizit und dominant. Eine genaue Lektüre ihrer Briefe und insbesondere ihrer Erzählungen und Beschreibungen von der Praxis lässt jedoch ebenfalls deutlich werden, dass Elisabeth Charlotte durchaus in die französische Hofkultur und Hofgesellschaft eingebunden war und diese immer wieder den Orientierungs- und Reflexionsrahmen für ihr Handeln und Denken bildete. Symptomatisch für die Überlagerung dieser beiden Erzählstrategien bzw. -muster ist die folgende Passage aus einem Brief Elisabeth Charlottes an Luise vom Juni 1718. Sie begann wie so oft, indem sie Luise berichtete, wann sie deren letzten Brief erhalten habe und dass sie sich sofort an die Antwort habe setzen wollen. Just in dem Moment, indem sie die Feder zur Hand genommen habe, sei sie jedoch unterbrochen worden, weil sie die 225

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An Luise, Versailles, 15.2.1715, HO, 2, 686, S. 520: Ich bekläge Eüch, ader gelaßen zu haben undt artzneyen; daß kompt mir verdrießlicher vor, alß eine kranckheit selber. Ich haße nichts mehrers, kan leicht dencken, daß Ihr übel wollen, Eüch so martirissiren zu laßen; daß were meine sach woll gantz undt gar nicht. S. etwa auch St. Cloud, 11.6.1722, HO, 6, 1334, S. 410–411: Hir wollen sie die gutte raison, so Ihr sagt, nicht begreiffen; wen man nur waß brau[c]hat, es mag gehen, wie es will, so ist alles gutt. An Luise, St. Cloud, 26.5.1720, HO, 5, 1125, S. 155, 14.5.1722 u. 28.5.1722, HO, 6, 1327, S. 392– 393 u. 1331, S. 403: Freylich were es beßer geweßen, wen man mich die verfluchte frantzösche moden nicht hette folgen laßen mitt den remeden de precaution, so mir nie woll bekommen sein. Zum Aspekt der Mode von medikalen Praktiken vgl. DERUISSEAU, Krankheit, S. 1784. Vgl. An Luise, St. Cloud, 6.8.1722, HO, 6, 1350, S. 441: Den Frantzoßen starcken die medecinen, mich aber benimbt es alle kräfften, also bin ich persuadirt, daß, wen man mich auff hießige mode tractiren solte, würde man mir bald den garauß machen. Hier vermischen sich die Vorstellungen von der gutten natur und dem von natur aus lustigen Temperament, das eher nur zeitweise von der Melancholie verändert worden war. S. 2. III. u. 4.I. Vgl. An Luise, St. Cloud, 30.5.1720, HO, 5, 1126, S. 160: Mein docktor, der durch die hießige frantzösche exempel nicht begreiffen kan, wie ein weibsmensch, in welchem alter sie auch sein mag, doch rafraichissement im frühling nicht von nöhten hatt, hatt mich auff frantzösch tractirt. Mein altes teütsches temperament, so mehr hitz, alß kälte, von nöhten, schickt sich gar nicht.

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Kutsche der Prinzessin von Conti230 in den Hof von St. Cloud fahren sah. Diese habe sich auß politesse bei ihr erkundigen wollen, wie ihr Befinden nach dem gestrigen gemeinsamen Mittagessen sei, von dem Elisabeth Charlotte ihrer Halbschwester nun erzählte: Wir wahren 19 personnen ahn taffel, sie haben unß eine starcke mahlzeit [gegeben], mehr alß 30 schüßeln, undt alles gar gutt, ein marcassin oder wildt schweingen, auch ein guttes rehekalb, wovon ich ahm meisten geßen; den ich eße mein leben keine frantzosche ragouts, nicht auß der ursach, weillen sie ungesundt sein, sondern weillen weillen sie mir gar nicht geschmecken; finde es quettscherich. Es ist kein eintziger ragoust, ahn welchem ich mich habe gewehnen können. Ich admirire die fraw von Rotzenhaussen, die frist die ragoust mit lust. Ich eße nur ordinari schlegte speißen, calbfleisch, rindtfleisch, hammelschlägel, wilbret, wen ichs haben kan, aber nur schlegt gebratten mitt einer poiverade [Pfefferbrühe]. Aber wen ich teütsch eßen ertapen kan, eße ich von gantzen hertzen; aber das ist waß rares. Aber damitt ich wider auff mein recit komme, so will ich sagen, daß wir viertelstundt ahn taffel geblieben. Nichts war schonner, alß daß obst; es wahren gantz wie naturlich abricossen, pfirsching, birn, apffel, alles von eyß; daß eße ich auch mein leben nicht.231

Sie berichtete, dass das Essen, insbesondere das Fleisch vom jungen Wildschwein und vom Reh, beim großen Diner im nahe gelegenen maison de campagne der Conti ausgezeichnet gewesen sei. In diese Schilderung ließ Elisabeth Charlotte aber schon im zweiten Satz einfließen, dass sie hiervon nur so viel gegessen habe, weil die typischen französischen Ragouts ganz und gar nicht ihre Sache seien. Die Erzählung vom gestrigen offensichtlich guten Essen wird nun deutlich spürbar unterbrochen: Elisabeth Charlotte sinniert darüber, wie ihre aus der Pfalz stammende Hofdame Eleonore von Rathsamshausen (1651–1739)232 sich an die Ragouts habe gewöhnen können, und berichtet detailreich, dass sie normalerweise nur schlechte Speisen bekomme und darum froh sei, wenn sie teütsch eßen bekommen könne. Dann greift sie den Faden ihrer eigentlichen, längst aus den Augen verlorenen Erzählung (recit) wieder auf. Sie setzt fort, dass es nichts Schöneres geben könne, als die zum Nachtisch gereichten Früchte (gantz wie naturlich), 233 die allerdings wohl auch zu Sorbets234 verarbeitet waren (auß eyß), was sie freilich ihr leben nicht esse. Diese kurze Alltagsschilderung zeigt die Ambivalenz von Elisabeth Charlottes bisweilen bemüht wirkender Selbstvergewisserung im Schreiben. Sie führt vor Augen, wie disparat Alltagserleben und die briefliche Reflexion ausfallen konnten. Die Schilderung eines durchaus positiven gemeinschaftlichen Esserlebnisses235 im Hause Conti wird von 230

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Diesen Titel trugen zu der Zeit Marie Anne de Bourbon, dite la veuve und Louise Élisabeth de Bourbon-Condé, dite la mariée. Vgl. VdC, Lf, S. 807. An Luise, St. Cloud, 9.6.1718, HO, 3, 922, S. 290–291. Anna Eleonore von Venningen (1651–1739) heiratete Georg Gottfried von Rathsamshausen, der aus einer elsässischen Adelsfamilie stammte. Am frz. Hof war sie E. Ch.s Hofdame. Vgl. An Luise, St. Cloud, 9.6.1718, HO, 3, 922, S. 291 u. 30.4.1719, HO, 4, 1014, S. 103–104: aber die pfirschung seindt abmirable hir. An C. F. v. Harling, Marly, 10.4.1712, H, 193, S. 331: Ich muß doch sagen – daß mein magen auch noch gutt teütsch ist – den weder gesundt noch kranck kein bouillon nehme, sondern nur limonade und orangade undt befinde mich sehr woll dabeÿ. Parallel zum Aufkommen der Heißgetränke setzte sich in Europa eine Vorliebe für kalte Desserts wie Eis und Sorbets, aber auch für gekühlte Getränke wie Limonade und Sirup durch. Vgl. CAMPORESI, Geschmack, S. 136–140; DE JEAN, Essence, S. 118; PETER, Kulturgeschichte, S. 84 u. 90. Zur Symbolik des gemeinschaftlichen Essens s. FALK, Essen. S. 104.

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bekannten Erzählmustern durchbrochen, die ausweisen sollen, dass Elisabeth Charlotte in eßen undt drincken (…) gantz teütsch236 sei. In dieses Bild fügt sich nur zu gut, dass sie, obwohl der Abend mit Musik und einer Spazierfahrt offenbar sehr angenehm ausgeklungen war, in der folgenden Nacht halb 3 von einem durchlauff geplagt worden sei, der allerdings nicht lang gewehrt und (…) ohne grimen undt schmertzen abgangen.237 Die ambivalenten Züge von Elisabeth Charlottes Selbstkonstruktionen zeigen sich auch immer wieder, wenn sie in ihren Briefen nicht ohne Stolz schildert, dass auch Personen aus ihrem ‚französischen‘ Umfeld für pfälzisches bzw. teütsches Essen gewonnen werden konnten. So zitierte sie noch im November 1719 in einem Brief an Luise den längst verstorbenen Dauphin (1661–1711), der während des Pfälzischen Erbfolgekrieges in der Pfalz gewesen und mit einer veränderten Meinung über das dortige Essen zurückgekehrt war: Wie monsieur le Dauphin s. auß der pfaltz kame, sagte er zu mir: „Quand vous me dissies que vos lievres et truittes estoit mellieures au Palatinat qu’en Francois [France?], je croyois que l’amour de la patrie vous faissoit parler ainsi, mais depuis que j’ay estés au Palatinat, je ne puis plus manger icy ny truittes ny lievre et je vois que vous avies raison.238

Mit dieser Erzählung gab Elisabeth Charlotte ihren im Briefkontext ausführlich beschriebenen Vorlieben für pfälzisches Essen eine (vermeintlich) objektive Grundlage. Schließlich habe selbst der erst kritische Dauphin eingesehen, dass es nicht auf Elisabeth Charlottes Patriotismus zurückzuführen sei, wenn sie die Qualität von Fleisch und Fisch in ihrer Heimat gelobt hatte. Gerade diese deutliche Positionierungserzählung im Brief an Luise macht Elisabeth Charlotte jedoch gleichzeitig in einer Rolle als Mittlerin für die Esskultur ihrer pfälzischen Heimat sichtbar – eine Aufgabe, die sie in den Briefen dieser Zeit äußerst beflissen wahrnahm. Wichtigster Briefpartner dieser späten Jahre war, neben ihrer Halbschwester Luise, vor allem Christian Friedrich von Harling, mit dem Elisabeth Charlotte auch nach dem Tod Anna Katharinas von Harling 1702 die Verbindung hielt und die Korrespondenz fortsetzte. Vor allem in ihren letzten Lebensjahren, etwa ab 1718, intensivierte sich der Briefwechsel der beiden und damit trat auch der Austausch materieller Kulturträger als Begleitsendung der Briefe wieder auf die Agenda. Im Sommer 1718 begann eine zweite Hochphase des brieflichen Lebensmitteltransfers mit dem Postskriptum eines Briefes an Christian Friedrich von Harling, in dem Elisabeth Charlotte aus konkretem Anlass bat, er möge ihr hannoverische knachwürst schicken, denn sie hatte mit ihrer Enkelin, der Duchesse de Berry, eine art von wettung gethan, dass diese besser seien als saucisse de bologne.239 Der zunächst banal erscheinende ‚Zeitvertreib‘, den die Wette mit sich brachte, hatte für Elisabeth Charlotte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung und nahm entsprechenden Raum in ihrer Korrespondenz ein. Im wörtlichen Sinne scheute sie weder Kosten noch

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An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 99. Ebd., 9.6.1718, HO, 3, 922, S. 291. Ebd., 26.10.1719, HO, 4, 1064, S. 281. S. auch YARROW, Years, S. 115. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 9.6.1718, H, 276, S. 448: Ich habe eine art von wettung gethan mitt made de Berry – daß die hannoverische knachwürst [sic!] beßer seind alß die saucisse de bologne; Ich bitt Monsr Harling sehr – mitt erster gelegenheit mir nur ein par zu schicken.

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Mühen, um ihre Enkelin von den Vorzügen der Mettwürste aus ihrer Heimat zu überzeugen. Sie schrieb: Auff der post kost es mir nichts, den ich habe die post freÿ, undt wen es auch nicht were – würde Ich darauff nicht sehen. Es kan nicht über mein spargelt gehen. Ich finde die mettwürst un[]verglichlich beßer alß die saucisson de boulogne.240

Die Wette wurde auch von Christian Friedrich von Harling mit aller Ernsthaftigkeit verfolgt. So vergewisserte er sich zuerst, ob Knack- oder Mettwürste gemeint seien,241 bevor er das Paket abschickte. Als am 28. Juli 1718 sein Brief mit sambst die zweÿ metwürst in St. Cloud eintraf, zeigte Elisabeth Charlotte sich äußerst begierig zu sehen, wie sie den frantzöschen maüllern schmecken würden. Im Antwortbrief legte sie ihrem Briefpartner in einem ausführlichen Bericht dar, welchen großen triumph unßer metwürst gehabt haben. Madame de Berry und ihre Damen hätten kaum an sich halten können, die hannoverischen Mettwürste den Bolognesern bei weitem vorgezogen und Elisabeth Charlotte in ihrer Ansicht mehr als bestätigt.242 Mich deücht – waß ahn sich selber gutt ist – reuissirt überall, hielt Elisabeth Charlotte fest. Im gesamten Brief kam sie – trotz sichtlichen Bemühens, den Inhalt abwechslungsreicher zu gestalten – immer wieder auf diese Episode zu sprechen, bat gleich um die Zusendung weiterer Pakete,243 betonte, wie verleckert244 der französische Hof danach sei, und hoffte, Herr von Harling möge doch auch Ortence, dem Sekretär und

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An C. F. v. Harling, St. Cloud, 3.7.1718, H, 277, S. 450–451. Vgl. auch An Görtz, St. Cloud, 13.7.1719, K, 5, S. 65: Ich lieb die hannoveranische würst viel lieber alß die saucissen de Boulogne, wo man so viel wercks von macht. Vgl. in ähnlicher Weise 8.6.1719, K, 4, S. 64: Zu mittag eße ich von seinen geräucherten ganßen. Man richt sie hir auch in einer purée zu; sie seindt excellent undt ohnvergleichlich beßer alß die, so man auß Gesconien [Gascogne] schickt. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 3.7.1718, H, 277, S. 450: Ich weiß den unterschiedt zwischen knack[-]undt metwürst: Bitte nur die zu schicken – so sich führen laßen. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.7.1718, H, 279, S. 452–453: Monsr von Harling, vergangen sontag hab Ich sein schreiben vom 26 ten junis sambst die zweÿ metwürst – zu recht entpfangen – aber nicht gleich drauff andtwortten, weillen – biß Ich erst erfahren – wie sie den frantzöschen maüllern schmecken würden. Dinstag versuchte Ich es ahn unßerer taffel. Da gings trefflich woll ab; Wurden alle dem saucisson de boullogne vorgezogen; Gestern kame made la duchesse de Berry her zu mittag eßen – mitt secks von ihren damen – so braffe eßerinnen sein; Made de Berry versucht sie gleich. Funde sie so trefflich – daß alle andern damen nur gar kleine stückger bekammen; Zogen es alle den jttalienern weit [vor] undt sagte[n] alle – so woll alß unßere damen – daß Ich groß recht hette – dieße metwürst den jttalienischen vorzu ziehen. Made de Berry sagte – sie hette sichs ihr leben nicht so gutt ein[-]bilden können; Nahm gleich die würst undt wickelte sie in papier – umb abendts noch davon zu eßen, undt ihren herrn vatter mitt zu regaliren – so beÿ ihr zu nacht eßen solte; Da sicht Monsr Harling – welchen großen triumph unßer metwürst gehabt haben. Sage Monsr Harling großen mächtigen danck davor, undt bitte noch ein par andere – den made de Berry hatt mich gar sehr drumb gebetten. Ich habe sie auch gar gutt gefunden undt habe nie keine beßere geßen. Im Sommer 1718 sind im Briefwechsel mit C. F. v. Harling drei weitere Lieferungen belegt. Vgl. St. Cloud, 4. u. 27.8.1718, H, 280, S. 455 u. 283, S. 60. In den darauffolgenden Jahren vgl. St. Cloud, 11.5.1719, H, 314, S. 516, Paris, 4.4.1720, H, 359, S. 610, St. Cloud, 25.4., 5.5. u. 23.5.1720, H, 362, S. 615, 363, S. 619, 365 S. 623, 9.6. u. 23.6.1720, H, 367, S. 628–631, u. 369, S. 635. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.7.1718, H, 279, S. 453: es wirdt eine große freüde sein, wen die metwürst – so monsr d’Harling mir noch schicken will – ahn kommen werden, den alle seindt verleckert darnach – daß es nicht zu sagen ist.

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Hofpoeten in hannoverischen Diensten,245 mitteilen, welchen Erfolg die Mettwürste davon getragen hätten.246 Die Übersendung der Mettwürste war nun nicht mehr wie in früheren Jahren einzig und allein auf ihre eigene Person bezogen – im Vordergrund stand jetzt Elisabeth Charlottes Bestreben, ihr (familiäres) Umfeld am französischen Hof mit den Gewohnheiten und Produkten ihrer Heimat bekannt und vertraut zu machen. Offensichtlich schafften die Würste es sogar, Elisabeth Charlotte mit ihrer so ungeliebten und sonst ob ihrer unstandesgemäßen und ungesunden Lebensweise scharf kritisierten Schwiegertochter, Madame d’Orléans, zu versöhnen, denn extra für sie, die auch der gleichen eßen liebt, aber die Mettwürste noch nicht probiert hatte, orderte sie eine weitere Lieferung – aus der Motivation heraus, die Mettwürste in gantz Franckreich thriomphiren [zu] machen.247 Deutlich ist in diesen Aussagen zu spüren, dass sich Elisabeth Charlotte im Sommer 1718 fast schon als Missionarin der Esskultur ihrer Heimat verstand. Im Unterschied zu den früheren Nahrungsmitteltransfers, als sie die Mettwürste noch als Geschenk exklusiv für sich selbst betrachtet hatte, wollte sie nunmehr ganz explizit für ihre Präferenzen werben und freute sich, wenn am französischen Hof – von den Kammerfrauen bis zu ihrem Sohn, dem Regenten248 – alle Verständnis für ihre kulinarischen Vorlieben entwickelten.249 Die Ernährungspraktiken bewirkten somit auch eine Annäherung Elisabeth Charlottes an ihr Umfeld in der Hofgesellschaft. Die sonst vor allem negativ konnotierte Redewendung in moden bzw. à la mode, die hauptsächlich im Zusammenhang mit aus Frankreich in andere Länder übertragenen kulturellen Gütern und Handlungspraktiken verwendet wurde (4.II.1), wurde im Kontext des Lebensmitteltransfers nun mit positivem Bedeutungsgehalt aufgeladen, indem Elisabeth Charlotte stolz schrieb: Ich habe auch hir den rohen schincken in moden gebracht. Alle menschen ist es nun auch hir undt viel von unßere teütsche eßen – alß sawer[-] undt süß[-]kraut, kraudt sallat mitt speck.250

Elisabeth Charlottes Präferenzen für die Speisen aus ihrer ersten Lebensphase blieben also gleich und dennoch entwickelte sich aus ihren beharrenden leiblichen Praktiken ein 245 246

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Vgl. zur Erklärung HELFER (Hg.), Liselotte, Nr. 97, S. 209. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.7.1718, H, 279, S. 454: bitte Monsr Harling wolle doch ahn Sigr Ortence sagen – wie die metwürst hir in Franckreich den jttalienische würsten vorgezogen werden m undt man findt – daß keine comparaison mitt ihnen zu machen seÿe; Mitt einem wordt – unßere mettwürst haben triomphirt. Ebd., 4.8.1718, H, 280, S. 455: Made la duchesse d’Orléans – so auch der gleichen eßen liebt – hatt noch keine versucht. Die muß es auch versuchen undt Ich will unßere [metwürst] in gantz Franckreich thriomphiren machen. Vgl. auch 25.8.1718, H, 282, S. 458–459: Ich wolte – daß sie [die Mettwürste] noch kommen könten – weillen wir Made d’Orleans hir haben. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 4.8.1718, H, 280, S. 455: Mein sohn hatt mir noch gestern gesagt – wie gutt er sie gefunden undt viel delicatter alß die jtallienische undt er ist verwundert – daß die – so dergleichen sachen verkauffen – sie nicht eher auß Braunschweig alß Itallien kommen laßen. Die Reaktionen auf die Mettwürste, die sie ein Jahr später von Görtz erhielt, waren ähnlich. Vgl. An Görtz, St. Cloud, 4.5.1719, K, 3, S. 62–63: Da werde ich auch unßere Duchesse de Berry mitt regalliren, die es eben so gern ist [isst] als ich, bedancke mich also doppelt davor. 23.5.1720, K, 18, S. 79: Die metwürst seindt die vergangene woche auch gar woll undt glücklich ahnkommen undt haben sich gar gutt gefunden. Vorgestern kame I.L. der Printz undt Printzes de Conti her undt aßen mitt mir zu Mittag. Die haben es beyde admirirt undt ihnen den vorzug vor den ittalienischen geben. Bedancke mich gar sehr davor. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.7.1718, H, 279, S. 453. Vgl. den Hinweis auf ihre frühere Vermittler-Rolle in diesem Zitat: Dem gutten S: konig hatte ich diß eßen gelehrnt. Er aß hertzlich gern.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

interkultureller Austausch, im Zuge dessen bekannte Bewertungsmuster wie die Alamode-Kritik umkonnotiert werden konnten. Elisabeth Charlottes Selbstpositionierung innerhalb einer teütschen Gemeinschaft, so zeigen die vorangegangenen Analysen (2.1 u. 2.2), lässt sich also nur als Prozess der Aneignung adäquat verstehen. In ihrem Schreiben knüpfte Elisabeth Charlotte an Positionen des zeitgenössischen Alamode-Diskurses an, der die Orientierung deutscher Adeliger am Vorbild französischer absolutistischer Hofkultur polemisch kritisierte. In dieser vor allem von frühbürgerlichen Kreisen getragenen Alamode-Kritik, fand Elisabeth Charlotte, die diese Hofkultur aufgrund ihrer persönlichen Lebenssituation ablehnte, einen Ansatzpunkt zur Verarbeitung ihrer biographischen Konflikte.251 In ihren Briefen schrieb sie sich in diesen Diskurs ein und imaginierte sich selbst auf diese Weise als Teil einer teütschen Gemeinschaft. Besonders in einer Schreibsituation, in der die Bindung an die Herkunftsfamilie durch den Tod zahlreicher Bezugspersonen immer loser wurde, versprach dies soziale Integration. Der Nachweis ihres teütsch-Seins gelang Elisabeth Charlotte wiederum mit Hilfe des Schreibens über alltägliche Praktiken, insbesondere über ihren Umgang mit Essen und Trinken. Zentraler Ansatzpunkt bei der Bewertung bestimmter Ernährungspraktiken war dabei die Bedeutung von Gesundheit, denn eine gesundheitsfördernde Alltagspraxis war nicht nur erforderlich, um die familiär geteilte und vermittelte gutte Natur zu erhalten (2.I.1), sondern eben auch, um teütschen Werten und der konstruierten teütschen Prägung des Leibes zu entsprechen.252 Elisabeth Charlottes intensives Schreiben über Essen und Trinken kann hierbei mitnichten als praktische Wiederkehr des Immergleichen betrachtet werden. Gerade mit dem unbedingten Willen zur Konstruktion eines kontinuierlichen Selbst auf der Ebene der brieflichen Erzählungen sind entscheidende Umdeutungen von Praktiken verbunden. Ihr Bezug auf das sich in der Körperpraxis manifestierende Teütsch- bzw. Pfälzisch-Sein ist gerade nicht als Wesenskern Elisabeth Charlottes zu verstehen, wie die ältere biographische Forschung nicht müde wurde zu betonen,253 sondern zeigt, dass vermeintlich stabile, kontinuierlich beibehaltene und ausgeführte Praktiken im biographischen Verlauf durchaus Neuinterpretationen unterlagen. Der soziale Sinn, der den in der Familie erlernten und zu den stabilsten habituellen Dispositionen zählenden Geschmackspräferenzen und entprechenden Praktiken zugeschrieben wird, veränderte sich ganz entscheidend. Im Zuge dessen wurden auch die entsprechenden Handlungsrepertoires erweitert. Der Blick auf den die Korrespondenz begleitenden Lebensmitteltransfer, der zunächst sehr persönlichen Zielen der erinnern251

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S. auch FLORACK, Deutsche, S. 525–526: „Im Kontext von zwar parteiischen, aber differenzierten Beobachtungen zu einem ausschweifenden Hofleben, das ihr fremd bleibt, beschwört E. Ch. Werte und Verhaltensweisen, die sie am Hof vermißt. Eigene Wertvorstellungen, Fremdheitsgefühl, Sehnsucht und Jugenderinnerungen werden mit stereotypen Versatzstücken verknüpft zur – zwangsläufig wenig konkreten – Projektion eines schlechthin besseren, da redlichen Deutschlands.“ Vgl. zur Konnotation von Teütsch-Sein und einer guten körperlichen Konstitution An Sophie, St. Cloud, 5.8.1673, NLA-HStAH, I, 5r, vgl. B, S, 3, S. 2: waß aber meinen kleinen [Alexandre Louis] ahnbelangt so ist er so schrecklich groß undt starck, daß [er] met verlöff, met verlöff eher einem teütschen undt westfällinger gleich sicht alß einem frantzossen. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Etat, S. 12 u. 17; BROOKS, Nostalgia, S. 5. Zur kulinarischen Vereinnahmung in populären Darstellungen s. etwa Roland BAUER, Eberhard LÖBELL u. Gertrud LÖBELL, Eine kulinarische Entdeckungsreise durch Kurpfalz, Kraichgau und Odenwald. Traditionelle Rezepte von regionalen Küchen, Heidelberg 1999.

DAS TEÜTSCHE SELBST ERZÄHLEN

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den Selbstvergewisserung diente, lässt Elisabeth Charlotte in späteren Jahren jedoch als Mittlerin der Esskultur ihrer früheren Heimat am französischen Hofe erkennbar werden. Diesen Spuren einer Erweiterung von Deutungs- und Handlungsmustern, die in Elisabeth Charlottes Briefen vor allem in den Erzählungen und Beschreibungen alltäglicher Praxis zu finden sind, geht das folgende und abschließende Kapitel nach.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

III. Das ‚hybride‘ Selbst erzählen Die bisher analysierten Prozesse der Aneignung diskursiver Positionen in Bezug auf die Melancholie (1) und nationale Semantiken (2) zeigten, dass es Elisabeth Charlotte nur in ihrem intensiven, täglichen Schreiben gelingen konnte, biographische Konflikte und für sie widersprüchliche Anforderungen der Lebensumfelder ihrer ersten und zweiten Lebensphase zu verarbeiten. Dabei waren die kulturräumlichen Identifikationsprozesse in Elisabeth Charlottes Schreiben, so die Argumentation des folgenden Kapitels, jedoch keineswegs so einseitig, wie sie die Leser_innen ihrer Briefe mit der Rhetorik eines primär deutsch-französischen Kulturkonflikts und einer Selbstpositionierung als teütsch glauben machen wollte (2.2). Vielmehr zeigen insbesondere die Erzählungen und Beschreibungen der Praxis durchaus Vervielfältigungen kulturräumlicher Identifikationsmuster, im Zuge derer vermeintlich klare Selbstpositionierungen vieldeutig werden. Im Vordergrund der Analysen stehen daher diejenigen Momente, in denen die expliziten Akte der kulturräumlichen Selbstpositionierung im Schreiben von konträren Zuordnungen durchkreuzt werden und somit multiple, kulturell hybride1 Identifikationen und Zugehörigkeiten erkennen lassen.2 Dabei soll herausgearbeitet werden, wie Elisabeth Char-

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‚Hybrid‘ bezieht sich auf Phänomene kultureller Mischung sowie multipler kultureller Zugehörigkeiten und darauf basierender Identitäten. Der Begriff der Hybridität wurde von dem Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha geprägt und ermöglicht, die Perspektive auf Entstehungsbedingungen und Handlungsmöglichkeiten in so genannten „Zwischenräumen“ zu richten, in denen ein „Übergang zwischen festen Identifikationen (…) die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität“ eröffnet, „in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt“. Vgl. Homi K. BHABHA, Verortungen der Kultur, in: Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS u. Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 123–148, hier 127. S. auch ASHLEY u. PLESCH, „Appropriation“, S. 4; Elisabeth BRONFEN u. Benjamin MARIUS, Einleitung, in: Dies. u. Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 1–29, hier 14: „Hybrid ist alles, was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikatenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustandegekommen ist.“ Zur Begriffsgeschichte vgl. HEIN, Identitäten, S. 54–60; kritisch zur deutschsprachigen Rezeption des Konzepts losgelöst von seiner politischen Bedeutung im postkolonialen Kontext Kien Nghi HA, Hybridität und ihre deutschsprachige Rezeption. Zur diskursiven Einverleibung des ‚Anderen’, in: Karl H. HÖRNING u. Julia REUTER (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 221– 238, hier 223, 225 u. 229–233. Inspiriert ist diese Art der Fragestellung ebenfalls von Homi K. Bhabha. Vgl. BHABHA, Verortungen, S. 124: „Theoretisch innovativ und politisch entscheidend ist die Notwendigkeit, über Geschichten von Subjektivität mit einem Ursprung oder Anfang hinaus zu denken und sich auf jene Momente oder Prozesse zu konzentrieren, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden.“ Vgl. dazu BRONFEN u. MARIUS, Einleitung, S. 8: „Sein [Bhabhas] Interesse an Momenten des Übergangs und des Bruches eher als an Konzepten von Ursprung und Einheit reiht sich in eine umfassende Tendenz aktueller Theoriebildung ein, die – ganz allgemein formuliert – von Identität auf Differenz als Grundlegung [Hervorheb. i. Orig.] umstellt.“

DAS ‚HYBRIDE‘ SELBST ERZÄHLEN

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lotte diese hybriden Zugehörigkeiten als Ressource und Handlungsspielraum aktiv nutzte.3

1. in allen landen Benjametter : Sodomie als „ausländischen Unwesen“ 4

In ihren Briefen diskutierte Elisabeth Charlotte ihre auf den Idealen tugendhafter adeliger Weiblichkeit und gottgefälliger Lebensweise beruhenden Vorstellungen von ‚legitimen‘ sexuellen Praktiken (3.III.4) auch immer wieder und mit besonderer Vehemenz entlang einer kulturräumlichen Differenzlinie. Im Folgenden soll untersucht werden, wie Elisabeth Charlotte aus ihrer Sicht unrechte Sexualitäten kulturräumlich verortete und wie dies mit ihrer Selbstpositionierung verknüpft war. „Unabhängig davon, wo man wohnte, wurde Sodomie als ‚ausländisches‘ Unwesen angesehen“5, so stellt der kanadische Historiker Michael Sibalis in seinem Abriss der europäischen Geschichte der ‚Homosexualität‘ im späten 17. und 18. Jahrhundert treffend fest. Auch für Elisabeth Charlotte war die Sodomie in erster Linie ein durch und durch ‚französisches Unwesen‘: ich glaube nicht, daß man es zu Platons zeitten doller hatt machen können, alß alle tag hir, so schrieb sie im März 1694 über die wüstereien, die die kerls am französischen Hof miteinander trieben. Dabei sei es jedoch ihr rechter teütscher sinn, der ihr nicht erlaube, Verständnis für diese vermeintliche gentilesse aufzubringen.6 In einem Brief an Luise vom Juni 1699 konkretisierte sie ihre Haltung folgendermaßen: Ich weiß unßern gutten ehrlichen7 Teütschen recht dank, nicht in daß abscheüliche laster zu fallen, so hir so sehr im schwang geht, daß es gantz offendtlich ist; man vexirt die junge kerls hir, daß

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Zu einem ähnlichen Ansatz der Analyse „kultureller Mehrfachzugehörigkeiten“ in Selbstzeugnissen vgl. ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 12 u. 17; Hans MEDICK, Einführung: Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten, in: Claudia ULBRICH, Hans MEDICK u. Angelika SCHASER (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (Selbstzeugnisse der Neuzeit 20), Köln, Weimar, Wien 2012, S. 181. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416. Hier nimmt E. Ch. Bezug auf die bereits erwähnte biblische Erzählung von Gibea in Benjamin (Richter 19). Vgl. 3.III.4. SIBALIS, Homosexualität, S.104. S. auch PUFF, Rhetorik, S. 330 u. 334. An Sophie, Versailles, 7.3.1694, GWLB/NLB, 33v, vgl. B, 1, 177, S. 190: wen eine modestie ist daß die kerls wüstereÿen mitt einander machen ist dießer hoff der modeste so jemahlen geweßen den ich glaube nicht daß man es zu platons zeitten doller hatt machen können alß alle tag hir, ich hab noch einen rechten teütschen sin, undt kan die gentillesse nicht begreiffen. Ehrlich bedeutet in diesem Sinne vor allem ‚tugendhaft‘, ‚anständig‘ bzw. ‚redlich‘. Vgl. auch FLORACK, Deutsche, S. 526. E. Ch. verwendete ‚teütsch‘ als Synonym für ‚ehrlich‘. Dies zeigt etwa die Redewendung ‚jmd. etwas teütsch herauß sagen‘. Vgl. An C. A. v. Haxthausen, Fontainebleau, 23.10.1695, in: ZIMMERMANN (Hg.), Briefe, IV, S. 426; An Sophie, St. Cloud, 22.8.1674, NLAHStAH, I, 16r, vgl. B, 1, 5, S. 5; An Luise, St. Cloud, 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 184: Man hatt mir schon gesagt, daß unßere gutte Teütschen sich greülich verdorben undt den gutten alten teütschen glauben gantz absagen, sambt allen tugenden, so die alten Teütschen beseßen, undt sich aller laster der frembten nationen ergeben. Daß kan mich recht verdrießen; einem Teütschen steht es viel übeller ahn, falsch, boßhafft und desbauchirt zu sein, den sie seindt nicht dazu geborn, es geht ihnen zu grob ab; theten also beßer, sich bey dem gutten alten teütschen brauch zu halten, ehrlich und auffrichtig zu sein, wie sie vor dießen geweßen.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

dießer und jener verliebt von ihm ist, eben wie man in Teütschlandt eine ungeheürahte jungfer vexirt.8

Am französischen Hof (hir) werde die Ordnung der Geschlechter und der Sexualitäten also ohne Scheu und für alle sichtbar9 auf den Kopf gestellt, so beschrieb Elisabeth Charlotte die ‚Zustände‘ in dieser Passage. Damit bezog sie sich auf einen zeitgenössisch äußerst wirkmächtigen Topos zur Herstellung kultureller Differenz in der reformatorischen Auseinandersetzung mit der Sodomie.10 Schüchterne Verliebtheit – Merkmal einer unverheirateten und damit idealiter unerfahrenen Frau – werde, so Elisabeth Charlotte weiter, ungeheuerlicherweise auf junge Männer projiziert. Das tugendhafte Teütschlandt hingegen erscheint aus ihrer Erinnerung heraus als das Land, in dem die Geschlechterbeziehungen sich noch in ‚bester Ordnung‘ befänden. Bezeichnenderweise tritt ein ähnliches kulturräumliches Deutungsmuster auch in der reformatorischen Propaganda der Frühen Neuzeit zu Tage. Wie Helmut Puff in seiner Untersuchung zur ‚Rhetorik der Sodomie‘ in den Schriften Martin Luthers nachweisen konnte, verwendete der Reformator zur Umschreibung der Sodomie unter anderem den Terminus der ‚welschen Hochzeit‘.11 Noch im selben Brief verlieh Elisabeth Charlotte darüber hinaus auch ihrer Sorge Ausdruck, dass mitt den moden die laster von hir ins vatterlandt12 gebracht werden könnten. Mit dieser Aussage bezog sie sich wiederum auf die zeitgenössische Alamode-Kritik an der Orientierung weiter Teile des Reichadels an den kulturellen Vorstellungen und Praktiken des französischen Hofes.13 Als ‚Übertragungsweg‘ der ‚französischen Moden‘ identifizierte Elisabeth Charlotte hierbei die Grand Tour, die die Adelssöhne in die Schulen und Akademien Frankreichs führte, wo sie neben guten Manieren und Exzerzitien auch zur 8

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An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 27.9.1690, NLAHStAH, III,1, 95v–96r, vgl. B, 1, 106, S. 128: Ich glaube woll, daß printz Max keinen italienischen humor hatt, den daß ist doch ja ordinari der gutten ehrlichen Teütschen laster nicht aber hir ahm hoff glaube ich nicht daß man ein halb dutzendt finden kann, so nicht damitt behafft sein. Mit stärkerem Bezug auf Liebe zwischen Frauen An Luise, St. Cloud, 17.7.1699, HO, 1, 90, S. 162: Der duc de Chonberg hatte recht; diß laster ist sehr gemein in Franckreich, aber in Teütschlandt hört man doch, gott lob, selten von dergleichen wustereyen. Gemeint ist hier Meinhard v. Schomberg (Schönberg), der E. Ch.s Halbschwester, die Raugräfin Karoline, geheiratet hatte und einige Zeit in den Armeen Ludwigs XIV. diente, bevor er in das britische Heer eintrat. Vgl. Bernhard von PLOTEN, Art. „Friedrich Hermann von Schönberg“, in: ADB, Bd. 32, S. 260–262, hier 262. E. Ch. unterschied innerhalb der Hofgesellschaft eine öffentliche von einer persönlicheren Sphäre. Die Einnahme der Mahlzeiten an der Tafel etwa gehörte für sie zur öffentlichen Sphäre. S. dazu An Sophie, St. Germain, 24.7.1678, NLA-HStAH, I, 112v–113r, vgl. B, 1, 20, S. 23: noch etwaß muß ich E.L. verzehlen so mir ahm anfangs sehr frembt ist vorkommen Man rett hir ohne schew von jungfer Catherine [der Menstruation] undt die Königin so [die, MB] so eine erbare fraw ist, spricht ahn offendtlicher taffel mitt allen manßleütten davon. Zur ambivalenten Stellung des Hofes zwischen Öffentlichkeit und Privatheit vgl. etwa ELIAS, Höfische Gesellschaft, S. 94; RUPPEL, Rivalen, S. 77–79. Vgl. PUFF, Rhetorik, S. 330 u. 333. Vgl. ebd., S. 332–334. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154: Es ist mir alß bang, daß man mitt den moden die laster von hir wirdt auch in unßer vatterlandt bringen; den wen die Frantzoßen einen hübschen Teütschen sehen, lauffen sie ihnen so lang nach, alß sie können, umb sie zu ertappen. S. 4.II.1.

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abscheüliche[n] sodomie, mit der die gantze frantzösche jugendt jetzt befleckt sei, angelernt würden.14 Dementsprechend zeigte sie sich auch überzeugt, dass sich die mode von den weibern nicht so bald in Teütschlandt ausbreiten werde, da die teütsche medger nicht in solch nennenswerter Zahl nach Frankreich kämen.15 In Bezug auf die ähnlich wie im zeitgenössischen Alamode-Diskurs als frantzosche mode verstandene sexuelle Aktivität von Damen16 gab Elisabeth Charlotte ihren Landesgenossinnen in Teütschlandt den Ratschlag, sich durch tugendt undt ehrbarkeit von anderen nationen abzuheben. Diejenigen, denen gott die gnade gethan, durch tugendtsame jnclinationen von anderen unterschieden zu haben, die sollten sich durch keinen pretext der frantzöschen moden zu dem boßen verleÿten laßen, sondern sich eine ehre machen anderst zu sein,17 so Elisabeth Charlotte überzeugt. Plakativ ordnete sie in diesen Aussagen Deutschland den von ihr als legitim betrachteten Sexualitäten und Frankreich den untugendhaften, abweichenden zu. Diese nationalen Zuschreibungen dominieren vor solchen eines zeitlichen Wandels von Moral und Sitte, auf den Elisabeth Charlotte gleichwohl in ihren Beschreibungen der Dekadenz der ‚französischen Jugend‘ mit dem Adjektiv jetzt hindeutete.18 Die moralisierende Gegen14

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An A. K. v. Harling, Versailles, 10.2.1695, H, 113, S. 230: Es ist gar gewiß daß diß landt hir gar deüchtig vor die junge leütte ist maniren zu lehren, undt auch die welt zu kenen. Undt kan man in dem fall mehr hir in einem monat lehrnen – alß in andern örtern jahr undt tag; Die excerzitien auch – so einen jungen edelman ahnstehen, lernt man beßer hir alß nirgendts. Allein etwaß ist gut zu besorgen – nehmblich die abscheüliche sodomie – wo mitt die gantze frantzösche jugendt jetzt befleckt ist, wie auch daß sauffen, welches greülich hir beÿ den leütten von qualitet im schwang geht. Noch 1718 meinte E. Ch., dass alle dt. edellleüte[n] am Hof beßer erzogen sein, als die Franzosen. Vgl. An C. F. v. Harling, Paris, 6.1.1718, H, 263, S. 429; An Amalie Elisabeth, Versailles, 22.7.1702, HO, 1, 177, S. 301: Were der frantzösche hoff noch wie vor dießem, da man hir zu leben konte lehrnen! aber nun aber, da niemandes mehr weiß, waß polites ist, außer der könig undt monseigneur, da alle junge leütte ahn nichts alß pure abscheüliche desbauchen gedencken, da man die ahm artigsten findt, so ahm plumbsten sein, da wolte ich niemandts rahten, seine kinder bey zu schicken; den ahnstatt daß sie waß guts sollten lehrnen, werden [sie] lautter untugendten lehrnen; also habt Ihr woll groß recht, übel zu finden, daß die Teütschen ihre kinder itzunder in Franckreich schicken wollen. Vgl. An Luise, St. Cloud, 23.6.1699, HO, 1, 87, S. 154: Ich weiß ihrer viel, so sich nicht haben persuadiren undt mitt ehren davon kommen sein, andere aber seindt ärger worden, alß die Frantzosen selber, und haben ein solch gotslästerliches leben geführt, daß es nicht auszusprechen ist. Vgl. dazu das Beispiel des Markgrafen v. Ansbach An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 16.4.1699, HO, 1, 78, S. 134: Er ist gar ein schönner herr. Viel seindt hinter ihm her geweßen undt hetten in gern desbauchiren wollen, aber er hats recht artig gemacht; er hatt ihnen blat herauß gesagt, diß laster were seine sache nicht undt hette einen solchen abscheüen davor, daß er nicht davon wolle reden hören, hatt sich bey allen ehrlichen leütten ein groß lob dadurch zu wegen gebracht. S. auch ALBERT, Madame, S. 78–80. An Luise, St. Cloud, 17.7.1699, HO, 1, 90, S. 163: Die mode von den weibern wirdt so baldt nicht in Teütschlandt kommen, alß die mänerlieb; den daß lernen die jungen bursch hir in den coligium undt accademien mitt andern kindern; die teütsche medger kommen aber nicht in Franckreich, undt in Teütschlandt ist dieße inclination nicht, seindt also sicher. S. auch MOSCHEROSCH, Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, hg. v. HARMS, S. 41 u. Nachwort, S. 248 u. 268; FLORACK, Deutsche, S. 132, der zufolge das dt. Gegenbild weiblicher Tugend auf „lutherisch-bürgerlichen Werten” beruhte. An C. F. v. Harling, Paris, 2.4.1721, H, 398, S. 692. Zu erkennen ist dieses Muster ebenso am Beispiel der Koketterie von Frauen. Hier zeigte sich E. Ch. wiederum erstaunt über Veränderungen im Umgang mit den jungen Frauen, die sich offensichtlich während ihrer Abwesenheit in Dtl. vollzogen hatten. An Amalie Elisabeth, Versailles, 18.8.1702, HO, 1, 179, S. 308: Coquetten weiber seindt nichts rares, ich glaube man findt deren überall. Aber seyder wan ist man in Teütschlandt so gedultig geworden? Den die eltern zu meiner zeit hetten ihrer dochter in ihrer

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überstellung eines ‚tugendhaften Deutschlands‘ und eines ‚libertinistischen Frankreichs‘ hatte schon während des Dreißigjährigen Krieges sowie insbesondere im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688–1697) in der barocken Literatur Einzug gehalten.19 Ihre Verwendung intensivierte bzw. verschärfte sich zusehends im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts. Noch in den Werken späterer Mittlerfiguren der deutsch-französischen Kulturbeziehungen Charles de Villers (1765–1815) und Madame de Staël (1766–1817) wurden diese Bewertungsmuster fortgeschrieben.20 Bemerkenswert ist allerdings, dass das strikt bi-national bzw. -kulturräumlich ausgerichtete Erzählmuster in zwei späteren Briefpassagen von 1701 und 1705 aufgebrochen wurde. Elisabeth Charlotte schilderte hier, dass es am Hof des englisches Königs William III. wohl ebenso zugehen müsse wie in Frankreich.21 Schließlich berichte man ihr (wie man mir verzehlt), die englischen Gesandten am französischen Hof hätten sich hir nicht gescheut, zu sagen, waß vor inclinationen sie hatten, und sie habe von Englander selber erfahren, dass nicht ordinarier in Engellandt sei, alß dießes laster.22 Über den Gesandten des habsburgischen Kaisers, Graf von Sinzendorf,23 wusste sie sogar zu berichten: wen er einen wolgeschaffenen pagen sahe, endert er von farb undt war so außer sich selber, daß es eine schandt zu sehen war.24 Sinzendorf habe, so Elisabeth Charlotte 1717, die Mode aufgebracht in den Thuilleries, die Pagen durch Zeichen zu lokken.25 Der Regent, ihr Sohn, habe diesen Gerüchten zunächst keinen Glauben schenken wollen. Als er jedoch selbst in den Tuilerien das entsprechende Zeichen gab, habe er sogar einen seiner Bediensteten ‚ertappt‘.26 In verschiedenen Studien wurde in

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gegenwart so nichts gelitten. Ich erinere mich noch, wie man den vicekantzler Mieg außgelacht hatt, daß er seiner dochter Amelie alles gelitten hatt. Vgl. MIX, Selbst- und Fremdbilder, S. 58. Auf diese populären, v.a. aus Flugschriften bekannten antifranzösischen Stereotypen griff auch die reformatorische Agitation zurück. Vgl. LAU, Müßiggang, S. 62. Vgl. DELON, Débauche, S. 41–42 u. Michel DELON, Clivages idéologiques et antagonismes nationaux à l’époque de la Révolution et de l’Empire: le cas de Charles de Villers, in: Hans-Jürgen LÜSEBRINK u. János RIESZ (Hg.), Feindbild und Faszination. Vermittlerfiguren und Wahrnehmungsprozesse in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen (1789–1983). Beiträge zum Kolloquium an der Universität Bayreuth 19.–21. Mai 1983, Frankfurt a.M. 1984, S. 25–38, hier 35–37. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 4.11.1701, HO, 1, 144, S. 249. S. auch 3.IV.3. Vgl. ebd., 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416: Nichts ist aber ordinarier in Engellandt, alß dießes laster, wie ich von Englander selber weiß. Auch alle die, so mitt mylord Portlandt nach Paris kamen, haben ein abscheulich leben mitt eben den desbauchen zu Paris geführt. Mylord Westmerland, mylord Raby undt noch 3 oder 4 andern haben sich hir nicht gescheut, zu sagen, waß vor inclinationen sie hatten, wie man mir verzehlt. Vgl. auch Versailles, 13.12.1701, HO, 1, 148, S. 257. In ähnlicher Weise bezog E. Ch.s sich in ihren späteren Aussagen über die mangelnde Bekanntheit von Kohl neben Frankreich auch auf Italien. Vgl. An C. F. v. Harling, Paris, 16.2.1719, H, 304, S. 499. Der aus dem niederösterreichischen Adelsgeschlecht der Sinzendorf stammende Graf Philipp Ludwig Wenzel (1671–1742) war 1699 bis 1701 kaiserlicher Gesandter in Paris. Vgl. Katharina ARNEGGER, Das Geschlecht der Sinzendorf, Wien 2000, S. 131–144. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416. An C. v. Wales, o.O. 16.11.1717, A, o. Nr., S. 47–48. Ebd.: Er [Sinzendorf, MB] hat auch die Mode aufgebracht in den Thuilleries, die Pagen durch Zeichen zu lokken. Wie man dieses meinem Sohn erzählte, konnte er es nicht glauben, gieng selber allein in die Thuilleries, und gab das Signal, da sahe er allerlei Livereien daher kommen, unter andern einen von seinen eignen Pagen. Der ist aber sehr erschrokken, und wurde gleich weggejagt. Vgl. auch VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 197.

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Paris um und nach 1700 eine ‚sodomitische‘ Gruppenkultur nachgewiesen,27 in die die in der Zeit der Régence zumindest teilweise in Paris residierende Hofgesellschaft offenbar eingebunden war.28 Die genannten Exempel ‚sodomitischer Laster‘ bei Mitgliedern des englischen und des kaiserlichen Hofs veranlassten Elisabeth Charlotte im Dezember 1705 sogar zu einem Resümee, bei dem sie nicht länger auf die unterschiedlichen Kulturen zwischen Teütschlandt und Franckreich Bezug nahm, sondern festhielt, in allen Ländern wären solche Benjametter zu finden, die lieber verbottene, alß erlaubte, speyßen genießen mögen.29 Das Erzählmuster vom redlichen Teütschlandt gerät in den Briefen auch dadurch in Bewegung, dass Elisabeth Charlotte ihre Person als allumfassend informiert und dementsprechend desillusioniert in Bezug auf die Formen ‚illegitimer‘ Sexualitäten am französischen Hof darstellt. Im Oktober 1701 etwa schrieb sie ernüchtert: In dießer sach bin ich so gelehrt hir in Franckreich worden, daß ich bücher davon schreiben könnte.30 Ihren Halbschwestern führte sie mit solchen Bekenntnissen aber immer wieder auch deren Naivität vor Augen, wenn sie beispielsweise gegenüber Amalie Elisabeth unmissverständlich formulierte: Wo seydt Ihr undt Louisse den gestocken, daß Ihr die weldt so wenig kendt?31 Ihre genaue Welt- und Menschenkenntnis stellte sie einmal mehr mit detaillierten Schilderungen von allerhandt gattungen praktizierter Sexualitäten in ihrem sozialen Umfeld unter Beweis. Dabei schloss sie die Aufzählung der verschiedenen Begehrensformen mit einem pädagogischen Hinweis ab: Da segt Ihr, liebe Amelisse, daß die weldt noch schlimmer ist, alß ihr gemeint habt.32 Ehrlich und tugendhaft – eben teütsch – zu sein, bezeugt also gleichzeitig eine mangelnde Kenntnis der Realitäten und somit eine kulturelle Rückständigkeit. An diesem Punkt nahm Elisabeth Charlotte nun für sich selbst die Position eines bestens über die Entwicklung der ‚Moden‘ informierten Mitglieds der französischen Hofgesellschaft in Anspruch, denn man bedarff eben nicht lang ahn hoff sein, ohne die Welt baldt zu kenen.33 Hier scheint eine Ambi27

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Vgl. CRAWFORD, Sexualities, S. 205; TAEGER, Machtverhältnisse, S. 61: „Und die vorgestellen Quellen (…) verweisen zumindest auf eine bereits etablierte Subkultur der infames: Sie haben Treffpunkte, die bei Bedarf unverabredet frequentiert werden, vorzugsweise die Quais, die Tuilerien; es gibt Lokale, in denen sie offenbar geschlossene Gesellschaften bilden (…).“ Zur Situation in London um 1700 vgl. Randolph TRUMBACH, Sodomotical Subcultures, Sodomitical Roles, and the Gender Revolution of the Eighteenth Century: The Recent Historiography, in: Robert PURKS MACCUBBIN (Hg.), ‘Tis Nature’s Fault: Unauthorized Sexuality during the Enlightenment, Cambridge 1987, S. 109–121, hier 118; zu Trumbachs Arbeiten PUFF, Männergeschichten, S. 134; zusammenfassend SIBALIS, Homosexualität, S. 105–107. Zur engen Verzahnung zwischen la cour und la ville in Bezug auf Mode vgl. FINK, Alamodestreit, S. 6; JONES, Sexing, S. 41. S. auch E. Ch.s Kommentare über eine Veränderung der adeligen Lebensformen seit der Régence An Luise, St. Cloud, 20.6.1720, HO, 6, 1132, S. 182: Die königliche paläst seindt nicht allezeit die örter, wo man ahm vergnügsten ist; aber ich muß gestehen, daß, wer ahn einem hoffleben gewohnt ist, kan sich ahn kein privat undt bürgerlich leben gewohnen. So geht mirs nun, liebe Louise, ich muß es gestehen. An Amalie Elisabeth, Fontainebleau, 30.9.1705, HO, 1, 270, S. 416. Ebd., 12.10.1701, HO, 1, 140, S. 239. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 192. An Amalie Elisabeth, Versailles, 3.12.1705, HO, 1, 280, S. 426. S. auch die ironische Bemerkung bei VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 196, E. Ch. habe mit diesen Exkursen Amalie Elisabeths „Ausbildung abzurunden“ versucht. S. auch BENITO DE LA FUENTE, Sodoma, S. 105–107. An Amalie Elisabeth, Versailles 3.12.1705, HO, 1, 280, S. 426. S. 3.III.4. Ebd.

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valenz zwischen der Hochschätzung deutscher Standhaftigkeit einerseits und dem Eingeständnis kultureller Rückständigkeit gegenüber dem führenden absolutistischen Frankreich andererseits auf, die ebenso für die zeitgenössischen Diskurse zwischen AlamodeKritik und Frühaufklärung als konstitutiv gelten kann.34 Immer wieder führte Elisabeth Charlotte ihren Briefpartner_innen zudem ihr privilegiertes Wissen über die (Un-)Ordnung des Sexuellen im ‚Orient‘ vor. So ließ sie im Juli 1699 Luise an ihren Kenntnissen teilhaben, indem sie schilderte: Diß laster [d.h. die weiberliebe] ist noch viel gemeiner in der Türckey, alß hir; da seyndt die weiber im serail so verbicht auff einander, daß sie gar nichts nach den mänern fragen. So seindt sie hir nicht; den alle, die von dem humor, lieben auch die mäner; aber in der Türckey haben sie solche jalousien von einander, daß sie sich unter einander poignadiren [d.h. sich erdolchen].35

In der Perspektive des weitgehend von Männern geführten frühneuzeitlichen europäischen Diskurses war der ‚Orient‘ als Sinnbild sexueller Freizügigkeit vor allem Projektionsfläche für die eigenen kulturellen Ängste in Bezug auf die Ordnung der Sexualitäten.36 Elisabeth Charlottes Aussage ist innerhalb dieses gesamteuropäischen christlich geprägten Orient-Diskurses zu verorten, der einerseits Männer effeminiert und als der Sodomie verfallen imaginierte37 und andererseits Frauen unkontrollierte und ausschweifende sexuelle Neigungen,38 insbesondere zu gleichgeschlechtlichen Exzessen im Harem,39 nachsagte. 34 35 36

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Vgl. FINK, Alamodestreit, S. 36. An Luise, St. Cloud, 17.7.1699, HO, 1, 90, S. 162. Vgl. Edward W. SAID, Orientalismus, Frankfurt a.M. 2009, in Bezug auf europäische MohammedBilder S. 79, zu den frz. Schriftstellern Gérard de Nerval (1808–1855) u. Gustave Flaubert (1821– 1880) S. 211–218, mit Bezug auf den britischen Orientalisten Edward Lane (1801–1876) S. 195: „In den meisten Fällen schien der Orient gegen die Sexualmoral zu verstoßen; alles an ihm (…) strahlte eine gefährliche Sinnlichkeit aus, bedrohte die Hygiene und den häuslichen Anstand durch eine ausufernde ‚Freiheit des Geschlechtsverkehrs‘ (...).“ Anne MCCLINTOCK, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York, London 1995, S. 22: „For centuries, the uncertain continents – Africa, the Americas, Asia – were figured in European lore as libidinously eroticized.” Ania LOOMBA, Colonialism – Postcolonialism, 2. Aufl., London 2005, S. 131 u. 134; Annegret PELZ, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur als autogeographische Schriften von Frauen (Literatur – Kultur – Geschlecht 2), Köln, Weimar, Wien 1993, S. 166–207, bes. 171. Vgl. LOOMBA, Colonialism, S. 131; mit Perspektive auf heute vorherrschende Konstruktionen des Orients als homophob Georg KLAUDA, Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt, Hamburg 2008, S. 17–19; PUFF, Rhetorik, S. 334–335; Rudi C. BLEYS, The Geography of Perversion. Male-to-male Sexual Behaviour outside the West and the Ethnographic Imagination 1750–1918, London 1996, hier S. 17–22; Cornelia KLEINLOGEL, Exotik-Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit 1453–1800 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 8), Frankfurt a.M. 1989, S. 35–36; TRAUTH, Maske, S. 39. Vgl. LOOMBA, Colonialism, S. 129 u. 131–132, die sich hier auf die englischen Reisebeschreibungen von George Sandys (1577–1644) sowie auf von William Lithgow (1582–1645) bezieht. S. auch die Studien zur politischen Bedeutung des Harems, die ebenfalls auf die europäische ‚Fantasie‘ einer Verbindung von Herrschaft und Sexualität, Korruption und Ausschweifung im Harem hinweisen von Leslie P. PEIRCE, The Imperial Harem. Women and Sovereignty in the Ottoman Empire (Studies in Middle Eastern History), New York, Oxford 1993, bes. S. 3–6; Alain GROSRICHARD, The Sultans Court. European Fantasies of the East, New York, London 1998, S. 119 u. 125–127.

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Die Briefe Elisabeth Charlottes betonen im Übrigen populärere europäische Stereotype über den ‚Orient‘ nicht nur in Bezug auf die weiberliebe im Serail. Elisabeth Charlotte schrieb ebenso verschiedentlich von ausschweifendem Alkoholgenuss40 und der Vielweiberei osmanischer Männer, die eine Geschlechterordnung begründe, in der Frauen wie thiere gehalten würden.41 Der Begriff Serail42 diente ihr dabei, ähnlich wie etwa auch dem Duc de Saint-Simon in seinen Memoiren, als Motiv zur Kennzeichnung eines Sittenverfalls, der ebenso im Okzident um sich greife und dort offenbar für gefährlich gehaltene Ausmaße anzunehmen drohte. Mehrfach betitelten beide verschiedene europäische Höfe, an denen aus ihrer Sicht exzessive Polygamie bzw. Mätressenwirtschaft zu beobachten war, als Serail.43 Um gegenüber Luise die Richtigkeit ihres Wissens über die Geschlechterbeziehungen im ‚Orient‘ zu verbürgen, berichtete Elisabeth Charlotte, sie habe alle ihre Informationen aus erster Hand. Im Januar 1699 schrieb sie an Luise, die Tochter eines französischen Gesandten im türkischen Reich verkehre zuweilen bei der Duchesse de Bourgogne und habe ihr schon oft von den dortigen ‚Zuständen‘ erzählt.44 Hier scheint sich auf der personalen Ebene eben jenes Stereotyp zu bestätigen, das später etwa von Montesquieu in seinen ‚Perserbriefen‘ (1721) aufgegriffen wurde,45 denn die französische 39

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Vgl. zu zeitgenössischen Stereotypen gegen- und gleichgeschlechtlicher weiblicher ‚Lüsternheit‘ in frühneuzeitlichen Reisebeschreibungen KLEINLOGEL, Exotik, S. 50; Silke FÖRSCHLER, Bilder des Harem. Medienwandel und kultureller Austausch, Berlin 2010, S. 33–92, bes. 34–35 u. 41. Der Begriff ‚Harem‘ war im Gegensatz zu serail um 1700 noch eher unüblich. Vgl. COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 2, S. 1367, Anm. 2. An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, HO, 6, 1225, S. 100–101: Die Turcken seindt nicht so exact in ihren gesetzten, daß sie keine volle leütte sehen sollten; sie sauffen nachts wie bürstenbinder undt geht ihnen mitt dem wein, wie den Christen mitt andern lastern, so ihnen verbotten sein. Die Türcken halten ihr desbeauchen heimlicher, alß die Christen, so sich in jetzigen zeitten eine ehre drauß [machen]. S. auch die Inszenierung der türkischen Art zu lieben im Ballett ‚L’Europe galante‘ (1697), 3.IV.3. An Luise, Versailles, 30.1.1699, HO, 6, N, 41, S. 553. Art. serail, in: Dictionnaire, hg. v. LITTRÉ, online. E. Ch. bezog sich an anderer Stelle mehrfach auf den Hof des Markgrafen Karl III. Wilhelm v. Baden-Durlach (1679–1738), den sie wohl aufgrund sexueller Freizügigkeit ebenfalls als serail betitelte. Vgl. An Luise, Paris, 15.12.1718, HO, 3, S. 473 u. 774, 3.4.1721, HO, 6, 1215, S. 67, St. Cloud, 4.6.1722, HO, 6, 1333, S. 407–408. Am 17.5.1721 berichtet E. Ch. ebenfalls (An Luise, HO, 6, 1228, S. 121) von den serailen des Herzogs Leopold Eberhard v. Württemberg-Mömpelgard (1670–1723) und des Herzogs Eberhard Ludwig v. Württemberg (1676–1733). Der Begriff ‚Serail‘ findet sich zur Kennzeichnung höfischer Polygamie auch in den Memoiren des Duc de SaintSimon, COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 5, S. 825, dt. Übers. MASSENBACH (Hg.), Memoiren, Bd. 4, S. 38: „Er [der Regent Philippe d’Orléans] lebte ganz öffentlich mit Mme de Parabère und lebte zur selben Zeit auch mit anderen, und er ergötzte sich an der Eifersucht und dem Zorn dieser Frauen, dennoch stand er mit ihnen allen gut; aber dieses öffentliche Serail sowie die wüsten und gottlosen Reden waren allgemein bekannt und erregten ungeheures Ärgernis. Vgl. des Weiteren auch COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 2, S. 405. An Luise, Versailles, 30.1.1699, HO, 6, N, 41, S. 553: Daß die Turquen viel weiber lieben, ist kein wunder; sie lieben sie nur wie ihre pferde. Wir haben hir eine dame bey der duchesse de Bourgogne, deren vatter hir vom konig turquischer abgesandter geweßen; sie hatt auch die sultanen gesehen. Die verzehlt mir offt davon, wie die Turquen mitt ihren weibern leben; sie sprechen nie mitt ihnen, halten sie recht wie thiere. Vgl. Rica an Usbek, Nr. 141, in: Charles DE MONTESQUIEU, Perserbriefe. Aus dem Französischen v. Jürgen von STACKELBERG, Frankfurt a.M. 1988, S. 242; Claudia OPITZ, Kulturvergleich und Geschlechterbeziehungen in der Aufklärung. Lady Wortley Montagus „Briefe aus dem Orient“, in: Christiane EIFERT, Angelika EPPLE, Martina KESSEL, Marlies MICHAELIS u.a. (Hg.), Was sind

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Hofgesellschaft schien mit gesteigertem Interesse über die Geschlechterverhältnisse und Kulturen des Sexuellen im ‚Orient‘ zu diskutieren. Mit Blick auf die von Elisabeth Charlotte angegebene Quelle wird vor allem offensichtlich, wie die Abgrenzung gegenüber dem ‚Orient‘ am multikulturellen französischen Hof durchaus identifikationsstiftend wirken konnte. Elisabeth Charlottes Briefe sind mitnichten allein als Kritik an der „entsittlichten französischen Umgebung“ zu lesen, wie uns die ältere Forschung glauben machen wollte.46 Vielmehr zeigen ihre Briefe jenseits der dominierenden Erzählmuster vom tugendhaften, ehrlichen Teütschlandt und dem ausschweifenden Frankreich auch eine fest in die französische höfische Gesellschaft eingebundene ‚europäische‘ Elisabeth Char-lotte, die ihr privilegiertes Wissen in der Korrespondenz mit ihren Halbschwestern geschickt zu inszenieren wusste.

2. Wir haben ein gutt remede hir: Wechselseitige Heilmitteltransfers 47

Betrachtet man die mit dem Briefschreiben verbundene soziale Praxis des Austausches materieller Kulturgüter, so wird besonders im Bereich medikaler Kultur eben dieses Bild einer fest in die französische Hofgesellschaft integrierten Elisabeth Charlotte sichtbar. Denn über ihre per Brief gepflegten verwandtschaftlichen Netzwerke entspann sich ein Transfer von Heilmitteln und Rezepturen,48 der für Annäherungen der medikalen Kulturen und Praktiken zwischen Elisabeth Charlottes Herkunftsfamilie und dem französischen Hof sorgte. Anders als bei den Lebensmitteln (2.2) handelte es sich bei den mit den Briefen transportierten Rezepten und Heilmitteln allerdings um einen wechselseitigen Austausch: Elisabeth Charlotte empfing Heilmittelsendungen aus ihrer Heimat, versandte aber auch ihrerseits Medikamente und Rezeptbeschreibungen, zu denen sie am französischen Hof Zugang hatte. Mit Hilfe ihrer Briefe und den zugehörigen Begleitsendungen ließen die Korrespondierenden die Höfe also zu Räumen der verdichteten Begegnung medikalen Wissens und entsprechender materieller Artefakte werden.49 Dabei nutzten sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Transportwege – sowohl die Post als auch, vorzugsweise bei zerbrechlichen Waren und als Diebstahlsicherung, Personen, die zwischen den Höfen reisten. Am Beispiel des in den Harling-Briefen der Jahre 1688 und 1692–1696 erwähnten Balsams50 lässt sich beobachten, wie viele verschiedene Personen am Transfer und der Bezahlung eines einzigen Heilmittels beteiligt sein konnten. Neben

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Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a.M. 1996, S. 156–175, hier 161. Vgl. BODEMANN, Vorwort, S. I. An Luise, St. Cloud, 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262. Vgl. auch 29.10.1719, HO, 4, 1065, S. 287, 2.11.1719, HO, 4, 1066, S. 290–291. Zum Transfer medikalen Wissens im höfischen Umfeld über Briefe vgl. am Beispiel der Fürstin Anna v. Sachsen (1544–1577) Pernille ARENFELDT, Wissensproduktion und Wissensverbreitung im 16. Jahrhundert. Fürstinnen als Mittlerinnen von Wissenstraditionen, in: Historische Anthropologie 20,2 (2012), S. 4–28, hier 5 u. 28. Vgl. zum Begriff der ‚Kontaktzone‘ PRATT, Imperial Eyes, S. 4: „I like to call ‚contact zones‘ social spaces where disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination (…).” Vgl. in Bezug auf Höfe NOLDE u. OPITZ-BELAKHAL, Kulturtransfer, S. 5. Vgl. zur Heilwirkung und Einzelheiten des Transfers ausführlich 4.III.3.

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dem am französischen Hof lebenden Neffen der Harlings, Ernst Eberhard (1665– 1729),51 gehörten aus diplomatischen Gründen reisende Personen wie die in braunschweig-lünebürgischen Diensten stehenden Christophe Broussau,52 seit 1673 Resident des Herzog- und späteren Kurfürstentums in Paris, und Johann Friedrich von Alvensleben (1669–1690),53 Hofmeister von Sophies Sohn Karl Philipp, sowie ein französischer Gesandter namens Le Plat54 zu den Überbringern der Briefe. Aber auch höfische Bedienstete wie die zunächst in Hannover und später am französischen Hof lebenden Kammerfrauen Marguérite55 und Babette Jeme56 sowie der schon in Heidelberg als Elisabeth Charlottes Page dienende und an den französischen Hof übergesiedelte spätere Haushofmeister Caspar Sigmund von Wendt waren am Austausch der Heilmittel beteiligt.57 Schon dieser kurze Blick auf die am Heilmitteltransfer Beteiligten zeigt, dass bei den mit der Korrespondenz Elisabeth Charlottes verbundenen Transferprozessen keineswegs von klar abgrenzbaren Polen ausgegangen werden kann.58 Die (medikale) Kultur eines Hofes war, so zeigte bereits die Analyse der medikalen Strategien in der kurpfälzischen Familie (2.VI), immer schon eine vielfältige ‚transkulturelle‘59 Mischung, da sie allein auf 51

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Zu Ernst Eberhard v. Harling vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 61–65; An A. K. v. Harling, St. Cloud, 13.4.1688, H, 81, S. 185; VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 237. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 90, S. 200, Anm. 6; An A. K. v. Harling, St. Cloud, 27.7.1692, H, 90, S. 200 u. Versailles, 17.8.1692, H, 91, S. 202. Vgl. ebd., 81, S. 185, Anm. 7; An A. K. v. Harling, St. Cloud, 13.4.1688, H, 81, S. 185. In seiner Funktion als Hofmeister begleitete von Alvensleben die Prinzen Christian Heinrich und Ernst August 1687 bis 1688 auf deren Reise nach Paris. Die Rückreise fand dem zitierten Brief zufolge nicht Ende 1687, sondern erst im April 1688 statt. Vgl. dazu VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 346. Vgl. B, 2, 618, S. 146, Anm. 1; An A. K. v. Harling, Paris, 15.9.1694, H, 109, S. 226. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 28, S. 108–109. Marguérite Robo, hier Jeme genannt, war die Frau des in braunschweig-lüneburgischen Diensten stehenden Tanzmeisters Sieur Jeme, lebte später aber von ihm getrennt am frz. Hof, wo sie Kammerfrau E. Ch.s war. Vgl. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 23.9.1692, H, 92, S. 203, Paris, 21.6.1693, H, 98, S. 211, St. Cloud, 8.9.1694, H, 108, S. 224–225. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 28, S. 108–109. Babette Jeme war die am frz. Hof lebende Tochter von Maguérite Robo und Sieur Jeme. Vgl. An A. K. v. Harling, Versailles, 18.5.1695, H, 116, S. 233–234. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 35, S. 119; An A. K. v. Harling, Versailles, 18.5.1695, H, 116, S. 233–234. Vgl. VAN DER CRUYSSE, Madame, S. 236, dem zufolge Wendt erst 1676 im Alter von 18 Jahren an den frz. Hof kam. Vgl. NOLDE u. OPITZ-BELAKHAL, Kulturtransfer, S. 7–8. Vgl. zur Abgrenzung des Transkulturalitätsbegriffs von einem holistischen, homogenen Kulturverständnis Wolfgang WELSCH, Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Lucyna DAROWSKA, Thomas LÜTTENBERG u. Claudia MACHOLD (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum, Bielefeld 2010, S. 39–66, hier 40–41 u. Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 45,1 (1995), S. 39–44, hier 39. An dem von Welsch geprägten Konzept der Transkulturalität wurde verschiedentlich Kritik geübt, denn Welsch selbst schreibt gegen eine Fixierung auf Transnationalität an, bezieht sich in seinen Beispielen aber häufig auf transnationale Phänomene. Vgl. etwa WELSCH, Was ist eigentlich Transkulturalität? (2010), S. 44– 45; zur Kritik Almut HÖFERT, Gender in Trans-It: Geschlecht und transkulturelle Perspektiven, in: Martina INEICHEN, Anna K. LIESCH, Anja RATHMANN-LUTZ u. Simon WENGER (Hg.), Gender in Trans-it. Transkulturelle Perspektiven. Beiträge der 12. Schweizerischen Tagung für

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der Grundlage höfischer Ehebeziehungen und der sich auf diese Weise formierenden Hofgesellschaften unterschiedlichen zumindest familienkulturellen, bisweilen auch konfessionellen und kulturräumlich bedingten Einflüssen unterlag (2.II.2) und somit verschiedene Praktiken, kulturelle Codes und Wissensbestände vereinte. Beim Sachkulturtransfer über Elisabeth Charlottes Briefe handelte es sich grundsätzlich um komplexe Austauschprozesse, denn neben den Boten hatte nicht nur Elisabeth Charlotte selbst an verschiedenen medikalen Kulturen teil, sondern ebenso ihre Briefpartner_innen. Auch diese hatten sich allesamt in jeweils verschiedenen und wechselnden höfischen Räumen mit je eigenen Verbindungen zur sie umgebenden städtischen Kultur aufgehalten. Ihre Halbschwester Luise etwa lebte an verschiedenen Höfen, neben dem Heidelberger Hof zeitweise in London sowie in Kassel, aber auch in einem eher bürgerlichen Umfeld in Frankfurt.60 Das Ehepaar von Harling hatte neben dem braunschweig-lüneburgischen Hof auch eine Zeit am preußischen Königshof in Charlottenburg verbracht und wohnte gegen Ende seines Lebens in einem Bürgerhaus in Hannover.61 Über die Kontakte zu den in unterschiedliche kulturräumliche Kontexte eingebundenen Adressierten ergaben sich also vielfältige Möglichkeiten für den Wissens- und Sachkulturtransfer. Im Folgenden sollen die in der Korrespondenz Elisabeth Charlottes erwähnten Transferprozesse von Rezepten und Heilmitteln, deren Organisation, Motivation und Wirkung untersucht und als Praxis der Selbstpositionierung analysiert werden. Der Verbundenheit mit der medikalen Kultur ihrer Heimat entsprechend (2.II-III) ließ Elisabeth Charlotte sich eine Vielzahl unterschiedlicher Heilmittel und Rezepte an den französischen Hof schicken.62 Dabei war sie jedoch stets bemüht zu betonen, dass sie so lang sie sich woll befinde keine Medikamente benutze,63 und orderte dementsprechend Heilmittel vorrangig auf Wunsch anderer Personen.64 Mit der Korrespondenz zwischen

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Geschlechtergeschichte, Zürich 2009, S. 17–29, hier 18–19; ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 14–15 u. 18. Zum Kulturbegriff Homi K. Bhabhas, der jede Kultur als in sich ‚hybrid‘ begreift, vgl. BHABHA, Verortungen, S. 128–129; BRONFEN u. MARIUS, Einleitung, S. 8, 14 u. 17; HEIN, Identitäten, S. 57. Vgl. KNEBEL, Verwandte, S. 79–82; KAZNER, Louise, S. 75–77. S. dazu HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 35 u. 38–39. S. auch die Erwähnung eines nicht näher spezifizierten Rezepts gegen Überbeine an der Hand, das Luise ihrer Halbschwester hatte zukommen lassen: An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 680– 81. An Luise, St. Cloud, 8.7.1698, HO, 1, 62, S. 109: Wen ich waß werde von nöhten haben, werde ich Eüch drumb bitten; so lang ich mich woll befinde, brauche ich nichts. Vgl. auch Versailles, 31.1.1706, HO, 1, 291, S. 438 u. 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 241, St. Cloud, 13.6.1722, HO, 6, 1335, S. 415: Ma Tante s. hatt mir zwey goldene schachteln mitt golt-pulver geschickt, aber ich habe es aber nicht probirt; den die warheit zu gestehen, so brauch ich nicht gern waß, waß es auch sein mag, habe lieber gedult. Vgl. zum Goldpulver auch An Luise, Versailles, 30.11.1710, HO, 2, 501, S. 216, Marly, 22.7.1714, HO, 2, 656, S. 412 u. 28.5.1715, HO, 2, 707, S. 565, Paris, 11.1.1720, HO, 5, 1086, S. 15. Vgl. zu den Ausnahmen v.a. den Transfer des in Riechfläschen befindlichen keyßer Carls kopffwaßer, das E. Ch. in den Jahren 1698 und 1699 zur Behandlung von Kopfschmerzen, die sie immer wieder bei ihren Aufenthalten in Paris ereilten, benutzte. An Luise, St. Cloud, 8.7., 12.8. u. 26.8.1698, HO, 1, 62, S. 109, 64, S. 111 u. 66, S. 115, 20.9.1698, HO, 6, N, 38, S. 547, Paris, 26.4.1699, HO, 1, 79, S. 135–136; An Amalie Elisabeth, Port Royal, 22.8.1698, HO, 1, 65, S. 114, 1.5. u. 12.6.1699, HO, 1, 80, S. 136 u. 86, S. 152, St. Cloud, 19.5.1699, HO, 1, 82, S. 140–141. Vgl. zur Selbstbehandlung mit zugeschickten Heilmitteln auch An Luise, Marly, 4.9.1710, HO, 2, 489, S. 199: Hinfüro werde ich vorsichtiger mitt dem balsam von Augspurg umbgehen, 2 bouteillen seindt geschwindt verschwunden; den ich wuste

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Elisabeth Charlotte und ihrer Halbschwester Luise wurde besonders häufig das sogenannte Nürnberger Pflaster, ein vielseitig einsetzbares Zugpflaster (II 5.1), transferiert. Elisabeth Charlotte forderte es zum ersten Mal im November 1705 bei Luise an – der Ausgangspunkt für den Transfer des Pflasters an den französischen Hof kam jedoch nicht von ihr selbst, sondern von einer ihrer Bediensteten. Suzanne Leclair, eine ihrer Kammerfrauen, habe das Pflaster am Hof bekannt gemacht und die Unpässlichkeiten vieler Personen damit kuriert, so berichtete Elisabeth Charlotte.65 Suzanne kam aus der reformierten Familie Bertheau aus Metz, die aufgrund ihrer Konfessionszugehörigkeit in die Pfalz migrieren musste, wo die Mutter als Amme Elisabeth Charlottes und die Töchter Anne und Suzanne als ihre Kammerfrauen in kurpfälzische Dienste eingetreten waren. Anlässlich ihrer Verheiratung begleiteten die Schwestern Bertheau Elisabeth Charlotte an den französischen Hof.66 Im Jahr 1699 wechselte Anne als Kammerfrau jedoch an den Kasseler Hof.67 Als sie dort Anfang des Jahres 1702 starb, reiste Suzanne nach Kassel, um die Erbschaftsangelegenheiten zu klären.68 Es ist gut möglich, dass sie von dort einen Vorrat Nürnberger Pflaster an den französischen Hof mitbrachte, denn Elisabeth Charlotte schrieb 1705, man würde sie nun, da Suzanne keine Pflaster mehr habe, darum bitten, ihre Kontakte nach Deutschland spielen zu lassen, um das Heilmittel zu beschaffen.69 Schon nach Ankunft der ersten Lieferung Nürnberger Pflaster von Luise bat Elisabeth Charlotte, die sich stets auch um die Bezahlung ihrer Bestellungen sorgte,70 ihre Halbschwester um eine weitere Sendung.71 Als sie im Januar 1706 ein weiteres Paket mit vier Schachteln des Pflasters erreichte,72 zeigte sie sich zufrieden, sie könne nun viel leütten mitt gefahlen thun,73 denn Elisabeth Charlotte zufolge handelte es sich bei dem Nürnberger Pflaster um ein am französischen Hof gänzlich unbekanntes Heilmittel.74 Zumindest die

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nicht, wie man mitt umbgeht, Ihr hatet es vergeßen zu schreiben. Bei dem hier erwähnten Augsburger Balsam handelt es sich um eine Abwandlung des Schlagbalsams. Vgl. Art. Schlagbalsam, Augspurger, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 34, Sp. 1730. An Luise, Marly, 12.11.1705, HO, 1, 276, S. 422: Ich bitte, liebe Louisse, last mich doch wißen, ob es nicht möglich were, ein par schachteln mitt nürnbergisch pflaster zu bekomen undt mir auff der post zu schicken! Suzon, Madame Leclait, meiner amen dochter, hatt viel leütte hir mitt geholffen, sie hatt aber keins mehr; drumb hatt man mich sehr gebetten, mehr hollen zu laßen. Schreibt mir auch, waß es kost! werde es bezahlen. Vgl. An Luise, Port Royal, 31.7.1699, HO, 1, 92, S. 166. Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 110, S. 226–227. Vgl. An Luise, Versailles, 1.2.1702, HO, 1, 152, S. 265. Einem Brief An Amalie Elisabeth, Marly, 6.5.1702, HO, 1, 167, S. 285 zufolge befand sie sich auf der Rückreise. An Luise, Marly, 12.11.1705, HO, 1, 276, S. 422. Vgl. bspw. ebd., 12.11.1705, HO, 1, 276, S. 422. Vgl. zur Bezahlung der Franckforter pillen Versailles, 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 241 sowie des Kaiser Karls Kopffwassers St. Cloud, 12.8.1698, HO, 1, 64, S. 111u. An Amalie Elisabeth, Port Royal, 22.8.1698, HO, 1, 65, S. 114. An Luise, Versailles, 9.12.1705, HO, 1, 282, S. 428: Ich dancke Eüch, liebe Luise, vor daß pflaster von Nurnberg, so Ihr mir geschickt; es solle daß rechte sein. (...) Man bitte mich umb mehr; werdt mir also gefahlen thun, mehr zu schicken undt von besten. Es ist nicht ganz klar, ob es sich bei folgenden Belegstellen um eine oder mehrere Lieferungen handelte. Vgl. An Luise, Versailles, 21.1., 31.1., 4.2.1706, HO, 1, 290, S. 437, 291, S. 438 u. 293, S. 440. An Luise, Versailles, 4.2.1706, HO, 1, 293, S. 440. Vgl. ebd., 21.1.1706, HO, 1, 289, S. 436: Man weiß hir nicht, waß froschley-pflaster ist. Vgl. auch St. Cloud, 24.5.1721, HO, 6, 1230, S. 127: In gantz Paris, ja gantz Franckreich, würdet Ihr, liebe Luise, kein

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in der Korrespondenz immer wieder zu verfolgenden Bestellungen bestätigen, dass es sich um ein sehr begehrtes Heilmittel handelte und die Beschaffung über Mittelspersonen am Hof als einfachster Weg angesehen wurde. So erreichten Elisabeth Charlotte im Sommer 171075 zwei Pakete, von denen eines mit der Post eintraf76 und das andere persönlich überbracht wurde.77 Auch im Jahr 1711, als Elisabeth Charlotte gerade eine Sendung der offenbar ebenso beliebten abführend wirkenden Franckforter pillen78 erhalten hatte,79 um die man sie am französischen Hof ebenfalls geplagt habe, musste sie, wie sie schrieb, gleichzeitig erneut eine betteley thun umb ein schachtelgen vom Nürnberger pflaster so miracle hir thut.80 Im Sommer der Jahre 1713,81 171782 und 171883 wiederholten sich sowohl die Bestellwünsche als auch die Begründungen – Elisabeth Charlotte zufolge feierte das Pflaster weiterhin wundersame Heilerfolge am französischen Hof und jederman befindt sich woll dabey hir.84 Dabei bemühte sie sich auch darum, das für die korrekte Anwendung des

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froschleich-pflaster finden. Froschlaichpflaster wurde wohl auf ähnliche Art und Weise wie das Nürnberger Pflaster hergestellt. Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 3, Leipzig 1905, S. 48; Art. Nuremberg, emplatre de, in: Encyclopédie, hg. v. DIDEROT u. D'ALEMBERT, Bd. 11, 1765, S. 285. In Nicolas LEMERY, Dictionnaire ou traité universel des drogues simple, 3. Aufl., Amsterdam 1716, ist das Nürnberger Pflaster hingegen nicht zu finden. Vgl. An Luise, Versailles, 17.4.1710, HO, 2, 472, S. 175. Vgl. An Luise, Marly, 13.5. u. 31.5.1710, HO, 2, 474, S. 177 u. 475, S. 179. Ebd., 12.7.1710, HO, 2, 480, S. 187: Hertzallerliebe Louisse, monsieur von Weissenbach ist vor 3 tagen ahnkommen undt hatt mir, ehe ich von Versaille weg bin, die schachtel überlieffert mitt denen 4 bouteilger von dem gutten beaume universel, wie auch schachteln mitt Nürnberger pflaster undt Ewern lieben brieff vom 26 May. Es handelte sich um ein Abführmittel aus Aloe und Veilchensaft, das von dem Frankfurter Arzt Johann Hartmann Beyer (1563–1625) erfunden worden war. Vgl. Art. Franckfurter-Pillen, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 9, Sp. 1726; Art. Freß-Pillen, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 9, Sp. 1826; Wilhelm LOREY, Beyer, Johann Hartmann, in: Neue Deutsche Biographie [NDB], Bd. 2, Berlin 1955, S. 204; Wilhelm STRICKER, Geschichte der Heilkunde und der verwandten Wissenschaften in der Stadt Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1847, S. 104–107; zur genauen Rezeptur Institut für Stadtgeschichte (ISG) Frankfurt a.M., Sammlung Ortsgeschichte, S 3/V, 6.752. In den Jahren 1711/12 bat E. Ch. drei Mal um eine Lieferung der beliebten Pillen. Vgl. An Luise, Versailles, 14.3.1711, HO, 2, 515, S. 235–236: Ich bitte, schickt mir von den Franckforter pillen ein schachtelgen voll! Es seindt leutte hir, so meinen, ihr leben bestehe drauff, haben mich drumb gebetten. 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 241, Marly, 25.6.1711, HO, 2, 533, S. 259, Versailles, 3.10.1711, HO, 6, N, 49, S. 564 u. 14.1.1712, HO, 2, 539, S. 268, Fontainebleau, 13.8.1711, HO, 6, N, 48, S. 561. An Luise, Fontainebleau, 13.8.1711, HO, 6, N, 48, S. 561. Vgl. in ähnlicher Weise Marly, 12.7.1710, HO, 2, 480, S. 187: Der beaume [beaume universel] hatt gleich ein miracle gethan. Vgl. An Luise, Marly, 29.7.1713, HO, 2, 586, S. 326: Potz, ich hette schir vergeßen, zu sagen, daß daß nürnbergische pflaster miracle hir thut. Man hat mich sehr gebetten, noch etliche schachteln kommen zu laßen; bitte also liebe Louisse, schickt mir noch ein halb dutzendt, schreibt mir aber, waß es Eüch kost! ich will gern bezahlen. Ihr könt mir alß ein par auff der post schicken. Vgl. zu dieser Lieferung weiterhin An Luise, Marly, 26.8.1713, HO, 2, 591, S. 336, Fontainebleau, 13.9., 20.9. u. 30.9.1713, HO, 2, 594, S. 340, 596, S. 342 u. 598, S. 343. Vgl. An Luise, St. Cloud, 5.8., 2.9. u. 12.9.1717, HO, 3, 844, S. 76–77, 847, S. 83 u. 849, S. 88, 30.10.1717, HO, 3, 861, S. 117; Paris, 26.12.1717, HO, 3, 876, S. 157. Vgl. ebd., 9.6.1718, HO, 2, 922, S. 288 u. 30.6.1718, HO, 3, 928, S. 305–306. An Luise, St. Cloud, 5.8.1717, HO, 3, 844, S. 76–77. Auch das Geld für die Schachteln wurde durch eine Mittlerin, in diesem Fall Anna Eleonore v. Rathsamshausen (ca. 1651–1739), überbracht. Vgl.

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Mittels entsprechende Handlungswissen bereitzustellen. 1717 bat sie Luise noch einmal um eine Gebrauchsanweisung für das Pflaster, die sie zwar schon einmal erhalten,85 aber aufgrund des Umzugs von Versailles nach Paris 1715 verloren habe.86 Sie orderte jedoch nicht etwa eine deutsche Beschreibung für die Rezept- und Heilmittelsammlung, die sie selbst unterhielt,87 sondern ein dutzendt von den gedruckten frantzößschen zettel[n],88 um sie gezielt unter den Interessierten am Hof zu verbreiten. Aussagekräftig erscheint auch der Fakt, dass sich die Hersteller des Nürnberger Pflasters offensichtlich bereits darauf eingestellt hatten, das Heilmittel könne auch außerhalb des deutschen Sprachgebietes Anwender finden. Offenbar standen die medikalen Kulturen in Europa in vielfältigen Austauschprozessen zueinander, von denen der höfische Transfer über familiäre Netzwerke des Adels und ihrer Dienstleute ein bedeutender Teil war. Die Anwendung des Nürnberger Pflasters am französischen Hof, wie es sich in den Briefen Elisabeth Charlottes darstellt, weist eine erstaunliche Kontinuität auf, denn auch im Mai 1721 habe man sie, so Elisabeth Charlotte, inständig gebetten, wider Nürnberger pflaster zu kommen laßen.89 Das Pflaster sei nun nachgerade a la mode am französischen Hof – es sei nicht auszudenken, wie sehr man sie bearbeite, für Nachschub zu sorgen, so schrieb sie, gleichsam die Stoßrichtung der Alamode-Kritik an der französischen Kulturhegemonie umkehrend.90 In ihrer gesundheitsfördernden Qualität konnten die Heilmittel aus der Heimat am französischen Hof einen vergleichbaren Beliebtheitsgrad wie die ‚Modegetränke‘ Kaffee, Tee und Schokolade (IV. 2.1) erreichen. Konsequenterweise korrigierte Elisabeth Charlotte denn auch die Menge ihres Bestellwunsches, die sie im vorhergehenden Brief angegeben hatte, von einem halben auf ein ganzes Dutzend Schachteln.91 Im Sommer 1721 befand Luise sich allerdings wieder auf Reisen und war deshalb nicht in der Lage, selbst für die regelmäßigen Lieferungen Nürnberger Pflaster zu sorgen.92 Sie beauftragte deshalb einen Sekretär namens Runkel aus Frankfurt damit, Elisabeth Charlotte mit dem Heilmittel

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ebd., 12.10.1717, HO, 3, 860, S. 116: Vor die Nurnberger schachteln mitt pflaster habe ich Eüch schon gedankt, werde den Louis d‘or ahn Lenor geben. Vgl. An Luise, Versailles, 9.12.1705, HO, 1, 282, S. 428. An Luise, Paris, 27.11.1717, HO, 3, 868, S. 138: Ihr habt mir schon einmahl eine frantzösche relation nebenst einer teütschen mitt Nürenberger pflaster geschickt, liebe Louisse! Aber es ist durch de demenagirung von Versaille verlohren worden. Die folgenden Passagen aus E. Ch.s Briefen belegen, dass sie sowohl Rezepte sammelte als auch Heilmittel für die Selbstbehandlung aufbewahrte. Vgl. An Luise, Paris, 10.12.1715, HO, 2, 750, S. 680–681: Ich dancke Eüch aber gar sehr, liebe louisse, vor Ewere sorg, mir ein gutt remede zu schicken. Ich habe es abgeschrieben undt zu meinen remedien gethan. An Amalie Elisabeth, St. Cloud, 19.5.1699, HO, 1, 82, S. 140–141: Es ist mir recht unglücklich mit dem keyßers Carls kopffwaßer gangen; ich wollte es richten undt auß dem schranck herauß nehmen, wie ichs aber lange, wurde ich nicht gewahr, daß es eine andere boutteille von Reine d’Hongrie mir an den ermel hencken bleibt, undt wie ich heraußziehe, schlegt eine bouteille an die ander undt brechen beide so geschwindt, daß mir nur der obertheil in der handt bleibt; hatt mir also zu Paris nicht nutzen können. An Luise, St. Cloud, 3.11.1717, HO, 6, N, 54, S. 567: Ich bitt Eüch, liebe Louisse, schickt mir ein dutzendt von den gedruckten frantzößschen zettel, wie Ihr mir schon ein mahl geschickt, wozu diß pflaster alß gutt ist! Ebd., 1.5.1721, HO, 6, 1224, S. 95. An Luise, St. Cloud, 24.5.1721, HO, 6, 1230, S. 126: Dieß pflaster wirdt sehr a la mode hir; Ihr kont nicht glauben, wie man mich drumb plagt undt bitt hir. Vgl. ebd., S. 127 u. 1.5.1721, HO, 6, 1224, S. 96. Luise hielt sich wohl unter anderem in Brüssel und Bingen auf. Vgl. An Luise, St. Cloud, 13.8.1721, HO, 6, 1253, S. 202.

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und den sonst regelmäßig verschickten deutschen Zeitungen auszustatten.93 Der Kreis der in den Transfer des Heilmittels involvierten Personen wurde hier also wiederum erweitert. Wie bereits angesprochen waren Elisabeth Charlottes Briefpartner_innen selbst jedoch keineswegs als Repräsentierende einer homogenen teütschen Kultur anzusehen, sondern ihrerseits in verschiedene kulturräumliche Kontexte eingebunden. Insbesondere die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den kurpfälzischen Geschwistern Elisabeth Charlotte und Luise und dem braunschweig-lüneburgischen Fürstenhaus, das 1714 die Thronfolge in England angetreten hatte, boten einen zentralen Anlass für einen komplexen, mehrpoligen Heilmitteltransfer. Von ihrer Briefpartnerin Caroline von Braunschweig-Lüneburg, gebürtig aus dem Haus Ansbach-Brandenburg und nunmehr englische Kronprinzessin, beispielsweise erhielt Elisabeth Charlotte deren neuem Rang entsprechend kostbare Heilmittel wie einen Bezoar sowie mehrere Kugeln des für die medikale Kultur der kurpfälzischen Familie so bedeutenden Mylady-Kent-Pulvers (2.II.2 u. III.1). Insbesondere über die Aufenthalte Luises in London intensivierte sich der medikale Austausch zwischen Elisabeth Charlotte am französischen und den ‚deutschen‘ Verwandten am englischen Hof. Von dort schickte Luise ihrer Halbschwester im Oktober 1715 ein purgierendes Pulver, das in der Wirkung dem am französischen Hof und in der Stadt Paris beliebten Salz von Epsom gleichen sollte, das Elisabeth Charlotte auch von ihrem Leibarzt verordnet worden war.94 Die Korrespondenz zeugt jedoch mitnichten von einem einseitig getragenen Heilmitteltransfer: Vielmehr verschickte auch Elisabeth Charlotte selbst verschiedene Medikamente und Rezepturen95 vom französischen Hof als Begleitsendungen ihrer Briefe. Dabei nutzte sie den privilegierten Zugang, der sich ihr in ihrer Position als Schwägerin des Königs bzw. nach 1715 als Mutter des Regenten bot, um gerade solche Heilmittel zu versenden, mit denen sie selbst gute Erfahrungen gemacht hatte – so etwa im Fall des Alikanten-Weins, der zur Stärkung von Herz und Magen getrunken wurde und ihr insbe-

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Zunächst gab es wohl Probleme mit diesem neuem Transportweg. Vgl. An Luise, St. Cloud, 5.6.1721, HO, 6, 1233, S. 138–139 (Zit.) u. 140: Der herr Runckel hatt mir keine schachteln mitt pflaster seyder Ewerer abweßenheit von Franckfort geschickt; in allem habe ich nur die 2 entpfangen, so Ihr mir geschickt habt. 7.6.1721, HO, 6, 1235, S. 142; 24.7.1721, HO, 6, 1247, S. 188: Der secretaries Runckel hatt sein wordt gehalten undt mir die zeittungen undt schachteln mitt pflaster sehr fleißig [geschickt]. Danckt ihm von meinetwegen davor, liebe Luise! 9.8.1721, HO, 6, 1252, S. 202. Vgl. An Luise, Paris, 18.10.1715, HO, 2, 736, S. 655, Marly, 9.8.1714, HO, 2, 658, S. 419: Ihr werdet, liebe Louisse, vielleicht woll wißen, waß mich so starck purgirt hatt; es ist eine neüe medecin, aber so a la mode, daß gantz Paris nichts anderst mehr brauchen will. Es ist ein saltz, so auß Engellandt kompt, man heist es hir du sel d’Ipsum, solle auß einem sauerbrunen in Engellandt gezogen sein, man lest es in waßer schmeltzen. Versailles, 3.5.1715, HO, 2, 702, S. 555: Daß sel d’Ipson ist dermaßen a la mode hir, daß alle menschen es brauchen, jung, alt, allerley leütte; hatt doch noch niemandts geschadt. Zur Beliebtheit allgemein Art. Englisches LaxierSaltz, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 8, Sp. 1242; Art. Epsham oder Epsom, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 8, Sp. 1446. Zum Transfer von Rezepturen s. bspw. das Rezept vor böße finger, das E. Ch. am frz. Hof kennenlernte und an Luise weitergab: An Luise, St. Cloud, 28.7. u. 21.8.1720, HO, 5, 1143, S. 219 u. 1150, S. 247.

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sondere während ihrer Blatternerkrankung 1693 gute Dienste erwiesen hatte (2. III.2).96 Im Dezember 1693 schickte sie zwei Flaschen des Weins an die seit längerem erkrankte Anna Katharina von Harling97 und in den Jahren 1710 und 1711 sandte sie mehrfach Vin d’Alicante an den im Alter von über 90 Jahren befindlichen und an verschiedenen Beschwerden leidenden früheren Stallmeister Étienne Polier.98 Dabei passte der Elisabeth Charlottes Schilderungen zufolge von Kammerfrauen am französischen Hof angewandte Stärkungstrank (2. II.3) offenbar besonders gut zu den von ihr und Polier geteilten medikalen Auffassungen, denn ‚sanfte Heilmittel‘ (remèdes doux)99 wie der Vin d‘Alicante waren radikalen Eingriffen in die Natur des Körpers, allen voran dem Aderlass, in jedem Fall vorzuziehen (2. II.2).100 Aber auch Personen, die mit diesen medikalen Strategien vermutlich weniger vertraut waren, ließ Elisabeth Charlotte an ihren Deutungs- und Handlungsmustern teilhaben. Als sie im September 1719 erfuhr, dass der kleine Sohn des Markgrafen von Baden-Durlach an der roten Ruhr, einer besonders gefährlichen Form der Durchfallerkrankung,101 gelitten hatte, ließ sie ihm sofort ein paar Flaschen des Weins, den sie selbst besonders in Phasen der Rekonvaleszenz zur Stärkung des allgemeinen Befindens trank,102 aus ihrem eigenen Vorrat zukommen.103

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Vgl. An Luise, Marly, 25.5.1707, HO, 2, 362, S. 24; zur Anwendung auch An A. K. v. Harling, Marly, 7.1.1700, H, 163, S. 295. Art. Alicanten-Wein, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 1, Sp. 1209. Vgl. An A. K. v. Harling, Paris, 12.12.1693, H, 101, S. 214: Mein hertz lieb fraw von Harling, weillen ich mich in meiner kranckheit gar woll beÿ dem wein von alicant – so man hir hatt, gefunden undt augenscheinlich gesehen – daß er mich wider zu kräfften geholffen – schicke ich mein hertzlieb fraw von Harling hirmitt 2 bouteillen. Vgl. auch Versailles, 16.12.1693, H, 103, S. 217; An Sophie, Paris, 5.11.1693, NLA-HStAH, IV, 102v; zur Erkrankung A. K. v. Harling HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, S. 40. Vgl. die folgenden Briefe an Étienne Polier, o.O., 20.10.1709, VdC, Lf, 441, S. 412; o.O., 27.10.1709, ebd., 446, S. 414, 27.10.1709, 446, S. 414; 8.2.1710, 460, S. 421; 9.7.1710, 480, S. 432; 29.12.1710, 532, S. 457; 30.12.1710, 533, S. 457; 29.5.1711, 570, S. 475; 31.5.1711, 572, S. 475; 20.6.1711, 581, S. 480. Vgl. auch VOSS, Fürstin, S. 50. An Étienne Polier, o.O., 30.5.1711, VdC, Lf, 571, S. 475. An Luise, Marly, 22.7.1714, HO, 2, 656, S. 412. E. Ch. zufolge trank Polier zur Prävention von gesundheitlichen Folgen eines erlittenen Schreckens zeit seines Lebens ein wenig puren Wein. Vgl. ebd.: Ich glaube, daß ein gutter drunk purer wein beßer, alß daß golt-pulver, vor den schrecken geweßen. Daß war deß gutten, ehrlichen monsieur de Polier seine maxime undt er hatts woll verstanden, ist 92 jähr alt worden undt kein augenblick kindisch. So bezeichnete man blutige Durchfälle. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 165. Vgl. An A. K. v. Harling, Marly, 7.1.1700, H, 163, S. 294: Ich glaube aber daß – wen Ich den unraht [d.h. die Galle] nicht von mir geben hette – daß Ich eine todtliche kranckheit würde bekommen haben; Undt habe nichts eingenohmen. Nur ein wenig spanischen wein – so man vin d’alicant heist – getruncken; Der hatt mich gantz wider zu recht gebracht. An Luise, St. Cloud, 20.7.1719, HO, 4, 1036, S. 181: Denckt ahn Ewer gesundtheit, liebe Luise! Wen Ihr gutten vin d’Alicant hettet, würdet Ihr baldt couriren; nicht[s] ist beßer von indigestion von obst. Vgl. An Luise, St. Cloud, 13.9.1719, HO, 4, 1052, S. 239: deß margraff von Durlachs printzgen hatt die rohte ruhr gehabt, ist gar kranck geweßen. Ich habe I.L. von meinem vin dalicant geschickt, daß hatt ihn courirt, go[tt lo]b! Es ist ein artig herrgen, lang gar klein geblieben, nun fengt er ahn, zu waxsein. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Sohn von Christoph v. Baden-Durlach (1684–1723), den E. Ch. während seines Paris-Aufenthaltes im Rahmen seiner Grand Tour persönlich kennengelernt hatte. Vgl. Weech (Hg.), Drei Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an den Markgrafen Friedrich Magnus von Baden-Durlach, in: ZGO 40 (1886), S. 219–223, hier 219–220.

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Ähnlich lagen die Dinge auch beim florentinischen Erdwurmöl (2.III.1), das wie der Alikanten-Wein ebenfalls in enger Verbindung zur medikalen Kultur von Elisabeth Charlottes Herkunftsfamilie stand – schließlich wurde es von einem gewissen Monsieur Altoviti, einem ehemaligen Bediensteten am Heidelberger Hof, hergestellt. Elisabeth Charlotte selbst erhielt es von ihm erstmals 1697 zur Heilung ihres Armbruches. Nachdem sie sich von der Wirkkraft des Mittels überzeugt hatte, schickte sie es zu dieser Zeit erstmals an ihre Tante Sophie, die gestürzt war.104 In den folgenden Jahren versandte Elisabeth Charlotte das Erdwurmöl jedoch nicht nur per Brief an ihre familiär verbundenen Bezugspersonen – vielmehr lässt sich am Beispiel dieses Heilmittels ihre Rolle als Ansprechpartnerin in medikalen Fragen,105 insbesondere für Kavaliere und andere sich am Versailler Hof aufhaltende Personen aus deutschen Landen nachvollziehen. Im Mai 1701 etwa gab sie das Öl an Friedrich Ludwig von Nassau-Weilburg (1683–1703) weiter.106 Der Erbprinz hielt sich im Rahmen seiner Grand Tour in Begleitung des Hofmeisters Möbius gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Karl August (1685–1753) zu dieser Zeit bereits seit ungefähr einem Jahr am französischen Hof auf.107 In ihrer Funktion als Mentorin,108 die Elisabeth Charlotte bei den beiden jungen Prinzen109 wie auch bei

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Vgl. An A. K. v. Harling, Marly, 9.12.1700, H, 168, S. 300; An Sophie, Versailles, 2.12.1700, NLAHStAH, X,2, 745r–746r: ich schicke E.L. hierbeÿ von dem öhl so mir so gar woll bekommen ist man erwämbt [erwärmt] den ort wo der schaden ist, mitt warme dücher, undt den nimbt man eine feder undt dunckt sie ins öhl undt schmirt damitt wo man ahn großen schmertzen findt ich konte meinen arm weder zum mundt bringen noch in sack stecken in 14 tagen hatt mich diß öhl den arm wider zu recht gebracht daß er worden wie er vor geweßen, man muß abendts undt morgendts schmiren, gott der allmächtige verleÿe daß diß öhl E.L. so woll bekommen möge alß mir man schmirt dün, so ein potgen wie ich die zweÿ so ich E.L. hir beÿ schickte wehrte 4 wochen, (...). Sie berichtete ihrer Tante weiterhin, dass sie den schmerzenden Arm in einen Ärmel aus Hasenfell stecke, dies bekomme ihr wohler alß ein warm tuch, den daß saugt daß öhl zu viel ahn sicht, die haßen haut bleibt eüßerlich fett undt daß erhelt daß öhl auff den schaden, undt macht daß es operiren kan, den es erhelt den ort auch warm Ich habe es den gantzen winder nach meinem fall getragen, Ich bitte E.L. demütigst doch einen von deren balbirer zu befehlen, mir eÿgendtlich auffzusetzen waß E.L. schaden ist, den ich kan es noch nicht recht begreiffen, E.L. seindt ja nur von dero höhe gefahlen, kan also nicht begreiffen wie sie sich so erschrecklich bessirt haben gott der allmächtige verleÿe E.L. baldt wider volkommene gesundtheit (...). Marly, 9.12.1700, NLA-HStAH, X,2, 758r; Paris, 23.12.1700, NLA-HStAH, X,2, 799r. Als solche fungierte E. Ch. ihren Aussagen zufolge generell bei Hof. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 4.7.1700, NLA-HStAH, X, 445r–445v. E. Ch. berichtete hier von einem gewissen La Porte, der persuadirt gewesen sei, sie verstünde sich woll auff die gesundtheit. Als er die Blattern bekam, habe er das Gerücht gehört, E. Ch. hätte die Pusteln öffnen lassen und sich in die Luft gesetzt, was er nachgeahmt habe, ohne mit ihr Rücksprache zu nehmen. Er sei kurz danach verstorben. E. Ch. inszenierte sich in ihren späteren Briefen selbst als heilkundige Frau, die auch in Notsituationen beherzt zu handeln wusste. Vgl. auch die Erzählungen über ihre Ersthilfe anlässlich eines Reitunfalls ihres Sohnes An Sophie, Marly, 6.11.1710, NLA-HStAH, XX,2, 999v: ich fuhr zu ihm, nahm i[h]n gleich in mein Calesch gab Ihm melissen waßer so Ich alß im sack habe zu trinken undt riebe ihn mit ungrisch waßer da kam er wider zu sich selbst. Vgl. An Amalie Elisabeth, Port Royal, 15.5.1701, HO, 1, 132, S. 228. Vgl. C[?]. SPIELMANN, Geschichte der Stadt und Herrschaft Weilburg von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, Weilburg 1896, ND Weilburg 2004, S. 131. Vgl. zur Funktion der Mentorin STANNEK, Brüder, S. 235–239, bes. 237 in Bezug auf E. Ch.; NOLDE u. OPITZ-BELAKHAL, Kulturtransfer, S. 7. Vgl. SPIELMANN, Geschichte, S. 131.

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verschiedenen anderen Kavalieren ausübte,110 verstand sie es auch als ihre Pflicht, diese in gesundheitlichen Belangen zu beraten. Als Friedrich Ludwig sich bei einem Sturz von der Kutsche den Arm gebrochen hatte, überbrachte sie ihm das die nerven undt ädern undt senen stärkende florentinische Öl, in der Hoffnung, es möge baldt wider seinen arm zu recht bringen.111 Im November desselben Jahres gab es sodann Grund zur Freude über die erfolgreiche Behandlung, denn diese war Luise wohl über die Familie von Nassau-Weilburg zu Ohren gekommen.112 Auch 1704 konnte Elisabeth Charlotte ihren brieflichen Aufzeichnungen zufolge einen weiteren Heilungserfolg verbuchen, denn das Öl kurierte auch die Wundschmerzen eines gewissen monsieur hattebach.113 Als Oberstleutnant stand Carl von Hattenbach (1671– 1745) in Diensten der Landgrafschaft Hessen-Kassel und war während des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1714)114 in der Schlacht am Speyerbach (15. November 1703) von der Armee Ludwigs XIV. gefangen genommen worden.115 Offenbar war es ihm dennoch erlaubt, den französischen Hof aufzusuchen, wo er im August 1704 mit Elisabeth Charlotte zusammentraf.116 Als ihr 1716 zufällig ein fläschgen von dem gutten öhl in die Hände 110

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Die E. Ch. verwandtschaftlich verbundenen Prinzen Karl (1680–1702) und Wilhelm (1682–1760) v. Hessen-Kassel kamen 1698 im Rahmen ihrer Grand Tour an den frz. Hof und wurden von ihr protegiert. Vgl. dazu KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 29–37. Auch Georg Ludwig v. Haxthausen, Sohn ihres Briefpartners Christian August, sowie Christoph v. Baden-Durlach, Sohn des Markgrafen Friedrich Magnus, konnten sich während ihrer Aufenthalte in Paris 1698 u. 1700 an E. Ch. wenden. Vgl. E. Ch. an A. J. v. Haxthausen, St. Cloud, 24.7.1698, in: ZIMMERMANN (Hg.), Briefe, V, S. 427: Waß dießen seinen sohn ahnbetriefft, so werde ich ihm hir rahten, alß wen er mein sohn were, habe ihm schon gesagt, daß er offt zu mir kommen solle. An Friedrich v. Baden-Durlach, St. Cloud, 10.7.1700, Paris, 18.9.1700 u. Versailles, 13.2.1701, in: WEECH (Hg.), S. 221–222. Vgl. An Amalie Elisabeth, Port Royal, 15.5.1701, HO, 1, 132, S. 228: Ich habe dem elsten graffen von Nassau Weillburch heütte ein ohl gebracht, welches mir über die maßen woll bekommen, wie ich den arm auß einander gefahlen hatte; es sterckt die nerven undt ädern undt senen; ich hoffe, daß es ihn baldt wider seinen arm zu recht bringen wirdt. Vgl. auch SPIELMANN, Weilburg, S. 133. Vgl. An Luise, Fontainebleau, 26.9.1701, HO, 6, N, 44, S. 557: Ich bin recht fro, daß mein öhl, so ich dem ältsten graffen von Nassau geben, ihm eben so woll, alß mir selber bekommen ist undt daß seine verwandten alle so woll mitt mir zufrieden sein. Vermutlich befand Friedrich Ludwig sich zu dieser Zeit schon wieder in den nassauischen Erblanden. Vgl. SPIELMANN, Weilburg, S. 133. Vgl. An Luise, Versailles, 20.11.1704, HO, 1, 220, S. 361–362: Ich bin fro, daß monsieur Hattebach mitt mir zufrieden ist; den ich halte recht viel von ihm (...). Daß ohl, so ihm so woll zu seinem arm bekommen, ist eben daßselbe, womitt ich den armen graffen von Nassaw auch geheylt. Ihr habt den menschen gesehen, so es gemacht hatt; es ist der gutte erliche Altoviti. Zu Hessen-Kassel im Spanischen Erbfolgekrieg vgl. PHILIPPI, Landgrafschaft, S. 31–37, bes. 32; Friedrich von APELL, Die Politik des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel bei Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges. Nach den Akten des Kgl. Staatsarchivs zu Marburg, in: Hessenland (1908), S. 197–199, 209–211 u. 225–227. Vgl. Carl KNETSCH, Wilde Triebe am Stammbaume der hessischen Landgrafen. I. Die neuere Familie von Hattenbach, in: Hessenland 25 (1911), Teil 1, S. 277–280, Teil 2, S. 293–295, hier 294 u. Elisabeth Charlotte, S. 38–39 u. 44–46. Friedrich Ludwig v. Nassau-Weilburg fiel in dieser Schlacht. Vgl. SPIELMANN, Weilburg, S. 133. Hattenbach hielt sich bis zum 27.8.1704 in Paris auf. Vgl. KNETSCH, Triebe, S. 294; An Luise, Versailles, 16.8.1704, HO, 1, 214, S. 352: Ich muß noch ahn Amelisse andtwortten undt es ist spätt, will derowegen nur noch sagen, daß ich nun einmahl wider Teütschen hir gesehen habe, einen jungen graffen von Wied, so schön wie eine dame ist, ein oberstleüttenandt, so Salmuth heist (die sein in den pfaltzischen troupen bei Speyer gefangen worden), undt einen Hattenbach von Cassel.

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gefallen sei, erinnerte sie dies daran, wie Hattenbach und der Erbprinz Friedrich von Hessen-Kassel (1676–1751)117 damals so abscheulich ahn ihren wunden in den nerven gelitten haben und mit ihrer bzw. der Hilfe des Öls kuriert werden konnten.118 Nicht ohne Stolz fügte sie an, dass noch gestern Friedrichs Bruder Georg (1691–1755), der sich am französischen Hof aufhielt,119 von weiteren Erfolgen des Erdwurmöls berichtet habe. Elisabeth Charlotte hatte offenbar zwischenzeitlich etwas von dem Öl nach Kassel geschickt, wo es weitere 10 officirer kuriert habe.120 In diesen Zeugnissen tritt sie in einer ähnlichen Rolle wie ihre ehemalige Hofmeisterin Anna Katharina von Harling als heilkundige Frau in Erscheinung, die ihr Wissen bei der praktischen Krankenbehandlung weitervermittelte. Sie erzählte sich als Ansprechpartnerin für medikale Belange und als Mittlerin medikaler Kultur,121 die ihre familiären Kontakte zu dem vormals in kurpfälzischen Diensten stehenden Florentiner Altoviti zu nutzen wusste, um ihren Verwandten und Landsleuten, die wie Hattenbach auff den rechten alten teütschen schlag seien, zu helfen.122 Die Hofkultur der Frühen Neuzeit erscheint in den Briefen sowohl als durch Familienbeziehungen der Adeligen wie der Bediensteten hochgradig europäisch vernetzt als auch in ‚nationalen Denkmustern‘ konstruiert und erfahren. Mit ihren Briefen verschickte Elisabeth Charlotte jedoch auch solche Heilmittel, die sie erst am französischen Hof kennengelernt hatte und die somit ihr in der Herkunftsfamilie erworbenes medikales Repertoire erweitert hatten. Besonders überzeugt war sie aufgrund zahlreicher eigener positiver Erfahrungen von der bereits erwähnten pommade divine, die nach einer Rezeptur ihrer ersten Kammerfrau Madame de Durasfort hergestellt worden war (2.V.1). Im Dezember 1715 schickte sie Luise deshalb als Neujahrsgeschenk von dem gegen Flüsse aller Art heilsamen Mittel, dessen Kenntnis und die Möglichkeit, dieses zu beschaffen und zu versenden, in direkter Weise aus ihrer Einbindung in die französische Hofgesellschaft resultierte. Dabei zeigte Elisabeth Charlotte sich von ihrer praktischen Seite, denn sie versandte 2 potger auffzuhaben undt – für die Anwendung bei jeder Gelegenheit – ein kleines in dem Sack zu tragen! Auch in den folgenden Jahren schickte

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1716 war Friedrich Erbprinz v. Hessen-Kassel. 1721 wurde er durch Heirat mit Prinzessin Ulrike Eleonore König v. Schweden; nach dem Tod seines Vaters Karl war er seit 1730 auch Landgraf von Hessen-Kassel. Vgl. PHILIPPI, Landgrafschaft, S. 42–43. Vgl. An Luise, St. Cloud, 1.9.1716, HO, 3, 785, S. 35: Ich habe in ein alt cabinet de la Chine, so ich von Versaille kommen laßen, gott lob, noch ein fläschgen von dem gutten öhl gefunden gestern abendts, so der gutte ehrliche monsieur Daltovitti mir geschickt undt womitt ich meinen verenckten arm courirt, auch den erbprintz von Heßen undt den Hattenberg, die abscheulich ahn ihren wunden in den nerven gelitten haben. S. auch Paris, 5.4.1721, HO, 6, 1216, S. 71. Vgl. KNETSCH, Elisabeth Charlotte, S. 43–44; PHILIPPI, Landgrafschaft, S. 44. An Luise, St. Cloud, 1.9.1716, HO, 3, 785, S. 35: undt printz Jörgen sagte mir noch gestern, daß sein herr bruder mitt waß ich ihm geschickt, so eben obgemeltes öhl ist, noch 10 officirer courirt hatt, so viel gelitten. Vgl. zur Mittlerinnen-Funktion von adeligen Frauen in Bezug auf medizinisches Wissen jüngst ARENFELDT, Wissensproduktion, bes. S. 5 u. 28. Vgl. dazu etwa folgende Aussagen An Luise, Versailles, 16.8.1704, HO, 1, 214, S. 352: Monsieur Hattenbach ist ein rechter gutter feiner mensch; ich mag ihn recht woll leyden. Er scheindt noch auff den rechten alten teütschen schlag zu sein, wie die leütte, so gutt wahren, zu meiner zeit sein geweßen. 20.11.1704, HO, 1, 220, S. 361–362, Marly, 13.12.1704, HO, 1, 222, S. 364.

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sie ihrer Halbschwester mehrfach von dem Balsam123 und sorgte sich darum, dass diese stets genügend vorrätig hatte.124 So fragte sie etwa im Juli 1718 von sich aus nach, ob Luise noch etwas pommade divine gebrauchen könne, denn das bücksgen, das sie zuletzt geschickt hatte, sei nicht besonders groß gewesen125 und müsse nun woll abgebraucht sein,126 oder sie zeigte sich wie im November 1718 gespannt darauf zu hören, wie Luise die erneut als Geschenk zugesandte Pomade bekommen sei.127 Regelmäßig berichtete Elisabeth Charlotte ihrer Halbschwester in ihren Briefen auch von neuen Anwendungsbereichen, in denen sich der Balsam ihrer Erfahrung nach als dienlich erwiesen habe.128 Ihr war also nachdrücklich daran gelegen, dass ihre Halbschwester von ihrem als Teil der medikalen Kultur am französischen Hof praktisch erworbenen Wissen über hilfreiche Gesundheitsstrategien profitieren konnte. Indem Elisabeth Charlotte im September 1719 die Rezeptur für die pommade divine, die sie von Madame de Durasfort erhalten hatte, weitergab – ohne ein secret davon zu machen129 – traf sie jedoch eine aktive Positionierungsentscheidung, schließlich galt die Weitergabe medizinischen Wissens auch in adeligen Kreisen durchaus als vertraulich, wie Pernille Arendfeldt in ihrer Analyse der Briefe Annas von Sachsen (1544–1577) überzeugend zeigen konnte.130 Auch die Weiterempfehlung einer Essenz des im 17. und frühen 18. Jahrhundert berühmten Pariser Augenarztes Claude Deshais Gendron (1663–1750)131 beruhte zuvorderst auf Elisabeth Charlottes eigenem Erfahrungswissen. Insbesondere Pockenerkrankungen galten als gefährlich für die Augen, denn sie führten häufig zu ernsthaften Schädigungen bis zum völligen Verlust des Augenlichtes,132 und auch Elisabeth Charlottes Augen waren von ihrer Blatternerkrankung 1693 in Mitleidenschaft gezogen worden, wie 123

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Vgl. An Luise, Paris, 31.3.1718, HO, 3, 902, S. 225, St. Cloud, 6.11.1718, HO, 3, 965, S. 428. Vgl. zum Transfer der pomade divine an Anton Ulrich v. Braunschweig-Wolfenbüttel (1633–1714) über Pakete An Sophie, Versailles, 2.5.1706, NLA-HStAH, XVI, 263v, vgl. B, 1, 599, S. 131. An Luise, Paris, 31.3.1718, HO, 3, 902, S. 225: Wen Ihr mehr von nohten habt, kont Ihr mirs nur berichten. Die pomade conservirt sich mehr in dießen schachteln, alß in den irdenen potger. 20.4.1718, HO, 3, 908, S. 241– 242, St. Cloud, 28.4.1718, HO, 3, 910, S. 248 u. 6.11.1718, HO, 3, 965, S. 429. An Luise, St. Cloud, 31.7.1718, HO, 3, 937, S. 335: Apropo, habt Ihr noch pomade divine? Nun ist die zeit, daß dieße pomade gemacht wirdt warden; also wen Ihr keine mehr habt, werde ich Eüch wider schicken, liebe! Den daß bücksgen, so ich Eüch geschickt hatte, war eben nicht groß. An Luise, St. Cloud, 25.9.1718, HO, 3, 953, S. 392. Ebd., 24.11.1718, HO, 3, 970, S. 443: Mich verlangt, zu hören, wen Ihr mein brieff undt paquet vom 6 dießes monts werdet entpfangen haben, ob Eüch die pomade divine wirdt woll bekommen sein undt die schachtelger gefahlen haben. Paris, 27.11.1718, HO, 3, 971, S. 448. An Luise, Paris, 31.3.1718, HO, 3, 902, S. 225; St. Cloud, 9.10. u. 15.10.1718, HO, 3, 957, S. 404 u. 959, S. 410. Vgl. An Luise, St. Cloud, 10.9.1719, HO, 4, 1051, S. 235: Madame de Durasfort hatt mir daß recept von der pomade divine geben; ich mache gar kein secret davon, werde es Eüch heütte schicken; alles muß gar exact observirt werden. Die Schwester des Marechal de France Jacques Henri de Dufort, duc de Duras, starb am 13.5.1689. Vgl. SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 2, 13.5.1689, S. 393; auch VdC, Lf, S. 73–74. Vgl. ARENDFELDT, Wissensproduktion, S. 13–14. Vgl. Stichwort: Gendron, Claude Deshais, in: Jean-Eugène DEZEIMERIS (Hg.), Dictionnaire Historique de la Médecine ancienne et moderne, 14 Bde., Paris 1828–1839, hier Bd. 12, Zweiter Teil, S. 517; Gustave BRUNET (Hg.), Correspondance complète de Madame Duchesse d’Orléans, Née princesse palatine, mère du Régent, 2 Bde., Paris 1855, Bd. 1, S. 349, Anm. 1. Vgl. WILLIAMS, Angel, S. 22–23; LINDEMANN, Medicine, S. 71.

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sie aus der Retrospektive in einem Brief vom Januar 1715 schilderte.133 Als ihre Halbschwester Luise im Oktober 1707 ebenfalls an einer gefährlichen Infektionskrankheit mit darauffolgender Augenschwäche litt,134 ließ Elisabeth Charlotte ihr die Essenz inklusive einer Dosierungsanleitung zukommen, die sie direkt von Doktor Gendron, der als Leibarzt von Monsieur und später auch von ihrem Sohn Philippe tätig war,135 erhalten hatte. Überzeugt, es sei kein beßerer occulist in der welt, verwies sie nachdrücklich darauf, dass Gendron nicht nur ihr selbst bey[de] augen in den kinderblattern salvirt habe, sondern auch zahlreiche weitere Behandlungserfolge in ganz Europa vorweisen könne. Er habe beispielsweise auch den bayerischen Kurfürsten136 geheylt undt taußendt andere,137 so schrieb Elisabeth Charlotte und stellte damit gleichzeitig ihre eigene privilegierte Position heraus. Im November desselben Jahres konnte Luise die guten Kontakte ihrer Halbschwester sogar für eine briefliche Konsultation des berühmten Augenarztes nutzen, dem es allerdings schwerfiel, die gewünschte Ferndiagnose zu stellen.138 Er empfahl ihr noch einmal 133

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An Luise, Versailles, 18.1.1715, HO, 2, 681, S. 506: Die kinderblattern seindt den augen abscheü[lich] gefährlich. Ohne ein docktor, so auch ein occulist undt Gendron heist, hette ich meine augen verlohren, hatte zwey grain in einem undt 3 im andern aug. Die blattern seindt mir in den augen kommen, ob man mir zwar saffran umb die augen geschmirt hatte. Vgl. auch SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 4, 15.7.1693, S. 322: Madame se porte considérablement mieux, et se prépare pour aller à Colombes, qu'on fait meubler; elle croit que l'air y est meilleur qu'à Saint-Cloud. Pendant sa maladie, elle avoit fait venir Gendron et Michard; mais elle a continué à se gouverner comme elle avoit commencé. E. Ch. identifizierte die „Röteln“, an denen Luise litt, als Ursache ihrer folgenden Augenschwäche. Vgl. bspw. An Amalie Elisabeth, Marly, 6.11.1707, HO, 2, 386, S. 47–48: Rossenwaßer undt saffran hatt den augen nicht schaden können; aber sie [Luise] solle viel geweint haben in den röttlen, daß kont eher die ursach davon sein; den bey so schlime lufft ist alles vergifft. An Luise, Versailles, 22.12.1708, HO, 2, 402, S. 66: Es ist mir von hertzen leydt, daß Ewere augen noch nicht geheilt sein, liebe Luise! Aber so lang Ihr augenwehe habt, soltet Ihr wenig schreiben, den daß erhitzt die augen. Es ist woll gewiß, daß Ewer zustandt von den röthlen kompt; den es ja gleich drauff gefolgt. Vgl. An Luise, Paris, 25.11.1717, HO, 3, 867, S. 132; BRUNET (Hg.), Correspondance complètes, Bd. 1, S. 349, Anm. 1; vgl. Stichwort: Gendron, Claude Deshais, in: DEZEIMERIS, Dictionnaire Historique de la Médecine ancienne et moderne, Bd. 12, zweiter Teil, S. 517. Vermutlich Maximilian II. Emanuel (1662–1726). Vgl. im Gegensatz dazu SOULIÉ u.a. (Hg.), DANGEAU, Bd. 16, 24.3.1716, S. 349: M. le duc d’Orléans se sert pour ses yeux de l’eau d’une madame Maquiert, qui avoit guéri l’électeur de Bavière, mas M. le duc d’Orléans ne s’en trouve pas bien. An Luise, Fontainebleau, 10.10.1707, HO, 2, 383, S. 44: So baldt ich von ma tante undt Amalie Elisabeth erfahren, waß vor ein accident Euch auff den augglieder gefahlen, habe ich gleich ahn den gar gutten augendockter monsieur Gendron geschrieben undt raht bey ihm gefragt; der hatt mir die zwey bouteillen mitt essentz geschickt undt dabey geschrieben, waß zu thun ist. Er hatt mir bey[de] augen in den kinderblattern salvirt. Es ist kein beßerer occulist in der welt; Ihr könt kecklich brauchen, waß ich Euch hir schicke, undt mitt dem Scharlach thun, wie er Euch raht undt ich geschrieben. Mein kopff thut mir zu wehe, umb etwaß änderst mehr zu sagen, alß daß ich wünsche, daß Euch dieße remedien woll bekommen mögen undt so woll, alß waß Gendron mir gebraucht. Er hatt auch Churbayren geheylt undt taußendt andere. Vgl. auch An Amalie Elisabeth, Versailles, 27.10.1707, HO, 2, 384, S. 45; An Luise, Versailles, 8.12.1708, HO, 2, 399, S. 63; Marly, 9.2.1709, HO, 2, 407, S. 76. Gendron wird etwa auch in Zedlers Universallexikon als berühmte[r] Oculiste bezeichnet. Er behandelte unter anderem den aus Konstantinopel stammenden aufgeklärten Schriftsteller Antiochius Kantemir (1708–1744) erfolgreich. Vgl. Art. Cantemir (Antiochas Prinz), in: Zedlers Universallexikon, Bd. 4: Supplement, Sp. 1403–1406, hier Sp. 1405. An Luise, Marly, 14.11.1709, HO, 1, 452, S. 148: Mein tag deß lebens habe ich von solchem zustandt nicht gehört aber der gelehrte augendocktor monsieur Gendron sagt, daß er dergleichen gesehen hatt, meint auch, daß, wen er Eüch sehen konte. daß er Eüch couriren würde.

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seine Essenz, die Elisabeth Charlotte freilich bereits geschickt hatte.139 Die Briefe zeigen wiederum, dass Elisabeth Charlotte sich in der Rolle der Helferin in medikalen Belangen äußerst wohlfühlte.140 Unaufgefordert verschickte sie im Januar 1708 weitere zwei Fläschchen der Essenz.141 Sie war wohl auch selbst von Gendron so überzeugt, dass sie in einem Brief an Luise angab, seine Dienste auch zukünftig in Anspruch nehmen zu wollen und sich deshalb mit ihm über die Bezahlung für die Essenz und seinen Rat gütlich einigen wolle.142 Elisabeth Charlotte hatte eine so hohe Meinung von Doktor Gendron und seinen ärztlichen Fähigkeiten, dass sich hier sogar ihre typischen Differenzierungsmuster von teütsch und frantzösch auflösten. So kritisierte sie explizit, dass ihr Sohn Philippe Gendrons Behandlungsmethoden wegen dessen strengen diätetischen Empfehlungen aufgegeben habe und seine Hoffnungen auf einen Scharlatan setze, der ihn mit einem Pulver aus Deutschland behandeln wolle und dabei nichts als Schmerzen verursacht habe.143 Auch wenn Elisabeth Charlotte selbst von einer Rezeptur weniger überzeugt war als bei der Essenz von Gendron, war sie dennoch wie im Dezember 1709 froh, den Wünschen ihrer Halbschwester nach weiße[m] balsam (3.III.1)144 nachkommen zu können145 und 139

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Vgl. An Amalie Elisabeth, Marly, 6.11.1707, HO, 2, 386, S. 47–48: Hertzliebe Amalie Elisabeth, ich habe nicht manquirt, Gendron Ewer aufgesetztes papir zu schicken. Er schreibt mir, daß er nichts beßers wüste, alß waß er schon gerahten hette undt ich Louisse von wordt zu wordt von Fontainebleau geschriben, auch die essence geschickt, weiß aber nicht, ob sie sie bekommen; den ich habe noch keine andtwort drauff bekommen. Auch Monsieur Polier empfahl sie Gendrons Tropfen bzw. eine Konsultation bei ihm. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 11.9., 12.9. u. 14.9.1706, VdC, Lf, 284, S. 302, 285, S. 303 u. 288, S. 305. An Amalie Elisabeth, Versailles, 12.1.1708, HO, 2, 390, S. 51. An Luise, Versailles, 24.11.1707, HO, 2, 388, S. 49: Waß ich Euch geschickt, meritirt woll keine dancksagung; den dießen dinst hette ich woll ein frembtes mensch gethan, will geschweygen dan Euch, liebe Louisse, die mir so nahe seydt undt die ich recht lieb habe. Ich würde es mir selbsten mein leben nicht verziehen haben, wen ich waß guts gewust hette, Euch zu couriren, undt Euch solches nicht geschickt hette. Also, liebe Luise, seydt content, daß Euch, waß ich geschickt, woll bekommen! Daß ist die gröste dancksagung, so Ihr mir hettet schicken können. Seydt auch in keinen sorgen, waß Ihr Gendron geben solt! Ich will schon mitt ihm zu recht kommen, den ich brauch ihn auch. Last mich nur machen! Morgen gehe ich nach Paris. Ich will ihn hollen laßen undt noch ein par gläßger von essentz abfordern undt Euch schicken, so baldt mir immer möglich sein kan. Vgl. An Luise, Paris, 25.11.1717, HO, 3, 867, S. 132: Vor anderthalb jähren hatt sich mein sohn einen abscheulichen schlag auff ein aug geben, daß daß gantze aug voller geronnen blutt geworden. Er hatt gleich seinen augendockter [Gendron] hollen laßen, welcher ihm zwar gutte mittel geben, ihm aber dabey eine regulirt leben vorgeschrieben in eßen, in drincken etc. Aber da hatt sich mein sohn nicht zu resolviren können, hatt seine ordinarie leben fortgeführt, welches sein aug verschlimmert. Die ungedult ist ihm ahngekommen, hatt den rechten augendockter verlaßen, allerhandt gebraucht, so man ihm propossirt, undt sich in nichts zwingen [wollen], viel dabey in seinen geschafften geschrieben undt leßen müßen. Daß hatt ihm daß aug schir gantz zu schänden gebracht. Jetzt hatt er sich zur ader gelaßen undt gestern purgirt. He[u]tte versucht er ein pulver von einem curé, so ein Teütscher dießem curé geben, so 8 stundt große schmertzen solle machen undt erstlich eine große inflamation verursachen ; man muß es zwey oder 3 mahl brauchen. Den weißen Balsam bezeichnete E. Ch. als zeügs. Vgl. An Luise, Marly, 28.5.1711, HO, 2, 527, S. 252; Versailles, 22.2.1710, HO, 2, 462, S. 164. Vgl. An Luise, Versailles, 21.12.1709, HO, 2, 453, S. 149: Hertzallerliebe Louisse, ma tante, unßere liebe fraw churfürstin, hatt mir letzt geschrieben, daß Ihr gern ein wenig balsam du Perou hettet, ich habe es aber letzte post nicht schicken können, den zu Marly hatte ich keines. Bekompt es Eüch woll, kont Ihr mirs nur sagen, so werde ich mehr schicken. Ich habe alte schachteln, wo man mir gelben balsam vor dießem in geschickt hatte, sauber auswäschen laßen undt es hineingethan, damitt ich es auff der post schicken kan. In der Korrespondenz der nächsten Tage und Wochen wird deutlich, dass es bei der genauen Bezeichnung des gewünschten Balsams Unklarheiten gab.

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bot in den folgenden Jahren auch immer wieder an, noch mehr von dem Heilmittel zu schicken.146 Dabei verwies sie wie im Mai 1711 auf ihre guten Möglichkeiten bei der Beschaffung des Heilmittels, wenn sie schrieb: Ich kan noch [so] viel von dem weißen balsam bekommen, alß ich will; den ein kauffman von Marseille hatt corespondentz mitt meinem leibapotecker, der schafft ihm, so viel man will.147

Auch als Luise mitteilte, dass die kleinen Gläser, in denen Elisabeth Charlottes Kammerknecht den Balsam Ende Mai an sie geschickt hatte, zerbrochen waren, versicherte sie ihrer Halbschwester, sie werde es nicht versäumen, für eine weitere Lieferung zu sorgen, und habe ihren Apotheker schon veranlasst, nach Marseille zu schreiben.148 Bei dem über den Marseiller Hafen und die Provence149 nach Paris transportierten Balsam, den Elisabeth Charlotte in ihren Briefen beaume de la Meque150 bzw. beaume blanc de Constantinopel151 nannte, handelte es sich wohl um eine Form des von Nicolas Lémery in seinem ‚Dictionnaire ou traité universel des drogues simples‘ (1716) beschriebenen Balsamum Judaicum – einem besonders kostbaren weißen, ölhaltigen Balsam, der ursprünglich aus dem Harz von auf der arabischen Halbinsel heimischen Bäumen gewonnen wurde.152 Lémery wusste darüber hinaus zu berichten, dass der osmanische Herrscher die Bäume auch in den Gärten seines Palastes in Kairo – zu denen kein Christ Zugang hatte – anbauen ließ.153 Das Wissen um diesen Ursprung macht auch erklärbar, warum der Besuch eines türkischen Gesandten am französischen Hof Luise im April 1721 Anlass zur Hoffnung gab, Elisabeth Charlotte könne ihr nun wieder ein paar Fläschchen des weißen Balsams ver-

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Vgl. zu dieser Diskussion An Luise, Versailles, 27.12.1709, HO, 2, 454, S. 150–151, 18.1. u. 26.1.1710, HO, 2, 457, S. 156 u. 458, S. 157. Vgl. zu den verschiedenen zeitgenössisch bekannten Balsamen und Konsistenzen LÉMERY, Dictionnaire (1716), S. 69–71; ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 141–142. Vgl. An Luise, Versailles, 27.3.1710, HO, 2, 469, S. 170, 9.4.1711, HO, 2, 519, S. 242; Marly, 13.5.1710, HO, 2, 474, S. 178 u. 19.4.1711, HO, 2, 522, S. 246. An Luise, Marly, 21.5.1711, HO, 2, 526, S. 251. Ebd., 28.5.1711, HO, 2, 527, S. 252 u. 31.5.1711, HO, 2, 528, S. 253. Vgl. zu den Transportwegen An Luise, St. Cloud, 28.11.1720, HO, 5, 1178, S. 343–344: Weder vor golt noch silber kan man jetzt keinen weißen beaume de la Mecque bekommen; den selbiger kompt von Provence hieher undt wegen [der Pest] kompt mit wißen nichts auß Provence. Zur letzten europäischen Pestepidemie 1720 in Marseille vgl. Klaus BERGDOLT, Die Pest. Die Geschichte des Schwarzen Todes, München 2006, S. 79. Vgl. An Luise, Versailles, 27.12.1709, HO, 2, 454, S. 150–151: Vor 8 tagen habe ich Eüch in zwey schachtelger von dem gelben balsam, von rechten beaume du Perou [geschickt]: der ist aber nie recht clar, sondern braun undt eine dicke gomme, wie Ihr sehn werdet. Ist es aber vielleicht le beaume blanc, den man hier le beaume de la Meque, undt nicht beaume du Perou, heist, so habe ich den auch undt werde Eüch davon schicken, wen Ihr ihn wolt, konte mirs nur zu wißen thun. Wie Ihr secht, so hatt ma tante mir von dem beaume geschriben. Vgl. An Luise, Versailles, 18.1.1710, HO, 2, 457, S. 156: Ich komme aber wider, wo ich gestern geblieben war, nehmblich ahn baume de Perou. Daß Ihr sagt, daß Ihr es schmieren kont, macht mich glauben, daß, waß wir hir beaume blanc de Constanopel heißen, vielleicht in Teütschlandt beaume du Perou geheißen wirdt, den der ist clar undt fließendt; den habe ich auch, wen Ihr davon wolt, werde ichs Eüch schicken. Ferner 22.2.1710, HO, 2, 462, S. 164. Vgl. Art. Balsamum Judaicum, in: LÉMERY, Dictionnaire, S. 69–70. Vgl. ebd., S. 69.

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schaffen.154 Insgesamt sind über den Raugräflichen Briefkorpus etwa fünf Lieferungen des Baume Blanc, vornehmlich aus den Jahren 1710 und 1711, an Luise nachweisbar,155 und auch ihrer Tante Sophie, die die erste ‚Bestellung‘ des Balsams im Dezember 1709 für Luise vermittelt hatte,156 bot Elisabeth Charlotte in dieser Zeit an, Heilmittel zu schicken.157 Über die Korrespondenz mit Christian Friedrich von Harling ist nachvollziehbar, dass der Transfer zwischen Elisabeth Charlotte und ihren Briefpartner_innen bis in das nähere Umfeld des Hannoveraner Hofes hinein wirkte. So schicke sie im Mai 1715 etwa ein Fläschen vom besten und äußerst rahren Beaume Blanc an Maria Catharina von Weyhe (1655–1723), eine Schwester der Gräfin von Platen.158 Im Oktober 1719 berichtete Elisabeth Charlotte ihrer Halbschwester Luise von einem weiteren Heilmittel am französischen Hof, das sie sehr schätzte und ihr zukommen lassen wollte. Ihrer Tante Sophie hatte Elisabeth Charlotte schon im Juli 1709 von diesem öhl bzw. dem beaume de copahu159 berichtet. Wie sie schrieb, hatte sie zu dieser Zeit hundert kleine fleschger vom huile de copaheü von einem amerikanischen offeciren als Geschenk erhalten und pries, das Mittel sei, wen man sich schneÿdt oder stößt (...) admirabel und heÿllt gar geschwindt.160 Im gleichen Brief berichtete sie, bei sich selbst und bei anderen Personen, wie etwa ihrem Kutscher, schon viel curen damit gemacht zu haben.161 Im Oktober 1717, als sie 154

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Vgl. An Luise, Paris, 23.4.1721, HO, 6, 1221, S. 89: Der turquische abgesante hatt dem könig kein present gebracht; es ist der brauch nicht bey ihnen. Man weiß auch hir gar nichts, daß er beaume de la Me[c]que her gebracht hette; wen mögte aber cammern voll davon haben, würde ich keines davon bekommen; den die dürffen leütte von meinem standt nichts geben. Vgl. die erste Lieferung des braunen Baume de Perou An Luise, Versailles, 27.12.1709, HO, 2, 454, S. 150–151; die zweite bis vierte Lieferung diesmal mit weißem Balsam 1.2.1711, HO, 2, 510, S. 229, Marly, 5.2.1711, HO, 2, 511, S. 230, Versailles, 28.2.1711, HO, 2, 514, S. 233, Marly, 7.5.1711, HO, 2, 524, S. 247. Nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, ob E. Ch. im November 1720 noch ein Paket mit dem Balsam an Luise schickte. An Luise, St. Cloud, 28.11.1720, HO, 5, 1178, S. 343. Vgl. An Luise, Versailles, 21.12. u. 27.12.1709, HO, 2, 453, S. 149 u. 454, S. 150–151. Vgl. etwa An Sophie, Versailles, 28.7.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 565v–566r. Allerdings handelte es sich hierbei um Öhl von Copahu. Sophie lehnte das Angebot offenbar ab. 22.8.1709, NLA-HStAH, XIX,2, 656r. Vgl. An C. F. v. Harling, Versailles, 2.5. u. 5.5.1715, H, 207, S. 350–351 u. 208, S. 353, Paris, 15.9.1715, H, 215, S. 363. Vgl. An Luise, St. Cloud, 30.9.1717, HO, 3, 853, S. 94–95; Art. Balsamum Copahu, in: LÉMERY, Dictionnaire (1716), S. 70. Vgl. An Sophie, Versailles, 28.7.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 565v–566r: in der america wehre es beßer alß in teütschlandt ein offeciren auß dem landt hatt mir hundert kleine fleschger vom huile de copaheü geschenkt, so ein gar trefflich öhl ist, vor alle wunden undt coliquen undt richt recht ahngenehm man zicht es auß einem baum, ich habe meinen kutscher mitt courirt (...), wen man sich schneÿdt oder stößt ist es admirabel und heÿllt gar geschwindt ich habe schon viel curen mitt gethan es ist zu vewundern wie geschwindt es heÿllt, wen E.L. davon begehren will ich mons closen davon mitt geben sie konnen mir nur befehlen. Bei Knochenbrüchen stoße das Öl jedoch an die Grenzen seiner Heilwirkung. Vgl. An Sophie, Versailles, 28.7.1709, NLA-HStAH, XIX,2, 569r [evtl. fehlerhafte Reihung der Blätter]: l‘huile de copahü war nicht gutt vor mons de merli den es müßen keine knochen gebrochen sein, wo es gutt thun solle. An Sophie, Versailles, 28.7.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 565v. Zur Behandlung anderer Personen vgl. An Luise, Marly, 12.7.1710, HO, 2, 480, S. 187: Der beaume [beaume universel] hatt gleich ein miracle gethan. Eine von meinen cammerweiber hatt continuirliche hauptschmertzen, auch so, daß sie offt außsicht wie der todt. Ahn deren habe ich gleich versucht, ist ihr über die maßen woll bekommen. Ich finde den geruch recht ahngenehm davon.

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kurz zuvor wiederum zwei Dutzend kleine fleschger mitt den alsten öhl von copahu162 von einem Monsieur Veaucresson als Geschenk bekommen hatte, erzählte Elisabeth Charlotte ihrer Halbschwester ausführlich von einer ihrer erfolgreichen Eigenbehandlungen. Vor zwei Jahren, so schrieb sie, sei sie von einem ihrer Papageien so erschrecklich gebißen worden, daß das stück gantz loß war. Sie habe sich allerdings selbst kuriert, indem sie das Blut abgewischt, mit Hilfe einer Feder einen dropffen copaheu appliziert und die Wunde mit einem Pflaster verbunden habe. Binnen drei Tagen sei die Wunde ohne Narben auf diese Weise verheilt.163 Ähnliche medikale Strategien sind auch in Elisabeth Charlottes direktem Umfeld nachweisbar. Als sie in einem ihrer Briefe an Sophie im Juni 1712 ihren Tagesablauf schilderte, schrieb sie, ihr Sohn habe gerade nach Öl aus ihrem Vorrat verlangt, um damit den Hundebiss seiner Tochter zu versorgen.164 Aus einem Brief an Sophie vom Dezember 1712 geht hervor, dass Elisabeth Charlotte das öhl von Copaheu auch auf Verordnung ihres Leibarztes, der ihr vermutlich in Zusammenarbeit mit dem Leibapotheker auch schon zuvor Heilmittel aus der neuen Welt verabreicht hatte,165 innerlich anwendete.166 Ebenso als sie 1717 an verschiedenen Beschwerden wie Kurzatmigkeit, Schläfrigkeit, geschwollenen Beinen und Füßen und vor allem einem schlechten allgemeinen Gesundheitszustand litt, verabreichte Terray ihr, wie sie berichtete, das Heilmittel mit Zucker versetzt oder mit einem Eigelb in Wein aufgelöst.167 Copaiva-Öl bzw. Balsam wurde, so wusste auch Elisabeth Charlotte zu berichten, durch tiefe Einschnitte in die Rinde eines Baumes (man zicht es auß einem baum168 ), genauer der in den tropischen Gebieten Südamerikas heimischen Copaifera-Arten, gewonnen. 1625 beschrieb der portugiesische Jesuit Manoel Tristaon in seinem Traktat über Brasilien zum ersten Mal einen Baum names Cupayba, dessen Harz von den Einheimischen als Heilmittel bei äußerlichen Verletzungen, Geschwüren und zur Förderung der Wundheilung der Haut sowie innerlich als stärkendes und entzündungshemmendes Mittel, vor allem bei Blasenentzündungen, eingesetzt wurde.169 Etwa seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurden Balsam und Öl von Jesuiten nach Europa exportiert und über Rezeptbücher popularisiert.170 In der bekannten Matéria Médica Misionera (ca. 1710) des in 162 163 164 165

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Vgl. An Luise, St. Cloud, 2.9.1717, HO, 3, 847, S. 82–83. Ebd., 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262. Vgl. An Sophie, Versailles, 3.6.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 381v. Vgl. etwa An Luise, Versailles, 28.3.1711, HO, 2, 517, S. 239: Man hatt mir ein ohl von cocao versprochen, so von den inßelen de la Guadeloupe kompt, so man versuchert meine knie heyllen solle. Das unpersönliche ‚man‘ lässt keinen näheren Schluss zu. An anderer Stelle hatte E. Ch. bekundet, sie erhalte weißen Balsam aus dem osmanischen Reich über ihren Leibapotheker. Marly, 21.5.1711, HO, 2, 526, S. 251. Vgl. An Sophie, Versailles, 10.12.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 728r. Vgl. An Luise, St. Cloud, 19.8.1717, HO, 3, 846, S. 80, 30.9.1717, HO, 3, 853, S. 94–95: Daß copahu macht den wein bitter, man läst es in wein mitt dem gelb von einem ey zergehen, so wirdt es dick undt weiß wie milch. 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262: Man hatt mirs auch gegeben, wie ich so kranck war. Man lest einen tropffen in zucker fließen, schudelt es, daß es wie eine pillen wirdt, undt schluckt daß ein; es ist gar bitter, aber hatt sonst keinen übeln geschmack undt richt wie cedernholtz. An Sophie, Versailles, 28.7.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 565v. Vgl. auch An Luise, St. Cloud, 30.9.1717, HO, 3, 853, S. 94–95: Daß öhl von capahu ist eygentlich kein öhl, sondern eine gomme, so von einem baum in America fliest; man heist es auch offt le beaume de copahu. Vgl. WOLTERS, Drogen, S. 106–112, bes. 106. Vgl. ebd., S. 107; ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 315.

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den paraguayischen Guaraní-Missionen wirkenden Jesuiten Pedro Montenegro etwa werden die Heilerfolge und Darreichungsformen des Balsams (z.B. wie auch von Elisabeth Charlotte eingenommen mit einem frischen Ei vermischt) genau beschrieben.171 Elisabeth Charlotte äußerte sich anders als bei der Chinarinde (2.III.1) über die Therapie mit dem in differente konfessionelle Kontexte eingebundenen Heilmittel durchweg positiv, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass das Mittel sich problemlos in ihre medikalen Vorstellungen einfügen ließ. Sie empfand die Wirkung des Copaiva-Weins grundsätzlich als stärkend, war zufrieden, dass das Mittel nicht purgiere, sondern nur harntreibend wirkte, und zeigte sich überzeugt, dies habe das Anschwellen ihrer Füße und Beine verhindert.172 Wie schon bei der pommade divine hob sie den guten Geruch hervor und stellte diesen explizit über den bitteren Geschmack.173 Auch wenn ihre Tante Sophie das Öl im Juli 1709 verschmäht hatte, obwohl Elisabeth Charlotte es sehr gelobt hatte,174 empfahl sie das vor starcke grimmen, vorß grieß, vor wunden vielseitig einsetzbare Mittel ihrer Halbschwester Luise im November 1719 nicht weniger überzeugungskräftig.175 Sie schrieb: Wir haben noch gar ein gutt remede hir; ich weiß nicht ob Ihr davon gehört habt; es kompt auß den americanischen insuln, man heist es l'huille de capaheu. (...) Schreibt mir, ob Ihr keines habt! Wen Ihr keines habt, will ich Eüch etliche kleine bouteillen schicken.176

Elisabeth Charlotte äußerte sich hier also durchaus mit Stolz über die medikale Kultur am französischen Hof. Indem sie das Pronomen ‚wir‘ benutzte, ordnete sie sich selbst in direkter Weise in ihr Umfeld am französischen Hof ein.177 Den sich ihr bietenden Zugang zu von Jesuiten gehandelten Heilmitteln aus weit entfernten Gebieten nutzte sie dabei nur zu gern und betonte wie im Fall des Copahu-Öls ihrer Halbschwester gegenüber detailreich dessen Seltenheit und Kostbarkeit.178 Ihre Zugehörigkeit zur französischen Hofgesellschaft wird in dieser Passage zur direkten Handlungsressource und ermöglicht 171 172

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Vgl. ANAGNOSTOU, Jesuiten, S. 315, zu Montenegro S. 259–260. Vgl. An Luise, St. Cloud, 2.9.1717, HO, 3, 847, S. 82–83: Der bitter wein vom capaheu-öhl bekompt mir gar woll, er purgirt nicht, thut keinen eüßerlichen effect, allein er stercket undt man pist viel mehr, alß ordinarie; daß verhindert die füße undt bein, zu geschwellen. Vgl. ebd., 30.9.1717, HO, 3, 853, S. 94–95: Es [das Öl von Copaiba] ist eine gutte sach, der geschmack ist zwar bitter, aber der geruch gar nicht unangenehm; den es richt eben wie cedernholtz. Vgl. An Sophie, Versailles, 10.12.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 728r: man hatt mir heütte morgen etliche tropffen von dem öhl von Copaheu mitt zucker eingeben es hatt keinen widerlichen geschmack ist eben alß wen man alt cedern holtz zerbeiße. An Sophie, Versailles, 28.7.1709, NLA-HStAH, XIX,1, 565v–566r u. 22.8.1709, ebd., XIX,2, 656r: weillen E.L. daß öhl von Copahü nicht haben wollen werde ichs nicht schicken. Vgl. An Luise, St. Cloud, 2.11.1719, HO, 4, 1066, S. 290–291 u. 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262. Ebd., 5.10.1719, HO, 4, 1058, S. 262. Dies bestätigen auch folgende Briefpassagen, aus denen hervorgeht, dass E. Ch. Rezepturen für Heilmittel auch mit Personen am frz. Hof austauschte. Vgl. An Étienne Polier, o.O., 2.8.1684, VdC, Lf, 15, S. 49, 29.10.1703, VdC, Lf, 200, S. 251. Vgl. zur Benutzung von Pflastern, die am frz. Hof hergestellt wurden, An Étienne Polier, o.O., 3.12.1710, VdC, Lf, 523, S. 451, o.O., 26.12.1710, VdC, Lf, 531, S. 456; 22.6.1711, iVdC, Lf, 582, S. 480. Vgl. An Luise, St. Cloud, 2.9.1717, HO, 3, 847, S. 82–83: Ein intendent, ein edelman, so monsieur de Veaucresson heist, hatt mir vor 3 tagen ein schon pressent geben, zwey kellergen von schönnen rodten lack, jedes hatt ein dutzendt kleine fleschger mitt den alsten öhl von copahu; daß ist ein groß pressent, den er unverfalschte copaheu ist gar rar.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

alternative Selbstpositionierungen. Dementsprechend zufrieden schien sie darum auch, als sie Ende Oktober 1719 ein Paket mit etliche[n] bouteillen Öl und mitt der beschreibung, wozu es gutt ist179 , an Luise versenden konnte.

3. Ich glaube – Ich habe vapeurs : Aneignungen einer ‚französischen‘ Krankheit 180

Mit dem Begriff vapores bzw. vapeurs wurde ein außergewöhnlich vielgestaltiges Krankheitskonzept bezeichnet, das gegen Ende des 17. und im 18. Jahrhundert einen einschneidenden Bedeutungswandel durchlief.181 Zu Beginn der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren die in der Vorstellung der Zeitgenossen im Körper umherirrenden krankmachenden Dämpfe noch eng an die Humoralpathologie und das MelancholieKonzept gebunden. Ihr Auftreten wurde in hippokratischen und galenischen Schriften auf ein Übermaß der als Restprodukt der Verdauung entstehenden schwarzen Galle zurückgeführt (4.I.1). Diese konnte sich, so glaubte man, neben der Milz auch in den Organen des Unterleibs und besonders in der Gebärmutter stauen und durch Erhitzung in Dämpfe umwandeln, die ihrerseits zum Gehirn aufsteigen und dort verschiedene Krankheitssymptome auslösen konnten.182 Auch Elisabeth Charlotte beschrieb im Zusammenhang mit ihrer Milzkrankheit noch in den frühen 1680er Jahren solche Dämpfe, die von der Milz in den Kopf wanderten und traurige Gedanken auslösten, die ihrerseits zu weiteren Krankheiten führten.183 Weder zu diesem Zeitpunkt noch etwa zwölf Jahre später, als sie im März 1694 wegen ihrer ausgesetzten Menstruation an in den Kopf aufsteigenden Dämpfen litt,184 verwendete sie den französischen Begriff vapeurs. Um ihre 179

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Vgl. ebd., 29.10.1719, HO, 4, 1065, S. 287: Ich werde Eüch erster tagen ein par kleine bouteillen mit copaheu schicken undt die beschreibung dabey, wie es zu brauchen ist. S. ebenso 2.11.1719, HO, 4, 1066, S. 290–291. An An C. F. v. Harling, St. Cloud, 31.8.1721, H, 422, S. 748. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 194; APPELT, Vapeurs, S. 51 u. 69; VIGARELLO, Sain, S. 112. Vgl. APPELT, Vapeurs, S. 51; Sabine ARNAUD, Introduction, in: Dies. (Hg.), La philosophie des vapeurs suivi d’une dissertation sur les vapeurs et les pertes de sang, Paris 2009, S. 7–27, hier 7–8; RICHELET, Dictionnaire, S. 507: Vapeurs. Ce mot en parlant du corps humain signifie fumée d’un sang échaufé qui monte au cerveau. (...) Vapeurs de la rate. Fumées grossieres qui s’élévent de la rate à la tête. Vgl. die Begriffsbestimmung bei POULIQUEN, Sévigné, S. 123, die sich auf eine 1694 von der Académie française aufgestellte Definition beziehen soll: „Maladies dues aux fumées qui s’élèvent de l’estomac ou du bas-ventre vers le cerveau et don’t l’effet ordinaire est de rendre mélancholique, quelquefois même de faire pleurer, et qui resserent le cœur et embarrassment la tête.” Vgl. Jean Baptiste COIGNARD (Hg.), Le Dictionnaire de L’Académie Françoise dedié au Roy, 2 Bde., Paris 1694, Bd. 2, S. 613: On appelle aussi, Vapeur dans le corps humain les fumées qui s’eslevent de l’estomac, ou du bas-ventre vers le cerveau. Vgl. An Sophie, St. Germain, 19.2.1682, NLA-HStAH, I, 215v–216r, vgl. B, 1, S. 39: macht mich denn reveux undt grittlich, undt wen ich grittlich bin, geschwillt mein miltz, undt wenn es den geschwollen ist, schickt es mir dämpff in kopff, so mich trawerig machen, undt wen ich trawerig bin werde ich kranck, das seindt etlich ursachen von meiner gehabten kranckheÿt. An A. K. v. Harling, Paris, 27.3.1694, H, 106, S. 221–222: Bin aber nicht gerne hir [Paris] – den wen ich nicht jage – spatziren gehe oder in die rechte lufft kan – thut mir das miltz wehe, sticht mich in die seÿtte undt macht mir kopffwehe; Meine gesundtheit geht nicht zum besten; Jungfer Catherin hatt mir seÿder 2 monat keine visitte geben, undt daß macht mich gantz wunderlich undt gibt mir dempff – die mir im kopff steÿgen; Schwanger kan ich nicht sein, den seÿder 12 jahren schlaff ich allein. Glaube also vielmehr – daß mich jungfer Catherin quittiren will. S. auch An Sophie, Paris, 9.5.1694, NLA-HStAH, V, 14r.

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melancholischen bzw. hypochondrischen185 Beschwerden zu beschreiben, blieb Elisabeth Charlotte in ihrer auf Deutsch geführten Korrespondenz bei der Bezeichnung ‚Dämpfe‘.186 Dies geschah jedoch nicht etwa aus der Unkenntnis des französischen Begriffs heraus, denn am Hof des Sonnenkönigs waren die vapeurs zu dieser Zeit ein äußerst populäres Krankheitsbild. Schon zu Beginn der 1660er Jahre wurde die Erkrankung im ‚Journal de la santé du Roi‘,187 dem Krankentagebuch, das die Leibärzte Ludwigs XIV. von 1647 bis 1711 führten, erwähnt.188 Die außergewöhnliche Krankheitsfaszination, die in den nächsten etwa 100 Jahren von den vapeurs ausgehen sollte, lag wesentlich in dem Faktum begründet, dass es sich um eine royale Unpässlichkeit handelte und alles um Ludwig XIV. – selbst seine Krankheiten – dazu angetan war, Vorbildwirkung auf seine Untertanen zu entfalten.189 Als Gradmesser für die Akzeptanz und Verbreitung der Vapeurs im höfischen Kontext gilt in der Forschung vor allem die Korrespondenz der Madame de Sévigné, die ebenfalls selbst unter vapeurs litt.190 In einem Atemzug mit denen der Marquise werden auch die Briefe Elisabeth Charlottes als Beleg für die Bedeutung der Vapeurs bei Hof herangezogen, und tatsächlich muss Elisabeth Charlotte das Krankheitskonzept in seiner französischen Begriffsfassung spätestens seit den 1680er Jahren vertraut gewesen sein, wie in Briefen an Anna Katharina von Harling aus dem Frühjahr 1688 zu ersehen ist. Für alle leütte hir – so mitt vapeurs geplagt sein191 forderte sie zu dieser Zeit bei ihrer früheren Hofmeisterin gelben Schlagbalsam an, den diese beim braunschweig-lüneburgischen 185

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E. Ch. verwendet das Adjektiv hip(p)ocondre einige Male in argumentativer Verbindung mit der Melancholie bzw. Milzsucht. Meist deutet es auf eingebildete melancholische Gedanken hin. Vgl. etwa An Sophie, St. Cloud, 5.6.1689, NLA-HStAH, II, 375r, vgl. B, 1, 88, S. 109, Versailles, 27.11.1695, ebd., V, 293r, vgl. B, 1, 223, S. 229 u. 22.3.1711, ebd., XXI,1, 248r, vgl. B, 2, 751, S. 268; An Luise, Versailles, 19.3. u. 28.3.1711, HO, 2, 516, S. 236 u. 517, S. 239, St. Cloud, 3.10.1720, HO, 5, 1162, S. 294, Paris, 14.12.1720, HO, 5 1183 S. 363; St. Cloud, 12.7.1721, HO, 6, 1245, S. 176. Problematischer ist diese Abgrenzung in der frz. Korrespondenz zwischen E. Ch.s Vater und ihrer Tante. Karl Ludwig nahm hier am Beispiel der Krankheit der Raugräfin Luise v. Degenfeld während ihrer vierzehnten Schwangerschaft Bezug auf das ältere Vapeurs-Modell. Karl Ludwig an Sophie, o.O., 10./20.5.1677, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 297, S. 291: Ce sont des oppressions dans la gorge, la poitrine et le coeur, qui viennent des vapeurs de la ratte et fort communes aux femmes, qui portent des grands enfants, principalement cette année; ils paroissent quelques moments aux abois et comme estranglés puis se remettent. Vgl. die ‚Reflexion sur les vapeurs du Roi‘ des Leibarztes d’Aquin (1675) in: Stanis PEREZ (Hg.), Journal de la santé du Roi, Écrit par Vallot, Daquin et Fagon. Précédé de La lancette et le sceptre par Stanis Perez, Grenoble 2004, bes. S. 194–197, in denen in humoralpathologischer Perspektive die melancholische Disposition des Königs als ursächlich angenommen wird. Die ins Gehirn aufsteigenden Vapeurs griffen laut d’Aquin jedoch auch les esprits dans les nerfs optiques (S. 194–195) an und lösten dort Schwindelanfälle aus. D’Aquin kombinierte also Humoralpathologie und Nerventheorie schon 1675 in einem gemeinsamen Erklärungsmuster. Der Begriff der Vapeurs fällt im Journal zum ersten Mal im Jahr 1665, das Krankheitsbild aus Kopfschmerzen, Herzschmerzen und Abgeschlagenheit scheint hingegen schon seit 1662 bestanden zu haben. Vgl. APPELT, Vapeurs, S. 58–62, bes. 61; PEREZ, Santé, S. 64–73, 381–386 u. 389; VIGARELLO, Sain, S. 112. Vgl. APPELT, Vapeurs, S. 62–63; zu diesem Zusammenhang in Bezug auf die Fistel Ludwigs XIV. auch TREUE, Augen, S. 44. Vgl. APPELT, Vapeurs, S. 63–65; zur humoralpathologischen Grundlegung der Vapeurs bei Madame de Sévigné genauer POULIQUEN, Sévigné, bes. S. 123–125. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 13.4.1688, H, 81, S. 185.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

Hofarzt Conerding192 besorgen sollte. Wie Elisabeth Charlotte im Brief vom 13. April dieses Jahres berichtete, hatte ihr ihre Mutter Charlotte schon vor etlichen jahren zwei Töpfchen Balsam zukommen lassen, den diese bei Dr. Conerding zu bestellten pflegte. Schon von dieser Lieferung habe sie den an Vapeurs leidenden Personen am Hof abgegeben, die sie nun wieder bitten würden, umb gottes willen neuen kommen zu lassen.193 Diesen Aussagen zufolge waren die Vapeurs in den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts am Hof so verbreitet, dass man unterschiedlichste Mittel – sogar solche, die eigens an den französischen Hof ‚importiert‘ werden mussten – ausprobiert hatte, um Linderung zu finden. Schlagbalsam wurde nach einer Vielzahl unterschiedlicher Rezepte mit je eigenen Akzentuierungen vor allem aus diversen ätherischen Kräuterölen hergestellt und bei Schwindel, hauptkranckheiten bis hin zum Schlag(anfall),194 aber auch als gesundheitsdienliches Schwitzpulver sowie bei Bauchgrimmen und gefährlichen Muttererstickungen äußerlich angewendet.195 In den Jahren 1692196 und 1693197 ließ Elisabeth Charlotte erneut Lieferungen des gelben und schwarzen bzw. braunen Schlagbalsams kommen,198 um diesen als Geschenk am französischen Hof zu verteilen.199 Schon im März 1693 fand man dort den Balsam Elisabeth Charlotte zufolge so admirabel, dass sie die schachteln (...) theÿllen (...) undt 192 193

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Vgl. HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 81, S. 185, Anm. 5. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 13.4.1688, H, 81, S. 185: im überigen – so bitte ich gar sehr – mein lieb jungfer Uffel wolle doch so gutt sein, undt beÿ dockter Kunerding 2 oder 3 pot von dem gelben schlag[-]balsam hollen laßen – wie er ahn mein fraw mutter Seelig pflegte zu schicken undt solches Harling mittgeben, wen er wider zurück kompt. Mir auch dabeÿ schreiben – waß es kost; So werde ich hir daß gelt gleich ahn monsr d’Albensleben geben – umb eüch solches wider zu zu kommen laßen; Den alle leütte hir – so mitt vapeur geplagt sein, plagen mich umb den balsam. Vor etlichen jahren schickte mir die churfürstin Seeliger 2 gläßerne pötger voll – beÿ welchen alle die – so ich davon geben – sich gar woll befunden haben; Bitten mich also – umb gottes willen ich soll wider davon kommen laßen; Deücht mir also dieße gelegenheit gar gutt darzu – umb [den balsam] sicher zu überkommen, undt hoffe – daß mein lieb fraw von Harling sich woll dieße mühe geben wirdt. Vgl. zur Anwendung bei Schlagflüssen etwa An Sophie, Versailles, 21.7.1709, NLA-HStAH, XIX, 1, 538/539r [fehlerhafte Nummerierung]: Mein page ist noch nicht von paris kommen unterdeßen muß ich E.L. ein wenig gelben balsam abbettelen den man plagt mich drumb deß conseiller destat den der König mir geben umb vor mich zu sorgen, so mons de Ribeÿre heist deßen fraw hatt der schlag gerührt, deren bekompt nichts beßer alß dießer gelbe balsam, drumb bitte ich E.L. demütigst mir doch davon zu schicken. Vgl. dazu Art. Schlagbalsam, Agricola u. Bräuners, in: Zedlers großes Universallexikon, Bd. 34, Sp. 1729–1730 u. Sp. 1730–1731; HELFER (Hg.), Liselotte, Bd. 1, 81, S. 184. Zu den verwendeten Inhaltsstoffen zählen neben Muskatnuss-, Lavendel-, Majoran-, Rosenholz-, Salbei-, Rosmarin-, Nelken-, Zimt- und Zitronenöl auch Ambra, Moschus und Zibet. Ätherische Öle gehörten zur zeitgenössischen Vapeurs-Therapie. Vgl. ARNAUD, Introduction, S. 8. Vgl. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 27.7.1692, H, 90, S. 200, Versailles, 17.8.1692, H, 91, S. 202, St. Cloud, 23.9.1692, H, 92, S. 203–204, Paris, 30.10.1692, H, 93, S. 205 u. 6.11.1692, H, 94, S. 206– 207, Versailles, 30.11.1692, H, 95, S. 207. Im Jahr 1693 erhielt E. Ch. drei Schachteln und 4 oder 6 bücksen Balsam. Vgl. An A. K. v. Harling, Versailles, 18.1.1693, H, 96, S. 209, 22.3.1693, H, 97, S. 210, Paris, 21.6.1693, H, 98, S. 211, Colombes, 23.8.1693, H, 99, S. 213, Fontainebleau, 21.10.1693, H, 100, S. 214. Zu den unterschiedlichen Formen vgl. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 14.6.1696, H, 130, S. 249. Vgl. bspw. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 23.9.1692, H, 92, S. 203–204: Der überige balsam – so noch kommen sollte – wirdt mitt großen verlangen von den damens hir erwart. Ich habe die 6 schachtellen in 12 verkehrt – damitt daß ich desto mehr pressenten davon thun könte; Sage mein hertz lieb fraw von Harling großen mächtigen danck vor alle mühe – so sie sich vor dem balsam gegeben, den ich obligire viel leütte dadurch hir, denen dießes balsam sehr woll bekompt.

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in kleinere schachteln thun musste, um eine größere Anzahl Personen damit zu versorgen.200 Auch in den nächsten beiden Jahren sind wiederum verschiedene Lieferungen des Schlagbalsams über den Harling-Korpus nachweisbar.201 Mit einem eindrücklichen Vergleich stellte Elisabeth Charlotte in einem Schreiben an Anna Katharina von Harling vom August 1695 dar, wie sehr das Heilmittel am französischen Hof erwartet werde, denn so woll man[n]s – alß weibsleütte dort hätten ein Verlangen auf den Balsam wie die juden auff den messias.202 Im April 1696 war das Aufsehen um die Vapeurs so groß, dass Elisabeth Charlotte nach einer wieder einmal verspäteten Lieferung des Schlagbalsams sogar vermutete, Vapeurleidende müssten die Sendung auf dem Postweg gestohlen haben.203 Als im Juni desselben Jahres doch noch ein Paket ihrer Tante Sophie mit dem Balsam den französischen Hof erreichte, war es Elisabeth Charlotte zufolge nicht auß zu sprechen, waß dießer balsam (...) eine große freüde beÿ allen denen verursachet, so vapeurs haben.204 Trotz dieser genauen Kenntnis des Krankheitskonzepts und seiner enormen Popularität in ihrem Lebensumfeld brachte Elisabeth Charlotte sich selbst und ihre Befindlichkeiten zu dieser Zeit allerdings seltener mit dem französischen Begriff vapeurs in Verbindung, sondern konzentrierte sich darauf, diese bei anderen Personen zu diagnostizieren.205 Anhand des beklagenswerten Zustandes der Gräfin von Traun stellte sie beispielsweise im August 1699 fest, in Frankreich würde man das, was sie habe, vapeurs nennen.206 1705 200

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Ebd., Paris, 22.3.1693, H, 97, S. 210: vergangen freitag 8 tag habe ich die schachtel mitt dem balsam entpfangen, undt ich bedancke mich gar schön – daß mein hertzlieb fraw von Harling so viel mühe dazu genohmen hatt; Den balsam findt man admirabel hir undt so viel leütte begehren ihn – daß ich die schachteln habe theÿllen müßen undt in kleinere schachteln thun – umb ahn desto mehr leütte davon zu geben. Vgl. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 8.9.1694, H 108, S. 224, Paris, 15.9.1694, H, 109, S. 226, Fontainebleau, 2.10.1694, H, 110, S. 227 sowie An A. K. v. Harling, Versailles, 18.5.1695, H, 116, S. 233–234, St. Cloud, 15.6.1695, H, 118, S. 236, Versailles, 25.8.1695, H, 119, S. 238. An A. K. v. Harling, Versailles, 25.8.1695, H, 119, S. 238: Der balsam – wen er nur woll überkompt undt unterwegs nicht gestohlen wirdt, wirdt gar ahn genehm sein. Viel menschen hir – so woll man[n]s – alß weibsleütte verlangen drauff – wie die juden auff den messias. Beÿ ma tante habe ich schon einmahl meine schuldigste dancksagung vor den balsam abgelegt. So baldt er ahnkommen wirdt sein – werde ich es widerhollen. Vgl. An Sophie, St. Cloud, 15.9.1695, NLA-HStAH, V, 237v. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 15.4.1696, H, 127, S. 246: Es müsse leütte sein so vapeurs haben, die mir den balsam müßen gestollen haben. Ebd., 14.6.1696, H, 130, S. 249. Vgl. auch An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 97r, vgl. B, 1, 243, S. 247, An A. K. v. Harling, Meudon, 12.1.1696, H, 122, S. 240, Versailles, 29.1.1696, H, 123, S. 241, Marly, 1.3.1696, H, 124, S. 242, Versailles, 11.3.1696, H, 125, S. 242–243. Eine Ausnahme stellt die folgende Passage aus einem Brief an Mme de Maintenon dar, mit der sie sich nach dem Tod ihres Gatten wieder versöhnte. E. Ch. schrieb, ihr Fieber und ihre Vapeurs hätten sie davon abgehalten, Mme de Maintenon früher zu schreiben. In der zeitgleich verfassten Korrespondenz an ihre Tante werden zwar die Fiebersymptome, nicht aber die Vapeurs erwähnt, so dass die Annahme naheliegt, es handele sich bei diesem Bezug auf die Vapeurs um eine adressatenbezogene Kommunikationsstrategie. Vgl. An Mme de Maintenon, Versailles, 15.6.1701, VdC, Lf, 144, S. 172: Si je n’avais eu la fièvre et de grandes vapeurs, Madame, du triste emploi que j’eus avanthier d’ouvrir les cassettes de Monsieur toutes parfumées des plus violentes senteurs, vous auriez eu plus tôt de mes nouvelles. An Amalie Elisabeth, Marly, 7.8.1699, HO, 1, 93, S. 169. Die Korrespondenz enthält keine genaueren Angaben zum Krankheitsbild der Gräfin. Vemutlich handelt es sich um eine Frau aus der oberösterreichischen Adelsfamilie der Abensperg und Traun, vermutlich um Margareta v. Strattmann-Boyquoy, geb. v. Traun (1649–1706). Vgl. Zdislava RÖHSNER, Geschichte der Familie

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schrieb sie in einem Brief an Luise gar ihrer Tante Vapeurs zu, die sie darauf zurückführte, dass Sophie nach dem Tod ihrer Tochter, der preußischen Königin Sophie Charlotte, etliche trawerige erinerungen verschluckt und sich sogar threnen mag verbissen haben.207 Mit Bezug auf ihre eigenen Befindlichkeiten berichtete sie Luise im Januar 1711 von fapeurs (vapeurs), wahrte dabei allerdings eine gewisse Distanz zur ihrer Person, indem sie schrieb, die Vapeurs seien die Folge äußerer Umstände, nämlich ihrer Langeweile darüber, beim Ball anderen beim Tanzen zuschauen zu müssen.208 Mit Blick auf ihr eigenes leiblich-seelisches Befinden im engeren Sinne konstatierte Elisabeth Charlotte erstmals im Sommer 1716, selbst an den Vapeurs zu leiden. Nachdem man sie zur Prophylaxe einmal zur Ader gelassen und zweimal purgiert hatte, habe sie sich noch nicht erholen können, so schrieb sie. Sie sei matt, traurig ohne konkrete (d.h. neuerliche) Ursache, leide unter Schmerzen in den Knien und habe auch das, waß man vapeurs hir heist209 – eine Formulierung, die die Unklarheit des Konzeptes deutlich zum Ausdruck bringt und sich ebenso in zeitgenössischen französischen Quellen wiederfinden lässt.210 In den Sommermonaten des Jahres 1716 war Elisabeth Charlotte kaum in der Lage, genau zu umschreiben, welche Symptome konkret mit den Vapeurs verbunden seien. Anders als im Brief an Luise berichtete sie Christian von Harling neben Abgeschlagenheit auch von Schweißausbrüchen, die sie überkommen würden, sobald sie einen starken Geruch wahrnehme.211 Dem Konzept wohnte, so viel lässt sich festhalten, eine Unbestimmtheit inne, die von den Zeitgenossen wohl kaum als negative definitorische Leerstelle verstanden wurde. Auch Madame de Sévigné stellte in einem Brief an ihre

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von Abensperg und Traun. Von der ersten urkundlichen Erwähnung bis zum Ende der Monarchie, Wien 1995, S. 116. An Luise, Versailles, 9.12.1705, HO, 1, 282, S. 429. Sophie Charlotte war während eines Besuches in Hannover im Februar des Jahres 1705 an einer Hustenerkrankung gestorben. Vgl. dazu das Kondolenzschreiben An Sophie, Versailles, 15.2.1705, NLA-HStAH, XV,2, 91r–94v, bes. 93r, 5.3.1705, ebd., XV,1, 117v: Es ist beßer daß E.L. dero hertz außschütten, alß dero betrübtnuß innerlich behalten, diß letzte thut größeren schaden. 8.3.1705, ebd., XV,1, 126v: es ist beßer daß E.L. dero hertz außschütten alß dero trawerigkeit verschlucken den daß ist viel ungesunder, undt ist es woll billig daß ich part in E.L. schmertzen nehme. Vgl. auch KNOOP, Kurfürstin, S. 193–195. An Luise, Marly, 10.1.1711, HO, 2, 508, S. 226: Den ich kan den bal nicht leyden undt die stundt, so ich drinen habe sitzen müssen, hatt mir 3 stundt geschienen. Mein gott, wie ist daß frantzösche tantzen ein langweilige sach! Mir hats fapeurs geben undt ich thue nichts, alß gahen [=gähnen?]. Der englische hoff ist hir, aber [were] ich ein augenblick lenger blieben, were ich kranck worden; ich habe nohtwendigere weiße weg gemüst. Vgl. in ähnlicher Deutungsperspektive An Sophie, Versailles, 11.3.1714, NLA-HStAH, XXIV, 195v, vgl. B, 2, 830, S. 341–342: die zeit feldt ihm [ihrem Sohn Philippe] so lang beÿ mir daß es mir vapeurs gibt; hatt weder lieb noch vertrawen zu mir. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 30.7.1716, H, 230, S. 389; An Luise, St. Cloud, 11.8.1716, HO, 3, 783, S. 33 u. 25.7.1722, HO, 6, 1347, S. 436: Kein fieber habe ich nicht, ob ich zwar alß einen gutten undt einen boßen tag habe. Es seindt, waß man hir vapeurs heist, bin schwach, kan nicht gehen, muß immer entweder nießen oder gaben [d.h. gähnen]. Vgl. COIRAULT (Hg.), SAINT-SIMON. Mémoires, Bd. 2, S. 743 über die Vapeurs des Abbé Testu: C’est un des premiers hommes qui ait fait connaître ce qu’on apelle des vapeurs. S. auch POULIQUEN, Sévigné, S. 124. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 30.7.1716, H, 230, S. 389.

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Tochter fest, der Begriff sei in erster Linie un secours pour expliquer mille choses qui n’ont point du nom.212 Trotz – oder womöglich gerade wegen – ihrer Vielgestaltigkeit waren die Vapeurs im soziokulturellen Umfeld des französischen Hofes zu einem fest etablierten Wissenskonzept geworden, das nur dort mit einer besonderen Selbstverständlichkeit kommuniziert werden konnte. In der Korrespondenz mit ihren deutschen Verwandten fühlte Elisabeth Charlotte sich jedoch in der Pflicht, genauer auszuführen, was man unter vapeurs verstehe. Die kulturellen Barrieren, die das direkte Einander-Verstehen zwischen ihr auf der einen Seite und Christian Friedrich von Harling bzw. Luise auf der anderen Seite erschwerten, fielen ihr deutlich auf, als sie einige Jahre später, im Mai 1722, erneut von ihren vapeurs berichten wollte. Mit den Worten ich weiß nicht – wie man die vapeurs auff gutt teütsch heist213 , leitete sie deshalb eine genauere Symptombeschreibung ein. Eine Umschreibung bzw. schlichte Übersetzung als (melancholische) Dämpfe kam offensichtlich nicht mehr in Frage, denn die Vapeurs hatten sich – so zeigen auch die zitierten Passagen deutlich – spätestens zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Umfeld des französischen Hofes längst von diesen Konnotationen gelöst und sich als eigenständiges Krankheitsbild etabliert.214 Elisabeth Charlotte führte dementsprechend im Brief an Christian Friedrich von Harling auch keinerlei somatische Erklärungen an. Sie bezog sich weder auf den im 17. Jahrhundert üblichen humoralpathologischen Deutungsansatz215 noch auf die sonst häufig verwendeten Erklärungsmuster einer Nervenreizung.216 Die Entstehungsursachen des eigenständigen Konzepts der vapeurs lagen im Dunkeln und gaben dem Krankheitsbild, zusätzlich zur beschriebenen äußerst variablen Symptomatik, eine gewisse Aura des Nebulösen, die das Konzept in seiner Bindekraft jedoch keineswegs einschränkte. Wie eng das lebensweltlich zur Verfügung stehende Wissen über Körpervorgänge und Krankheitsabläufe mit der individuellen leiblichen Wahrnehmung einer Person verzahnt war, zeigt die Fortsetzung des zitierten Briefes an Christian Friedrich von Harling vom Mai 1722: So lang Ich in Teütschlandt geweßen – habe Ich niemahlen keine [vapeurs] verspürt; Ich 212

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Mme de Sévigné an Mme de Grignan, Aux Rochers, 6.7.1689, in: DÛCHENE (Hg.), Correspondance de MME DE SEVIGNE, Bd. 3, 1125, S. 634. Vgl. auch POULIQUEN, Sévigné, S. 123–125; APPELT, Vapeurs, S. 63–65; ARNAUD, Introduction, S. 8 u. 14. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 21.5.1722, H, 462, S. 804–805. Ähnlich erging es E. Ch. auch in anderen Zusammenhängen. Vgl. bspw. An Amalie Elisabeth, Port Royal, 1.5.1699, HO, 1, 80, S. 138: Mein sohn hatt mir seyder 8 tagen her greüliche ängsten eingejagt; vor 8 tagen stieß ihm ein fieber ahn, daß wurde fièvre continüe avec 3 redoublements par jour; daß kan ich leider nicht auff teütsch sagen, habe alle Teütschen, so hir sein, gefragt, wie man es auff teütsch sagt; niemandes hatt es mir sagen können. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 220–221; APPELT, Vapeurs, S. 51, 69 u. 91, die anhand der Untersuchung literarischer Texte zu dem Ergebnis kommt, dass die traditionelle humoralpathologische Vorstellung der Vapeurs bis zum Beginn des 18. Jhd.s neben einer neueren Auffassung eines eigenständigen Krankheitsbildes existierte, um dann von ihr abgelöst zu werden. Anders allerdings E. Ch.s Ärzte im Juni 1717. An Luise, St. Cloud, 1.6.1717, HO, 3, 841, S. 74: Es ist ein gallwerck von mir gangen, daß nicht außzusprechen ist; man sagt, davon kommen mir alle vapeurs. Seit 1700 und insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jhd.s erschienen zahlreiche populärmedizinische Schriften, die die Vapeurs mit der Lehre von den Nerven verknüpften. Vgl. APPELT, vapeurs, S. 79–81; exemplarisch für die neue Theorie in Ablehnung humoralpathologischer Deutungen Jean VIRIDET, Dissertation sur les vapeurs, qui nous arrivent, Yverdon 1726, bes. S. 3–6 u. 26–29.

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hette es vor eine naredey gehalten – wen man mir gesagt hette wie es ist (...)217 , so Elisabeth Charlotte weiter im Bemühen um Verständnis. Mit den melancholischen Dämpfen, die auch sie zwar in Frankreich, aber ohne Verwendung des französischen Begriffs am eigenen Leib empfunden hatte, hatte die Krankheitswahrnehmung, der sie in ihrem letzten Lebensjahr den Namen vapeurs gab, also kaum mehr etwas zu tun. Mehr noch: Hätte man den Versuch unternommen, ihr als einer Unwissenden bzw. Nicht-Eingeweihten – nichts anderes bedeutet der Bezug auf die Zeitspanne von ihrer Geburt bis 1671 (So lang Ich in Teütschlandt geweßen) – zu erklären, wie es ist, unter vapeurs zu leiden, hätte sie das Krankheitsbild für groben Unfug gehalten. In einem Umfeld aber, wo alle Menschen die unterschiedlichsten leiblich-emotionalen Befindlichkeiten mit einem Begriff bezeichneten und somit zum Gegenstand der Kommunikation werden ließen,218 nahm auch Elisabeth Charlotte an ihrem Leib etwas wahr, das sie mit dem Namen vapeurs korrekt bezeichnet glaubte. Erst in ihren letzten Lebensmonaten, nach einem fast zwanzigjährigen Prozess der Gewöhnung an Konzept und Begriff der vapeurs und der Beobachtung seiner stetig zunehmenden Popularität, beanspruchte sie das Konzept nun auch für sich selbst. Seit der Erkrankung in den Sommermonaten des Jahres 1716 häuften sich in den nächsten Jahren die Klagen über die Vapeurs zusehends. Auch während ihrer langanhaltenden Krankheitsphase in der ersten Hälfte des Jahres 1717 klagte Elisabeth Charlotte, an den Vapeurs zu leiden wie der teüffel.219 1719 schrieb sie an Luise, sie sei ein wenig in lang[u]eur undt vapeurs.220 In den letzten Lebensjahren und im Besonderen in den letzten Monaten vor ihrem Tod221 waren die vapeurs mehr oder weniger zu ständigen Begleitern ihrer Korrespondenz und damit auch ihres alltäglichen Lebens geworden. Parallel zum gehäuft auftretenden Sprechen über das Krankheitsbild verwies Elisabeth Charlotte im Februar 1720 noch einmal darauf, dass die Vapeurs so sehr gemein hir im landt seien.222 Wie kann die Übernahme des Konzepts, gerade zu diesem späten Zeitpunkt, erklärt werden? Auf einer grundsätzlichen Betrachtungsebene ist festzuhalten, dass Elisabeth Charlotte sich gegen Ende ihres Lebens einen kulturspezifischen Wissensbestand aus dem sie umgebenden ‚Wissensmilieu‘ des französischen Hofes zu eigen machte. Ihr Repertoire an Deutungs- und Erklärungsmustern für leibliche Befindlichkeiten erfuhr also namentlich durch das veränderte räumliche und soziokulturelle Lebensumfeld und die dadurch veränderten Handlungsumstände eine Erweiterung223 – so hatte sie es ja auch selbst formuliert. Der Verweis auf das bloße Stattfinden solcher Aneignungsprozesse 217 218

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An C. F. v. Harling, St. Cloud, 21.5.1722, H, 462, S. 805. Vgl. VIGARELLO, Sain, S. 113, bezeichnet die Vapeurs als „un art du commerce social“, der es ermöglichte, verschiedenste alltägliche Befindlichkeiten kommunizierbar zu machen und dabei sich selbst zu thematisieren. Vgl. zum Aspekt des Zeitvertreibs durch die Konversation über körperliches Befinden am Hof APPELT, Vapeurs, S. 52. An Luise, Paris, 26.2.1717, HO, 3, 814, S. 61. Vgl. auch 16.2.1717, HO, 3, 811, S. 60, St. Cloud, 4.6.1717, HO, 3, 842, S. 74. An Luise, St. Cloud, 19.10.1719, HO, 4, 1062, S. 274. Vgl. auch 9.7.1719, HO, 4, 1036, S. 181. Vgl. ebd., 13.9.1721, HO, 6, 1261, S. 225, Paris, 9.4.1722, HO, 6, 1318, S. 367, St. Cloud, 9.5. u. 14.5.1722, HO, 6, 1326, S. 388 u. 1326, S. 388, 11.7., 18.7., u. 25.7.1722, HO, 6, 1343, S. 428, 1345, S. 431 u. 1347, S. 434–435, 6.8.1722, HO, 6, 1350, S. 444, 5.9 u. 17.9.1722, HO, 6, 1359, S. 459, u. 1362, S. 463. An Luise, Paris, 4.2.1720, HO, 5, 1094, S. 41. S. dazu etwa HÖRNING, Praxis, S. 33.

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allein entfaltet jedoch wenig Erklärungspotential. Entscheidend ist wiederum der genaue Blick auf den konkreten Alltagsgebrauch von konzeptionellen Wissensbeständen. Unterstellt man mit Michel de Certeau den Kulturkonsumierenden bzw. den Akteur_innen des Alltagshandelns aktive Selbstständigkeit und Kreativität in der Aushandlung von Praktiken im Rahmen der jeweiligen diskursiven Ordnung, gilt es zu analysieren, zu welchen Zeitpunkten und aus welchen Motiven heraus diese sich Freiräume für ein nach selbst gewählten Interessen strukturiertes Handeln schaffen.224 Auf den hier behandelten Zusammenhang gewendet bedeutet dies, genauer in den Blick zu nehmen, welche Aspekte die Vapeurs als Krankheitskonzept für Elisabeth Charlotte so attraktiv erschienen ließen, dass sie diese gegen Ende ihres Lebens als Erklärungsmuster für sich selbst in Anspruch nahm. Besondere Brisanz erhält diese Fragestellung freilich vor dem Hintergrund von Elisabeth Charlottes grundsätzlich eher ablehnender Haltung gegenüber der ‚französischen‘ Medizinal- und Gesundheitskultur. Zu fragen ist also, auf welche spezifischen Bedürfnisse ihrer letzten Lebensmonate die Vapeurs als neues Konzept und Spezifikum des Wissensmilieus ‚französischer Hof‘ eine Antwort dargestellt haben könnten. Wie bereits angedeutet, bestach das Konzept der vapeurs in erster Linie durch seine ungeheure Flexibilität. Beinahe jede körperliche Regung konnte im beginnenden 18. Jahrhundert auf die vapeurs zurückgeführt werden.225 Auch Elisabeth Charlotte subsumierte neben Durchfall226 oder Übelkeit227 diffuse und schwer mitteilsame Befindlichkeiten darunter, beispielsweise wenn es ihr gar nicht wie einen [sic!] pfaffen am ostertag228 zu Mute war. In den meisten Aussagen ist nicht genau auszumachen, welche Symptome tatsächlich mit dem Begriff umschrieben werden sollten. Elisabeth Charlotte nannte die vapeurs in einem Atemzug mit Schlaflosigkeit229 , Schmerzen und Schwellungen in den Beinen,230

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Vgl. DE CERTEAU, Kunst, bes. S. 11–13 u. 15–17; KRÖNERT, Veronika, Michel de Certeau: Alltagsleben, Aneignung und Widerstand, in: Andreas HEPP, Friedrich KLOTZ u. Tanja THOMAS (Hg.), Alltagsleben, Aneignung und Widerstand. Schlüsselwerke der Cultural Studies, Wiesbaden 2009, S. 47–57, hier 50. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 221–222, der neben Konvulsionen und Krämpfen, auch Hustenattacken, Atemnot, Engegefühle, Herzrasen, Stuhldrang, inadäquate Kälte- und Wärmeempfindungen, Schweregefühle im Kopf, Kopfweh, Schwindel, Ohrenrauschen, Schwäche, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, unspezifische Schmerzen und Schlaflosigkeit sowie Stimmungsschwankungen, Ängste und Alpträume aufzählt. Vgl. auch ARNAUD, Introduction, S. 7. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 21.5.1722, H, 462, S. 804; An Luise, St. Cloud, 13.9.1721, HO, 6, 1261, S. 225. Vgl. ebd., 31.8.1721, H, 422, S. 748: Ich glaube – Ich habe vapeurs, den es ist mir gar nicht wie einen pfaffen ahm ostertag, sondern übel; Ich glaube – Ich habe das übel sein, vergangen [mitt woch] zu Paris erdapbt – wo mir die lufft allezeit schädtlich. Wir müssen sehen waß hir auß werden wirdt; Es seindt über all viel krancken. Vgl. ebd. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 14.6.1722, H, 465, S. 808: Dieße sach wehrt lang – den gestern war es schon 6 wochen daß Ich mein unglückliche aderlaß gethan; Alle abendts 7 undt 8 bekomme Ich meine vapeurs – dauern 2 stundt. Daß ist gar ein langweilliges weßen, So auch der verfluchte Krampff; Sage Monsr von Harling großen danck vor alle seine gutte wünsche Ich muß schließen – den da fengt meine boße nacht undt vapeurs ahn. Vgl. ebd., 23.7.1722, H, 469, S. 813: Allein – seÿder vorgestern seindt alle meine vapeurs – langeurs undt schmertzen in den schenckeln wider kommen wie vorhin.

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mit Krämpfen231 und sogar mit Atemnot232 – mit dem Symptombündel also, an dem sie in ihrem letzten Lebensjahr litt. Deren Abwesenheit oder Auftreten galt gleichzeitig als Gradmesser für ihren aktuellen Gesundheitszustand.233 Mit dem Bezug auf das variable Konzept konnte Elisabeth Charlotte ihren komplexen, schwer zu verbalisierenden Krankheitsempfindungen in den letzten Monaten einen konkreten Namen geben, denn trotz der definitorischen Ungenauigkeiten des Krankheitsbildes war es in ihrem sozialen Umfeld mehr als anerkannt, unter vapeurs zu leiden.234 Interessanterweise war es gerade die im Kontext des französischen Hofes geprägte Vorstellung der vapeurs, die es Elisabeth Charlotte erleichterte, mit den Aderlässen, die ihr als Charakteristikum der verhassten französischen medikalen Kultur galten, umzugehen. Die körperliche Schwäche nach dem Aderlass war ein alltäglicher Begleiter in den letzten Monaten, was zu der Notwendigkeit führte, sie für sich selbst und andere nachvollziehbar und erklärlich zu machen. Der so häufig als gesundheitsschädlich kritisierte Blutverlust wurde also kurzerhand unter den Verdacht gestellt, Vapeurs auszulösen.235 Die medikale Kultur am französischen Hof stellte also beides bereit: den Auslöser von Konflikten aufgrund der weiten Verbreitung des Aderlasses, dem sich auch Elisabeth Charlotte trotz ihrer grundsätzlich eher ablehnenden Einstellung früherer Jahre in ihren letzten Lebensjahren ergab (4.II.2), sowie ein Konzept zur Lösung dieser Konflikte mit Hilfe der vapeurs, die Elisabeth Charlotte zu einer rechtmäßigen Teilhaberin an der medikalen Kultur ihres Umfeld werden ließen. Im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen Krankheitsmustern galten die Vapeurs zudem als ein zwar chronisches, aber weitgehend ungefährliches Leiden.236 Zu vermuten wäre deshalb, dass die Vapeurs für Elisabeth Charlotte gerade im letzten Lebensjahr, das von der Belastung durch lang anhaltende Beschwerden und der damit verbundenen Unsicherheit des Gesundwerdens bzw. Ängsten vor dem Tod geprägt war, eine besondere Attraktivität entfalten konnten. Immerhin war es, litt man an vapeurs, möglich, sich und anderen glaubhaft zu versichern, das eigene Leiden sei nicht allzu bedrohlich. Wesentlichen Anteil an der geschätzten Variabilität der Vapeurs hatte zudem, dass sowohl Auswirkungen von körperlichen Krankheitsempfindungen auf den Gemüts231

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Vgl. ebd., 14.6.1722, H, 465, S. 808, 29.8.1722, H, 472, S. 817; An Luise, St. Cloud, 25.7.1722, HO, 6, 1347, S. 434–435: 4 tag ist mir der wermuht-wein über die maßen woll bekommen, hatte keine vapeurs mehr, meine schnenckel undt füß wahren nicht mehr so starck geschwollen, ich fing [wi]der ahn, zu eßen undt ohne mühe zu gehen; aber auff einmahl in einer nacht hatt sich dießes alles wider geendert, ich bin nun wider so ellendt, alß ich vorher war, habe füß undt schenckel geschwollen, keinen apeptit mehr undt viel vapeurs undt krämpff, daß ist gar nichts ahngenehmes. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 16.7.1722, H, 468, S. 812: daß ersticken undt die heßlichen, vapeurs dawern noch. Vgl. ebd., 10.9.1722, H, 473, S. 818–820: hatte hoch von nöhten, frische lufft zu schöpfen, den Ich habe erschreckliche vapeurs – so woll weist – mit meinen geschwollenen schenckeln, daß Ich noch nicht wieder gesundt bin. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 75. Vgl. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 28.5.1722, H, 463, S. 806: Es geht mir noch nach, undt befindt mich noch schwach undt voller vapeurs behafft – so kompt von dem vielen bludt – so Ich verlohren. Ich bin auch sehr mitt den krampff geplagt. Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 75; APPELT, Vapeurs, S. 73, der zufolge die Vapeurs in Molières Komödie ‚Le Malade Imaginaire‘ (1673) mit der Vorstellung einer „Bagatell-Erkrankung“ verknüpft werden.

DAS ‚HYBRIDE‘ SELBST ERZÄHLEN

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zustand als auch von seelischer Befindlichkeit auf den Zustand des Körpers mit dem Konzept der Vapeurs erfasst und zusammengebunden werden konnten.237 Auch leiblich gespürte Gefühle von herzens angst und bangigkeit238 , wie sie die englische Kronprinzessin Caroline von Wales in ihrem Kindbett empfunden hatte, führte Elisabeth Charlotte auf das zurück, was man in Frankreich vapeurs nennen würde. Mit den Vapeurs konnten also nicht nur chronische Krankheitszustände wie etwa in Elisabeth Charlottes letzten Lebensmonaten erfasst werden, sondern auch kurzzeitige Erregtheiten und Affekte. Im April 1722 etwa führte Elisabeth Charlotte ihre neuerlichen Vapeurs auf eine Erkrankung ihres Sohnes zurück, die ihr einen solchen Schrecken eingejagt hätte, dass sie sich nicht habe erholen können und folglich vapeurs bekommen hätte.239 In dieser psychischen Dimension konnten sich die Vapeurs auch als vorteilhaft in Kommunikationssituationen herausstellen. Dies beschrieb Elisabeth Charlotte sehr eindeutig am Beispiel eines Streits zwischen ihrem Sohn und seiner Gemahlin, den sie zufällig mitbekommen hatte. Im Juni 1720 berichtete sie Luise: Es muß doch crabusch unter ihnen gemacht haben; den ich fandt die duchesse d’Orléans gestern in vollen threnen. Ich fragte, waß ihr wehre; sie sagte, sie hette die migraine undt daß gebe vapeurs, so weinen machten. Wie ich sage, daß sie mir ein secret von ihrer betrübtnuß machte, fragte ich weitter nichts undt thate, als wen ich die vapeurs geglaubt.240

Eine wichtige Funktion der Vapeurs in der alltäglichen Kommunikation war also, soziale Ursachen seelischer Befindlichkeiten zu verschleiern. Den äußerlich sichtbaren Zeichen von Traurigkeit wie etwa Tränen konnte mit dem Bezug auf das vielgestaltige Krankheitsbild in der sozialen Interaktion Sinn verliehen werden, ohne dass die betroffene Person in unliebsame Erklärungsnöte zu geraten drohte. Elisabeth Charlottes Reaktion zeigt, dass diese Funktion der Vapeurs in alltäglichen Kommunikationssituationen von den Gesprächspartner_innen erkannt wurde und das Handeln – hier im Sinne des Einstellens weiterer Nachfragen – daran ausgerichtet werden konnte. Darüber hinaus ließen sich diverse persönliche Um- und Zustände im Einklang mit adeliger Lebensart im Rekurs auf die hochgradig akzeptierten und inhaltlich äußerst flexiblen Vapeurs sinnhaft deuten. Die ältere der Schwestern von Zoettern beispielsweise hatte, wie Elisabeth Charlotte zwar nicht ohne Irritation aber mit grundsätzlicher Akzeptanz bemerkte, so heftig

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240

Vgl. STOLBERG, Homo patiens, S. 221–222. An J.-S. v. Schaumburg-Lippe, Paris, 23.11.1717, V, 1, S. 7–8: gott seye danck daß die herzens angst und bangigkeit vorbey, daß heißt man hir vapeurs undt seindt sehr gefehrlich wen sie dauern in kindbetten, Ich werde gleich an die printzes schreiben. Vgl. zu ähnlichen Verbalisierungen von Angstgefühlen STOLBERG, Zorn, S. 1072–1073 (Zit. 1072): „(...) ‚Angst‘ und ‚Bangigkeit‘ waren auch und vor allem körperliche Empfindungen. Sie bezeichneten damals primär ein Gefühl von Druck und ‚Enge‘, ein Begriff, mit dem Angst ebenso wie die lateinische ‚angustia‘ und das englische ‚anxiety‘ etymologisch verwandt ist. Jedes ‚Zusammenpressen [compressio] des Herzens bei Krankheit, Furcht und Ärger oder Begehren‘, so Juan Luis Vives, werde ‚angustia‘ genannt (.).“ Vgl. zu ähnlichen Beschreibungen von ‚Bangigkeit‘ in Patientenbriefen des 16. Jhd.s auch RUBLACK, Erzählungen, S. 221. An Luise, Paris, 2.4.1722, HO, 6, 1316, S. 362: Ich kan mich jetzt nicht einer gar perfecten gesundtheit berühmen, den meines sohns kranckheit hatt mich einen solche angst undt schrecken eingejagt, daß ich mich noch nicht erhollen [konnte], hatt mir stracke vapeurs hinterlaßen. An Luise, St. Cloud, 27.6.1720, HO, 5, 1135, S. 186.

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an den Vapeurs gelitten, daß sie wie närisch241 sei und ein wenig verirt242 aussehe. Der merkwürdige Eindruck, den sie mit ihrem zimblich verstörte[n] augen gemacht haben soll, ließ sich wunderbar mit dem Verweis erklären, sie solle auch schon einmahl starcke vapeurs gehabt haben.243 Diese banal erscheinenden Personenbeschreibungen zeigen eindrücklich, dass die adelige Oberschicht sich mit den Vapeurs ein Konzept geschaffen hatte, das es erlaubte, psychisch abweichendes Verhalten dennoch im Einklang mit adeligem Selbstverständnis zu leben. Wie Elisabeth Charlotte Christian Friedrich von Harling berichtete, habe die Närrin der Madame de Maintenon des Öfteren wahr gesprochen, indem sie sich mit den Worten – parce que je ne suis qu’une paisanne on me declare folle. Si jestois une famme de qualité – on diroit – elle a des vapeurs244 – über das aristokratische Privileg auf den ‚Wahnsinn‘ beklagt hatte. In diesen um 1720 verfassten brieflichen Schilderungen Elisabeth Charlottes begegnen die Vapeurs wie im zeitgenössischen Diskurs eindeutig als ein weiblich konnotiertes Krankheitskonzept.Vermutlich war für diesen Bedeutungswandel mitentscheidend, dass sich die Vapeurs mit dem Tod Ludwigs XIV. im Jahr 1715 vom Einfluss des bis dato prominentesten und royalen (männlichen) Vaporeusen zu lösen begannen. Seit der darauf folgenden Zeit der Régence wurden die Vapeurs zunehmend als Paradekrankheit adeliger Frauen konstruiert, denen man einerseits Passivität und Kränklichkeit, andererseits aber auch Affektiertheit und Beschlagenheit unterstellte.245 Die Preziosenkritik, die insbesondere die simulierten Formen der Vapeurs thematisierte, gibt davon beredtes Zeugnis.246 Bei Männern, die im 18. Jahrhundert zweifellos weiterhin ebenso an Vapeurs litten, war das Krankheitsbild folglich innerhalb sehr enger Grenzen akzeptiert, nämlich nur dann, wenn die Vapeurs sich auf übermäßige geistige Beanspruchung eines homme du lettre zurückführen ließen und sie im Rahmen des Melancholie-Diskurses als Zeichen von Gelehrsamkeit und geistiger Kreativität interpretiert werden konnten.247 Waren die Vapeurs allerdings die Folge von Müßiggang, wie er im Alltag adeliger Personen nicht selten zu finden war, so galten sie als Ausdruck eines Verlustes von Maskulinität.248 Der Begriff Vapeurs wurde also diskursiv mit einem Bild von Weiblichkeit verknüpft, das mit Schwäche und Kränklichkeit, aber auch mit Koketterie und Unehrlichkeit verbunden war – eine Vorstellung, die Elisabeth Charlotte sonst in ihren Briefen auf das Schärfste verurteilte (3.III.1 u. 4.III.1).249 An der übertriebenen Sensibilität vapeurleidender Personen, die 241 242 243 244 245

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Ebd., 11.6.1719, HO, 4, 1026, S. 145. Ebd., 23.5.1720, HO, 5, 1124, S. 153. Ebd., 11.6. [sic!]/7.1720, HO, 5, 1137, S. 192. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 7.9.1719, H, 329, S. 545. Diese Konnotationen zeigen sich etwa auch in der von Pierre Hunauld (1664–1728) verfassten und posthum 1756 veröffentlichten ‚Dissertation sur les vapeurs et les pertes de sang‘, die als fiktiver Dialog zwischen dem Arzt Asclépiade und der weiblichen Patientin Sophie geschrieben ist, wie in der 1774 veröffentlichten ‚La Philosophie des vapeurs, ou Lettres raisonnées d’une jolie femme sur l’usage des symptômes vaporeux‘ von Claude Paumerelle (1745/1746–?). Vgl. dazu ARNAUD, Introduction, S. 10–13, 16–17 u. 24–26. Vgl. APPELT, Vapeurs, S. 77 u. 147–153. Vgl. ausführlich ebd., S. 156–181. Vgl. ebd., S. 155–156. An anderen Stellen hatte E. Ch. differenziert dargestellt, der Balsam würde insbesondere von den Damen am Hof erwartet. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 23.9.1692, H, 92, S. 203: Der überige balsam

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immer auch die Möglichkeit der bloßen Vortäuschung des Krankheitszustandes mitdachte, übte Elisabeth Charlotte hingegen nur vergleichsweise leise Kritik. So befand sie es in einer Passage ihrer Briefe für lächerlich (waß mich aber hatt doch lachen machen), jedoch keineswegs für verwerflich, dass Mademoiselle de Malauze250 im September 1720 mit der duchesse de Choresboury251 so sehr in Streit geraten war, daß Letztere so zerweint, daß sie die vapeurs davon bekommen undt so kranck geworden, daß sie daß bett hatt hüten müßen.252 Aus ihrer Teilhabe an unterschiedlichen lebensweltlichen kulturellen Kontexten und deren Wissensbeständen resultierte also nicht nur gewissermaßen ein ‚Identitätsstress‘, sondern es eröffnete sich mit einem erweiterten ‚Wissenspool‘ bzw. Repertoire an Deutungsmustern und Praktiken gleichzeitig ein Handlungsspielraum für die eigene ‚bastelnde Kreativität‘ (bricolage)253 in der Aushandlung von alltäglichen Körperdeutungen und den entsprechenden Praktiken.254 Wie gesehen konnte die Attraktivität eines Wissensbestandes bzw. Krankheitskonzeptes im Einzelfall durchaus schwerer wiegen als frühere Überlegungen zu Geschlechterbildern oder kulturräumlichen Identifikationen. Die Vapeurs als vom französischen Hof ausgehendes Konzept, konnotiert mit einem von Elisabeth Charlottes sonstigen Vorstellungen abweichenden Weiblichkeitsbild, sind in diesem Sin-

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– so noch kommen sollte – wirdt mitt großen verlangen von den damens hir erwart. An Sophie, St. Cloud, 14.6.1696, NLA-HStAH, VI, 97r, vgl. B, 1, 243, S. 247: es ist aber auch einmahl zeit daß ich auff E.L. gnädiges schreiben komme, daß nur noch sagen, daß mir die metwürst daß hertz mehr stärcken, alß der gutte balsam, ahn alle damen de vapeurs, welche sich nun sie wißen daß ich wider neüen balsam hab gar starck beÿ mir ahnmelden. Vgl. im Gegensatz dazu An A. K. v. Harling, Versailles, 25.8.1695, H, 119, S. 238: Der balsam – wen er nur woll überkompt undt unterwegs nicht gestohlen wirdt, wirdt gar ahn genehm sein. Viel menschen hir – so woll man[n]s – alß weibsleütte verlangen drauff – wie die juden auff den messias. Charlotte de Bourbon-Malauze. Adelaide duchess of Shrewsbury, geb. Paleotti (gest. 1726). Vgl. An Luise, St. Cloud, 7.9.1720, HO, 5, 1155, S. 268. Der Begriff ‚bricolage‘ wurde von Claude Lévi-Strauss eingeführt und von Michel de Certeau übernommen. Er bezeichnet das Moment aktiver Kreativität (wörtlich übers. Bastelei) der Kulturkonsumierenden in der Aushandlung von Alltagspraktiken im Rahmen der diskursiven Ordnung. Vgl. DE CERTEAU, Kunst, S. 16 u. 82; Peter BURKE, Michel de Certeau und die Kunst der Re-Interpretation, in: Marian FÜSSEL (Hg.), Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion, Konstanz 2007, S. 35–46, hier 37: „So zeigt er [de Certeau] beispielsweise, dass Menschen sich bei der Auswahl von Handlungsoptionen zwar aus einem kulturell vorgegebenen Repertoire bedienen, die daraus ausgewählten Elemente aber stets auf eine originelle Art neu kombinieren.“ Vgl. auch FÜSSEL, Kunst, S. 16; Rebekka von MALLINCKRODT, „Discontenting, surely, even for those versed in French intellectual pyrotechnics“. Michel de Certeau in Frankreich, Deutschland und den USA, in: Rebekka HABERMAS u. dies. (Hg.), Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 221– 241, hier 230–231; zur Anwendung auch Dick HEBDIGE, Subculture. The Meaning of Style, London u. New York 1987, hier 102–106. Auch die hermeneutische Wissenssoziologie geht in ähnlicher Weise von einem aktiven Prozess der ständigen Neuauslegung vorgefundener Wissensbestände und der Handlungsverknüpfung durch das Individuum aus. Vgl. Jo REICHERTZ, Hermeneutische Wissenssoziologie, in: Rainer SCHÜTZEICHEL (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung (Erfahrung – Wissen – Imagination 15), Konstanz 2007, S. 171–179, hier 172, BRONFEN u. MARIUS, Einleitung, S. 14. S. etwa HEIN, Identitäten, S. 434.

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

ne durchaus als hybride Erweiterung ihres Körperwissens und ihres leiblichen Empfindens zu verstehen.255 In den voranstehenden Kapiteln (3.1–3.3) wurden die Korrespondenzen Elisabeth Charlottes und ihrer Briefpartner_innen in ihrer Funktion als Medien transkulturellen, höfischen Wissensaustausches in den Blick genommen. Dabei zeigte sich, dass in den Briefen unterschiedliche Formen von Körperwissen ausgetauscht wurden: von dem informellen höfischen Gerede über Sexualitäten und Geschlechterordnungen in verschiedenen Kulturräumen (3.1) über spezifische Krankheitskonzepte (3.3) oder Kontakte zu Ärzten und deren Diagnosen (3.2) bis hin zu medikalem Handlungswissen in Form von Rezepturen bzw. Anwendungsbeschreibungen sowie entsprechenden materiellen Artefakten (3.2). Mit den komplexen Austauschbewegungen zwischen Elisabeth Charlotte und ihren ebenfalls kulturell mehrfach verorteten Korrespondierenden dynamisierten sich auch die für die Prozesse der Selbstpositionierung essentiellen Handlungsspielräume und Ressourcen. Mehrfach inszenierte Elisabeth Charlotte sich selbst in ihrer Korrespondenz im Hinblick auf ihren privilegierten Zugang zu Wissen und Sachgütern (3.1, 3.2, 3.3). In diesen Momenten nutzte sie die Handlungsoptionen, die sich ihr am französischen Hof boten, aktiv. Sie positionierte sich selbst als fest integriertes Mitglied der französischen Hofgesellschaft und als Teilhaberin an deren Wissensbeständen, kulturellen Codes und materiellen Kulturgütern. Die Vervielfältigung ihres Repertoires an Deutungsmustern und Praktiken während ihrer über 50 Lebensjahre am französischen Hof ermöglichte es Elisabeth Charlotte, sich selbst je nach Handlungskontext flexibel kulturell zu verorten.256 Sinnfälliger Ausdruck ihrer changierenden und in diesem Sinne hybriden Selbstpositionierungen sind diejenigen Momente, in denen sich die brieflichen Erzählmuster von hir und bey unß (2.I.2, 4.II.2) auflösen, etwa wenn sie sich selbst mit der Verwendung des Pronomens ‚wir‘ in der Mitte der französischen Hofgesellschaft platzierte (3.2) oder wenn sie wie im Falle der Vapeurs ihr leibliches Selbst im Rekurs auf Konzepte erzählte, die am französischen Hof jede Person verstand, die sie ihren Briefpartner_innen aber erst mühsam erklären musste (3.3).

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Zur Nähe der Konzepte von Bhaba und de Certeau s. Rainer WINTER, Das Geheimnis des Alltäglichen. Michel de Certeau und die Kulturanalyse, in: Marian FÜSSEL (Hg.), Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion, Konstanz 2007, S. 201–219, hier 218–219. Vgl. zu solchen situationsbedingten Möglichkeiten, von unterschiedlichen Repertoires Gebrauch zu machen ALGAZI, Kulturkontakt, S. 118–199; HEIN, Identitäten, S. 436, der zufolge hybride Identifikationen von Personen als „Bewegungen zwischen unterschiedlichen Positionen“ zu verstehen sind. Vgl. auch BRONFEN u. MARIUS, Einleitung, S. 7: „In der Praxis wird es sich wohl als vernünftig erweisen, auf eine Mehrfachcodierung von personaler wie kollektiver Identität [Hervorh. i. Orig.] umzustellen, je nach Kontext, Situation, Referenzrahmen.“

ZWISCHENFAZIT

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IV. Zwischenfazit: Das Selbst und die Aneignungsprozesse Elisabeth Charlottes Briefe, so haben die Analysen des dritten Hauptteils gezeigt, zeugen also keineswegs von einem starren und unveränderlichen Habitus. Frühe Verkörperungsprozesse etwa der verwandtschaftlich-familiären Prägung der gutten natur (2.II.1) führten zwar zu erstaunlich stabilem Wissen über den Körper, entsprechender Praxis und leiblicher Affektivität – jedoch stellt dieses Ergebnis gewissermaßen nur eine Seite der Medaille dar. Denn die Briefe zeugen auf der anderen Seite von zahlreichen Umdeutungen sowie der Neuschöpfung von Praktiken, die Inkorporierungsprozesse von ihrer grundsätzlichen Veränderungsoffenheit her beleuchten können. Im ersten Abschnitt wurde Elisabeth Charlottes Selbstbezeichnung als ‚melancholisch‘ als Aneignung einer zeitgenössisch wirkmächtigen diskursiven Subjektposition in den Blick genommen. Dabei konnte herausgearbeitet werden, wie sie im Rekurs auf den frühneuzeitlichen Melancholie-Diskurs eine Rechtfertigung gewann, ihre Lebens- und Leidenserfahrungen in ihren Briefen überhaupt zum Thema zu machen und auf diese Weise zu verarbeiten. Im Bezug auf die Melancholie positionierte Elisabeth Charlotte sich in ihrem sozialen Umfeld in unterschiedlicher, durchaus ambivalenter Weise, schließlich war ihr Melancholisch-Sein einerseits körperlich-leiblicher Ausdruck biographischer Wandlungsprozesse – die alltagspraktische Abwehr dagegen andererseits auch Erfüllung familiärer Erwartungen. Die nationale Rhetorik in der Korrespondenz wurde im zweiten Abschnitt eingehend analysiert, wobei gezeigt werden konnte, wie Elisabeth Charlotte Positionen des zeitgenössischen bürgerlich-protestantischen Alamode-Diskurses für sich reklamierte, und sich somit in ihrem Schreiben als Teil einer teütschen Gemeinschaft imaginierte. Die Analyse alltäglicher, vermeintlich banaler Ernährungs- und Trinkpraktiken führt vor Augen, wie seit der Kindheit gewohnte, habituell gewordene Praktiken in den Briefen einer Neuinterpretation im Rahmen nationaler Semantiken unterlagen und wie es Elisabeth Charlotte gelang, im Schreiben über ihre alltägliche Praxis den Nachweis ihres vermeintlich kontinuierlichen leiblichen Teütsch-Seins zu führen. Der dritte Abschnitt fragte gezielt nach Erweiterungen des kulturellen Deutungs- und Handlungsrepertoires und damit verbundenen mehrdeutigen Selbstpositionierungen. Elisabeth Charlotte nahm – anders als dies ihre Briefe auf einen ersten Blick nahelegen mögen – auch und gerade in ihrer Zeit am französischen Hof vielfältige kulturelle Impulse auf, etwa in Bezug auf konzeptionelles und Anwendungswissen sowie entsprechende materielle Artefakte. Aus diesen Impulsen generierte sie qua Aneignung Ressourcen für flexible Positionierungsweisen des Selbst. Elisabeth Charlottes Briefe können somit auf verschiedenen Ebenen auch ‚transkulturell‘1 gelesen werden. Dass dies keineswegs bedeutet, dass das mit kulturellen Identifi1

Vgl. für eine offene, als heuristisches Konzept für die Untersuchung von Selbsterzählungen verwendete Fassung des Transkulturalitätskonzepts ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 14–15 (Zit.) u. 18: „Transkulturalität bezieht sich auf Prozesse und Praktiken, die sich sowohl zwischen Kulturen, quer durch unterschiedliche Kulturen, aber auch innerhalb kultureller Zusammenhänge entfalten.“ S. etwa Gesine CARL, Asket, Gelehrter, Hirtenhund. Koexistenz und Konkurrenz von Selbstentwürfen in frühneuzeitlichen Konversionserzählungen, in: Claudia ULBRICH, Hans MEDICK u. Angelika SCHASER (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (Selbstzeugnisse

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ANEIGNUNGEN DES SELBST ERZÄHLEN

zierungen und Positionierungen notwendigerweise verbundene Konfliktpotential aus der Analyse ausgeklammert werden muss,2 führt uns Elisabeth Charlotte selbst eindrücklich vor Augen. Nur wenige Monate vor ihrem Tod im Dezember 1722 berichtete die 70Jährige und nunmehr schwer Kranke über ihren Gesundheitszustand an Christian Friedrich von Harling, dass sie nach wie vor unter den heßlichen vapeurs leide, dennoch aber weiterhin den Aderlass und die anderen ausleitenden Behandlungsverfahren ablehne, die sich gar nicht vor ein teütsches rauschenplatenknechten schicken.3 Sie imaginierte ihren Leib und damit sich selbst hier mit Bezug auf den Spitznamen aus Kindertagen als zutiefst familiär durchdrungen, in Kombination mit der angeeigneten nationalisierenden Semantik aber zugleich als teütsch. Widerspruchslos konnte aber ein teütsches rauschenplattenknechtgen gleichzeitig anfällig für die Alamode-Krankheit vapeurs, die französische Hofkrankheit par excellence, sein, die Behandlungsmaßnahmen allerdings in durchaus konfliktreichen Auseinandersetzungen ablehnen, die die medikale Kultur dieses Umfelds zur Heilung bereithielt.4

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der Neuzeit 20), Köln, Weimar, Wien 2012, S. 183–199, hier 198, die Konversionen überzeugend als transkulturelles Moment begreift und untersucht. Der Transkulturalitätsbegriff nach Welsch wurde auch als zu harmonisierend und reale Machtverhältnisse negierend kritisiert. S. dazu bspw. WELSCH, Was heißt eigentlich Transkulturalität? (2010), S. 63. Die Kritik aufgreifend ULBRICH u.a., Selbstzeugnis, S. 16, Anm. 82. An C. F. v. Harling, St. Cloud, 16.7.1722, H, 468, S. 812. Vgl. zu ähnlichen Ergebnissen in einer gegenwartsbezogenen sozialpsychologischen Studie über ‚hybride‘ Identitätskonstruktionen HEIN, Identitäten, S. 436.

TEIL 5 – SCHLUSSBETRACHTUNGEN

I.

Das Selbst in der Kontinuität erzählen

so lang ich lebe, werde ich sein undt bleiben, wie Ihr mich kendt.1

Mit diesem Gruß, der die Adressierten ihrer unverbrüchlichen Zuneigung versichern sollte, schloss Elisabeth Charlotte – wie hier im Januar 1713 – bisweilen ihre Briefe.2 Trotz des formelhaften Charakters der Redewendung lässt sie sich als explizite Selbstaussage Elisabeth Charlottes lesen, als Ausdruck ihres Bestrebens, in der brieflichen Beziehung mit ihren vertrauten Bezugspersonen ein in sich stimmiges Selbst(bild) zu entwerfen. Dieser Selbstentwurf stiftete Kontinuität, er überdauerte die Zeiten und vermochte biographische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unauflöslich miteinander zu verbinden.3 In der Korrespondenz begegnet uns folglich ein über einen Zeitraum von über 50 Jahren offenbar erstaunlich stabiles Textsubjekt.4 Dabei war der Lebenslauf der grenzüberschreitend verheirateten Kurfürstentochter im Gegensatz zu ihrem in der Landesherrschaft verbleibenden Bruder und ihren unverheiratet lebenden Halbschwestern allerdings von einer besonderen Dynamik geprägt. Obwohl oder gerade weil diese Platzierung ihr besondere Mobilität im räumlichen, aber auch im persönlichen Sinne abverlangte, versuchte Elisabeth Charlotte sich durch das Verfassen zahlreicher und bisweilen langer Briefe ein kontinuierliches ‚Ich‘ zu erschreiben. Ihr Aufenthalt in einer als ‚anders‘ empfundenen soziokulturellen Umgebung wurde dabei offenbar als Gefahr für das Selbst wahrgenommen. So schrieb Elisabeth Charlotte beispielsweise noch im Januar 1693, nach mehr als 20 Jahren am französischen Hof, vergewissernd an ihre Tante: wie ich mein leben geweßen, so bin ich noch, franckreich hatt mich nicht polirt, ich bin zu spät neinkommen.5 Besonders virulent kommt dieses Streben nach Beständigkeit des eigenen Selbst in Elisabeth Charlottes Briefen insbesondere dann zum Ausdruck, wenn der körperliche Leib als 1 2

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An Luise, Versailles, 29.1.1713, HO, 2, 571, S. 301. Vgl. bspw. An Luise, Versailles, 2.2.1710 u. 14.3.1711, HO, 2, 459, S. 160 u. 515, S. 235, St. Cloud, 19.7.1720, HO, 5, 1140, S. 208; An Kurt v. Degenfeld-Schonburg, St. Cloud, 9.5.1721, HO, 6, 1226a, S. 110; An Sophie, St. Cloud, 22.8.1674, NLA-HStAH, I, 16r, vgl. B, 1, 5, S. 5: daß ich ich bin undt biß in todt verbleibe E.L. demütige gehorsame undt gantz ergebene baß undt dienerin. Im Zusammenhang mit der göttlichen Vorherbestimmung (verhengnuß) An Amalie Elisabeth, Versailles, 18.11.1706, HO, 5, 338, S. 487. Zum Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Selbstkonstruktionen s. Hartmut ROSA, Zwischen Selbstthematisierungszwang und Artikulationsnot? Situative Identität als Fluchtpunkt von Individualisierung und Beschleunigung, in: Jürgen STRAUB u. Joachim RENN (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a.M. 2002, S. 267–302, hier 267. Vgl. zur Stabilität bzw. Instabilität von Textsubjekten WAGNER u. LAFERL, Anspruch, S. 45–44. An Sophie, Versailles, 1.1.1693, NLA-HStAH, III,2, 471r–471v, vgl. B, 1, 157, S. 174. Die Aussage steht im Bezug auf das Schreiben von Komplimentformeln im Brief, den wie mein hertzlieb matante woll bewust ist so meint es Lisselotte gutt, kan aber gar kein complimenten machen. Vgl. auch St. Cloud, 5.8.1673, ebd., I, 6v, vgl. B, 1, 3, S. 3: umb die warheitt recht zu bekenen, so bin ich eben noch nicht so gar sehr verendert.

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SCHLUSSBETRACHTUNTUNGEN

Garant von Kontinuität versagte. Gegen die augenscheinlichen Veränderungen ihres Äußeren nach der Blatternerkrankung im Sommer 1693 etwa schrieb Elisabeth Charlotte an, indem sie die Beständigkeit ihres Selbst gerade an ihrem Inneren, ihrem Wesen (humor) und ihrem gleichbleibenden Gemüt festmachte.6 In einer Beschreibung ihres gealterten ‚Ichs‘, die sie im Dezember 1712 zu der Feststellung veranlasste – ich gleich mir selbsten in nichts mehr, ließ sie dennoch einen Ausweg offen: Könnte ihre Tante sie jetzt an einem Ort, an dem sie sie nicht vermute, wohl auch nicht mehr an ihrer äußeren Erscheinung erkennen, so bliebe schließlich noch immer die Möglichkeit des Miteinander-Sprechens, die bezeuge, dass sie weiterhin dieselbe sei.7 Der unbedingte Wille nach Kontinuität war es also, der das Selbst in und mit der Praxis des Briefschreibens auch dann zu formen wusste, wenn der Körper dies nicht mehr vermochte.8 Dabei scheint diese Notwendigkeit, ein über den biographischen Wandel hinweg kohärentes Selbstverhältnis – im Sinne der klassischen Identitätssemantik des Sich-SelbstGleichseins9 – zu imaginieren, mit familiären Erwartungshaltungen zu korrespondieren. Denn nicht nur Elisabeth Charlottes Vater, Kurfürst Karl Ludwig, hatte es für geboten gehalten, seine Tochter nach ihrer Konversion und Übersiedlung noch einmal auf die in ihrer Herkunftsfamilie gewohnte Art der gesunden Lebensführung zu verpflichten (2.I).10 Auch ihre Tante Sophie richtete Verhaltenserwartungen an die Nichte, die persönliche Kontinuität verbürgen und bewahren sollten. Denn wenn Elisabeth Charlotte ihre Tante und ihren Onkel wirklich beständig liebe, so dürfe sie nichts unversucht lassen, um der

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An Sophie, Versailles, 26.11.1693, NLA-HStAH, IV, 119r–199v, vgl. B, 1, 175, S. 189: die blattern haben mich sehr marquirt, aber doch im geringsten nicht geendert welches jederman wunder nimbt; je älter ich werde je heßlicher muß ich woll werden, aber mein humor und gemühte konnen nicht mehr ändern undt insonderheit der respect undt attachement so ich vor E.L. habe daß wirdt wehren biß ahn mein endt. Ebd., 3.12.1712, NLA-HStAH, XXII,2, 711r–711v, vgl. B, 2, 808, S. 323 [sic! Datum]: wie E.L. Dero Lisselotte gesehen undt sie so woll lauffen undt springen konte, war sie leicht und jung nun bin ich alt und schwer, daß gibt große verenderung ich bin gewiß daß wen ich so glücklich wer daß E.L. mich ahn einem ort sehen konten so sie nicht vermuhten, daß ich da wehre wen ich nicht redte würden sie mich ohnmöglich kenen, meine verruntzelte augen meine hengente große backen, meine schneeweiße haar meine höhle zwischen den ohren und backen und mein groß dopelt kin würde E.L. gar nicht ahn Lisselotte erinnern, ich gleich mir selbsten in nichts mehr, mein langer halß ist gantz kurtz geworden, habe nun dicke breÿtte schultern abscheülich dicke hüfften meine bein seindt mehr alß dick den sie seindt sehr geschwollen da sehen E.L. woll daß sie mich in dießer figur gar nicht kenen würden, wen ich den mundt auff thue sindt meine zähn auch so woll alß den rest in seinen ellenden standt einer ist gebrochen der ander ist schwartz die übrigen seindt gerbrochen suma überall ist ellendt in meiner gantzen person, aber waß will man thun man muß woll sein parthie nehmen, in waß nicht zu endern stehet. Vgl. in ähnlicher Weise CLASSEN, Elisabeth Charlotte, S. 43, der das Schreiben als „existentielles Medium“ bezeichnet: „Diese Obsession mit Schreiben ist somit nicht allein einem Interesse am schriftlichen Austausch geschuldet, sondern entspringt vielmehr der Einsicht, daß Elisabeth nur sie selbst sein kann, wenn sie sich auch persönlich um das geschriebene Wort bemüht.“ Identität bezeichnet dem Wortsinn nach Kongruenz des ‚Ichs‘ und des sich reflexiv wahrnehmenden ‚Selbst‘. Vgl. Klaus HURRELMANN, Einführung in die Sozialisationstheorie, 8. Aufl., Weinheim, Basel 2002, S. 99; BRUBAKER u. COOPER, Beyond „Identity“, S. 8 u. 11; Gertrud NUNNER-WINKLER, Identität und Moral, in: Jürgen STRAUB u. Joachim RENN (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a.M. 2002, S. 56–84, hier 56–57. Karl Ludwig an E. Ch., Heidelberg, o.T., 11.1671, in: BODEMANN (Hg.), Bw, 27, S. 470.

DAS SELBST IN DER KONTINUITÄT ERZÄHLEN

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Bedrohung ihres Selbst durch die Veränderung des Temperaments zum Melancholischen hin entgegenzuwirken, so ließ Sophie keinen Zweifel. (4.I.2).11 Im Spiegel dieser und zahlreicher weiterer Erzählungen vom körperlichen Leib in Elisabeth Charlottes Briefen wird die essentielle Bedeutung von Familie und Verwandtschaft für die Prozesse der Subjektpositionierung deutlich. Das eigene Herkommen, die Zugehörigkeit zur familiären Bezugsgruppe konstituierte förmlich den körperlichen Leib in seiner Materialität. Dabei wurden unterschiedliche Konzepte verknüpft: Zum einen bezog Elisabeth Charlotte sich auf die genealogischen Wurzeln ihrer gesunden und kräftigen leiblichen Konstitution (gutte Natur),12 die von ihrer Großmutter Elizabeth Stuart über ihren Vater Karl Ludwig und dessen Geschwister bis zu ihr selbst reichten. Andererseits aber hob sie die Bedeutung der Erziehung für ihre körperlichen Dispositionen hervor, in der vor allem ihr Vater und ihre Tante, aber auch die Hofmeisterin Anna Katharina von Harling eine zentrale Rolle gespielt hatten. Diese Erziehung verband Elisabeth Charlotte auch mit ihren Cousins und Cousinen und deren Kindern, denn alle, so der fraw von Harling zucht sein,13 teilten, wie sie glaubte, die gleiche gesunde Konstitution. ‚Heterologe‘ Subjektivität, die in der Forschung als Modellfall frühneuzeitlicher Selbstverständnisse bezeichnet wird,14 wurde in zweifacher Weise entworfen und gelebt: sowohl in Bezug zur Erbverwandtschaft innerhalb der Adelsfamilie als auch in Relation zum über diese hinausreichenden familiären Verbund des Hauses. Obwohl die verwandtschaftlich-familiären Bindungen stets am körperlichen Leib präsent waren, drohte dennoch jederzeit und überall die Gefahr, die gemeinsam geteilte gute Gesundheit und starke Konstitution durch eine den familiären Gewohnheiten konträre Lebensweise aufs Spiel zu setzen. Zugehörigkeiten mussten deshalb ständig am und mit dem körperlichen Leib bestätigt – gewissermaßen jederzeit in angemessener Weise verkörpert werden. Die aus dieser Verpflichtung resultierenden konkreten praktischen Verhaltenserwartungen, werden in Elisabeth Charlottes Briefen auch in Bezug auf ihre Geschwister deutlich: etwa wenn sie sich irritiert darüber zeigte, dass ihr Halbbruder Karl Moritz, der eintzige sohn, so von meinem h[erzlieben] vatter s[eelig] überbleibt, ein volseüffer sein solle, denn papa s. trunck ja sein leben nicht.15 Solche verkörperten, praxisbezogenen Verhaltenserwartungen lenken den Blick auf den frühneuzeitlichen Familienverbund in seiner Funktion als Wissensgemeinschaft. Mit den geteilten Wissenskonzepten, Praktiken sowie Artefakten waren gemeinsame Positionierungen der Familienmitglieder sowohl innerhalb diskursiv hergestellter Wissensord11

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An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, NLA-HStAH, I, 183r: seiter E.L. mir gesagt das ich nicht melancholisch soll sein, so fern ich E.L. undt oncle lieb habe, so habe ich alles gethan was mir nur möglich geweßen umb wider zu sein wie ordenari, den all mein lebtag werde ich alles thun was mir möglich ist, E.L. solches zu persuadiren undt dießes ist wol, eine starcke probe den, ich habe mich ahnfangs unerhört gezwungen, biß ich wider geworden bin, alß ich mich nun befindt. An Luise, Versailles, 13.11.1703, HO, 1, 198, S. 330. An Sophie, St. Cloud, 26.9.1688, NLA-HStAH, V. 2, 323r–323v; vgl. B, S, 82, S. 99. Zum Begriff s. KORMANN, Ich, S. 300; auch 2.VI u. 5.III. An Luise, Fontainebleau, 1.10.1699, HO, 1, 96, S. 175. Vgl. An Amalie Elisabeth, Paris, 13.11.1699, HO, 1, 99, S. 182: Aber weillen Carl Moritz doch gutte qualitetten hatt undt willens ist, die bößen zu corigiren, werde ich ihn nie haßen. Weillen ich glaube, daß ich ihm kein beßer noch entpfindtlicher exempel vor die augen stellen kann, alß I.G, unßer herrn vatter s. sobrietet, so stelle [ich] ihm dießes ein par mahl in meinem brieff vor, aber ich glaube, er wirdt Eüch undt Louisse meinen brieff gewießen haben.

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nungen wie auch im sozialen Raum verknüpft. Diese Bezugnahmen rekurrierten, so zeigte insbesondere die Analyse der medikalen Praktiken um das sogenannte MyladyKent-Pulver, auf ein ganzes Netz unterschiedlicher Positionierungsfaktoren: So konnten mit einer bestimmten Praktik im Umgang mit dem Körper neben adeliger Würde und innerständischem Rang der Familie zugleich ihre kulturräumlich-‚nationale‘ Herkunft sowie die religiös-konfessionelle Zugehörigkeit unter Beweis gestellt werden (2.II.2–3). Indem Familie und Verwandtschaft als wesentliche Organisationsmomente von Vergesellschaftungsprozessen fungierten, wurde also ein spezifisches Bündel unterschiedlicher Positionierungen und darauf rekurrierender praktischer Verhaltenserwartungen an die einzelnen Mitglieder der Familie herangetragen. Die familiärkulturellen Vorstellungen und praktischen Verhaltenserwartungen realisierten sich jedoch in geschlechtsbezogen differenzierten Formen, d.h., sie richteten sich in unterschiedlicher Weise an als weiblich bzw. als männlich positionierte Familienmitglieder. Die von Vater und Tante an Elisabeth Charlotte gerichtete Erwartung einer tugendhaften und ‚unkoketten‘ Körperpraxis etwa galt als Beitrag der adeligen Tochter zur Untermauerung der (inner)ständischen, religiös-konfessionellen und kulturräumlich-nationalen Position ihrer Familie (3.III.1). Das Konglomerat familienkultureller, sich ‚intersektional‘ überschneidender Positionierungen wirkte erst in Bezug auf geschlechtsbezogene Platzanweisungen von Personen. Zwischen dem Erfüllen familiärer Verpflichtungen und der Positionierung als geschlechtlich markiertes Subjekt bestand also eine essentielle Verbindung. Im Umkehrschluss wirkte das Beharren auf den Werten und Normen der Familie als Stabilisierung der jeweils als gültig anerkannten symbolischen Geschlechterordnung. In ihren Briefen schilderte Elisabeth Charlotte, wie sie in ihrem neuen Lebensumfeld am französischen Hof immer wieder Konflikte in Kauf nahm, um die verkörperte Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsfamilie im alltäglichen Umgang mit dem Körper zu demonstrieren (2.I.1 u. II.2 u. 3.II.2). Dabei fungierten die Briefe als Medien der Beweisführung familiärer Zugehörigkeit vor den adressierten Bezugspersonen und vor sich selbst. Die Bewahrung und Verteidigung der eingenommenen ‚heterologen‘ Subjektpositionen bedurfte dabei des Schreibens als einer stetigen Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverhältnis in seiner grundsätzlichen Fragilität. Genau diese als konstitutiv für die Moderne geltende Subjektkultur einer fortwährend zu leistenden ‚Identitätsarbeit‘16 ist also durchaus auch in frühneuzeitlichen Kontexten vorzufinden und weist darauf hin,17 dass die Prozesse der Positionierung wesentlich komplexer und auch dynamischer verlie16

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Geprägt wurde der Begriff der ‚Identitätsarbeit‘ von dem dänischen Kulturtheoretiker Henrik Kaare NIELSEN in seinem Werk Kultur og modernitet, Aaarhus 1993. S. dazu den dt. Titel NIELSEN, Identitätsarbeit, S. 257–271. Vgl. zu Konzeptualisierungen moderner Selbstverhältnisse als kohärent und kontinuierlich bspw. Joachim RENN u. Jürgen STRAUB, Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverständnisse, in: Dies. (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a.M. 2002, S. 10–31, hier 12–14; NUNNERWINKLER, Identität, S. 60–63; ROSA, Selbstthematisierungszwang, S. 280–281, 293 u. 298; EICKELPASCH u. RADEMACHER, Identität, S. 10; FRANKE, Erfahrung, S. 190; TABARASI, Landschaftsgarten, S. 15. Gesellschaften bieten je unterschiedliche Möglichkeiten, sich als selbst-identisch darzustellen. Deswegen können aus Subjektkulturen bzw. Identitätssemantiken Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Struktur gezogen werden. Vgl. LUHMANN, Individuum, S. 153. S. auch mit Bezug auf Luhmann BÖTH, Practices [i. Dr.]; ROSA, Selbstthematisierungszwang, S. 267 u. 279–280.

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fen, als traditionelle Konzeptualisierungen einer Positionierung qua Geburt in der frühneuzeitlichen Gesellschaftsordnung erwarten lassen.18

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Dynamiken in der frühneuzeitlichen Gesellschaft sind in verschiedenen Studien immer wieder thematisiert worden. Dennoch ist eine Neukonzeption des Verständnisses von ständischer Ordnung und gesellschaftlicher Dynamik insbesondere aus subjekttheoretischer Perspektive als Desiderat zu bezeichnen. Vgl. FREIST, Bild, S. 152.

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II.

SCHLUSSBETRACHTUNTUNGEN

Das Selbst im Wandel erzählen

Die in den Briefen Elisabeth Charlottes zum Ausdruck kommenden Selbstverhältnisse erschöpfen sich jedoch keineswegs in diesem beharrungskräftigen Modus der Selbstvergewisserung eines kontinuierlichen Selbst mit seinen unveränderlichen und stabilen Bindungen. Vielmehr thematisierte Elisabeth Charlotte die Brüchigkeit dieser Selbstkonstruktion in ihren Briefen sogar selbst. Im Februar 1679 etwa malte sie sich in einem Schreiben an Sophie aus, wie es wäre, Tante und Onkel noch einmal wiederzusehen.1 Sie stellte sich vor, Sophie und Ernst August ‚inkognito‘, d.h. ohne die Erfordernisse des Hofzeremoniells in Flandern zu treffen. Dort wolle sie sich, so schrieb sie, alß dan mitt E.L. undt oncle in eine cammer einsperren, alwo ich nichts anderß alß die alte Liselotte begehre zu sein, wo mitt E.L. alles machen können, was E.L. beliebt, den ich bin undt werde biß in todt E.L. leibeÿgen verbleiben undt damitt werden wir alles des verdrießlichen gesprengs quit sein.2

Auch im April 1681 verlieh sie gegenüber Anna Katharina von Harling ihrer Sehnsucht Ausdruck, mit ihrer Tante und ihrem Onkel auf Reisen zu gehen – allerdings nicht alß madame, den das were gar zu langweilig, sondern nur alß Lisselotte – wie ich vor dießem war.3 Elisabeth Charlotte war sich also durchaus bewusst, dass sie in ihrem aktuellen Leben am französischen Hof längst nicht mehr vollständig mit der ‚alten Liselotte‘ identisch war. Neben solchen expliziten Thematisierungen ermöglicht insbesondere die Analyse der beim alltäglichen Briefschreiben erzählten wissensförmigen Praktiken, die Konstruktionen des Selbst in ihrer grundsätzlichen Veränderungsoffenheit zu beleuchten. Elisabeth Charlottes Schreiben diente nicht allein der Vergewisserung eines kontinuierlichen Selbstbildes. Ihre Briefe sind vielmehr ebenso Medien zur Verarbeitung von persönlichen und biographischen Wandlungsprozessen. Dabei resultierte das grundlegend dynamische Moment in ihrer Biographie aus der Verbindung zwischen familiär geprägter und geschlechtsbezogener Positionierung – denn die patriarchalen Ehestrukturen wirkten als 1

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Sophie besuchte ihre Nichte erstmals im Sommer 1679 am frz. Hof. Danach trafen sich die beiden nie wieder persönlich. Vgl. auch An Luise, Paris, 21.3.1722, HO, 6, 1313, S. 352: Dieße freüde kan ich noch begreifen, sich bey denen einzufinden, so einem verwandt undt lieb sein undt mitt welchen man erzogen worden; finde es ein recht glück, eine solche ahngenehme reiße zu thun können, aber da ist [für mich] nicht ahn zu gedencken. Die Verwandtschaft mit der Halbschwester wird hier durch die gemeinsame Erziehung gestützt. An Sophie, Paris, 3.2.1679, NLA-HStAH, I, 135r, vgl. B, 1, 24, S. 27. Vgl. auch An A. K. v. Harling, St. Cloud, 31.3.1695, H, 115, S. 233: Ach Jesus – könte ich so glücklich sein wie I.L. die churfürstin von Brandenburg – alle jahre nach Hanover zu gehen; Welch eine freüde undt trost, würde mir dießes verursachen; Solch glück ist mir aber leÿder nicht beschert, gesundt kan ich woll nach ewern wunsch werden – glücklich aber ist waß anderst. Dazu – scheÿndts – bin ich eben nicht sonderlich gebohren. An A. K. v. Harling, St. Cloud, 10.4.1681, H, 62, S. 163. Vgl. zu dieser Art von Erinnerung auch An Sophie, St. Germain, 19.2.1682, NLA-HStAH, I, 217r, vgl. B, 1, 37, S. 40: ich habe auch schon von anderen gehöret das E.L. das schloß gantz verendern laßen, ist mir nur leÿdt das meine cammer undt apartement verendert ist, den ich flatirte mich daß diß, wen es so wie vor dießem, undt zu meiner zeit geblieben wer, E.L. alß würde ahn dero Lisselotten erinert haben, undt das E.L. nicht durch meine kammer würden gangen sein ohne ahn mich zu gedenken. Vgl. zur Verwendung der Namensabkürzung Liselotte in erinnernden Passagen auch An Sophie, Fontainebleau, 29.9.1681 u. Versailles, 5.12.1709, ebd., I, 209r u. XIX,2, 1003r– 1004v; An A. K. v. Harling, St. Cloud, 6.7.1673, H, 30, S. 113.

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kontingenzstiftender Faktor im Leben von ‚Frauen‘, schließlich waren es in den allermeisten Fällen sie, die ihr Lebensumfeld aufgaben und in das des künftigen Ehemannes und dessen Herkunftsfamilie überwechselten. Die mit der Verheiratung verbundene Migration allein als Wechsel der höfischen Lebensumgebung zu beschreiben, greift zu kurz, denn mit der Heirat wurde eine ‚Frau‘ Teil einer anderen familiärkulturell geprägten Lebenswelt. Elisabeth Charlotte etwa lebte am französischen Hof als Mitglied der Königsfamilie (famille royale), die ihrerseits innerhalb der Ständeordnung, innerhalb der adeligen Rangordnung, innerhalb der konfessionellen und kulturräumlich-nationalen Ordnung intersektional positioniert war und spezifische Verhaltensanforderungen an ihre Mitglieder richtete. In dieser biographischen Konstellation erscheint die geschlechtsbezogene Platzierung als ‚stabiler‘ Positionierungsfaktor,4 weswegen ‚Geschlecht‘ sich als analytisches Bindeglied zwischen der Untersuchung genealogischer Bezugnahmen (1) und diese überschreitender Aneignungsprozesse (2) als besonders geeignet erwies (3). Auch wenn die patriarchalen Ehekonstruktionen dazu führten, dass Frauen, vermutlich nicht nur im Adel so wie Elisabeth Charlotte, vor die „schwierige Doppelaufgabe“5 gestellt waren, die Verhaltenserwartungen und ‚intersektionalen‘ Positionen der Herkunftsfamilie mit der Familie des Ehemannes in Einklang zu bringen, so konnte aus diesen Zumutungen dennoch ein Moment der Vervielfältigung von Handlungsoptionen und Positionierungsressourcen entstehen. Auch in Elisabeth Charlottes beharrungskräftigem Schreiben über sich selbst sind solche Erweiterungen von Handlungsmöglichkeiten und der damit einhergehenden Dynamisierung von Prozessen der Selbst- und Fremdpositionierung zu finden. So kombinierte sie zum Beispiel in produktiver Weise Verhaltenserwartungen ihrer Herkunftsfamilie an eine gesundheitsfördernde Körperpraxis mit den Möglichkeiten am französischen Hof, die ihr beispielsweise erlaubten, das Jagen zu erlernen.6 Sie generierte dabei eine Handlungspraxis, die die Grenzen der familiären Auffassungen über eine für ‚Frauen‘ schickliche, ‚unkokette‘ Bewegungspraxis überschritt. Als eine intensiv verfolgte, alltägliche Gesundheitspraxis gewendet aber pervertierte die Praxis körperlicher Bewegung gleichzeitig die insbesondere am französischen Hof erforderlichen femininen Schönheitsideale (3.II.1–2). Es ist diese Überkreuzung von jeweils in verschiedenen Wissensordnungen geteilten kollektiven Sinnzuschreibungen an Praktiken, die es Elisabeth Charlotte erlaubte, mit der Jagd einen persönlichen Handlungsspielraum zu konstituieren, dessen Bedeutungen in ihrem Schreiben ausgehandelt wurden. Ganz ähnlich ermöglichte auch Elisabeth Charlottes Positionierung als Melancholikerin die Bezugnahme auf ein Set an Deutungs- und Handlungsmustern, mit Hilfe derer sich das Selbst als solches in seiner Ambivalenz und Wandlungsfähigkeit erfahren und thematisieren ließ. Ihr intensives Schreiben, das als wesentlicher Ort der Selbstbildung 4

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Je nach biographischer Konstellation kann dies variieren. Konstitutiv ist m.E. jedoch, dass in jeder spezifischen Lebenssituation bestimmte Kategorien stabiler als andere zu sein scheinen. Vgl. TISCHER, Verwandtschaft, S. 49. S. dazu z.B. die folgende Passage, in der E. Ch. feststellte, dass ihr Jagdvokabular französisch sei. Vgl. An Sophie, Versailles, 8.10.1711, NLA-HStAH, XXI,2, 835r: den wir hatten regen undt windt, die hunde jagten auch gar übel (un cerf de change) ich weiß nicht wie man daß auff teütsch heist, den ich kan gar nicht waÿdtmanisch auff teütsch reden. Im zitierten Brief ist das Datum auf 18.10.1711 verbessert und auch an dieser Stelle in die chronologische Ordnung der Briefe einsortiert. S. auch An Sophie, Fontainebleau, 19.9.1699, ebd., IX,2, 528r.

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fungierte, ließ sich dabei im Rückgriff auf die Melancholie als gesundheitliche Notwendigkeit darstellen und somit erst legitimieren. Der Melancholie-Diskurs bot darüber hinaus auch ein körperbezogenes Erklärungsmodell für die Verarbeitung biographischer Veränderungen und sozialer Konflikte. Die Melancholie erlaubte es, das veränderungsanfällige, fragmentierte und unabgeschlossene Selbst über seine Leiblichkeit erfahrbar und damit begreifbar zu machen. Denn der Wechsel des Temperaments zur Melancholie, mit dem Elisabeth Charlotte Auseinandersetzungen und Streitigkeiten in ihrem Umfeld, ihre Trauer nach dem Verlust nahestehender Verwandter und vor allem die Erfahrung des dauerhaften Wechsels ihres Lebensumfeldes sinnhaft deutete, war keinesfalls unumkehrbar. Vielmehr gab es Phasen relativer Freiheit von den melancholischen Krankheitsbeschwerden, in der sich Elisabeth Charlotte wieder auf die Erzählmuster ihrer eigentlich gesunden Disposition und ihres von Natur aus lustigen Humors beziehen konnte. Als flexibles zeitgenössisches Konzept zum Verständnis von Selbst, Leib und Umwelt ermöglichte die Melancholie also situative Bezugnahmen und ambivalente Positionierungen – sowohl als durch den biographischen Wandel leiblich veränderte als auch als stets dieselbe bleibende, Erwartungen der Herkunftsfamilie verkörpernde Person. In hohem Maße situationsabhängig waren auch die Selbstpositionierungen im Bereich kulturräumlicher Verortung. Mit der Aneignung einer nationalen Rhetorik versuchte Elisabeth Charlotte sich insbesondere in der Phase schwindender persönlich-familiärer Bindungen als Teil einer teütschen Gemeinschaft (4.II.1–2) zu positionieren. Damit erzählte sie sich selbst analog zu den diskursiven Imaginationen eines überzeitlich konstanten, traditionsbewussten und standhaften Teütschlands,7 schrieb dabei den in der Herkunftsfamilie gewohnten Körperpraktiken jedoch einen neuen ‚nationalen‘ Sinn zu. Anders als die ältere Liselotte-Forschung betont hatte, finden sich zeitgleich in Elisabeth Charlottes Briefen aber auch durchaus positive Identifikationen mit ihrer Position am französischen Hof. Zwischen den Zeilen stilisierte sie sich selbst und ihren Wissensvorsprung gegenüber ihren Briefpartner_innen, beispielsweise im Bezug auf europäische und außereuropäische Geschlechterordnungen und Sexualitätsregime (4.III.1). Daneben nutzte sie nur zu gern den privilegierten Zugang, der sich ihr als Schwägerin des Königs bzw. als Mutter des Regenten zu exklusiven Heilmitteln bot, die aus Amerika oder Asien nach Europa importiert wurden, um sich selbst und ihre Briefpartner_innen damit zu versorgen (4.III.2). Materielle Artefakte und die Bedeutungen, die ihnen durch bestimmte Praktiken gegeben werden, sind also ebenfalls als wichtiger Faktor der Selbstverortung anzusehen.8 Mit ihrer Position am französischen Hof erweiterten sich Elisabeth Charlottes Repertoires an Deutungs- und Handlungswissen, wie etwa die Übernahme des medikalen Konzepts um die Vapeurs zeigt (4.III.3). Mit diesen hybriden Erweiterungen waren auch alternative Zugänge zu leiblich-emotionalem Spüren verbunden, wodurch die Prozesse 7

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Lohnenswert wäre, den hier auftretenden Ähnlichkeiten zwischen Konstruktionen eines kontinuierlichen und kohärenten Selbst und dem zeitgenössischen Diskurs um die teütsche nation als von alters her ewig gleich, der Mode und dem Wandel entgegengesetzt, in weiteren Studien nachzugehen. In diesem Sinne bietet die Analyse materieller Kultur einen Zugang zu Fragen nach den Selbstverhältnissen von Personen. Für die FNZ s. RUBLACK, Dressing up, S. 32–79, bes. 77 am Beispiel des Augsburger Bürgers Matthäus Schwarz (1497–1574). Vgl. zum Verhältnis von materieller Kultur und ‚Identitätsbildung‘ in der Spätmoderne etwa ROSA, Selbstthematisierungszwang, S. 286– 287.

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der Selbstpositionierung in Elisabeth Charlottes Briefen insbesondere gegen Ende ihres Lebens im Wortsinn in Bewegung gerieten.

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III. Frühneuzeitliche Selbstpositionierungsprozesse analysieren Welche Schlussfolgerungen können nun im Hinblick auf eine theoretische Annäherung an die Konstituenten frühneuzeitlicher Subjektkulturen und ihrer methodischen Erforschung gezogen werden? Die vorliegende Studie zeigt am Beispiel der Briefe der pfälzischen Kurprinzessin und Herzogin von Orléans Elisabeth Charlotte, dass es für die Analyse von frühneuzeitlichen Selbstkonstruktionen äußerst produktiv ist, das Subjekt aus der Perspektive der Praxis zu denken. Methodisch bedeutet dies, konsequent danach zu fragen, mit Hilfe welcher Praktiken das Selbst sich konstituiert bzw. konstituiert wird. Hierbei muss der Praxisbegriff in Bezug auf das in historischen und auch in soziologischen Untersuchungen zumeist verwendete schriftlich vorliegende Quellen- bzw. Datenmaterial in zweifacher Weise konzipiert werden – zum einen in Bezug auf die Selbsttechnologien des Schreibens bzw. Erzählens als einem Akt des kommunikativen Handelns, zum anderen in Bezug auf die im Schreiben bzw. Erzählen entworfene alltägliche Handlungspraxis der Subjekte, über die sie sich als Personen erzählen. Die Analyse der erzählten Körperpraxis in Elisabeth Charlottes Briefen zeigte, dass „die Bereitschaft und Fähigkeit der Akteure, bestimmte Praktiken zu vollziehen“ oder nicht zu vollziehen, in essentieller Verbindung zu den Bedeutungen standen, die Akteur_innen ihrer eigenen Person zuschrieben bzw. zuschreiben konnten und wollten.1 Praktiken hafteten also kollektiv geteilte, soziale Zuschreibungen an, auf die Subjekte sich bewusst und intentional wie auch unbewusst und unintentional bezogen bzw. notwendigerweise beziehen mussten, wenn sie eine bestimmte Handlung ausführten. Insbesondere reflexive Selbsttechnologien wie das Schreiben ermöglichten es einer Person, dabei auszuhandeln, welche Praktiken mit ihrem jeweiligen Selbstverständnis vereinbar waren und welche nicht.2 Die Sinnzuschreibungen, die Personen den Praktiken im Zuge dieser Aushandlungsprozesse geben, sind jedoch niemals individuell im Sinne von einzigartig: Sie existieren nicht in einem abgeschlossenen Kern der Innerlichkeit eines Subjekts, sondern basieren auf kollektiv geteilten Annahmen und Wissensbeständen.3 Diese auf Wissensordnungen rekurrierenden Zuschreibungen sind überdies weder unveränderlich noch werden sie universell geteilt. Vielmehr können die sozialen Bedeutungszuschreibungen an Praktiken nur in historisch- und kulturell spezifischen Handlungssituationen, die von in bestimmter Weise positionierten Personen getragen werden, Geltung beanspruchen. Dies ließ sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eindrücklich etwa am Beispiel der Zuschreibungen an ‚sexuell‘ aktives Begehren von ‚Frauen‘ beobachten, denn mit diesen waren sehr unterschiedliche Sinnkonstruktionen verknüpft, die wiederum unterschiedliche Vorstellungen von Devianz nach sich zogen. Während der einen Wissensordnung zufolge weibliches Nicht-Begehren ein Ideal 1 2

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RECKWITZ, Transformation, S. 577 u. 566. Vgl. RECKWITZ, Transformation, S. 577: „Die Bereitschaft und Fähigkeit der Akteure, bestimmte Praktiken zu vollziehen, hängt im Kern davon ab, welche Bedeutungen sie der eigenen Person zuschreiben, welche personale Identität sie damit besitzen und inwiefern mögliche Praktiken mit dem Selbstverständnis vereinbar wären.“ Vgl. ebd., S. 558 u. 565–569 (Zit. 567): „Die Wissensordnungen, die die Akteure applizieren, sind nicht als Eigenschaften eines sinnkonstituierenden Subjekts zurechenbar, sondern transzendieren in ihrer Reichweite, Entwicklung und Komplexität dessen >subjektive Perspektive