Erzählen über Gesellschaft: Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller [1. Aufl. 2019] 978-3-658-15869-9, 978-3-658-15870-5

Howard S. Becker zählt zu den wichtigsten US-amerikanischen Soziologen der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umspannt w

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German Pages XXVI, 324 [339] Year 2019

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Erzählen über Gesellschaft: Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-15869-9, 978-3-658-15870-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXVI
Front Matter ....Pages 11-11
Erzählen über Gesellschaft (Howard S. Becker)....Pages 13-24
Repräsentationen der Gesellschaft als Produkt von Organisationen (Howard S. Becker)....Pages 25-38
Wer macht was? (Howard S. Becker)....Pages 39-61
Die Arbeit der Nutzer (Howard S. Becker)....Pages 63-78
Standardisierung und Innovation (Howard S. Becker)....Pages 79-98
Einzelheiten zusammenfassen (Howard S. Becker)....Pages 99-113
Wirklichkeitsästhetik (Howard S. Becker)....Pages 115-132
Die Moralität der Repräsentation (Howard S. Becker)....Pages 133-150
Front Matter ....Pages 151-151
Parabeln, Idealtypen und mathematische Modelle (Howard S. Becker)....Pages 153-168
Diagramme: Mit Zeichnungen denken (Howard S. Becker)....Pages 169-187
Visuelle Soziologie, Dokumentarfotografie und Fotojournalismus (Howard S. Becker)....Pages 189-205
Drama und Vielstimmigkeit: Shaw, Churchill und Shawn (Howard S. Becker)....Pages 207-223
Goffman, Sprache und die Strategie des Vergleichs (Howard S. Becker)....Pages 225-238
Jane Austen: Der Roman als Gesellschaftsanalyse (Howard S. Becker)....Pages 239-250
Georges Perec und seine Experimente mit Gesellschaftsbeschreibungen (Howard S. Becker)....Pages 251-266
Italo Calvino, Stadtforscher (Howard S. Becker)....Pages 267-281
Back Matter ....Pages 283-334

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Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften

Howard S. Becker

Erzählen über Gesellschaft Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller

Neue Bibliothek der ­Sozialwissenschaften Reihe herausgegeben von Jörg Rössel, Zürich, Schweiz Uwe Schimank, Bremen, Deutschland Georg Vobruba, Leipzig, Deutschland

Die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften versammelt Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und zur Gesellschaftsdiagnose sowie paradigmatische empirische Untersuchungen. Die Edition versteht sich als Arbeit an der Nachhaltigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, die sozialwissenschaftlichen Wissensbestände zugleich zu konsolidieren und fortzuentwickeln. Dazu bietet die Neue Bibliothek sowohl etablierten als auch vielversprechenden neuen Perspektiven, Inhalten und Darstellungsformen ein Fo­rum. Jenseits der kurzen Aufmerksamkeitszyklen und Themenmoden präsentiert die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften Texte von Dauer.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12541

Howard S. Becker

Erzählen über Gesellschaft Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller

Howard S. Becker San Francisco, USA Übersetzung: Peter Hessel, Delmenhorst

ISSN 2626-2908 ISSN 2626-2916  (electronic) Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften ISBN 978-3-658-15870-5  (eBook) ISBN 978-3-658-15869-9 https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS Originaltitel: Telling About Society, Licenced by the University of Chicago Press, Chicago, ­Illinois, USA. © 2007 by The University of Chicago. All rights reserved. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Sylke Nissen, Leipzig Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Telling about Society 1

Howard S. Becker

Ich habe mein Arbeitsleben als Klavierspieler begonnen. Aber nicht als „Pianist“, das ist wichtig. Eher als jemand, der mit einer kleinen Gruppe Klavier spielte, in Bars, Stripclubs, auf Hochzeiten und bei Bar Mitzvah Festen. Dabei habe ich schon als ziemlich junger Mensch, noch im Teenager-Alter, einiges darüber gelernt, wie Kunst als eine Art von Arbeit funktioniert. Später dann zeigte mir mein akademischer Mentor, der Soziologe Everett C. Hughes, wie ich aus der Welt um mich herum Soziologie machen konnte, und zwar durch das Beobachten und Aufzeichnen all der Tätigkeiten und Erledigungen des Alltagslebens, sowie durch das Erkennen, wie das, was da passierte, tatsächlich allgemeinere Ideen enthielt, die im soziologischen Theoretisieren vorkamen. Der Rest meines Lebens außerhalb der Lehre und der akademischen Beschäftigungen hat mich dann mit vielen anderen Kunstformen in Berührung gebracht. Das fing mit der Musik an, aber schloss beispielsweise auch das Theater mit ein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich anfing zu überlegen, wie ich diese beiden Bereiche meines Lebens und meiner Erfahrungen zusammenbringen könnte. Und so begann ich darüber nachzudenken, ob und inwiefern die Kunst, die mich interessierte, selbst eine Spielart des soziologischen Denkens war. Ich versuchte zunächst herauszuarbeiten, was die Leute in den Welten des Theaters und der Fotografie über die Fragen zu sagen hatten, die auch die Soziologie interessierten. Ich bin in einige dieser anderen Welten eingetaucht, vor allem in die Fotografie, ganz ähnlich wie zuvor in die Musik, als Macher und als Wissenschaftler. Dadurch habe ich den reichen Schatz an Materialien entdeckt, den Fotografinnen und Fotografen erschaffen haben, die sich genau mit dem beschäftigten, was auch meine soziologischen Kolleginnen und Kollegen diskutierten: Die Grundmuster

1 Übersetzt von Reiner Keller V

VI

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Howard S. Becker

des sozialen Lebens, die Probleme von Klasse und Rasse bzw. Ethnizität, und all die anderen Dinge, um die wir uns sorgen. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass all diese Arten und Weisen der Erforschung von Gesellschaften funktionierten, und zwar für je spezifische Leute, die sich hin und wieder mit je spezifischen Anliegen beschäftigen. Fotografien, gewiss, aber auch statistische Grafiken, die von Soziologinnen und Soziologen merkwürdig unbeachtet blieben. Und Dramen, die schlüssige politische Argumente lebendig werden lassen und mit zusätzlichen Bedeutungen füllen, wie die Stücke von George Bernard Shaw so meisterlich zeigen. Damit will ich nicht sagen, dass all diese Medien und Formen tatsächlich Soziologie sind. Natürlich handelt es sich um etwas Anderes; sie nutzen andere Mittel, um andere Einsichten und Wahrheiten zu vermitteln – eben anders, aber nicht im Widerspruch oder völlig fremd im Hinblick auf das, worum wir uns in der Soziologie bemühen. Das vorliegende Buch soll meine Kolleginnen und Kollegen dazu ermutigen (es braucht nicht viel Mut!), mit diesen anderen Feldern zu experimentieren. Ihr habt nichts zu verlieren und viel zu gewinnen. San Francisco, Juni 2018

Etwas zusammen machen. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Telling about Society Reiner Keller

Howard S. Becker gehört gewiss zu den Klassikern einer soziologischen Tradition und eines Arbeitszusammenhangs, die häufig vereinfachend als „zweite Chicago School“ eingeordnet werden. Eine solche Einordnung sollte nicht zu ernst genommen werden, denn dahinter verbirgt sich eine große Vielzahl sehr unterschiedlicher Arbeiten, Forschungsgebiete und Vorgehensweisen. Vielleicht kann das Interesse an konkreter empirischer Feldforschung, die Nutzung von mehr oder weniger teilnehmenden Beobachtungen, Gesprächen, Dokumenten und anderem mehr als ein kleiner gemeinsamer Bezugspunkt gelten. Aber man sollte auch die Nutzungen von statistischen Daten und vor allem die kreativen Verwendungen von Grafiken, Bildern und Maps aller Art nicht übersehen, die inzwischen fast vergessen scheinen. Diese Tradition ist in der US-amerikanischen Soziologie lebendig, auch wenn sie im deutschsprachigen soziologischen Kontext nach wie vor und bedauerlicherweise kaum bzw. sehr selektiv rezipiert wird.1 Das gilt für viele der dortigen Autorinnen und Autoren, und sicherlich auch für Howard S. Becker selbst. Dem deutschsprachigen Fachpublikum steht er wohl vor allem als derjenige vor Augen, der über Tanz- und Jazzmusiker und deren Marihuana-Konsum schrieb, über moralische Unternehmer und Karrieren im abweichenden Verhalten. In fachlicher Hinsicht also jemand, der in einem sehr speziellen Feld der Soziologie arbeitete, ohne große theoretische Bezüge, interessiert am Fall und dessen Prozessmerkmalen. Diese Rezeption ist wohl der frühen Übersetzung seiner ersten Monographie Outsiders aus dem Jahre 19632 in die deutsche Sprache geschuldet, die 1981 erschien und kürzlich neu aufgelegt wurde (Becker 2014). Hinzu kommt eine Schrift zum professionellen Schreiben in der Soziologie (Becker 1994), die als Handreichungen für Studierende ihren Zweck erfüllen mag, 1 Vgl. als einen der wenigen neueren Überblicke Keller (2012). 2 Bzw. der erweiterten Neuauflage von 1973. VII

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Vorwort von Reiner Keller

aber kaum das Interesse des Fachpublikums fand. Wie kommt es, dass dieser hierzulande eher wenig gelesene Soziologe beispielsweise in Frankreich seit mehr als einem Jahrzehnt als einer derjenigen gehandelt und gefeiert wird, der große Teile der französischen Soziologie von einem allzu engen, allzu wiederholenden Korsett bourdieuscher Perspektiven befreit und eine ganz neue Konjunktur des empirisch-ethnographischen Arbeitens ausgelöst hat? Howard S. Becker ist im Jahre 2018 nun 90 Jahre alt geworden, und er hat wesentlich mehr geschrieben, als die frühe Untersuchung zu Musikern und Drogen. Und er veröffentlicht nach wie vor. Dagmar Danko hat dies dankenswerterweise in einer Werkseinführung in deutscher Sprache dokumentiert (Danko 2015), und vor kurzem ist immerhin Beckers ebenfalls klassische und einflussreiche Auseinandersetzung mit den Welten der Kunst (Becker 2017b) in deutscher Sprache erschienen, wenn auch bezeichnenderweise nicht in einem der einschlägigen soziologischen Fachverlage. Der jüngere Rezeptionserfolg in Frankreich verdankte sich sicherlich zweierlei: Zunächst dem unermüdlichen Einsatz einer Gruppe französischer Soziologinnen und Soziologen, die Beckers Werk übersetzten und dem französischen Fachpublikum auch in begleitenden Schriften zur Kenntnis brachten (etwa Peneff 2014). Und zweitens sicherlich den regelmäßigen längeren Frankreichaufenthalten des Autors, die auch das ein oder andere Jazzkonzert hervorbrachten (dokumentiert in Becker 2003). Vielleicht kann die Reihe der gerade erwähnten Bücher (die Neuauflage der Außenseiter, die Übersetzung von Kunstwelten, die Einführung von Dagmar Danko) im Zusammenspiel mit dem vorliegenden Band im deutschsprachigen Raum eine vergleichbare, überfällige breitere Rezeption anregen. Das wäre den Ideen und materialen Arbeiten Beckers zu wünschen – und dem Fach. Dabei können zwei Schwerpunkte von besonderem Interesse sein. Zum einen ist dies ein spezifischer Stil des empirischen, ethnographisch orientierten Arbeitens, der sich nicht mit in sich geschlossenen Fallrekonstruktionen begnügt, sondern auf mögliche Verallgemeinerungen und die Entwicklung sensibilisierender theoretischer Konzepte hin ausgelegt ist. Die dem zugrunde liegende Perspektive ist diejenige der sozialen Welten (ein auch von seinen Kollegen Tomatsu Shibutani, Anselm Strauss und vielen anderen genutztes Konzept), in denen Menschen etwas zusammen tun: Doing things together (Becker 1986). Gemeint ist das Zusammenwirken der ganz unterschiedlichen Gruppen und Aufgaben von Beteiligten, die etwas hervorbringen: ein Kunstwerk und dessen Rezeption, eine Musikaufführung, ein Schulunterricht, ein Medizinstudium, ein Objekt wie das vorliegende Buch, zu dem VerlagsmitarbeiterInnen, ÜbersetzerInnen, HerausgeberInnen, aber auch GrafikdesignerInnen, HausmeisterInnen, studentische Hilfskräfte, KäuferInnen und LeserInnen beigetragen haben und beitragen. Dem, was ihn interessiert, nähert sich Becker in

Vorwort von Reiner Keller

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dezidierter Weise als derjenige, der von außen kommt und eine Soziologie betreibt, die sich nicht vorweg spezifischen Interessen unterordnet – weder denjenigen von Auftraggebern, noch denjenigen von Beforschten. „Auf welcher Seite stehen wir?“, fragte er vor langer Zeit in einem berühmten Aufsatz (Becker 1967). Seine Antwort ist ganz klar: auf Seiten der Soziologie. Doch von welcher Soziologie ist dabei die Rede? Diese Frage führt zum zweiten Schwerpunkt der Arbeiten von Howard Becker, für die das vorliegende Buch exemplarisch steht. Erzählen über Gesellschaft ist zweifellos auch ein „Erzählen über die Soziologie“, über das, was sie sein kann und könnte, und das, was sie wohl überwiegend ist. Becker erweist sich in diesem Strang seines Schaffens als aufmerksamer Entwickler der theoretischen Perspektive, „etwas gemeinsam zu machen“, als kundiger Leser sozialwissenschaftlicher Entwicklungen, als kenntnisreicher Beobachter neuerer webbasierter Experimente, als Kommentator theo­ retischer Impulse und unterschiedlicher theoretisch-methodischer Zugänge zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das betrifft zunächst die Soziologie selbst, wo von ihm quantifizierende Zugänge mit qualitativen Ansätzen ins Gespräch und in den Austausch gebracht werden, und wo er sich überraschenderweise als Soziologe mit einer Neigung zu Zahlen enthüllt. Doch er geht weit über die Soziologie hinaus. Becker appelliert an die Disziplin, ihr enges Fachkorsett abzustreifen und sich für die unterschiedlichen, insbesondere auch künstlerischen Formen der Analyse und Darstellung gesellschaftlicher Phänomene zu öffnen. Er macht das darin liegende Potential mehr als deutlich, etwa am Beispiel der Dokumentarfotografie oder der präzisen Analyse von fiktionalen Texten. Die von ihm dabei eingenommene Haltung ist einerseits geprägt von ungemeiner Großzügigkeit im Hinblick auf die Vielfalt möglicher Zugänge, andererseits von sehr präzisen Vorstellungen über gutes und weniger gutes, oder vielleicht besser: über interessantes und weniger interessantes Arbeiten. So lässt sich sein 2017 erschienenes Buch über Evidence auch als Beitrag und Kommentar zu aktuellen Debatten über Ziele, Methoden und die Wissenschaftlichkeit soziologischen Arbeitens lesen: Daten, Beweismittel [evidence] und Ideen bilden einen voneinander abhängigen Zirkel. Daten interessieren uns, weil sie uns dabei helfen, ein aussagekräftiges Argument über etwas in der Welt zu formulieren. Da wir davon ausgehen, dass die Anderen unser Argument vielleicht nicht akzeptieren, sammeln wir Informationen. Wir nehmen an, dass sie beweisen, dass niemand die Realität so hätte erfassen können, wenn unser Argument nicht stimmen würde. Und die Idee, die wir voranbringen wollen, führt uns zur Suche nach der Art von Daten, von Dingen, die wir beobachten und aufzeichnen können, die für uns diese Arbeit der Überzeugung der Anderen leisten. Die Nützlichkeit jeder dieser drei Komponenten hängt davon ab, wie sie mit den jeweils anderen in Verbindung steht. […] IX

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Vorwort von Reiner Keller Verschiedene Disziplinen unterscheiden sich beträchtlich bezüglich der Übereinstimmung ihrer Mitglieder im Hinblick darauf, welche Daten ‚gut genug‘ sind, um als Beweismaterial für die Ideen akzeptiert zu werden, die sie unterstützen sollen. […] Ich bin in einer soziologischen Tradition aufgewachsen, die solche Konflikte minimierte, obwohl sie zahlreiche der methodologischen Differenzen versammelte, die später stärker ausgearbeitet und unterschieden wurden. Das Soziologie-Department der Universität von Chicago war nach dem zweiten Weltkrieg (etwa von den frühen 1940ern bis Mitte der 1950er Jahre) immer noch von der breiten und inklusiven Vision beeinflusst, die Robert E. Park im Hinblick darauf entwickelt und vertreten hatte, was die Soziologie sein könnte. Es beheimatete alle Arten ernsthafter und tiefgehender Meinungsdifferenzen über solche Dinge, aber diese Differenzen existierten – das war zumindest meine Erfahrung, und ich bin nicht der einzige gewesen – in einer Atmosphäre der allgemeinen Akzeptanz von vielen unterschiedlichen Wegen, über gesellschaftliche Phänomene zu forschen. Die Leute stritten über alles (schließlich war es ein Universitätsdepartment, was sollten sie sonst tun?), aber sie anerkannten im Wesentlichen zahlreiche Perspektiven auf grundlegende Fragen und akzeptierten die Daten, die ihre Kollegen vorlegten, als Beweismaterial für ihre sich überlagernden Ideen. (Becker 2017a: 5ff.; Übersetzung RK)

Im vorliegenden Buch greift ein solcher Kommentar weit über die Soziologie hinaus und nutzt eine enorme Bandbreite angesprochener Formen des Erzählens über gesellschaftliche Phänomene. Dazu gehören Betrachtungen statistischer Repräsentationen ebenso wie grafische Veranschaulichungen von Interaktionsprozessen, Diskussionen über Film, Fotografie und Roman, über Theaterperformances und Parabeln. Zu entdecken ist bei all dem ein großer soziologischer Erzähler, der vor allem eins im Sinn hat: das Erzählen über Gesellschaft als ein gemeinsames und vielfältiges Unterfangen zu betrachten, das immer präzise erfolgen und im Blick halten sollte, wovon, das heißt, von welchem Fallzusammenhang es spricht, und das gleichzeitig vor Vereinseitigungen jeglicher Art bewahrt werden muss. Erzählen über Gesellschaft ist die Übersetzung eines 2007 erschienen Werkes. Es enthält zusätzlich zum Original ein eigens dafür geschriebenes kurzes Vorwort des Autors sowie ein Interview mit Howard S. Becker, das ursprünglich im Forum Qualitative Sozialforschung 2016 veröffentlicht worden ist (Becker, Keller 2016). Die Veröffentlichung der Arbeiten Howard S. Beckers (und weiterer aktueller Arbeiten aus der entsprechenden US-amerikanischen Soziologie-Tradition) in deutscher Sprache war mir schon lange ein Anliegen, das mehrfach an dem notwendigen Aufwand an Zeit und finanzieller Unterstützung scheiterte. Sie wurde in diesem Fall nun endlich möglich, und zwar ganz im Sinne der von Becker betonten Herstellung von Phänomenen durch eine Gemeinschaftsproduktion: dadurch, dass viele Personen etwas zusammen gemacht haben (und die erst durch die unbekannten Leserinnen und Leser weiter komplettiert werden wird). Mein Dank an dieser Stelle gilt allen Beteiligten – zunächst und vor allem Howard S. Becker selbst, der

Vorwort von Reiner Keller

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den Übersetzungsprozess aufmerksam begleitet und immer wieder unterstützt hat; dann insbesondere dem französischen Kollegen Jean Peneff, der mich 2014 zu seiner Buchveröffentlichung über Howard S. Becker einlud und uns einander vorstellte; den Herausgebern der Reihe, in der es erscheinen kann; Springer VS für die Finanzierung der Übersetzung und dort insbesondere Katrin Emmerich, die sich unermüdlich dafür einsetzte und damit nach einigen Anläufen erreichen konnte, dass die Becker-Verbreitung endlich Fahrt aufnimmt, dem Übersetzer Peter Hessel, der eine enorme Bandbreite von Darstellungsformen bewältigen musste, meinem in Freundschaft verbundenen Kollegen Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, der die Mühen einer kritischen Prüfung insbesondere der übersetzten Textpassagen zu statistischen Fragen auf sich nahm und zahlreiche weitere Verbesserungsvorschläge formulierte, der geschätzten Kollegin Sylke Nissen, die mit enormer Genauigkeit und Umsicht eine letzte Korrektur des Manuskriptes vornahm, dem MoMa und anderen Institutionen, welche Bildrechte freigaben, den vielen MitarbeiterInnen, die sogenannte ‚kleinere‘ Aufgaben übernahmen, ohne die so häufig nichts erscheinen würde, und den vielen anderen … Augsburg und München, Februar 2019

Literatur Becker, Howard S. 1967: Whose Side Are We On? Social Problems, 14 (3), 239–247. Becker, Howard S. 1986: Doing things together: Selected papers. Evanston. IL: Northwestern University Press. Becker, Howard S. 1994 [1986]: Die Kunst des professionellen Schreibens: Ein Leitfaden für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main: Campus. Becker, Howard S. 2003: Paroles et musique. Paris: L’Harmattan. Becker, Howard S. 2014 [1973]: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Wiesbaden: Springer VS. Becker, Howard S. 2017a: Evidence. Chicago: Chicago University Press Becker, Howard S. 2017b [1984]: Kunstwelten. Hamburg: Avinus-Verlag Becker, Howard S.; Keller, Reiner 2016: Ways of Telling About Society. Howard S. Becker in conversation With Reiner Keller. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 17(2), Art. 12, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1602122. Danko, Dagmar 2015: Zur Aktualität von Howard S. Becker. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS. Keller, Reiner 2012: Das Interpretative Paradigma. Wiesbaden: Springer VS. Peneff, Jean 2014: Howard S. Becker. Paris: L’Harmattan.

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Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Telling about Society . . . . . . . . . . . . . . . . . V Howard S. Becker Etwas zusammen machen. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Telling about Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Reiner Keller

Erzählen über Gesellschaft Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil I: Ideen 1 2 3 4 5 6 7 8

Erzählen über Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Repräsentationen der Gesellschaft als Produkt von Organisationen . . . . . . 25 Wer macht was? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Die Arbeit der Nutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Standardisierung und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Einzelheiten zusammenfassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Wirklichkeitsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Die Moralität der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

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Inhalt

Teil II: Beispiele Parabeln, Idealtypen und mathematische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramme: Mit Zeichnungen denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Soziologie, Dokumentarfotografie und Fotojournalismus . . . . . . Drama und Vielstimmigkeit: Shaw, Churchill und Shawn . . . . . . . . . . . . Goffman, Sprache und die Strategie des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jane Austen: Der Roman als Gesellschaftsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georges Perec und seine Experimente mit Gesellschaftsbeschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Italo Calvino, Stadtforscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letztendlich … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Wie man über Gesellschaft erzählen kann – Howard S. Becker im Gespräch mit Reiner Keller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Autoren- und Herausgeberangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Abbildungsverzeichnis

Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3 Abb. 3.4 Abb. 3.5 Abb. 3.6 Abb. 3.7 Abb. 3.8 Abb. 10.1 Abb. 10.2 Abb. 10.3 Abb. 10.4 Abb. 10.5 Abb. 10.6 Abb. 10.7 Abb. 10.8 Abb. 10.9 Abb. 11.1 Abb. 11.2 Abb. A.1 Abb. A.2

Dorothea Lange: Tractored Out: Abandoned farmhouse on a large mechanized cotton farm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Walker Evans: A Girl in Fulton Street, New York, 1929 . . . . . . . . . . 52 Walker Evans: 42nd Street . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Walker Evans: Alabama Cotton Tenant Farmer’s Wife, 1936 . . . . . 54 Walker Evans: Citizen in Downtown Havana, 1932 . . . . . . . . . . . . . 55 Walker Evans: Main Street, Saratoga Springs, New York, 1931 . . . 59 Walker Evans: Street and Graveyard in Bethlehem, Pennsylvania, 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Walker Evans: Frame Houses in Virginia, 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Die sozialen Perspektiven der gesellschaftlichen Klassen . . . . . . . 175 Häufigkeit der gemeinsamen Teilnahme einer Gruppe von Frauen in Old City, 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Arten von Mitgliedern und Verbindung zwischen zwei überlappenden Gruppierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Gesellschaftliche Stratifikation von Gruppierungen Farbiger . . . 177 Ethnische Zusammensetzung der Interessengruppen . . . . . . . . . . 179 Verwandtschaftliche und andere Verbindungen einer Gruppe führender Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Unterhaltung an der Straßenecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Ein Corner Boy wird verhaftet und wieder rausgeholt . . . . . . . . . . 185 Wie die Corner Boys zu ihrem Zaun im Park kamen . . . . . . . . . . 186 Douglas Harber: Jungle; Wanatchee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Douglas Harper: Boston Skid Row . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Everett C. Hughes vor Howard Beckers Haus in Kansas City . . . 296 Howard S. Becker als Klavierspieler in einer Bar in der 63. Straße in Chicago, ca. 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 XV

XVI

Abb. A.3 Abb. A.4 Abb. A.5

Abbildungen

Auftritt des „Bobby Laine Trio“ im 504 Club in Chicago ca. 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Alfred „Lindy“ Lindesmith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Herbert Blumer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Zum Andenken an Michèle de la Pradelle, Dwight Conquergood, Alain Pessin und Eliot Freidson, Freunde und Wissenschaftler

1

Vorwort Vorwort Vorwort

Dieses Buch war nie als konventionelles Projekt gedacht. Die Ideen dafür stammen aus meinen zumeist planlosen, willkürlichen Lesegewohnheiten, langjähriger Lehrtätigkeit sowie dem ganz normalen Leben und meinen ziemlich eklektischen Interessen. Ich bin schon immer Theater- und Kinobesucher gewesen und habe unermüdlich viele Romane gelesen. Ich meinte immer, ich würde dabei viel Interessantes über die Gesellschaft lernen, und wendete eine Regel an, die ich schon frühzeitig aufgestellt hatte: „Wenn es Spaß macht, lohnt es sich bestimmt auch.“ So war ich schon mit einem guten Bestand an Beispielen ausgestattet, über die ich nachdenken konnte. Ich hatte das Theaterstück Frau Warrens Gewerbe von Shaw gesehen und mich amüsiert, wie er mit dem „sozialen Problem“ der Prostitution umging. Das hatte ich im Kopf, als ich begann, nach Beispielen zu suchen. Ich hatte Dickens und Jane Austen gelesen und von ihnen gelernt, wie Romanschriftsteller Gesellschaftsanalysen präsentieren. 1970 lernte ich das Fotografieren. Es war Teil der Vorbereitungen auf meine Arbeit im Bereich der Kunstsoziologie. Am San Francisco Art Institute, und auch später in Chicago fand ich Zutritt zur Welt der Fotografie. Wie andere Dokumentarfotografen – und wie auch die Studenten, die ich bald bekam – überlegte ich, wie man seine Gesellschaftsanalysen vorstellt. Ich merkte, wie stark diese Probleme denen der Sozialwissenschaftler1 ähnelten, die (wie auch ich) erzählen wollten, was sie zu erzählen hatten. Es hat mir noch nie gefallen, die Fachliteratur offiziell ausgewiesener Disziplinen und Forschungsfelder zu lesen, und ich hätte nie gedacht, dass die Sozialwissenschaften ein Monopol darauf haben zu wissen, was in der Gesellschaft vor sich geht. 1 Anmerkung des Übersetzers: Im Folgenden wird der Lesbarkeit wegen exemplarisch die männliche Schreibweise verwendet, wobei immer alle Geschlechter einbezogen sein sollen. 3

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Vorwort

In der Belletristik, in Theaterstücken, Filmen und Fotografien fand ich ebenso viele gute Ideen wie in dem „vorgeschriebenen“ Lesestoff. Und die Ideen, die mir beim Betrachten von Projekten der Dokumentarfotografie oder von Filmen in den Kopf kamen, flossen auch in mein Denken über die konventionelle Sozialwissenschaft ein. Ich befasste mich dann doch ernsthaft mit der Lektüre jener polemischen Literatur, die in allen Fachgebieten über methodische Probleme erzeugt wird. Diese Literatur enthält viel von dem, was man lernen könnte, wenn man die Teilnehmer an diesen Debatten befragt. Die Themen, die sie ansprechen, beschäftigen die Fachleute in diesen Forschungsfeldern, und ich fand die ausführlichen veröffentlichten Diskussionen ungemein nützlich. Natürlich nahm ich jede Gelegenheit wahr, diese Leute zu fragen, wie sie Probleme der Darstellung in ihrem Arbeitsbereich lösen, aber ich führte keine systematischen Interviews oder Datensammlungen durch. In zwei sehr besonderen Fällen hat meine Lehrtätigkeit die Entwicklung meines Denkens beeinflusst. Als ich an der Northwestern University Soziologie unterrichtete, hatte ich das Glück, Dwight Conquergood kennenzulernen, der damals an der School of Speech in der Fakultät für Performance Studies unterrichtete. Dwight erforschte ein Gebiet, das er als „performative Dimension der Gesellschaft“ bezeichnete, also die Art und Weise, wie man das gesellschaftliche Leben als eine Reihe von Darbietungen auffassen kann. Genauer gesagt, stellte er die Ergebnisse seiner Forschungen – über Flüchtlinge aus Südostasien oder Bandenmitglieder in Chicago – oft in Form von Aufführungen dar. Das hatte ich, ohne richtige Schulung und mit wenig Erfolg, mit meinen Kollegen Michael McCall und Lori Morris in zwei soziologischen Vorführungen versucht (Becker, McCall, Morris 1989; Becker, McCall 1990). Dabei berichteten wir über unsere gemeinsame Forschung über Theatergruppen in drei Städten. Als ich dann Dwight kennenlernte, war es nur ein kleiner Schritt zur Idee, gemeinsam einen Kurs anzubieten, den wir „Performing Social Science“ nannten. Seine Studenten kamen aus seinem Studienbereich und aus dem größeren Theater Department in der School of Speech, während meine vorwiegend aus der Soziologie kamen. Es waren sowohl Bachelor- als auch Masterstudenten. Wir unterrichteten den Kurs 1990 und 1991, und in beiden Jahren bestand die Hauptaktivität aus Aufführungen der Studenten (und im zweiten Jahr auch der Dozenten) von etwas, das man wohl ganz allgemein als „Sozialwissenschaft“ auffassen könnte. Die Stücke stammten aus verschiedenen Bereichen – Geschichte, Soziologie, Literatur, Drama – sowie aus der Vorstellungskraft der Studenten selbst. Ich werde mich in diesem Buch ab und zu auf diese Veranstaltungen beziehen, da sie häufig die organisatorischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Anliegen verkörperten, die mich interessieren. Ein Kurs namens „Telling About Society“, den ich zweimal unterrichtete, einmal an der University of California in Santa Barbara und ein Jahr später an der Univer-

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sity of Washington, stimmte mich ebenfalls sehr nachdenklich. Die Teilnehmer an diesem kleinen Abenteuer kamen aus verschiedenen Fakultäten und waren fast nur Masterstudenten. Natürlich waren sie schon deshalb weniger abenteuerlustig als die Bachelorstudenten, die Conquergood und ich an der Northwestern University unterrichtet hatten. Sie standen mehr unter Druck, konnten sich weniger Zeit nehmen und dem Projekt weniger Aufmerksamkeit widmen. Andererseits dachten sie mehr über die Auswirkungen des Themas nach, waren eher gewillt, kritisch und argumentativ zu sein. Sie regten mich mehr dazu an, Fragen erneut aufzuwerfen, die ich meinte, bereits gelöst zu haben. In den Seminarsitzungen behandelten wir jede Woche ein neues Medium: Film, Drama, statistische Tabellen usw. Ich verteilte Lektüre oder, genauso oft, gab den Studenten etwas, auf das sie reagieren mussten. Ich provozierte sie nämlich angesichts ihrer klischeehaften Ideen darüber, wie man über die Gesellschaft angemessen berichten sollte. Im ersten Jahr begann ich das Seminar, indem ich Caryl Churchills Mad Forest (1996) beschrieb, ein Bühnenstück über die Ehe zweier Sprosse rumänischer Familien aus sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Der zweite Akt veranschaulichte genau den möglichen Kern des Kurses, nämlich eine künstlerische Darstellung des Vorgangs, den man in der Sozialwissenschaft manchmal als „elementares kollektives Verhalten“ oder „Massenbildung“ bezeichnet. In Kapitel 12 dieses Buches beschreibe ich, wie ich die Studenten den Akt laut vorlesen ließ und dann darauf bestand, sie hätten nicht nur ein Gefühl erlebt, sondern auch die beste Analyse der Entstehung einer Menschenansammlung gelesen, die mir bekannt ist. Viele stimmten mir zu, und ich sagte ihnen, damit seien wir genau beim Kernthema des Kurses. Welche Möglichkeiten – außer denen, die Sozialwissenschaftler kennen – gibt es denn, solche Informationen weiterzugeben? Ich glaube, viele Studenten hätten die Frage nicht so bereitwillig akzeptiert, wenn sie nicht selbst gerade diese dramatische Erfahrung gemacht hätten. In den darauffolgenden Wochen schauten wir das Video von Anna Deavere Smith, Fire in Crown Heights (2001) an, in dem sie Dinge sagt, die sie von vielen Leuten aus verschiedenen Gruppen nach den gewalttätigen Unruhen in Brooklyn gehört hatte. Wir sahen Frederick Wisemans Titicut Follies (1967), einen Dokumentarfilm über eine psychiatrische Anstalt für kriminelle Geisteskranke in Massachusetts. Wir betrachteten und diskutierten eine Sammlung soziologischer Tabellen und Grafiken, die ich angefertigt hatte, und ich unterrichtete einen Minikurs, für den ich ungenügend vorbereitet war, über mathematische Modelle. Ich entwarf die Seminarsitzungen mit vielen konkreten Diskussionsbeispielen und hoffte, meiner Ansicht nach steriles „theoretisches“ Gerede zu vermeiden. Mein Manöver funktionierte ziemlich gut. Die Diskussionen waren so gut, dass ich gewöhnlich den 5

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nächsten Tag dazu nutzte, die Notizen zu unserer Diskussion und die Gedanken, die sie angeregt hatte, zu tippen. Im Syllabus hatte ich den Studenten erklärt: Die grundsätzliche Herangehensweise des Seminars ist vergleichend. Eine große Vielfalt von Darstellungsformen muss verglichen werden: einerseits Filme, Romane, Bühnenstücke, und andererseits Tabellen, Diagramme, Grafiken und mathematische Modelle, sowie alles, was uns dazwischen einfällt. Wir werden vergleichen, wie sie die grundsätzlichen Probleme der Repräsentation des gesellschaftlichen Lebens lösen. Und die Liste dieser Probleme ergibt sich zum Teil daraus, dass man sieht, welche Probleme in jedem Genre vorherrschen. (Dies bekommt mehr Sinn, wenn wir es tun; ich sehe ein, dass es jetzt etwas kryptisch erscheinen mag.) Sie sollten sich den Gegenstand, mit dem wir arbeiten, wie ein Raster vorstellen. Auf einer Achse sind Medien oder Genres wie in der obigen Liste. Entlang der anderen Achse liegen die Probleme, die bei der Repräsentation entstehen: der Einfluss von Budgets, die ethischen Pflichten der Macher, 2 Wege, unser Wissen zu verallgemeinern, Grade der Mehrstimmigkeit usw. Im Prinzip könnten wir jedes Problem in jedem Genre untersuchen, jede Box dieser Matrix füllen, aber das wäre nicht praktisch. Das heißt, unsere „Abdeckung“ wird recht willkürlich sein, hauptsächlich von dem uns leicht verfügbaren Material und von meinen eigenen speziellen Interessen beeinflusst. Die Liste der Gesprächsthemen kann jedoch je nach Wunsch um alle möglichen Genres und Probleme erweitert werden.

Und diese Einstellung erzeugte das organisatorische Problem dieses Buches. Robert Merton fand gerne Thesen, die veranschaulichen, was sie behaupten, am erfolgreichsten in seinen Ideen über sich selbsterfüllende Prophezeiungen. Die Zusammenstellung dieses Materials führte mich genau in diese Zwickmühle. Wie konnte ich meine Analyse von Repräsentationen darstellen? Für die Arbeit standen mir zwei verschiedene Arten von Material zur Verfügung: Ideen über Gemeinschaften, die rund um die Herstellung und Nutzung spezifischer Arten von Repräsentationen – wie Filme, Romane oder Statistiken – organisiert sind, und Beispiele, erweiterte Diskussionen von Berichten über die Gesellschaft, die beispielhaft zeigen, was sich auf diesen Gebieten getan hatte. Meine Gedanken 2 Anmerkung des Übersetzers: Ich habe zur deutschen Übersetzung des englischen Ausdrucks „maker“ sehr viel nachgedacht und auch recherchiert. Im Deutschen ist das Wort „Macher“ zwar ungewöhnlich bzw. überwiegend anders konnotiert, wird aber in einigen soziologischen Texten und auch von Dagmar Danko in ihrem Buch über Becker im hier gemeinten Sinn verwendet (Zur Aktualität von Howard S. Becker. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS, 2015). Auch „Erzeuger“ oder „Hersteller“ wäre deswegen wohl möglich, doch schien mir „Macher“ den Sprachstil des Autors am besten zu treffen. Deswegen habe ich mich in Abstimmung mit dem Herausgeber dafür entschieden, den Begriff durchgängig zu nutzen.

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waren weitgehend davon angeregt worden, was ich über erfolgreiche Werke der Repräsentation von Gesellschaft dachte, besonders solche jenseits der disziplinären Grenzen der Sozialwissenschaft, und ich wollte, dass meine Ergebnisse das verkörpern und betonen. Die Kreuztabellierung von Medien (Filmen, Bühnenstücken, Tabellen, Model­ len und so weiter) mit analytischen Problemen (zum Beispiel: Was ist die Arbeits­ teilung zwischen Machern und Nutzern von Repräsentationen?) würde zu einer sehr großen Sammlung von Kombinationen führen, über die man schreiben könn­te. Diese Art der klassifizierenden Struktur liegt zwar dem zugrunde, was ich getan habe, aber ich wollte mich nicht verpflichtet fühlen, all diese bes­chrei­benden und ana­lytischen Kästchen ausfüllen zu müssen. Ich glaubte auch nicht, dass ein derart enzy­k lopädischer Ansatz meinem Ziel dienlich wäre. Dieses Ziel begann ich darin zu sehen, mir selbst und anderen in den Forschungsfeldern, die mich inter­essierten (die inzwischen über die Sozialwissenschaften hinausgingen), für eine sehr viel größere Palette von Repräsentationsmöglichkeiten die Augen zu öffnen. Ich wählte eine andere Herangehensweise, stark beeinflusst von meinen Erfahrungen und Experimenten mit Hypertext, bei dem viele Textfragmente in variierender Reihenfolge gelesen werden können, mitunter in irgendeiner Reihenfolge nach dem Wunsch des Nutzers. Die Teile sind voneinander abhängig, aber nicht so stark, dass eine bestimmte Reihenfolge obligatorisch wird. In diesem Sinne hat das Buch zwei Teile: „Ideen“ besteht aus kurzen Aufsätzen zu generellen Themen, die deutlicher werden, wenn man sie als Aspekte von je unter­schied­lichen Repräsentationswelten betrachtet. „Beispiele“ enthält einige Würdigungen spezifischer Arbeiten, Gesamtwerke oder Arten von Repräsentationen, die für mich neue Bedeutung erhielten, als ich sie im Licht der gene­rellen Ideen betrachtete. Die Kapitel in den beiden Teilen des Buches stehen in Beziehung zueinander, und ich sehe das Ganze eher als ein Netzwerk von Gedanken und Beispielen und weniger als lineares Argument. Vielleicht eignet sich dieser Ansatz besser für den Computer, der es dem Leser erleichtert, von Thema zu Thema zu wechseln, aber hier ist es nun als gedrucktes Buch. Tut mir leid. So können und sollten Sie das Material in diesen beiden Teilen in einer Reihenfolge lesen, die Ihnen zusagt – auch ein Hin- und Herwechseln zwischen den Kapiteln ist möglich. Meine Absicht war, dass beide Teile allein stehen und sich gegenseitig beleuchten. Die volle Bedeutung ergibt sich daraus, wie Sie die Kapitel für Ihre eigenen Zwecke zusammenknüpfen, welche Zwecke es auch sein mögen. Wenn dies so gelingt, wie ich hoffe, werden sowohl Sozialwissenschaftler als auch Künstler mit dokumentarischen Interessen etwas Nützliches finden. Chicago, 1985 – San Francisco, 2006 7

Danksagungen

Dieses Projekt begann in den 1980er Jahren, als meine Kollegen an der Northwestern University (besonders Andrew C. Gordon) und ich eine Förderung von der inzwischen nicht mehr existierenden System Development Foundation erhielten, um „Modes of Representation of Society“ zu untersuchen. Dieser vage Titel sollte unsere verschiedenen Interessen an der Fotografie, an statistischen Grafiken, am Theater und fast allen anderen Medien umfassen, die jemand irgendeinmal verwendet hat, um anderen zu erzählen, was sie meinten, über die Gesellschaft zu wissen. Jahrelang arbeiteten mehrere Leute mit uns daran, aber wir haben niemals den enormen Bericht verfasst, den dieser pompöse Titel erforderte. Ich schrieb einen Aufsatz (der hier in etwas abgeänderter Form in manchen Kapiteln erscheint), und andere Leute schrieben auch etwas. Wir alle erzeugten einen Berg von Notizen. Zum Schluss gingen wir alle unsere eigenen Wege, und damit schien das Ende gekommen zu sein. Der Mangel an einem dicken Buch schien die düstere Vorhersage eines Vorstandsmitglieds der Stiftung zu bestätigen, dass die Förderung zu nichts führen würde. Irgendwann Mitte der 1990er Jahre war ich erneut an diesen Fragen interessiert, und im Frühjahr 1997, als Gastprofessor im Fachbereich Soziologie an der University of California in Santa Barbara, hielt ich ein Seminar, „Telling About Society“, das ich im folgenden Jahr an der University of Washington wiederholte. Beide Klassen stimulierten meine Gedanken über dieses Thema. Nach jeder Klasse machte ich mir umfangreiche Notizen, die in verschiedenen Umsetzungen ihren Weg in dieses Buch gefunden haben. Ich weiß nicht mehr, welche Klasse welche Ideen auslöste. Ich beziehe mich daher im Folgenden auf „das Seminar“, wenn ich etwas erzähle, das sich in einer dieser beiden Lehrveranstaltungen ereignet hat. Die Studenten in beiden Klassen waren ein abenteuerlustiger Haufen, gewillt, ein Vierteljahr mit etwas Zeit zu vertrödeln, das keinen professionellen Zweck zu haben schien. Ich danke ihnen allen für ihre wilde und streitlustige Beteiligung, die die Hauptquelle für all diese vielen Notizen darstellte. 9

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Ich werde nicht versuchen, all die Personen zu nennen, deren Unterhaltung und Beispiel mich in diesen langen Jahren beeinflusst hat. Ich finde es zu schwierig, mich zu erinnern; ich würde gewiss Leute auslassen, und sie wissen oder können sich denken, wer sie sind. Dianne Hagaman half auf jede erdenkliche Art, auch – und das ist etwas, was Leute, die sie nicht kennen, kaum von ihr erwarten würden – mit ihrer enormen Expertise zu Jane Austen und Pride and Prejudice, die aus Jahren liebevoller Studien herrührt. Ohne ihre Hilfe hätte ich nie gewagt, Kapitel 14 zu schreiben. An dieser Stelle möchte ich auch Reiner Keller danken, der einige sachliche Fehler aus dem amerikanischen Original stillschweigend korrigiert hat. Im Laufe der Jahre habe ich eine Anzahl an Aufsätzen verfasst, die hier und da erschienen sind, und ich habe manche von ihnen, meistens in etwas abgeänderter Form, in diesem Buch verarbeitet. Die folgenden Titel erscheinen ganz oder teilweise in verschiedenen Kapiteln: • „Telling About Society“ in Howard S. Becker 1986: Doing Things Together. Evanston, IL: Northwestern University Press, 121–136: Kapitel 1. • „Categories and Comparisons: How We Find Meaning in Photographs“. Visual Anthropology Review, 14 (1998–1999): 3–10: Kapitel 3. • „Aesthetics and Truth“ in Howard S. Becker 1986: Doing Things Together. Evanston, IL: Northwestern University Press, 293–301: Kapitel 7. • „Visual Sociology, Documentary Photography, and Photojournalism: It is (Almost) All a Matter of Context“. Visual Sociology, 10 (1995): 5–14: Kapitel 11. • „La politique de la présentation: Goffman et les institutions totales“ in Charles Amourous, Alain Blanc (Hg.) 2001: Erving Goffman et les institutions totales. Paris: L’Harmattan, 59–77; und auf Englisch als „The Politics of Presentation: Goffman and Total Institutions“. Symbolic Interaction, 26 (2003): 659–669: Kapitel 13. • „Sociologie, sociographie, Perec et Passeron“ in Jean-Louis Fabiani (Hg.) 2001: Le Goût de l’enquête: Pour Jean-Claude Passeron. Paris: L’Harmattan, 289–311; eine gekürzte Version erschien auf Englisch als „Georges Perec‘s Experiments in Social Description“. Ethnography, 2 (2001): 63–76: Kapitel 15. • „Calvino, sociologue Urbain“ in Howard S. Becker 2003: Paroles et musique. Paris: L’Harmattany, 73–89: Kapitel 16.

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Ich wohne seit vielen Jahren in San Francisco, am unteren Hang von Russian Hill oder im oberen Bereich von North Beach. Wie ich die Gegend beschreibe, richtet sich danach, wen ich beeindrucken möchte. Ich wohne in der Nähe von Fisherman‘s Wharf, an der Strecke, die viele Leute dazu benutzen, um von dieser Touristenattraktion zu ihrem Motel in der Innenstadt oder zur „Motelmeile“ an der Lombard Street zu gelangen. Wenn ich aus meinem vorderen Fenster schaue, sehe ich oft Gruppen von Touristen herumstehen, die ihre Straßenkarten studieren und die steile Straße betrachten, die sich zwischen ihnen und ihrem Ziel erstreckt. Was geschieht, ist offensichtlich. Auf der Karte sieht die gerade Linie wie ein bequemer Spaziergang durch eine Wohngegend aus. Man kann sehen, wo die Einheimischen leben. Jetzt denken sie aber so, wie ein junger Engländer sich ausdrückte, dem ich Hilfe anbot: „Ich muss zu meinem Motel, aber ich steige nicht diesen verdammten Hügel hinauf!“ Warum machen die Karten diese Leute nicht auf die Steigungen aufmerksam? Die Kartografen wissen, wie man steile Stellen anzeigt. Es ist also keine Einschränkung des Mediums, die es den Fußgängern unbequem macht. Aber die Karten sind für Autofahrer gedacht, wurden (ursprünglich) von Ölgesellschaften und Reifenherstellern finanziert und in Tankstellen verkauft (Paumgarten 2006: 92). Autofahrer kümmern sich weniger als Fußgänger um steile Straßenzüge. Diese Karten und das Netzwerk der Leute und Organisationen, die sie herstellen und vertreiben, sind beispielhaft für ein allgemeineres Problem. Eine gewöhnliche Straßenkarte von San Francisco ist eine stilisierte Wiedergabe der städtischen Gesellschaft: die visuelle Beschreibung der Straßen und Orientierungspunkte sowie ihre Anordnung im Raum. Sozialwissenschaftler und normale Bürger nutzen routinemäßig nicht nur Karten, sondern auch eine große Vielfalt an anderen Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität. Beliebige Beispiele sind Dokumentarfilme, statistische Tabellen sowie die Geschichten, die sich Leute erzählen, um zu erklären, wer sie sind und was sie tun. Wie die Karten stellen sie alle ein Bild 13 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_1

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dar, das nur einen Teil wiedergibt, aber gleichwohl für manche Zwecke ausreicht. Sie entstehen sämtlich in einem organisatorischen Umfeld, das einschränkt, was getan werden kann, und den Zweck definiert, dem sie zu genügen haben. Dieses Verständnis weist auf mehrere interessante Probleme hin: Wie formen die Bedürfnisse und Praktiken von Organisationen unsere Beschreibungen und Analysen (also Repräsentationen) der gesellschaftlichen Realität? Wie kommen Leute, die diese Repräsentationen benutzen, dazu, sie als passend zu definieren? Solche Fragen wirken sich auf traditionelle Fragen über wissenschaftliche Kenntnisse und Berichte aus, sprechen aber darüber hinaus auch noch Probleme an, die wir traditionell mit Kunst sowie mit Erfahrungen und Analysen des täglichen Lebens verbinden. Seit vielen Jahren befasse ich mich professionell und auch aus angeborener Neugier mit den verschiedenen Möglichkeiten, unsere Gesellschaft zu beschreiben. Ich bin Soziologe, und darum kommen mir zu allererst solche Arten des Erzählens in den Sinn, die Soziologen gewöhnlich benutzen: ethnografische Beschreibungen, theoretische Diskurse, statistische Tabellen (und solche visuellen Repräsentationen von Zahlen wie Balkendiagramme), historische Narrative usw. Aber vor vielen Jahren besuchte ich eine Kunstschule, um Fotograf zu werden, und dabei entwickelte ich ein starkes und dauerndes Interesse an fotografischen Repräsentationen der Gesellschaft, die seit der Erfindung dieses Mediums von Dokumentar- und anderen Fotografen angefertigt worden sind. Das führte ganz natürlich zu der Erwägung, Film könne ein weiteres Mittel sein, die Gesellschaft darzustellen, und zwar nicht nur Dokumentarfilme, sondern auch Spielfilme. Ich war seit meiner Kindheit ein begeisterter Leser gewesen. Wie die meisten Leseratten wusste ich, dass Geschichten nicht nur erträumte Fantasien enthalten, sondern auch lesenswerte Beobachtungen über unsere Gesellschaft, wie sie aufgebaut ist und funktioniert. Warum nicht auch die dramatische Repräsentation von Geschichten auf der Bühne? Weil ich schon immer daran interessiert und damit beschäftigt war, etwas über die Gesellschaft zu erzählen, nahm ich mir vor, von der etwas willkürlichen, wahllosen Sammlung von Beispielen Gebrauch zu machen, die sich in meinem Kopf eingelagert hatte. Um was zu tun? Um die Probleme zu erkennen, die man lösen muss, wenn man die Gesellschaft darstellen möchte, welche Lösungen mit welchen Ergebnissen gefunden und erprobt worden sind. Um zu sehen, welche gemeinsamen Probleme verschiedene Medien haben und wie die Lösungen, die für die eine Art des Erzählens funktionieren, aussehen, wenn man sie in anderen Formen ausprobiert. Um beispielsweise zu erkennen, was statistische Tabellen mit fotografischen Projekten oder was mathematische Modelle mit Avantgarde-Romanen gemeinsam haben. Um zu lernen, welche Problemlösungen ein Gebiet von einem anderen übernehmen könnte. Folglich bin ich an Romanen, Statistik, historischen Repräsentationen, Ethnografien, Fotografien, Filmen und allen anderen Wegen interessiert, mit denen

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man versucht, anderen zu erzählen, was man über seine eigene Gesellschaft weiß oder eine andere, die einen interessiert. Ich nenne die Produkte all dieser Aktivitäten in all diesen Medien „Berichte über die Gesellschaft“ oder manchmal „Repräsentationen der Gesellschaft“. Welche Probleme und Fragen ergeben sich beim Verfassen solcher Berichte in den verschiedenen Medien? Aus den Dingen, über die die Leute, die mit diesen Aufgaben beschäftigt sind, miteinander reden und sich beschweren, habe ich eine Liste dieser Fragen erstellt. Dabei habe ich als Grundprinzip der Forschung folgende Idee verwendet: Wenn es ein Problem bei einer Repräsentationsart gibt, dann tritt dieses Problem überall auf. Aber die Leute, die auf einem Gebiet arbeiten, könnten das Problem schon zufriedenstellend gelöst haben und halten es gar nicht mehr für ein Problem, während es für andere Leute ein unlösbares Dilemma darzustellen scheint. Das bedeutet, die einen können von den anderen etwas lernen. Ich bin bei diesen Vergleichen umfassend vorgegangen und habe (zumindest prinzipiell) jedes Medium und jedes Genre berücksichtigt, das Menschen zur Verfügung steht oder jemals stand. Natürlich habe ich nicht über alles gesprochen. Aber ich habe versucht, die nächstliegenden konventionellen Vorurteile zu vermeiden, und habe nicht nur seriöse wissenschaftliche Formate und solche, die von Fachleuten in anerkannten Wissenschaften erfunden und angewandt worden sind, sondern auch die von Künstlern und Laien verwendeten Formate in Betracht gezogen. Es bietet sich eine Liste folgender Themen an: aus den Sozialwissenschaften Repräsentationsformen wie mathematische Modelle, statistische Tabellen und Grafiken, Karten, ethnografische Prosa und historische Erzählungen; aus der Kunst Romane, Filme, Fotografien und Schauspiel; aus den großen Schattenbereichen dazwischen: Lebenserinnerungen und sonstiges biografisches und autobiografisches Material, Reportagen (einschließlich der gemischten Genres „Doku-Drama“, Dokumentarfilm und fiktionalisierte Tatsachen), das Erzählen von Geschichten, die Kartografie und andere darstellende Aktivitäten von Laien (oder laienhaft arbeitenden Menschen, wie es sogar Fachleute meistens tun).

Wer erzählt? Wir sind alle interessiert an der Gesellschaft, in der wir leben. Schon auf Routinebasis und auf ganz gewöhnliche Weise müssen wir wissen, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Nach welchen Regeln richten sich die Organisationen, zu denen wir gehören? Welche Routinemuster des Verhaltens sind für andere wichtig? Wenn wir das wissen, können wir unser eigenes Verhalten einrichten, lernen, was wir wollen, 15

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wie wir es bekommen, wie viel es kostet, welche Handlungsmöglichkeiten uns die verschiedenen Situationen bieten. Wo lernen wir das alles? Unmittelbar aus unserer Erfahrung des täglichen Lebens. Wir interagieren mit allen möglichen Menschen und Gruppen und Organisationen. Wir sprechen mit Menschen aller Arten in allen möglichen Situationen. Natürlich nicht aller Arten: Die persönlichen gesellschaftlichen Erfahrungen der Einzelnen sind durch ihre sozialen Beziehungen begrenzt, ihren Stand in der Gesellschaft, ihre wirtschaftlichen Ressourcen, ihren geografischen Standort. Man kann mit diesem beschränkten Wissen auskommen, aber in der modernen Gesellschaft (wahrscheinlich in allen Gesellschaften) müssen wir mehr wissen, als wir aus persönlicher Erfahrung lernen. Wir müssen oder zumindest möchten über andere Leute und Orte Bescheid wissen, über andere Situationen, andere Zeiten, andere Lebensweisen, andere Möglichkeiten, andere Gelegenheiten. So halten wir Ausschau nach „Darstellungen“, „Beschreibungen“ bzw. „Repräsentationen der Gesellschaft“, in der andere Menschen uns über all diese Situationen, Orte und Zeiten erzählen, die wir nicht aus erster Hand kennen, über die wir aber etwas wissen wollen. Mit den zusätzlichen Informationen können wir komplexer planen und umfassender auf unsere unmittelbaren Lebenssituationen reagieren. Einfach ausgedrückt, ist eine „Repräsentation der Gesellschaft“ etwas, das jemand uns über einen Lebensbereich erzählt. Diese Definition deckt einen weiten Bereich ab. Am einen Extrem liegen die gewöhnlichen Repräsentationen, die wir uns gegenseitig als Laien im Laufe des täglichen Lebens bieten. Beispiel: Kartografie. In vielen Situationen und für viele Zwecke ist dies eine höchst professionelle Tätigkeit, die auf Jahrhunderten kombinierter Erfahrungen, auf mathematischem Wissen und wissenschaftlicher Gelehrsamkeit beruht. Aber in vielen anderen Situationen ist es eine alltägliche Tätigkeit, die wir alle manchmal ausüben. Ich bitte Sie, mich gelegentlich einmal zu besuchen, aber Sie wissen nicht, wie man dorthin gelangt, wo ich wohne. Ich kann Ihnen die Richtung mündlich darstellen: „Von Berkeley kommend nehmen Sie die erste Ausfahrt an der Bay Bridge, halten sich unten links, fahren einige Ampeln weiter und biegen dann in Richtung Sacramento ab, fahren weiter, bis Sie nach Kearny kommen, biegen rechts ab und fahren zum Columbus …“ Ich kann auch vorschlagen, dass Sie zusammen mit meinen Anweisungen eine normale Straßenkarte benutzen, oder ich sage Ihnen, dass ich an der Ecke Lombard und Jones wohne, und überlasse es Ihnen, diese Kreuzung auf der Karte zu finden. Oder ich kann Ihnen meine eigene kleine Karte zeichnen, persönlich auf Sie zugeschnitten. Ich zeige Ihnen, wo Sie von „Ihrem Haus“ aus starten, zeichne die relevanten Straßen ein und wo Sie abbiegen sollen, wie lang jede Strecke ist, an welchen auffälligen Stellen Sie vorbeikommen und wodurch Sie merken, dass Sie

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an „meinem Haus“ angekommen sind. Heutzutage lässt sich das alles im Internet nachsehen, oder Sie können Ihr „Navi“ benutzen. Dies sind alles Repräsentationen eines Ausschnitts der Gesellschaft, die in einer einfachen geografischen Beziehung enthalten sind. Einfacher und besser wäre es zu sagen, dass es sich dabei um Möglichkeiten handelt, über die Gesellschaft oder einen Teil davon zu erzählen. Manche Dinge wie die normale Straßenkarte oder die Computerbeschreibung werden von hochqualifizierten Experten hergestellt, die mit vielen spezialisierten Geräten und Kenntnissen arbeiten. Die mündliche Beschreibung und die selbst gezeichnete Karte stammen von Leuten wie den Nutzern selbst, von Leuten, deren geografische Kenntnisse oder Fähigkeiten nicht besser sind als die jedes normal kompetenten Erwachsenen. Alles genügt, auf verschiedene Weise, um jemanden von einem Ort zum anderen zu führen. Meine eigenen akademischen Kollegen – Soziologen und andere Sozialwissenschaftler – reden gerne so, als hätten sie ein Monopol für die Gestaltung solcher Repräsentationen, als sei das Wissen über die Gesellschaft, das sie erzeugen, das einzige „wahre“ Wissen über dieses Thema. Das stimmt aber nicht. Und sie stellen den ebenso lächerlichen Anspruch, die Art und Weise, in der sie über Gesellschaft erzählen, sei der beste Weg, diese Arbeit zu vollbringen oder die einzige Weise, es richtig zu tun, oder dass ihre Vorgehensweise alle möglichen schlimmen Fehler verhindert, die wir sonst machen würden. Diese Art von Gerede ist weiter nichts als die übliche akademische Anmaßung. Wenn wir uns überlegen, wie andere Leute auf anderen Gebieten – bildende Künstler, Romanschriftsteller, Dramatiker, Fotografen und Filmemacher – sowie Laien die Gesellschaft darstellen, dann zeigen sich analytische Dimensionen und Möglichkeiten, die von der Sozialwissenschaft oft ignoriert worden sind, die sonst aber nützlich sein können. Ich werde mich auf darstellende Arbeiten von Sozialwissenschaftlern, aber auch auf die Arbeiten anderer Berufe konzentrieren. Sozialwissenschaftler wissen, wie sie ihre Arbeit zu tun haben, und das passt für viele Zwecke. Aber ihre Wege sind nicht die einzigen Wege. Welche anderen Methoden gibt es denn? Wir können darstellende Aktivitäten auf verschiedene Weise kategorisieren. Wir könnten über Medien sprechen – zum Beispiel Film vs. Wörter vs. Zahlen. Wir könnten über die Absicht der Macher reden: Wissenschaft vs. Kunst vs. Reportage. Ein solcher umfassender Überblick würde viele Zwecke erfüllen, aber nicht meinen Zweck, generische Probleme der Repräsentation und die Vielfalt der bisher in der Welt erzeugten Lösungen zu erkunden. Die Untersuchung mancher wesentlicher, hoch organisierter Methoden, über Gesellschaft zu erzählen, bedeutet, dass wir uns mit den Unterschieden zwischen Wissenschaft, Kunst und Reportage auseinandersetzen müssen. Es handelt sich nicht so sehr um unterschiedliche Wege etwas zu tun, sondern vielmehr um 17

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Möglichkeiten, das zu organisieren, was aus der Sicht von Materialien und Methoden so ziemlich die gleiche Aktivität sein könnte. (Weiter unten, in Kapitel 11, vergleiche ich drei Möglichkeiten, Standfotografien zu verwenden, nämlich sie als Kunst, Journalismus oder Sozialwissenschaft zu betrachten.) Das Erzählen über Gesellschaft impliziert üblicherweise eine Interpretationsgemeinschaft, eine Organisation von Leuten („die Macher“), die spezifische standardisierte Repräsentationen für andere („die Nutzer“) erzeugen, die sie üblicherweise für Standardzwecke einsetzen. Die Macher und die Nutzer haben ihre Tätigkeiten den Tätigkeiten anderer Menschen angepasst. Damit wird die Organisation des Machens und des Nutzens zumindest zeitweilig eine stabile Einheit, eine Welt im konzeptionell-technischen Sinne, den ich an anderer Stelle entwickelt habe (Becker 1982) und unten näher erläutern werde. Oft genug passen Leute nicht gut in diese organisierten Welten der Hersteller und Nutzer. Diese Experimentierer und Innovatoren handeln nicht, wie es üblich ist, und daher mögen sie nicht viele Nutzer haben. Aber ihre Lösungen für standardmäßige Probleme erzählen uns viel und öffnen uns die Augen für Möglichkeiten, die man mit konventionelleren Methoden nicht erkennt. Interpretative Gemeinschaften leihen häufig Verfahren und Formen aus und nutzen sie, um etwas zu tun, an das die Urheber in der anderen Gemeinschaft gar nicht gedacht hatten oder das sie nicht beabsichtigt hatten. Dadurch entstehen gemischte Methoden und Stile, die sich den veränderlichen Bedingungen in den größeren Gemeinschaften anpassen, denen sie angehören. Das klingt alles sehr abstrakt. Hier folgt eine spezifischere Liste der Standardformate von Erzählungen über Gesellschaft, die beispielhafte Werke der Gesellschaftsrepräsentation hervorgebracht haben und die es gilt, sorgfältig zu betrachten: • Belletristik. Romane und Geschichten haben oft als Mittel der Gesellschaftsanalyse gedient. Die Familien-, Klassen- und Berufsgruppen-Sagas von Schriftstellern, die in ihren Zielen und Talenten so unterschiedlich sind wie Honoré de Balzac, Émile Zola, Thomas Mann, C.P. Snow und Anthony Powell, wurden schon immer so verstanden, dass sie komplexe Beschreibungen des gesellschaftlichen Lebens und seiner konstituierenden Prozesse darstellten, auf denen ihre Kraft und ästhetischen Tugenden beruhten. Sowohl einzeln als auch als Ganzes gesehen, sind die Werke von Charles Dickens als ein Weg verstanden worden (wie er es auch beabsichtigte), einer großen Leserschaft die Organisationen zu beschreiben, die für die Übel verantwortlich waren, unter denen seine Gesellschaft litt. • Drama. Ebenso ist das Theater oft ein Mittel gewesen, das Leben der Gesellschaft zu erkunden und insbesondere soziale Missstände zu beschreiben und zu analysieren. George Bernard Shaw nutzte die dramatische Form, um sein

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Verständnis zu veranschaulichen, wie „soziale Probleme“ entstehen und wie tief sie das Staatswesen durchdringen. Sein Stück Frau Warrens Gewerbe enthüllte das Geschäft der Prostitution, von dem zumindest manche Mitglieder der britischen Oberschichten lebten. Major Barbara erfüllte denselben Zweck für Krieg und die Munitionsindustrie. Viele Bühnenschriftsteller haben Drama für ähnliche Zwecke verwendet (Henrik Ibsen, Arthur Miller, David Mamet). Zu sagen, dass diese Werke sozialanalytisch waren und ihre Autoren sich so betätigt haben, bedeutet nicht, dass sie nur das betrieben haben oder dass ihre Werke nur verkappte Soziologie darstellen. Das stimmt gar nicht. Die Ziele der Autoren gingen weit über die Sozialanalyse hinaus. Aber selbst die formalistischsten Kritiker sollten einsehen, dass ein Teil der Wirkung vieler Kunstwerke von ihrem „soziologischen“ Inhalt abhängt. Und es hängt auch vom Eindruck der Leser und Theaterbesucher ab, es sei in gewisser Hinsicht „wahr“, was diese Werke über Gesellschaft erzählen. • Film. Im offensichtlichsten Fall, dem Dokumentarfilm – sehr bekannte Beispiele sind Barbara Kopples Harlan County, USA (1976) und Edgar Morins und Jean Rouchs Chronique d‘un été (1961) – hat der Film die Beschreibung der Gesellschaft zum Gegenstand, und zwar oft, aber nicht unbedingt offen, auf reformistische Weise und darauf abzielend, dem Publikum die Missstände der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation zu zeigen. Auch Spielfilme wollen oft die Gesellschaft, über die sie erzählen, analysieren und kommentieren, oft sogar die Gesellschaft, aus der sie selbst hervorgehen. Beispiele reichen von Gillo Pontecorvos Pseudodokumentarfilm Schlacht um Algier (1966) bis zu Alia Kazans klassischem Hollywoodfilm Tabu der Gerechten (1947). • Fotografien. Auch Standfotografen haben sich schon seit Anfang des Genres häufig mit Sozialanalyse befasst. Das sehr gut definierte Genre der Dokumentarfotografie hat eine lange, glanzvolle Geschichte. Zu den hervorragenden Beispielen gehören Brassaïs The Secret Paris of the 30‘s (1976), American Photographs von Walker Evans (1975) und Robert Franks The Americans (1969). Bisher habe ich über „künstlerische“ Methoden der Repräsentation unserer Gesellschaft gesprochen. Andere Repräsentationen sind eher „wissenschaftlicher“ Art. • Karten. Karten, die mit der Disziplin der Geografie (speziell der Kartografie) zusammenhängen, sind eine effiziente Methode der Repräsentation großer Mengen an Informationen über Einheiten der Gesellschaft in ihren räumlichen Dimensionen. 19

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• Tabellen. Die Erfindung der statistischen Tabelle im 18. Jahrhundert hat es ermöglicht, riesige Mengen an spezifischen Beobachtungen auf kompakte Weise und in vergleichbaren Formaten zusammenzufassen. Diese kompakten Beschreibungen helfen staatlichen Behörden und anderen, gezielt soziale Handlungen zu organisieren. Die Volkszählung ist ein klassisches Beispiel dafür. Wissenschaftler verwenden Tabellen, um Daten darzustellen, die andere dazu verwenden können, ihre Theorien zu prüfen. Im 20. Jahrhundert wurden Wissenschaftler zunehmend abhängig von der tabellarischen Repräsentation quantitativer, speziell für diesen Zweck gesammelter Daten. • Mathematische Modelle. Manche Sozialwissenschaftler haben das Leben der Gesellschaft dadurch beschrieben, indem sie es auf abstrakte Größen in mathematischen Modellen reduziert haben. Diese bewusst der gesellschaftlichen Realität entrückten Modelle können grundsätzliche Eigenschaften des gesellschaftlichen Lebens vermitteln. Sie sind dazu verwendet worden, gesellschaftliche Phänomene zu analysieren, die so weit auseinander liegen wie Verwandtschaftssysteme und die Welt der kommerziellen Popmusik. • Ethnografie. Eine klassische Form, Gesellschaft zu beschreiben, ist die Ethnografie, die zunächst mündliche Beschreibung des Lebens einer gesellschaftlichen Einheit in ihrer Gesamtheit, ursprünglich – aber nicht mehr ausschließlich – einer kleinen Stammesgemeinschaft. Diese Methode erwies sich auch für die zeitgenössische Forschung geeignet und wird heute weitgehend auf Organisationen aller Art angewandt: Schulen, Fabriken, Stadtviertel, Krankenhäuser sowie gesellschaftliche Bewegungen. Irgendwo zwischen den Extremen der Kunst und der Wissenschaft sind Geschichte und Biografie angesiedelt, gewöhnlich auf detaillierte und genaue Berichte über frühere Ereignisse beschränkt, aber oft auch eine Auswertung sehr genereller Fragen, mit denen sich die anderen Sozialwissenschaften befassen. (Man darf nicht vergessen, dass alle heutigen soziologischen Berichte Rohmaterial für die Historiker der Zukunft darstellen werden. So sind einige Meisterwerke der Soziologie wie die Middletown-Studien von Robert Staughton Lynd und Helen M. Lynd von Gesellschaftsanalysen zu historischen Dokumenten geworden.) Schließlich gibt es die Laien, Außenseiter und Innovatoren, von denen ich bereits sprach. Manche Macher von Gesellschaftsrepräsentationen mischen Methoden und Genres, experimentieren mit Formen und Sprachen, und vermitteln Analysen von gesellschaftlichen Phänomenen, wo wir sie nicht erwarten und in einer Form, die wir weder als Kunst noch als Wissenschaft anerkennen, sondern als ein ungewohntes Genre-Gemisch betrachten. So verwendet Hans Haacke, den man einen Konzept-Künstler nennen kann, unkomplizierte Mittel, um Nutzer zu

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unerwarteten Schlussfolgerungen zu führen. Georges Perec und Italo Calvino, Mitglieder der französischen Gruppe OuLiPo, die sich esoterischen literarischen Experimenten widmete (Motte 1998), haben den Roman in der einen oder anderen Form zum Mittel des subtilen soziologischen Denkens gemacht. Und in David Antins „talk pieces“, Geschichten, die man Literatur nennen mag oder nicht, werden komplexe gesellschaftliche Analysen und Ideen vermittelt. Wie alle derartigen Experimente zwingt uns die Arbeit dieser Künstler, Verfahren neu zu überdenken, die wir gewöhnlich für selbstverständlich gehalten haben. Ich werde mich weiter unten ausführlicher mit ihrem Werk befassen.

Tatsachen Ich muss auf einen wichtigen Unterschied hinweisen, auch wenn er abwegig und irreführend ist und jedes Wort dabei schlüpfrig und unbestimmt erscheint. Ich meine aber, für meinen Zweck schaden diese Fehler nicht viel. Es geht um den Unterschied zwischen „Tatsache“ und „Idee“ (oder „Interpretation“). Ein Teil jedes Berichts über die Gesellschaft (in den verschiedenen Formen, die ich zuvor aufgelistet habe) beschreibt, wie die Dinge sind: wie gewisse Dinge sind – an manchen Orten, manchmal. So und so viele Menschen wohnten gemäß der vom Statistischen Bundesamt der USA durchgeführten Volkszählung im Jahre 2000 in den Vereinigten Staaten. So und so viele sind Frauen und so und so viele sind Männer. Das ist die Altersverteilung der Bevölkerung – so und so viele unter fünf Jahren, so und so viele unter zehn – bis ganz hinauf. Dies ist die Verteilung ihres Einkommens. Dies ist die Einkommensverteilung auf Basis ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts. Dies sind Tatsachen über die US-Bevölkerung, und natürlich stehen mehr oder weniger ähnliche Tatsachen für alle anderen Länder der Welt zur Verfügung. Man kann solche Beschreibungen finden, wenn man nach ihnen sucht: Nachweise, die aus der Arbeit von Demografen und Statistikern im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit resultieren. Auf dieselbe Weise erzählen uns zum Beispiel Anthropologen, wie genau sich diese Leute, die in dieser Gesellschaft leben, den Begriff Verwandtschaft vorstellen und meinen, alle Menschen, die so miteinander verwandt sind, müssten so und so miteinander umgehen. Dies seien – auf klassische Weise ausgedrückt – ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten. Anthropologen stützen ihre Analysen auf Berichte über Tatsachen: Wie reden diese Menschen, wie benehmen sie sich? Das alles steht in den Notizen der Forscher zu ihren Beobachtungen und Gesprächen am Ort, ebenso wie Demografen ihre Beschreibungen der US-Bevölkerung mit Zensusdaten belegen. 21

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In beiden Fällen beginnen die Fachleute mit Beweismaterial, das sie so gesammelt haben, dass ihre Kollegen die Ergebnisse als glaubwürdige Tatsachen anerkennen. Jetzt kommen wir aber zu Vorbehalten. Vor langer Zeit überzeugte mich Thomas Kuhn (1962), dass Tatsachen niemals nur Tatsachen, sondern – wie er sich ausdrückte – „theoriebelastet“ sind. Jede Feststellung einer Tatsache beruht auf einer Theorie, die erklärt, welche Entitäten „da draußen“ zu beschreiben sind, welche Eigenschaften sie haben können, welche davon beobachtet werden können und welche sich nur aus beobachtbaren Eigenschaften ableiten lassen, und so weiter. Oft erscheinen uns Theorien so offensichtlich, als wären sie selbstverständlich. Muss man darüber streiten, woran man ein menschliches Wesen erkennen kann, wenn man eines sieht und von anderen Tieren unterscheidet? Muss man darüber diskutieren, dass sich diese menschlichen Wesen als männlich oder weiblich klassifizieren lassen? Oder als Schwarze, Weiße, Asiaten oder andere Varianten der Hautfarbe? Tatsächlich streiten sich Wissenschaftler und Laien immer über solche Dinge. Beispiel ist die ständig sich ändernde Abgrenzung „rassischer Kategorien“, wie Volkszählungen in vielen Ländern verdeutlichen. In der Natur erscheinen Merkmale wie Geschlecht und Hautfarbe nicht auf offensichtliche Weise. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Art, Jungen von Mädchen und Menschen verschiedener Hautfarbe voneinander zu unterscheiden, sofern die Mitglieder meinen, dies sei wichtig. Aber diese Kategorien beruhen auf Theorien über die wesentlichen Merkmale des Menschen, und das Wesen dieser Kategorien und die Art, Menschen ihnen zuzuordnen, unterscheiden sich von einer Gesellschaft zur anderen. Darum dürfen wir Tatsachen niemals für selbstverständlich halten. Es gibt keine reinen Tatsachen, nur „Tatsachen“, die erst durch zugrundeliegende Theorien Bedeutung erlangen. Außerdem werden Tatsachen erst zu Tatsachen, wenn sie als solche von Leuten anerkannt werden, für die sie relevant sind. Schwelge ich hier in einer schädlichen Form von Relativismus oder boshafter Wortspielerei? Vielleicht; aber ich glaube nicht, dass wir darüber diskutieren müssen, ob die Wissenschaft endlich eine ultimative Realität enthüllen wird, um zu erkennen, dass vernünftige Menschen – auch vernünftige Wissenschaftler – oft verschiedener Meinung darüber sind, was eine Tatsache darstellt und wann eine Tatsache wirklich eine Tatsache ist. Diese Missverständnisse entstehen, weil Wissenschaftler häufig nicht darin übereinstimmen, was einen ausreichenden Beweis für die Existenz einer Tatsache darstellt. Bruno Latour (1987: 23ff.) hat auf treffende, für mich und viele andere ausreichende Weise gezeigt, dass das Schicksal eines wissenschaftlichen Ergebnisses in den Händen jener liegt, die es später aufgreifen. Erkennen sie es als Tatsache an, wird es als Tatsache behandelt. Bedeutet das aber, dass jedes beliebige Ding eine Tatsache sein kann? Nein, weil einer der „Aktanten“ (wie Latour sie wenig elegant nennt),

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die mit der Interpretation übereinstimmen müssen, das Objekt ist, über das die Tatsachenfeststellung getroffen wird. Ich kann ja behaupten, der Mond bestehe aus grünem Käse, aber der Mond müsste kooperieren und solche Merkmale zeigen, die andere Leute als grünem-Käse-ähnlich anerkennen, sonst wird aus meiner Tatsache eine inakzeptable Nicht-Tatsache. Noch schlimmer: Meine Tatsache würde womöglich gar nicht bestritten, sondern einfach ignoriert, und man könnte sagen, dass sie überhaupt nicht existiert, jedenfalls nicht für Wissenschaftler, die den Mond erforschen. Es mag ja eine ultimative Realität geben, aber wir sind alle fehlbare Menschen und können uns irren. Daher sind in der realen Welt, in der wir leben, auch alle Tatsachen anfechtbar. Diese Tatsache ist mindestens ebenso hartnäckig und schwer abzuleugnen wie alle anderen wissenschaftlichen Tatsachen. Schließlich werden Tatsachen nicht allgemein oder von aller Welt akzeptiert, sondern von den bestimmten Zielgruppen, an die wir uns wenden, entweder angenommen oder abgelehnt. Soll das nun heißen, dass die Wissenschaft situationsbezogen ist und ihre Erkenntnisse daher nicht allgemein gültig sind? Ich nehme nicht Stellung zu solchen ultimativen Fragen der Epistemologie, sondern erkenne nur, was augenscheinlich ist: Wenn wir einen Bericht über die Gesellschaft erstellen, tun wir das für jemanden, und wer dieser Jemand ist, bestimmt, wie wir unser Wissen darstellen und wie Nutzer auf die Repräsentation reagieren. Zielgruppen unterscheiden sich – und das ist wichtig – in ihrem Wissen, ihrem Können und ihrem Glauben sowie darin, ob sie etwas aus gutem Glauben oder aufgrund irgendwelcher Beweise akzeptieren. Normalerweise gehen verschiedene Arten von Berichten an verschiedene Zielgruppen: statistische Tabellen an Leute, die mehr oder weniger gelernt haben, sie zu lesen; mathematische Modelle an Fachleute mit höchst spezifischer Ausbildung in den relevanten Disziplinen; Fotografien an eine Vielfalt von Laien und Experten und so weiter. An Stelle von Tatsachen, die durch Beweise untermauert sind, die sie als Tatsachen akzeptabel machen, haben wir Tatsachen, die auf einer Theorie beruhen, und die von manchen Leuten deswegen akzeptiert werden, weil sie auf eine Weise gesammelt wurden, die einer bestimmten Gemeinschaft von Machern und Nutzern akzeptabel erscheint.

Interpretationen Es ist nicht leicht, Interpretationen von Tatsachen zu unterscheiden. In ihrem gesellschaftlichen Kontext unterstellt und fordert jede Tatsache auch Interpretation. Man bewegt sich leicht und ohne viel Nachdenken von einer zur anderen. Dieselbe Tatsache wird verschiedene Interpretationen stützen. Ein provokantes Beispiel: Es 23

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mag sein, dass die Behauptung, Menschen verschiedener Hautfarbe hätten verschiedene Intelligenzquotienten, eine Tatsache ist – bewiesen mit Tests, die gemeinhin von Psychologen angewendet werden, die ein Geschäft daraus machen, solche Messungen durchzuführen. Jedoch aus solchen Beweisen abzuleiten, dass derartige Unterschiede genetisch sind – erblich und daher nicht einfach veränderlich – ist keine Tatsache, sondern eine Interpretation der Bedeutung einer dargestellten Tatsache. Eine alternative Interpretation besagt, dass der IQ-Test kulturspezifisch und daher ungeeignet ist, verschiedene Populationen zu vergleichen. Auch die Befunde über Hautfarbe, Geschlecht und Einkommen, die wir aus US-Zensusdaten ableiten, sprechen nicht für sich. Jemand spricht für sie und interpretiert ihre Bedeutung. Es wird mehr über Interpretationen statt über Tatsachen diskutiert. Wir können mit den Zahlen einverstanden sein, die Beziehungen zwischen Geschlechtern, Hautfarben und Einkommensgruppen beschreiben, aber dieselben Zensusdaten können auch dazu dienen, die Existenz von Diskriminierung, den Rückgang der Diskriminierung, die gemeinsame Auswirkung von zwei benachteiligten Bedingungen (wie weiblich und schwarz) auf das Einkommen, oder andere mögliche Geschichten darzustellen. Ein Bericht über die Gesellschaft ist daher ein Artefakt aus Tatsachenberichten auf der Basis von Beweisen, die für manche Zielgruppen akzeptabel sind, und aus Interpretationen dieser Tatsachen, die für mache Zielgruppen ähnlich akzeptabel sind.

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Repräsentationen der Gesellschaft als Produkt von Organisationen 2 Repräsentationen der Gesellschaft als Produkt von Organisationen

Wer Tatsachen über die Gesellschaft sammelt und interpretiert, fängt nicht bei jedem Bericht ganz von vorne an. Man verwendet Formen, Methoden und Ideen, die bei dieser oder jener gesellschaftlichen Gruppe – groß oder klein – bereits für solche Zwecke zur Verfügung stehen. Berichte über die Gesellschaft (nicht vergessen: Repräsentation und Bericht verweisen hier auf dasselbe) machen am meisten Sinn, wenn man sie in organisatorischen Kontexten begreift, als Tätigkeiten oder Arten und Weisen, womit manche Leute das, was sie zu wissen glauben, anderen Leuten erzählen, die das wissen wollen; also als organisatorische Aktivitäten, die durch die gemeinsamen Anstrengungen aller daran Beteiligten geprägt sind. Es ist ein irreführender Fehler, sich auf Substantive statt auf Verben, auf Objekte statt auf Tätigkeiten zu konzentrieren, als würden wir die Tabellen oder Diagramme, Ethnografien oder Filme selbst untersuchen. Es ist sinnvoller, diese Artefakte als die erstarrten Überreste von gemeinsamen Aktionen zu betrachten, die immer dann wieder lebendig werden, wenn jemand sie benutzt, so wie Menschen Karten oder Prosa herstellen und lesen, Filme drehen und anschauen. Wir sollten den Ausdruck „ein Film“ immer als Kürzel für die Tätigkeiten „einen Film machen“ oder „einen Film anschauen“ auffassen. Dies ist eine wichtige Unterscheidung. Wenn wir uns auf den Gegenstand konzentrieren, richten wir unser Augenmerk fälschlicherweise auf die formellen und technischen Möglichkeiten eines Mediums. Wie viele Bits an Informationen kann ein Fernsehmonitor mit einem bestimmten Auflösungsgrad vermitteln? Kann ein rein visuelles Medium logische Begriffe wie beispielsweise Kausalität vermitteln? Die Konzentration auf organisierte Aktivitäten hingegen zeigt, dass die Möglichkeit eines Mediums immer eine Funktion der Art und Weise ist, wie organisatorische Einschränkungen seine Nutzung beeinflussen. Was Fotografien mitteilen können, hängt zum Teil vom Budget des Fotoprojekts ab, das einschränkt, wie viele Fotos genutzt und wie sie ausgestellt werden können, wie viel Geld für ihre Herstellung zur Verfügung steht (in anderen Worten, wie viel Arbeitszeit des 25 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_2

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Fotografen bezahlt wird), aber auch davon, wie viel und welche Aufmerksamkeit Betrachter dafür aufwenden, sie zu interpretieren. Berichte über Gesellschaft als organisatorische Aktivität zu sehen, bedeutet, dass man sämtliche Aspekte der sie erstellenden Organisationen in die Analyse einbringt: die bürokratischen Strukturen, Budgets, Berufsordnungen, die Merkmale und Fähigkeiten der Zielgruppe beeinflussen das Erzählen über Gesellschaft. Die Beschäftigten entscheiden, wie man bei Repräsentationen vorgeht, indem sie sehen, was unter den gegebenen Umständen möglich, logisch, machbar und wünschenswert ist und für welche Leute sie das machen. Es ist sinnvoll – etwa analog zur Idee einer Kunstwelt (Becker 1982) –, von Wel­ ten der Macher und der Nutzer von Repräsentationen zu sprechen: den Welten des Dokumentarfilms, der statistischen Grafik, der mathematischen Modelle oder der anthropologischen Monografien. Diese Welten bestehen aus all den Menschen und Artefakten, deren Herstellungs- und Nutzungsaktivitäten sich auf eine bestimmte Art der Repräsentation konzentrieren: zum Beispiel all die Kartografen, Wissenschaftler, Datensammler, Drucker, Designer, Unternehmen, Geografieabteilungen, Piloten, Schiffskapitäne, Fahrer und Fußgänger, deren Zusammenarbeit eine Welt der Landkarten erzeugt. Diese Welten unterscheiden sich im relativen Wissen und in der relativen Macht der Macher und Nutzer. In höchst professionalisierten Welten stellen Fachleute Artefakte vorwiegend zum Gebrauch durch andere Fachleute her. Forscher erstellen ihre Berichte und Aufzeichnungen (Latour, Woolgar 1979; Latour 1983; 1986; 1987) für Kollegen, die ebenso viel (oder fast so viel) von der Arbeit verstehen wie sie selbst. Im Extremfall sind die Macher mit den Nutzern identisch – eine Situation, die in so esoterischen Welten wie beispielsweise dem mathematischen Modellieren fast erreicht wird. Angehörige von stärker differenzierten Welten teilen normalerweise ein gewisses Grundwissen, trotz der Unterschiede zwischen ihren eigentlichen Arbeitsgebieten. Darum lernen Soziologiestudenten, die niemals statistisch arbeiten werden, die neuesten Versionen der multivariaten statistischen Analyse. Andere Experten leisten jedoch die meiste Arbeit für Laien-Nutzer: Kartografen erzeugen Karten für Autofahrer, deren kartografisches Wissen gerade ausreicht, um die nächstliegende Stadt zu erreichen, und Filmemacher drehen Filme für ein Publikum, das nie von einem Sprungschnitt gehört hat. (Natürlich machen sich diese Spezialisten auch Sorgen darüber, was ihre professionellen Kollegen über ihre Arbeit denken.) Laien erzählen Geschichten, erzeugen ebenfalls Karten und schreiben für einander Zahlen auf. Was erzeugt, kommuniziert und verstanden wird, variiert nach solchen typischen Umfeldern.

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Deshalb ist es sinnlos, von Medien oder Formen in abstrakten Begriffen zu sprechen, obwohl ich das auch schon selbst getan habe und auch weiterhin tun werde. Abstrakte Substantive wie „Film“ oder „statistische Tabellen“ brauchen nicht nur aktive Verben wie „machen“ oder „anschauen“, damit sie überhaupt erst Bedeutung erlangen, sondern sind auch selbst Kürzel für inhaltlich spezifischere Formulierungen wie die „für den Zensus erstellten Tabellen“ oder wie „aufwändige Blockbuster-Filme, die in Hollywood gemacht wurden“. Die organisatorischen Einschränkungen des Zensus und die von Hollywood denkt man sich am besten als wesentliche Bestandteile der dabei entstehenden Werke. So unterscheidet sich mein Fokus von einem häufigeren und traditionellen Fokus, bei dem das Artefakt als die Hauptsache gilt, und die Aktivitäten, mit denen es erzeugt und konsumiert wird, als sekundär gelten. Form und Inhalt von Repräsentationen sind unterschiedlich, weil sich die gesellschaftlichen Organisationen unterscheiden. Die gesellschaftliche Organisation formt nicht nur, was gemacht wird, sondern auch, was Nutzer mit der Repräsentation anfangen wollen, welche Arbeiten ihrer Ansicht nach zu leisten sind (etwa wie man den Weg zu einem Freund findet oder wie man die neuesten Befunde seines Fachgebiets erfährt), und welche Standards sie anwenden, um urteilen zu können. Da die Leistungen, die Nutzer von Repräsentationen verlangen, so stark von organisatorischen Definitionen abhängen, kümmere ich mich nicht darum, was viele Leute für ein großes methodologisches Problem (sogar für das Problem schlechthin) halten: Was ist die beste Art und Weise, eine bestimmte Repräsentations-Aufgabe zu erfüllen? Wenn das die Frage wäre, könnte man eine Aufgabe stellen – zum Beispiel eine Reihe von Zahlen zu kommunizieren – und könnte dann herausfinden, mit welchem System man eine Tabelle oder Grafik aufstellt, um die Informationen auf ehrlichste, ausreichende und effizienteste Weise zu kommunizieren (so wie man Computer vergleicht, indem man feststellt, wie schnell sie Primzahlen finden können). Ich vermeide Urteile über die Zuverlässigkeit einer Art von Repräsentation und nehme keine als Maßstab, mit der alle anderen Methoden zu vergleichen sind. Ich vertrete auch nicht die etwas relativistischere Position, dass zwar die zu leistenden Arbeiten unterschiedlich sein mögen, es aber für jede einen optimalen Weg gibt. Das ist auch keine relativistische Askese meinerseits. Es scheint nützlicher zu sein und eher zu einem neuen Verständnis von Repräsentationen zu führen, wenn man jede Art der Repräsentation gesellschaftlicher Realität für perfekt hält – für etwas. Es fragt sich nur, für welches Etwas ist sie gut? Die Antwort darauf ist organisatorisch: Da die Organisation jenes Bereichs des sozialen Lebens eine (oder mehrere) Repräsentationen zu derjenigen Aufgabe gemacht hat, die getan werden muss, beurteilen sowohl Nutzer als auch Macher jede Methode danach, wie sie mit Effizienz und Zuverlässigkeit das bestmögliche Ergebnis oder 27

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vielleicht einfach ein weniger unbefriedigendes Ergebnis erzielen kann als andere verfügbare Möglichkeiten. Trotz oberflächlicher Unterschiede zwischen Genres und Medien treten in allen die gleichen fundamentalen Probleme auf. Der Einfluss von Budgets, die Rolle der Professionalisierung, welche Kenntnisse die Zielgruppen haben müssen, damit die Repräsentation Erfolg hat, was bei der Repräsentation ethisch zulässig ist – das haben alle Arten von Repräsentation gemeinsam. Wie man mit diesen Problemen umgeht, richtet sich nach den Ressourcen und Zwecken der Organisation. Solche Probleme werden in allen Feldern diskutiert, die sich mit Repräsentationen befassen. Romanschriftsteller sorgen sich um dieselben ethischen Konflikte wie Soziologen und Anthropologen. Filmemacher müssen sich ebenso um Budgets Gedanken machen wie Sozialwissenschaftler. Aus der Literatur zu diesen Debatten und aus informellen Beobachtungen und Interviews in diesen Feldern konnte ich viele Informationen erhalten. Auch die Wissenschaftssoziologie, die sich mit Problemen der Repräsentation und der Rhetorik befasst, fand ich sehr hilfreich (siehe zum Beispiel Gusfield 1976; 1981, insb.: 83ff.; Latour, Bastide 1986; Bazerman 1988; Clifford 1988; Geertz 1983).

Transformationen Wissenschaftler, wie Latour sie beschreibt, transformieren ihre Materialien ständig. Sie beginnen mit einer Beobachtung im Labor oder im Feld, verwandeln diese Beobachtung in schriftliche Form im Notizbuch, die Notizen in eine Tabelle, die Tabelle in ein Diagramm, das Diagramm in eine Schlussfolgerung und die Schlussfolgerung in den Titel eines Artikels. Bei jedem Schritt wird die Beobachtung abstrakter, weiter losgelöst von der Greifbarkeit des ursprünglichen Settings. In einer Abhandlung über in Brasilien arbeitende französische Bodenkundler stellt Latour dar, wie diese Transformationen stattfinden: wie aus einem Klumpen Erde ein Stück wissenschaftliches Beweismaterial wird, wenn die Forscher den Boden in eine Schachtel packen und ihn in einen Teil einer Reihe ähnlicher, vergleichbarer Klumpen aus anderen Teilen desselben Ackers verwandeln, in dem sie gearbeitet hatten (Latour 1995). Laut Latour besteht die Arbeit von Wissenschaftlern aus der Transformation von Gegenständen, um das zu „zeigen“ oder zu „beweisen“, mit dem sie andere Wissenschaftler überzeugen wollen. Naturwissenschaftler führen diese Transformationen auf standardisierte Weise durch. Sie verwenden Standardinstrumente, um standardisierte Verfahren an standardisiertem Material durchzuführen. Dann berichten sie die Ergebnisse mit standardisierten Methoden, die so ausgelegt sind, dass sie Empfängern vermitteln,

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was sie brauchen, um die vorgelegten Ideen zu beurteilen, ohne sie mit anderem Material zu belasten, das sie nicht brauchen. Was gebraucht wird, bestimmt die Konvention. Man braucht alles, was mögliche Fragen beantwortet, und nichts, wonach niemand fragt. Ähnliches geschieht auch bei jeder Art von Repräsentation über unser gesellschaftliches Leben. Mit welchem Rohmaterial beginnen die Macher? Welchen Transformationen unterziehen sie das Material? Laut Latour liegt das Schicksal eines wissenschaftlichen Arguments oder Befundes immer in den Händen späterer Nutzer. Sie entscheiden, ob es abgelehnt oder akzeptiert und in eine Gesamtheit von Tatsachen eingefügt wird, die alle Angehörigen der spezifischen Wissenschaft dann akzeptieren (Latour 1987: 29). Welche Nutzer diese wichtigen Entscheidungen treffen, ist immer eine relevante Frage. In manchen Welten verlässt die Repräsentation bald die „Insider“-Welt der Macher, Experten und Eingeweihten und dringt in die Welt der Laien ein. Was dann dort mit der Repräsentation geschieht, kann sehr stark von der Absicht der Macher abweichen. Macher versuchen zu steuern, was die Nutzer mit ihrer Repräsentation anfangen, indem sie die zugelassenen Nutzungen und Interpretationen einschränken. Aber oft machen Autoren die bizarre Erfahrung, dass Leser ihnen erklären, ihr Werk habe eine Bedeutung, die sie mit viel Mühe versucht hatten zu vermeiden. Hier ist eine Checkliste interessanter Fragen in Bezug auf Transformationen, die das Material sowohl in den Händen der Macher als auch in denen der Nutzer durchlaufen kann: • Welchen Weg schlägt der Gegenstand ein, nachdem er die ursprünglichen Macher verlässt? • Was machen die Leute, in deren Hände er fällt, in jedem Stadium daraus? • Wozu brauchen oder wollen sie ihn? • Welche Mittel stehen ihnen zur Interpretation zur Verfügung? • Welche im Gegenstand enthaltenen Elemente begrenzen die Betrachtung und Interpretation? • Wie vermeiden Macher wechselnde Interpretationen? • Wie verhindern sie, dass Nutzer alles Mögliche daraus machen? • Laut Latour ist eine wissenschaftliche Tatsache eine Behauptung, die Widerlegungsversuchen standgehalten hat (Latour 1987: 74ff., 87ff.). Wer unternimmt welche Tests mit Repräsentationen der Gesellschaft? • In welchen typischen Testarenen (Zeitungen, Theaterhäuser usw.) werden Repräsentationen vorgestellt, und wo führen Leute, die wissen möchten, ob sie der Wahrheit entsprechen, solche Prüfungen durch?

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Repräsentationen machen Alle Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität – Dokumentarfilme, demografische Studien, realistische Romane – sind notwendigerweise unvollständig. Sie zeigen weniger als man selbst erfahren würde und interpretieren könnte, wenn man sich in der tatsächlichen Situation befände. Das ist schließlich der Grund, warum Repräsentationen vorgelegt werden: Sie sollen nur mitteilen, was Nutzer brauchen, damit sie tun können, was sie wollen. Eine wirkungsvolle Repräsentation sagt uns alles, was wir zu unserem Zweck wissen müssen, ohne unsere Zeit mit unnötigen Dingen zu verschwenden. Jeder erwartet, dass diese Artefakte schon auf solche Weise zugeschnitten sind. Macher und Nutzer von Repräsentationen müssen deswegen die Wirklichkeit, die sie erfahren, mehreren Operationen unterziehen, um das endgültige Verständnis zu erzielen, das sie kommunizieren wollen. Die gesellschaftliche Organisation beeinflusst das Machen und Nutzen von Repräsentationen, indem sie beeinflusst, wie die Macher diese Tätigkeiten durchführen. Auswahl: Jedes Medium lässt bei seinen konventionellen Anwendungen viel – sogar die meiste – Realität aus. Selbst Medien, die scheinbar umfassender sind als die offensichtlich abstrakten Worte und Zahlen von Sozialwissenschaftlern, lassen praktisch alles aus. Bilder, Stummfilme, Tonfilme und Videos lassen die dritte Dimension, Düfte und taktile Empfindungen aus. Unvermeidlich zeigen sie nur einen kleinen Ausschnitt aus der gesamten Zeitspanne, in der die dargestellten Ereignisse stattfanden. Immerhin stellte Andy Warhol in seinem Film Sleep etwa fünf Stunden lang ein einziges Ereignis dar, so lang wie es eben dauerte: den tatsächlichen Schlaf eines Menschen. Schriftliche Repräsentationen lassen meistens, allerdings nicht notwendigerweise, alle bildlichen Elemente der geschilderten Erfahrungen aus. Leser sind immer noch erstaunt, wenn beispielsweise ein Schriftsteller wie W.G. Sebald (2001) Fotos in seinen Roman einfügt. Jedes Medium lässt aus, was geschieht, nachdem wir unsere darstellenden Aktivitäten beenden. Es beschreibt, was bisher geschehen ist, und hört dann auf. Manche Soziologen weisen darauf hin, dass zahlenförmige Repräsentationen das menschliche Element, unsere Gefühle oder den symbolisch ausgehandelten Sinn auslassen. Diese Wissenschaftler nutzen Vollständigkeit als Kriterium der Kritik von Arbeiten, die ihnen nicht gefallen. Doch niemand, weder Macher noch Nutzer, betrachtet die Unvollständigkeit selbst jemals als Verbrechen. Stattdessen hält man das für ganz normal. Straßenkarten, ungeheuer abstrakte und unvollständige Repräsentationen der geografischen Realität, die sie darstellen sollen, genügen selbst dem strengsten Kritiker unvollständiger Werke. Sie enthalten genau das, was Fahrer brauchen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen (auch wenn sie manchmal Fußgänger in die Irre führen).

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Da alle Repräsentationen immer und notwendigerweise Elemente der Realität auslassen, lauten die interessanten und zu untersuchenden Fragen: Welche der möglichen Elemente beinhalten sie? Wer findet die Auswahl vernünftig und akzeptabel? Wer beklagt sich über sie? Welche Kriterien wenden die Leute an, die sich beklagen? Manche Kriterien hängen beispielsweise mit der Gattung zusammen („Wenn es nicht dies und jenes enthält [oder wenn es dies und jenes enthält], ist es nicht wirklich ein Roman [oder ein Foto oder eine Ethnografie oder eine Tabelle oder …]“), oder mit Fragen der Professionalität („so machen richtige Statistiker [oder Filmemacher oder Historiker oder …] das immer“). Übersetzung: Stellen Sie sich Übersetzung als eine Funktion vor, die eine Reihe von Elementen (die Teile der Realität, die Macher repräsentieren wollen) zu einer anderen Reihe von Elementen verarbeitet (die konventionell im gegenwärtig verwendeten Medium verfügbar sind). Anthropologen verwandeln ihre an Ort und Stelle gewonnenen Beobachtungen in Feldnotizen, aus denen sie standardisierte ethnografische Beschreibungen erarbeiten; Meinungsforscher verwandeln Vor-Ort-Interviews in Zahlen, aus denen sie Tabellen und Diagramme herstellen; Historiker kombinieren ihre Karteikarten zu Berichten, Charakterskizzen und Analysen; Filmemacher redigieren und schneiden rohes Filmmaterial zu Aufnahmen, Szenen und Filmen zusammen. Die Nutzer von Repräsentationen befassen sich nie mit der Realität selbst, sondern mit einer Realität, die in die Materialien und die konventionelle Sprache einer spezifischen Branche übersetzt worden ist. Standardverfahren für die Anfertigung von Repräsentationen bieten Machern einen Standardsatz an Werkzeugen, mit denen sie ihre Artefakte „bauen“ können. Dazu gehört das Material mit all seinen Möglichkeiten: Film mit einer speziellen Lichtempfindlichkeit, mit so und so vielen Quäntchen an lichtsensitivem Material pro Quadratzentimeter und daher einem bestimmten Auflösungsgrad, der ermöglicht, Elemente von einer bestimmten Größe zu repräsentieren, aber nicht kleiner; konzeptionelle Elemente wie Ideen für die Handlung oder Figuren eines Romans; und konventionelle Bedeutungen wie Wischblenden, Ausblenden und andere filmischen Übergänge, die den Verlauf von Zeit andeuten. Macher erwarten, dass Standardelemente auch Standardeffekte bewirken, damit Nutzer der damit erzeugten Repräsentationen standardmäßig reagieren. Nutzer erwarten dasselbe umgekehrt: dass die Macher Standardelemente einsetzen, mit denen Nutzer vertraut sind und wissen, wie sie darauf reagieren sollen. Repräsentationen sind „perfekt“, wenn sie unter diesen Bedingungen entstehen, wenn alles so funktioniert, wie es alle Beteiligten verstehen und erwarten. Aber solche Bedingungen existieren niemals vollständig. Objekte benehmen sich nicht, wie die Werbung verspricht. Zuschauer verstehen nicht, was dem Macher vorschwebte. 31

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Letztendlich genügt die zur Verfügung stehende Sprache nicht, um die Idee des Machers zum Ausdruck zu bringen. Was geschieht, wenn solche zwangsweise unzureichenden Repräsentationen Zuschauern vorgeführt werden, die nicht wissen, was sie wissen sollten? Oft genug reagieren die meisten Leute, Macher wie Nutzer – und besonders jene, deren Meinung zählt, weil sie mächtig und wichtig sind –, gleichermaßen nahe genug an dem, was die ursprünglichen Macher wollten, und das Ergebnis ist dann für alle Beteiligten „akzeptabel“. Die Kriterien für „akzeptabel“ sind unterschiedlich. Betrachten wir zum Beispiel die Frage der „Nachvollziehbarkeit“ von Prosa, von Tabellen und Bildern, die man verwendet, um wissenschaftliche Ergebnisse zu berichten. Sowohl die Macher als auch die Nutzer wissenschaftlicher Repräsentationen möchten, dass die verbalen, numerischen und visuellen Darstellungen in ihren Artikeln und Berichten neutrale Standardelemente sind, die der Repräsentation nichts hinzufügen. Sie würden dann wie ein völlig klares und durchsichtiges Glasfenster den Blick auf die Ergebnisse ermöglichen, ohne dass diese Ergebnisse in irgendeiner Weise von dem Blick durch das Fenster beeinflusst werden. Wie schon bemerkt, argumentierte Kuhn (1962) überzeugend, dass keine solche „transparente“ beschreibende wissenschaftliche Sprache möglich ist, weil alle Beschreibungen „theoriebelastet“ sind. Noch deutlicher ausgedrückt: Es steht fest, dass sogar die Breite der Balken in einem Balkendiagramm sowie Größe und Stil der Schrift in einer Tabelle, ganz abgesehen von den Substantiven und Adjektiven in einer Ethnografie oder einer historischen Abhandlung, unsere Interpretation des Beschriebenen beeinflussen. Breite Balken in einer Grafik lassen uns glauben, die berichteten Mengen seien größer, als wir bei schmaleren Strichen glauben würden. Wenn wir Konsumenten illegaler Drogen konventionell „Drogenabhängige“ oder „Süchtige“ nennen, kommunizieren wir viel mehr als eine wissenschaftlich definierte „Tatsache“. Doch sind all diese Methoden der Repräsentation gesellschaftlicher Realität für Wissenschaftler wie auch für Laien akzeptabel gewesen, die sich selbst beigebracht hatten, die unerwünschten Effekte jener Kommunikationselemente zu akzeptieren oder zu ignorieren oder zu diskontieren, die sie als Standard anerkannt hatten. Standardelemente haben die Merkmale, die wir bereits in Untersuchungen der Kunstwelten gefunden haben. Sie ermöglichen die effiziente Kommunikation von Ideen und Tatsachen, indem sie eine Kurzschrift bilden, die alle kennen, die das Material brauchen. Sie schränken aber gleichzeitig ein, was ein Macher tun kann, denn jeder Übersetzungsbaukasten erleichtert es, manche Dinge zu sagen, während andere Dinge schwerer auszudrücken sind. Hier ist ein zeitgenössisches Beispiel: Üblicherweise stellen Sozialwissenschaftler Benachteiligungen aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht bei Beförderungen mit multiplen Regressionsgleichungen dar, ein routinemäßiges statistisches Verfahren, dessen Ergebnisse zeigen,

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welcher Anteil in der Variation von Beförderungen gesellschaftlicher Teilgruppen auf unabhängige Effekte so verschiedener Variablen wie ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Bildung und Dienstalter zurückzuführen ist. Wie Charles Ragin, Susan Meyer und Kriss Drass (1984) jedoch zeigten, beantwortet diese Darstellung der Diskriminierung nicht die Fragen, die Soziologen stellen, die an allgemeinen gesellschaftlichen Prozessen interessiert sind, oder die Fragen, die Gerichte stellen, um zu entscheiden, ob Gesetze gegen Rassendiskriminierung gebrochen worden sind. Die Ergebnisse der multiplen Regression können nicht erklären, wie sich die Job-Chancen weißer junger Männer von denen älterer schwarzer Frauen unterscheiden. Sie geben nur Auskunft über die Gewichtung einer Variablen wie Alter oder Geschlecht in einer Gleichung. Das ist etwas völlig anderes. Ragin, Meyer und Drass befürworten einen anderen statistischen Standard: den Booleschen Algorithmus (siehe Details in dem genannten Artikel oder in Becker 1998: 183ff.). Dieser Standard stellt Diskriminierung dar als den Unterschied in Job-Chancen zwischen Personen mit einer bestimmten Kombination dieser Attribute und den mittleren Werten für eine Gesamtpopulation. Das ist, was Sozialwissenschaftler und Gerichte erfahren wollen. (Verwandte und ergänzende Argumente finden Sie in Lieberson 1985.) Manchmal wird die Aussagekraft einer Repräsentation durch die Organisation der darstellerischen Aktivität begrenzt. Die beschränkten Budgets von Organisationen – bezogen auf Zeit, Aufmerksamkeit ebenso wie auf Finanzierung – wirken sich negativ auf das Potenzial von Medien und Formaten aus. Wie dick ein Buch und wie lang ein Film ist, richtet sich nicht nur danach, was die Macher sich leisten können, sondern auch nach der Geduld der Leser bzw. Zuschauer. Hätten die Macher mehr Geld und die Nutzer mehr Geduld, könnten Ethnografien jede einzelne Feldnotiz des Anthropologen enthalten und jeden Schritt des analytischen Vorgangs beschreiben. Clyde Kluckhohn (1945) meinte, dies sei die einzig richtige Methode, lebensgeschichtliches Datenmaterial zu veröffentlichen. Solche Elemente können immer noch dargestellt werden, aber nicht zu zeitlichen oder finanziellen Kosten, die irgendjemand bereit wäre zu tragen. Anordnung: Nachdem die Elemente der Situation, die Tatsachen, die eine Repräsentation beschreibt, gewählt und übersetzt worden sind, müssen sie nun interpretiert und auf eine Weise angeordnet werden, in der Nutzer das Gesagte auch begreifen. Die Anordnung der Elemente ist sowohl arbiträr – man hätte es immer anders machen können – als auch durch die Standardmethode bestimmt, mit der solche Dinge zu handhaben sind – ebenso wie die Elemente selbst. Durch Anordnung werden zufällige Elemente erst zu lesbarem Stoff. Anordnung kommuniziert Begriffe wie Kausalität, damit zum Beispiel Betrachter die Fotografien an den Wänden einer 33

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Kunstgalerie oder in einem Buch als sinnvoll empfinden. Betrachter können dann frühere Bilder in der Anordnung als „Bedingungen“ interpretieren, deren „Folgen“ zu den späteren Bildern führten. Wenn ich eine (persönliche, historische oder soziologische) Geschichte erzähle, erfahren die Zuhörer die früheren Elemente als „Erläuterung“ der nachfolgenden. Wie sich eine Figur in einer Episode verhält, beweist ihre Persönlichkeit, die sich in späteren Episoden voll entfaltet. Wer statistische Tabellen und Grafiken studiert, steht besonders unter dem Einfluss der Wirkung, welche die Anordnung auf die Interpretationen ausübt. Kein Macher von Repräsentationen der Gesellschaft kann diese Wirkung außer Acht lassen, denn viele Studien haben gezeigt, dass Nutzer solcher Repräsentationen selbst in zufälligen Anordnungen von Elementen noch Ordnung und Logik sehen. Betrachter finden Logik in der Anordnung von Fotografien, ob der Fotograf dies beabsichtigte oder nicht. Sie finden Schrifttypen „frivol“, „ernsthaft“ oder „wissenschaftlich“ ohne Rücksicht auf den Inhalt des Textes. Sozialwissenschaftler und Methodiker haben dies noch nicht als ernstes Problem behandelt. Wie man damit umgeht, gehört zu den Dingen, die als überliefertes Wissen weitergegeben werden. (Edward Tufte hat sich jedoch 1983 und 1990 ausführlich damit befasst, wie grafische und typografische Elemente und Anordnungen die Interpretation statistischer Repräsentationen beeinflussen.) Interpretation: Repräsentationen existieren erst vollständig, wenn ich sie benutze, lese, betrachte oder ihnen zuhöre und die Kommunikation dadurch vervollständige, indem ich die Ergebnisse interpretiere und für mich selbst eine Realität aus dem konstruiere, was der Macher mir zeigt. Die Straßenkarte existiert erst, wenn ich sie benutze, um in die Nachbarstadt zu fahren. Die Romane von Charles Dickens existieren erst, wenn ich sie lese und mich in das viktorianische England zurückversetzt fühle. Die statistische Tabelle existiert erst, wenn ich sie studiere und die darin zum Ausdruck gebrachten Vorschläge auswerte. Diese Dinge erreichen ihr volles Potenzial erst in der Nutzung. So führt die Kenntnis der Nutzer über die erforderliche Interpretationsarbeit zu einer grundlegenden Einschränkung dessen, was eine Darstellung erreichen kann. Nutzer müssen die konventionellen Elemente und Formate des Mediums und des Genres kennen und wissen, wie man sie anwendet. Macher dürfen diese Kenntnisse und Fähigkeit nicht voraussetzen. Historische Studien (zum Beispiel Cohen 1982) haben gezeigt, dass die meisten Bewohner der Vereinigten Staaten erst im Laufe des 19. Jahrhunderts rechnen lernten und anfingen, normale rechnerische Aufgaben zu begreifen und zu lösen. Anthropologische Studien bestätigen, dass die scheinbar universelle Anziehungskraft von Fotografien und Filmen auf unseren Wirklichkeitssinn, auf der Literaturkritiker wie Roland Barthes und

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Susan Sontag beharren, eigentlich eine erlernte Fähigkeit ist. Professionalisierte Berufsfelder erwarten, dass Nutzer durch ihre Ausbildung an Hochschulen oder Fachschulen zu kundigen Konsumenten von Repräsentationen werden, obwohl sich die vorausgesetzten Kenntnisse bekanntlich von Zeit zu Zeit ändern. In der Soziologie wird von den Studenten erwartet, dass sie sich ein gewisses Maß an statistischem Wissen aneignen (soll auch teilweise heißen: die „Fähigkeit, Formeln und Tabellen zu lesen“), aber nur Wenige erwarten, dass ihre Studenten viel über mathematische Modelle wissen. Nutzer interpretieren Repräsentationen, indem sie zwei Arten von Fragen beantworten. Einerseits wollen sie „die Fakten“ kennen: Was geschah bei der Schlacht am Bull Run? Wo befinden sich die Slums von Los Angeles? Wie hoch ist das Durchschnittseinkommen in den wohlhabenden Stadtteilen? Wie sieht 1980 der Zusammenhang zwischen Hautfarbe, Einkommen und Bildung in den USA aus? Wie fühlt es sich wirklich an, ein Astronaut zu sein? Die Antworten auf solche Fragen – auf jeder möglichen Präzisionsstufe – helfen den Leuten bei der Orientierung ihres Handelns. Andererseits wollen Nutzer Antworten auf ethische Fragen. Sie suchen nicht nur den Zusammenhang zwischen Hautfarbe, Bildung und Einkommen, sondern wollen wissen, warum der Zusammenhang so ist, wer die Verantwortung dafür trägt und was man dagegen tun kann. Sie wollen wissen, ob der Amerikanische Bürgerkrieg und damit auch die Schlacht am Bull Run notwendig war oder ob man ihn hätte vermeiden können; ob Astronaut John Glenn ein Mann war, der es verdient hätte, Präsident zu werden, und so weiter. Schon bei der oberflächlichsten Betrachtung enthält fast jede faktenbezogene Frage über die Gesellschaft eine starke moralische Dimension, welche die harten Kämpfe erklärt, die oft über scheinbar geringfügige Fragen der technischen Interpretation geführt werden. Arthur Jensens statistische Fehler bei der Analyse von Intelligenztest-Ergebnissen haben Leute verärgert, die keine Statistiker waren.

Nutzer und Macher Wir alle handeln nicht nur als Nutzer, sondern auch als Macher von Repräsentationen. Wir hören und erzählen Geschichten. Wie bei allen anderen Dienstleistungsverhältnissen unterscheiden sich meistens die Interessen der Macher und Nutzer erheblich voneinander, besonders wenn – wie so oft – die Macher Experten sind, die ihre Repräsentationen hauptberuflich entwickeln und dafür bezahlt werden, während die Nutzer Amateure sind und die Darstellungen nur gelegentlich, nebenbei und ohne weitere Prüfung anwenden. (Vergleiche dazu die klassische Analyse von 35

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Routine und Notfall bei Hughes 1984: 316ff.) In manchen Repräsentationswelten überwiegen die einen, in manchen die anderen Interessen. In den von Machern dominierten Welten nehmen Repräsentationen die Form eines Arguments an und präsentieren allein das Material, das den Schwerpunkt unterstützt, den der Macher vermitteln möchte. Ein Beispiel sind die bereits genannten aktuellen Studien zur Rhetorik der wissenschaftlichen Literatur. In einer professionellen Welt der Erzeugung von Repräsentationen steuern die Macher gewöhnlich die Herstellungsbedingungen aus all den Gründen, die Hughes zeigte: Was sie den ganzen lieben langen Tag tun, ist für die meisten Nutzer ihrer Produkte völlig außerhalb des Alltäglichen. Selbst wenn Andere wesentlichen Einfluss haben, wissen Experten viel besser, wie man das Verfahren so manipulieren kann, dass sie die weitgehende Kontrolle behalten. Einflussreiche Nutzer, die bereits über längere Zeit die Herstellung von Repräsentationen unterstützt haben, lernen dabei typischerweise genug, um diese Nachteile auszugleichen; doch gelegentlichen Nutzern gelingt das nur selten. Professionell entwickelte Repräsentationen verkörpern die Entscheidungen und Interessen der Macher und indirekt der Leute, die es sich leisten können, Macher zu engagieren. Darum bleiben in ihrer Repräsentation leicht die mühsamen, steilen Straßen verborgen, von denen die Fußgänger gern gewusst hätten. Andererseits verwenden Mitglieder von Nutzer-dominierten Welten die Darstellungen gern als Akten oder Archive, in denen man stöbern kann, wenn man einmal Antworten braucht auf alle möglichen Fragen, die kompetenten Nutzern in den Sinn kommen können, oder auch für Informationen, egal wofür Nutzer sie dann gebrauchen wollen. Denken Sie an den Unterschied zwischen der Straßenkarte, die Sie im Laden kaufen können, und der detaillierten, mit Anmerkungen versehenen Karte, die ich zeichne, damit Sie meine Wohnung finden, eine Karte, die nicht nur berücksichtigt, wieviel Zeit Sie für die Fahrt zur Verfügung haben, sondern vielleicht auch Ihr mögliches Interesse an einigen Sehenswürdigkeiten unterwegs sowie Ihre Abneigung gegen dichten Verkehr. Typischerweise sind laienhafte Repräsentationen stärker ortsgebunden und benutzerfreundlicher als die von Fachleuten entwickelten. So eignen sich auch Schnappschüsse von Amateuren besser dazu, im Kreise von Freunden gezeigt zu werden, die alle Personen auf den Bildern kennen. Fotografien von Journalisten, Künstlern und Sozialwissenschaftlern dagegen, die sich an den Standards ihrer professionellen Kreise orientieren, zielen darauf ab, ihren Kollegen und anderen höchst sachkundigen professionellen Betrachtern zu gefallen (Bourdieu 1990). Manche Artefakte scheinen im Grunde Dateien (files) zu sein. Schließlich ist eine Landkarte einfach ein Depot für geografische und andere Tatsachen, die Nutzer für ihre eigenen Zwecke abfragen können. Karten können auf vielfache Art entwickelt

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werden, und keine davon ist eine schlichte Umsetzung der Realität. In gewissem Sinne sind sie Argumente, die geschaffen wurden, um ihre Nutzer von etwas zu überzeugen, vielleicht nur, indem sie dieses Etwas als selbstverständlich voraussetzen. So behaupten manche, früher ungehörte Leute, Landkarten, die das Denken der Welt bestimmen, seien „eurozentrisch“, da die technischen Entscheidungen, auf denen sie aufgebaut sind, Europa und Nordamerika in den Mittelpunkt der Welt setzen. Man könnte behaupten, diese Karten würden das Argument verkörpern, Europa und Nordamerika seien „wichtiger“ als andere Erdteile, die am Rand der Karte abgebildet sind. Aber Argumente und Dateien sind keine Objekte, sondern Anwendungen, das heißt Tätigkeiten und keine Dinge. Das wird deutlich, wenn wir merken, dass Nutzer nicht machtlos sind, sondern sogar die Produkte, die sie erhalten, ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen entsprechend umwandeln. Wissenschaftler aller Fachrichtungen ignorieren routinemäßig die Argumente aus Fachbeiträgen, die sie zitieren, sondern durchsuchen die Literatur nur nach Ergebnissen, die ihrem Zweck dienlich sind. Kurz gesagt, benutzen sie die Literatur nicht als Gesamtheit der von den Urhebern beabsichtigten Argumente, sondern als eine Datei für Ergebnisse, mit denen sie Fragen beantworten können, die den ursprünglichen Autoren gar nicht in den Sinn gekommen waren. Diese Art der rebellischen Nutzung kultureller Produkte ist auch anderweitig untersucht worden: in der Soziologie der Technik (Oudshoorn, Pinch 2003), in der erfinderischen Anwendung digitaler Spiele und anderer Internet-Phänomene (Karaganis 2007) und in kulturwissenschaftlichen Studien. Constance Penley (1997) beschreibt eine ziemlich große Gruppe heterosexueller Frauen aus der Arbeiterklasse, die Star Trek-Charaktere für ihre eigene kreative Arbeit rekrutiert hatten: Homosexuelle Erotika mit den Hauptfiguren (Captain Kirk und Mr. Spock waren ein bevorzugtes Paar), die über das Internet verbreitet wurden. In all diesen Fällen verwandelten die Nutzer radikal, was die Macher als Einweg-Kommunikation beabsichtigt hatten, in Rohmaterial für ihre eigenen Konstruktionen, ihre eigenen Zwecke und ihren eigenen Nutzen. So können Nutzer immer alles in ihre eigenen Hände nehmen.

Also? Was ich gesagt habe, setzt eine relativistische Ansicht von Wissen voraus, mindestens in diesem Maß: Wie wir Fragen stellen und die erwarteten Antworten formulieren, geschieht gemäß den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen. Die verschiedenen Beispiele, die ich aufgeführt habe, illustrieren das. Es gibt keinen besten Weg, zwischen ihnen zu entscheiden, denn alle sind dazu geeignet, 37

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etwas zu vermitteln. Dieselbe Realität lässt sich vielseitig beschreiben, denn die Beschreibungen können Antworten auf eine Vielzahl von Fragen sein. Im Prinzip können wir argumentieren, dass wir mit unseren Verfahren dieselbe Antwort auf dieselbe Frage erhalten sollten, aber tatsächlich stellen wir nur dieselbe Frage, wenn die Umstände der gesellschaftlichen Interaktion und Organisation einen Konsens erzielt haben, was eine „gute Frage“ ist. Das ist nicht sehr oft der Fall. Es geschieht nur, wenn die Lebensumstände Menschen dazu führen, gewisse Probleme als gemeinsam anzusehen, wenn sie routinemäßig bestimmte Arten von Repräsentationen benötigen, und somit zur Entwicklung von Berufen und Fertigkeiten führen, die solche Repräsentationen für den routinemäßigen Gebrauch entwickeln. So werden manche Fragen gestellt und beantwortet, während andere ebenso gute, interessante, lohnenswerte und sogar wissenschaftlich wichtige Fragen ignoriert werden, zumindest bis sich die Gesellschaft genug ändert, und die Leute, die solche Antworten brauchen, die Ressourcen einfordern, die zu den Antworten führen. Bis es so weit ist, werden Fußgänger weiterhin von den steilen Straßen in San Francisco überrascht sein.

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Wer macht was? 3 Wer macht was?

Repräsentationen entstehen in einer Welt kooperierender Macher und Nutzer. Die Arbeit des Erzeugens von Repräsentationen wird zwischen mehreren Arten von Machern sowie zwischen Machern und Nutzern aufgeteilt. Wer leistet welche Arbeit, wenn für eine Repräsentation die vier weiter oben aufgeführten Arten erforderlich sind? Was die Macher nicht tun, muss von den Nutzern getan werden, wenn eine Repräsentation mehr oder weniger zur Zufriedenheit aller erzeugt und kommuniziert werden soll. Wenn die kooperierenden Parteien eine Arbeitsteilung errichten, wie koordinieren sie dann die verschiedenen Dinge, die sie tun müssen? Manchmal leistet der Macher die meiste Arbeit und überlässt dem Nutzer nur einen geringen Anteil an Autonomie. Wenn wir uns einen Film anschauen, hat der Filmemacher alles gewählt und arrangiert, und unsere Aktivität besteht nur darin zu sehen, was wir mit dem Werk anfangen können, und uns eine Meinung über den Film und sein Thema zu bilden. Neuere Technologien ermöglichen uns allerdings, Filme in anderer Reihenfolge zu sehen als der Filmemacher beabsichtigt hat, es sei denn, wir sehen den Film in einem Kino. Aber selbst wenn Filmemacher uns die scheinbare Freiheit gewähren, das Gesehene so zu interpretieren und zu beurteilen, wie wir wollen, nutzen sie alle Möglichkeiten ihres Handwerks, um unsere Reaktion in die Richtung zu lenken, in die sie uns bringen wollen. Die Autoren wissenschaftlicher Artikel, deren Tätigkeit Latour (1987: 21ff.) beschreibt, beabsichtigen ihm zufolge, ihre Leser unter noch strengerer Kontrolle zu halten. Sie erwarten bestimmte Fragen und eine bestimmte Kritik ihres Werkes und bauen schon Antworten und Verteidigungen in ihre Schriften ein, damit Leser es unmöglich finden, ihren Argumenten zu widersprechen. Zumindest streben sie nach dieser Kontrolle, obwohl es ihnen oft nicht gelingt, sie zu erreichen. Dann werden sie Ziel von Kritiken und – noch schlimmer – sehen ihre Ergebnisse für Zwecke missbraucht, die sie nie angestrebt haben und möglicherweise sogar ablehnen. In anderen Welten der Herstellung von Repräsentationen überlassen die Macher große Teile der Arbeit der Anordnung und Interpretation den Nutzern. Manche 39 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_3

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Künstler, die Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität erzeugen, tun dies absichtlich. Sie weigern sich, die Verallgemeinerungen, die aus ihrem Material herauszuspringen scheinen, selbst zu benennen, und sie übertragen die Aufgabe entschieden den Nutzern. Auch hier ist die Freiheit manchmal eher scheinbar als wirklich, denn die Macher verwenden die technischen und konzeptionellen Werkzeuge ihres Fachgebiets, um die Aktivität und Reaktion ihrer Nutzer zu lenken. Angenommen Sie haben als Macher die schweren Entscheidungen darüber getroffen, was der Bericht (die Geschichte, der Film oder wie ein Bericht in Ihrem Fachgebiet auch heißen mag) enthalten soll, den Sie über die gesellschaftlichen Phänomene verfassen, die Sie untersucht haben. Sie haben die „Daten“ – das Rohmaterial. Sie haben die bittere Pille geschluckt und akzeptiert, dass Sie nicht alles Gesammelte einfügen können. Sie glauben, Sie haben immer noch Wertvolles erreicht – für Sie selbst und für die Leute, für die Sie den Bericht verfassen. Sie akzeptieren auch, dass manches, vielleicht sogar sehr viel von Ihren schwer erarbeiteten Ergebnissen und Ihrem Material im Papierkorb landen wird. Jetzt halten Sie in den Händen, was nach all dem Sieben übrig geblieben ist: einen Stapel Fragmente, ein paar Filmstreifen, ein paar Seiten voll Zahlen und einen Ordner voll Feldnotizen. Wie können Sie all dieses Zeug ordnen und so zusammenfügen, dass es kommuniziert, was Sie den Empfängern mitteilen wollen (und natürlich, was dort von Ihnen erwartet wird)? Sozialwissenschaftliche Autoren (und andere Wissenschaftler) erfahren dies typischerweise als das Problem der Formulierung eines Arguments: Das, was gesagt werden muss, in einer Struktur zum Ausdruck zu bringen, die Ihre Ideen so effizient und deutlich präsentiert, dass die Leser oder Betrachter sie nicht für etwas halten, was Sie gar nicht meinten, und so, dass Sie gegen alle Kritik und gegen alle Fragen gewappnet sind. Doktorväter und Zeitschriften-Redakteure ermahnen Autoren immer wieder: „Passen Sie auf, dass Ihr Argument stichhaltig ist.“ Und dieser Rat trifft – über die logische Anordnung der Propositionen und Schlussfolgerungen und Ideen hinaus – auf die Vorlage Ihrer Beweismittel zu, also auf das Material, das Sie aus Ihren Untersuchungsdaten ausgewählt haben. Wie ordnen Sie dieses Material an, welche Form es auch haben mag, damit es ausdrückt, was Ihr formelles Argument sagt, Ihre Schlussfolgerungen unverwechselbar untermauert und jeden vernünftigen Leser oder Betrachter überzeugt? Die Antworten auf Fragen wie diese bringen uns direkt zur Frage nach den vielseitigen Möglichkeiten, in denen Macher und Nutzer sich die Arbeit an der Repräsentation teilen können. Ich konzentriere mich auf zwei ziemlich verschiedene Beispiele: das konventionelle sozialwissenschaftliche Problem der Repräsentation statistischer Daten – Zahlen – in Tabellenform, und das Problem der Anordnung des zumeist „Dokumentarfotografie“ genannten Materials in irgendeiner Form zur Präsentation an einer Galeriewand, in einer Diavorführung oder in einem Buch.

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Das statistische Problem Beginnen wir also mit dem statistischen Problem. Ich habe einen Zensus oder eine Umfrage bzw. ein Experiment durchgeführt und eine Reihe von Dingen erhoben. Bei einem Zensus zählen wir Menschen und finden eine Menge über die erfassten Personen heraus: Alter, Geschlecht, Ethnie, höchster Schulabschluss, Einkommen im vergangenen Jahr und so weiter, je nach dem Format des betreffenden Zensus. In einem Experiment bilden wir zwei oder mehr Gruppen, tun etwas (die „experimentelle Behandlung“) mit einer Gruppe und tun nichts mit der anderen Gruppe, der Kontrollgruppe. Wir messen verschiedene Dinge, von denen wir meinen, dass sie aus dieser „Behandlung“ folgen sollten. Umfragen imitieren das Experiment, aber der Forscher kann nicht kontrollieren, wer welche experimentelle Behandlung erfährt, denn als kausale Einflussvariable gelten Faktoren wie beispielsweise Alter oder Geschlecht oder ein Aspekt einer früheren Erfahrung, die der Forscher nicht manipulieren, sondern nur statistisch „kontrollieren“ kann. Das alles führt zu einem Haufen Zahlen. Die einzelnen Zahlen haben keine große Bedeutung. Mir ist es egal, und allen anderen auch, außer der Familie und den Freunden der Befragten, wie alt diese spezifische Person ist oder wieviel Geld sie im letzten Jahr verdient hat. Wenn ich alle Einkommen der Angehörigen einer Gruppe addiere und ihren Mittelwert errechne, scheint das oberflächlich gesehen interessanter zu sein, aber tatsächlich ist es das nicht wirklich. Das durchschnittliche angegebene Einkommen der Leute, die in diesem spezifischen Häuserblock in Chicago wohnen, beträgt 19.615 $. Siebenundzwanzig Prozent der Leute in einem speziellen Häuserblock sagen dem Zensus, sie seien Schwarze (so misst der USZensus „Rasse“), oder sechsunddreißig Prozent sagen, sie seien älter als 65 Jahre. Na und? Diese Zahlen allein sind immer noch nicht interessant. Warum nicht? Weil wir noch nicht die entscheidende Frage gestellt haben: Im Vergleich womit? Erst die Leser der Zensustabellen machen sie bedeutungsvoll, indem sie die Zahlen mit anderen vergleichen. Sie sehen zwei Zahlen und fragen sich: Sind sie identisch oder ist eine größer als die andere? Wenn eine größer ist, stellen sie die Frage: Ist der Unterschied groß genug, um ihn ernst nehmen zu müssen? Um den Mittelwert von 19.615 $ als Durchschnittseinkommen der Bewohner eines Häuserblocks bedeutungsvoll zu machen, müssen wir ihn mit einer anderen Zahl vergleichen. Mit welcher? Vielleicht mit den 29.500 $, die Bewohner eines anderen Häuserblocks verdienen. Bewaffnet mit diesem Vergleich könnten wir folgern, dass die Stadt durch eine geografische Segregation der Einkommensgruppen gekennzeichnet ist. Oder vielleicht verdienen Schwarze oder Menschen über 65 fünfundzwanzig Prozent weniger als Menschen anderer Hautfarben oder Altersgruppen, so dass wir daraus auf Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe 41

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oder Alter im Einkommen schließen können. Jetzt meinen wir, etwas gelernt zu haben. Der durch den Vergleich sichtbar gewordene Unterschied zwischen den beiden Zahlen vermittelt die wichtigen Informationen. Es geht aber nicht nur um den Unterschied zwischen zwei Koordinatengruppen (schwarz vs. weiß, über vs. unter 65). Wir könnten auch die Gruppe, die wir untersucht haben, mit der größeren Gruppe vergleichen, zu der sie gehört – die Menschen in diesem Häuserblock mit der ganzen Stadt, oder mit einem äußeren Standard: die Menschen dieser Hautfarbe im Vergleich zur „Armutsgrenze“. Das Problem der Anordnung meiner statistischen Ergebnisse – meiner Zahlen – besteht aus dem Problem, die relevanten Vergleiche sichtbar zu machen. Darum enthalten die Bände des US-Zensus keine Schlussfolgerungen. Da sie Dateien und keine Argumente sind, vergleichen sie ausdrücklich gar nichts. Sie liefern nur das Rohmaterial für Vergleiche. Darum können so viele Leute davon leben, das ganze, für uns alle in den Zensusveröffentlichungen frei zugängliche Material neu zu ordnen. In der Tat werden Zensusdaten gewöhnlich in Tabellenform gedruckt, die manche Vergleiche erleichtert, wie bei dieser Kreuztabellierung des Einkommens nach Alter auf Seite 43, die ich erfunden habe, um den Punkt zu verdeutlichen. Die Zeilen der Tabelle stellen Altersgruppen dar (0–15, 15–25, 25–35 usw.) und die Spalten sind Einkommensgruppen (10. 000–15.000 $, 15. 000–25.000 $ usw.). Die Zellen dieses Rasters aus Zeilen und Spalten enthalten Zahlen, die Anzahl der Menschen, die durch die jeweilige Kombination von Alter und Einkommen charakterisiert wird. Dadurch ist es leicht, benachbarte Zellen zu vergleichen und zu erfahren, dass es mehr Menschen der Altersgruppe 25 bis 35 in der Einkommensgruppe 15.000 bis 25.000 $ gibt als Menschen zwischen 35 und 50 (wenn das der Fall ist), aber dass der Einkommensunterschied zwischen diesen beiden Altersgruppen mit zunehmendem Einkommen geringer wird. Wir müssen nur von einer Zelle zur benachbarten Zelle schauen um festzustellen, dass über 40.000 $ die Zahlen in den jeweils benachbarten Zellen gleich sind. Wir können aber auch nicht-benachbarte Zellen vergleichen – die Einkommensunterschiede zwischen Personen im Alter von 15 bis 25 mit denen über 65 Jahren. Dann müssten wir die Zahlen, die wir wollen, auf ein anderes Blatt Papier schreiben, um sie zum Vergleich direkt nebeneinander zu platzieren. Was wir in solchen statistischen Tabellen vergleichen, erscheint in den Labels der Zeilen und Spalten einer Tabelle. Sind wir an der Beziehung zwischen Durchschnittseinkommen und Alter interessiert, benennen wir die Spalten nach den Altersgruppen und die Zeilen nach Einkommensgruppen. Der Leser übernimmt die analytische Aufgabe festzustellen, dass Menschen über 65 weniger verdienen (wenn das der Fall ist) als Menschen in den anderen Altersgruppen.

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Hypothetische Zensustabelle Einkommen in $ 0–15.000 15.000–25.000 25.000–40.000 40.000–60.000 60.000–90.000 über 90.000

0–15

15–25

25–35

400 350 250 50 25

300 275 250 125 100

200 225 250 200 175

Alter 35–50 100 125 150 200 175

50–65

über 65

75 70 50 40 25

60 55 50 30 35

Zensustabellen werden von hoch qualifizierten Fachleuten für eine große und heterogene Zielgruppe von potenziellen Nutzern eingerichtet. Diese Nutzer brauchen die zu vergleichenden Kategorien nicht zu bilden. Alter und Einkommen, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Bildungsgrad und all die anderen Variablen sind auf einfache Weise auf der US-Zensus-Website oder in den entsprechenden Veröffentlichungen erhältlich. Die Macher der Tabellen haben die analytische Arbeit bereits geleistet – die Anfertigung der Kategorien –, indem sie einfach die Überschriften der Zeilen und Spalten mit diesen Dimensionen (den für viele Zensustabellen typischen Überschriften) kennzeichnen. Wenn man so die Überschriften der Zeilen und Spalten benennt – die Dimensionen der Tabelle – dann leitet das die Nutzer dazu an, Vergleiche wie diese anzustellen: Verdienen 35 bis 50-Jährige mehr als 25 bis 35-Jährige? Oder – mit anderen Variablen in den Zeilen und Spalten: Erhalten Schwarze weniger Schulbildung als Weiße? Verdienen Frauen weniger als Männer? Die Fachleute, die Tabellen entwickeln, kümmern sich um die Dimensionen und Zahlen, sodass die Leser die wichtigen Vergleiche leicht anstellen können. (Siehe die Diskussionen des Themas bei Tukey 1972 und Tufte 1983, 1990 sowie die historische Diskussion bei Desrosières 1993.)

Das fotografische Problem So funktioniert es in der Welt, in der Repräsentationen von Experten entwickelt werden, die viel Arbeit für eine große heterogene Gruppe von Nutzern erbringen. Betrachten wir jetzt ähnliche Probleme, die in der Welt der Dokumentarfotografie entstehen, die oberflächlich gesehen sehr anders ist. Sie ist auch anders, aber es gibt Ähnlichkeiten, die uns anregen, die eigentlichen Unterschiede genauer zu

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betrachten. Indem wir das tun, erkennen wir eine andere Art der Arbeitsteilung zwischen Machern und Nutzern. Angenommen, ich habe eine große Menge an Fotografien gemacht – ein ernsthafter Dokumentarfotograf, der ein großes Thema verfolgt, macht Tausende von Aufnahmen – und habe die Bilder gewählt, von denen ich meine, dass sie die Ideen am besten widerspiegeln, die mir zum Thema gekommen sind, während ich sie gemacht habe. Und angenommen, es handelt sich um ein klassisches Beispiel des Genres, eines der am ausführlichsten diskutierten und bewunderten Werke seiner Art, das oft als Modell für aufstrebende Dokumentarfotografen dient: die American Photographs von Walker Evans (1975). Evans schuf dieses Buch aus Fotografien, die er im Laufe von mehreren Jahren aufnahm – überall in den östlichen Vereinigten Staaten, im Süden und im Norden (er ging nicht weiter westlich als Baton Rouge): New York, Pennsylvania, Mississippi, Alabama und so weiter. Und nicht ausschließlich in den Vereinigten Staaten – man muss den Titel großzügig interpretieren, denn er nahm drei seiner Bilder in Havanna auf. Er war sich nicht sicher, was er wollte, als er all diese Bilder aufnahm. Laut Alan Trachtenberg, der sein Werk gründlich studiert hat, versuchte Evans, Fragen zu beantworten, die amerikanische Intellektuelle während der Weltwirtschaftskrise zutiefst bewegten: Was ist besonders an den Menschen in Amerika? Was sind ihre charakteristischen Überzeugungen; was ist ihre volkstümliche Geschichte? Wer sind ihre Helden? Was sind ihre Arbeitsgewohnheiten, ihre Freizeitaktivitäten? […] Evans Idee von Amerika lässt sich nicht leicht dadurch definieren, dass man ihn einer bestimmten Fotografieschule zuordnet. Aber man kann sagen, dass sein Werk zum allgemeinen Muster […] der Suche nach einer authentischen amerikanischen Kultur und nach seinem eigenen Amerikanisch-sein gehört. (Trachtenberg 1989: 247)3

Wir finden weitere Beweise für die Intentionen von Evans in einem Brief an einen Freund, den er im Laufe dieser Arbeiten schrieb und in dem er seine Absichten auflistete: • Menschen aller Klassen, umgeben von massenhaften neuen Randexistenzen. • Autos und die Automobil-Landschaft. • Architektur, der amerikanische Geschmack in den Städten; Klein- und Großhandel; die Straßenatmosphäre in den Städten, der Straßengeruch, der verhasste Geruch, Frauenclubs, vorgetäuschte Kultur, schlechte Schulbildung, Religion im Zerfall.

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Anmerkung des Übersetzers: Sofern nicht eine deutschsprachige Veröffentlichungsquelle angegeben ist, wurden alle Zitate sowohl von Fachtexten wie auch von Prosatexten für die vorliegende Ausgabe aus dem Englischen übersetzt.

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• Das Kino. • Hinweise darauf, was die Menschen in der Stadt lesen, essen, zur Unterhaltung sehen, zur Entspannung tun und nicht bekommen. • Werbung. • Und vieles mehr, du wirst sehen, was ich meine. (ebd.: 244)

Seine Eingebung, geleitet von solchen Überlegungen, erzeugte das Bilderarchiv, aus dem er die Auswahl für das Buch traf. Er wählte schließlich hundert Bilder aus diesem Archiv für seine Ausstellung im Museum of Modern Art. Von diesen wählte er siebenundachtzig Bilder für seine American Photographs. Nachdem er diese Auswahl getroffen hatte, musste er sich nun mit diesem scheinbar einfachen Problem befassen: In welcher Reihenfolge sollten die Bilder im Buch erscheinen? Zu dieser Frage gibt es eine einleitende praktische Überlegung. Es geht nicht darum, wie die Bilder angeordnet sein sollen, um einen gewünschten Effekt zu erzielen, sondern darum, welche Reihenfolge der Betrachtung man dem Publikum vorgeben kann. Man kann die Leute nicht dazu zwingen, beim Besuch einer Ausstellung die Fotografien in einer bestimmten Reihenfolge anzuschauen. Es ist leicht zu beobachten, dass manche Besucher durch den Eingang kommen und sofort rechts herum gehen, während sich andere mit derselben Überzeugung nach links wenden. So ist es auch mit Büchern. Zum Ärger des Fotografen blättern Leser oft von hinten statt von vorn durch die Seiten eines Fotobuches. Kommt es bei Fotografien auf die Reihenfolge an? Fotografen halten diese scheinbar einfache Frage für entscheidend und schwierig. Was die Probleme auch sein mögen, Fotografen, Museumskuratoren und die Gestalter von Ausstellungen wollen Betrachter dazu bringen, die Dinge in einer bestimmten Anordnung zu sehen, von der sie hoffen, dass sie die Betrachter dazu bringt, bestimmte Vergleiche entlang bestimmter Dimensionen anzustellen und spezifische Stimmungen auszulösen. Sie verstehen, dass ein einzelnes Bild mehrdeutig sein kann und nicht einfach und unmissverständlich enthüllt, „worum es geht“. Fotografen, die Bilder für andere Zwecke aufnehmen wie zum Beispiel Nachrichten oder Werbung, komponieren sie meistens so, dass alle „belanglosen“ Details ausgeschlossen werden, alles außer dem „Punkt“ ihrer Botschaft, auf den sie aufmerksam machen wollen. Sie wählen sorgfältig Details, die diesen Punkt unterstreichen, um die wichtigsten Ideen zu vermitteln oder die Attraktivität des Produkts zu steigern (Hagaman 1996: 11). Bilder für wissenschaftliche Zwecke begrenzen ebenso ihren Inhalt darauf, was der Macher (üblicherweise der Autor des wissenschaftlichen Artikels) Nutzern zu sagen hat, und schließen zu diesem Zweck rigoros alle belanglosen Dinge aus. 45

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Dokumentarfotografen wie Evans reduzieren den Inhalt eines Fotos nicht auf derart rücksichtslos umfassende Weise. Sie suchen die fotografische Wahrheit und belassen, was auf dem Bild zu sehen ist. Darum enthalten die als Dokumentarfotografien aufgenommenen Bilder absichtlich viel Detail, nämlich alles, was gerade zu sehen war, als die Aufnahme entstand, auch wenn dieses Material nicht zur einfachen Interpretation des Geschehens beiträgt. Die entscheidende Arbeit des Interpretierens wird dem Nutzer überlassen, und sofern der Macher diese zu steuern versucht, geschieht dies implizit. Obwohl die Bilder sorgfältig komponiert sind und das Detail nicht einfach zufällig ist, können Nutzer das Bild vielseitig interpretieren, je nachdem welche Details sie betonen und was sie darin sehen. Ein Bild, das so viele Details enthält, unterstützt immer mehr als nur eine einzige Interpretation und gewiss mehr als die einfachen Skripte von Zeitungsartikeln oder Werbungen. Das führt zu der Frage: Da diese Arbeitsteilung die Interpretation dem Nutzer überlässt, wie kann der Nutzer wissen, was wichtig ist, welche Idee dargestellt wird, was der Fotograf im Sinn hatte, was die Nutzer „aus diesem Bild herausholen sollen“? Wie können Fotografen Bilder so anordnen, dass ihre eigene beabsichtigte Wirkung die Interpretation der Betrachter bestimmt? Normalerweise erfahren wir schon von der Bildunterschrift, was wichtig ist, worauf wir achten sollen, was wir vernachlässigen können, welche Verbindungen zwischen den dargestellten Gegenständen und Personen bestehen. Manche Dokumentarfotografen helfen den Betrachtern mit längeren Bildunterschriften. Dorothea Lange fügte zuweilen ausführliche Erklärungen hinzu. So schrieb sie zum Beispiel unter das Foto eines kleinen Farmhauses (manchmal „Tractored Out“ genannt und vielerorts, zum Beispiel in Emerson und Stryker [1973: 100] reproduziert), das vereinsamt inmitten eines gepflügten Feldes steht und das Resultat des Aufkaufs kleiner Farmen in der Dust Bowl während der Weltwirtschaftskrise durch große landwirtschaftliche Konglomerate zeigt, die sich nicht einmal die Mühe machten, das kleine Haus des Besitzers abzureißen: „Verlassenes Bauernhaus auf einer großen technisierten Baumwollfarm“ (siehe Abb. 3.1). Hin und wieder betten Fotografen ihre Bilder in einen Text ein. Danny Lyons Buch über eine Biker-Gang (Lyon 1968) mischt Fotografien von der Bande unterwegs und lange Interviews mit ihren Mitgliedern. Andere Fotografen – darunter Evans – ließen ihre Bilder verbal vernachlässigt, nur mit dem Ort und Datum der Aufnahme. Trachtenberg beschreibt das Ergebnis: Eine Reihe von Bildern ohne Unterschriften lässt einen versteckten Autor vermuten, der dem Leser aus dem Weg gehen möchte – wie Flaubert oder Henry James –, der aber einen festen Standpunkt vertritt, eine physische und moralische Ansicht hat. Die Analogie kann nicht exakt sein, denn welche Wahl hat der Herausgeber von Fotografien wirklich? Außer der Kennzeichnung, was ein Bild darstellt, kann eine

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Fotografie sehr verschieden interpretiert werden. Wenn der Herausgeber sein Bild nicht mit einer eindeutigen Unterschrift verknüpft, ist seine Bedeutung zu offen und zu unsicher, um einen zuverlässigen Interpretationsstandpunkt zu vermitteln. (Trachtenberg 1989: 252)

Der Macher kann jedoch den Sinn des Bildes andeuten, indem er verwendet, was der Filmregisseur Sergei Eisenstein Montage genannt hat. Hier ist wieder Trachtenberg: Jede Gruppierung von Bildern im Buch kann als Beispiel von Evans Adaption der Montagetechnik angesehen werden, die als dialektischer Prozess der These, die zu einer Gegenthese führt, neu gefasst werden kann; zusammen erzeugen sie das Gefühl oder die Idee einer unsichtbaren, unausgesprochenen Synthese. Jedes Bild enthüllt eine Verbindung zum nächsten, einen Hauch oder Ansatz des folgenden antithetischen Bildes. Vom Leser wird erwartet, sich voll an jedes Bild zu erinnern, in all seinen Details und Nuancen, denn die winzigsten Einzelheiten werden in den folgenden Echos und Anspielungen bedeutsam. Was die Bilder bedeuten, sagen sie mit ihrer Textur und durch die Textur der sich entfaltenden Relationen – Kontinuität, Verdopplungen, Umkehrungen, Höhepunkte und Auflösungen. (ebd.: 259)

Abb. 3.1 Dorothea Lange: Tractored Out: Abandoned farmhouse on a large mechanized cotton farm

Das heißt, das Bild, dem ein Bild folgt, das vorherige Bild, und sogar die weiter entfernten Bilder einer Bilderserie, die der Betrachter sieht – all diese Bilder prägen unser Verständnis von jenem Bild, das wir gerade betrachten. Jedes Bild beeinflusst sogar unser Verständnis für jedes andere Bild. Nathan Lyons unterscheidet die 47

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Serie, in welcher die Anordnung der Bilder wichtig ist, von der Sequenz, bei der sie nicht wichtig ist. Wenn letztendlich die Resonanzen und Echos zwischen den Fotografien ausschlaggebend sind, die aufmerksame Betrachter, wie Trachtenberg schreibt, in ihren Köpfen gespeichert haben, dann ist die anfängliche Reihenfolge, in der wir sie sehen, vielleicht doch nicht so wichtig für das endgültige Verständnis eines Werkes. Wie die Reihenfolge auch sein mag, alle Bilder, die wir gesehen haben, beeinflussen aus dieser Sicht unser Verständnis jedes einzelnen Bildes.

Vergleich Wie kann das geschehen? Wie nutzen wir die Bestandteile einer Bilderserie, um unser Verständnis für ihre „Bedeutung“ zu schaffen – für die Ideen, die sie vermitteln, ohne einfach aufzulisten, was es da gibt? Wir tun es, indem wir vergleichen, ebenso wie wir als Leser statistischer Tabellen die Bedeutung der Zahlen erst begreifen, wenn wir sie miteinander vergleichen. Genau gesagt, schauen wir zwei Bilder zusammen an und sehen, was sie gemeinsam haben. Dann merken wir, dass dieses gemeinsame Merkmal zwar nicht alles darstellt, worum es bei diesem Bild geht, dass dies aber zumindest auf den ersten Blick eines seiner Merkmale darstellt. Mit der Sprache, die Leonard Meyer (1956) bzw. Barbara Herrnstein Smith (1968) für Musik und Lyrik verwenden, können wir die Hypothese aufstellen, in den Bildern geht es um dieses gemeinsame Merkmal. Wir testen die Hypothese natürlich weiterhin mit den nachfolgenden Bildern – so wie Meyer und Smith es beim Musikhören oder Lesen von Gedichten vorschlagen. Wir betrachten ein drittes Bild und prüfen, ob es Merkmale hat, die unsere Hypothese der Gemeinsamkeiten bestätigen. Hat es diese Merkmale nicht genau, sondern nur teilweise, dann ändern wir unsere Hypothese, unsere Idee, worum es bei der Sequenz gehen mag. Und so weiter – immer wieder vergleichen wir jedes folgende Bild mit den vorhergehenden Bildern. Wir nutzen das kumulierte Verständnis der Gemeinsamkeiten, um zu einem Verständnis dafür zu gelangen, worum es bei der ganzen Sequenz geht. Natürlich finden wir nicht nur Gemeinsamkeiten, ebenso wie der Statistiker feststellt, dass nicht alle Zahlen in einer Tabelle gleich sind. Der Statistiker sieht, welche Zahl größer ist. Aber Fotografien enthalten mehr Detail als eine nackte Zahl. Darum müssen wir mehr Vergleiche anstellen und kompliziertere Hypothesen prüfen, um zu entscheiden, ob zwei Dinge gleich sind. Wir finden Unterschiede und Ähnlichkeiten. Wir merken uns diese Unterschiede und sehen, was wir aus ihnen schließen können. Deuten sie auf ein zweites Thema hin? Auf eine Variation des ersten Themas? Sehen wir eine Verbindung zwischen den beiden Themen?

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Genau das hat Trachtenberg mit den ersten sechs Bildern in American Photographs getan. Er hat erklärt, wie der fortwährende Bezug auf Kameras und Fotografien und Situationen des Fotografierens den Betrachter zu der Schlussfolgerung bringt – wenn er die Gleichmäßigkeiten und Unterschiede in den Bildern genauso liest wie Trachtenberg –, dass es bei der Sequenz um Fotografie und Bildproduktion geht. (Es ist nützlich, das Folgende mit dem Buch von Evans in der Hand zu lesen und auf die Merkmale und Zusammenhänge zu achten, die Trachtenberg beschreibt): Die Bewegung vom ersten über das zweite zum dritten Bild verkörpert die Methoden des Buches: Von der Auffassung der Fotografie als bloße Identifikation zu einer Umformung dieser Idee im zweiten Bild (bei dem „Studio“ uns auf die Situationskomik aufmerksam macht: ein einzelnes Bild aus vielen kleinen Bildern, die es zugleich kommentiert) zu einem Bild ohne Beschriftung und voller Mehrdeutigkeit – die beiden Jungen, die woanders hinschauen. Ihre Blicke über den Rahmen des Bildes hinaus deuten an, dass die Welt größer ist und viel mehr Umstände enthält, als Fotografien richtig „identifizieren“ können, weil sie zu viel auslassen. Die Blicke zeigen, dass unsere Wahrnehmung ihre Grenzen hat und die Willkür des Bildrahmens berücksichtigen muss: ein Zugeständnis an Kontingenz, das in den vorhergehenden Bildern fehlt, die als „Studio“-Aufnahmen angedeutet oder gezeigt werden. (Trachtenberg 1989: 264)

Die Subtilität von Trachtenbergs Analyse zeigt, was ein anspruchsvoller Leser aus einer sorgfältig arrangierten Reihe von Fotografien herauslesen kann. Doch ein Zitat wie dieses lehrt zwei Dinge: Erstens muss ein Leser wirklich Erfahrung haben, muss wissen, wie man Fotografien auf intelligente Weise „liest“. Die zweite Erkenntnis wird offensichtlich, wenn man einen Vergleich mit dem Lesen statistischer Tabellen anstellt. Ein erfahrener Leser von Fotografien tut bewusst und sorgfältig, was der normale Betrachter von Fotografien unbewusst und unaufmerksam tut. Bewusstes und sorgfältiges Lesen unterscheidet sich vom „normalen“ Betrachten vor allem durch absichtliche Gründlichkeit. Wir können vermuten, dass alle Betrachter eines Fotos auf alles reagieren, was innerhalb des Rahmens liegt, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Sie werden alle von den Tonalitäten und der Komposition beeindruckt, sie erkennen alle kleinen Details, aber sie sind sich dessen nicht bewusst. Sie werfen einen kurzen Blick darauf, nehmen alles zusammen und sagen „Ja, das ist eindrucksvoll“ oder „Das ist traurig“ oder „Es erfasst wirklich das Wesentliche dieser Sache“. Aber sie wissen nicht, wie ihre Einschätzung darüber zustande kam, was die Fotografie erfasst hat, oder wie sie ihre Interpretationen durchgeführt haben. Es ist ein Unterschied, wie man diese zusammenfassenden Gedanken formt, ebenso wie es einen Unterschied macht, auf welche Weise man das statistische Maß einer zentralen Tendenz kalkuliert. Ein Mittelwert ist kein Medianwert und kein Modus. 49

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Das bewusste und sorgfältige Lesen andererseits nimmt Zeit in Anspruch. Der erfahrene Leser betrachtet jeden Teil des Bildes, nimmt explizit wahr, was gezeigt wird, welchen Blickwinkel das Bild repräsentiert (wo der Fotograf die Kamera hält, um diese besondere Perspektive zu erhalten statt der vielen anderen, die er hätte wählen können), die Tageszeit, die Dinge, die ausgelassen, aber vielleicht durch die Rahmung des Bildes angedeutet werden, und so weiter. Der erfahrene Leser weiß, dass der Fotograf viele andere Versionen desselben Gegenstands hätte aufnehmen können und vielleicht auch aufgenommen hat, wobei alle diese Entscheidungen anders ausgefallen wären, und so liest dieser Leser, was innerhalb des Rahmens ist, als Ergebnis bewusster Entscheidungen des Fotografen, die sich zu einem endgültigen Effekt verbinden. Ein erfahrener Leser von Fotografien nimmt sich viel Zeit beim Betrachten jedes Bildes. Letztendlich erlangt eine Folge von Fotografien nur die Bedeutung, die uns Trachtenberg zu suchen lehrt, wenn wir bei der Betrachtung jeder Fotografie und ihres Zusammenhangs mit all den anderen Bildern sehr viel Zeit aufwenden. Ein Buch wie American Photographs würde daher ebenso viel Zeit in Anspruch nehmen wie die sorgfältige Lektüre eines komplexen Gedichts vergleichbarer Länge. (Trachtenberg vergleicht das Fotobuch von Evans mit T.S. Eliots The Waste Land.) Der zweite und hier wichtigere wesentliche Unterschied zwischen einer statistischen Tabelle und einer Fotosequenz ist, dass die Arbeitsteilung zwischen Nutzern und Machern in den beiden Fällen anders ist. Der Macher einer Tabelle leistet viel interpretative Arbeit für Nutzer, während der Macher einer Fotosequenz von den Nutzern verlangt, sie selbst zu interpretieren. In einer Tabelle sind bekanntlich die Zeilen und Spalten mit den Namen der Kategorien und ihrer Untergliederung gekennzeichnet, die wir beachten sollen. Der Statistiker, der die Tabelle aufstellt, hat die analytische Arbeit für die Nutzer bereits geleistet und sagt ihnen in diesen Zeilen- und Spaltenüberschriften, dass es sich um Alter, Geschlecht, Einkommen, Bildung und andere Variablen handelt und dass sie in Kategorien teilbar sind, die aus den Merkmalen ersichtlich werden (25 bis 35 Jahre alt, 15.000 bis 25.000 $, männlich oder weiblich). Das Raster, das dadurch entsteht, dass zwei oder mehr dieser geteilten Kategorien zusammengefügt werden (wie ich vorhin Alter und Einkommen zusammengefügt habe, um eine so genannte Kreuztabellierung zu erzeugen), stellt alle möglichen Kombinationen dar. Die Eintragungen in den sich ergebenden Zellen zeigen, wie viele Fälle jeder Kombination vorkommen: Wie viele Personen zwischen 25 und 35 verdienen zwischen 15.000 und 25.000 $ im Jahr und wie viele zwischen 60.000 und 90.000 $ und so weiter für jede Kombination von Alter und Einkommen. Wir können uns die Fotosequenz in American Photographs wie die Eintragungen in einer solchen Tabelle oder einem solchen Raster vorstellen, jedes Bild ist ein Stück

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„Daten“, eine Tatsache, die den Nutzern gegeben wird, damit sie damit arbeiten können. Wenn Betrachter jedoch die Bilder einer Fotosequenz vergleichen, haben sie nicht dieselbe Hilfe, die in den Überschriften der Tabellenzeilen und -spalten zur Verfügung steht. Niemand hat eine Tabelle oder gekennzeichnete Zeilen und Spalten für den Betrachter hergestellt. Niemand hat ihm gesagt, was die wichtigen Dimensionen für Vergleiche sind, wenigstens nicht ausdrücklich. Und darum hat dem Betrachter auch niemand den Bereich an möglichen Kombinationen erklärt. Der Fotograf überlässt diese Arbeit dem Betrachter, dessen erster analytischer Schritt sein muss zu entdecken, welche Vergleichsdimensionen es gibt oder geben könnte. Der nächste Schritt ist, daraus zu folgern, welche Kombinationsarten von Menschen und Situationen und deren Wechselwirkungen es in dem Segment der Gesellschaft gibt, über das der Fotograf uns berichtet. Das Ergebnis seiner Arbeit sind nicht die in den Zellen der Tabelle zu findenden Gegenstände, sondern die Labels der Zeilen und Spalten selbst, die Dimensionen, die uns wichtig werden, indem wir Vergleiche zwischen den Bildern anstellen. Welche Art von Dimensionen können wir in American Photographs finden, und wie würde die entstehende Tabelle aussehen? Was folgt, schildert eine Möglichkeit, eine skizzenhafte, nur illustrative Analyse, die mit zwei Bildern von Evans beginnt, in denen er die Erfahrungen von Frauen auf den Straßen von New York aufnimmt. Es wären auch andere Interpretationen als meine möglich, und auch das ist ein Ergebnis, das aus dieser Übung folgt. Auf dem Bild A Girl in Fulton Street, New York, 1929 (Evans 1975: 39) sehen wir eine junge, schlanke weiße Frau, von uns abgewandt, sodass wir nur ihr linkes Profil erblicken (Abb. 3.2). Sie trägt einen dunklen Mantel mit einem großen Pelzkragen und hält einen Muff aus demselben Pelz. Auf ihrem Bubikopf trägt sie einen schwarzen Glockenhut. Man könnte ihren Gesichtsausdruck „hart“ oder vielleicht sogar „verärgert“ nennen. Man könnte sagen, sie sieht „misstrauisch“ aus. Oder auch nicht. Wir können uns aber einigen, dass sie nicht entspannt oder ungezwungen aussieht. Im Bild ist sie die einzige Figur in scharfer Einstellung. Drei Männer hinter ihr, die alle Filzhüte tragen, sind etwas unscharf, und die Menschen dahinter noch mehr. Die Szene befindet sich in einer belebten Geschäftsstraße in Lower Manhattan. Auch Reklameschilder und ein Baukran sind zu sehen.

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Abb. 3.2 Walker Evans: A Girl in Fulton Street, New York, 1929. ©The Metropolitan Museum of Art

Das Bild 42nd Street (ebd.: 43), das durch Interior of Negro Preacher‘s House, Florida, 1933 vom ersten Bild getrennt ist, zeigt eine schwarze Frau, älter und korpulenter, gut gekleidet in einem Mantel mit Pelzkragen, eine Perlenkette um den Hals, und mit einem Hut, der vielleicht etwas weniger elegant ist als der Hut der weißen Frau (Abb. 3.3). Sie steht am Fuß einer Treppe, die zur Hochbahn führt und auf der gerade ein Mann herunterkommt. Die Straße hinter ihr ist voller Autos; man sieht Werbeschilder und den Unterbau der Hochbahnschienen. Die Töne sind dunkler als die auf dem Bild der Fulton Street. Das Gesicht der Frau ist schwieriger zu beschreiben: schwere Augenlider, etwas misstrauisch gegenüber dem Mann, der sie fotografiert, auf der Hut.

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Abb. 3.3 Walker Evans: 42nd Street. ©The Metropolitan Museum of Art

Wenn wir über diese beiden Bilder nachdenken, könnten wir vorläufig zu einem Schluss über die Erfahrungen von Frauen auf diesen Straßen in New York kommen und vielleicht auch allgemeiner über das Leben von Frauen, das in genau den Momenten auf der Straße verkörpert wird, die Evans uns bietet. Wenn wir die beiden Bilder vergleichen, lernen wir etwas über die Dimensionen des Vergleichs, weil wir intuitiv denken, dass sie einander ähnlich sind. Wir könnten sagen, dass sich Frauen in New York in den Straßen unbehaglich fühlen und misstrauisch sind. Unser nächster Gedanke ist, dass sich diese beiden Frauen auf diese Weise ähnlich sind, was durch die Ähnlichkeit ihrer Hüte und Pelze unterstrichen wird, obwohl sie sich in Alter und Hautfarbe unterscheiden. Sie sind aber ganz anders als die Landfrau, die weiter vorn im Buch abgebildet ist (Alabama Cotton Tenant Farmer‘s Wife, 1936, ebd.: 33). In ihrem schlichten Kleid und mit ihrer einfachen Frisur lehnt sie sich gegen die verwitterten Schalbretter ihres Hauses (Abb. 3.4).

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Abb. 3.4 Walker Evans: Alabama Cotton Tenant Farmer’s Wife, 1936. ©The Metropolitan Museum of Art

Sie sieht nicht misstrauisch aus, aber man kann auch nicht sagen, dass sie entspannt ist. Man meint, sie sei etwas schüchtern und verlegen, weil ein Fotograf aus New York sie mit seiner großen Kamera aufnimmt, und sie wundert sich wohl, was er mit ihrem Bild vorhat. Wir lernen, dass „misstrauisch“ nicht alle Möglichkeiten ausschöpft; es gibt noch andere Dinge, die wir in unsere Gedanken über das Leben von Frauen aufnehmen sollten. Wir können diese Frauen mit den dargestellten Männern vergleichen – zum Beispiel dem älteren Schwarzen im adretten weißen Anzug, mit weißem Strohhut und schwarzem Hutband vor einem Kiosk mit Zeitschriften und Zeitungen in Spanisch und einem Coca-Cola-Schild darüber (Citizen in Downtown Havana, 1932, ebd.: 45). Er scheint sich so zu Hause zu fühlen, so gar nicht argwöhnisch, sondern locker, in einem ganz anderen städtischen Milieu, in einem anderen Land (Abb. 3.5).

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Abb. 3.5 Walker Evans: Citizen in Downtown Havana, 1932. ©The Metropolitan Museum of Art

Das erste Ergebnis einer solchen Analyse der Fotografien, die ein Betrachter mit dem vom Fotografen zur Verfügung gestellten Bildmaterial anstellt, könnte sein, dass Girl on Fulton Street uns erzählt, dass diese weiße Frau, und vielleicht alle weißen Frauen oder alle weißen Frauen eines bestimmten Alters und einer bestimmten Klasse, die in New York auf der Straße stehen, so aussehen, wobei sich das „so“ vielleicht auf ihre Stimmung oder Einstellung bezieht, wenn sie in der Öffentlichkeit und auf dem Präsentierteller zu sehen sind. Wenn wir uns 42nd Street anschauen, folgern wir vorläufig, dass diese schwarze Frau auf der Straße in New York auch so aussieht – als ihre eigene Version von „so“. Aber wir vergleichen die Bilder auch als Eintragungen in zwei benachbarten Zellen eines Rasters, in einer entstehenden Tabelle. Wir urteilen, dass die beiden Frauen diesen Blick gemeinsam 55

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haben und dass diese Gemeinsamkeit bedeutet, dass Frauen meinen, sie müssten sich so benehmen, wenn sie in New York öffentlich gesehen werden. Wenn wir genau hinschauen, könnten wir feststellen, dass sich die Gesichtsausdrücke doch unterscheiden, dass der Blick der schwarzen Frau vielleicht noch reservierter ist, auf eine Weise, die von der unterschiedlichen Stellung schwarzer und weißer Frauen oder jüngerer und älterer Frauen herrührt, oder dass es mit der unterschiedlichen Stellung verschiedener gesellschaftlicher Klassen zusammenhängt. Wir übertragen diese Vorstellungen auf andere Bilder der Sequenz und urteilen vielleicht, dass das Leben als Frau in New York in einer Weise verhärtet, die in Alabama nicht der Fall ist – oder umgekehrt. Und das fügt dieser Tabelle der Möglichkeiten eine weitere Dimension hinzu. Die Arbeit des Betrachters erzeugt nicht nur eine Liste möglicher Kombinationen von Lebenssituationen, sondern bildet auch das Raster der Vergleiche selbst: den Raum, der zwischen den Kreuzungen all dieser Möglichkeiten und deren Wechselwirkungen entsteht. Betrachten wir also die Geschehnisse einmal logisch! Immer wenn wir jemanden als „Frau“ oder „weiß“ oder eine Situation als „urban“ beschreiben, führen wir automatisch andere mögliche Label ein, die symmetrisch – „Mann“ – sein können. Aber wahrscheinlicher enthalten sie eine Liste abgestimmter Alternativen wie „schwarz“, „asiatisch“, „Native American“ und so weiter. Wenn eine Situation „urban“ ist, erscheinen uns auch andere Formen der Bevölkerungsdichte wie „suburban“ und „ländlich“ oder vielleicht auch „außerstädtisch“ und vielleicht andere. Der Begriff, den wir verwenden, erinnert uns an das Bestehen einer Dimension, in der es andere Positionen gibt als die, auf die wir gezeigt haben. Die gedachte Tabelle, auf die ich mich hier beziehe, drückt die logische Analyse bildlich aus. Sie zeigt alle möglichen Kombinationen der beschreibenden Dimensionen, die wir informell benutzt haben. Als wir „Frau“ eingaben, weil die beiden New Yorker Frauen sind, bildeten wir für unsere Analyse die Dimension „Geschlecht“ (mit Platz für die Kategorie „Mann“). Als wir merkten, dass die beiden Frauen von verschiedener Hautfarbe sind, entstand die Dimension „Hautfarbe“. Wir kennen noch nicht alle Unterteilungen, die wir unter dieser Überschrift benutzen werden. Wenn wir merken, dass die Frauen „misstrauisch“ werden, wenn sie sich auf der Straße in New York beobachtet fühlen, bilden wir eine Dimension „Reaktionen auf Beobachtung in der Öffentlichkeit“. Wenn wir an die Frau des Farmers in Alabama denken, müssen wir das ländlich-urbane Kontinuum mit allen Zwischenpunkten einfügen, die wir für angebracht oder notwendig halten. Auf diese Weise leisten wir die Arbeit, die Zensus-Statistiker für uns tun, wenn sie eine Tabelle entwickeln. Wir benennen die Zeilen und Spalten. Wenn wir sie kombinieren, die Spalten mit dem Geschlechterbegriffen und die Zeilen mit möglichen Einstellungen bei Beobachtung in der Öffentlichkeit beschriften

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(in dem Bewusstsein, dass wir sicherlich mehr Zeilen hinzufügen werden, wenn wir mehr Arten von Reaktionen auf das Auftreten in der Öffentlichkeit sehen), dann sehen wir einen größeren konzeptionellen Raum als Evans dargestellt hat, aber einen Raum, der – wenn Sie diese Analyse akzeptieren – von den Bildern in seinem Buch angedeutet wird. Wir erhalten etwas Hilfe vom Fotografen, der die Bilder so komponiert hat, dass diese Möglichkeiten und nicht andere angedeutet werden, und der sie so angeordnet hat, dass mit Hilfe der oben erwähnten Vergleiche ersichtlich wird, um welche Dimensionen und Kreuzungen der Tabelle es sich handelt oder handeln könnte. Nachdem wir das getan haben (es klingt nach mehr Arbeit als es ist), können wir weitere Bilder anschauen, zu denen wir eigentlich keine solche Fragen stellen wollten, um zu sehen, was sie zu unserem Verständnis der abgebildeten Themen, aber auch der allgemeinen Ideen und vorgeschlagenen Kategorien beitragen. Jetzt können wir einige Vorteile der fotografischen Methode im Gegensatz zu der von Statistikern benutzten tabellarischen Methode erkennen. Ursprünglich wollte ich die Tabelle aufstellen, die bei der oben genannten Analyse des Buches von Evans entstehen könnte, aber ich gab die Idee auf, als ich merkte, welches Chaos dadurch entstehen würde. Tabellen sind sehr hilfreich, wenn man es mit relativ wenigen Kategorien zu tun hat. Man bildet eine überschaubare Anzahl an Labels und Zellen. Aber bei jeder zusätzlichen Dimension verdoppelt sich die Anzahl der erforderlichen Zellen. (Sie finden eine sehr deutliche Erklärung dieses Vorgangs bei Danto, 1964. Er verwendet die Beurteilung von Kunstwerken als Beispiel, erklärt aber auch sehr ausführlich die Logik der Analyse.) Im einfachsten Fall bilden zwei Variablen, jeweils mit nur zwei Werten, vier Zellen. Beispiel: Alter unterteilt in alt und jung, kreuztabelliert mit Geschlecht aufgeteilt in männlich und weiblich. (Als Übung können Sie diese Tabellen selbst entwickeln.) Jede Zelle enthält eine wichtige Tatsache: Wie viele Personen haben genau diese Kombination von Merkmalen? (In einer etwas komplexeren Version: Welcher Anteil von Personen in der Zelle hat einen Wert x an einem dritten Kennzeichen wie „reich“ im Gegensatz zu „arm“?) Wenn Sie jetzt die Variable Bevölkerungsdichte hinzufügen, unterteilt in ländlich und städtisch, müssen Sie jede der vier Alter-/Geschlecht-Zellen in zwei Zellen teilen, eine für ländlich und eine für städtisch, und Sie erhalten acht Zellen. Jede weitere Teilung – wenn Sie zum Beispiel eine Kategorie für suburban hinzufügen – erhöht die Anzahl der Untertitel in einer Zeile oder Spalte sowie die Anzahl der Zellen. (Mehr zum Problem der Darstellung solcher Informationen in einer Tabelle in Kapitel 5.) Wenn man vier oder fünf Merkmale kreuztabelliert, hat die sich ergebende Tabelle so viele Zellen, dass es schwierig ist – nicht unmöglich, aber schwierig – die beiden Zahlen zu finden, die mittels der Tabelle verglichen werden sollen, und damit 57

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hätte sie ihren Zweck verfehlt. Eine Tabelle mit zehn kreuztabellierten Variablen und 1.024 Zellen wäre so unhandlich, dass es schwierig wäre, sie zu veröffentlichen. Selbst wenn das gelingt, würden Nutzer es schwierig finden, sie zu handhaben oder gar aus ihren Einträgen schlau zu werden. Die Dokumentarfotografie funktioniert anders. Sie enthält gewöhnlich so viel Detail, dass ein interessierter Nutzer leicht viele Vergleiche zwischen zwei solchen Bildern anstellen kann, wobei jeder Vergleich eine Dimension von Variation und möglichen Unterteilungen anregt und zu einer Liste von Fragen hinzufügt, die man sich stellen muss, wenn man aufeinanderfolgende Bilder in der Sequenz betrachtet. Das Bild enthält in Embryoform alle diese Möglichkeiten, deren Anzahl nur durch den Einfallsreichtum des Nutzers begrenzt ist, der erkundet, was alles vorkommt. Nicht alle Vergleiche werden zu Ideen führen, die sich über eine längere Sequenz hinweg als Hypothesen darüber aufrechterhalten lassen, worum es bei der Sequenz geht, und die standhalten, wenn man sie mit den nachfolgenden Bildern konfrontiert. Aber manche, und nicht nur wenige, tun das. Diese Ideen werden einander nicht widersprechen. Sie sind komplementär und regen komplexere Hypothesen an, die die Subthemen verbinden, die ein Betrachter vielleicht konstruieren möchte. All diese Arbeit – der Aufbau von Kategorien für Vergleiche und deren Unterteilungen, die Entwicklung von Hypothesen und deren Prüfung – ist Sache des Nutzers. Der Macher liefert das Rohmaterial (in Wirklichkeit nicht allzu roh), allerdings künstlerisch gewählt und angeordnet, aber es ist dem Nutzer überlassen, die Analyse mit all ihrem Zubehör zu erarbeiten. Das ist eine ganz andere Aufteilung der Repräsentationsarbeit im Vergleich zur Anfertigung und Nutzung einer Zensustabelle. Die große Vielfalt der Details in einer Dokumentarfotografie gibt Betrachtern Material, mit dem sie mehr als einen der Vergleiche anstellen können, auf die ich hingewiesen habe. Aus einer langen Sequenz detaillierter Fotografien kann man mehr als eine Tabelle erarbeiten. Es gibt so viel zu vergleichen, so viele Dimensionen zu erkunden, so viele Geschichten zu erzählen. So könnten wir uns zum Beispiel nicht auf die Frauen konzentrieren, die auf der Straße stehen, sondern auf die Straßen selbst, wie sie aussehen und was sie uns über das Leben in Amerika erzählen. Das bedeutet, dass wir in unseren Vergleich alle Bilder von Straßen einbeziehen könnten, in denen keine Menschen zu sehen sind, wie das gespenstische Bild von Autos, die im Regen in Reih und Glied am Straßenrand geparkt sind (Main Street, Saratoga Springs, New York, 1931, Evans 1975: 59). Es führt uns zu Vergleichen mit anderen Straßen in anderen Bildern, in Bethlehem, Pennsylvania (ebd.: 119), in Fredericksburg, Virginia (ebd.: 153) und verschiedenen anderen großen und kleineren Städten (Abb. 3.6, 3.7 und 3.8).

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Abb. 3.6 Walker Evans: Main Street, Saratoga Springs, New York, 1931. ©The Metropolitan Museum of Art.

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Abb. 3.7 Walker Evans: Street and Graveyard in Bethlehem, Pennsylvania, 1935. ©The Metropolitan Museum of Art

Abb. 3.8 Walker Evans: Frame Houses in Virginia, 1936. ©The Metropolitan Museum of Art

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So unterstützt eine gekonnte Sequenz von Fotografien eine große Anzahl von Vergleichen und daher viele Interpretationen. Wir können deshalb dieser letztendlich kleinen Auswahl an Bildern ständig mehr Bedeutungen zuordnen. Deswegen ist es auch schwierig – sogar unmöglich –, sich auf eine definitive Interpretation eines solchen Werkes zu einigen, und deswegen belohnen die American Photographs wiederholtes Lesen durch das Angebot ständig neuer interpretativer Möglichkeiten. Evans hat seinen Teil der Arbeit getan. Er nahm die Bilder auf, wählte sie aus mitsamt ihren Möglichkeiten und ließ sie als Buch verlegen. Den Rest hat er den Nutzern überlassen.

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Die Arbeit der Nutzer 4 Die Arbeit der Nutzer

Manche Repräsentationen des gesellschaftlichen Lebens fordern, dass ihre Nutzer viel Arbeit leisten. Wie viele Nutzer haben aber die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten? Was geschieht, wenn sie es nicht können oder wollen? Wie gehen die Macher der Repräsentationen mit den unterschiedlichen Fähigkeiten der Nutzer um? Was tun die Macher, wenn Nutzer keine Lust zu der Arbeit haben, die für Berichte erforderlich ist?

Deuten Manche Repräsentationen scheinen es uns leicht zu machen, ihren Sinn zu erkennen. Man versteht ihn auf den ersten Blick, und es ist so leicht wie einen Apfel vom Baum zu pflücken. Andere fordern mehr Arbeit, mehr Nachdenken, mehr Grübeln über die implizierten Zusammenhänge. Ich schlage das Wort Deuten4 vor, um die Tätigkeit zu beschreiben, mit der wir die Botschaft erkunden, interpretieren, ihr Bedeutung zuordnen oder abgewinnen. Ein Nutzer kann jede Repräsentation der Gesellschaft auf eine von zwei Arten auffassen – als offensichtlich, wobei die Bedeutung so naheliegend ist, dass sie nur minimal oder routinemäßig behandelt werden muss, oder als dicht, sodass alle Details sorgfältige Aufmerksamkeit erfordern. „Offensichtlich“ und „dicht“ sind keine natürlichen Merkmale von Gegenständen oder Ereignissen, sondern beschreiben, wie wir diese Dinge behandeln. Wir behandeln Repräsentationen, wie wir es gelernt haben. Repräsentationen gelten solchen Nutzern als offensichtlich, die schon genau wissen, wie sie die Bedeutung erkennen können, und als dicht und mehr Arbeit fordernd, wenn sie diese

4 Anmerkung des Übersetzers: Englisch „construing“. 63 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_4

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genaue Art der Repräsentation noch nicht erlebt haben. Schon seit unserer Zeit als kleine Kinder haben wir das Deuten solcher Objekte hin und wieder geübt. Aber wir haben nicht alle eine Ausbildung dafür und Erfahrung mit allen möglichen Formen von Repräsentationen gehabt. Diese Fähigkeiten sind entlang aller möglichen sozialen Differenzierungslinien unterschiedlich verteilt. Wir können jede Fotografie als offensichtlich oder unklar betrachten. (Ich zeige Ihnen in Kapitel 10, wie man dieselbe Fotografie unterschiedlich lesen kann.) Viele Fotografien nutzen Konventionen, die vielen Menschen so bekannt sind, dass erfahrene Betrachter – Leute, die normalerweise mit Fotos in Kontakt kommen – auf einen Blick die gesamte Geschichte erkennen, ebenso wie die meisten von uns den vollen Text von Schildern erkennen, auch wenn wir nur Fragmente davon sehen. In gut organisierten Darstellungswelten wissen Nutzer, wie sie die Repräsentationen zu deuten haben, denen sie routinemäßig begegnen. Ein Beispiel sind Sportfotos – nicht die während des Spiels oder Wettkampfs aufgenommenen Fotos vom Spielgeschehen, sondern die der anderen Aktivitäten um das große Spiel herum. Solche Bilder sind organisatorisch eingegrenzt (Hagaman 1993) und deswegen sehr formelhaft, damit sie für erfahrene Betrachter leichter lesbar sind. Sie betreffen eine kleine Auswahl an Situationen, die Zeitungsleser gut kennen, weil sie regelmäßig erscheinen. Die häufigsten Bilder (ich folge hier direkt Hagamans Analyse) betreffen einen Spieler oder eine gewinnende oder verlierende Mannschaft. Jedes Spiel, das einen Sieger hat, hat natürlich auch einen Verlierer. Welche Seite das Bild als Sieger zeigt, richtet sich danach, für welche Stadt die Zeitung bestimmt ist, für die das Bild aufgenommen wurde. Fotografien in Chicago betrachten die Cubs und die Sox als „unsere Mannschaft“, deren Siege gefeiert werden, während die New Yorker Zeitungen die Yankees und die Mets als „unsere“ behandeln. Leser brauchen das nicht herauszufinden. Es ist einfach Teil der Ausrüstung, die sie beim Interpretieren mitbringen. (Fotografien für die Presseagenturen, die viele Zeitungen in vielen Städten bedienen, haben meistens eine Auswahl, von der örtliche Redakteure die zu ihrer Heimmannschaft passenden Fotos aussuchen können.) Wenn „unsere“ Mannschaft gewinnt, sehen wir jubelnde Sieger, einzeln oder in Gruppen, ihre Arme in der Luft, den Kopf zurückgeworfen, den Mund offen oder sich umarmend. Wenn „unsere“ Mannschaft verliert, sehen wir einen einsamen Spieler auf der Bank sitzen. Er lässt den Kopf und die Schultern hängen. Vielleicht legt ein anderer Spieler ihm tröstend den Arm auf die Schulter. Diese klischeehaften Posen erscheinen auf Fotos von Sportlern aller Art: von Amateuren und Profis, Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern. Gut sozialisierte Amerikaner (und zweifellos immer mehr Menschen überall) lernen diese Sprache der Gebärden und Körperhaltung als Kinder und brauchen

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daher nur eine Sekunde, um dem Bild eines Sportlers, der mit strahlendem Lächeln seine Arme zum Himmel hebt, die beabsichtigte Bedeutung zu entnehmen. Was könnte es denn bedeuten außer: Er hat gesiegt! Und ebenso kennen sie die Sprache des Verlierens. Wenn sie sehen, wie einer allein mit gesenktem Kopf auf einer Bank sitzt, dann wissen sie aus Hunderten und Tausenden solcher Bilder, dass dieser Spieler verloren hat. Was sonst? Die Bedeutung ist nicht etwa offensichtlich, weil diese Gebärden in ihrer visuellen Sprache inhärent offensichtlich sind. Sie ist offensichtlich, weil Nutzer diese Sprache gelernt haben, wie man alle Sprachen lernt, durch ständige Wiederholung. Sie wissen, wie man das Bild liest. Fotografen bilden Sieger und Verlierer auf diese leicht auszulegende Weise ab, damit Zeitungsleser nur ein oder zwei Sekunden lang auf das Bild blicken müssen, während sie die Ergebnisse der gestrigen Spiele scannen. Die Bilder geben denjenigen, die den Code kennen, ihre Kernaussage schnell preis. Weil die Nutzer die Sprache kennen und die Macher das wissen, sind solche Bilder leicht aufzunehmen, sobald die Bildmacher die entsprechende Bildsprache beherrschen, damit sie den Anforderungen des Redakteurs entsprechen können, der sie ausgesandt hat, um schnell und wirkungsvoll über die Sportveranstaltung zu berichten. Leicht lesbare Bilder – in einer weit verbreiteten bildlichen bzw. visuellen Sprache – erscheinen nicht nur auf den Sportseiten. Die Standard-Themen ernsthafter Fotojournalisten – Krieg, Hungerkatastrophen, Mordanschläge – haben ein Repertoire von ähnlich kanonischen Bildern mit höchst konventioneller visueller Sprache, die gut sozialisierte Nutzer ebenfalls leicht interpretieren können. Man kann sich darauf verlassen, dass in Hungerkatastrophen Bilder vom kleinen Kind mit geschwollenem Bauch produziert werden. Mordanschläge kommen in zwei Versionen. Der Fotograf, der das Glück hatte, während des Anschlags am Tatort anwesend zu sein, zeigt, wie der Mörder die Pistole hält, während das Opfer zu Boden stürzt. Fotografen, die erst später ankommen, müssen sich mit Bildern zufriedengeben, die das am Boden in einer Blutlache liegende Opfer zeigen. Jeder, der so ein Bild sieht, weiß, „was es bedeutet“. Ein derart leicht lesbares Bild aufzunehmen, erfordert Geschick. Der Fotograf muss den Rahmen mit dem formelhaften typischen Bild füllen, aber Details weglassen, die den Nutzer von den Schlüsselsignalen ablenken würden. Oder er lässt unnötige Details (die von den Herausgebern manchmal als „Störfaktoren“ bezeichnet werden) durch selektiven Fokus verschwimmen (Hagaman 1993: 50f., 59ff.). Wie wir bei den Fotografien von Walker Evans gesehen haben, beabsichtigen andere, mit ebenso großer Sorgfalt aufgenommene Bilder genau das Gegenteil. Sie enthalten Details, deren Bedeutung nicht auf Anhieb offensichtlich ist, die keine bereits gut bekannte bildliche Sprache sprechen, die aber sorgfältige Beachtung und Nachdenken lohnen. Diese Bilder erscheinen Leuten, die sie nicht gründlich 65

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betrachten, langweilig oder uninteressant. Sie verwenden nicht die allgemein verständlichen Codes, die Nutzern sofort ihre Bedeutung mitteilen. Stattdessen zwingen sie Nutzer, bewusst relevantes Material herauszusuchen und die Wechselwirkungen herauszuarbeiten, damit sie die Zusammenhänge begreifen. Das macht Künstler, die sich mit Gesellschaftsanalyse befassen, so interessant. Sie wollen nicht das Formelhafte, bereits Bekannte darstellen oder eine schon bekannte Sprache benutzen. Sie wollen den Betrachtern ihrer Bilder etwas zeigen, das sie vorher noch nie gesehen haben. Wenn Fotografen aber eine allgemein bekannte bildliche Sprache benutzen, dann wollen sie, dass der Betrachter neue Bedeutungen darin entdeckt. Der Konzeptkünstler Hans Haacke veranschaulicht diesen Punkt (Becker, Walton 1975). Haacke beschrieb seine Arbeiten einst als eine Studie von Systemen: natürliche Systeme wie in seinem frühen Werk, einem verschlossenen Plastikwürfel, der eine kleine Menge an Feuchtigkeit enthielt, dessen alternierende Kondensation und Evaporation den systemischen Charakter dieser Prozesse darstellte; in seinen späteren Arbeiten dann soziale Systeme, wobei er sich ausdrücklich mit den Auswirkungen politischer und wirtschaftlicher Macht beschäftigte (Haacke 1975, insb.: 59ff.). So besteht sein „Guggenheim Projekt“ (ebd.) zum Beispiel aus sieben Tafeln mit Schriftstücken, die viele Tatsachen über die Treuhänder des Solomon R. Guggenheim-Museums in New York enthalten: Wer die Treuhänder des Museums waren, ihre Familienverhältnisse (sie waren fast alle Mitglieder der Guggenheim-Familie, obwohl manche andere Namen hatten), bei welchen anderen Unternehmen und Organisationen sie ebenfalls im Vorstand waren, und viele Fakten über die Verbrechen, die diese Unternehmen begangen hatten, vor allem ihre Ausbeutung indigener Arbeiter in Ländern der Dritten Welt. Das Guggenheim-Projekt kommt zu keinen Schlussfolgerungen und macht keine Verallgemeinerungen. Es enthält weder Spuren von Marxismus noch von anderen Versionen politischer Analyse – nur die Wiedergabe von Tatsachen. Haacke erhebt keinen unmittelbaren Vorwurf gegen schuldige Parteien und behauptet keine Verschwörungen. Noch weniger sagt er, diese Bastion der modernen Kunst und des fortschrittlichen künstlerischen Denkens wird durch Kapital gefördert, das auf der Ausbeutung von Arbeitern in Ländern beruht, die weniger fortschrittlich sind als die Vereinigten Staaten. Aber wer sein Werk betrachtet, müsste außerordentlich begriffsstutzig und absichtlich blind sein, wenn er nicht zu diesem Schluss käme. Haacke verlässt sich auf das habituelle vernünftige Denken gewöhnlicher Betrachter, indem er ein wohlbekanntes Format anwendet, die simple Auflistung unbestrittener Tatsachen: Namen, Daten, Orte, offizielle Positionen. Man erfährt, wer die Treuhänder des Museums sind, dass die meisten zur selben Großfamilie gehören, dass sie Vorstandsmitglie-

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der mehrerer Unternehmen sind, dass diese Unternehmen an Bergbauaktivitäten in aller Welt beteiligt sind. Während man jede „offensichtliche“ Tatsache erfährt, rechnet man es zu dem hinzu, was man schon weiß … und die Schlussfolgerung, dass das Museum durch die Ausbeutung unterdrückter Arbeiter in aller Welt finanziert wird, liegt auf der Hand. Das Material ist aber nicht einfach da. Man muss wissen, wie es aufzunehmen ist. Da die meisten Nutzer das wissen, beruht die Schlussfolgerung auf ihrer Arbeit, nämlich die einfachen, unbestreitbaren Fakten als Syllogismen zu ordnen und die Konsequenzen zu ziehen, zu denen diese Syllogismen scheinbar unausweichlich und natürlich führen. Haacke ver­wendete dieselbe Technik, um zum Beispiel die politischen (zumeist Nazi-)Ver­bindungen eines deutschen Industriellen darzustellen, der Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde des Wallraf-Richartz-Museums in Köln war, die dem Museum Edouard Manets Gemälde „Spargelbündel“ geschenkt hatte (Haacke 1975: 69ff.). Ich habe das Wort Deuten in Bezug auf diese Aktivität benutzt, durch die Nutzer in interpretativen Gemeinschaften (ich komme gleich auf diesen Ausdruck zurück) einfach und gleichsam „natürlich“ die Bedeutung einer Repräsentation erfassen und verstehen. Das tat ich, um zu verdeutlichen, dass eine solche Arbeit geleistet werden muss, bevor eine Repräsentation dem Nutzer ihre Bedeutung preisgibt. Woraus besteht diese Arbeit? Deuten in diesem primären Sinn bezieht sich auf die Analyse der Grammatik einer Aussage, das Verständnis der Begriffe, in die sie eingebettet ist, und wie diese miteinander verbunden sind. Der ausführlichere Sinn von Deuten ist „den Sinn von etwas entdecken und richtig erfassen; interpretieren“. Das müssen wir ernst nehmen. Nutzer überspringen diesen Schritt oft. Sie ignorieren sogar das darstellende Artefakt völlig, das so sorgfältig für sie konstruiert wurde. Ich meine nicht den flüchtigen Blick und das schnelle Überfliegen, das Durchblättern eines Buches von hinten nach vorn, das Fotografen so stark irritiert. Ich meine die Tätigkeit, die Lawrence McGill in seiner Studie über die Lesegewohnheiten von Studenten beschreibt, von denen in einem naturwissenschaftlichen Kurs verlangt wurde, sie sollten viele Artikel mit einer großen Menge an Zahlentabellen lesen. Er sagte: Die Studenten haben beim Lesen dieser Artikel die Einstellung, sie müssten sie „hinter sich bringen“, um die Anforderungen ihrer Kurse zu erfüllen. Diese Studenten bemühen sich, alles Überflüssige auszulassen, also all das, was nicht direkt „auf den Punkt“ kommt, den der Artikel zu vermitteln sucht. Statistische Tabellen, Beschreibungen der Methode und Ergebnisse werden für Schablonen gehalten, die in nahezu allen Artikeln vorkommen (das heißt, diese Teile lesen sich so, als wären sie „geschrieben worden, weil es sein musste“). Ihre Zwecke sind bekannt und werden

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Teil I Ideen verstanden, aber die Studenten beachten sie nur, wenn man ihnen einen guten Grund dafür gibt. (McGill 1990: 135)

Da die Studenten selten einen so guten Grund fanden, ignorierten sie die Tabellen mehr oder weniger, die den Mittelpunkt der gelesenen Artikel bildeten. Sie argumentierten, diese Tabellen müssten ja wohl aussagen, was die Autoren im Text erklärten, sonst hätten die Verlage die Artikel doch abgewiesen. Sie lernten die Schlussfolgerungen auswendig, denn sie glaubten, ihre Prüfungsfragen würden sich gewiss darauf beziehen. Sie verließen sich darauf, das andere Zeug würde diese Aussagen nur bestätigen. Nutzer können also die ihnen überlassene Arbeit nicht verrichten, sich einfach nicht darum kümmern, sich das Foto nicht ansehen. Sie können während der Filmvorführung einschlafen, die Tabellen vernachlässigen oder große Teile eines Romans überspringen. Das geschieht. Aber oft genug geschieht es auch nicht. Und selbst wenn es geschieht, können wir entscheiden, die Leute zu ignorieren, die das ignorieren, was wir für sie gemacht haben. Wir halten Ausschau nach interessierten Betrachtern, die gewillt sind, die Arbeit zu leisten, die notwendig ist, um die Bedeutung aus der Verpackung herauszuschälen, in der sie vorgelegt wird. Wir können die Analyse der Deutung von Darstellungen mit der Feststellung beginnen, dass alle solche Repräsentationen als Mittel dienen, Daten und Ideen zusammenzufassen. Bei jeder Version einer sozialwissenschaftlichen Analyse kommt es darauf an, das Viele auf ein Weniges zu begrenzen und dabei die Befunde verständlicher und zugänglicher zu machen (diesem wichtigen Thema allein widme ich Kapitel 6). Latour (1987, insb.: 233ff.) beschreibt ausführlich, wie Wissenschaftler ihre Daten zusammenfassen und reduzieren und immer mehr Details aus ihrem Bericht entfernen, um das Übriggebliebene transportabel und vergleichbar zu machen. Er nennt diese Transformationsserie eine Kaskade. Was der Leser zu tun hat, wird manchmal im Zusammenhang mit schriftlichen Texten das „Auspacken“ der Repräsentation genannt, also das Zurücknehmen der Zusammenfassung, die zu dem Artefakt geführt hat, das wir gerade untersuchen. Wir können unsere Überlegungen hier damit beginnen, einige Beispiele anzuschauen, die Sammlung von Tabellen und Grafiken, die ich für mein Seminar zu diesem Thema zusammengestellt habe. Diese anspruchsvollen Tabellen und Grafiken erfordern etwas interpretative Arbeit, etwas Deutung. Manche Tabellen sind zwar einfach, aber sehr detailliert und enthalten eine Materialmenge, die heute von den meisten Lesern als übermäßig aufgefasst würde, weil sie zu viel Aufmerksamkeit für das erfordert, was sie uns bringt. Es ist gut möglich, dass Leser, die mit diesen Tabellen konfrontiert werden, die das Maß des

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normalerweise Erwarteten überschreiten, sie wie einige von McGills Befragten überspringen und sich darauf verlassen, dass sie das aussagen, was der Autor behauptet. Nehmen wir zwei Tabellen aus der Studie von W.E.B. DuBois zum historischen Schwarzenviertel in Philadelphia, dem Seventh Ward. Die kleinere der Tabellen, die nur eine halbe Seite lang ist, heißt Berufe – männlich, zehn bis einundzwanzig Jahre alt, Seventh Ward, 1896. Die größere, die zweieinhalb Seiten lang ist, behandelt dasselbe Thema, nur dass die Altersgruppe auf Einundzwanzig und älter geändert ist (DuBois 1996: 105ff.). Diese Tabellen enthalten eine sehr ausführliche Unterteilung der Berufe schwarzer Jugendlicher und Erwachsener im Jahre 1899, weit ausführlicher als heute jemand wissen muss und wahrscheinlich auch 1899 wissen musste. Zu welchem Zweck würde jemand eine Unterteilung der Berufe junger Männer aufgeschlüsselt nach einzelnen Jahrgängen wissen wollen, zumal manche der Berufsbezeichnungen heute gar keine Bedeutung mehr haben? Viele der Studenten in meinem Seminar hatten keine Ahnung, was ein „Stallbursche“5 getan hat, und das war nur einer der vielen esoterischen, nicht mehr geläufigen Berufsbezeichnungen, die DuBois aufzählte. (Ich wusste, es hatte etwas mit Pferden zu tun, aber ich musste in einem Wörterbuch nachschlagen, um die Definition zu erhalten: „Jemand, der für Pferde verantwortlich ist, etwa an einem Gasthof: ein Stallknecht.“) Auf den Punkt gebracht: Wozu soll es dienen, in einer in Altersstufen eingeteilten Tabelle Berufe wie Porzellanreparierer oder Korbflechter aufzuführen, von denen es jeweils nur einen gab? Alles steht jedenfalls zur Verfügung, falls jemand Lust haben sollte, sich damit zu befassen. Die Tabelle enthält wohl mehr Informationen als heute irgendjemand von uns als notwendig erachten würde. Trotzdem wussten alle, die ich in meinem Seminar mit diesem Material konfrontierte, wie die Tabelle zu lesen war. Viele Leute, wohl besonders Studenten der Sozialwissenschaften, wissen, wie man das tut. Wir alle wussten, dass die Tabelle zweidimensional war, dass die Dimensionen aus Beruf und Alter bestanden und dass die Zahlen in den Zellen neben den Berufsbezeichnungen und unter den Altersüberschriften aussagten, wie viele es jeweils gab. Die Zelle für „31-40-jährige Korbflechter“ enthielt eine „1“, also gab es nur einen in dieser Kategorie, ebenso verhielt es sich mit der „28“ in der Zelle für „21-30-jährige Barbiere“, die aussagte, dass es achtundzwanzig Männer dieses Alters in dieser Berufsgruppe gab. Und so weiter. Viele Leute finden zweidimensionale Tabellen weniger offensichtlich als diese gut vorbereiteten Promovenden. Das stellte ich fest, als ich Studenten vor ihrem Studienabschuss in Soziologie beibringen musste, wie man ein solches Objekt deu5 Anmerkung des Übersetzers: Englisch „hostler“. 69

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tet (wie ich es im vorigen Kapitel erklärt habe) und ihnen sagte, dass die vertikale Dimension ein Element mit unterschiedlichen Werten darstellt, die horizontale Dimension eine zweite Variable darstellt, die ebenfalls verschiedene Werte hat, und dass die Zellen zeigen, auf wie viele Fälle (Menschen) beide Kriterien zutreffen. Die Grafiken, die oft sozialwissenschaftliche Abhandlungen schmücken, dienen als Metaphern, als zweidimensionale Repräsentationen einer komplizierten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Ich werde diese Metaphern in Kapitel 10 ausführlich analysieren und möchte hier nur bemerken, dass Grafiken, so einfach sie auch sein mögen, Deutung fordern und dass ihre Bedeutung nie offensichtlich ist. Wenn man sie anschaut, muss man sich bewusst sagen: „Diese Linie bedeutet dies und jene Linie bedeutet das; wenn man sie vergleicht, ist diese Linie länger als jene, und damit ist die dargestellte Quantität größer.“ Oder – wie bei manchen später zu diskutierenden Grafiken – sie verwenden zu einem bestimmten Zweck entwickelte Symbole und Formate, die für diese Daten und für jene Analyse spezifisch sind, so dass der Leser bewusst die Komponenten identifizieren und lernen muss, was sie darstellen und was sich daher der Grafik entnehmen lässt. Theaterstücke, Romane, Filme und Fotografien verursachen andere Probleme, besonders wenn ihre Macher Künstler sind. Künstler glauben normalerweise, ihre Werke sprächen für sich selbst, dass sie schon in der Repräsentation selbst alles gesagt hätten, was zum Thema zu sagen ist, und dass jeder Mangel an Klarheit bedeutet, dass der Betrachter nicht die Arbeit geleistet hat, die notwendig ist, um die Bedeutung klar zu machen. Man könnte sagen: „Du hast nicht sorgfältig gelesen“ oder „Du hast die Fotografie nicht sorgfältig angeschaut“ oder „Du hast geschlafen, als das entscheidende Ereignis auf der Bühne geschah“. Im Allgemeinen behaupten Macher, der Betrachter habe dem Werk nicht die vollkommene Aufmerksamkeit geschenkt, die es erfordert.

Wer weiß, wie man was tut? Die interpretativen Gemeinschaften Wenn Macher es den Nutzern überlassen, das Werk zu interpretieren, seine verzweigten Auswirkungen und Konsequenzen selbst abzuleiten, hängt die endgültige Bedeutung des Werkes davon ab, ob die Nutzer wissen, was sie damit und mit derartigen Arbeiten überhaupt anfangen sollen. Das Wissen darüber, wie man interpretiert, was ein Nutzer macht, ist innerhalb der Gemeinschaft der Macher und Nutzer einer bestimmten Repräsentationsart nicht immer – eigentlich fast nie – gleichmäßig verteilt.

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Steven Shapin war an diesem Problem interessiert, das aufkam, als die Entwicklung der modernen Wissenschaften begann. Er wollte wissen, wie der britische „experimentell arbeitende Naturphilosoph“ Robert Boyle im 17. Jahrhundert seine naturwissenschaftlichen Befunde seinen Kollegen und anderen Interessierten vermittelte. Shapins Analyse (1994) betrifft nicht das Erzählen über Gesellschaft, erklärt aber, wie die Art und Weise, wie man erzählt, von der Art und Weise abhängt, wie das Publikum versteht und wie Macher daher andere Wege einschlagen müssen, wenn sie mit ihrem Anliegen eine neue Zielgruppe ansprechen wollen. Shapins Analyse bietet uns eine Schablone, mit der wir verstehen können, wie sich Arten des Erzählens über Gesellschaft entsprechend wandeln könnten. Shapin spricht davon, wie Boyle zögerte, seine Befunde in mathematischer Sprache auszudrücken, und es demgegenüber vorzog, sie mündlich mitzuteilen, obwohl das viel umständlicher war: Boyle verstand Mathematik als eine abstrakte, esoterische und private Form der Kultur. Das war ein Hauptgrund dafür, dass er um ihren Platz in der experimentellen Naturphilosophie besorgt war. Wenn die experimentelle Philosophie ihre Legitimität und ihren Wahrheitsgehalt durch eine öffentlich zugängliche Sprache sichern sollte, dann könnte die Einbeziehung der mathematischen Kultur Privatheit bedrohen. Schon Kopernikus hatte gesagt, die Mathematik sei für Mathematiker da. Mit seiner prominenten Stimme hatte er damit nur das weit verbreitete Verständnis des Stellenwertes der Mathematik innerhalb der Gelehrtenkultur zum Ausdruck gebracht. Wie Kuhn feststellte, waren schon in der Antike nur die nicht-experimentellen Mathematikwissenschaften durch eine „dem Laien unzugängliche Sprache und Methodik und damit eine sich ausschließlich an Fachleute wendende Literatur“ gekennzeichnet. Boyle soll sich über die relative Unzugänglichkeit der Mathematik ausgelassen haben. Seiner Meinung nach hätte es die Größe der praktizierenden Gemeinschaft eingeschränkt, wenn er wie ein Mathematiker verfahren wäre. Diese Einschränkung würde die eigentliche Fähigkeit der Mathematik aufs Spiel setzen, physische Wahrheit zu erzeugen. Es stimmt, dass die mathematische Kultur sehr starke Mittel hatte, den Glauben an die Wahrheit ihrer Vorschläge zu sichern, während der Anteil jener Gläubigen gering war, die ihre Zustimmung frei und kompetent erteilten. Im Gegensatz dazu gaben Mitglieder einer richtig zusammengesetzten experimentellen Gemeinschaft ihre Zustimmung freiwillig auf der Grundlage von Zeugnissen und der vertrauenswürdigen Bestätigungen anderer Zeugen. […] Boyle wollte historisch spezifische experimentelle Leistungen in den Köpfen der Leser anschaulich machen und moralisch rechtfertigen, dass diese Dinge tatsächlich genau so, genau dann und genau dort geschehen waren, wie er es beschrieben hatte. Diese Form der Mitteilung hielt man auch für verständlicher als alternative Formen der Kommunikation. Seine Hydrostatischen Paradoxa besagten, er hätte die Befunde auch in stärker stilisierter und mathematischer Form berichten können, habe sich aber dagegen entschieden: „Wer nicht gewohnt ist, mathematische Bücher zu lesen, ist wohl auch nicht geneigt, sich Dinge anzueignen, die mit Schemata (Diagrammen) erklärt werden müssen, und ich habe festgestellt, dass die Allgemeinheit der Gelehrten 71

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Teil I Ideen und sogar der neuen Philosophen nicht mathematisch geschult ist.“ Sie seien so wenig vertraut mit hydrostatischen Theoremen, dass eine ausführlichere und inklusivere Erklärung angebracht sei. Begriffe dieser Art könnten „einer nicht in mathematischen Schriften versierten Person ohne solch eine deutliche Erläuterung [dieser] Theoreme kaum mit wenigen Worten zur Genüge beigebracht werden“. Es mussten viele Worte verwendet werden. Wie Boyle gestand, war es „Absicht, dass ich diese knappe und präzise Sprache ablehnte.“ Er schrieb nicht „mir selbst zur Ehre, sondern um andere zu unterrichten“. Aus diesem Grund „wäre es mir lieber, dass Geometriker nicht die Kürze meiner Beweisführung anpreisen würden, sondern dass diese anderen Leser, die ich hauptsächlich zufriedenstellen möchte, die Bedeutung der Beweise gründlich verstehen. (Shapin 1994: 336f.)

Boyle war besorgt, eine unangebrachte Repräsentationsweise könnte zu einer unerwünschten Einschränkung seiner potenziellen Zuhörerschaft führen. Er fürchtete, Leser würden die zum Teil ungewohnte Sprache und den ungewohnten Stil seiner Schlussfolgerungen nicht zur Kenntnis nehmen, und einiges an der zu seiner Zeit noch im Entwicklungsstadium befindlichen Wissenschaftssprache war genau in dem Sinne esoterisch, besonders wenn sie mathematische Formeln, geometrische Diagramme und die damit verbundenen Formen argumentativen Schließens nutzte. Ich übergehe die Frage, ob eine solche Einschränkung, nämlich wer lesen kann, was ein Gesellschaftsanalytiker schreiben kann, vermieden werden sollte, oder ob sie für die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens erforderlich ist. Das ist eine alte und nicht besonders fruchtbare Debatte. So wollen wir die Frage lieber auf unser Anliegen beziehen, auf das Erzählen über Gesellschaft, und die weniger umstrittene soziologische Frage diskutieren, auf welche Weise das zur Herstellung und zum Lesen von Repräsentationen der Gesellschaft erforderliche Wissen verteilt ist. Wer versteht die Werke, die ein Gesellschaftsanalytiker hervorbringt? Im einen Extrem präsentieren sich manche Werke über Gesellschaft von selbst, sozusagen „zur Vorlage bei zuständiger Stelle“: bei allen kompetenten und interessierten Mitgliedern der Gesellschaft. Im anderen Extrem sprechen manche Repräsentationen eine sehr kleine und ausgewählte Gruppe von Personen an, von denen allein man erwarten kann, dass sie die Werke begreifen und ihre geheimnisvolle, nicht allgemein verständliche Sprache, Terminologie und Argumentationsweise interpretieren können. Die beiden Extremfälle können beispielhaft so zusammengefasst werden: einerseits Romane oder Fotografien oder Filme – insbesondere Hollywoodfilme, die auf die größte und heterogenste Zielgruppe zugeschnitten sind, die man sich denken kann – und andererseits das mathematische Modell. Die Leute, die Hollywoodfilme machen, wollen, dass die ganze Welt sie versteht (mit den Dialogen für die entsprechenden Sprachen synchronisiert oder mit Untertiteln versehen). Die Sprache des Films kann heute – als historische Tatsache – von

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jedem interpretiert werden. Es gibt wahrscheinlich keine Menschen mehr, die so weit von westlicher Werbung entfernt sind, dass sie solche einfachen Fehler machen wie zu glauben, dass ein Schauspieler, der im Film getötet wird, wirklich stirbt und in weiteren Filmen höchstens als Geist auftauchen könnte, oder die sich wundern, wohin die Schauspieler gehen, wenn sie aus dem Bild treten. (Es wird manchmal erzählt, dass Eingeborene ohne Erfahrung mit westlichen Kulturprodukten solche Fehler begangen haben, aber ich kann keinen Fall finden, in dem das schriftlich belegt worden ist. Immerhin wollen wir es als Möglichkeit gelten lassen.) Nein, jeder versteht, dass diese einfachen Mittel eben nur Mittel sind, und jeder versteht immer mehr komplexe Dinge wie zum Beispiel die technischen Möglichkeiten, mit Ausblenden und Wischblenden den Zeitablauf darzustellen oder die Handlung des Films geografisch zu verschieben. Jeder kennt auch die Bedeutung des sequentiellen Schnitts von einem Gesicht zum anderen, der andeutet, dass ein Dialog zwischen zwei Personen stattfindet oder dass die Dinge nun aus der Perspektive der anderen Person zu sehen sind. Das heißt nicht, dass Zuschauer diese technischen Mittel auf dieselbe bewusste und manipulierbare Weise „verstehen“ wie ein Filmemacher oder Filmfan. Das ist nicht der Fall. Sie wissen es, wenn sie es sehen, aber nicht genug, um sich darüber zu unterhalten oder sie gar selbst herzustellen. Es gibt daher eine echte Trennung zwischen den Machern dieser Repräsentationen, den Filmprofessionellen, die es schon lange zum Lebensunterhalt gemacht haben, und den Menschen, die sich die Werke zur Unterhaltung oder möglicherweise zu Informationszwecken anschauen (oder vielleicht erhalten sie die Informationen, während sie unterhalten werden, obwohl sie gar nicht darum gebeten haben). Die eine Gruppe kennt Dinge, die die andere nicht kennt. So können weniger informierte Zuschauer auch „getäuscht“ oder „in die Irre geführt“ werden. Ich diskutiere die moralischen Probleme der Repräsentation ausführlich in Kapitel 8. In der Welt, in der mathematische Modelle entwickelt werden, finden wir das genaue Gegenteil eines derart weit verbreiteten Wissens um die Repräsentation des gesellschaftlichen Lebens. Ein solches Modell erzeugt eine künstliche Welt sorgfältig definierter Gebilde mit wenigen einfachen Merkmalen, die nur auf genau festgelegte Weise, durch spezifische mathematische Operationen bestimmt zusammenwirken und sich gegenseitig beeinflussen können (Kapitel 9 enthält eine ausführlichere Erklärung mathematischer Modelle). Der Vorteil eines solchen Modells ist nicht, dass es realistisch darstellt, wie das gesellschaftliche Leben wirklich irgendwo funktioniert, sondern dass es verdeutlicht, wie die Welt wäre, wenn sie dem Modell gemäß funktionieren würde. Es ist wichtig, das zu wissen. Eines der weiter unten beschriebenen Modelle erläutert, was viele Leute interessieren würde: Woraus würde das Repertoire eines Symphonieorchesters bestehen, wenn das Orchester 73

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alte Werke durch neue ersetzen und dabei gewisse einfache Regeln genau beachten würde (niemand tut das, aber darauf kommt es hier nicht an). In Kürze und vielleicht etwas ungenau: Jeder, der weiß, wie man ein mathematisches Modell liest, interpretiert und versteht, weiß auch, wie man eines erstellt. Das heißt, diese Modelle auszulegen und zu begreifen, erfordert eine allgemeine Kenntnis des mathematischen Denkens und ein wesentliches Verständnis der im Einzelfall angewandten mathematischen Folgerungen. Um im eben genannten Beispiel die Analyse des musikalischen Repertoires zu verstehen und sie angemessen kritisch beurteilen zu können, müsste man beispielsweise etwas über Differenzengleichungen wissen. Um eine Analyse von Verwandtschaftssystemen in einem später erwähnten Beispiel durchführen zu können, müsste man mit der Markow-Kette vertraut sein. Nicht viele Leute kennen diese Dinge, und wer sie kennt, ist (allerdings nicht immer) auch fähig, die Modelle selbst zu entwickeln. (Und wenn man so viel Zeit und Mühe aufgewendet hat, um das alles zu lernen – was wenige Sozialwissenschaftler und besonders Soziologen getan haben –, möchte man wahrscheinlich diese mühsam erworbenen Kenntnisse auch einmal anwenden.) Um alles etwas übertrieben zu vereinfachen: Die Gemeinschaft der Nutzer und Macher mathematischer Modelle ist im Grunde nahezu deckungsgleich und identisch. Es ist so, dass dieselben Leute beides tun. Manchmal machen sie Modelle, manchmal konsumieren sie Modelle, die andere gemacht haben. Boyle, wie von Shapin oben zitiert, spricht auch von so etwas wie einer Welt der mathematischen Modelle, obwohl das nicht genau die Mathematik ist, die Boyle meinte. Seine Beschwerde bezog sich auf manche Merkmale, deren Vergleich sich lohnt, wenn wir von „interpretativen Gemeinschaften“ sprechen, jenen Gruppen, die genug Kenntnisse haben (wie viel ist natürlich die Frage), um die von ihren Mitgliedern häufig erzeugten und genutzten Repräsentationen zu interpretieren. Ganz am Anfang sollten wir die empirischen Verallgemeinerungen beachten, mit denen Boyle arbeitet, die ungefähr so lauten: Je komplexer und technischer die Beschreibung der Resultate ist, desto weniger Leute können sie lesen und verstehen. Das allein ist kein Grund zur Beanstandung. Viele technische Angelegenheiten interessieren niemanden außerhalb einer relevanten Gruppe von Experten, und es gibt viele andere Dinge, von denen Spezialisten meinen, Außenstehende brauchten sie nicht zu kennen. Es ist aber ein häufiger Grund zur Klage, denn wer kein Spezialist ist, möchte genug wissen, um nicht befürchten zu müssen, jemand wolle ihn zum Besten halten (Klagen über Ärzte haben oft diese Form). Hier sind einige spezifische Fragen, die man dazu stellen kann. Wen wollen die Macher erreichen? Anders ausgedrückt: Auf wen zielt ihre Welt ab, und welchen Standard der Verständlichkeit setzt dieses Ziel voraus? Leute, welche die Art von Repräsentation produzieren, die ich selbst auch mache, tun

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dies meistens, weil es irgendwo eine Gruppe von Leuten gibt, die so etwas in der Art haben will. Und ich mache, was ich mache (einen Film, ein mathematisches Modell oder was auch immer) auf eine Art, die für sie verständlich, angenehm und nützlich ist. Mit wem sollten sie also gemäß der Organisation ihrer Welt routinemäßig kommunizieren wollen? Wenn Sie die Zielgruppe kennen, die die Macher erreichen wollen, dann können Sie die Merkmale jeder bestimmten Repräsentation als Ergebnis des Versuchs der Macher begreifen, diese Leute auf eine Weise zu erreichen, die sie nachvollziehen und schätzen werden. Sie werden es verstehen, weil sie gelernt haben, wie man so etwas versteht, und sie werden es billigen, weil es den Normen entspricht, die sie sich als Teil des Lernprozesses angeeignet haben. Aber Shapins Beispiel von Boyles Vorgehensweise zeigt, dass ein Macher eigentlich eine Auswahl an Zielgruppen hat, die er erreichen kann, und dass die Auswahl der Zielgruppe die Wahl des Repräsentationsstils einschließt. So hätte Boyle vernünftigerweise eine andere Gruppe an Gelehrten wählen können, für welche die Kurzschrift der mathematischen Formeln und die geometrische Repräsentation physikalischer Phänomene kein Problem dargestellt hätten. Boyle wollte aber über sie hinaus reichen, eine größere und vielseitigere Zielgruppe gebildeter Gentlemen ansprechen, die seine Argumente verstehen würden, wenn er sie ihnen nur in dem allgemeinen, anspruchsvollen, quasi literarischen Oberklassen-Stil vorbrächte, der allen Gentlemen mehr oder weniger geläufig war. So musste er eine weniger knappe Darstellungsweise verwenden, als wenn er sich auf das technisch erfahrene Publikum seiner wissenschaftlichen Kollegen konzentriert hätte. Dazu gehörten nicht nur andere Ausdrücke, sondern auch eine andere Art von Beweis. Mathematische Beweise beruhen auf der Kraft ihrer Logik. Was man als mathematische Wahrheit zeigte, war notwendigerweise bewiesen. Akzeptierte man eine Prämisse mit guter Begründung, war die Schlussfolgerung unausweichlich. Was man aber in der Welt der empirischen Forschung zeigte, war auf andere Weise bewiesen. Es war bewiesen, weil es das war, was Menschen in der wirklichen Welt mit wirklichem Material beobachten. Und man wusste, dass es bewiesen war, weil es als wahr beobachtet wurde. Nicht von Ihnen, dem Leser, weil Sie nicht überall sein können, wo Wissenschaftler etwas berichten, sondern von jemandem, dem man vertrauen konnte. Und wem konnte man damals vertrauen? Nur einem Gentleman, der einem Kodex der Wahrheit gehorchte. Sie, der sie ja ebenfalls ein Gentleman-Leser sind, verstanden das System sozialer Kontrollen, die verlangten, dass Gentlemen die Wahrheit sagten. Daher konnten Sie deren Aussagen als glaubwürdig für sich akzeptieren. Der Gentleman verstand, dass ein Gentleman durch Lügen das Risiko einging, seine Ehre einzubüßen. 75

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Diese Gentlemen/Philosophen/Wissenschaftler brauchten jedoch auch eine Methode, mit der sie Glaubwürdigkeit beurteilen konnten, um Streitigkeiten zu vermeiden. Streit entstand, wenn sich jemand weigerte, den Bericht eines anderen anzuerkennen. Aber in der damaligen Zeit an den damaligen Orten konnten Gentlemen das Wort eines anderen nicht in Frage stellen, ohne einander ernsthaft zu beleidigen und womöglich das Schlimmste, ein Duell vom Zaun zu brechen. Ein Duell? Über einen wissenschaftlichen Befund? Obwohl die Strafen für die falsche Wiedergabe einer Beobachtung auch heute sehr schwerwiegend sind – Verlust von Zuwendungen, Stellung und wissenschaftlichem Ansehen – sind sie wenigstens nicht lebensgefährlich. Hätte ich in Boyles Zeit X gesagt und Sie hätten behauptet, ich hätte so etwas nie beobachten können, dann wäre das einer schweren Beleidigung und der Anschuldigung einer Lüge gleichgekommen. In der damaligen Kultur der Ehrenhaftigkeit war das ein wirklicher Affront, mit dem man angemessen umzugehen hatte, durch einen Kampf, der potenziell zum Tode führen konnte. Boyle und seine Kollegen waren mit der mathematischen Begründung nicht zufrieden, weil sie nicht nur auf Präzision, sondern auf absolute Gewissheit ausgerichtet war. Das konnte zu „gesellschaftlichen Katastrophen“ führen, zu Meinungsverschiedenheiten, die man nicht lösen konnte, ohne auf sehr höfliche Weise darauf zu bestehen, dass jemand Recht hatte und jemand anderes dann notwendigerweise die Unwahrheit sagte. Diese Wissenschaftler wollten nicht über ihre Meinungsverschiedenheiten streiten. Sie suchten ein vernünftiges Gespräch über ihre abweichenden Befunde. Schließlich waren sie auf ihre gegenseitigen Bezeugungen von Beweisen angewiesen, da sie nicht alles selbst sehen konnten. Sie mussten jemandes ernsthafte Berichte genauso als möglicherweise richtig anerkennen wie entgegengesetzte, aber ebenso ernsthafte Berichte Anderer über die womöglich selbe Angelegenheit. Das führte zu wirklich umsichtigen Methoden der Untersuchung und Berichterstattung: „Das Naturalistische war mit dem Normativen systematisch verbunden. Die Fachleute erkannten einander als ehrlich und kompetent an und sagten sich gegenseitig, wie sie sich zu benehmen hatten, aber nur was ihre gemeinsame Anschauung jener Welt betraf, die sie studierten. Die Kultur des Experimentierens folgte gemeinsamen Normen, denn ihre Mitglieder hatten dieselbe Auffassung von der Wirklichkeit. Diese Ontologie war die höchste Sanktion für ihr Verhalten. Wenn Sie ein wirklicher und richtiger Erforscher der natürlichen Welt sein wollen, dann müssen ihre Berichte genau so aussehen, und genau dies ist der epistemische Status, den Sie dafür beanspruchen müssen.“ (Shapin 1994: 350) Nur wenn man die Welt als vielfältig und nicht unbedingt homogen betrachtet, wie es die mathematische Behandlung forderte, konnte man ein Gespräch unter Ebenbürtigen ins Leben rufen,

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die einander vertrauen, was wiederum die Fortführung der empirischen wissenschaftlichen Aktivität erst ermöglichte. Das führte Shapin zu einer Spekulation: Jede Praxis, wie stark sie auch zur Erzeugung präziser und rigoroser Wahrheit über die Welt verpflichtet ist, enthält institutionalisierte Methoden, die ihren Anhängern anzeigen, wann ein „vernünftiges Argument“ oder „genügend Genauigkeit“ erzielt wurde, wann „genug genug“ ist, wann man es „gelten lassen“ muss, wann man sich auf leidige „Fehlerfaktoren“ berufen kann, und wann man nicht zu eifrig in die Ursachen für Variationen in den Belegen einsteigen sollte. Die Toleranz gegenüber einem gewissen Grad an moralischer Ungewissheit ist Bedingung für die kollektive Produktion jeder zukünftigen moralischen Sicherheit. Diese Toleranz führt zur Fortsetzung wahrheitserzeugender Gespräche in der Zukunft durch eine Gemeinschaft von Fachleuten, die gewillt sind, miteinander zu arbeiten und sich aufeinander zu verlassen. (Shapin 1994: 353f.)

Verallgemeinert lautet diese Aussage, die wir zur Untersuchung von Berichten über Gesellschaft brauchen, dass jede interpretative Gemeinschaft – definiert als ein Netzwerk von Personen, die eine bestimmte Form der Repräsentation machen und nutzen – gewisse Regeln darüber aufgestellt hat, was wann und warum ihre Mitglieder glauben sollten. Wie manche Mitglieder dieser Gemeinschaft darstellen und kommunizieren, was sie wissen, und wie andere Mitglieder die erhaltenen Mitteilungen interpretieren, richtet sich nach mehr oder weniger festen und einvernehmlichen Regeln. Diese Regeln beinhalten auch Annahmen über die Art all der Menschen, die an jeder dieser Aktivitäten beteiligt sein werden. Wir müssen nicht annehmen, dass die Definition der entsprechenden Menschen immer auf einem Ehrenkodex und gegenseitigem Respekt beruhen wird. Das Gegenteil könnte sogar der Fall sein: Viele Macher von Repräsentationen der Gesellschaft meinen gar nicht, dass Nutzer viel wissen oder dass man ihnen viel zutrauen kann. Folglich verwenden ihre Produkte Konventionen, die davon ausgehen, dass die Nutzer nicht viel wissen, und sie verwenden daher viele Hilfsmittel. Sie sind (wie man heute sagt) benutzerfreundlich. Damit ist die Arbeit, Repräsentationen zu machen, unter den Machern und Nutzern aufgeteilt. Die Arbeit der Macher dient den Nutzern. Was die Macher nicht tun, müssen die Nutzer übernehmen. Letztere mögen nicht alle genug wissen um zu tun, was die Macher wünschen und fordern, und sie mögen es auch tun können, ohne genau zu wissen, wie sie es tun, oder sie tun es ganz anders. Wenn sie es auf ihre Weise tun, können die Resultate auch anders ausfallen, als es die Macher beabsichtigten. Verschiedene Herstellungs-Welten von Repräsentationen teilen sich die Arbeit auch ganz anders auf. Was in einer solchen Welt unausweichlich zur Arbeit der Macher gehört – zum Beispiel die Bezeichnung der Zeilen und Spalten von analytischen Tabellen – ist die ganz übliche Arbeit der Nutzer in der Welt der 77

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Dokumentarfotografie. Jede Art der Repräsentation bietet die Möglichkeit und wahrscheinlich auch die Tatsache unterschiedlicher Formen der Arbeitsteilung, mit Konsequenzen für das Aussehen der Repräsentation und für das, was damit wirklich gemacht wird.

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Standardisierung und Innovation 5 Standardisierung und Innovation

Eine Bestandsaufnahme ist angezeigt. Repräsentationen sind Produkte von Organisationen. Die Organisationen und Gemeinschaften, die sie machen und nutzen, teilen die Arbeit des Auswählens, des Übersetzens, des Anordnens und des Interpretierens unter den Machern und Nutzern auf verschiedene Weise auf. Wir können die Art und Weise, wie das geschieht, nie als selbstverständlich voraussetzen, denn die Arbeitsteilung verändert sich laufend. Die Macher entscheiden, was sie einbeziehen und wie sie es anordnen. Machen sie es „wie immer“ oder versuchen sie etwas Neues? Zumeist erzeugen die Macher Repräsentationen in einem Standardformat, das jeder versteht und kennt. Ab und zu beginnt jedoch jemand, aus welchem Grund auch immer, bestimmte Darstellungen auf andere Art zu erzeugen und so bestehende Übereinkommen zu verletzen sowie Meinungsverschiedenheiten und Konflikte hervorzurufen. Solche Situationen stellen die Standards in Zweifel, die bisher als selbstverständlich gegolten haben. Sie liefern aber die bestmöglichen Daten für eine soziologische Analyse der täglichen Praxis von Darstellungen der Gesellschaft. Der Gegensatz zwischen Standardisierung und Innovation bringt viele Merkmale des Prozesses ans Licht. Konflikte, die durch Innovationen in der Repräsentation verursacht werden, treten häufig in Gestalt von Auseinandersetzungen darüber an den Tag, was die beste Art und Weise dafür sei. Art und Weise wofür? Dafür, irgendeine Darstellung anzufertigen, die Sie und die anderen Leute wollen, die sie herstellen und nutzen. Repräsentationen können auf verschiedene Weise erzeugt und gebraucht werden, und das war schon immer so. Macher und Nutzer hatten schon immer ausgeprägte Meinungen darüber, wie man es machen sollte. Der beste Weg ist nie einfach oder offensichtlich gewesen. Wie schreibt man am besten eine wissenschaftliche Arbeit zur Veröffentlichung in einer Soziologie-Zeitschrift? Wie verwendet man am besten Bildmaterial in einem Bericht? Wie präsentiert man am besten Analysen sozialer Phänomene in einem Film? Wie schreibe ich mit soziologischen Ambitionen meinen Roman? Solche Fragen stellen sich die Macher und die Nutzer von Darstellungen der Gesellschaft sowohl selbst wie 79 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_5

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auch gegenseitig. Alle Beteiligten müssen diese Fragen früher oder später immer wieder einmal beantworten, um mit ihrer Arbeit weiter zu kommen. Für diese unergiebigen Fragen gibt es keine zuverlässigen Antworten. Hauptsächlich irritieren sie die Leute, führen zu endlosen Diskussionen, Widersprüchen und schlechtem Gewissen. Statt zu streiten, ist es viel interessanter, sich die in den vorigen Kapiteln zum Ausdruck gebrachten Ideen zu Herzen zu nehmen. Ich schlage folgendes Prinzip vor: Jede Art und Weise, etwas zu tun, ist perfekt. Jede Antwort auf jede Frage, wie man einen Film macht oder eine Ethnografie schreibt oder eine statistische Tabelle aufstellt, ist die perfekte Antwort. Diese wundervolle Antwort hat allerdings einen Haken. Es gehört noch mehr zu diesem Prinzip. Der volle Text lautet so: Jede Art und Weise ist perfekt – für etwas. Das heißt: Jede Methode ist die am besten geeignete – unter bestimmten Umständen. Das Problem wechselt von „Wie macht man X am besten?“ zu „Was ist X, so dass diese oder jene spezifische Repräsentation es am besten erreicht?“ Damit identifizieren wir den Kern jeder Auseinandersetzung: die Frage danach, was die Leute erreichen wollen, indem sie X so machen, wie sie es vorschlagen. Die Antwort liegt in der Organisation, in der sie arbeiten, die also die Macher mit den Nutzern verbindet, die mit dem Ergebnis zufrieden sein müssen, und der umgekehrt die Nutzer mit jenen Machern verbindet, diese Art von Arbeit tun und dabei nicht unbedingt solche Wünsche erfüllen wollen. Dieser organisatorische Kontext versorgt alle Beteiligten mit all den Ressourcen, mit denen die Arbeit geleistet und verteilt werden soll. Nicht nur das Geld, obwohl das natürlich wichtig ist, sondern auch die Fähigkeiten und die Ausbildung, die Bedürfnisse und die Wünsche, die jede Seite in die Situation einbringt. Die sich daraus ergebenden Situationen können zahllose Formen annehmen. Aber diese Konflikte und ihre Auflösungen haben auch einige gemeinsame Aspekte.

Standardisierung Jede entwickelte Welt der Repräsentation arbeitet mit Formen, die bis zu einem gewissen Grad standardisiert sind. Der Artikel in der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift, eine der am meisten standardisierten Darstellungen von Gesellschaft, zeigt die Hauptmerkmale des Phänomens. Über einen Zeitraum von vielleicht hundert Jahren folgen solche Artikel in wachsendem Maße einem strikten Format. Ein Problem wird beschrieben, ebenso die Theorie, aus der es erwächst; es wird erläutert, was über die Frage bereits geschrieben worden ist – der „Überblick über die Literatur“, das Schreckgespenst aller Doktoranden; die Aufstellung der zu prüfenden Hypothesen; die Beschreibung der Methoden, mit denen man Daten

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gesammelt und analysiert hat; eine Diskussion, die die Hypothesen im Lichte der vorgelegten Beweise entweder annimmt oder ablehnt; und ein Fazit, das alles wiederholt und zusammenfasst. Typischerweise präsentieren solche Artikel die Daten (von Zensus, Umfragen oder Experimenten) in der Form standardisierter Tabellen. Jeder, der diese Standardform anwendet, hält sie für unproblematisch, für den Inbegriff des transparenten wissenschaftlichen Fensters, durch das Macher von Repräsentationen mitteilen können, was sie wissen. Das setzt voraus, dass die Leser die in den Tabellen dargestellten Belege tatsächlich lesen und beurteilen. Wenn alles genau so funktioniert, dann ist die Welt ganz ähnlich wie die Welt, die Boyle und seine Kollegen suchten, eine Welt, in der sie einander ihre Ideen und Resultate auf unproblematische Weise präsentieren konnten. Funktionieren die Artikel und die Tabellen, von denen ihre Beweisführung abhängt, genau in dieser Weise? McGills Untersuchung (1990) der Lesegewohnheiten von Studenten kam nicht nur zu dem Schluss, dass viele die Tabelle mit den Belegdaten überhaupt nicht lesen, sondern auch, dass „die Standardisierung der Darstellung von Informationen dazu führen kann, dass viele eine standardisierte Leseweise entwickeln, zu der auch standardisierte Abkürzungen gehören.“ Die Standardisierung beeinflusst in unterschiedlicher Weise, wie Artikel gelesen werden. Sie erspart den Lesern Zeit, weil sie direkt dorthin gehen können, wo sie meinen, Interessantes zu finden, wobei sie glauben, nichts Wichtiges zu verpassen, wenn sie den Rest ignorieren. Sie hilft ihnen zu erkennen, ob der Artikel überhaupt für sie interessant ist. Und sie ermöglicht es Lesern, die Artikel je nach dem Stand ihrer statistischen Kenntnisse und Interessen herauszusuchen. Leser überspringen oft Tabellen und vertrauen darauf, dass diese das Gleiche besagen wie der Text, oder sie meinen, es sei nicht die Zeit wert, sie zu entschlüsseln. McGill unterschied zwischen vier Typen von Fachzeitschriften-Lesern, je nachdem, wie sie mit Tabellen umgingen. Die Theorieleute ignorierten die Tabellen und gingen direkt zu den Ideen. Diejenigen, die keinen Sinn für Zahlen hatten, wussten nicht, wie man die Tabellen lesen sollte und übersprangen sie deshalb. Die interessierten Statistiker gingen sorgfältig durch die Tabellen, wenn sie das Thema interessant fanden, und erachteten oft die Tabellen überhaupt als das Interessante, während sie den Text völlig ignorierten. Die statistischen Puristen kritisierten routinemäßig die Tabellen, die in ihren Augen die Substanz enthielten. Am einen Extrem lasen manche einen statistischen Beitrag, indem sie die Tabellen und Formeln sorgfältig untersuchten und auf diese Weise die Arbeit des Autors reproduzierten. Am anderen Ende überflogen manche Leser nur die Beweise oder ignorierten sie völlig. Wie bereits erwähnt, meinten manche, die Tabellen würden doch sowieso nur bestätigen, was der Autor im Text sagt, sonst hätte der Verlag den Artikel gar nicht veröffentlicht. Was zu beweisen wäre. 81

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Was erhoffen sich denn ernsthafte Nutzer von einer numerischen Darstellung in Tabellen oder Grafiken? Wie erwähnt, lassen diese Darstellungen den Leser zwei Zahlen vergleichen um festzustellen, ob eine größer ist als die andere. Ist dies der Fall, lernen wir, dass etwas (oft „unabhängige Variable“ genannt) eine Konsequenz hat, über die man nachdenken sollte. Ist dies nicht der Fall, lernen wir, dass es sich nicht lohnt. Wir betrachten jede dieser Folgerungen als relevant für die Ideen, über deren Wahrheit wir nachdenken, weil sie uns dafür entweder Beweise liefern, oder eben nicht. Standardisierung lässt Leser standardisierte Wege für diese Bewertung entwickeln und standardisierte Abkürzungen, wenn der Standardweg zu beschwerlich ist. Sie erlaubt Lesern, den kurzen Weg einzuschlagen, wenn sie wollen, erlaubt aber auch jenen Lesern den langsamen, sorgfältigen Weg zu beschreiten, die das vorziehen. Beides lässt sich in standardisierter Sprache, mit standardisierten, leicht erkennbaren Symbolen und gut bekannten Standardformaten erreichen, die es dem Einzelnen erleichtern, die für ihn relevanten Teile zu identifizieren. Man kann diese Teile nach eigenem Geschmack bewerten und wissen, dass die Teile, die man liest oder ignoriert, genau das enthalten, was man meint, weil es jeder routinemäßig dort platziert. Das bedeutet, dass die Merkmale des Endprodukts so ausgelegt sein müssen, dass sie genau definierten Nutzergruppen gefallen. Müssen? Das ist unbedingt erforderlich, wenn das Produkt auch zukünftig von den verschiedenen Menschen unterstützt werden soll, die es jetzt auf ihre Weise nutzen und dadurch die Grundlage für die weitere Herstellung solcher Produkte schaffen. Gibt es zu diesen unterschiedlichen Wegen, Wissen über die Gesellschaft aufzunehmen, Entsprechungen in anderen Feldern der Erzeugung von Repräsentationen? Was sind die Standardmerkmale einer beliebigen Art von Darstellung? Wer kennt sie und weiß, wie sie funktionieren? Was sind die schnellen und die langsamen Wege für einen Film, einen Roman, ein Bühnenstück? Der schnelle Weg zu einer dieser Darstellungen ist, sie einfach zu lesen oder anzuschauen und den Augenblick zu genießen, vielleicht mit einem kleinen anschließenden Gespräch unter Freunden: „Wie hat es euch gefallen?“ Und dann ist es vorbei. Man hat es gesehen, hat das Wesentliche verstanden und seinem Gedächtnis anvertraut, zusammen mit einem Berg an anderen Repräsentationen, die man hervorholen kann, wenn man sich über das nächste Buch oder den nächsten Film unterhält, wenn man vergleicht, wie sich die Handlung in diesem Stück im Gegensatz zu anderen Handlungen in anderen Stücken entwickelt. Es ist alles zwanglos, verbunden mit gesellschaftlichem Umgang mit Leuten, die ähnliche Interessen haben, wenn auch dieser gesellschaftliche Umgang eine ernsthafte Unterhaltung über ernste Fragen enthalten mag – politische Intrigen und Missetaten, die schädlichen Aktivitäten großer Unternehmen, das durch Drogen angerichtete

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Unheil – eben Dinge, von denen die Repräsentation gehandelt hat. (Natürlich haben wir alle „empirischen“ Aussagen hier nur erfunden, als Vermutungen, was sein könnte, Dinge, die man mit echten Forschungen verfolgen kann. Sie illustrieren die Funktion des Vergleichs, sogar von imaginären Daten, als eine Methode zur Erzeugung von Forschungsfragen.) Überträgt man McGills Argument auf unseren Fall, so legt es nahe, dass standardisierte Formate uns ermöglichen, Ideen und Gefühle mit minimalem Aufwand aus solchen Werken zu gewinnen. Die standardisierten Elemente stellen die Sprache der Bühnenstücke, Filme und Romane dar: Charaktere, Handlungsverläufe, Metaphern, Beschreibungen und so weiter. Und auch die wirklich simplen Elemente der Produktion – in Filmen beispielsweise der Blickwinkel der Kamera, die Art des Übergangs von einem Blickwinkel zum anderen (Schnitte), die Art und Weise, wie Schnitte zwischen Blickwinkeln eine Geschichte erzählen können – all das eben, was ein Lehrbuch der Filmtechnik beschreibt. (David Mamets Diskussion mit Filmstudenten [1991: 9ff.] erläutert sehr ausführlich, wie kurze einzelne Szenen die Erzählung des Films vorantreiben. Ich habe viele dieser technischen Dinge auch von Kawin [1992] gelernt.) So lassen uns zum Beispiel die standardisierten Shortcuts in der standardisierten Filmsprache sofort erkennen, wer die Guten und die Bösen sind, ein Thema, das – wie wir in Kapitel 8 sehen werden – sogar in den wissenschaftlichsten Darstellungen eine Rolle spielt. Sie signalisieren, welche Art von Menschen die Charaktere sind und was sie wahrscheinlich tun werden. Wir fühlen sowohl Genugtuung, wenn wir richtig liegen als auch Überraschung, wenn wir uns geirrt haben. Nutzer verinnerlichen diese standardisierten Shortcuts leicht, besonders – aber nicht nur – in populären Formen wie dem Film. Nur selten sind wir uns darüber bewusst, dass da überhaupt eine Art Sprache benutzt wird. Es scheint alles so „natürlich“ zu sein. Andere Betrachter, die sorgfältiger und kritischer sind, wissen jederzeit, dass alles im Werk von der Auswahl abhängt, die die Macher getroffen haben, und dass sie es auch anders hätten machen können. Diese anspruchsvollen Nutzer verfügen über all die analytisch-sprachlichen Mittel, die sie brauchen, um kritische Unterschiede festzustellen und Urteile zu fällen, zu entscheiden, dass dieses Werk gut gelungen ist und jenes nicht. Filmkritiker schauen sich einen Film immer wieder an, ebenso wie Statistiker Tabellen und Formeln sorgfältig studieren mögen. Als Ergebnis erfahren sie den Film bewusst als ein Produkt aus vielen Sequenzen von Szenen, alle mit einer eigenen Auswahl an Perspektiven, Lichteffekten, Kombinationen von langen und mittleren Einstellungen, Nahaufnahmen und so weiter. Sie beschreiben, wie eine Folge von Szenen eine emotionale und eine kognitive Wirkung beim Zuschauer hervorruft. Erfahrene Zuschauer mögen die Länge aufeinanderfolgender Schnitte in der Jagdszene in Jean Renoirs Die Spielregel messen um festzustellen, 83

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wie schnelle Schnitte Spannung erzeugen können, während normale Kinobesucher die Länge der Szenen registrieren, ohne darüber nachzudenken. Sie fühlen die Spannung, ohne sich länger damit zu beschäftigen, wodurch sie zustande kommt. Alternativ erzeugt eine lange Einstellung ohne Schnitt ähnliche Spannung, wie in der berühmten drei Minuten langen Kamerafahrt, die im Film Im Zeichen des Bösen von Orson Welles ein über die mexikanisch-amerikanische Grenze rasendes Auto verfolgt, das am Ende in die Luft gesprengt wird. Das Publikum von Dokumentarfilmen setzt sich vermutlich aus vergleichbaren Zuschauertypen zusammen, obwohl es sein könnte, dass solche Filme von weniger Leuten, die kein so starkes Interesse haben, einfach nur nebenher angeschaut werden. Dokumentarfilme handeln von Themen, über die Betrachter eher ernsthafte Meinungen haben. Sie mögen daher kritischer und skeptischer sein, und weniger geneigt, dem Filmemacher zu vertrauen. Daher können sie dem, was sie sehen, den eingesetzten Mitteln der Überzeugung und Verführung oder den möglichen Täuschungen, bewusster analytisch begegnen. Standardisierte Repräsentationen sind einfach zu machen und zu nutzen, aber nicht jeder macht oder nutzt sie auf dieselbe Weise. Manche Nutzung entzieht sich der Kontrolle, die ihre Macher über sie ausüben wollen. Manche Macher wollen Dinge tun, für die standardisierte Methoden nicht leicht aufzutreiben sind. Da Standards dazu dienen sollen, spezifische Dinge (welche immer es sein mögen) auf die beste Weise tun, werden Macher, die etwas anders tun wollen, erfinderisch. Sie erzeugen dadurch neue Möglichkeiten und neue Standards.

Innovation Die Macher und Nutzer, die Standardmethoden schon immer für ausreichend hielten, heißen Neuerungen nicht willkommen. Die alten Methoden sind wirklich gut genug für sie. Viele der Repräsentations-Welten, die uns hier interessieren, kennen periodisch wiederkehrende, manchmal auch chronische Streitigkeiten darüber, wie ihre charakteristischen Produkte erzeugt werden sollen. Ein Beispiel ist John Tukey, ein großer Pionier im Bereich der Statistik und statistischen Grafik. Sein Buch Exploratory Data Analysis (1977) ist ein Klassiker, eine Goldmine von Möglichkeiten. Irgendwie hat es aber relativ wenig Einfluss auf mein eigenes Gebiet, die Soziologie, gehabt. Als ich Tukeys Arbeit entdeckte, fragte ich mich, warum meine Kollegen, die mit Zahlen arbeiteten, seine Entdeckungen und Erfindungen nicht nutzten.

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In einem frühen Beitrag zeigte Tukey (1972) fünf Bereiche, in denen Innovationen bei der grafischen Darstellung von Zahlen verwendet werden könnten und sollten. Dazu gehört die Mischung von Text und Zahlen, die in der Regel strikt getrennt gehalten werden. Weitere Innovationen waren effizientere Methoden zur Darstellung zyklischer Daten; die Verdichtung beim Plotten, damit wir uns um das kümmern können, „was für uns oft das Wichtigste ist“; geeignete Wege, „additive Modelle für zweidimensionale Tabellen“ zu entwerfen; und verbesserte Histogramme (Balkendiagramme). Er wollte seine Erfindungen dazu benutzen, die wichtigen Forschungsergebnisse offensichtlicher und Lesern zugänglicher zu machen. Er sagt zu diesen Neuerungen: „Wie man es von bedeutenden Erfindungen für vertraute Probleme erwarten kann, riechen diese fünf Fortschritte auf die eine oder andere Weise alle nach Ketzerei.“ (Tukey 1972: 294) In Bezug auf die erste Erfindung sagt er: Am meisten institutionalisiert war die Trennung von „Tabelle“ und „Grafik“, die auf besondere technische Fähigkeiten und eine Arbeitsteilung verweist. Jede Wiedergabe von Zahlen musste in einer Druckerei im Buchdruckverfahren hergestellt werden. Man konnte aber von dem Drucker nicht erwarten, dass er verstand, was verdeutlicht werden sollte. Er konnte nur dafür sorgen, dass eine Tabelle ihre Tatsachen darstellte, aber nicht ihre Erkenntnisse, und zwar für jene, die mit der Archäologie der Zahlen vertraut waren. Jede Grafik musste von einem Zeichner angefertigt werden, von dem man ebenso wenig erwarten konnte, dass er verstand, was erklärt werden sollte, und der daher keine andere Wahl hatte, als für das Auge des unaufmerksamen Betrachters zu zeichnen, dessen Denken nicht angeregt werden sollte. Da wir uns durch eine Ära der fotografischen und xerografischen Reproduktion ins Zeitalter der computergesteuerten Komposition bewegen, haben wir Gelegenheit, die Kontrolle darüber, was gezeigt werden soll und wie die Kernpunkte hervorgehoben werden sollen, wieder in die Hand des Analytikers zu legen. (ebd.)

So verfasste Tukey eine schöne Organisationsanalyse. Er verband die Unzulänglichkeiten der damaligen Praxis der statistischen Grafik mit der Arbeitsteilung zwischen Statistikern, Druckern und Zeichnern. Doch Ketzerei ist das ausschlaggebende Wort. Ich weiß nicht, wie ernst Tukey es gemeint hatte, aber er war sicher der Ansicht, solche Veränderungen, wie er sie vorschlug, seien keine Veränderungen, die andere im Bereich Statistik und statistische Grafik als einfache Verbesserungen auffassen würden. Nein. Zumindest einige dieser Leute würden seine Vorschläge als unangebracht erachten und wahrscheinlich sogar als etwas, was besser nicht ersonnen worden wäre. Als eine Art Beweis kann man einfach zählen, wie viele Artikel in den beiden wichtigsten soziologischen Zeitschriften in einem bestimmten Zeitraum zwei der von ihm vorgeschlagenen einfachen Mittel verwendet haben (das Ergebnis folgt gleich) – Mittel, die es meines Erachtens (obwohl ich selbst meistens 85

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nicht mit Zahlen arbeite, die zusammengefasst werden müssen) Wert wären, zum festen Bestandteil der täglichen Arbeit der Soziologenzunft zu werden: das „Stängel-Blatt-Diagramm“ und die Box-Plot-Grafik.6 Das „Stängel-Blatt-Diagramm“ ordnet Daten so an, wie Tukey es für die Höhe von 218 Vulkanen getan hat:

8 16 39 57 79 102 (18) 98 78 66 51 38 28 20 15 13 10 8 6 5

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

98766562 97719630 69987766544422211009850 876655412099551426 9998844331929433361107 97666666554422210097731 898665441077761065 98855431100652108073 653322122937 377655421000493 0984433165212 4963201631 45421164 47830 00 676 52 92 5 39730

0 | 9 = 900 Fuß

19 | 3 = 19,300 Fuß

Die Höhen werden in Einheiten zu 100 Fuß angegeben. Die Zahlen rechts von der senkrechten Linie bezeichnen die Höhe der einzelnen Vulkane in hundert Fuß; die Zahlen links davon sind in tausend Fuß, und die Zahlen ganz links geben die

6 Anmerkung des Übersetzers: Englisch „Box-and-Whisker-Plot“. Im Deutschen ist überwiegend einfach von Box-Plot die Rede. Der Begriff wird im Folgenden für diese Grafikart verwendet. Im nachfolgenden Beispiel eines Stängel-Blatt-Diagramms gibt die Zahl ganz links genau genommen sukzessive die kumulierte Anzahl von Vulkanen bis unter 6000 Fuß (bzw. kleiner) und über 7 000 Fuß (bzw. größer) an. 5 Vulkane haben über 19 000 Fuß, 98 über 7000 Fuß, 8 sind unter 1000 Fuß usw. Die Zeile der 18 Vulkane zwischen 6 000 und 7 000 Fuß markiert den Umschlagpunkt und enthält den Median.

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kumulierte Anzahl der Vulkane an, die höchstens diese Höhe erreichen. So zeigt uns die dritte Zeile, dass alle dort aufgelisteten Vulkane 2000 Fuß plus eine Zahl an der rechten Seite des senkrechten Strichs hoch sind: Der erste Berg ist 2.600 (2000 + 600) Fuß hoch, die nächsten zwei Berge sind 2.900 Fuß hoch und so weiter. Die Zahl ganz links sagt aus, dass, wenn alle Vulkane auf dieser Zeile gezählt sind und die von den vorigen zwei Zeilen hinzugezählt werden, 39 der insgesamt 218 Vulkane kumuliert worden sind. Ich habe das auf eine so schmerzhaft detaillierte Weise erklärt, um das Problem zu verhindern, auf das uns McGill aufmerksam machte (dass Nutzer die Zahlen nicht lesen). Man sieht auf einen Blick die allgemeine Kontur der Verteilung in einer Grafik – sie ist mehr oder weniger glockenförmig in den niedrigeren Höhen – und gleichzeitig stehen einem alle einzelnen Zahlen sofort zur Verfügung. Die Länge der Linie mit der Liste der einzelnen Zahlen in einer Höhenlagenkategorie ist nur eine andere Version eines Balkens im Balkendiagramm: Sie entspricht optisch Zahl der Fälle in der jeweiligen Kategorie. Tukey beschreibt dies sehr schön als „semi-grafisch“, was uns die „grobe Information nach Position und die detaillierte Information nach Art bzw. Arten des angegebenen numerischen Textes entsprechend der Positionen“ gibt (Tukey 1972: 295). Er demonstriert auch die Anwendung einer „leicht grafischen Liste“, einer Tabelle mit nur wenigen Zahlen, die so platziert sind, dass sie die wichtigsten Merkmale einer Kurve oder Grafik reproduzieren. Eine weitere Erfindung von Tukey, der Box-Plot (vgl. das nachfolgende Beispiel S. 88 aus Tukey 1977: 40), liefert eine große Datenmenge über eine Reihe von Zahlen in einer bequemen, leicht lesbaren und leicht vergleichbaren Form. Er ist eine grafische Darstellung (und die relevanten Zahlen können angehängt werden) vieler wichtiger Tatsachen über eine numerische Verteilung – des Medians, der Scharniere (die Punkte, welche die ungefähren Quartile markieren), der vollen Spannweite der Verteilung – und ermöglicht es, leicht die Ausreißer zur besonderen Beachtung zu identifizieren. Die meisten Zahlen sind in diesem Beispiel ausgelassen worden, aber sie könnten ganz einfach hinzugefügt werden (aus Tukey 1972). Es scheint wohl, als wären das wichtige Dinge, die man über eine Verteilung wissen sollte. Und diese Art der Kommunikation löst das Problem, wie viele Details berücksichtigt werden müssen, das ich im nächsten Kapitel diskutiere. Oft wollen wir nur wenige Dinge über eine gegebene Verteilung wissen, ihre Spannweite, ihre Streuung und ihre zentrale Tendenz. Wir wollen aber auch etwas über Extremfälle erfahren. Typischerweise stellen wir Ersteres in einer Tabelle dar, und Letzteres in einem Streudiagramm. Der Box-Plot bietet beides auf effiziente Weise. Zusätzliche Zahlen können hinzugefügt oder ersetzt werden: der Median- durch den Mittelwert (oder man nimmt beide), die Standardabweichung und so weiter. 87

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A) Höhe von 50 Bundesstaaten

B) Höhe von 219 Vulkanen

Höhe (Fuß) Alaska



20 000

Guallatiri Lascar Cotopaxi Kilimanjaro Misti Tupungatito

15 000 California Colorado Washington Hawaii Wyoming 10 000

5 000

Delaware

Lousiana Florida

0

Ilha Nova

Anak Krakatau

Die offensichtlichsten Vorteile dieser Grafiken sind, wie viel Information man auf einen Blick – fast intuitiv – erhält und wie leicht es ist, dann Verteilungen zu vergleichen, indem man einfach die Bilder betrachtet. Formulieren Soziologen Einwände gegen Tukeys Erfindungen? Nein, das tun sie nicht. Sie ignorieren sie einfach. Ich habe eine kleine und (leider) sehr ermüdende Recherche durchgeführt, indem ich zwei große soziologische Zeitschriften, die American Sociological Review und das American Journal of Sociology, durchsucht und geschaut habe, wie viele der im Jahr 2001 veröffentlichten Artikel das Stängel-Blatt-Diagramm und den Box-Plot benutzt haben, die Tukey vorschlug. Es besteht kein Grund zur Annahme, der Jahrgang 2001 sei deutlich anders als die angrenzenden Jahrgänge, und so beließ ich es angesichts der Langeweile bei diesem einen Jahrgang. Keiner der 77 in diesen beiden Zeitschriften veröffentlichten Artikel benutzte eines dieser beiden Hilfsmittel. (68 der 77 Artikel enthielten numerische Daten, für die Tukeys Erfindungen möglicherweise geeignet gewesen wären.) Kritiker könnten einwenden, die Art der in den Artikeln dargestellten Forschungsprobleme hätte nicht zu diesen Methoden gepasst. Aber viele der veröffentlichten Artikel stellten quantitative Daten auf eine Art und Weise dar, die Tukey gerade verhindern wollte: seitenlange Zahlenreihen, die, statt die Befunde zu

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erklären, die Ergebnisse verdunkelten und genau die von McGills Interviewpartnern beschriebenen Abkürzungen provozierten: Es ist einfacher, die Behauptungen der Autoren für bare Münze zu nehmen, als ihre Daten mühsam Zelle um Zelle zu vergleichen. Die meisten Leser solcher Artikel ziehen wahrscheinlich Ersteres vor. Warum sollte denn jemand Tukeys einfache statistische Darstellungen ketzerisch finden? War Tukey etwas paranoid? Rufen solche nüchternen Objekte unverhältnismäßige Reaktionen hervor? Latour sagt, obwohl der Methodenteil vielleicht nicht so aussieht, sei es der polemischste aller Abschnitte eines wissenschaftlichen Artikels; derjenige, der andere Autoren und Artikel angreift und sich gegen sie verteidigt (Latour 1987: Kap. 1, insb. 45ff.). Methoden, auch Methoden für die Darstellung von Daten, tragen eine schwere moralische Last. Die richtige Anwendung nach den Standards, die von ehrenwerten Fachleuten auf diesem Gebiet akzeptiert werden, signalisiert die Ehrlichkeit und den Respekt des Wissenschaftlers für diese Kollegen und ihre Meinungen (hier klingt Shapins Diskussion über Boyle und seine Kollegen wieder an). Eine fehlerhafte Anwendung signalisiert Arroganz, Unfähigkeit, Unehrlichkeit oder Unmoral. Die Standardmethoden der Repräsentation inkorrekt anzuwenden oder sie durch alternative Methoden zu ersetzen, ist ein Angriff auf Gewohnheiten, also ein Angriff auf die Statussysteme jener Welt, in der solche Berichte zirkulieren. Everett Hughes erklärte in einem undatierten Manuskript die Logik eines solchen Denkens in seiner Diskussion der Action Catholique, einer politischen Bewegung der 1940er Jahre in Kanada. Er begann mit zwei Prämissen von William Graham Sumner – „Status ist in den Sitten und Gebräuchen verankert“ und „Alle Sekten stehen mit den Sitten und Gebräuchen auf Kriegsfuß“ – und führte den Syllogismus zu seinem logischen Schluss: „Sekten liegen mit dem Statussystem der Gesellschaft im Krieg“. Sumner und Hughes schrieben über religiöse Gruppen und Parteien, aber der Syllogismus trifft auch auf die Welten der Repräsentation zu. Wenn man Standardmethoden angreift, attackiert man auch die Leute, die solche Methoden anwenden, und das System, das diejenigen, die sie anwenden, mit hohem Prestige belohnt. Tukey stand also auf solidem soziologischem Boden, als er seine Neuerungen ketzerisch nannte. Er erzählt von seinen einfallsreichen Variationen von Standard-Balkendiagrammen (Histogramme): „Die Idee, dass ein Histogramm eine Fläche proportional zur jeweiligen absoluten Häufigkeit haben muss, scheint tief verwurzelt. Warum? Es scheint ein paar klare Antworten zu geben. Das Argument ist keinesfalls zwingend, dass erstens die Wirkung proportional zur Fläche ist und zweitens die Wirkung proportional zur Häufigkeit sein muss. Wir wissen alle, dass ein zusätzlicher Fall an den Rändern viel mehr Bedeutung hat als ein weiterer Fall in der Mitte“ (1972: 312). Er sagt, ein Standard-Histogramm zeige oft nicht das, was man am ehesten wissen muss: die Abweichungen von einem Muster. So konstruiert 89

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er zuerst ein „Rootogramm“, das jede Balkenhöhe proportional zur Quadratwurzel der Klassenhäufigkeit plottet, die sie ausdrückt. Noch interessanter ist, dass er dann ein „hängendes Rootogramm“ konstruiert, in das die Balken des Histogramms oben in eine Normalverteilung eingepasst werden, sodass ihre Abweichung vom „Normalen“ deutlicher sichtbar wird. Keine dieser Innovationen erzeugt einen Balken, dessen Fläche proportional zu der Menge ist, die sie darstellt; hier liegt die Abweichung von der standardisierten Praxis. Es wird gezeigt, was gezeigt werden muss, aber anders, nämlich durch die Höhe des Balkens über oder unter einer Linie. Das übliche kritische Argument gegen Innovationen lautet, dass Betrachter im Allgemeinen (besonders Laien) automatisch die Fläche des Balkens als das Entscheidende ansehen und daher zwangsläufig meinen, ein Balken mit größerer Fläche bedeute eine größere „reale Anzahl“ als ein standardmäßig konstruierter Balken. Um diese Interpretation vielleicht weiter zu treiben, als es vernünftig erscheint, könnte man behaupten, dass konservative Verteidiger des Status quo die Unwissenden und Unschuldigen beschützen, die durch diesen Bruch mit der Standardisierung irregeführt werden. Das ist ein Element der Statusunterschiede, von denen das Sumner-Hughes-Theorem spricht: die Teilung in „wir“, die Könner, und „sie“, die Nichtskönner, wobei „wir“ die Pflicht haben, „sie“ gegen alle zu verteidigen, die sie ausnutzen wollen. (Mit dieser Version befasse ich mich in Kapitel 8 unter der Überschrift „Hinterlistig“.) Das andere Element hat etwas mit der internen Hierarchie des Berufsstands der Statistiker zu tun. Wenn wir es immer so gemacht haben, und Sie jetzt sagen, wir sollten es anders machen, dann wird unsere bisherige Handlungsweise nicht mehr als so gut, wichtig und kanonisch befunden wie einst. Wenn Ihre Art der Daten-Repräsentation akzeptiert wird, dann wird unsere alte Art, die wir in Ehren halten, umgestoßen. Und Sie werden wichtiger und ernten mehr Respekt im Statussystem unseres Berufs als wir. Eine nicht seltene Antwort darauf ist: „Oh, wirklich?“ Experten nehmen es nicht auf die leichte Schulter, entthront zu werden.

Die klassische Situation Änderungen werden von Leuten vorgeschlagen, die unsere gegenwärtig verfügbaren Formen der Repräsentation nicht mögen. Sie wollen etwas anderes tun, oder das, was getan werden muss, in einfacherer oder besserer Weise erledigen. Und das können sie mit den Standardmethoden nicht. Wir finden diese klassische Situation in allen Welten der Repräsentation: Es gibt eine Standardmethode, die allen oder den meisten Personen, die die Form verwenden,

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bekannt ist. Es gibt jemand, der aus irgendeinem Grund mit dem Standard unzufrieden ist und sich gegen ihn wendet; und eine Auflösung der Unstimmigkeiten, vielleicht in Form einer neuen Standardisierung der Repräsentation und neuen standardisierten Gepflogenheiten des Lesens und Betrachtens unter den Nutzern. Was macht Menschen unzufrieden mit den gegenwärtigen Darstellungen? Manche beklagen, dass die bisher von allen akzeptierte Art nicht mehr die Probleme unserer heutigen professionellen Welt löst (auch nicht die der Nutzer). Und wir haben – oder einer von uns hat – einen hervorragenden neuen Weg gefunden, der das tut, was wir alle wollen, während manche Schwierigkeiten und Probleme vermieden werden, die durch die alte Art entstanden sind und auf die wir uns alle einstellen mussten. Jetzt müssen wir uns nicht mehr darauf einstellen. Also ändern wir das! Betrachten wir zum Beispiel die oben erwähnte Schwierigkeit, mehr als ein paar Dimensionen der Klassifizierung bei der Kreuztabellierung darzustellen. Viele Soziologen haben Anlass, so etwas zu tun. Die zweidimensionale Tabelle ist einfach: Die Zeilen zeigen die Kategorien einer Variablen (zum Beispiel Alter), die Spalten zeigen die Kategorien der zweiten Variablen (zum Beispiel Einkommen).

Einkommen reich arm Alter alt jung

alt/reich jung/reich

alt/arm jung/arm

Jede Zelle enthält eine der möglichen Kombinationen der Kategorien beider Variablen. Wenn wir eine dritte Variable (zum Beispiel Geschlecht) hinzufügen, müssen wir Kategorien wiederholen.

Einkommen reich Geschlecht Alter alt jung

arm

männlich

weiblich

männlich

weiblich

alt/reich männlich jung/reich männlich

alt/reich weiblich jung/reich weiblich

alt/arm männlich jung/arm männlich

alt/arm weiblich jung/arm weiblich 91

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Vier oder mehr Variablen brauchen noch mehr Platz, sind schwieriger zu interpretieren (weil die zwei Zahlen, auf die es ankommt, weiter voneinander entfernt sind), und mehr Zellen werden wahrscheinlich ohne Fälle erscheinen. Welche Alternativen gibt es? Die von Charles Ragin (1987; 2000) empfohlene Boolesche Wahrheitstabelle fasst solche Daten kompakter zusammen. (X bedeutet, das Merkmal der Überschrift kommt vor, 0 bedeutet, dass es nicht vorkommt.)

alt (+60) X X X X 0 0 0 0

reich ($100 000) X X 0 0 X X 0 0

Geschlecht (männl.) X 0 X 0 X 0 X 0

Anzahl der Fälle 500 125 800 875 250 175 900 900

Dies zeigt alle möglichen Kombinationen der Merkmale und die Anzahl der Personen mit dieser Kombination. So gibt es (bei meinen erfundenen Daten) 500 alte reiche Männer (Zeile 1), 125 alte reiche Frauen (Zeile 2) und so weiter bis hin zu den 900 jungen armen Frauen in der letzten Zeile. Hier werden die Daten sparsamer und in besser nachvollziehbarer Weise ausgewiesen als durch die acht Zellen der konventionellen Tabelle, wodurch der Vergleich zwischen den Zahlen und die Interpretation ihrer Bedeutung viel einfacher werden. Diese Methode wurde von manchen Politikwissenschaftlern übernommen, ist aber immer noch selten in der Soziologie zu finden (in dem Jahrgang, dessen Artikel ich untersucht habe, überhaupt nicht). Meine kurze Suche in den großen Zeitschriften hat gezeigt, dass Soziologen weder dieses Werkzeug noch eines der anderen von Tukey entwickelten und in seinem sehr umfangreichen Buch dargestellten Mittel benutzen. Warum nicht? Hier ist eine Vermutung: Sie entsprechen nicht dem Standard. Manche Leute können nicht mit diesen Mitteln umgehen oder fühlen sich eher bei dem zu Hause, was sie an der Uni gelernt und seitdem angewandt haben. Solche Leute mögen sich auch sagen (und vielleicht zu recht), dass die Leser statistischer Grafiken und Tabellen nicht wissen, wie man sie lesen muss, dass sie verwirrt oder irregeführt werden könnten. Das wäre sehr schade, denn das Ziel einer statistischen Repräsentation

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ist, den Nutzern korrekte, brauchbare Informationen zu vermitteln und keine verwirrenden, irreführenden Informationen. Standardisierte Formate wie McGill sie beschreibt, liefern korrekte, brauchbare Informationen für Leute, die wissen, wie man die standardmäßigen Formate zu lesen hat. Veränderungen stören dabei. Susan Cotts Watkins (1985) vermittelt einen ausführlichen Blick auf grafische Mittel, die für Bevölkerungsstudien vorgeschlagen, aber nie eingeführt worden sind. (In Kapitel 10 erläutere ich ausführlich verschiedene Arten von numerischen und anderen Grafiken.) Es ist leicht zu erklären, warum die von Watkins behandelten Grafiken nicht akzeptiert wurden. Sie sind kompliziert und verwirrend, ein Durcheinander von durchgezogenen und gestrichelten Linien, Groß- und Kleinbuchstaben mit Prime-Zeichen, und dreidimensionalen Anordnungen. Alle sind hervorragend geeignet, irgendwelche speziellen Dinge darzustellen, aber verwirrend für jeden, der nicht bereit ist, viel Zeit damit zu verbringen, sie zu entschlüsseln. Wer ist schon gewillt, zusätzliche Energie aufzubringen, um Informationen zu erhalten, die man vielleicht gar nicht braucht und die man auch auf andere Weise erhalten kann? Vielleicht auf weniger adäquate, aber auf gewohnte und daher weniger zeitraubende Weise. Leute werden auch unzufrieden, wenn sie eine standardisierte Form der Repräsentation sehen, die auf eine Weise irreführend ist, die man vorher gar nicht als solche gesehen hatte. Ein Beispiel ist die Weltkarte in der so genannten Nord-Süd-Projektion. Sie zeigt die Welt wie in der Mercator-Projektion, aber umgekehrt, als hätten wir die Karte falsch herum aufgehängt. Wenn man den Wortlaut ändert, ist es dieselbe Karte. Ihre Befürworter argumentieren, sie würde den eurozentrischen Blickwinkel korrigieren, die nördliche Hemisphäre (einschließlich Europa, Kanada, USA und Japan) sei wichtiger als Südamerika, Afrika und Südostasien, weil wir denken, „oben“ sei wichtiger als „unten“. Alles in allem ist das aber eher ein politisches und kein geografisches Argument. (Es gibt schlagkräftigere Argumente gegen andere Formen des Eurozentrismus auf Landkarten.) Wer an solchen Welten wie Drama, Film und schöngeistiger Literatur beteiligt ist, betrachtet den Wandel als etwas grundsätzlich Gutes. Im Allgemeinen wollen Künstler nicht immer wieder dasselbe schaffen oder dabei erwischt werden. Wandel in der Kunst ist der natürliche Zustand der Dinge. Wenn jedes neue Kunstwerk eine Innovation der Gestalt oder Darstellungsweise wäre, würde sich niemand beklagen. Der Wandel würde vollzogen, weil der Schriftsteller, Filmemacher oder Produzent etwas ausdrücken will, das der alte Stil nicht bieten kann, und das wäre Grund genug. Natürlich beschweren sich die Leute auch in diesen Welten, wenn sich etwas ändert, und zwar laut genug. Aber sie beklagen, das neue Ziel lohne sich nicht. Ein gutes Beispiel ist der Hypertext als literarische Ausdrucksform, bei 93

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der Autoren sowie Leser neue, nicht-lineare Wege im Umgang mit Erzählungen entwickeln müssen, die durch schnelle PCs möglich werden (siehe Becker 1995). Tukey benutzte den Ausdruck Ketzerei, um eine vermeintlich geringe Abweichung in der statistischen Darstellung zu bezeichnen. Man hört häufig solche Ausdrücke, wenn Macher von Repräsentationen darüber diskutieren, wie Kenntnisse über die Gesellschaft dargestellt werden sollen. Das wiederum zeigt, wie sehr diese Repräsentationen an wichtige Interessen und Überzeugungen in Hinblick auf den relativen Status von Gruppen gebunden sind und darauf, wie sich Mitglieder dieser Gruppen verhalten sollten. Als die intelligenten Studenten in meinem Seminar die Sammlung von Grafiken und Tabellen diskutierten, die ich zusammengestellt hatte, um sie zu provozieren (ich beschreibe dies ausführlich in Kapitel 10), überraschte mich ihre moralistische Sprache (obwohl ich bereits Tukey gelesen und seine ungewöhnliche Verwendung des Ausdrucks Ketzerei bemerkt hatte). Wir sprachen über eine von den Autoren von Deep South (Davis, Gardner, Gardner 1941) hergestellte Karte, mit der die Anthropologen zeigten, wie sie ihre Analyse der Cliquen-Struktur und der Klassen in der weißen Gesellschaft von Natchez (Mississippi) durchgeführt und begründet hatten. Die Studenten beanstandeten, die Autoren hätten ihre Karte nicht deutlich genug beschriftet. Die Karte hatte keine an einer leicht zugänglichen Stelle befindliche Legende, in der sie die angewandten Symbole erklärte. Sie beklagten empört, die Autoren „hätten das tun müssen“, sie „würden uns das schulden“. Als ich darauf hinwies, dass die Autoren diese Informationen an der Seite der Karte aufgeführt hatten, lenkten die Studenten etwas ein und gaben zu, die Karte habe diese „Pflicht“ zwar erfüllt, aber nicht so gut, wie es hätte sein können. Ich meinte, gehört zu haben, dass ein Student sagte, der Autor einer anderen Grafik hätte „uns im Stich gelassen“ (failed us), indem er die Beschriftung nicht klar genug angebracht hatte. Ich hatte ihn falsch verstanden, aber dieser Fehler war aufschlussreich. Der Student hatte nämlich gesagt, ein Lehrer am Gymnasium habe die Schüler „durchfallen lassen“ (failed us), wenn sie ähnliche Grafiken nicht klar und deutlich beschrifteten. Dieser Student meinte dann aber, der Autor, dessen Arbeit wir diskutierten, hätte uns doch in dem Sinne im Stich gelassen, den ich meinte, gehört zu haben. Diese Verwirrung diente mir als Hinweis für den Ursprung dieser Moralisierung. Möglicherweise ist es etwas übertrieben zu sagen, aber wer weiß, ob das Erlernen von Repräsentationen in einer autoritativen (und autoritären) Schulumwelt, in der erwachsene Lehrer Kinder bestrafen, wenn sie etwas „falsch machen“, dazu geführt hat, dass solche Regeln eine derartige Macht ausüben. Ich will die Verärgerung der Studenten schon ernst nehmen, aber ihre Sorge war hauptsächlich, dass sie Schwierigkeiten hatten, die Tabellen und Grafiken, die ich ihnen gegeben hatte und die nicht im Standardformat waren, zu lesen und

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sich daher bei der Prüfung wohl nicht daran erinnern konnten, was die Grafiken aussagten. Das bedeutete, die Autoren hätten sich nicht genug Mühe gemacht, ihre Ergebnisse deutlich darzustellen. Mit anderen Worten, die Studenten beschwerten sich über die Arbeitsteilung, dass sie zu viel Arbeit leisten mussten, die sie nicht hätten tun müssen, dass es nicht ihre Aufgabe sei, sich durch eine komplexe Grafik durchzukämpfen, sondern dass der Autor dafür verantwortlich sei, dieses Rätselraten unnötig zu machen, indem er die Grafik in einem Standardformat darstellt, das sie ohne übermäßiges Nachdenken erkennen und verstehen konnten. Sie verwendeten die moralische Sprache der Verantwortung und wiesen eine Schuld zu, obwohl es sich eigentlich um ein gemeinsames Versagen handelte, das Versagen beider Parteien (Autoren und Studenten), erfolgreich über den Gegenstand zu kommunizieren. Die Studenten wollten sagen: „Der Autor trägt die Schuld“, während der Autor sich vielleicht so ausgedrückt hätte: „He, wir versuchen hier, etwas Kompliziertes zu erklären. Dafür gibt es keine standardmäßige Methode. Strengt euch gefälligst auch etwas an!“ Da wir diese Situation nur analysieren und keine Beteiligten sind, brauchen wir niemandem die Schuld zuzuordnen. Wir können höchstens bemerken, dass die Zuordnung von Schuld genau das Problem darstellt, um das es geht. Dasselbe Problem entsteht in einem ganz anderen Zusammenhang, wenn Leser sich beklagen, die Prosa eines Autors sei „schwer zu lesen“. Viele Menschen meiner Generation beklagten sich, Talcott Parsons theoretische Arbeit sei ungebührlich schwer zu lesen (so wie man sich heute über Pierre Bourdieus Arbeiten beschwert). Das Wort ungebührlich, mit dem ich solche Klagen charakterisiere, ist selbst ein moralisches Urteil und bedeutet, ich sollte als Leser nicht so schwer arbeiten müssen, um die Bedeutung zu erfassen, die sich vielleicht in diesen Komplikationen verbirgt (oder vielleicht nicht). Dieselben Klagen wurden in den 1990er Jahren über die „postmoderne“ Prosa laut, deren Verfasser ebenso moralistisch behaupteten, die Schwierigkeit sei notwendig und beabsichtigt, weil Nutzer es nicht zu leicht haben sollten, die Bedeutung zu begreifen. Und gewiss verlangen die soziologischen Analysen, die sich in vielen künstlerischen Darstellungen von Wissen über die Gesellschaft finden, dass Nutzer selbst an der Erschließung dieses Wissens arbeiten, wie wir im Fall der Fotografie gesehen haben. Harvey Molotch (1994) stellt die besonders lehrreiche Frage nach den Opportunitätskosten: „Wenn es sieben Stunden dauert, einen Artikel des Wissenschaftlers X zu lesen, werden wir vielleicht nie drei Artikel von anderen Wissenschaftlern lesen (oder etwas in einer Bar lernen). Es mag ja sein, dass X wunderbar ist, aber ist er dreimal so wunderbar? Parsons war sehr klug, aber war er zehnmal klüger als Mills? Oder Goffman? Oder Merton?“ (Molotch 1994: 229). Und falls er das nicht ist, habe ich 95

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dann das Recht, ihn nicht zu lesen? (Und ich würde die zusätzliche Frage stellen: An welches Gericht würden Sie sich denn wenden, um den Verlust einzuklagen?) Die Teilnehmer an dem Seminar stellten dafür ein hervorragendes Beispiel dar, indem sie sich selbst in die Position der Studenten begaben, die McGill befragt hatte. Es sei eine Situation, in der sie sich oft befanden, wenn sie eine große Zahl an Artikeln lesen mussten, um eine Prüfung zu bestehen oder um eine gefürchtete rituelle Zusammenfassung der Literatur zu erarbeiten. Man kann diese Arbeit nur leisten, indem man die von McGill beschriebenen Abkürzungen verwendet, und man kann die Standard-Abkürzungen nur verwenden, wenn der Artikel standardmäßige Repräsentationsmittel verwendet hat. Wenn der Autor noch schwieriger wird, würden sie gerne davon befreit werden, wissen zu müssen, was er gesagt hat. (Irgendwann in den 1960er Jahren erzählte mir ein Harvard-Student, er und seine Kommilitonen hätten beschlossen, nichts von dem zu lesen, was Parsons nach 1953 geschrieben hatte, um sich vor dessen häufigen Überarbeitungen seiner Theorien zu schützen – zumindest bis sie ihre Dissertation hinter sich gebracht hatten. Ich wünschte, ich könnte für die Richtigkeit dieser Geschichte bürgen.) Die Sprache meiner Studenten drückt auch die Moral der Effizienz aus. Leser erklären häufig, warum etwas auf eine bestimmte Art getan werden soll. Sie sagen, es würde die Dinge „erleichtern“, und verwenden den Ausdruck einfach oft zur Verstärkung. „So ist es einfach leichter zu lesen“. Das einfach soll bedeuten es sei so offensichtlich, dass keine Begründung notwendig ist. Das einfach beschwört die Logik der Effizienz, wonach notwendigerweise besser ist, was schneller und mühelos verläuft. Nutzer von Repräsentationen meinen oft, ihre Zeit sei so kostbar, dass es Zeitverschwendung sei, Neues lernen zu müssen. Sie wollen direkten Zugang zu dem Wissen, das sie anwenden können. Experimentelle Formen der literarischen und künstlerischen Untersuchung unserer Gesellschaft – die Werke von Leuten wie David Antin (Kapitel 9) und Hans Haacke (Kapitel 4) – verlangen oft erfolgreich, dass ihre Nutzer, die vielleicht eher gewohnt sind, diesen Preis zu zahlen, sich mehr anstrengen. Die Lösung dieser Konflikte nimmt wahrscheinlich bestimmte generische Formen an. Eine neue Form kann die alte völlig ersetzen. C.P. Snow sprach von einer solchen Veränderung in seinem frühen Roman über Kristallografie, The Search (Snow 1959), in dem eine hochmathematische Repräsentationsform eine ältere Form vollständig ersetzte und alle alten Hasen im Regen stehen ließ, denen die Mathekenntnisse für die neue Form fehlten. Eine weitere Lösung – wahrscheinlich das, was mit der mathematischen Modellierung in der Soziologie passiert ist – besteht darin, dass die Innovation zu einer Spezialisierung führt, die das Gesamtgebiet nur am Rande berührt. Sie ersetzt gar nichts, sondern fügt etwas Neues hinzu, das zwar manche Leute nutzen, die meisten

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aber ignorieren. Ich denke, mathematische Modelle sind nützlicher als viele Leute glauben, und darum widme ich ihnen einen Teil von Kapitel 10. Manche Bereiche beantworten diese Fragen nie. Die Streitigkeiten setzen sich endlos fort. Dokumentarfilme scheinen dazu zu gehören. Was ist erlaubt? Wie weit müssen Filmemacher gehen, um die Verfälschung der Realität zu vermeiden, die sie filmen wollen? Wie wird dadurch das Ergebnis kompromittiert? (Der Zusammenhang zwischen Realität und Repräsentation wird in Kapitel 7 besprochen.)

Wer gehört dazu? Wir haben über interne Streitigkeiten unter den Machern einer bestimmten Art von Repräsentation gesprochen. Die Macher haben selten, wenn überhaupt jemals, vollkommene Kontrolle über ihre Arbeitssituation oder ihre Ergebnisse. Auch die Nutzer spielen eine Rolle. Darauf spielen Macher an, die Angst haben, „sie“ könnten in die Irre geführt werden. Aber wie die Studien der digitalen Kultur von Joe Karaganis (2007) zeigen, sind Nutzer selten so passiv und dumm, wie damit unterstellt wird. Sie beteiligen sich aktiv am Vorgang, wählen aus, worauf sie sich konzentrieren müssen, und interpretieren, was sie finden, unabhängig von den Absichten der Macher. Nutzer haben typischerweise eine Auswahl an „Repräsentations-Produkten“. (Ich verwende diesen umständlichen Ausdruck absichtlich, um die Rolle der Nutzer als Verbraucher auf dem Markt der Ideen zu unterstreichen). Sie können diesen oder jenen Kinofilm anschauen, dieses oder jenes Buch lesen, dieses oder jenes Genre bevorzugen. In den Wissenschaften können sie dieses oder jenes Material für richtig befinden und nutzen. Nutzer stimmen mit ihren Füßen ab. So mag sich die Lösung eines Streits unter Wissenschaftlern – in jenen Bereichen, in denen die Nutzer so abstimmen – gar nicht nach der „Expertenmeinung“ richten, sondern eher durch die Endnutzer und deren Wahl zwischen Alternativen entschieden werden, auch wenn diese Endnutzer von den Experten für zu ignorant gehalten werden, um zu entscheiden, ob sie beispielsweise Tukeys grafische Innovationen verwenden wollen. Man könnte sagen, dass die Auswahl statistischer Neuerungen so zustande gekommen ist. Soziologen verwenden sie einfach nicht und haben bisher keinen Grund, jemandem zu erklären warum. Es heißt, dass die meisten „theoretischen“ Auseinandersetzungen in der Soziologie auf diese Weise beigelegt werden: nicht durch Logik oder Beweise, sondern durch die Abstimmung der Nutzer mit den Füßen, indem sie sich eher für diese als jene Idee interessieren, obwohl sie nur normale Anwender und keineswegs Theorie-Experten sind. 97

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Häufig wenden Nutzer auch die ihnen vorgestellten Dinge auf eine Weise an, die von den Machern nie vorgesehen war, und über die letztere dann entsetzt sein mögen. Ich habe meine Repräsentation als Verkörperung eines Arguments geschaffen und dabei gewissenhaft die Probleme, Hypothesen, Methoden, Ergebnisse und Schlussfolgerungen auf standardisierte Weise angeordnet, um eine lesbare Folgerung auf standardisierte Art vorstellen zu können. Dann stelle ich fest, dass Nutzer die Daten so lesen, wie ich es nie beabsichtigt hatte – als eine Datei zur Suche nach Belegen für Schlussfolgerungen, die ich ablehne, wobei die Nutzer meine sorgfältige Konstruktion völlig ignorieren. Das geschieht laufend in den Naturwissenschaften, aber natürlich auch in der Kunst, wo Experten auf jeder der vielen beteiligten Ebenen und ebenso das Laienpublikum ein Werk herumdrehen und ganz Unterschiedliches aus der künstlerischen Arbeit machen können (Redakteure bearbeiten, Intendanten inszenieren und die Leser oder Zuschauer machen daraus, was sie wollen.)

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Jede Art der Darstellung von Wissen über die Gesellschaft reduziert die Daten, mit denen Nutzer sich befassen müssen. Latour (1987: 234ff.) bezeichnet das als den Vorgang, Beschreibungen (n+1)ter Ordnung zu erzeugen, also Kombinationen detaillierter Beschreibungen, die mehr Platz einnehmen. Die Kombinationen stehen für das Ganze wie eine Gleichung für alle Zahlenkombinationen steht, die ihren Anforderungen genügen. Bei Umfragen erfassen die Interviewer nur sehr wenig von dem, was sie über die Befragten erfahren. Die Chefs der Interviewer vermischen die geringfügigen Aufzeichnungen mit den Antworten der anderen Befragten und fassen alles als Zelle in einer Tabelle zusammen. Die Zelle wird zu einer statistischen Zusammenfassung verdichtet, zum Beispiel einem Mittelwert oder – in Kombination mit anderen Zellen – zu einem Korrelationkoseffizienten. Und das alles reduziert man schließlich auf eine Folgerung, von der man sagt, all diese Beweise würden sie unterstützen. Die meisten Beweise, die man vielleicht benutzt oder für interessant befunden hat, wurden weggefiltert. Man soll sich aber nicht über diesen Prozess lustig machen. Datenreduzierung ist kein wissenschaftlicher Unsinn, sondern eine sowohl theoretische als auch praktische Notwendigkeit. Versuchen Sie dieses Gedankenexperiment: Sie fassen nicht zusammen, was Sie vor Ort beobachtet haben. Sie bringen alles zurück, die gesamten physikalischen, biologischen und gesellschaftlichen Inhalte. Was würde dabei herauskommen? Es wäre wohl leichter, an die Daten heranzukommen, mit denen Sie arbeiten wollen – keine Notwendigkeit, Tausende von Kilometern oder Jahrhunderte in Ihrer Zeitmaschine zu reisen. Sie stehen morgens auf, trinken Ihren Kaffee, gehen in die Welt, die Sie in der Nähe gelagert haben, und beobachten sie. Das bringt Ihnen gar nichts, wenn Sie anderen erzählen wollen, was Sie über das Untersuchte wissen. Sie sind Funes el Memorioso in der Geschichte von Jorge Luis Borges (1964: 59ff.), der sich an alles erinnert, nichts vergisst, aber nicht unterscheiden kann, was wichtig ist und was nicht. Alles zu wissen, heißt nichts zu wissen. Wissen entsteht, wenn man überflüssige Einzelheiten aussortieren kann 99 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_6

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und die grundsätzlichen Strukturen aufdeckt, an denen wir interessiert sind. Nicht alles ist interessant oder nützlich für uns. So schneiden wir weg, was wir meinen, wegschneiden zu können und kombinieren die nun zusammengefassten Informationen. Damit erlangen wir mehr Kontrolle über unsere Kenntnisse. Wie machen wir diese Reduktion? Was tat Latour (1995), als er Bodenkundlern bei der Lösung ihres Problems zuschaute, dann die Bodenkundler und Botaniker ebenso verließ wie den brasilianischen Urwald selbst – mitsamt den Bäumen und Affen, der Hitze, dem Regen und dem Boden – und einen Artikel für eine wissenschaftliche Zeitschrift schrieb, in dem er eine Frage von wissenschaftlichem und philosophischem Interesse beantwortete? Die Wissenschaftler lösten ihr Problem, indem sie den Urwald in ein Labor verwandelten und das verwirrende „andere Zeug“ beseitigten, das die „wesentliche Geschichte“ verdeckt hatte, die sie kennen wollten. Sie nummerierten Teile des Waldes und unterteilten ihn in ein Raster von Parzellen zu je einem Quadratmeter. Jede Parzelle konnte durch einen kleinen Erdklumpen dargestellt werden. Aus dieser und weiteren Reduzierungen entstand schließlich eine Grafik in einem Artikel. Latour handelte ebenso, indem er sein Gesehenes und Gehörtes in Fotografien und Feldnotizen umwandelte, die er als Geschichte zusammenfasste und dann in Überlegungen darüber verwandelte, wie man vom Bezeichneten zum Bezeichnenden kommen kann. Dann schrieb er einen wissenschaftlichen Artikel. Wie wird das reduziert, was in den verschiedenen Medien und Genres, die über die Gesellschaft berichten, beobachtet wird? Wie hat Marcel Proust die Fülle an Details, die er am Ende des 19. Jahrhunderts über manche Teile der französischen Gesellschaft wusste, auf einen Roman mit einer Handlung über einige Charaktere reduziert? Wie hat die Dramatikerin Caryl Churchill die Ergebnisse ihrer mehrwöchigen Interviews und Beobachtungen in Rumänien nach dem Kommunismus zu ihrem Dreiakter Irrwald (1996) zusammengedrängt? Gibt es Grundsätze? Gibt es beschreibbare Verfahren?

Das Beispiel der Landkarten Die einzelnen Bestandteile unseres Wissens zu reduzieren und in eine formalisierte Repräsentation zu verwandeln, bildet ein unlösbares Problem. Bernard Beck hat oft bemerkt, dass soziologische Studien untersuchen, wie Menschen Dinge tun, die im Prinzip nicht getan werden können: Sie lösen unlösbare Probleme, indem sie einige ihnen auferlegte Einschränkungen lockern. Der Kartograf John P. Snyder erklärt die unvermeidlichen Verzerrungen bei der Erstellung von Karten:

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Die Herausforderung, die runde Erde auf einer flachen Oberfläche abzubilden, stellt uns schon seit etwa 2000 Jahren vor mathematische, philosophische und geografische Probleme, die viele Arten von Erfindern angezogen haben. […] Bald sah man ein, dass die Anfertigung einer flachen Karte von einer in alle Richtungen gekrümmten Fläche zu Verzerrungen führen muss. Diese Verzerrung kann viele Formen annehmen – Gestalt, Fläche, Entfernung, Richtung sowie Unterbrechungen oder Lücken zwischen Teilen. Mit anderen Worten, eine flache Karte kann die Oberfläche einer Kugel nicht korrekt wiedergeben. Auch ein Globus hat Nachteile, obwohl er grundsätzlich nicht zur Verzerrung führt. Ein Globus ist unhandlich, hat einen kleinen Maßstab und ist umständlich für Messungen. Außerdem kann man normalerweise weniger als die Hälfte seiner Oberfläche gleichzeitig sehen. […] Die systematische, komplette oder teilweise Repräsentation der Fläche eines run­den Körpers wie der Erde auf einer flachen Karte heißt Kartenprojektion. Es sind buch­ stäblich unendlich viele Kartenprojektionen möglich, und mehrere hundert sind veröffentlicht worden. Der Gestalter einer Kartenprojektion versucht, die Ver­zer­ rungen zu minimalisieren oder manche sogar zu eliminieren. Dies geschieht immer auf Kosten größerer Verzerrungen anderer Art, vorzugsweise in einer Region auf oder außerhalb der Karte, wo die Verzerrung weniger wichtig ist. (Snyder 1993: I)

Es ist nicht machbar. Man kann eine Kugel nicht ohne Verzerrung auf eine flache Karte übertragen. Der Preis, überhaupt eine Karte zu haben, sind alle die Verzerrungen, mit denen der Nutzer umzugehen lernt. Aber eine ebene Fläche ist das, was Nutzer wünschen. Sie ist leicht zu transportieren, kann auf andere flache Unterlagen übertragen werden (Latour 1987: 215ff.), wird von Nutzern für wissenschaftliche und praktische Zwecke gefordert, insbesondere für die Erzeugung von unzähligen, zunehmend abstrakten Repräsentationen, die Nutzern Kontrolle darüber geben, was abgebildet ist. Adam Gopnik (2005) beschrieb die Karte von New York City, mit der Bürokraten übereinanderliegende Karten herstellen, die das Gefüge und den Zustand von Straßen, Wasser- und Stromleitungen und anderen bautechnischen Bestandteilen des Gebietes anzeigen, damit die verschiedenen Stadtverwaltungen ihre Arbeiten koordinieren können. Das kann man nicht mit einem Globus leisten, aber gewiss mit einer flachen Computerdarstellung. Jede Art und Weise, Kartenprojektionen anzufertigen, eignet sich gut für manche Zwecke und weniger gut für andere. Wer nur an einer bestimmten Gegend interessiert ist, kann diese zum Mittelpunkt der Karte machen, wo die Genauigkeit maximal ist, und die Verzerrung an weniger wichtigen Stellen ignorieren (obwohl sie anderen vielleicht viel bedeuten). „Mercators Hauptzweck bei der Entwicklung der Projektion von 1569 war die Navigation. Alle Linien konstanter Peilung (Loxodrome oder Längengrade) werden gerade gezeigt. So wurde die Projektion wertvoll für Seefahrer, die einer einzigen Kompassstellung folgen konnten (eingestellt auf die 101

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magnetische Deklination bzw. die Abweichung vom geografischen Nordpol zum Magnetpol) auf der Basis der Peilung oder des Azimut der geraden Linie zwischen dem Ausgangspunkt und dem Ziel auf der Karte“ (Snyder 1993: 46). In den Worten Mercators: „Mit dieser Weltkarte hatten wir drei Ziele im Auge: erstens die Erdoberfläche so auf einer Ebene auszubreiten, dass die Orte alle richtig zu liegen kommen, nicht nur in Hinsicht auf ihre wahre Richtung und Entfernung voneinander, sondern auch in Bezug auf ihre wahren Längen- und Breitengrade; und ferner, dass die Umrisse der Länder, wie sie auf dem Globus erscheinen, so gut wie möglich wiedergegeben werden können.“ Mercator erklärt weiter, wie seine Projektion leistet, was Seeleute wollen und brauchen, und warum die Verzerrungen nicht die Navigation auf hoher See stören würden, was auch immer sie sonst anrichten mögen. In ähnlicher Weise sind andere Nutzer von Karten hauptsächlich an sehr kleinen Regionen interessiert. Stereografische Projektionen verzerren zwar größere Umgebungen, aber die für spezialisierte Nutzer interessante nähere Umgebung ist dann gerade richtig. (ebd.: 20)

Als sich die Kartografie zu einer selbstständigen Wissenschaft und Technik entwickelte, entstanden immer mehr neue Anwendungen für ihre Produkte (zum Beispiel für die Verwaltung politischer Gebiete), und Kartografen setzten zunehmend komplexe mathematische Methoden ein. Das führte zur Erfindung von Projektionen, deren größter Vorteil darin bestand, dass sie schwierig anzufertigen waren und deswegen einer professionellen Zielgruppe gefielen, die zu schätzen wusste, welche technischen Hindernisse man dabei überwunden hatte. „Immer kompliziertere Projektionen wurden in vielen Fällen nur aus dem Grund entwickelt, aus dem oft hohe Berge bestiegen werden: weil es die Herausforderung gab. So spricht außer der Leistung selbst, eine Weltkarte zum Beispiel als Dreieck darstellen zu können, kaum etwas für eine solche Projektion. Die meisten Erfinder solcher mathematischen Neuheiten warben normalerweise jenseits bescheidener wissenschaftlicher Veröffentlichungen auch nicht weiter für ihre Werke.“ (ebd.: 155)

Zusammenfassen So muss jede Repräsentation der gesellschaftlichen Realität aus einem Elefanten eine Mücke machen. Wie erfasst man eine riesige Menge an Material über etwas und schrumpft es zu weniger Material zusammen, damit es die anvisierten Leser oder Betrachter bequem und praktisch aufnehmen können? Wer die Gesellschaft oder das gesellschaftliche Leben erforscht, begrüßt neue technologische Entwicklungen, weil sie es ermöglichen, unsere Repräsentationen „vollständiger“ zu machen. Wir können jetzt schon alle Stimmen in einem Raum

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ohne Verzerrung aufzeichnen. (Ich schreibe diesen Text Anfang 2006, aber wer weiß, was möglich sein wird, wenn Sie ihn lesen?) Wir können unsere Umgebung stundenlang und pausenlos auf Video aufnehmen, ohne ein neues Band in die Kamera zu legen. Wir können jedes Wort aus der umfangreichen Literatur der Griechen und Römer in einer einzigen CD-ROM einfangen. Überwältigend! Was nützt diese Fähigkeit? Sie löst kein Problem. Sie verschlimmert das Problem nur. Treiben Sie die Prämisse einmal zu ihrem Extrempunkt. Stellen Sie sich vor, wir könnten schließlich jeden einzelnen Aspekt der gesellschaftlichen Situation vollständig in voller Größe reproduzieren. Dann hätten wir alles. Ariane Lodkochnikow, die Heldin in Eric Krafts Roman What a Piece of Work I Am (1994), verkörpert das Problem. Sie hat aus ihrem Leben ein Kunstwerk gemacht, das … aus ihrem Leben besteht. Sie lebt auf der Bühne. Leute kaufen Tickets, um sie live zu sehen, wie sie Gäste empfängt, isst und liest, Fernsehen schaut und schläft. Sie ist schon seit Jahren da und hat treue Fans, die regelmäßig kommen, um sich über das neueste Geschehen zu informieren. Aber was sie geschaffen hat, ist nicht mehr die Repräsentation irgendeiner Sache, sondern die Sache selbst. Würden wir – wenn wir könnten – eine genaue Kopie dessen machen, was wir verstehen wollen, ein Duplikat, von dem nichts aus dem Original entfernt wurde, dann hätten wir schließlich die Sache selbst. Und wir wären auf dem Weg zum Verständnis dieser Sache nicht weiter gekommen als vor dem Anfertigen der Kopie. Dies bestätigt, dass der eigentliche Grund für die Herstellung einer Repräsentation ja darin liegt, viel von dieser Realität los zu werden, damit wir deutlicher sehen und uns auf genau die Dinge konzentrieren können, über die wir etwas wissen wollen, ohne durch Elemente abgelenkt zu werden, die uns gleichgültig sind. (Darum ermahnen Zeitungsredakteure ihre Fotografen, „die unnötigen Details“ auf ihren Bildern wegzulassen, möglicherweise dadurch, dass sie absichtlich alles ausblenden, was nicht zum „Hauptthema“ gehört. Siehe Hagaman 1993; 1996). Aber beim Zusammenfassen droht immer die Gefahr, etwas zu verlieren, das wir wirklich wollten. Wenn man zu stark zusammenfasst, hat man nicht mehr genug. Genug wofür? Es kommt ganz darauf an, was der Macher einer Darstellung erreichen will. Zu viel für mich ist nicht genug für Sie. Nicht nur, weil wir verschiedene Geschmäcker haben, sondern weil die Tätigkeiten, mit denen wir uns beschäftigen, verschiedene Informationen voraussetzen. „Wie viel ist genug?“ muss immer im Kontext einer bestimmten Gruppe gefragt werden, die eine Repräsentation für einen spezifischen Zweck braucht, der sich wiederum nach der Situation richtet. Das Problem der genau ausreichenden Zusammenfassung ergibt sich in vielen Situationen. Zwei prominente, aber sehr unterschiedliche Gebiete sind statistische Überblicke und ethnografische Berichte. 103

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Statistische Methoden bezwecken, die Masse der Daten zu reduzieren, mit denen wir uns befassen müssen, eine Messreihe in eine Grafik oder einen Durchschnitt oder ein anderes Maß zentraler Tendenz (Median, Modus) zu übertragen, aber nicht zu stark zu reduzieren. Schließlich sagt ein Durchschnitt nicht viel über die Zahlensammlung aus, die er zusammenfasst, außer dass er in irgendeiner Weise und für einige Zwecke (aber nicht alle wichtigen) darstellt, wie die Sammlung aussieht. Wer Zahlen benutzt, will häufig auch andere Dinge erfahren: Wie viel Variation enthält die Sammlung, oder – mit anderen Worten – wie verschieden sind ihre Teile? Mit einer Antwort erfährt man die extremen Werte der Sammlung, vielleicht die größten und kleinsten, und den Bereich der Verteilung. Eine andere Antwort zeigt, wie eng die Bestandteile um den Durchschnitt gebündelt sind – die so genannte Standardabweichung. Wenn wir beschreiben wollen, wie eng zwei oder mehr Dinge zusammenhängen – Größe und Gewicht oder Einkommen und Bildungsgrad – verwenden wir Maße, die eine Zahl erzeugen, die mit anderen ähnlichen Maßen vergleichbar ist, damit wir sagen können, diese beiden Variablen hängen in dieser Population mehr oder weniger eng zusammen als in einer anderen. Statistiker haben viele solcher Assoziations-Maße erfunden, die sich darin unterscheiden, was sie betonen oder hervorheben. Keine zwei dieser Maße geben genau gleiche Größen dafür an, wie und wie oft die beiden Variablen zusammenhängen, obwohl sie dieselben Daten zusammenfassen. Alle diese Maße verlieren Informationen. Sobald man eine Sammlung von Messungen auf den Durchschnitt reduziert hat, kann man sie nicht mehr dahingehend manipulieren, die volle Reihe der einzelnen Messungen zurückzugewinnen. Sie sind weg (es sei denn, Sie haben sie irgendwo anders gespeichert). Bei jeder Art der Zusammenfassung gehen unterschiedliche Informationen verloren. Korrelationsmethoden verwandeln Fälle in Werte für einzelne Elemente und berechnen dann die Zusammenhänge zwischen ihnen. Die Einheit der einzelnen Fälle, die Verschiedenheit der Möglichkeiten, wie diese Elemente im Einzelfall miteinander und mit ihrem Kontext zusammenhängen, verschwindet. Andere Methoden erhalten die Zusammenhänge im einzelnen Fall. Wenn wir entscheiden, gewisse Arten von Informationen zu sammeln und sie auf gewisse Weise darzustellen, entscheiden wir gleichzeitig, andere Arten von Informationen nicht zu sammeln oder darzustellen. Bei jeder Art der Zusammenfassung von Daten können wir uns fragen: Was wird gewöhnlich ausgelassen? Und können wir Verlorenes wieder zurückholen und erneut einfügen? Sozialwissenschaftler haben sehr konventionelle Vorstellungen davon, was in sozialwissenschaftlichen Beschreibungen dazu gehört und was man mit Sicherheit weglassen darf. Denken Sie an all die Informationen, die beteiligte Beobachter sammeln, wenn sie in der

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Praxis tätig sind, die sie aber nie verwenden. Ihre Feldnotizen enthalten niemals alles, was sich in ihrer Gegenwart ereignet hat. Als ich Feldforschung lehrte, machte ich die Studenten in den ersten Wochen der Lehrveranstaltungen verrückt, weil ich darauf bestand, sie sollten „mehr“ schreiben. Ein Student, der vier Stunden in einer Autoreparaturwerkstatt zugebracht hatte, gab mir eine Seite mit Notizen, und ich sagte ihm, das sei nicht genug. Es dauerte Wochen, bis sie einsahen, dass ich wirklich meinte, sie sollten „alles“ aufschreiben oder es zumindest versuchen. Es dauerte weitere Wochen, bis sie einsahen, dass sie das nicht konnten und dass ich eigentlich wollte, dass sie wirklich darüber nachdenken, was sie wissen wollten, um dann so viel wie möglich dazu aufschreiben. Das verzögerte nur die schwere Frage: Was wollten sie wissen? Der Trick beim Beobachten ist nämlich, auf Dinge aufmerksam zu werden, die man vorher gar nicht beachtet hat. Trotzdem gab es Grenzen für meine pädagogisch inspirierte Neugier. Ich verlangte selten, dass sie ein komplettes Verzeichnis der an ihren Forschungsstätten auftretenden Gerüche anlegten, obwohl man nicht Georg Simmel heißen muss, um die Möglichkeit einer Soziologie der Gerüche zu erkennen – woher sie kommen, wie man sie deutet, wie das gesellschaftliche Leben organisiert ist, um sie wahrzunehmen oder zu ignorieren, welche legalen und informellen Wege es gibt, aus erfreulichen Gerüchen Kapital zu schlagen und schlechte zu beseitigen, und all die anderen Dinge, an die ein erfindungsreicher Mensch in ein paar Minuten denken kann. Versuchen wir ein anderes Experiment. Sagen wir einem Sozialwissenschaftler, er würde nur eine geringe Anzahl von Tatsachen über Leute erfahren, deren Verhalten er erklären soll (ein Umstand, der sich nicht sehr von den realen Zwängen bei üblichen Umfrage-Interviews unterscheidet, aber das, wovon ich spreche, ist nicht auf diese Methode beschränkt). Was wird er oder sie unabhängig von der theoretischen oder methodologischen Überzeugung aussuchen? Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Einkommen, Bildung, ethnischer Ursprung – die üblichen Ursachen (oder „unabhängige Variablen“). Ein Sozialwissenschaftler würde erröten, wüsste er solche Dinge nicht, und doch gibt es genug andere Dinge, die mit guten Gründen einbezogen werden könnten. Wie wäre es mit BMI? Oder Haarfarbe? Oder „allgemeine Attraktivität“, wie auch immer gemessen? Oder Aggressivität/ Schüchternheit? Allgemeine körperliche Geschicktheit im Gegensatz zu Ungeschicklichkeit? Abgesehen von den Variablen, die spezifisch für einen Beruf oder eine Nachbarschaft oder Region des Landes sind. Wenn ich Musiker untersuche, die für Hochzeiten, Bar-Mizwas und andere gesellschaftliche Veranstaltungen oder in Bars und Restaurants in der Nachbarschaft spielen, wäre die Variable, wie viele Lieder sie kennen und ohne Noten spielen können, ohne geschriebene Musik 105

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zu benötigen, sicherlich wichtiger als jede andere auf der Standardliste (Becker, Faulkner 2005; 2006). Fragen dazu, wie viel man zusammenfassen darf und wie viel man komplett berichten sollte, brachen in den 1980er Jahren in ethnografischen Arbeiten über ganz ähnliche Themen auf (behandelt in Clifford 1988). In den 1920er Jahren hatten Anthropologen im Geleit von Margaret Mead, Bronislaw Malinowski und A.R. Radcliffe-Brown zumindest teilweise entwickelt und standardisiert, wie man Feldstudien betreiben und darüber berichten sollte. Clifford kennzeichnete es so: (1) Ein akademischer Feldforscher mit besonderen Fähigkeiten, (2) „verwendete“ statt „beherrschte“ die Landessprache, (3) verließ sich mehr auf visuelle Wahrnehmung als auf Gespräche, (4) wandte wissenschaftliche Abstraktionen und darauf fußende Methoden an, (5) konzentrierte sich auf spezielle Institutionen (zum Beispiel Margaret Mead auf Kindheit) und berichtete die Ergebnisse „im ethnografischen Präsens“. Unter anderem ermöglichte das den Leuten, lange Bücher nach relativ kurzem Aufenthalt im Feld zu schreiben. Es war, wie Clifford sich ausdrückte, „eine effiziente Ethnografie, die auf der wissenschaftlichen teilnehmenden Beobachtung beruhte.“ Diese Kombination begründete die Autorität des Feldforschers „mit einem sonderbaren Amalgam intensiver persönlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Analyse.“ Die teilnehmende Beobachtung bestand aus „dem ständigen Wechsel zwischen dem ‚Inneren‘ und dem ‚Äußeren‘ von Ereignissen: einerseits den Sinn spezifischer Begebenheiten und Gesten emphatisch zu erfassen, andererseits zurückzutreten, um diese Bedeutungen in einen breiteren Kontext zu stellen“ (Clifford 1988: 32, 34). Wie konnten diese Feldforscher eine kohärente Zusammenfassung herstellen, die kombinierte, was sie durch ihre eigenen Beobachtungen gelernt und was sie als Interpretation des gesammelten Materials hinzugefügt hatten? Denn das waren zwei verschiedene Dinge. Die Feldforscher – als ultimative Instanz für das, worüber sie berichteten – konnten dank ihrer Erfahrung behaupten: „Ich war dort!“ Die Erfahrung machte die Forscher sensibel für Signale und Bedeutungen, die wohl schwierig zu benennen, aber trotzdem real waren. Dieses Material hatte sich aber nicht im Dialog ergeben und war deshalb eher subjektiv statt intersubjektiv, also strittig. Anthropologen erkannten, dass die Feldforscher mit mehr als nur mit ihrer bloßen Erfahrung zurückkehrten. Sie brachten Notizbücher mit, schriftliche Aufzeichnungen, in denen sie gewisse Dinge aus dem Strom ihrer Erfahrung gebildet, benannt und beschrieben hatten. Damit verwandelten sie sie in Gegenstände ethnographischen Arbeitens. Aus Geschehnissen wurden Feldnotizen. Typischerweise erzeugten solche Texte – kombiniert und zusammengefasst – die „Kultur“, von der die Arbeiten berichteten, oder zumindest einen Teil davon. Zwangsläufig reduzierte all dieses Schreiben die Felderfahrung. Einzelheiten wurden ausgelassen, die von den Feldforschern für entbehrlich erachtet wurden

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(obwohl andere Forscher anderer Meinung sein mochten), oder einfach vergessen (so denkt zum Beispiel niemand daran, Gerüche in Feldprotokolle aufzunehmen). Am wichtigsten ist, dass sie typischerweise die Gespräche mit den Einheimischen wegließen, aus denen doch die Anthropologen ihre verallgemeinerten Beschreibungen „der Kultur“ herausfilterten, aus denen wiederum der standardmäßige anthropologische Forschungsbericht bestand. Die Anthropologen fassten das, was sie ihren Beobachtungen und Befragungen entnahmen, in folgenden Feststellungen zusammen „Die Nuer denken X“ oder „die Samoaner machen Y“. Manchen Anthropologen wurde es bei diesen Zusammenfassungen unbehaglich. Sie stellten die wichtige Frage, wie man wohl die Stimmen Anderer, also außer denen der Anthropologen, in die anthropologischen Berichte einbauen könnte. Man glaubte, ein vielsprachiger Berichtstil könnte den kooperativen Charakter ethnografischer Studien zeigen und anerkennen. Die vielen Stimmen der Leute, die an der Arbeit beteiligt waren, könnten gehört werden. Schon in den 1940er Jahren dachte Clyde Kluckhohn (1945) darüber nach, wie man Lebensgeschichten, lange persönliche Beschreibungen, die einem Anthropologen erzählt wurden, berichten könnte. Seine wundervoll utopische Empfehlung, die damals irgendwie weniger unmöglich schien als heute, bestand darin, sie in drei Versionen zu veröffentlichen: als Niederschrift der Notizen des Anthropologen wie sie aufgeschrieben oder auf Tonband aufgenommen worden waren – obwohl auch hier Fragen über die Authentizität aufkamen (Blauner 1987); als redigierte Version, in der die „irrelevanten“ Teile der einfachen Unterhaltung entfernt waren (die Gesprächsanalytiker gerade von Bedeutung finden könnten); und eine weniger im Gesprächsstil angelegte reduzierte Version für Laienleser. Schon aus dem Vorschlag einer solchen Produktionsreihe geht hervor, wie unpraktisch die Durchführung gewesen wäre. Auf alle Fälle ist die Zusammenfassung anthropologischer Befunde und Erkenntnisse sehr kompliziert. Besonders schwierig ist die Frage, wie viel von den eigentlichen Geschehnissen im Bericht erscheinen soll. Clifford beschreibt mehrere experimentelle Berichtsformen, deren Autoren nicht nur ausschließlich Anthropologen ansprechen wollen, sondern auch Nicht-Akademiker und insbesondere Menschen, deren eigene Aussagen zu dem Werk beigetragen hatten. Wie Clifford meint, führt das zu Veröffentlichungen, die altmodisch aussehen werden, da sie Sammlungen von nicht interpretiertem indigenem Material enthalten, das Nicht-Indigene viel weniger interessiert als die Indigenen, die es geliefert haben. Bisher habe ich nur davon gesprochen, welche Menschen man einschließen sollte. Was aber ist mit Situationen, in denen es um das Verhalten geht, an dem wir interessiert sind? Der Versuch, Situationen zu beschreiben, führt zu dem Problem, das darzustellen, was manche Sozialwissenschaftler „gelebte Erfahrungen“ nennen. 107

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Manche Gesellschaftsdarstellungen wollen Nutzern ein Gefühl davon vermitteln, wie das Leben und die Erfahrungen der beschriebenen Menschen und Organisationen aussehen. (Andere Repräsentationen versprechen natürlich nichts dergleichen, sondern suchen nach Uniformitäten des Verhaltens, die zu gesetzmäßigen Aussagen über invariante Beziehungen führen.) Die ersteren Darstellungen jedoch wollen über die Berichterstattung der Regelmäßigkeiten und Verhaltensmuster, Feststellungen zu Regeln und Normen oder ähnlichen kollektiven Phänomenen hinausgehen. Sie wollen, dass Leser oder Zuschauer erfahren, persönlich fühlen, wie es wäre, selbst als Teilnehmer in solchen Situationen zu sein. Die Repräsentationen „gelebter Erfahrungen“ – dieser schwer fassbare Stoff aus Gefühlen und Empfindungen – können sich auf sehr nahe Beobachtungen, detaillierte Interviews oder Zugang zu privilegierten Papieren wie Briefe und Tagebücher stützen. Im Extremfall können die Repräsentationen implizit oder explizit auf den Erfahrungen der Berichterstatter selbst fußen, die zur selben gesellschaftlichen Kategorie gehören können (Schwarze, Schwule, Musiker oder welcher relevanten sozialen Gruppe sie auch angehören mögen) wie die Menschen, die sie untersucht haben und deren Erfahrung sie teilen – unbeabsichtigt oder zufällig oder weil sie sich im Laufe ihrer Forschungen absichtlich diesen Erfahrungen ausgesetzt haben. So begleitete Mitchell Duneier (2000) die Straßenverkäufer, die er studierte, in ihrem Sechzehn-Stunden-Tag. Viele Anthropologen waren stolz, die magere Kost und die Behausungen „ihrer Leute“ zu teilen. Forscher und Künstler, die das tun, wissen besser als andere, wie kalt es in einer Novembernacht auf den Straßen von New York werden kann, oder wie es sich anfühlt, von einem Bullen verprügelt und mit einem erniedrigenden Ausdruck gedemütigt zu werden, der sich auf Deine Hautfarbe oder sexuelle Orientierung bezieht. Manche, aber nicht viele Sozialwissenschaftler und Künstler, die beanspruchen, die Erfahrungen anderer veranschaulichen zu können, hatten diese Erlebnisse aus erster Hand. Angenommen, Sie hatten die intime Erfahrung, sich, wie man sagt, „in die Haut eines anderen zu versetzen“. Wie vermittelt man die Fülle einer solchen Erfahrung an andere, die so etwas nicht erlebt haben? Was nützt es alles, wenn das meiste in der Übersetzung verloren geht? Repräsentationsformate unterscheiden sich darin, wie viel von der gesamten Lebenserfahrung der beschriebenen Protagonisten durchsickert. Manche bieten sehr wenig und haben gar nicht die Absicht, mehr zu tun. Sie geben uns nur eine Straßenkarte, von der wir nie ablesen können, wie steil eine bestimmte Straße in San Francisco ist, geschweige denn, welche Bauwerke dort stehen, welche Menschen dort leben, wie die Straße nachts im Regen glänzt, wie die Bäume riechen. (Mr. Bixbys Erklärung für seinen Dampferlehrling Mark Twain, was ein Mississippi-Bootsführer über diesen Fluss wissen sollte, enthielt viel mehr Informationen,

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die Bixby sich einfach beim Navigieren stromauf- und abwärts angeeignet hatte, als eine gedruckte Flusskarte jemals enthalten konnte.) Eine Straßenkarte ist ein extremes Beispiel einer Abstraktion. Sie enthält nur die nackten Tatsachen zur geografischen Orientierung, und alles andere ist weg. So sind auch statistische Tabellen und Grafiken: Eine begrenzte Anzahl von Dingen wird mit begrenztem Vokabular beschrieben. Ich kritisiere solche Abstraktionen nicht. Sie machen sich durch ihre Fähigkeit bezahlt, eine große Anzahl von Dingen auf systematische und vergleichbare Weise zu beschreiben. Der Preis ist allerdings, dass Einzelheiten verloren gehen. Es ist ein bekannter Kompromiss. Historische, biografische und ethnografische Prosa versucht, uns nahe an die Erfahrung selbst heranzuführen. Autoren dieser Stilarten haben gewöhnlich detailliertes, erfahrungsbasiertes Wissen und meinen oft, es sei das wesentliche Wissen überhaupt, das sie mit ihren Lesern teilen wollen. Sie wollen, dass wir Einzelheiten aus dem täglichen Leben von Menschen kennen lernen: was sie tragen, wie kalt oder hungrig sie waren, Details ihres Sexlebens und vor allem alles, was sie denken und fühlen, während sie das alles erleben. Wie vermittelt man solches Wissen – nicht nur die Tatsachen der Geschichte, sondern die innere Welt der Personen und besonders die Welt ihrer Emotionen? Viel historische und anthropologische Literatur versucht, solche subtilen Aspekte der sozialen Erfahrung des Menschen zu vermitteln. Listen von Verwandtschaftsbeziehungen, Beschreibungen von Technologien, Listen von Zaubersprüchen und religiösen Ansichten in anthropologischen Monografien wechseln mit ausgedehnten, manchmal poetischen, meist bewusst literarischen Versuchen in Prosa, die eine mitfühlende, emotionale Reaktion bei den Lesern hervorrufen. Ähnlich bei historischen und biografischen Darstellungen, die „Tatsachen“ zwischen Schichten eigener Interpretationen ablegen, wobei letztere auf Material aus Briefen, Tagebüchern, Beobachtungen und Interviews beruhen, das die getroffenen Aussagen zugleich bezeugt. Solche Autoren, die unzufrieden mit gewöhnlicher wissenschaftlicher Prosa sind, setzen alle literarischen Kunstgriffe ein, die sie kennen und deren Einsatz sie wagen, um Leser in eine zeitlich, räumlich oder kulturell weit entfernte Welt zu ziehen. Sie erfinden die tiefsten Gedanken ihrer Protagonisten. Sie verfassen Bücher wie Carter Wilsons „anthropologischen Roman“ Crazy February (1974). Sie experimentieren mit mehreren Stimmen, die durch mehrere Schrifttypen dargestellt werden, wie Richard und Sally Prices Darstellung vom Leben der multi-ethnischen Menschen in Surinam (Price 1990; Price, Price 1995). Wenn man möchte, dass Leser erleben, was die erforschten Menschen tatsächlich erlebt haben, dann unterliegen all diese Versuche einem unheilbaren Defekt. Am Ende geben sie Nutzern nicht mehr, als sie eben zu Hause beim Lesen im Sessel 109

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lernen können. Sie erleben nicht, was die Menschen erlebt haben, von denen das Buch handelt. Leser können nicht sehen, was diese Menschen gesehen haben. Sie können es sich nur auf der Basis einer verbalen Beschreibung vorstellen. Das führt uns zur Verwendung von Fotografien und Filmen, um Schriftliches zu ergänzen oder zu ersetzen. Sie haben viele Vorteile, verursachen aber auch viele Probleme, die wir in diesem Buch nicht lange verschweigen können. Zunächst wollen wir feststellen, dass Fotografien uns erkennen lassen, wie Dinge aussehen. Sie zeigen uns viele sichtbare Einzelheiten, die dem ähneln, was wir an Ort und Stelle selbst sehen würden. Sie tun das natürlich nicht wirklich, da Fotografen und Autoren auswählen, was Betrachter sehen sollen, damit sie – als Macher der Repräsentation – ihren Standpunkt erklären können. Puristen klagen über diese Wand zwischen Nutzer und erlebter Erfahrung. Immerhin, in solchen maßgeblichen ethnografischen Werken wie Balinese Character (Bateson, Mead 1942) können wir viel lernen und erkunden, was uns Prosa allein nicht bieten würde, jedenfalls nicht auf so effiziente Weise. Das Buch, mit hundert Seiten Fotografien (fünf bis acht oder mehr pro Seite mit anthropologischen Interpretationen auf der jeweils gegenüberliegenden Seite) zeigt dem aufmerksamen Leser, um ein kleines Beispiel zu nennen, Details der Körperhaltung und Berührung zwischen Erwachsenen und Kindern, wodurch die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflusst werden könnte (wie Bateson und Mead glaubten und vermitteln wollten). Die Fotografien zeigen oft aufeinanderfolgende Momente im Ablauf eines großen oder kleinen Ereignisses, – ein Tanz, ein Trancezustand, der Wutanfall eines Kindes – alles mit viel Detail, aber sehr sparsam. Man kann sich kaum vorstellen, wie viel Text man gebraucht hätte, um schriftlich zu vermitteln, was diese Fotoseiten erzählen. Dieselben Vorteile und Probleme treffen auf Kinofilme zu. Filme fügen dem bildlichen Detail der Fotografie die Kontinuität der fortlaufenden Bewegung hinzu und damit die Möglichkeit sowohl einer voranschreitenden Erzählung als auch der Fragmentierung dieser geradlinigen Repräsentation durch Vor- und Rückblenden. Doch keines dieser Medien kommt wirklich sehr weit bei dem Versuch, ihren Betrachtern die „gelebte Erfahrung“ tatsächlich nahe zu bringen. Sogar die fortschrittlichsten wissenschaftlichen Präsentationen enden damit, dass sie in ihren Zusammenfassungen die wirkliche Erfahrung auslöschen. Das heißt nicht, dass es nicht getan werden kann. Künstler, die sich nicht an die Fesseln akademischer Normen binden lassen, haben uns wichtige Dinge zu zeigen. Wir alle „leben Erfahrung“ in Situationen. Situationen sind körperlich. Wir alle wissen, dass die Körperlichkeit wichtig ist, um zu verstehen, was in ihnen vor sich geht, aber sozialwissenschaftliche Repräsentationen geben Nutzern fast nie Gelegenheit, das zu erleben. Die Macher von Repräsentationen, auch wenn sie ehrlich

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bemüht sind, uns eine „lebende Erfahrung“ zu vermitteln, schlagen üblicherweise nicht vor, dass wir ihre physische Wirklichkeit tatsächlich erfahren. Aber wenigstens prinzipiell können wir unseren Nutzern schon diese Erfahrungen vermitteln. Nicht in den konventionellen Formaten, an die wir meistens denken (und die wir in diesem Buch häufig als Beispiele aufzählen) wie Film oder Theater, ganz abgesehen von ethnografischer Prosa. Das Kino hat den Sound „realistischer“ gemacht, aber schon Versuche, eine so elementare Sache wie den Geruch zum Film hinzuzufügen, haben sich lediglich als kommerzielle Spielerei bewiesen. Duftkarten, die im richtigen Moment gekratzt werden sollten, oder durch die Belüftungsanlage des Kinosaals geblasene Duftstoffe haben nicht funktioniert. Dieselben Probleme würden bei Theateraufführungen entstehen. Ortsbezogenes Theater jedoch kommt dieser Herausforderung schon näher. Es kann viele physische Details hervorheben, die andere Repräsentationsmedien auslassen müssen. Was ist ortsbezogenes Theater? Es handelt sich um dramatische Aufführungen an Orten, die keine konventionellen Theaterstätten sind. Oft finden sie in Räumen oder an Plätzen statt, an denen die Ereignisse, die man aufführt, scheinbar oder tatsächlich stattgefunden haben. Das Antenna Theater in Sausalito, Kalifornien, bietet solche Aufführungen schon lange an. (Ich kenne keine anderen Theatergruppen, die ähnliche Veranstaltungen aufführen, aber gewiss gibt es welche. Die Arbeit von Antenna verfolge ich seit Jahren.) Das Bühnenstück High School wurde in der Tamilpais High School in Mill Valley, Kalifornien, aufgeführt (und ist seitdem auch in anderen Schulen an anderen Orten gezeigt worden, jeweils mit Beteiligung der Schüler und Lehrerschaft). Die Zuschauer schalteten einen Walkman ein und befolgten nacheinander aufgezeichnete Anweisungen, die sie durch Klassenzimmer, die Turnhalle, Ankleideräume, die Aula und Toiletten führten, während sie eine Audio-Collage von Interviews mit Schülern dieser Schule und den Klang täglicher Schulaktivitäten hörten. Die Räume rochen so, wie Schulzimmer in einer High School riechen, und warum auch nicht? Schließlich war es ja eine High School. Die Wände schallten mit Stimmengewirr wie in einer richtigen High School, und warum auch nicht? Es war ja eine High School. Jungen erlebten den Nervenkitzel, die Mädchentoiletten betreten zu dürfen. Schließlich ging man nach draußen, um seine eigene Abschlussfeier zu erleben und ein Diplom von einem stummen Schauspieler zu erhalten, der genau dort stand, wo der Schulleiter in der echten Situation gestanden hätte. Die Webseite von Antenna beschreibt viele ihrer Produktionen, einschließlich der hier angesprochenen (www.antenna-theater.org/, letzter Aufruf am 1. August 2018). Die Antenna Produktionen setzen keine sprechenden Rollen ein und beschäftigen manchmal gar keine Schauspieler, sondern füllen die Tonaufnahmen mit Interviews und aufgezeichneten Umgebungsgeräuschen. Haben Sie jemals die Führung auf 111

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Alcatraz, der ehemaligen Bundesstrafanstalt der USA, einem heutigen Nationalpark, mitgemacht? Dann haben Sie eine Antenna-Audioaufzeichnung von Gesprächen zwischen Gefangenen und Wärtern gehört, die sich über die Räume unterhalten, in denen Sie sich gerade befanden. So fühlen sich die Antenna-Produktionen an. On Sight (In Sausalito), eine Außenproduktion von Antenna, erzählte die Geschichte dieser Küstenstadt während der Hippiezeit der 1960er Jahre. Sie beschrieb farbenfrohe Persönlichkeiten, die dort lebten – wie den Künstler Jean Varda und den Schauspieler Sterling Hayden – in den Worten von Menschen, die sie gekannt hatten, während die Besucher um die Hausboote und alten Wasserwege herumlaufen konnten, wo die Hippies gewohnt und die Dinge unternommen hatten, von denen die Rede war. Diese Produktionen bieten genau die physischen Erfahrungen, die von den typischen Repräsentations-Genres vernachlässigt werden, weil dort niemand eine Idee hat, wie man sie dem Publikum praktisch nahebringen kann. Antenna mag nicht für viele Zwecke brauchbar sein, ist aber perfekt, um ca. 90 Leuten am Abend ein Erlebnis zu bieten. Die Zuschauer „erfahren“ oft unmittelbar, wovon geredet wird. In Artery, einem Krimi, gingen sie durch eine einfache, aus siebzehn Zimmern bestehende Kulisse, lauschten Dialogen und folgten aufgezeichneten Anweisungen. An einer Stelle wies mich eine Stimme auf ein hölzernes Gewehr hin, das eine Holzfigur in einem winzigen Zimmer gerade auf mich richtete, dann auf eine hölzerne Pistole an der Wand neben mir. Die Stimme sagte, der andere werde auf mich schießen, und forderte mich auf: „Nimm die Pistole. Jetzt! Erschieße ihn! Sonst erschießt er dich!“ Das habe ich getan, und die anderen Besucher auch, die ich nachträglich befragte. In einem anderen Raum wies die aufgezeichnete Stimme mich an, eine (billige) Kette aus einem Schmuckkästchen auf einem Regal zu „stehlen“, was ich tat, und sie später in einem Safe zu „deponieren“ (wodurch sie wieder dorthin geriet, wo ich sie gestohlen hatte). Diese Handlungen scheinen kindisch zu sein, aber man hatte durchweg das Gefühl, tatsächlich „Verbrechen“ verübt zu haben. In Etiquette of the Underclass legte man sich auf eine Art von Operationstisch und wurde durch eine Tür in einen finsteren Raum geschoben. Man hörte Ärzte auf einer Notaufnahmestation über den eigenen Tod sprechen, der durch Verletzungen in einem Autounfall herbeigeführt worden war. Dann wurde man in einen hellen Raum geschoben und in Armut in die Unterklasse „geboren“. Man verbrachte Zeit im Gefängnis und in einer Klinik und starb letztendlich einen gewaltsamen Tod. Die Alcatraz-Tour bietet die emotional belastende Erfahrung, zu der sich nicht jeder meldet, eine kurze Zeit in einer Einzelzelle zu verbringen. Die Tür schlägt zu, und man steht etwa eine Minute lang in totaler Finsternis und Stille, wobei man versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, Tage oder Wochen dort verbringen zu

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müssen. Die Körperempfindung dabei ist sehr unmittelbar und viel eindrucksvoller als tausend Wörter Beschreibung. Manche Akademiker haben auf diese Art experimentiert und versucht, etwas hinzuzufügen, was die konventionellen Formen der Sozialwissenschaft nicht berücksichtigen. Victor und Edith Turner (1982) beschreiben eine Anzahl solcher Performances. Dazu gehört die Zeit, als sie und andere Mitglieder der Anthropologie-Abteilung der University of Virginia – Studenten, Lehrkräfte und Mitarbeiter – eine Hochzeit in der amerikanischen Mittelklasse aufführten. (Die Turners spielten die Eltern der Braut.) Dwight Conquergood (1992; Siegel 1990) studierte die performativen Aspekte der Gesellschaft und verkörperte sein gewonnenes Wissen in Aufführungen jener Rituale, die er untersucht hatte (wie zum Beispiel der Schwur der Latin Kings, einer Gang in Chicago). Ich bestehe nicht darauf, dass wir diese Stufe des Realismus anstreben, wenn wir Nutzern über Gesellschaft erzählen. Aber es nicht zu tun, ist eine Entscheidung. Wir könnten es tun, wenn wir es für ausreichend wichtig halten. Wenn wir uns dieser Möglichkeit bewusst sind, wird uns klar, dass jede Entscheidung darüber, was wir einschließen oder weglassen, tatsächlich eine Wahl ist und keine Notwendigkeit, die uns durch theoretische oder praktische Unmöglichkeiten aufgezwungen wird. (In Kapitel 12 betrachte ich die Möglichkeiten dramatischer Repräsentationen etwas näher.)

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Warum glauben wir es? Zweimal habe ich an der Northwestern University zusammen mit Dwight Conquergood einen Kurs gegeben, der „Performing Social Science“ hieß. Wir wollten die Möglichkeiten untersuchen, sozialwissenschaftliche Ideen mit öffentlichen Vorführungen zu kommunizieren statt mit einem routinemäßig gelehrten „Vortrag“. Zwanzig unserer Studenten kamen aus Dwights Institut Performance Studies und dessen Nachbarbereich Theater, und die andere Hälfte kam aus der Sozialwissenschaft, zumeist aus der Soziologie. Weder Dwight noch ich hatten viel Ahnung, wie man Sozialwissenschaft auf der Bühne darstellen kann, und wir hofften, der Ideenreichtum der Studenten würde uns etwas Stoff geben. Wir stellten ihnen eine einfache Aufgabe: Führt etwas auf, was man bei sehr lockerer Interpretation als „Sozialwissenschaft“ bezeichnen könnte. Die Vorstellungskraft der Studenten übertraf unsere Erwartungen. Ich hatte geglaubt, sie würden alle dasselbe im Kopf haben, aber sie brachten alle Unterschiedliches zustande. Eine Vorstellung befasste sich auf scharfsinnige und interessante Weise mit dem Problem dieses Kapitels. Die Klasse hatte lange darüber gestritten, wie wichtig es sei, dass der darzustellende Stoff der Wahrheit entspreche. Spielte es eine Rolle, ob es um etwas ging, das sich wirklich ereignet hatte? Konnte man die Details ausschmücken, um sie „dramatischer“ zu gestalten? Oder ein Ergebnis darstellen, das sich als falsch erwiesen hatte? Es überraschte nicht, dass die Studenten der Sozialwissenschaft darauf bestanden, das Material müsse wahr sein. Wie könnte man es sonst wissenschaftlich nennen? Aber die Studenten aus den Bühnen- und Theaterwissenschaften meinten, die Wahrheit des Materials sei nicht wichtig, so lange die Zuschauer auf das Stück als ästhetisches Werk reagieren würden. Es folgten hitzige Argumente. Ich wurde zum Verräter meiner eigenen Leute und sagte, die Wahrheit müsse vielleicht keine Rolle spielen. 115 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_7

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Bei vielen Vorführungen der Studenten ergab sich diese Frage gar nicht. Ein Student las einfach aus einem Artikel in der Zeitschrift American Sociological Review über die Zusammenhänge in irgendeinem Schulsystem zwischen Bildungsbudget, Hautfarbe und Einkommen. Er tat etwas Einfaches, aber es war effektiv: Er las nämlich den Artikel „mit Gefühl“ vor. Als es im Artikel hieß, es gäbe „ganze zwölf Prozent Unterschied“ zwischen den Aufwendungen für die Bildung von Schwarzen und Weißen, betonte er: „Es gibt ganze! zwölf Prozent! Unterschied“, wobei er seine Stimme zur schrillen Empörung erhob, als er auf die mit den diskriminierenden Ergebnissen „korrelierenden“ Variablen hinwies (von denen der Autor der Studie uns offensichtlich wissen lassen wollte, dass sie daran „Schuld hatten“). Die emotionale Leseart ließ den ideologischen Subtext des nüchternen wissenschaftlichen Berichts erkennen. Am interessantesten war, dass das Vorlesen des Studenten zwar etwas albern, aber keineswegs „falsch“ klang. Seine Emotion war nicht fehl am Platz, und er hatte auch die Absicht des Verfassers nicht falsch verstanden, nur an die Oberfläche gebracht und verdeutlicht. Niemand hinterfragte die Wahrheit der Befunde oder seine Behauptung, ein Artikel in der Zeitschrift habe die Worte tatsächlich enthalten, die er vorgelesen hatte. Aber manche Vorführungen ließen die Frage nach der Wahrheit aufkommen. Tom, ein genialer, schalkhafter Student der Theaterwissenschaften, kam herein und verteilte 3 mal 5 Karten an alle. Jede Karte trug den Namen einer Frau. Er bat alle, auf ihre Karte zu schauen und ihm dann beliebige Fragen zu stellen. „Wer ist Mary Jones?“ „Sie war meine erste Grundschullehrerin.“ „Wer ist Betsy Smith?“ „Sie war das erste Mädchen, das ich geküsst habe.“ „Wer ist Sarah Garfield?“ „Sie ist meine Tante. Sie ist mit dem Bruder meiner Mutter verheiratet.“ Nach einem Moment Pause, im selben Unterhaltungston: „Sie und mein Vater haben die letzten fünf Jahre ein Verhältnis gehabt.“ Sofort fragte jemand: „Ist das wahr?“ Tom dachte ernsthaft nach und sagte dann: „Ich glaube, ich beantworte diese Frage nicht“. Er grinste nur. Alle gingen hoch. Merkwürdigerweise bestanden nun die Theaterstudenten viel mehr als die Soziologiestudenten darauf, es käme, verdammt nochmal, auf die Wahrheit an. Sie wollten es von ihm wissen, aber er weigerte sich. Es waren dieselben Leute, die zwei Tage vorher gesagt hatten, es käme nicht auf die Wahrheit an. Ich wies auf diesen Widerspruch hin und bestand darauf, dass die Verteidiger der Ansicht „egal ob wahr oder nicht“ soeben bewiesen hatten, dass es selbst bei einem ästhetischen Werk sehr wohl darauf ankommt und dass wir uns Gedanken machen sollten, wie es sich mit der Wahrheit verhält und wie wir die Wahrheit unserer Vorführung kommunizieren sollten. Nutzer legen Wert auf die Wahrheit von dem, was ihnen erzählt wird, auch wenn die Botschaft im künstlerischen Genre übermittelt wird, und ganz gewiss, wenn es sich um Wissenschaft handelt; und die Macher integrieren Gründe für

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die Nutzer, das zu akzeptieren, was sie in ihrer Arbeit als wahr darstellen. Aber all diese Begriffe sind mehrdeutig.

Wahrheit: Fragen und Antworten Ist es wahr? Diese mit so vielen philosophischen Fallen versehene Frage ist leichter zu handhaben, wenn wir sie einfach als Problem von Fragen und Antworten behandeln. Als Beispiel verwende ich die Dokumentarfotografie, um die Diskussion einfach zu halten, und ich beginne mit folgenden Ausgangspositionen: 1. Jede Fotografie kann als Antwort auf eine oder mehrere Fragen interpretiert werden. 2. Es ist uns wichtig, ob die Antwort wahr ist, die das Foto auf unsere Fragen gibt. 3. Jede Frage an die Fotografie kann auf verschiedene Weise gestellt und daher auch unterschiedlich beantwortet werden. 4. Verschiedene Fragestellungen und Antworten sind nicht richtig oder falsch, sondern eben nur verschieden. Die Feststellung, dass wir Fotografien als Antworten auf Fragen interpretieren können, heißt nicht, dass wir es immer tun, sondern nur, dass wir es häufig tun. Im Prinzip können wir es immer, und das ist eine nützliche Art, über Fotografien nachzudenken. Wir können eine einfache Frage der Beschreibung stellen: Wie sieht der Yosemite-Nationalpark aus? Wie sieht der republikanische Präsidentschaftskandidat aus? Wie hat unsere Familie 1957 ausgesehen? Wir können historische und kulturelle Fragen stellen: Wie haben Leute 1905 Fotos aufgenommen? Wie fotografieren die Yoruba? Wie sah das Schlachtfeld von Gettysburg aus? Manchmal stellen wir wissenschaftliche Fragen: Hat diese Lunge Tuberkulose? Was geschieht, wenn ich einen Atomkern auf diese Weise bombardiere? Oder psychologische Fragen: Wie ist der wahre Charakter des republikanischen Präsidentschaftskandidaten? Manchmal stellen wir abstrakte Fragen: Welche Aussagen gibt es über die jungfräuliche Unschuld, oder das Leben der ländlichen Bevölkerung in Mexiko, oder städtische Lebensweisen? Verschiedene Menschen können verschiedene Fragen an dieselbe Fotografie stellen, und nicht immer jene Fragen, die der Fotograf im Sinn hatte. Manche Fragen interessieren viele Leute, die sie dann auf gleiche Weise stellen. Pressefotografien beantworten übliche Fragen zu aktuellen Ereignissen. Wissenschaftliche Fotos beantworten Fragen, die sich aus dem gemeinsamen Anliegen einer engeren 117

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Fachwelt ergeben. Deren Mitglieder stellen die gleichen Fragen und kommen durch die in den Fotos gelieferten Beweise zu den gleichen Antworten. Andere Fragen interessieren nur einen sehr kleinen Kreis, weil sie persönliche Beziehungen und persönliche Erfahrungen betreffen, die für die meisten Menschen bedeutungslos sind. Das Foto von mir vor dem Eiffelturm interessiert nur mich und die Meinen. Doch Fotos von lediglich persönlichem Interesse können Jahre später auch größeres Interesse wecken: Kinderbilder von Leuten, die später berühmt wurden; Fotos von Orten, an denen später Ereignisse von allgemeinem Interesse stattfanden. Wir legen Wert darauf, dass Fotografien, die etwas über die Gesellschaft aussagen, unsere Fragen glaubhaft beantworten. Verschiedene Leute stellen verschiedene Fragen an dasselbe Foto. (Kapitel 11 zeigt, wie das aus der Perspektive der Dokumentarfotografie, des Fotojournalismus und der visuellen Soziologie geschehen kann.) Gibt es also keine allgemeine Antwort auf die Frage: „Ist es wahr“? Wir können nur feststellen, ob die Antwort auf eine bestimmte Frage mehr oder wenig glaubhaft ist. Wenn wir eine Fotografie so interpretieren, dass sie etwas über ein gesellschaftliches Phänomen aussagt, beantworten wir eine Frage, die auch eine andere Antwort haben kann. Dadurch entsteht das Problem der Wahrheit. Weil Fragen über die Gesellschaft Interessen und Emotionen betreffen, können wir über die Antworten verschiedener Meinung sein und oft behaupten, die Antwort sei nicht glaubhaft, weil die Fotografien voreingenommen, irreführend, subjektiv sind oder eine unfaire Stichprobe darstellen. Viele Probleme ergeben sich aus dieser Mehrdeutigkeit. Eine Serie von Fotografien deutet an, dass X richtig ist. Wir bezweifeln das nicht, meinen aber, Y treffe ebenfalls zu. Stellen die Fotografien nun dar, dass ausschließlich X wahr ist, oder lassen sie auch die Interpretation Y zu? Hier ist ein spezifisches Beispiel: Robert Franks Buch The Americans (1969; eine Reihe von 84 Fotografien aus allen Teilen der U.S.A. in den 1950er Jahren) teilt uns mit, das Leben in Amerika sei nichts weiter als trostlos, scheußlich, unzivilisiert und materialistisch. Ohne ein Verteidiger des „American Way of Life“ zu sein, ist es möglich, Bilder anderer Fotografen zu zitieren, die einen anderen Blick vermitteln. Verleiht Franks Buch den Eindruck, diese Bilder seien alles, was das amerikanische Leben ausmacht? Der Umfang des Buches, dick genug, um die Aufnahme einer größeren Vielfalt von Bildern zu ermöglichen, erweckt diesen Eindruck. Würde das Buch behaupten, es gäbe nichts anderes, dann wäre seine Aussage falsch, denn es gibt ja andere Beweise. (Foto-Essays können als spezifische Verallgemeinerungen angesehen werden. Siehe meine Rezension von John Bergers und Jean Mohrs A Seventh Man, 1982, in Becker 2002.)

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Skeptizismus und das „gut genug“-Kriterium Angenommen, wir glauben etwas von dem, was uns gesagt wird. Manche Skeptiker wollen das aber nicht akzeptieren und beziehen sich auf die Unsicherheit allen Wissens über die Gesellschaft. Sie ermahnen uns, dass alle Aussagen, die solches Wissen kommunizieren wollen, auf einer Grundlage von „Tatsachen“ beruhen, die auf derart hoffnungslos voreingenommene Weise gewählt und ausgedeutet wurden, dass man nahezu gar nichts mehr glauben kann. Sollte das stimmen, dann gäbe es nichts mehr zu diskutieren, und wir könnten uns alles Weitere sparen. Wer so redet, meint aber nicht wirklich, dass er keiner einzigen Repräsentation der gesellschaftlichen Realität Glauben schenkt. Glaubt er beispielsweise an das Telefonbuch, das mehr oder weniger akkurat angibt, wer am anderen Ende der Leitung sein wird? Skeptiker mögen auf die unvermeidlichen Fehler hinweisen, die entstehen, wenn bei der Eingabe etwas falsch eingetippt wird, oder auf Fehler, die aufgrund von Veränderungen zwischen der Datensammlung und dem Druck des Buches oder zwischen dem Druck und der Benutzung entstehen, oder weil manche Leute sich weigern, unter ihrem richtigen Namen geführt zu werden. Und doch benutzen diese Skeptiker wahrscheinlich das Telefonbuch ebenso wie wir, weil es nichts Besseres gibt. Die Daten mögen nicht immer akkurat sein, aber sie sind „gut genug“ für unseren Zweck, nämlich, jemanden anzurufen. Ebenso verhält es sich wohl mit Straßenkarten, die uns erklären, wie man von hier nach da gelangt, indem sie Straßennamen und -nummern angeben. Bei allen Ungenauigkeiten und Auslassungen sind sie für die meisten Leute gut genug. Wenn ein Taxifahrer das Licht im Auto einschaltet und im Straßenverzeichnis nach einer Adresse sucht, findet er sie wahrscheinlich, und der Weg dorthin ist vermutlich mehr oder weniger klar. Wenn ich von Seattle zu einer bestimmten Adresse in San Francisco fahren will, werden mir ein paar Regionalkarten und eine Stadtkarte den Weg zeigen. Sie geben nicht an, wo es in der Stadt steil auf und ab geht (obwohl die Höhe verschiedener Berge und Pässe unterwegs angezeigt wird), aber ich werde finden, was ich suche. „Mehr als gut genug“: Wissen, das für meine Zwecke reicht. Und wie steht es mit der Volkszählung der U.S.A.? Das ist schon komplizierter, denn viele Leute benutzen den Zensus für viele verschiedene Zwecke. Während er für manche Leute und für manche Zwecke gut genug ist, ist er das für andere nicht. Er war für viele Zwecke nicht gut genug, als 1960 bis zu 20 Prozent zu wenig junge schwarze Männer gezählt wurden. Diese Fehlzählung war nicht gut genug für die verfassungsmäßig vorgeschriebene Verteilung der Sitze im Repräsentantenhaus und der Wahlergebnisse. Sie reichte nicht für die Berechnung der Kriminalitätsrate, denn die Unterbewertung des Nenners eines Bruches wie der Kriminalitätsrate führt zur Übertreibung des wahren Wertes. Wenn man nicht alle Menschen in 119

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einer bestimmen Bevölkerungsgruppe zählt, wie zum Beispiel „jung, schwarz und männlich“, aber alle Kriminellen in dieser Kategorie, wird der Prozentsatz im Ergebnis größer, als wenn man den richtigen Nenner eingesetzt hätte. Diese Unterbewertung hatte politische Folgen und in den Sozialwissenschaften geriet das Denken durcheinander. Die Forscher arbeiteten mit falschen Daten. Solche fehlerhaften Befunde mögen einst gut genug gewesen sein, zumindest für Leute, die in der Lage waren, sich ein vernünftiges Urteil zu bilden. Aber dann begannen neue Leute, sich ein eigenes Urteil zu bilden, und für die war das keineswegs gut genug. Eine Zahl, die Einfluss auf die Vertretungsanteile im Kongress nimmt, als „gut genug“ zu akzeptieren, hat eine politische Dimension. Das soll nicht heißen, dass Wissenschaft „nur Politik“ ist oder dass sich alle epistemologischen Fragen durch politische Maßnahmen beantworten lassen. Es bedeutet, dass selbst ein Blick auf eine wissenschaftliche Erhebung wie den Zensus zeigt, dass manche Bestandteile keine „wissenschaftliche“ Grundlage haben, sondern auf der Vereinbarung zwischen interessierten Parteien beruht, Dinge als für manche Zwecke gut genug zu erachten, mitsamt den Fehlern. Nutzer akzeptieren die entstehende Beschreibung, nicht, weil sie eine unumstößliche epistemologische Basis hat, sondern weil sie für ihre Zwecke besser ist als gar nichts. So glauben wir alle einigen dieser Repräsentationen – immer oder meistens, und manche von uns glauben manches, was man uns manchmal sagt. Niemand glaubt immer an gar nichts von alldem. Selbst mit all diesen Fehlern halten Nutzer die Repräsentationen für „im Wesentlichen richtig“. So denken Ärzte über Laborbefunde, obwohl sie genau wissen, dass sie viele Fehler enthalten. Aber sie meinen, sie seien für ihre Zwecke „gut genug“. Aber Nutzergruppen stellen unterschiedliche Fragen und verwenden die Antworten für verschiedene Zwecke. Was für die eine gut genug ist, reicht für die andere nicht aus. Meine Landkarte muss nicht auf den Fuß genau sein, weil ich sie nur benutze, um den Weg zu meinen Bekannten zu finden. Um einen Streit über Grundstückslinien zu schlichten, wäre anderes geografisches Wissen in anderer Form erforderlich. Die beiden Nutzungen und die beiden Fragen- und Antwort-Paare stehen nicht in Konkurrenz zueinander um festzustellen, welche genauer oder „am besten“ ist. Sie sind verschiedene Mittel für verschiedene Zwecke. Als epistemologisches Urteil hat „gut genug“ keine philosophische Rechtfertigung. Es ist ein gesellschaftliches Übereinkommen, das auf einer anderen Art von Rechtfertigung beruht. Das macht aber nicht alles Wissen ganz und gar relativ. Sobald sich Nutzer einigen, können sie zuverlässige Schlüsse ziehen, indem sie vereinbarte Beweisregeln befolgen.

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Die soziale Vereinbarung, etwas zu glauben Welche Rechtfertigung hat eine „soziale Vereinbarung“, Wissen über die Gesellschaft zu erzeugen, das „gut genug“ ist? Zum einen akzeptieren wir alle diese Vereinbarungen, und viel Arbeit im jeweiligen Bereich beruht auf ihnen ohne offensichtliche negative Auswirkungen. Latours Parabel vom Zweifler, der eine wissenschaftliche Erkenntnis in Frage stellt (1987: 21ff.), erklärt diesen Mechanismus. Der Zweifler erscheint im Labor des Wissenschaftlers und fordert Beweise für Dinge, die von allen im Labor akzeptiert werden. Er weigert sich „zu glauben“, was in der Literatur und durch Anwendung anerkannter Werkzeuge und Verfahren längst bewiesen wurde. Seine Fragen werden so lächerlich, dass ihn niemand ernst nimmt, und er sich zuletzt schmählich davonschleicht. Das führt zu Latours Regelmethode: Man soll an wissenschaftliche Ergebnisse genau so wie die Wissenschaftler glauben, aber nicht mehr als sie. Auch das ist kein epistemologisches, sondern ein praktisches Urteil: Wenn man anfängt zu bezweifeln, was alle anderen glauben, ist es wahrscheinlich, dass man als Spinner vom Dialog ausgeschlossen wird. Man darf jedoch bezweifeln, was auch andere als möglicherweise zweifelhaft betrachten. Weiterhin ermöglicht die soziale Vereinbarung, dass die wissenschaftliche Arbeit (oder jede andere kollektive Aktivität) weitergeht, und das ist schon etwas. Thomas Kuhn (1962: 23ff.) wies im Zusammenhang mit Episoden des wissenschaftlichen Fortschritts darauf hin: In jeder Wissenschaft geschehen Dinge erst, wenn Spezialisten übereinkommen, sich auf Probleme zu konzentrieren, die sie alle auf dieselbe Weise in Angriff nehmen. Die Prämissen ihres Ansatzes mögen falsch sein, aber die Arbeit kann beginnen, wenn alle übereinstimmen, und nicht, wenn sich jeder mit anderen idiosynkratischen Problemen befasst. Erst ein grundsätzliches Übereinkommen lässt Forscher kollektiv arbeiten. Generell könnte man sagen, dass Leute, die eine bestimmte Art von Repräsentation machen und nutzen (Film, Tabelle, Roman oder mathematisches Modell), in dem übereinstimmen, was „gut genug“ für ihren Zweck ist. Gut genug für die Zwecke der Macher, was auch immer ihre Interessen sein mögen, und gut genug für die Nutzer und ihre jeweiligen Interessen. Nicht perfekt. Nicht so gut, wie es alle wünschen, aber den Umständen entsprechend gut genug, um als Richtlinie zu gelten. Die Teilnehmer einer Repräsentations-Welt sind mit einem Objekt einverstanden, von dem jeder Beteiligte weiß, wie es hergestellt, gelesen, gebraucht, gedeutet oder ignoriert wird. Das ist das, was John Hersey, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, in Bezug auf den Journalismus behauptet. Er sagt dazu nämlich, dass Journalisten natürlich relevante Fakten in ihren Ge­schichten weglassen, aber da 121

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jeder wisse, dass sie das tun, hätte auch niemand etwas dagegen. Leser ignorieren diese Fehlerquelle beim Lesen einfach. Wenn eine solche Vereinbarung besteht, dann glauben wir die Aussagen eines Objekts, das nach allem Anschein zu halten scheint, was es verspricht. Wenn seine Darstellung zeigt, dass es so zustande kam, wie die Macher und Nutzer es vereinbart hatten, dann sind die Ergebnisse gut genug für die vereinbarten Zwecke. So soll ein Dokumentarfilm keine Dichtung enthalten. Eine statistische Tabelle folgt einem vereinbarten Vorgang und garantiert dem Nutzer, dass gewisse Vorkehrungen getroffen wurden und keine potenziell irreführenden Aussagen vorkommen (dass zum Beispiel die Fläche der Balken in einem Histogramm proportional zu den Zahlen ist, die von den Balken dargestellt werden.) Ein „realistischer“ Roman sollte keine „tatsächlichen Begebenheiten“ enthalten, die sich bei Nachprüfung als unwahr herausstellen. Ist meine Charakterisierung darstellerischer Aktivitäten selbst wahr? Verhält es sich so mit den repräsentativen Welten? Immer? Manchmal? Ab und zu? Die Antwort ist nicht „immer“, denn jede Sparte, die Berichte über die Gesellschaft erzeugt, ist gewöhnlich voller Konflikte darüber, was ich einige Absätze weiter oben als friedliche Vereinbarung oder harmonischen Konsens beschrieben habe.

Kriterien der Glaubwürdigkeit Ob und warum man glaubt, was einem mitgeteilt wird, ist Sache der Vereinbarung. Schön und gut. Aber genau welche Kriterien der Glaubwürdigkeit werden von Menschen im täglichen Leben akzeptiert und angewendet? Oft vergleichen wir, was uns gesagt wird, mit unserer eigenen Lebenserfahrung. Davon haben wir alle genug. Wir sind meistens nicht gewillt, etwas zu glauben, was dagegen spricht, zumindest nicht, bis man uns ziemlich gute Gründe dafür gibt, unsere Meinung zu ändern. Entspricht das Gehörte unserer eigenen Erfahrung, dann akzeptieren wir es. Wer schon selbst einmal einen entspannenden Drogenrausch erlebt hat, glaubt meistens nicht die Gräuelmärchen, die Leute ohne eigene Erfahrung erzählen. Man weiß dann aus eigenem Erleben, dass man durch das Rauchen von Marihuana nicht den Verstand verliert. Wir beurteilen, was uns gesagt wird, indem wir es mit unserem Schulbuchwissen vergleichen, oder mit anderem Wissen aus zweiter Hand. Haben wir viel über Russland gelesen und meinen, was wir anderswo lesen, sei damit vereinbar, dann glauben wird das eben auch. Wir stellen uns vor, welche Methode der Macher wahrscheinlich angewendet hat, um zu erfahren, was er uns nun mitteilt, und dann kritisieren wir diese Methode.

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Wir glauben nicht, was jemand ohne unmittelbare Erfahrung über ein Ereignis oder eine Aktivität sagt. Da die Macher diese Informationen nicht immer verraten, müssen Nutzer sie manchmal aus Fragmenten zusammenstückeln. Ein Bekannter beschwerte sich bei mir über David Remnicks Beschreibung der russischen Politik und weiter über den Reportagestil im New Yorker, den er so beschrieb: „Sie gehen mit dem Tonbandgerät hin und nehmen alles auf, was ihnen gesagt wird und was für amerikanische Leser gedacht ist. Dann flicken sie alles zusammen.“ Ich widersprach. Ich war zum Beispiel sicher, dass Remnick fließend Russisch spricht. Ich konnte aber nicht erklären, warum ich das dachte und warum ich meinte, es sei für die Glaubhaftigkeit seiner Reportage wichtig, dass er über russische Literatur und Geschichte Bescheid wusste. Auch die Methoden, die einen Bericht glaubhaft machen, rekonstruieren wir gemäß unserem Verständnis davon, was jemand tun müsste, um „gutes Material“ zu erhalten. Wir sind misstrauisch bei Leuten, die einen Ort ein paar Tage lang besucht haben, nicht die Sprache beherrschen, aber eine Erklärung für alles bereit haben. Der sprichwörtliche Life-Fotograf, der für einige Tage irgendwo abgesetzt und dann wieder ausgeflogen wird, ist für einige von uns kein glaubhafter Berichterstatter über das dortige Leben. Wir beurteilen die Glaubwürdigkeit nach der Konsistenz dessen, was wir sehen und hören. Anna Deavere Smith beschrieb den Aufruhr in Brooklyn und Los Angeles auf Basis langer Interviews mit Beteiligten, die sie ihren Zuschauern dramatisch nachspielte (Smith 1994; 2001). Aus den Fragmenten, die sie uns gibt, aus den kleinen Zeugen-Stückchen, die sie von vielen verschiedenen Beteiligten erhalten hatte, stellen wir ein Bild der chaotischen Zustände zusammen. Allmählich erlangen wir genug Wissen, um es, wenn auch nur flüchtig, zu überprüfen. Schließlich wissen wir, dass wir aufpassen müssen, wenn dieser sagt, es sei so und so geschehen, und jener sagt, nein so. (Wie wir in Kapitel 12 sehen werden, benutzte die Dramatikerin Caryl Churchill eine ähnliche Methode, um eine Theatervorstellung über ein politisches Geschehen aus Interview-Fragmenten zu schaffen.)

Prüfungen bestehen Bei all diesen Vorgängen vergleichen Nutzer die Repräsentation mit etwas, das sie schon glauben, und prüfen dann, wie es abschneidet: Passt es zu dem, was ich schon kenne und glaube? Die Darstellung muss sich in Konkurrenz mit dem bewähren, was bereits auf der akzeptierten Liste steht. Es ist eine Variante des Vorgangs, den Latour „das Kräftemessen“ nennt (1987: 53ff., 74ff., 87ff.). Es läuft so: Bietet die 123

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Repräsentation eine Lösung oder Tatsache an, die nicht dem entspricht, was ich schon weiß oder glaube, muss sie eine Menge Prüfungen bestehen und Verbündete in anderen Berichten und Quellen finden, bevor ich ihr Glauben schenke. Viele Berichte überzeugen uns, Tatsachen zu akzeptieren, die wir vorher nicht anerkannt hatten. Dieses Kunststück gelingt, wenn trotz der von Latour beschriebenen Hindernisse neue wissenschaftliche Tatsachen akzeptiert werden. Aber ein Macher bringt das nicht zustande, indem er die neue Idee, Tatsache oder Interpretation einfach ankündigt. Skeptische Nutzer bestehen auf Prüfungen. Macher können Repräsentationen so konstruieren, dass der Eindruck entsteht, Hindernisse seien bereits überwunden und Prüfungen bereits bestanden. Ein Standardartikel in einer Fachzeitschrift macht das dadurch, dass er alle üblicherweise verlangten Tatsachen nennt und sie im Standardformat veröffentlicht. Dadurch können sich die Skeptiker selbst davon überzeugen, dass alle potenziellen Fehler vermieden und alle potenziellen Informationsquellen untersucht worden sind. Die Idee, dass sich Wissenschaftler gegen „die Bedrohung der Validität ihrer Hypothesen“ schützen sollten, die von Donald Campbell und Kollegen (Campbell, Stanley 1963; Cook, Campbell 1979) formuliert und propagiert wurde, besteht aus einer systematischen Auflistung der Punkte, die zu behandeln sind. Man kann auch den Eindruck erwecken, die Hindernisse seien überwunden und die Beweise seien überzeugend, indem man so allgemein akzeptierte Daten anführt, dass der Verdacht, sie könnten falsch sein, gar nicht aufkommt. Das oben erwähnte „Guggenheim-Projekt“ von Hans Haacke beruht auf leicht zu prüfenden Tatsachen über die Treuhänder des Guggenheim-Museums in New York, einschließlich der Namen und Adressen, der Familienverhältnisse (trotz verschiedener Namen zumeist Guggenheims) und der anderen Organisationen, in deren Vorstand sie sitzen (große multinationale Bergbaukonzerne). Schließlich erfahren wir, dass Chiles Präsident Salvador Allende, der bald darauf (durch Mord oder Selbstmord) sterben sollte, den Fehler begangen hatte, das Eigentum eines dieser Unternehmen zu beschlagnahmen. Über Tatsachen lässt sich nicht streiten. Jeder Nutzer kann sich leicht in jeder gut bestückten Bibliothek oder bei Google über alles informieren, was Haackes Tafeln enthalten. Aber es ist nicht nötig, dass Besucher diese Tatsachen prüfen, denn wären sie nicht so, wie Haacke sagt, hätten andere schon darauf hingewiesen. Menschen, die Haackes Werk geschmacklos fanden (und es waren viele), hätten gern alle kontroversen Tatsachen bestritten. Doch wenn man sich auf öffentlich verfügbare Fakten beruft, entschärft man Misstrauen und Verdacht. Man kann höchstens die damit verbundenen Überlegungen kritisieren. Hier gelang Haacke also die oben diskutierte Masche, alle Überlegungen und Schlussfolgerungen den

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Nutzern zu überlassen, die die rhetorische Arbeit leisten, und sich selbst zu überzeugen, dass die Schlussfolgerung gerechtfertigt ist. Naturwissenschaftler werden sehr böse, wenn man ihnen sagt, sie würden Dinge nur „glauben“ statt „die Wahrheit entdeckt zu haben“. Sie meinen, das bedeutet, ihre Beweise seien nicht epistemologisch gerechtfertigt, im Grunde könne jeder glauben, was er wolle, und eine solche Einstellung, mit der die Tür zum hemmungslosen Mystizismus geöffnet wird, sei der Tod der echten Wissenschaft. Der Mathematiker George Polya argumentierte, dass überzeugende Beweise der Art, an die Wissenschaftler denken, wenn sie meinen, die Natur habe gesprochen (Latour 1987: 94ff.), nur in Logik und Mathematik vorkämen, die keinen Bezug zur empirischen Welt haben und deren Wahrheit auf demonstrativer Logik beruht. Was wahr ist, ist es also per Definition und durch logische Ableitung aus diesen Definitionen (Polya 1954: 140f.). Überall sonst in den empirischen Wissenschaften – und nicht nur in den schwachen Sozialwissenschaften, sondern auch in den starken Naturwissenschaften – könnten wir das Ausmaß der Wahrhaftigkeit oder Glaubhaftigkeit nur grob schätzen. Polya erzählt einen kleinen Krimi um darzustellen, wie wissenschaftliche Folgerungen von Beweisen abhängen. Eine Yacht explodiert. Wir entdecken, dass der Schwiegersohn des Besitzers, mit dem er verfeindet ist, vor einer Woche Dynamit gekauft hat. So halten wir es für wahrscheinlich, dass er „es war“. Dann entdecken wir aber, dass der Schwiegersohn das gesamte gekaufte Dynamit dazu verwendet hat, einen Baumstumpf in seinem Garten zu sprengen. Nun wird seine Täterschaft schon weniger wahrscheinlich. Und so weiter: Jedes neue Beweisstück ändert unsere Einschätzung seiner Schuld. So funktioniert laut Polya die empirische Wissenschaft. Wie sorgfältig bewiesen eine Feststellung auch erscheinen mag, neue Tatsachen können unseren Glauben immer zum Wanken bringen. Latour nennt gut etablierte Folgerungen „black boxes“, wie in der Computerwissenschaft. Da fragen wir gar nicht mehr, wie etwas funktioniert, sondern akzeptieren einfach die Outputs als zuverlässige Basis für weitere Arbeiten, obwohl sie von unseren Inputs auf eine Weise abgeleitet sind, die wir nicht untersuchen und wohl auch nicht verstehen (Latour 1987: 2, 131). Statt definitives Wissen gibt uns die empirische Wissenschaft Glaubwürdigkeitsgrade und Verfahren zur Einigung. Polya bietet eine Sammlung von Diagrammen (1954: 3ff.), die zeigen, wie verschiedene Resultate unterschiedliche Glaubwürdigkeitsgrade erzeugen. Wenn man sie untersucht, sieht man, dass sie nur die Praktiken unseres gesunden Menschenverstandes kodifizieren. Wissenschaftler brauchen sich darüber nicht aufzuregen. Analysiert man diese Glaubwürdigkeitsgrade, dann zeigt sich, dass die entsprechenden Verfahren genauso gut anwendbar sind wie das Kriterium der Wahrheit. Im Alltag der Wissenschaft ändert sich dadurch gar nichts. 125

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Tatsächlich arbeiten die Wissenschaftler ja genau so, während sie von „Wahrheit“ sprechen, um mit der übrigen Welt klarzukommen und Nichtwissenschaftler davon zu überzeugen, dass die Wissenschaft schließlich doch Unterstützung verdient. Wenn wir also über alternative Formate für die Darstellung sozialwissenschaftlicher Ideen, Folgerungen und Resultate diskutieren, sollten wir jene Verfahren betrachten, die die Leute dazu bringen, verschiedene Arten von Berichten mehr oder weniger glaubwürdig zu finden.

Ästhetik Es ist nicht klar, was „Ästhetik“ bedeutet, wenn wir Repräsentationen als Objekte betrachten, die Informationen und Ideen über die Gesellschaft vermitteln. Vom rein „künstlerischen“ Standpunkt aus könnte es das sein, was wir meistens die formalen Aspekte des Objekts nennen: die Harmonie oder die Balance, die durch die Beziehungen zwischen seinen Teilen zum Ausdruck kommt. Wir verwenden häufig nur vage Wörter wie schön, und meinen damit Dinge wie großartige Sonnenuntergänge oder Landschaften, die uns so offensichtlich beeindrucken, dass sie keine Erklärung benötigen. Es reicht, darauf zu zeigen und „Wow!“ zu sagen, um unser Empfinden festzuhalten. Die anderen wissen schon, was wir meinen. Diese Art von Urteil würde unter ernsthaften Studenten der Ästhetik nie aufkommen. Dort wird eine philosophisch vertretbarere Rechtfertigung unserer Reaktionen und Urteilskriterien gefordert (Becker 1982: 131ff.). Betrachten wir also diejenigen Kriterien, die Macher und Nutzer auf die Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität anwenden, die auf irgendeine Weise als „ästhetisch“ gelten könnten. Selbst die unbarmherzig realistischste Repräsentation, die wir je gesehen haben, ist Ergebnis der Auswahl und Reduzierung des darzustellenden Materials, der Übersetzung des Rohmaterials der Erfahrung in die Mediensprache des Machers und der darauffolgenden Anordnung der übersetzten Teile. Gibt es bessere und schlechtere Wege, diese Arbeit zu vollziehen? Spielt wirkliches Handwerk eine Rolle und wenn ja, ist es so gut wie möglich ausgeführt worden? Solche Dinge diskutieren Leute als die ästhetischen Aspekte beim Darstellen von Gesellschaft. Wir wollen nun einige geläufige Kriterien für ästhetisch Wertvolles betrachten. Die handwerklichen Standards beeinflussen das Urteil, vielleicht mehr bei den Machern als bei den Nutzern, und gewiss mehr als jemand zugeben möchte. Schreibt der Autor angemessen elegante Prosa? Kritiker missbilligten Theodore Dreisers Romane über das großstädtische Amerika und behaupteten, er erfülle diesen Standard nicht. Sind die Fotografien scharf und sachgemäß gedruckt? Fotokritiker der

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1950er Jahre schimpften, die Bilder in Robert Franks The Americans (1959) zeigten keinen kompletten Tönungs-Bereich vom reinen Schwarz zum reinen Weiß mit so vielen Grautönen dazwischen wie möglich – ein ästhetisches Kriterium, das der Fotograf des Yosemite-Nationalparks Amsel Adams erfolgreich in der Welt der künstlerischen Fotografie eingeführt hatte. Wurde in dem Zeitschriftenartikel die „relevante Literatur“ zitiert? Viele Studien werden von den besten Fachzeitschriften abgelehnt und erreichen ihre Leser dann in Form von Büchern, was die Einhaltung dieser besonders restriktiven Norm für das Handwerk nicht verlangt. (Ich spreche aus Erfahrung). Man findet ähnliche Beispiele in jeder künstlerischen und akademischen Form. Dieses Problem entsteht auf eindringliche Weise bei der schwierigen Aufgabe, Filme im Stil des Cinéma vérité zu drehen. Vérité fordert, dass Filmemacher die gefilmten Personen nicht zu viel herumstoßen, sondern sie in den verschiedenen Situationen machen lassen, was sie auch ohne die Filmemacher tun würden. Es soll dabei nur so gut wie möglich gefilmt werden, was eben geschieht. Die entstehenden Aufnahmen sind dann oft stark unterbelichtet, unscharf und auch anderweitig nicht „professionellen Standards“ entsprechend. Cutter, die ein vorführtaugliches Produkt aus dem Dokumentarmaterial machen sollen, beklagen, dass Vérité-Aufnahmen ihnen nicht genug Material liefern, um den Sinn für Kontinuität oder einen fortlaufenden verständlichen Handlungsfluss zu erzielen, die einen fertig geschnittenen Film ausmachen. Weil der Filmemacher nur eine Kamera benutzt hat, oder weil er nicht voraussah, was später gebraucht wird, hat derjenige, der den Film schneidet, kein Material für einen „cutaway“, bei dem man zum Beispiel die laufende Aufnahme eines Sprechers unterbricht und nur Teile verwendet, indem man etwas anderes zeigt, das dann die Diskontinuität verbirgt, die im Sprung von einem Teil zu einem anderen entstehen kann. Oder dem Filmeditor steht keine „Eröffnungsszene“ zur Verfügung, die die Verwirrung des Zuschauers verhindert und zeigt, wo die Handlung stattfindet. Charlotte Zwerin, die Salesman schnitt, einen klassischen Dokumentarfilm über einen Bibelverkäufer von David und Al Maysles, erklärte in einem Interview: Als ich mit dem Redigieren begann, brauchte ich gewisse Aufnahmen. Al ging zurück und holte sie mir. Ich glaube, zu diesen Aufnahmen gehörten Dinge wie die Außenansicht des Hotels in Boston und einige Sachen rund um das Motel in Florida. [Ich interessiere mich für die Frage der Kontinuität bei Filmen im Vérité-Stil. Fanden Sie das ein großes Problem bei Salesman?] Klar, es war mörderisch. Al geht wohin und hat an so viel zu denken – Beleuchtung, vernünftige Kamerawinkel, wie man die Stellung wechselt, ohne über alles zu stolpern – dass er sich nicht auch noch darum kümmern kann, wie alles reibungslos zu redigieren ist […] 127

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[Können Sie mir ein Beispiel von einer Stelle nennen, die besonders schwierig zu schneiden war?] Eine der lustigsten aber auch schwierigsten Szenen war, als Charlie und „Rabbit“ dieser alten irischen Dame und ihrer Tochter in Boston eine Bibel verkaufen wollen. Die beiden Frauen sind großartig und sehr amüsant, aber die Szene machte mir zwei Monate lang zu schaffen, weil Charlie und „Rabbit“ sich dauernd vom Klavier zum Sofatisch und zur Tür hin und her bewegten; sie liefen überall herum, und Al tat nichts dagegen. Er konnte ihnen offensichtlich nicht sagen, sie sollten sich setzen oder still stehen. Aber immer, wenn Al abdrehte, sah es aus, als wären Charlie und „Rabbit“ in ein anderes Haus gegangen. Auch die Beleuchtung des Zimmers war zum verrückt werden und half nicht beim Schnitt. Die Verkäufer waren an einem Ende des Zimmers, wo es dunkel war, und trugen dunkle Kleidung. Die beiden Frauen saßen auf der Couch in ganz heller Kleidung in einer sehr hellen Umgebung. Es war keine Zeit für eine Einstiegsszene, und als ich mir die Aufnahmen ansah, hatte ich das Gefühl, als wären die beiden Gruppen nicht einmal im selben Zimmer. (Zwerin 1971: 90)

Da das Cinéma vérité solche Ergebnisse erzeugt, garantieren gerade diese „Mängel“ die „Authentizität“ des Films und überzeugen die Zuschauer von seiner „Wahrheit“, selbst wenn die Verschwommenheit und das Wackeln nicht wirklich auf die Bedingungen beim Filmen zurückgehen. Gillo Pontecorvos Film Schlacht um Algier aus dem Jahr 1966 war reine Fiktion. Er enthielt künstlerisch geprobte „Ereignisse“ mit bezahlten Schauspielern, aber er imitierte die Mängel eines Dokumentarfilms so perfekt, dass es den Zuschauern schwerfiel zu akzeptieren, dass sie keine Wochenschau von den echten Ereignissen während des Aufstand sahen, der die Franzosen zur Aufgabe Algeriens brachte. Kritik an den handwerklichen Standards wird an fast allen Gesellschaftsrepräsentationen geübt. Die meisten Repräsentationen stammen von Leuten, die irgendeiner Gemeinschaft von Schaffenden angehören. Diese Gemeinschaft bestimmt ihre eigenen Standards, und ihre Mitglieder kritisieren Produkte, die nicht den Standards entsprechen. Die Macher von Repräsentationen akzeptieren diese Standards und wenden sie auf ihre eigenen Produkte an, weil sie wissen, dass ihre Kollegen sie kritisieren, wenn sie es nicht tun. Und sie stimmen mit diesem Urteil überein. Sie richten sich nach den Standards, auch auf Kosten anderer Werte, die sie eigentlich optimieren möchten, wie die „dokumentarische Wahrheit“. Nutzer, denen an Wahrheiten über die Gesellschaft gelegen ist und nicht nur an einem unterhaltsamen Film, sind besorgt, dass Filmemacher die Wahrheit den handwerklichen Standards opfern, wie immer man diese Standards auch definieren mag. Wie beeinflussen diese Überlegungen den Wahrheitswert eines Werkes? Wird es unmöglich, dass eine Szene eine Art von Wahrheit vermittelt, wenn sie gleichzeitig eine dramatische Wirkung erzielen muss?

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Wenn wir Repräsentationen betrachten, die zumindest zum Teil gesellschaftliches Leben und gesellschaftliche Ereignisse beschreiben – im Bereich der „Kunst“ beispielsweise Fotografien, Filme, Romane und Theaterstücke –, haben wir es mit einem Kriterium zu tun, das von der oben erwähnten Perfektion formaler Beziehungen abweicht. In diesen Fällen interessieren wir uns dafür, in welchem Verhältnis das, was das Werk darstellt, zur „realen Welt“ steht, wie wahrheitsgetreu oder genau das Werk uns etwas über die gesellschaftliche Realität zu sagen hat. Zum Teil nehmen wir das Werk ja deswegen ernst, weil es den Anspruch erhebt, uns etwas über einen Aspekt der Gesellschaft zu sagen, das wir vorher noch nicht gewusst haben. Die Prosa von Charles Dickens ist großartig. Seine Handlungen sind kompliziert und fesselnd, seine Protagonisten unvergesslich. Aber ein wichtiger Teil der Wirkung seiner späteren Romane beruht auf unserem Glauben, er sage uns die Wahrheit, wie karikiert auch immer, über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen im viktorianischen England. Stellen wir uns aber ein Experiment vor: Historiker, die mit Bergen von Gerichtsakten arbeiten, würden entdecken, dass sich die Gerichtsverfahren nicht jahrelang hinzogen wie bei Jarndyce gegen Jarndyce in Bleakhaus (Dickens 2010), bis die Rechtsanwälte mit ihren Gebühren das gesamte Geld aufgezehrt hatten. Wir würden anders über den Roman denken, ihn als Fiktion statt als realistische Beschreibung von Ereignissen auffassen, die vielleicht so geschehen sind, und würden ihn wahrscheinlich als geringere Errungenschaft betrachten. Wir könnten das Gelesene nicht als Tatsache betrachten und uns daraus ein Urteil über die sozialen Verhältnisse bilden. Wir könnten Fragen über viktorianische Institutionen nicht mehr glaubhaft beantworten. Wir würden die Handlung und die Protagonisten nicht mehr so ergreifend finden. Es wäre ein anderes Buch, obwohl die Worte dieselben blieben. Offensichtlich befürchtete Dickens, dass manche Leser im Glauben, die britischen Gerichte könnten niemals derart schlecht handeln, annehmen würden, er habe seine Geschichte nur erfunden. Stolz auf die Genauigkeit seiner Berichterstattung (schließlich hatte er als Journalist gearbeitet) verteidigte er sich im Vorwort zu Bleakhaus gegen solche Behauptungen und bestand auf der substantiellen Wahrheit der Geschichte. Offensichtlich hielt er das in Anbetracht des ästhetischen Erfolgs des Buches für notwendig: […] alles, was in diesem Buch vom Kanzleigericht handelt, [ist] seinem Wesen nach wahr und keineswegs übertrieben […]. Der „Fall Grindley“ unterscheidet sich in keinem wesentlichen Punkte von einem tatsächlichen Begebnis, das ein Unbeteiligter, der als Advokat das ganze unerhörte Unrecht von Anfang bis zu Ende kennenlernte, veröffentlicht hat. 129

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Gegenwärtig liegt dem Gerichtshof ein Prozeß vor, der vor fast zwanzig Jahren angefangen hat, in dem einmal dreißig bis vierzig Advokaten bei einer Tagfahrt erschienen und dessen Kosten sich jetzt auf siebzigtausend Pfund belaufen. Er ist ein „Proformaprozeß“ und, wie man mir versichert, seinem Schlusse nicht näher als zu Anfang. Noch ein anderer wohlbekannter Kanzleigerichtsprozeß, der vor Ende des vorigen Jahrhunderts anfing und in dem die Kosten mehr als doppelt soviel verschlungen haben, ist heute noch in Schwebe. Wenn ich noch mehr Belege für „Jarndyce kontra Jarndyce“ und „die Knauserei des Publikums“ brauchte, so könnte ich Bände damit füllen. (Dickens 2010: 7f.)

Adam Hochschild befasst sich mit Joseph Conrads Herz der Finsternis, einer klassischen Erkundung der Beziehungen zwischen Europäern und „Anderen“, nämlich den indigenen Völkern in Ländern, die einst europäische Kolonien waren. In der Erzählung ist Mr. Kurtz, Agent einer europäischen Handelsgesellschaft, „verwildert“ und hat seinen eigenen persönlichen Machtbereich am Kongo geschaffen. Das Gebiet war damals Teil des Belgischen Kongos, wurde später Zaire und ist heute die Demokratische Republik Kongo. Hochschild beschreibt ein besonders grausames Bild aus der Erzählung: Woran wir uns besonders erinnern, ist die Szene, in der Marlow [der Erzähler] auf dem Dampfschiff steht und durch sein Fernglas schaut. Er sieht, was er zunächst für dekorative Knöpfe auf Zaunpfählen an Kurtz‘ Haus hält, bis er entdeckt, dass jeder „schwarz, vertrocknet, eingesunken mit geschlossenen Augenlidern war – ein Kopf, der auf den Spitzen der Zaunpfähle zu schlafen schien, mit geschrumpften trockenen Lippen, dazwischen eine schmale Linie entblößter weißer Zähne.“ Selbst viele Leute, die das Buch nicht gelesen haben, erinnern sich an die abgeschlagenen Köpfe, denn Francis Ford Coppola zeigte einige davon, als er „Herz der Finsternis“ in den Film „Apocalypse Now“ überführte. (Hochschild 1997: 40f.)

Dies ärgert Hochschild, denn man liest das Buch heute als Bericht über alles Mögliche, aber nicht über die Realität Afrikas. Diese Realität kannte Conrad aus erster Hand, wie Hochschild akribisch dokumentiert. Schriftsteller und Akademiker haben die Erzählung im Sinne von Freud, Jung und Nietzsche untersucht, und im Zusammenhang mit viktorianischer Unschuld und Erbsünde, Patriarchat und Gnostizismus, Postmoderne, Postkolonialismus und Poststrukturalismus. Es erschienen Hunderte von Monografien und Doktorarbeiten mit Titeln wie „Das Auge und der Blick in ‚Herz der Finsternis‘: Eine Symptomatik-Lesung“. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass sich die Erzählung eng auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit bezog. Auch bestimmte reale Personen werden leicht übersehen, wie bei fast allen der vielen Biografen Conrads geschehen: Es sind dies mehrere mögliche Vorbilder für die zentrale Figur des Romans, einer der berüchtigtsten literarischen Schurken des zwanzigsten Jahrhunderts – Mr. Kurtz […]

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Wenn Akademiker über die blutgierigsten Aspekte von Kurtz reden, meinen sie oft, Conrad habe sie erfunden oder von den Gepflogenheiten der Eingeborenen übernommen. […] Norman Sherry schreibt: „Was die verschrumpelten Köpfe auf den Zaunpfosten um Kurtz‘ Haus anbelangt, mögen sie Conrads makabrer Bezug auf das Schicksal von Hodister und seinen Leuten gewesen sein [Hodister war ein Belgier, der damals im Elfenbeinhandel tätig war und von konkurrierenden Händlern niedergemetzelt und geköpft wurde].“ Wir wissen von anderen Zeugen, dass die Warlords am Kongofluss damals tatsächlich die Köpfe ihrer Opfer ausstellten. Aber hatte Conrad eine „makabre Übertragung“ nötig, um Kurtz dasselbe tun zu lassen? Sherry und andere haben sich entschieden, mehrere andere Prototypen zu ignorieren, die eine Eigenschaft mit Kurtz gemeinsam hatten, die Kritiker als phantasmagorisch auffassten: Sie waren Weiße, die afrikanische Köpfe sammelten. (ebd.)

Hochschild akzeptiert das nicht als normal für die Art und Weise, wie Wissenschaftler vorgehen. Er sieht dies als unterschwellig politisch motiviert: Europäer und Amerikaner sträuben sich seit langem, die Eroberung Afrikas auf derselben genozidalen Skala zu messen wie die Taten von Hitler und Stalin. Aus diesem Grund finden wir es bequemer, das Köpfesammeln von Kurtz als „makabre Übertragung“ zu betrachten und die Quellen seiner Mordlust in Conrads Fantasie zu suchen. Wir haben „Herz der Finsternis“ eifrig aus seinen historischen Wurzeln gerissen und in eine universelle Parabel verwandelt. Die makaberste Übertragung von allen ist, dass wir darauf bestehen, die Erzählung aus Afrika zu entfernen. [Er zitiert Filmversionen, die in Spanien und in Vietnam spielen.] Würde es uns nicht merkwürdig ausweichend vorkommen, wenn ein Filmregisseur Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ nicht in der Sowjetunion oder Elie Wiesels „Die Nacht“ nicht in Auschwitz spielen ließe? (ebd.: 46)

Worum geht es hier? Hochschild möchte das Buch als eine Beschreibung sehen, einen wahrheitsgemäßen Bericht über eine besonders grausame Praxis des mitteleuropäischen Protagonisten. Er liefert Beweise, um seine Behauptung zu untermauern, und erklärt, warum andere diesen entscheidenden Aspekt des Buches ignoriert haben. Er nimmt etwas, das üblicherweise als ästhetisch motivierte Erfindung aufgefasst wird, und verwandelt es in einen einfach tatsächlichen Bericht über Dinge, die der Autor tatsächlich gesehen hat. Obwohl er das so nicht sagt, kann man das als Element der ästhetischen Erfahrung eines Lesers erkennen, der es weiß. Er schockiert uns, indem er uns mitteilt, „unsere Leute“ hätten sich wirklich so benommen, als sie die Chance hatten und als niemand zusah, dessen Meinung für sie von Belang war. Hochschilds Klage berührt einen allgemeinen Punkt. Noch viel mehr Kunstwerke, die wir üblicherweise nicht so betrachten würden, wurden von ihren Machern höchstwahrscheinlich als buchstäbliche Beschreibungen einer sozialen Tatsache 131

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aufgefasst, als nachprüfbare Darstellungen eines spezifischen gesellschaftlichen Phänomens zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Ort. Wir können noch weiter gehen. Die unterstellte Wahrheit der künstlerischen Repräsentation einer sozialen Tatsache ist ein wesentliches Element für unsere Anerkennung einer solchen Arbeit als Kunst. Das heißt, dass Kunst und Wahrheit keine Gegensätze sind, in der Art dass man nur das eine oder das andere haben kann. In vielen Werken kann man nur beides zusammen haben, oder keines davon. Kunst gibt es nicht ohne Wahrheit. Die in einem Werk zum Ausdruck kommende Wahrheit über die gesellschaftliche Realität trägt zu seiner ästhetischen Wirkung bei. Darum ärgerte sich meine Klasse so sehr über Tom. Wäre die Geschichte über seine Tante und seinen Vater wahr gewesen, hätte sie uns bewegt und aufgeregt. Wenn nicht, wäre sie nur ein dummer Witz gewesen. Keine Wahrheit, keine Kunst.

Die Moralität der Repräsentation 8 Die Moralität der Repräsentation

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Die Repräsentation der Gesellschaft wirft moralische Fragen für Teilnehmer, Macher und Nutzer auf, die in verschiedenen Varianten auftreten: die Missrepräsentation als etwas moralisch Verwerfliches; die Art und Weise, wie übliche Darstellungstechniken unsere moralischen Urteile prägen; die damit verwandten Fragen der Zuschreibung von Lob und Tadel für die Ergebnisse des Handelns und der Teilnahme an sozialem Handeln als Helden und Bösewichte.

„Missrepräsentation“ Soziologen in meiner Tradition forschen routinemäßig über das Verständnis gesellschaftlicher Organisationsprozesse, indem sie nach Problemen suchen, nach Situationen, in denen Menschen klagen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Man kann die Regeln und Auffassungen zu gesellschaftlichen Beziehungen leicht verstehen, wenn man hört, wie die Menschen sich über deren Verletzungen beklagen. Wir stoßen immer wieder auf heftige moralistische Debatten auf Gebieten der darstellerischen Tätigkeit über die Erzeugung und Nutzung ihrer typischen Produkte. Die Rufe, „das ist ungerecht“ und „er hat gemogelt“ würden sich anhören wie die Spiele von Fünfjährigen, wären die Einsätze nicht so viel höher und die Angelegenheiten so viel ernster. Das Problem der Missrepräsentation lädt uns ein, unsere Analyse mit der Suche nach diesen Konflikten zu beginnen. An der Universität von Papua-Neuguinea beklagten sich Anthropologie-Studenten im Nova-Programm „Papua-Neuguinea: Anthropologie vor Gericht“ (Gullahorn-Holecek, Dee, WGBH Educational Foundation 1983), Margaret Meads Growing Up in New Guinea sei „ungerecht“, weil es die herabwürdigenden Geschichten wiederhole, die ihre Informanten über die Vorfahren der Studenten erzählt hätten, für die das Volk der Informanten traditionellerweise Verachtung zeigten. Die Studenten beschwerten sich nicht, Margaret Mead habe falsch berichtet, was 133 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_8

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man ihr gesagt hatte; sie stimmten zu, dass diese Leute solche Dinge gesagt hatten. Sie beschwerten sich auch nicht darüber, dass Mead die Geschichten als Tatsache berichtet hatte, denn das hatte sie nicht getan. Nein, sie beschwerten sich darüber, dass ihren eigenen Vorfahren, die Mead nicht studiert hatte, und die ihrerseits ebenso schlechte Dinge über jene anderen Leute (die Informanten) zu erzählen hatten, von Mead nicht ebenso viel Zeit eingeräumt wurde. Dieses Beispiel veranschaulicht die Art solcher aus Eigeninteresse entstehenden Beschwerden. „Sie haben mich (oder die Meinen) schlecht gemacht!“ Der leitende Assistenzarzt der Nervenheilanstalt, die Erving Goffman untersuchte und in Asyle beschrieb, beschwerte sich (in der Fußnote, die Goffman ihm widmete), er hätte für jede „schlechte Sache“ im Buch auch eine ausgleichende „gute Sache“ erwähnen können: Für die von Goffman geschilderte „Schikane“ gegenüber Patienten hätte er über die neu gestrichene Cafeteria berichten können (Goffman 1973: 226). Ähnlich beklagten sich die Bürger und Politiker von Kansas City, Missouri, der Zensus von 1960 habe die Bevölkerungszahl ihrer Stadt um einige Tausend zu niedrig angesetzt und so verhindert, dass sie die für Städte über einer halben Million vorgesehenen Leistungen vom Bundesstaat erhielt. (Das entsprechende Gesetz war dazu bestimmt, einige Jahre vorher der Stadt St. Louis aus einer Finanzkrise zu helfen.) Fast alle, deren Organisation der Regisseur und Dokumentarfilmer Frederick Wiseman gefilmt hat, beklagten sich, sie hätten nicht gewusst, dass sie am Ende so aussehen würden. Das von Norman Mailer, Truman Capote, Tom Wolfe und anderen vertretene Genre der fiktionalisierenden Reportage rief noch grundsätzlichere Beschwerden hervor. Der bekannte Journalist John Hersey gab zu bedenken, diese Schriftsteller würden nicht nur Dinge erfinden, sondern auf dem Recht bestehen, dies im Namen einer höheren Wahrheit zu tun. Er argumentierte, ein Autor könne Details und Ereignisse in Büchern erfinden, die als Romane erkennbar sind und den Hinweis Alles erfunden! tragen. Das gelte aber nicht für Journalismus. Dort „darf der Autor nichts erfinden und die Angabe auf der Lizenz muss lauten: Nichts davon wurde erfunden. Die Ethik des Journalismus – wenn es uns erlaubt ist, von so etwas Segensreichem zu sprechen – muss auf der einfachen Wahrheit beruhen, dass jeder Journalist den Unterschied kennt zwischen einer Verzerrung, die durch eine Unterschlagung beobachteter Informationen herrührt, und einer Verzerrung durch das Hinzufügen von erfundenen Informationen.“ (Hersey 1980: 2) Interessanterweise fügt Hersey hinzu, eine Verzerrung durch Weglassen sei akzeptabel, denn „[d]er Leser setzt voraus, dass das Auslassen von Informationen zum Wesen des Journalismus gehört und sucht darum instinktiv nach dem Bias; doch sobald er vermutet, es seien Informationen hinzugefügt worden, rutscht ihm der feste Boden unter seinen Füßen weg, denn der Gedanke, man könne nicht unterscheiden, was echt ist und was nicht, ist schrecklich. Noch erschreckender ist der

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Gedanke, Lügen seien Wahrheiten.“ (ebd.) Aber viele Kritiker haben beklagt, dass der Presse- und Rundfunk-Journalismus genau jene Dinge auslässt, die wir brauchen, um uns richtig zu orientieren (zum Beispiel Molotch, Lester 1974; Tuchman 1978; Gitlin 1980). Man kann sich leicht vorstellen, dass viele Leser „instinktiv“ das Hinzugefügte ebenso aussortieren würden, wie Hersey es vom Weggelassenen vermutet, wenn sie wüssten, dass sie das tun sollten. Wahrscheinlich haben viele von Wolfes Lesern sowie Zeitungsleser und Fernsehzuschauer genau das getan. Ob wir Herseys Ansicht teilen oder nicht, er identifiziert den soziologischen Kern des Konflikts über Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität. Kein Bericht in einem Medium oder Genre, welch strengen Regeln er auch folgen mag, löst alle Probleme, beantwortet alle Fragen oder weicht allen potenziellen Ärgernissen aus. Wie wir gesehen haben, entscheiden die Macher von Berichten aller Art, wann etwas „mehr als gut genug“ ist, welche Methoden man anwenden sollte, um diesen Zustand zu erreichen und dass jeder nach dieser Methode verfasste Bericht für gewöhnliche Zwecke reicht. Das wahrt die professionellen Interessen, lässt die Leute gewähren, die diese Regeln befolgen, und garantiert akzeptable und glaubhafte Ergebnisse, die die Last tragen können, die der routinemäßige Gebrauch für anderer Leute Zwecke ihnen auferlegt. Die vereinbarten Standards definieren, was erwartet wird, damit Nutzer die Mängel der Repräsentation übersehen können und zumindest wissen, womit sie es zu tun haben. Herseys Analyse akzeptiert diesen Zustand als normal, standardgemäß und angemessen. Das meinte ich oben, als ich schrieb, jede Art der Repräsentation ist „perfekt“, gut genug, damit Nutzer die Ergebnisse als das Beste akzeptieren, das sie unter den gegebenen Umständen erwarten können, und dabei lernen, mit den Grenzen umzugehen. Kritiker argumentieren, eine Missrepräsentation sei dann aufgetreten, wenn jemand nicht die Standardmethoden befolgt und Nutzern vorgaukelt, ein Vertrag sei in Kraft, der aber in Wirklichkeit nicht respektiert wird. Streit zwischen Dokumentarfilmern dreht sich oft um Methoden, die von vorherigen Standards abweichen. Dadurch entsteht möglicherweise Verwirrung darüber, was der Film als Wahrheit bezeichnet. Michelle Citron verursachte einen Sturm der Entrüstung durch ihre „fiktiven“ Szenen in Daughter Rite (Citron 1979), einem ansonsten „faktenbasierten“ Film. Manche eher konservative Filmemacher klagten, Zuschauer würden in die Irre geführt und „überlistet“ zu denken, was sie soeben gesehen haben, hätte sich wirklich ereignet, obwohl das nicht der Fall war. Citron argumentierte – nicht unangemessen –, ihr Film zeige eine allgemeingültigere „Wahrheit“. Nutzer und Kritiker beschweren sich auch über „Missrepräsentation“, wenn die routinemäßige Anwendung akzeptabler Standardverfahren nicht ihren Interessen entspricht, indem sie etwas auslässt, das – wäre es enthalten – nicht nur die In135

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terpretation der Tatsachen, sondern vor allem die moralischen Urteile verändern würde, die Leute auf Basis der Repräsentation treffen. Das geschieht oft, wenn durch irgendeine historische Verschiebung neue Stimmen hörbar werden. Die Menschen, die Margaret Mead studierte, lasen keine anthropologischen Monografien und konnten sie daher nicht kritisieren. Aber ihre Nachfahren, die an der Universität Papua-Neuguinea studieren, können und tun das. Auf jeden Fall ist das Problem der Missrepräsentation ein Problem der gesellschaftlichen Organisation, das sich manifestiert, wenn eine ausgehandelte Vereinbarung, die einst gut genug für alle war, nunmehr als unzureichend definiert wird. Ganz ähnlich können viele, Genre und Medien übergreifende, „moralische“ Probleme als Produkte gesellschaftlicher Organisation analysiert werden. Dazu gehören die Ethik der Repräsentation und das Problem der Autorität einer Repräsentation.

„Hinterlistig“: Die moralische Gemeinschaft der Macher und Nutzer Frederick Wisemans Film Titicut Follies (1967) beschreibt auf sachliche, nicht urteilende Weise das tägliche Leben im Krankenhaus für geisteskranke Straftäter in Bridgewater (Massachusetts). Keine Beschreibung kann diesem komplexen Werk gerecht werden, aber hier ist ein kurzer Versuch. Vorwiegend in sehr langen, ungeschnittenen Einstellungen zeigt der Film Szenen aus dem Alltag der Anstalt. Es entsteht das Gefühl, diese Szenen wiederholten sich ständig für das Personal und die Insassen: Besprechungen, in denen das Personal über die Patienten berät und über ihre Behandlung entscheidet; Pflegepersonal, das widerspenstige Patienten durch die Nase zwangsernährt; ein Patient, der viele Minuten lang ohne Pause Kauderwelsch schreit; ein mit Personal und Insassen besetztes Theaterstück. Der Patient Wladimir erklärt dem scheinbar unerreichbaren Personal, warum er entlassen werden sollte. Man versteht, wie ein solcher Ort Menschen zum Wahnsinn treibt, aber die meisten Zuschauer merken auch, dass viele Menschen schon sehr verwirrt gewesen sein müssen, als sie dort ankamen. Der Film lässt jedoch fast jeden zu der Überzeugung kommen, dass diese Anstalt ein schrecklicher Ort ist, der geschlossen werden sollte und dessen Personal grausam und gefühllos ist. Anders als die meisten Dokumentarfilme jener Zeit hat Titicut Follies weder Untertitel noch Voiceover-Kommentare, die Zuschauern sagen, was sie denken sollen. Wie in Haackes Guggenheim lassen Auswahl und Regie des Filmes dennoch jeden vernünftigen Zuschauer folgern, dass dieses Krankenhaus ein furchtbarer Ort ist. Eine Studentin im „Telling“-Seminar beanstandete, Wisemans Film, den ich meinen Studenten als wundervolle dokumentarische Repräsentation angepriesen

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hatte, sei „hinterlistig“. Als ich sie bat, das zu erklären, meinte sie, der Film habe alle möglichen filmischen Darstellungsmittel („Tricks“) angewandt, um Zuschauer glauben zu machen, was sie sahen, sei wahr: die Beleuchtung, der scharfe unaufhörliche Lärm, die häufige Nacktheit der Männer (im Film unkommentiert), die sehr langen Einstellungen, die wohl den Eindruck erwecken sollten, das Material sei nicht einfach eine Collage von klug redigierten kurzen Momentaufnahmen, die eine größere und andere Realität vertuschen sollten. Sie war nicht ganz sicher, wieso sie das „hinterlistig“ fand. Aber ich dachte damals und denke auch noch heute, es war ein sehr passend gewähltes Wort. Warum? „Hinterlistig“7 deutet an, ein Effekt sei mit Mitteln erzielt worden, die der Zuschauer nicht voll wahrnimmt und daher nicht kritisieren kann. Wenn uns ein Voiceover im Film etwas sagt, wissen wir, dass die Stimme in verständlichen Sätzen spricht. Fast alle von uns haben gelernt, dass wir autoritär klingenden Stimmen eher misstrauen sollten. Wir wissen aber wahrscheinlich nicht, dass eine von unten auf jemanden gerichtete Kamera die Person größer, beeindruckender oder unheimlicher erscheinen lässt, und dass die Person umgekehrt von oben aus aufgenommen kleiner, weniger maßgeblich und eher kindlich aussieht. Wenn wir wissen, was geschieht, sind wir auf der Hut und suchen nach Gründen, um die uns aufgezwungene Idee nicht zu akzeptieren. Wir erkennen die Tricks und sind wachsam. Wenn wir nicht wissen, was passiert, wenn es hinterlistig ist, sind wir nicht auf der Hut, treffen keine intellektuellen Vorkehrungen und werden „getäuscht“ oder „überlistet“, eine Feststellung oder Idee anzunehmen, die wir mit voll ausgefahrener Antenne zum Erkennen von Tricks nicht akzeptiert hätten. Die Menschen sind unterschiedlich anfällig für Tricks. Diese hinterlistigen Kräfte beeinflussen wohl Experten weniger als Amateure oder die Allgemeinheit. Wir können begründet vermuten, dass Leute, die selbst Filmemacher sind, wissen, was los ist, und sich nicht täuschen lassen. Manche darstellerischen Tricks sind so bekannt, dass sie gar nicht mehr täuschen. Das hatte Hersey wohl im Sinn, als er die gängige journalistische Praxis, Dinge in einem Erzählstrang wegzulassen (was er für okay hielt, weil „jeder“ wüsste, dass Zeitungen das eben machen), von der Erfindung eines Dialogs unterschied, der nie stattgefunden hat – worauf gewöhnliche Leser vielleicht nicht so sehr achten. Dieser Unterschied ist wichtig. Ungenauigkeit, Auslassungen oder andere „illegitime“ Praktiken täuschen Nutzer nicht, die genau wissen, dass Macher sie routinemäßig anwenden. Diese wachsamen Nutzer wissen um die Verzerrungen, die durch solche zu erwartenden Routineaktivitäten eingefügt werden; sie sind skeptisch gegenüber Folgerungen, die auf Material beruhen, das solche „Fehler“ 7 Anmerkung des Übersetzers: Englisch „insidious“ 137

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oder „Verzerrungen“ enthält. Aber Leute, die nichts über routinemäßige Verzerrungen oder Auslassungen wissen, könnten Folgerungen und Ideen akzeptieren, die sie nie akzeptieren würden, wenn sie von den Tricks wüssten, die sie zu dem entsprechenden Schluss gebracht haben. Wenn diese naiven Nutzer wüssten, wie die Tricks zustande kommen, würden sie wissen, dass diese „ungültigen“ Methoden keine „echten Beweise“ liefern, die einer Zerreißprobe standhalten würden. Dann wäre ihnen klar, dass die Schlussfolgerung „nicht gut“ war, da sie „auf falschen Voraussetzungen aufbaute“. Ich stelle all diese Ausdrücke in Anführungsstriche, um auszudrücken, dass die informierten Leser, die ich im vorigen Absatz erfunden habe, diese Ansicht äußern könnten und nicht, weil ich all diese Kriterien und all diese Überlegungen selbst akzeptiere. Das legt ein verallgemeinerbares Argument nahe. Für jede Art und Weise, über Gesellschaft zu erzählen, gibt es eine Gruppe, für welche diese Form durch einen moralischen Pakt zwischen Machern und Nutzern gerechtfertigt ist. Dieser Pakt nennt zulässige Wege, Nutzer zu überzeugen, das Berichtete oder Gezeigte sei gültig und könne darum öffentlich als akzeptabel anerkannt werden. Der Pakt identifiziert auch hinterhältige und unakzeptable Wege. Menschen, die hinterhältige Mittel einsetzen, werden von den Parteien, die diesen Pakt eingegangen sind, als Schwindler angesehen, die eine moralische Vereinbarung zwischen Machern und Nutzern brechen. Nutzer, die einem solchen moralischen Pakt beigetreten sind, verfügen im Rahmen des Abkommens über die notwendigen Kenntnisse und können nicht so einfach hereingelegt werden. Sie erwarten von den Machern die Einhaltung des Abkommens und den Verzicht auf Strategien der Überzeugung, denen sie nicht schon zugestimmt haben. („Hinterlistig“ impliziert, dass etwas nicht stimmen könnte; dass Nutzer dagegen wären, mit Mitteln, die ihnen kaum oder gar nicht bewusst sind, überredet zu werden – wenn sie es wüssten.) Wir brauchen uns nicht vorzustellen, dieser Pakt müsse auf eine formelle Art wie ein Vertrag unterschrieben oder auf die Art und Weise geschlossen werden, wie man Vereinbarungen trifft, wenn man Computersoftware kauft (indem man den Umschlag mit der CD öffnet, akzeptiert man alle Geschäftsbedingungen). Stattdessen nehmen Leute das einfach in Kauf, wie sie es mit anderen Dingen im täglichen Leben tun, indem sie sich an der Handlung beteiligen, auch wenn sie sich der impliziten Absprachen bewusst sind. (Denken Sie aber an die ethnomethodologische Standardwarnung: Oft halten Parteien eine Vereinbarung erst nachträglich ein, nämlich indem sie bei jeder Gelegenheit ausloten, was sie bei ihrer Zusage zu was auch immer eigentlich im Sinn hatten.) Andere Nutzer, die nicht an einer solchen Abmachung beteiligt sind, wissen vielleicht nicht, worauf man achten sollte und werden daher leicht von skrupellosen Leuten hereingelegt. Andererseits könnte man einwenden, solche Nutzer sollten

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sich nicht mit Dingen befassen, von denen sie nicht genug verstehen; schließlich sei der Macher nicht daran schuld, wenn sich der Nutzer mit etwas beschäftigt, das er weder versteht noch richtig beurteilen kann. Das können wir alles sagen – wenn wir bei einem solchen potenziellen Konflikt Partei ergreifen wollen. Es ist aber nicht nötig. Ich würde lieber neutral bleiben und nur beobachten, wer mit wem worüber streitet, die Sache lieber als soziologisches Phänomen behandeln und untersuchen, statt sie wie ein Richter entscheiden zu müssen. Für jede Form des Erzählens über Gesellschaft sollten wir eine moralische Gemeinschaft von Machern und Nutzern suchen (als Möglichkeit, nicht als Zwangsläufigkeit), deren Mitglieder gewisse Standardmethoden kennen, wie man Ideen und Schlussfolgerungen über die Gesellschaft kommuniziert und wie man andere von der Wahrheit des Kommunizierten überzeugt, selbst wenn es in diesen Methoden von Fehlern und Mängeln wimmelt. Nutzer wissen genau, was die Macher tun. Es findet keine „hinterlistige“ Überredung statt. Macher tüfteln keine heimlichen Sachen aus, um Nutzer zum Narren zu halten. Es gibt keine Geheimnisse. (So ist es auch in der höchst professionellen, esoterischen Welt der mathematischen Modelle, die in Kapitel 9 diskutiert wird. Nur solche Leute nutzen diese Modelle regelmäßig, die sie auch selbst machen können und vielleicht auch machen.) Zu diesen Repräsentations-Gemeinschaften können wir alle soziologischen Standardfragen stellen. Wie werben sie Mitglieder an und sozialisieren sie für ihre Vorgehensweise? Welche Teilnehmer sind mit den Überredungskünsten der Macher vertraut? Wo haben sie das gelernt? Welche Nutzer wissen weniger und fallen leichter auf hinterlistige Mittel herein? Mit welchem Auswahlverfahren trennt man wissende von weniger wissenden Nutzern? Hatten die Unwissenden eine Chance, zu lernen, die sie aber nicht wahrgenommen haben (so wie ich vermute, dass auch viele Leute, die dieses Buch lesen, einen kostenlosen zehnwöchigen Kurs über mathematische Modelle ablehnen würden)? In vielen dieser Welten produziert eine kleine Gruppe von Machern Repräsentationen, die von einer großen Gruppe nicht besonders sachkundiger Nutzer betrachtet werden. Die meisten Zuschauer, die Filme in Kinos oder auf dem kleinen Bildschirm sehen, wüssten nicht, wie man einen Film dreht. Nicht zu wissen, wie man einen Film dreht, ist natürlich nicht dasselbe, wie nicht zu wissen, wie man Filme kritisch anschaut. Andererseits vermögen statistische Tabellen und Grafiken in Zeitungen und populären Zeitschriften Leute zum Narren zu halten, die nicht geschult sind, Tricks zu erkennen. Sie wissen vielleicht, dass die Statistik auch lügt, aber nicht, welche Lügen erzählt werden und woran man sie erkennt. Das können nur Experten, die zum Beispiel Bücher schreiben wie Damned Lies and Statistics (Best 2001). 139

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Werden alle weniger informierten Teilnehmer in diesen Welten betrogen? Vielen Leuten macht es wohl nichts aus, dass sie durch „hinterlistige“ Kommunikation getäuscht worden sind. Angenommen, Sie würden Zuschauern von Titicut Follies erzählen, die Filmemacher hätten mit Schnitten und Einstellungen die Gefühle und Folgerungen so manipuliert, dass man glauben sollte, was vielleicht gar nicht der Wahrheit entsprach. Viele würden vielleicht sagen (oder auch nicht), es wäre ihnen gleichgültig, oder dass sie ihren Gefühlen vertrauen und dem, was sie gehört und gesehen haben, ungeachtet solcher Beeinflussungen. Dass keine Manipulation ihren Eindruck ändern kann, der Arzt habe Wladimirs Logik nicht so ernst genommen wie sie als Zuschauer. Dass keine Anweisungen über den künstlerischen Gebrauch von Montage, Kamerawinkeln, Beleuchtung oder Tonaufnahmen ihre Schlussfolgerung ändern kann, dass die Patienten schlussendlich an der Behandlung von Menschen in derartigen Anstalten sterben würden. Dass selbst durch das Wissen um die absichtliche Schnittfolge der Szenen und Entscheidungen des Regisseurs die Unmenschlichkeit der Einsperrmethoden und des Verspottens der Patienten durch die Wärter, also all das, was sie im Film gesehen haben, nicht geringer wird. „Hinterlistig“ impliziert, dass etwas nicht stimmen könnte: dass Nutzer dagegen wären, mit Mitteln, die ihnen nicht bewusst sind, überredet zu werden – wenn sie es wüssten. Das weist auf eine weitere Stufe der moralischen Vereinbarung im Macher-Nutzer-Verhältnis hin. Ich spekuliere aber hier über Möglichkeiten und berichte nicht über Forschungsergebnisse. Manche Nutzer mögen durchaus hauptsächlich an der „großen“ Schlussfolgerung eines Werkes interessiert sein, für die es anscheinend genügend unmittelbare Beweise gibt. Die hinterlistigen Mittel mögen nur „nebensächlich“ sein wie die Hintergrundmusik eines Dokumentarfilms, die nur die Stimmung aufbaut. Diese Nutzer könnten sagen, die nebensächlichen Mittel helfen ihnen nur, die Botschaft zu empfangen. Sie fühlen sich nicht durch sie betrogen, sondern finden sie hilfreich, wie Leser eine gut lesbare Schrift willkommen heißen. Leser mögen ein grafisches Mittel begrüßen, das sie kaum bemerken und das zum Beispiel ein Element einer Tabelle mehr herausstellt, als es „verdient“ (durch ein Mittel, das professionelle Statistiker für irreführend halten), denn es hilft ihnen nur zu sehen, was ihnen wichtig ist. Kritiker könnten einwenden, das zeige ja gerade, wie stark sie getäuscht werden. Wer entscheidet, dass andere nicht genug wissen, um ernsthafte Fragen für sich selbst zu beantworten? Wir nehmen routinemäßig an, dies treffe auf Kinder unter einem gewissen Alter zu, wobei wir uns wohl auch in diesem Fall kaum überlegen, warum wir meinen, das Recht zu besitzen, so zu urteilen. Können wir denn annehmen, dass wir besser Bescheid wissen als Erwachsene, die lediglich weniger Spezialkenntnisse haben als wir?

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Fragen dazu, wer weniger erfahrene Nutzer schützen kann und sollte, führen uns zu Überlegungen über die Vielfalt der sozialen Organisation rund um die Herstellung und Verwendung von Repräsentationen und darüber, wie die Moralstandards erworben werden, die diese Aktivitäten umgeben. Eine Möglichkeit, diese Vielfalt zu erschließen, läge darin, nach den verschiedenen Methoden und Organisationen der Sozialisation in das Machen und Nutzen von Repräsentationen zu fragen. Manche Repräsentationen lernen wir schon, während wir aufwachsen: Wie schauen wir Filme an? Wie lesen wir Bücher? Um andere Repräsentationen wie eine komplexe statistische Tabelle oder eine technische Zeichnung lesen zu lernen, ist spezialisierte Schulung erforderlich. Viele Repräsentationen erscheinen in ganz unterschiedlicher Form, manche sind von jedem normal und gut sozialisierten Gesellschaftsmitglied lesbar, andere nur von Experten und Fachleuten. Die Schwierigkeit liegt aber nicht im Wesen einer Repräsentation, sondern hängt davon ab, was uns beigebracht worden ist. Würden alle Leute in unserer Gesellschaft wie selbstverständlich lernen, komplexe Wetterkarten zu lesen (wie zum Beispiel in einem Fischerdorf oder auf einem Luftwaffenstützpunkt), dann würde das dort zur gewöhnlichen Sozialisation gehören. An allen anderen Orten haben nur Fachleute dieselben Kenntnisse. Auch aus historischer Sicht gibt es Unterschiede. Was vor einer Generation noch als esoterisch galt, wird heute an der Grundschule unterrichtet. Umgekehrt haben heute weniger Leute die Fähigkeit, ihre Kleidung aus Schnittmustern zu schneidern, die man im Laden kauft. Früher war das durchaus üblich. Hersey argumentierte, wir müssten uns als Nutzer keine Sorgen machen, dass wir durch die journalistische Praxis, nicht alles zu berichten, was man erfahren sollte, getäuscht werden. Er meint, Leser wüssten schon, wie man sich gegen diese Art der Irreführung wehren kann. Sie schützen sich selbst, indem sie sorgfältig lesen, über anderes Material nachdenken, das die Journalisten womöglich auslassen, bewerten, was es enthalten könnte, und entscheiden, wie dieses Material ihre Meinung über die diskutierte Frage ändern könnte. Das ist eine große Verantwortung für den gewöhnlichen Leser. Sie bringt uns zurück zur Frage der Arbeitsteilung. Geben sich die Leute tatsächlich so viel Mühe? Durchschnittsleser einer Zeitung oder Zeitschrift sind wahrscheinlich nicht so sorgfältig und skeptisch (das sollten Forscher einmal erkunden und feststellen). Sie sind wohl eher wie die Studenten, die McGill befragt hat, die meinten sie müssten die Tabellen in wissenschaftlichen Artikeln gar nicht lesen, weil die Herausgeber ja schon sicher gestellt hatten, dass die Tabellen das sagen, was im Text dazu behauptet wird, und das Argument der Autoren stützen.

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Lob und Tadel: Wer und was ist gut und böse? Fast immer haben sozial- und geschichtswissenschaftliche Experten ein moralisches Urteil zu ihren Themen bereit – explizit, aber auch mehr oder weniger verdeckt. Historiker streiten nicht nur, ob der amerikanische Bürgerkrieg unvermeidlich war. Sie bestehen auch darauf festzustellen, dass er zum Beispiel nicht unvermeidlich war, und erklären damit die Menschen für schuldig, die für ihn verantwortlich waren. Hätten die Verantwortlichen anders gehandelt, wäre der Krieg nie ausgebrochen, und viele Menschen hätten ihr Leben nicht verloren. Oder sie wollen umgekehrt festhalten, dass der Krieg in Anbetracht der damaligen Kräfte und Geschehnisse unausweichlich war, und dass dieselben Leute daher keine Schuld tragen. Ende des 20. Jahrhunderts diskutierten Soziologen, Anthropologen und andere, ob arme Schwarze in den Vereinigten Staaten – von denen niemand bezweifelte, dass es ihnen in vielerlei Hinsicht viel schlechter ging als anderen Leuten – irgendwie ihren eigenen Zustand mit verschuldet hatten (ebenso wie man darüber stritt, ob europäische Juden etwas getan hätten, das sie für ihren eigenen Tod in Nazi-Vernichtungslagern mitverantwortlich gemacht hätte). Wissenschaftler und andere stritten über „die Kultur der Armut“ oder – anders ausgedrückt – „die schwarze Kultur“. Beteiligen sich Arme (oder Schwarze oder arme Schwarze) mehr oder weniger freiwillig an Abmachungen und Praktiken, die ihre Opferrolle in einem System der Ausbeutung, Repression und Unterdrückung unvermeidlich machen? Oder könnten sie ihre Situation ändern, indem sie irgendwie nicht mitmachen? Obwohl Sozialwissenschaftler scheinbar über spezifische Befunde und spezifische technische Probleme stritten, findet man hinter den Argumenten fast immer den Wunsch zu zeigen, dass etwas genau so ist, wie es sein sollte, oder überhaupt nicht, wie es sein sollte, obwohl das „sollte“ im Allgemeinen nicht ausgeführt und weiter belegt wird. Als der Student in unserem „Performing Social Science“-Kurs den Artikel über Hautfarbe und Aufwendungen für Bildung „mit Gefühl“ vorlas, brachte er diese Einstellung zum Ausdruck.

Der rhetorische Wert der Neutralität Die meisten Erzählungen darüber, was wir über die Gesellschaft wissen, versuchen neutral zu erscheinen. Dadurch vermeiden sie den Eindruck, sie würden lediglich laut schimpfen und toben und nur die schon Überzeugten überzeugen können. Sie legen Tatsachen vor und lassen die Nutzer zu ihren eigenen Folgerungen kommen. Manche Macher behalten ihre moralischen Ansichten für sich. Sie geben uns ihre Tabellen, legen das Material zum Problem vor, über das sie eine ernsthafte mora-

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lische Einstellung haben – zum Beispiel Rassendiskriminierung – und überlassen dann die Schlussfolgerung dem Nutzer. Das ist wissenschaftlicher Standard, der oft von Autoritäten empfohlen wird (zum Beispiel Ogburn 1947). Macher, die so verfahren, rechnen damit, dass alle oder die meisten ihrer Nutzer ihre moralische Position teilen. Die meisten amerikanischen Sozialwissenschaftler (jedenfalls Soziologen; es mag weniger auf andere Wissenschaften zutreffen) sind politisch mehr oder weniger liberal, wie das in Amerika heißt, also mehr oder weniger links, wie man es in der übrigen Welt versteht. Daher meinen sie, man könne gewisse Dinge als selbstverständlich voraussetzen. Wenn ich beweise, dass eine Einkommensspanne zwischen Schwarzen und Weißen besteht, brauche ich nicht zu sagen, dass das schlecht ist. Fast jeder, der es liest, wird mit mir übereinstimmen: Es ist schlecht. Die moralische Folgerung ergibt sich automatisch aus dem statistischen Resultat (das jedoch nicht logischerweise dorthin führt). Solche verschleierten Urteile erscheinen auch in anderen Formen des Erzählens über Gesellschaft. Es sind nicht nur die Sozialwissenschaftler, die eine scheinbar neutrale Position einnehmen. Haackes „Guggenheim-Projekt“ und viele andere seiner Werke verfolgen dieselbe Strategie. Sie legen mehr oder weniger bekannte Tatsachen vor, die so arrangiert sind, dass Nutzer ganz von selbst zu einer moralischen Folgerung kommen. Wisemans Filme geben den Anschein, als zeigten sie nur, was der Zuschauer sehen würde, wenn er selbst am Schauplatz wäre. In der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts (und an vielen anderen Orten) wird wissenschaftlich mit neutral gleichgesetzt. Für fast jedes öffentlich verfolgte Ziel kann man keinen stärkeren Verbündeten für seine Kampagne anwerben als die Wissenschaft, eben gerade weil man allgemein glaubt, sie sei neutral und deshalb unbeeinflusst von dem, was wir für wahr halten, sondern nur von den Resultaten unparteiischer, objektiver Forschung. Gegner, die unsere religiösen Einstellungen nicht teilen und unsere moralischen Grundsätze in Frage stellen, haben es schwer, gegen die Wissenschaft zu argumentieren, die, so die gängige Meinung, einfach sagt, was die Sachlage ist. Das stimmt auch zum größten Teil, trotz aller Kritik und der sozialkonstruktivistischen Argumente. Ich akzeptiere die meisten dieser Einwände, vertraue aber immer noch einer neutralen wissenschaftlichen Studie mehr als einem auf religiöser Offenbarung beruhenden Argument oder einer Ableitung aus moralischer Überzeugung, die ich nicht anerkenne (oder sogar dann, wenn ich sie anerkenne). Wenn ich meine Befunde und Analysen neutral und objektiv vorlege, kann ich meine moralischen Werturteile effektiv kommunizieren. Wenn Nutzer meine moralischen Voraussetzungen teilen, führt einfache Logik sie zu meinen moralischen Folgerungen. 143

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Diese etwas umständliche Verfahrensweise beinhaltet einen großen rhetorischen Vorteil: Man kann seine moralischen Urteile als Befunde einer uneigennützigen Wissenschaft vorlegen. Aber verschleierte moralische Werturteile können analytischen Ärger verursachen. Das ist ein Problem der Sprache. Wissenschaftler versuchen, neutrale Ausdrücke zu verwenden, um Phänomene zusammenzutragen, die hinreichend ähnlich sind, sodass man verifizierbare Verallgemeinerungen über ihre Ursachen finden kann. Wissenschaftler lieben eine präzise Sprache, die keine moralischen Werturteile enthält. Mediziner gehen normalerweise nicht mit Bakterien und Viren um, als seien sie moralisch verwerflich. Sie wollen wissen, wie diese Organismen funktionieren, wovon ihr Reproduktionszyklus abhängt, um sie effektiv bekämpfen zu können. Natürlich denken sie, dass Bakterien und Viren „schlecht“ für uns sind, abgetötet und ausgerottet werden müssen. Aber sie verschwenden keine Zeit damit, sie zu verdammen und zu beschimpfen. Warum nicht? Weil wir ihnen alle zustimmen, dass Tuberkulose, Syphilis und die Masern schlecht sind. Die Krankheiten und Bakterien, die sie hervorrufen, haben keine Verteidiger unter uns. (Allerdings zog George Bernard Shaw 1932 in seinem Theaterstück Zu wahr um schön zu sein, in dem ein Bazillus ein wichtiger, sympathischer Protagonist ist, ganz schön für sie zu Felde.) Daher können Wissenschaftler sie in technischer Sprache beschreiben, und niemand wird sie der moralischen Unverantwortlichkeit beschuldigen. Wenn sie jedoch die Ursachen von Lungenkrebs diskutieren und die Frage stellen, ob Zigarettenhersteller für Krebs verantwortlich sind, der sich durch das lebenslange Zigarettenrauchen entwickelt, dann hat neutrale Sprache eine moralische Konsequenz. (Und erinnern Sie sich an die Diskussion über „gutes“ und „schlechtes“ Cholesterin?) Die Sprache, in der Macher über gesellschaftliches Leben schreiben, ist immer ein Spiel, in dem moralische Werturteile ausgedrückt, nach Möglichkeit vermieden oder verschleiert werden. Es gibt ernsthafte Gründe, Beschimpfungen in der sozialwissenschaftlichen Analyse zu vermeiden, womit ich mich in Kapitel 13 bei der Diskussion über Erving Goffmans sorgfältig neutrale, analytische Terminologie befasse. Manche Repräsentationen kommen einer unvoreingenommenen, ziemlich neutralen Darstellung vollständiger und nicht interpretierter Tatsachen sehr nahe. James Agee gelang es in Let Us Now Praise Famous Men (1988), und der Romanschriftsteller Georges Perec experimentierte in diese Richtung, wie ich in Kapitel 15 diskutieren werde.

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Ursachen und Schuldzuschreibungen Sozialwissenschaftler suchen routinemäßig nach Ursachen für die Phänomene, die sie studieren. Das ist die gängigste Art zu beschreiben, was wir tun. Moralische Werturteile erscheinen oft in Form der Schuldzuweisung. Sozialwissenschaftler beschuldigen regelmäßig, indem sie darstellen, wodurch etwas geschah. Wenn wir wissen, wodurch etwas verursacht wurde, wissen wir, was sich ändern muss, um eine gesellschaftliche Konsequenz zu ändern, mit der wir nicht einverstanden sind. Wenn wir nicht mit der Situation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten zufrieden sind, sie ändern wollen und wissen, wodurch die Situation verursacht wird, dann wissen wir, was geändert werden muss, um das gewünschte Resultat herbeizuführen. Können wir X als Ursache erkennen, dann wissen wir, dass X geändert werden sollte, damit es nicht mehr die unerwünschte Folge hat. Wenn man erklärt, was etwas Schlechtes verursacht, dann beschuldigt man die Ursache für den schlechten Zustand, den man analysiert hat. Das ist aber eine irreführende und am Ende auch boshafte Denkweise. Die Rechtfertigung für diese harte Feststellung ergibt sich aus einer alternativen Denkweise über die Entstehung gesellschaftlicher Phänomene. (Für eine längere Diskussion dieser komplizierten Frage siehe Ragin 1987 und 2000 sowie Becker 1998, besonders 63ff. und 183ff.) Die Suche nach Ursachen ist irreführend, weil sie ein additives Modell davon voraussetzt, wie Dinge geschehen. Sie ist boshaft, weil sie Wissenschaftler dazu führt, die Schuld auf unvollständige und moralisch fragwürdige Weise zuzuschreiben. Angenommen, die beklagenswerte Situation der Schwarzen in den U.S.A. hat verschiedene Ursachen: krasse Rassendiskriminierung, institutioneller Rassismus, Abzug der Industrie aus den Städten, wo Schwarze wohnen, die Verbreitung der Crack-Abhängigkeit und des Crack-Handels in Gegenden, wo viele Schwarze wohnen, und so weiter. Wir könnten die Liste noch um viele andere Dinge erweitern, aber die Vollständigkeit der Liste beeinflusst nicht den Punkt, auf den ich kommen möchte. In der konventionellen Kausalanalyse beeinflusst jede Ursache die Sache, an der wir interessiert sind. In der üblichen analytischen Sprache beeinflussen die kausalen (unabhängigen) Variablen die (abhängigen) Wirkungsvariablen in einem messbaren Ausmaß. So trägt die Rassendiskriminierung zum Beispiel 10 Prozent (ich erfinde die Zahlen hier) zur schlechten Situation bei, das Verschwinden der Industrie aus den Innenstadtvierteln 30 Prozent und so weiter, bis alle Varianz in der Situation, die wir erklären wollen, von der Kombination dieser Variablen erklärt worden ist. Jede der unabhängigen Variablen allein würde schon genügen, das gesamte unerwünschte Ergebnis zu erzeugen, wäre sie stark genug, aber das ist nie der Fall. Auch jede Kombination wäre in der Lage, diese Wirkung zu haben, 145

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wäre sie stark genug. Die kausalen Variablen sind austauschbar. Um es anders auszudrücken: Man kann den Einfluss der Ursachen addieren, und jedes Ergebnis, das die richtige Gesamtsumme ergibt, erzeugt den Effekt. Die Alternative, eine multiplikative Analyse, sucht nach der „Konjunktion“ von Variablen, die das Resultat ergibt. Welche Kombination von Variablen muss bestehen, damit die Wirkung entsteht, an der wir interessiert sind? Dieser Ansatz sagt, dass jedes dieser Dinge wichtig ist. Fehlt eines, entsteht die Wirkung nicht oder nicht so, wie wir es erklären wollen, obwohl etwas anderes Unerfreuliches entstehen kann. Deswegen heißt es multiplikative Analyse. Erinnern Sie sich noch an das Rechnen in der Grundschule? Wenn man eine Zahl, irgendeine Zahl, egal wie groß sie ist, mit Null multipliziert, ist das Ergebnis Null. Analog dazu ist es hier: Wenn eine Bedingung fehlt, die für das Endergebnis notwendig ist, entsteht das Endergebnis nicht. In Bezug auf die Situation der Schwarzen in den Großstädten der U.S.A. bietet Mario Smalls Studie (2004) einer Nachbarschaft im Raum Boston dafür einen klaren und deutlichen Beleg.

Die Guten und die Bösen Das Problem entsteht auch bei nicht-wissenschaftlichen Formen, über Gesellschaft zu erzählen. Erzähler ergreifen implizit oder explizit fast immer Partei. Geschichten haben Helden und Schurken. Die Erzähler lassen uns meistens wissen, wer wer ist, entweder durch eine explizite Benennung oder durch leicht verständliche Hinweise. In Geschichten für Erwachsene erwarten wir etwas Subtilität. Der Bösewicht trägt nicht immer einen schwarzen Hut und hat nicht immer einen langen herabhängenden Schnurrbart, aber am Ende der Geschichte wissen wir, auf wessen Seite wir uns schlagen sollen. Die meisten Leute, die soziologische Forschung betreiben oder auch nur soziologische Literatur lesen, ob aus Spaß am Lesen oder beruflich (also aus irgendwelchen pragmatischen Gründen), betrachten sie als eine der „Sozialwissenschaften“ und nehmen dabei das Wort Wissenschaft oft – allerdings nicht immer – sehr ernst. Wie aus dem vorigen Kapitel ersichtlich ist, denken Nutzer, dass das, was sie lesen, nicht allein Ausdruck von jemandes Meinung sei, die aus Wunschdenken und frommen Hoffnungen besteht, sondern dass es irgendwie vom „tatsächlichen Geschehen“ in der „wirklichen Welt“ abhängig ist. Sie glauben lieber, der Bericht, den sie lesen, beruhe auf Material, das systematisch gesammelt und analysiert wurde, und die „Ergebnisse“ seien durch etwas Höheres gerechtfertigt als durch die Genialität oder die Eingebung eines Autoren.

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Nutzer wollen das alles wissen, denn was sie wirklich erfahren möchten, ist, wer an diesem Chaos die Schuld trägt, wen man für diese Ungerechtigkeiten verantwortlich machen kann. Sie wollen die Akteure in einer gesellschaftlichen Situation – die Mitglieder einer Organisation, die Gegner in einem politischen Streit, die Parteien in einem Kampf – in die Guten und die Bösen einteilen, die entweder gute Taten vollbringen oder sich schlecht verhalten. Alles beruht auf einem vereinfachten Begriff von Ursachen: Schlechte Ergebnisse werden durch böse Menschen erzielt, die Schlechtes tun. Man kann aber von den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Studie nicht unmittelbar zu solchen moralischen Urteilen gelangen. Man kann manchmal zeigen, dass diese Handlungen jene Folgen haben. (Es ist nicht leicht, aber angenommen es geht). Aber man kann aus den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung nicht unmittelbar folgern, manche Leute seien gut und hätten sich gut verhalten und andere seien schlecht und hätten sich schlecht verhalten. Man kann aufgrund eines philosophischen Arguments urteilen, dass gewisse Handlungen oder Folgen schlecht sind, und dann „wissenschaftlich“ oder empirisch darstellen, dass diese Menschen solche Handlungen vollzogen haben, die zu jenen Konsequenzen führten. Viele Leute finden das ärgerlich. Sie wollen ihre moralische Position stärken, indem sie darstellen, dass was sie missbilligen, aus wissenschaftlicher Sicht schlecht ist. Meine eigene Erfahrung bei der Mitentwicklung der „Labeling-Theorie“ der Devianz (Becker 1973) liefert ein Beispiel. Die Labeling-Theorie analysiert „Devianz“ als Resultat komplizierter, mehrstufiger Wechselwirkungen zwischen Klägern und Beklagten und einer Vielzahl an offiziellen und inoffiziellen Organisationen. Dieser Ansatz stellt gewöhnlich die konventionelle Sichtweise von Lob und Schuld und somit die Zuordnung von Akteuren zu den Kategorien der Guten und der Bösen in Zweifel, indem er zeigt, dass der Prozess der Schuldzuweisung und des Schuldbeweises ein sozialer Vorgang ist, kein wissenschaftliches Verfahren. Kritiker, die über solchen Relativismus empört sind, fragen häufig: „Und was ist mit Mord? Ist Mord nicht wirklich Devianz?“ Damit deuten sie an, dass sich zwar auf viele Handlungen verschiedene Definitionen anwenden lassen, was dem Kern unseres Ansatzes entspricht, manche Handlungen aber so abscheulich sind, dass kein vernünftiger Mensch sie jemals so definieren würde, dass die Personen oder Einrichtungen, die sie begangen haben, entschuldigt werden könnten. Es half nie, im Hinblick auf solche Anschuldigungen darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob etwa Mord im Gegensatz zu gerechtfertigter Tötung, Selbstverteidigung oder Tötung im Dienst der Nation oder der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung ist, eben eine Frage der Definition ist. Diese Kritik kam übrigens sowohl von rechts als auch von links, wobei die Rechte „traditionelle Werte“ aufrechterhalten wollte und Beispiele wie Mord und Inzest als die Killer-Gegenargumente aufführte, während 147

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Teil I Ideen

die Linke mit Verbrechen wie „Imperialismus“ und „Kolonialismus“ aufwartete, um dasselbe Ziel zu erreichen (siehe Becker 1973: 169ff.). Es ging hierbei um Folgendes: Die meisten Menschen, die an Problemen der Gesellschaft interessiert sind, möchten mehr ausdrücken, als Dinge, die sie nicht mögen, gemäß gesellschaftlichen Standards als deviant zu bezeichnen. Sie wollen sagen, dass diese gesellschaftlichen Standards der Verdorbenheit nicht nur die Standards der Gemeinschaft sind, sondern Standards, die wissenschaftlich als schlecht befunden worden sind. Die Kritiker wollten das Wort „deviant“ nicht als einfache technische Definition zulassen für „etwas, das von manchen Beteiligten in einer Situation als schlecht bezeichnet wird“. Sie wollten, dass deviant bedeutete: „schlecht, und es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es schlecht ist.“ Die Frage „Und was ist mit Mord?“ forderte mich heraus, etwas abzustreiten, das für alle einigermaßen gut sozialisierten Angehörigen unserer Gesellschaft offensichtlich ist, nämlich dass etwas wie Mord oder Inzest – von dem wir alle wissen, dass es schlecht ist – auch wirklich schlecht ist. Als ich erklärte, ich stimme zu und denke auch, dass Mord schlecht ist, und bin bereit, das zu sagen, waren sie immer noch nicht zufrieden. Ich fragte also: Warum ist es nicht genug zu sagen, dass Mord schlecht und böse ist? Was gewinnen wir, wenn wir außerdem sagen, er sei auch „deviant“? Es ist offensichtlich, was man gewinnt: die Autorität der Wissenschaft. Ein Urteil, das auf „böse“ plädiert, kann nur mit einem theologischen Argument begründet werden und ein Urteil von „schlecht“ nur mit einem ethischen Argument. Selbst Menschen, die fest in ihrem Glauben stehen, wissen, dass man Nichtgläubige nicht mit solchen Argumenten überzeugen kann. Sie wollen ein Argument, das auch mit Nichtgläubigen funktioniert, und das heißt Wissenschaft. Daran glauben wohl alle gut sozialisierten Angehörigen der Gegenwartsgesellschaften. Vielleicht genügt dieses Beispiel um zu zeigen, dass Nutzer von sozialwissenschaftlichen Berichten zwischen gut und schlecht, gut und böse, guten und schlechten Menschen unterscheiden wollen. Und die Leute, die sozialwissenschaftliche Berichte schreiben, sind zumeist nicht nur gewillt, sondern sogar begierig, diese Unterscheidung zu treffen. Man muss kein Student der Theaterwissenschaften sein, der einen wissenschaftlichen Bericht mit viel Gefühl vorliest, um zu zeigen, dass die Macher sozialwissenschaftlicher Berichte entweder schon an der Oberfläche oder mindestens knapp darunter mit moralischem Lob oder moralischen Beschuldigungen aufwarten, auch wenn sie bekunden, „objektiv“ und „wissenschaftlich neutral“ zu sein. Historiker tun dies offen und wie selbstverständlich; Kritiker tadeln sie sogar, wenn sie es nicht tun. Wie schon erwähnt, weisen sie Schuld für Kriege zu. Hätte Lincoln dies oder jenes getan, wären die Südstaatler vielleicht nicht so wütend geworden, dass sie sich abspalten wollten. Sie untersuchen den Charakter historischer Figuren. Wenn Thomas Jefferson wirklich Vater der Kinder

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seiner Sklavin Sally Hemings war, und angesichts der unbestrittenen Tatsache, dass er Sklavenhalter war, verdient er dann den Respekt, den wir ihm als Vater der Nation zollen? Viele Sozialwissenschaftler mögen sich oder ihre Arbeiten in den vorangegangenen Ausführungen nicht wiedererkennen. William Fielding Ogburn, der die Statistik in die amerikanische Soziologie einführte und die Soziologie in die amerikanische Regierung, meinte, da die Soziologie eine Wissenschaft sei, sollten Soziologen auf eine Weise neutral sein, die sich in ihren Arbeiten widerspiegelt. Er plädierte für objektive und nicht-emotionale Prosa, die aufrüttelnde oder beschwörende Worte durch präzise Begriffe mit klarer Bedeutung ersetzt (Ogburn 1947). Die meisten Sozialwissenschaftler befolgen Ogburns Rat aus Routine, ob sie es merken oder nicht. Sie schreiben immer noch über Schurken und Helden, aber meistens dadurch verschleiert, dass sie bestimmten Variablen die Rolle der kausalen Ursachen zuschreiben. Es gibt ein hervorragendes Beispiel des Genres, in dem die Etiketten von Tugend und Laster nicht versteckt sind. Stanley Lieberson schrieb A Piece of the Pie (1980), um folgende Frage zu beantworten: Wie kommt es, dass amerikanische Schwarze nicht dieselbe individuelle und gruppenbezogene Mobilität erreicht haben wie andere ethnische Gruppen? Warum gelang es den Juden und den Italienern, den Iren und den Polen, aber nicht den Schwarzen? Liegt es an der Diskriminierung oder spiegelt dieses Versagen inhärent unterschiedliche Fähigkeiten wider? Wer ist schuld an der geringen Mobilität und dem geringen sozialen Erfolg der Schwarzen? Die Schwarzen selbst, weil sie nicht gut genug sind? Oder die Weißen, weil sie den Schwarzen keine faire Chance geben? Sicher kann diese sachliche Frage auch sachlich beantwortet werden, wenn man Begriffe sorgfältig genug definiert und die verfügbaren Informationsquellen kritisch prüft. Es ist aber angesichts der Art und Weise, wie die Amerikaner über Schuld denken, zusätzlich eine moralische Frage: Liegt es an Diskriminierung, dann sind die Weißen schuld. Liegt es nicht an Diskriminierung, hat es also etwas mit den Schwarzen selbst zu tun; wenn es „ihre eigene Schuld“ ist, nun ja, Pech gehabt. Vielleicht könnten wir etwas dagegen tun, aber unsere Schuld ist es nicht. Sollten Sie Liebersons hervorragendes Buch nicht gelesen haben, will ich Sie nicht auf die Folter spannen. Die Antwort, nach einer erfinderischen und umfassenden Analyse einer Masse an einfallsreich erarbeiteten Daten, ist wie folgt: Der für die geringe Mobilität der Schwarzen verantwortliche Schurke heißt tatsächlich Diskriminierung. Es gibt keinen Zweifel. Obwohl Liebersons Prosa so wissenschaftlich gezügelt ist, wie Ogburn es sich nur hätte wünschen können, ist seine moralische Haltung vollkommen klar. Die gezügelte Prosa hat übrigens eine wichtige rhetorische Konsequenz. Sie hilft, Leser zu überzeugen, die noch unentschieden waren und sonst womöglich geglaubt hätten, der Autor, der zu diesen Ergebnissen kam, 149

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habe ein besonderes eigenes Interesse am Thema. Hätten die Daten bewiesen, dass es nicht an der Diskriminierung liegt, hätte er das genau so ehrlich mitgeteilt. Also glaubt man ihm; es gibt nichts mehr, was irgendeine andere Schlussfolgerung stützen würde. Christopher Jencks schreibt routinemäßig ebenso. Er nimmt Aussagen ernst, die liberale amerikanische Akademiker meistens zur Weißglut bringen, und unterzieht sie einer rigorosen Untersuchung. Seine Prosa ist so antiseptisch und seine Analyse so objektiv, dass er mit der nach sorgfältiger systematischer Bewertung des verfügbaren Beweismaterials vorgetragenen Schlussfolgerung, Arthur Jensens Meinung über die niedrigen Intelligenz-Scores schwarzer Amerikaner sei Quatsch (Jencks 1980), seine Leser so stark überzeugt, wie er es nicht gekonnt hätte, wenn er mit irgendwelchen konventionellen Frömmeleien darüber begonnen hätte, wie verwerflich Jensen und seine Ideen sind. Die meisten sozialwissenschaftlichen Berichte verstecken ihre Urteile sehr viel tiefer. Vielleicht sollte man besser sagen, sie routinisieren ihre Meinung so weit, dass ihr moralisches Urteil nur noch aus der Wahl des Themas erkennbar ist. Warum sollte ich die Verteilung von Menschen verschiedener Hautfarbe in den Rängen großer Organisationen untersuchen, wenn ich nicht glaube, es herrsche dort eine gewisse Ungerechtigkeit? Aber nach der Wahl des Themas darf man keine oder nur wenige moralische Äußerungen machen. Die Leser werden sie automatisch hinzufügen. Die meisten Nutzer wissenschaftlicher Abhandlungen sind zufrieden, wenn die Moral unerwähnt bleibt. Nutzer in künstlerischen Genres scheinen häufiger zu wünschen, dass moralische Entrüstung eindeutig zum Ausdruck kommt. In Kapitel 12 diskutiere ich den interessanten Fall des Schauspiels Aunt Dan and Lemon von Wallace Shawn, das sich auf provozierende Art weigert, solche Werturteile zu fällen.

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Nützliche Analysen, denen wir nicht trauen Normalerweise wollen wir, dass Berichte über die Gesellschaft sachlich korrekt sind und uns etwas Wahres mitteilen, das wir vorher noch nicht wussten. Nutzer legen gewöhnlich ziemlich großen Wert darauf, dass eine Repräsentation der Wahrheit entspricht, gleich, ob sie in künstlerischer oder wissenschaftlicher Form vorgelegt wird. Diese verallgemeinernde Aussage hat aber drei wichtige Ausnahmen. Bei drei Arten von Gesellschaftsanalyse erwarten wir nicht oder wollen wir nicht die Wahrheit. Wir wissen, dass jemand sie nur erfunden hat, dass sie nicht auf sorgfältig gesammeltem Beweismaterial beruhen. Das stört uns nicht, denn wir denken, sie würde kaum an Wert gewinnen, wenn sie ein Gegenstück in der „richtigen Welt“ hätte. Im Gegensatz zur Reaktion in unserem Performance-Kurs, als Tom über seine Tante und seinen Vater erzählte, ist es uns hier gleichgültig, ob jemand sagt: „Das ist nicht wahr“. Ihre Wirkung auf die Nutzer hängt nicht von der Wahrheit ab. Parabeln sind Geschichten, von denen wir meinen, sie beschreiben eine Art von platonischem Ideal, das unter dem versteckt ist, was wir sehen können (ich erweitere hier die Lexikon-Definition, die lautet: „Geschichte, die eine moralische Einstellung oder ein religiöses Prinzip illustriert“). Parabeln erfüllen Zwecke, die mit der Wahrheit nicht leicht oder gar nicht erzielt werden können. Ebenso beschreibt der Idealtypus, das so meisterhaft von Max Weber entwickelte und benutzte theoretische Werkzeug, nichts, was in der uns umgebenden gesellschaftlichen Welt existiert oder durch historische Studien auffindbar ist. Mathematische Modelle erzeugen einen mathematisch geprägten Idealtypus, der die Realität noch abstrakter darstellt als Webers Modelle. Niemand erwartet, irgendwo in der tatsächlichen Wirklichkeit so etwas zu finden wie die gesellschaftlichen Organisationen, deren Arbeitsweise diese mathematischen Erfindungen beschreiben. Nutzer verstehen, dass der Wert dieser drei „unrealistischen“ Repräsentationen woanders liegt als in ihrer Treue zu einem Original in der realen Welt. Stattdessen 153 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_9

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erklären sie die inneren Abläufe einer Form kollektiven Handelns, die von den historisch bedingten Details spezifischer realer Situationen verdeckt werden, obwohl sie selbst sehr detailliert sein können. Wer solche Analysen vornimmt, erstellt diese idealisierten Beschreibungen, indem er Details entfernt, die nicht unbedingt die Form haben müssen, die sie in manchen historischen Fällen annehmen, und enthüllt so die idealisierten („perfekten“) organisatorischen Mechanismen, die ein empirisches Beispiel verbirgt. Solche Repräsentationen zeigen, wie Dinge funktionieren würden, wenn sie tatsächlich so funktionieren würden, wenn die beteiligten Kräfte unbehindert durch irrelevante, belanglose Details ihre wesentliche Natur offenbaren könnten. Das Unrealistische an diesen Repräsentationen entzieht ihnen aber nicht ihren Wert oder ihre Nützlichkeit. Im Gegenteil, sowohl Sozialwissenschaftler wie auch andere Macher von Darstellungen der Gesellschaft benutzen alle diese Art von Werkzeugen.

Die Parabeln von David Antin Man kann David Antin nicht leicht einer einzigen Berufsgruppe zuordnen. Charles O. Hartman, auf dessen Kapitel über Antins Arbeit ich mich weitgehend verlassen habe, führt einige vernünftige Möglichkeiten auf, ihn kurz zu beschreiben: „Linguist, Kunstkritiker, Ingenieur, Dichter, technischer Übersetzer, Kurator, Lehrer“. Er erwähnt auch: „Antin zehrt von einem anregenden und vergnüglichen Schatz an sprachkundlichem, naturwissenschaftlichem, soziologischem und ästhetischem Denken, das einem gebildeten zeitgenössischen Geist zur Verfügung steht“ (Hartman 1991: 77). Ich bin sehr imperialistisch und möchte kluge Menschen, die interessante Arbeit leisten, immer „Soziologen“ nennen. Ich stimme also mit Hartman überein, dessen Aufzählung Soziologie beinhaltet, und behandle Antin wie einen, der seine eigenen sozialwissenschaftlichen Studien betrieb und darüber berichtete. Da er eines seiner Werke „die Soziologie der Kunst“ nannte (Antin 1976: 157ff.), wäre er wohl bereit gewesen, diese zweifelhafte Ehre zu akzeptieren. Antins Arbeit nahm die Form improvisierter „talk pieces“ an, die er mehr oder weniger aus dem Stegreif vor einem Live-Publikum vortrug, auf Tonband aufnahm und in einem ungewöhnlichen Format veröffentlichte, das Hartman knapp wie folgt beschreibt: 1. keine Groß- und Kleinschreibung; 2. keine Satzzeichen (außer Anführungsstrichen) 3. grundlos links- oder rechtsbündig; 4. Pausen, in Form von etwa sieben Anschlägen sichtbar gemacht; 5. Zeilenumbruch willkürlich;

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6. (zusätzlich in tuning [Antin 1984] ergänzt) etwas wie Absatzumbrüche; ein Teil einer Zeile geht gerade nach unten oder (wenn der vorige Zeilenteil zu lang ist) eine Dreiviertelzeile mit Leerstellen. (Hartman 1991: 86) Er hat über ein große Vielfalt von Themen gesprochen, darunter (seine Titel): „die erfindung der tatsache“, „feineinstellung“, „glücksspiel“, „immobilien“, „der randbereich“, „was es bedeutet, zur avantgarde zu gehören“ und „der preis“. „die währung des landes“ (Antin 1984: 5ff.), eine nicht sehr realistische Geschichte, erzeugt in Antins Händen eine einfühlsame, nützliche Analyse der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Organisation. Er beginnt mit der Beschreibung einiger Erfahrungen an seiner eigenen Universität, wo er Schwierigkeiten hatte, andere Professoren zu verstehen, die über erste, zweite und dritte Welten redeten, und sich wunderte, warum man ihn aufforderte, an einem Treffen über Technologie und Kunst in der Dritten Welt teilzunehmen (Kümmert sich denn irgendjemand in der Dritten Welt überhaupt, auch nur im Geringsten, um Technologie und die Künste?) Er fährt fort mit einer Unterhaltung mit einem Freund, wobei er staunt, wie viel ein Stahlarbeiter verdient, und daran denkt, wie stark der Preis einer Tasse Kaffee gestiegen ist. Er beginnt, darüber zu spekulieren, wie Handelswaren (zum Beispiel Kaffee) und Dienstleistungen (eine Taxifahrt) eine Art Standardpreis haben, an den man sich gewöhnt, und wie überrascht man ist, wenn dieser Preis dramatisch steigt, wenn zum Beispiel eine Tasse Kaffee anfängt, zwei Dollar fünfzig zu kosten statt fünfzig Cent. Er sieht ein, wie seine vagen Vorstellungen davon, wie viel ein Stahlarbeiter verdient, eine Tasse Kaffee und ein Haus kosten, miteinander verkettet sind – in einem diffusen und nicht ausgesprochenen allgemeinen Wertschema, in dem alle Teile verbunden sind und als Geldbeträge ausgedrückt werden. Dann erzählt er eine Geschichte. In der Geschichte bekommt ein Freund ein Stipendium in einem namenlosen (und wie wir weiter sehen, nicht existierenden) europäischen Land. Dort beruht das Währungssystem auf der Zweierpotenz (statt auf Dezimalzahlen wie die meisten westlichen Währungen). Die kleinste, nicht mehr im Umlauf befindliche Münze heißt unum. Er nennt alle anderen Münzen (seine sprachwissenschaftlichen Kenntnisse helfen ihm, eine plausible Reihe von Ausdrücken zu benennen) vom diplum (zwei Mal unum) zum bregma, das 1.280 mal so viel wert ist wie das unum. Aus verschiedenen Gründen sind viele Münzen nicht mehr im Umlauf, und die Leute verwenden nur sards (acht mal unum), nerors (32), slekts (64), arkts (128) und bregmas. In dem kleinen Land, eingebettet zwischen zwei umweltverschmutzenden Industrieländern, ist die Luft so schlecht, dass gereinigte Luft an Häuser und öffentliche Gebäude sowie an öffentliche Verkehrsmittel geliefert werden muss. Die Bürger müssen ebenso für Luft bezahlen wie die Menschen in den U.S.A. für 155

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Teil II Beispiele

Trinkwasser. Obwohl ein droz (drei Liter pro Minute) saubere Luft nur einen slekt kostet, summieren sich die slekt, und die Menschen zahlen einen großen Teil ihres Einkommens dafür, das Leben in ihren Häusern erträglich zu machen. Familien mit normalem Einkommen können sich nur ein Zimmer voll Atemluft leisten. Nun rechnet Antin, wie viele bregma es kosten würde, ein ganzes Haus zu belüften oder vielleicht nur einen Teil des Hauses, und er erklärt, welchen Teil seines Einkommens zum Beispiel ein Stadtplaner für die Belüftung seiner Wohnung ausgeben müsste. Er erzählt, wie sich Leute Berufe aussuchen, die ihnen ermöglichen, an Arbeitstagen die Luft zu atmen, die ihre Arbeitgeber bezahlen, während sie ihre Belüftung zu Hause ausschalten können, und warum sie aus demselben Grund ihre Kinder in einen Kindergarten schicken. Die Verbindung zwischen Gehältern und dem Preis für Luft zur Ventilation ihrer Wohnungen zwingt die Menschen zum Sparen, indem sie ihre Wohnungen teilen. „es stellte sich heraus, dass drei oder vier leute in einem zimmer die wirtschaftlichste weise war diesen ziemlich unverschämten preis für luft zahlen zu können und den bewohnern trotzdem noch einigermaßen platz zu verschaffen es führte jedoch zu einem mangel an privatsphäre, und man kann sich vorstellen welche auswirkungen das auf das gesellschaftliche leben hatte.“ (Antin 1984: 30). Und auf alles andere. Ein Telefonanruf aus einer (belüfteten) Telefonzelle kostete einen slekt, das entspricht den Kosten des dortigen Luftverbrauchs während dreier Minuten, wäre man stattdessen zu Hause. Die Fernsehgebühren (einen slekt für drei Minuten) werden danach berechnet, wie viel Luft Leute, die am selben Fernseher im selben Zimmer sitzen, einatmen würden. Das ist aber so teuer, dass die Rundfunkgesellschaften, die sonst nicht die Zuschauer hätten, die ihre Werbekunden fordern, dies bezuschussen und einen besonderen „sechseckigen“ slekt verteilen, der vizuslekt heißt und in einen Bezahlschlitz am Fernsehen passt. (Er ermöglicht mehreren Leuten im Zimmer fernzusehen, was die Einschaltquote erhöht.) Man kann ihn aber für nichts anderes ausgeben. Weil Privatheit so teuer ist – wenn zwei Leute allein sein wollen, müssen sie sich einen besonderen Luftvorrat anschaffen –, müssen junge Leute, die Sex haben wollen, besondere Maßnahmen ergreifen. Sie können einen Tank voll Luft kaufen und ihn aufs Land mitnehmen (wobei sie sich beeilen müssen, denn die Tanks sind teuer) oder das Schichtspeichersystem in Bussen ausnutzen, indem sie in geschlossenen (also privaten) Abteilen mit gesondertem Luftvorrat mitfahren. Das kostet jedoch viel mehr als das Mitfahren im öffentlichen Teil des Buses, wo die Luft viel schlechter ist. Antin zeigt, wie diese finanziellen Tatsachen des Lebens die Sprache durchdringen. Er erfindet eine unbestimmt zentraleuropäisch klingende Sprache, um diese Punkte zu verdeutlichen. Sein Freund braucht eine Weile, um zu erfassen, was die Leute in

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ihren Unterhaltungen sagen, denn er versteht nicht gleich den metaphorischen Inhalt der Geldbegriffe in gängigen Ausdrücken. Er begreift nicht, was sie mit irgendetwas zu tun haben sollten. Möchte jemand etwas als völlig wertlos beschreiben, sagt er: „na vodije twiijnii na vizuslektduvar“ (es ist noch keinen sechseckigen slekt wert). Das kommt vom sechseckigen slekt, der zu nichts taugt als zum Fernsehen. Junge Leute, die zum Sex aufs Land gehen, heißen „leute, die luft zu den bergen bringen“, und alle kichern, wenn sie das hören, denn sie wissen, was es bedeutet. Allerdings braucht Antins Freund eine Weile, das zu entschlüsseln. In der Währung dieses Landes würde eine ganze Nacht im privaten Abteil eines Busses für ein Paar 8 bregma kosten. Aber sogar ein Stadtplaner verdient nur 950 bregma im Monat, während ein Arbeiter vielleicht nur 400 oder 500 bregma verdient und ein Student nur einen Unterhalt von 100 oder 200 bregma erhält. Die Kosten für ein Paar, das zwei Nächte wöchentlich zusammen verbringt (72 bregma), könnten bis zu 75 Prozent der Studienbeihilfe oder 15 bis 20 Prozent des Einkommens eines Arbeiters ausmachen. Populäre Redensarten verkörpern diese finanziellen Realitäten. Wer einen Menschen als „unermesslich reich“ bezeichnen möchte, würde sagen, er ist tij vlazcescu mberie bregmadziu na dumobru ezadjie („reich genug, um in seinem eigenen haus sex zu haben“, also reich genug, um mindestens zwei Zimmer mit sauberer Luft zu füllen, eines für ihn und seine Partnerin, das andere für alle anderen). Kein Wunder also, dass die Sprache dieser Gesellschaft das Verb medrabregmadzian kennt, das eigentlich so viel wie „in sinnlichkeit dahinrollen“ heißt, aber laut Antin bedeutet, „die ganze nacht mit vögeln verbringen“ (1984: 35). Antin liefert eine gründliche sprachwissenschaftliche Analyse der Morphologie dieses Wortes (aufgebaut auf der Wurzel bregma, der Währungseinheit). Es bedeutet eine unmöglich große Menge Geld (bregmas). [medrabregmadzian] ist ein zusammengesetztes verb nach dem infinitiv bregmadzian das transparent aus der verbalisierenden infinitiv endung plus dem stamm bregma gebildet ist während medra eine adverbial vorsilbe ist die selbst aus zwei teilen besteht med-a das bedeutet mehr als und die zwischensilbe r ein verstärker der die vorstellung ausdrückt alle möglichkeiten zu übertreffen so dass medra bedeutete „unmöglich viele“ oder „viel“ oder einfach „zu viel“ denn in einem geschlossenen abteil eine ganze nacht lang sex zu haben, war ganz klar eine Übertreibung. 157

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Wie die Redewendungen zeigen, haben in jener Gesellschaft Ausdrücke, die mit Geld zu tun haben, alle möglichen anderen Bedeutungen eingebettet und aufgenommen, die etwas mit Luft, Privatsphäre, Sex und vielen anderen Themen zu tun haben. Die Geschichte – um Sie nicht hinzuhalten – endet tragisch. Der amerikanische Student lernt eine junge Frau des Landes kennen, die sich als Bildhauerin bezeichnet. Sie ist aber nicht, was wir uns darunter vorstellen würden (sie erzeugt keine physischen Gegenstände aus dauerhaftem Material). Sie nennt sich so, weil Bildhauer, die körperlich schwer arbeiten, von der Regierung subventionierte Luft zugeteilt bekommen, und sie möchte Solidarität mit der Arbeiterklasse bekunden. Sie ist aber ziemlich dünn und sieht wie eine Kopfarbeiterin aus statt wie eine Frau, die körperliche Arbeit verrichtet. Kopfarbeiter und körperliche Arbeiter sind Feinde. In der ersten Nacht, in der die junge Frau den Amerikaner schüchtern einlädt, mit ihr „Bus zu fahren“, wird ihr Bus von Angehörigen der Kopfarbeiter-Partei mit der Absicht gestoppt, die gefangenen Passagiere politisch zu indoktrinieren. Die Polizei kommt und bricht die Aktion ab. Im entstehenden Gerangel hält man sie für eine Kopfarbeiterin, und sie wird getötet (so denken wir jedenfalls, obwohl das nicht ganz deutlich ist). Der Amerikaner kehrt nach Hause zurück und wird natürlich von der CIA verhört. Als er ihnen die Geschichte erzählt, sind sie angewidert. Sie glauben nicht, dass der politische Konflikt des Landes seiner Beschreibung entspricht. Man sagt ihm, er habe das Geld für sein Stipendium verschwendet. Man mag erst denken, die Geschichte sei wahr. Mir ging das so. Manche der Geschichten in seinen „talk pieces“ – die so heißen, weil es sich um mündliche Improvisationen handelt – sind wahr oder klingen, als könnten sie wahr sein. („der preis“ beispielsweise erzählt den Zusammenbruch des Verhältnisses seiner Mutter in ihrem Altersheim mit einem Mitbewohner, der schließlich auszieht, weil das neue Management es ihm verbietet, die Nächte im Zimmer seiner Freundin zu verbringen. Er sagt Antin, das Heim sei besser gewesen als seine neue Wohnung, aber dort „stimme der preis“.) Die ausführlichen Einzelheiten, die Antin zur Geografie des Landes mit der Luftverschmutzung aufführt, gemeinsam mit den kunstvollen sprachwissenschaftlichen Analysen von Redewendungen in seiner erfundenen osteuropäischen Sprache überzeugen uns schließlich, die Geschichte sei zwar nicht „wahr“, aber eine Parabel, laut Lexikon eine „einfache Geschichte, die eine moralische oder religiöse [oder in diesem Fall eine soziologische, H.B.] Lektion erteilt.“ Nicht wahr zu sein, macht nicht viel Unterschied – nicht für mich, und ich glaube auch nicht für Sie – was den Wert der Analyse gesellschaftlicher Phänomene in dieser Geschichte anbelangt. Die Geschichte stellt auf klare, überzeugende Weise die komplexen Zusammenhänge zwischen allgemeinen Ansichten, Sprache,

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Klassenstruktur, Umweltbedingungen, persönlichen Beziehungen und vielen anderen theoretisch wichtigen Dingen dar. Ob wahr oder nicht, die Zusammenhänge sind so, dass sie fast überall wahr sein könnten. Nicht bezogen auf die in diesem Fall aufgeführten einzelnen Details, sondern auf eine Art und Weise, bei der die Kenntnis dieser Geschichte helfen würde. Auch wenn die Zusammenhänge nicht wahr sind, so werden sie doch mit so viel vernünftiger Logik erzählt, dass man sie fast als Richtlinien für eigene Forschung über ähnliche Themen verwenden möchte. Antin zieht nicht viele theoretische Schlüsse aus den Zusammenhängen, obwohl sie von erheblichem theoretischen Interesse sind. Nutzer müssen die Theorie aus der Geschichte und aus Antins schlaumeierhaften Bemerkungen herausquetschen, die manchmal wie der Spott eines unbedarften Trottels anmuten. Antin überlässt Nutzern sehr viel Arbeit. Er gibt uns Kategorien, Konzepte, eine Vielfalt möglicher gesellschaftlicher Tatsachen – alles Bausteine, aus denen man ähnliche gesellschaftliche Verbindungen konstruieren könnte. Es ist uns gleichgültig, dass die Geschichten nicht wahr sind, denn sie lehren uns etwas über die Gesellschaft, das wir woanders anwenden können, bei unseren eigenen Versuchen zu verstehen, was vor sich geht. Sie erklären uns, wie die Dinge aussehen würden, wenn sie so wären wie in diesem erfundenen Land mit seinen armen, nach Luft hungernden Bürgern.

Idealtypen Sozialwissenschaftler kennen den Idealtypus in der von Max Weber vorgestellten Version (Weber 1904). Als Beispiel zitierte er die Vorstellung eines Nationalökonomen über den Markt und die damit zusammenhängende Tauschwirtschaft: Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom „Markt“ abhängige Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch, wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine „Hypothese“, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. […] es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle fest159

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zustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht. (Weber 1904: 64f.; Herv. i. O.)

Man schafft einen Idealtypus durch Abstraktion aus dem Chaos der Realität, wie Weber mit seiner Idee des „Handwerks“: Man kann „die ‚Idee‘ des ‚Handwerks‘ in einer Utopie [damit meint er eine idealisierte Version, H.B.] zeichnen, indem man bestimmte Züge, die sich diffus bei Gewerbetreibenden der verschiedensten Zeiten und Länder vorfinden, einseitig in ihren Konsequenzen gesteigert zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammenfügt […] Man kann dann ferner den Versuch machen, eine Gesellschaft zu zeichnen, in der alle Zweige wirtschaftlicher, ja selbst geistiger Tätigkeit von Maximen beherrscht werden, die uns als Anwendung des gleichen Prinzips erscheinen, welches dem zum Idealtypus erhobenen ‚Handwerk‘ charakteristisch ist.“ (ebd.: 65) Weber benutzte dieses Verfahren häufig. Er beschrieb mehrere Arten von Herrschaft – charismatisch, traditionell und legal-rational – in Form von Idealtypen. In seinen Studien der Weltreligionen erwartete er nicht, reine Fälle dieser Arten von Herrschaft zu finden, und auch wir erwarten das nicht bei unserer Erforschung anderer Bereiche gesellschaftlichen Lebens. Die Typen besagen, wie die Situation wäre, wenn Menschen wirklich einem Herrscher folgen würden, weil sie meinen, er habe besondere Gaben, oder weil es immer so gewesen ist, oder weil die Regeln bestimmen, dass man dieser Person zu folgen hat. Es existiert aber keine Gesellschaft oder Organisation, und wir können auch keine solche erwarten, in der Menschen allein auf dieser Basis handeln. Weber schilderte die Bürokratie so, wie sie wäre, wenn eine Organisation tatsächlich alle Merkmale hätte, die er dem Idealtypus zurechnete: von Regeln bestimmte administrative Aktivitäten, die Arbeit wird durch vollzeitbeschäftigte Beamte verrichtet, die in einer Hierarchie stehen, und deren berufliche Laufbahn aus dem Verrichten solcher Arbeit besteht; es sind Arbeiter, die nicht selbst die Mittel und Ressourcen der Verwaltung besitzen, deren Einkommen aus einem festen Gehalt statt aus Profit oder Gebühren besteht, und so weiter. Er erwartete aber nicht, dass es in der realen Welt irgendeine Organisation mit all diesen Merkmalen gäbe (Gerth, Mills 1946: 96ff.). Forscher nutzen Idealtypen als Methode, um herauszufinden, was in dem untersuchten Fall wesentlich ist, wobei sie das historisch Bedingte und Zufällige entfernen – alles, was für die Idee, deren Wesen sie bloßlegen wollen, nicht erforderlich ist. Im Ergebnis erhalten sie Konzepte und Arbeitshypothesen, die logisch konsistent und kohärent sind, aber mit genug Beziehung zum Beobachtbaren, so dass sie immer noch für den Umgang mit empirischem Material brauchbar sind. Vielleicht hat die Stadtverwaltung, die ich untersuche, nicht alle Merkmale einer idealen Bürokratie, aber ich kann genug davon identifizieren, das mir zeigt, wo ich als nächstes suchen

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soll, welche Arten von Untersuchungen zu weiteren Entdeckungen führen und so weiter: eine Art Gedankenexperiment, bei dem man sich fragt, was geschehen würde, wenn gewisse im Idealtypus genannte Tendenzen ungehindert verlaufen würden. Dadurch können wir Spuren dieser Möglichkeiten im tatsächlichen Geschehen erkennen, wenn diese Tendenzen nur teilweise am Werk sind, weil irgendetwas in der Organisation ihre volle und ungehinderte Entfaltung einschränkt. Der Idealtypus ist nie „wahr“. Seine Wahrheit ist keine relevante Frage. Wenn Idealtypen tun, was wir wollen, dann zeigen sie uns Zusammenhänge zwischen Elementen; lassen uns sehen, wie im reinen Fall Dinge einander beeinflussen, damit wir wissen, wie sie unter weniger reinen Bedingungen in der realen Welt funktionieren. Weber sagte: „[E]s gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung.“ (Weber 1904: 67; Herv. i. O.) Es ist wie in Antins Geschichte: Was sich ereignet haben könnte, wäre möglich gewesen, wenn sich diese Dinge so zugetragen hätten, und das kann zum Verständnis dessen führen, was in einer Situation passiert, die man verstehen will. Es ist nicht wahr, aber „nützlich“, ein ganz anderer Maßstab. Ein nützlicher Typus macht uns auf Dinge aufmerksam, die in den wirklichen Fällen vorkommen, die wir untersuchen, ebenso wie Webers Typologie der Herrschaftsformen ihm half, verschiedene Arten und Weisen zu entdecken, wie kollektives Handeln in religiösen Gruppen organisiert wird. Zu sagen, ein Idealtypus zeige, wie Dinge wären, wenn sie so wären, bedeutet, dass der Macher einer solchen Repräsentation eine Reihe von Bedingungen aufstellt und ein Verfahren wählt, aus dem man folgern kann, was als Nächstes geschieht. Im reinsten Fall eines Idealtypus – einem mathematischen Modell – würde man das ein Anfangsstadium und Übergangsregeln nennen und das, was danach geschieht, als Folgezustände eines Systems identifizieren.

Mathematische Modelle Antins Geschichten zeigen beispielhaft, wie verflochten die Elemente in einer Gesellschaft sind. Weber hat die Idealtypen der Organisationen in Worten ausgedrückt. Beide machen die Realität der Gesellschaft weniger realistisch, aber verständlicher. Die reinste Version dieser idealisierenden Vorgänge ist das mathematische Modell, das den Elementen, die es enthält, numerische oder abstrakte mathematische Werte zuordnet. Modelle spezifizieren eine Population von Elementen, die Zustände, in denen sich jedes Element befinden kann, und die Operationen, die sich mit solchen Elementen durchführen lassen. Die für die Soziologie wichtigen Modell-Unterklassen zählen die anfängliche Verteilung der Elemente unter den 161

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möglichen Zuständen auf und definieren die Übergangsregeln, die besagen, wie sich Elemente zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen des gesamten Systems ändern können und wie die daraus entstehende Verteilung der Elemente auf die Zustände aussehen wird. Das mathematische Modell ist weniger detailliert als der Idealtypus und erzeugt deshalb deutlichere Ergebnisse. John G. Kemeny, J. Laurie Snell und Gerald L. Thompson umreißen ein einfaches und produktives Modell: „In manchen primitiven Gesellschaften bestehen feste Regeln in Bezug auf die Möglichkeiten des Heiratens. Diese Regeln dienen dazu, die Heirat zwischen sehr engen Verwandten zu verhindern“ (Kemeny, Snell, Thompson 1974: 451). Die Regeln bestimmen, wer einem Heiratstyp angehört (man stelle sich das wie einen Clan vor), welche Angehörigen welches Heiratstyps einander heiraten dürfen, zu welchem Typ die Kinder aus einer solchen Ehe gehören und so weiter: „Diese Regeln kann man präzise als mathematische Formel in Form einer Permutationsmatrix ausdrücken“ (ebd.). Sie definieren eine Permutationsmatrix (wie eine Tabelle mit Zeilen und Spalten) „als quadratische Matrix [wie eine Tabelle, H.B.] mit genau einer 1 in jeder Zeile und jeder Spalte und sonst lauter Nullen“ (ebd.: 453). Kennzeichnet man die Zeilen und Spalten mit den Namen der Clans, in die eine solche Gesellschaft aufgeteilt ist, dann stellen die Einsen und Nullen erlaubte oder verbotene Eheschließungen dar. Die Mathematik einer solchen Matrix besagt, wie man addieren, multiplizieren oder anderweitig rechnen kann, und die Ergebnisse zeigen die Zusammensetzung der nächsten Generation. Natürlich haben nicht alle Gesellschaften solch starre und komplexe Heiratsregeln. Selbst dort, wo es sie gibt, werden sie nur „mehr oder weniger“ befolgt. Darum ist der Nutzen eines solchen Schemas für die Untersuchung einer realen Gesellschaft begrenzt. Aber als Modell ist es sehr nützlich, denn es zeigt, welche Systemarten möglich sind, und hilft zu identifizieren, wie und wann Regeln missachtet werden sowie viele andere Dinge, die für das Studium von Verwandtschaftsbeziehungen interessant sind. Harrison White untersuchte das komplizierte Verwandtschaftssystem der indigenen Völker Australiens sowie das einer Gruppe an der Grenze zwischen Indochina und Burma, um die Möglichkeiten der Modellierung darzustellen (White 1963, insbesondere 94ff. Seine Ausführungen überschneiden sich mit denen von Kemeny, Snell und Thompson). Er folgerte: „Eindeutig vorgeschriebene Heirat [so wie sie durch die oben erwähnten Regeln bestimmt wird, H.B.] ist ein Grenzfall, ein Idealtypus. Man sollte nicht danach fragen, ob ein Stamm ein vorgeschriebenes im Gegensatz zu einem bevorzugten Heiratssystem hat, sondern danach, in welchem Maße der Stamm ein System oder eine Mischung aus Idealtypen vorgeschriebener Systeme entweder als einzelne Einheit oder als Teil eines miteinander zusammen-

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wirkenden Netzwerks von Stämmen befolgt. Es bleibt die schwierige Aufgabe, einen allgemeineren Analyserahmen zu entwickeln, in dem man sinnvoll und präzise das Ausmaß der Befolgung definieren kann […] Mir ist es nur gelungen, die Idealtypen abzuleiten.“ (White 1963: 148f.) So könnte man zum Beispiel ein mathematisches Modell entwickeln, das diese Art von Analyse für symphonische Repertoires durchführt. Hier ist mein eigenes erfundenes Beispiel von William McPhees Analyse der allgemeinen Klasse gesellschaftlicher Erscheinungen, die er als „das Überleben von Gegenständen in der Kultur“ identifiziert: Angenommen, wir sammeln, was alle Symphonieorchester in den U.S.A. in einem Jahr spielen und klassifizieren diese Werke nach nationaler Herkunft der Komponisten (es könnte auch nach Jahr der Komposition oder Geburtstag des Komponisten oder Länge des Musikstücks oder sogar nach Tonart sein). Wir entdecken, dass x Prozent der Werke von deutschen Komponisten, y Prozent von französischen Komponisten usw. stammen. (Es wird, wie bei allen Klassifikationen, Zweideutigkeiten und Problemfälle geben wie zum Beispiel bei Komponisten mit doppelter Staatsangehörigkeit. Diese müsste man etwas willkürlich definieren, aber das würde – vielleicht überraschenderweise – die Nützlichkeit des Modells nicht beeinträchtigen). Weiter angenommen, das Repertoire, immer noch durch das definiert, was alle Orchester in einem Jahr spielen, ändert sich um zwei Prozent im Jahr. Jedes Jahr werden zwei Prozent der im Vorjahr gespielten Werke abgesetzt und zwei Prozent neuer Werke hinzugefügt. Weiter angenommen, die hinzugefügten Werke unterscheiden sich in ihrer nationalen Herkunft von den gegenwärtigen Werken im Repertoire. Während das gegenwärtige Repertoire zu 30 Prozent aus Werken deutscher und zehn Prozent französischer Komponisten besteht, stammen die in diesem Jahr hinzugefügten Werke zu 25 Prozent von deutschen Komponisten und zu 15 Prozent von französischen Komponisten. Und nehmen wir noch weiter an, das Repertoire ändert sich jedes Jahr, und das neue Verhältnis bleibt zehn Jahre lang bestehen. Wie sieht die neue nationale Herkunft des Repertoires dann aus? Wem dieses Beispiel zu albern vorkommt, sollte bedenken, dass das gestellte Problem formal identisch ist mit dem Problem, wie lange es dauern würde, bis ein gewisser Prozentsatz an Frauen den Rang eines Oberst in der US-Luftwaffe erreichen würde, wenn der aktuelle Prozentsatz an Frauen x und die Austauschrate z pro Jahr wäre. Was wir über den jährlichen Wandel des Verhältnisses zwischen Komponisten verschiedener Herkunft gelernt haben, lässt sich auf jede Situation anwenden, in der feststehende Elemente verschiedener Art im feststehenden Verhältnis in gleichmäßigen Abständen ausgetauscht werden. (McPhee 1963: 26ff.)

Wie mit Webers idealen Herrschaftstypen ist es irrelevant einzuwenden, dies sei nicht die Art und Weise, wie das Repertoire der Symphonieorchester geändert wird. Das sagt die Analyse nicht aus. Sie sagt nur aus, was wahr wäre, wenn es sich auf diese Weise ändern würde. 163

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Wir würden das aus ziemlich denselben Gründen wissen wollen, aus denen wir etwas über die Idealtypen der Herrschaft oder die Idealform eines bestimmten Verwandtschaftssystems erfahren möchten: um die Dynamik zu verstehen, wie etwas geschehen kann, auch wenn es nicht so geschieht, wie es das Modell darstellt. So mag es nützlich sein zu wissen, wie eine Organisation aussehen würde, wenn sie tatsächlich eine von Weber beschriebene Bürokratie darstellte, also zum Beispiel, um sagen zu können, dass die Stadtverwaltung von Chicago – was immer sie auch sein mag – nicht diese Art von Bürokratie darstellt. Weil mathematische Idealtypen Fälle von mathematischen Formen darstellen, die bereits bekannt sind, über die viele Theoreme bewiesen und zu deren Manipulation viele Verfahren entwickelt worden sind – zum Beispiel Markow-Ketten oder Differenzengleichungen oder gerichtete Graphen –, bezieht sich alles, was über diese Einheiten bewiesen wurde, automatisch auf jede Nutzung dieser Einheit zum Zwecke der Analyse gesellschaftlicher Phänomene. Wenn ich die Funktion eines hypothetischen Verwandtschaftssystems als Markow-Kette darstelle („ein Zufallsprozess, dessen zukünftige Wahrscheinlichkeiten nur durch die aktuellen Werte bestimmt werden“, Weisstein o. J.) und wenn ich die richtigen Verbindungen hergestellt habe – zum Beispiel die Varianten der Clanzugehörigkeit erkenne und die Regeln der Heirat innerhalb der eigenen Sippe sowie die Häufigkeit ihres Vorkommens spezifiziere –, dann trifft alles, was über Markow-Ketten bekannt ist (und das ist viel), logischerweise auch auf das System zu, das ich beschrieben habe. Wenn ich die Beziehungen zwischen Menschen in einer Organisation als Netzwerk beschreibe, dann steht mir alles, was über gerichtete Graphen bewiesen wurde, auch als Ergebnis über die von mir untersuchte Organisation zur Verfügung, ohne dass ich weitere empirische Forschung betreiben muss. Die Logik der Mathematik garantiert die Richtigkeit dieser Resultate. Natürlich nicht empirisch. Noch einmal: Es kommt nicht darauf an, ob ein solches Verwandtschaftsverhältnis in der realen Welt existiert oder ein von mir beschriebenes Verwandtschaftssystem in Wirklichkeit nicht so funktioniert. Das Modell macht klar, was passieren würde, wenn es so passieren würde. Und das ist ein sehr nützliches Wissen. Thomas Schelling (1978) verwendete diese Eigenschaft, um ein weiteres Geschenk des mathematischen Denkens an Sozialwissenschaftler zu beschreiben. Viele Dinge, die uns interessieren, sind definitionsgemäß wahr. Sie sind, was Mathematiker „Identitäten“ nennen: Die Ausdrücke auf der linken Seite der Gleichung entsprechen dem Wert der Ausdrücke auf der rechten Seite. Schelling nennt einige einfache Beispiele: Die Anzahl der Verkäufe auf einem Markt muss der Anzahl der Käufe entsprechen. Man kann etwas nicht verkaufen, wenn es niemand kauft, und man kann etwas nicht kaufen, wenn es niemand verkauft. Das ist offensichtlich, aber viele Beispiele sind nicht so leicht erkennbar. Ich zitiere eines ausführlich:

9 Parabeln, Idealtypen und mathematische Modelle

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Oft interessieren wir uns für das Verhältnis zwischen zwei Populationen an verschiedenen Standorten. Ein Beispiel: Ein Dutzend Wohnheime und eine Studentenpopulation, die zu drei Vierteln männlich ist. Viele Kombinationen sind möglich, die alle einer zahlenmäßigen Grenze unterliegen. So besteht zum Beispiel ein einziges Verhältnis, das für alle Wohnheime gleich gelten kann: 3:1. Es gibt eine einzige Möglichkeit, die Männer und Frauen so zu verteilen, dass alle Frauen in Wohnheimen sind, in denen die Hälfte Männer sind: Sechs können halb und halb belegt sein, in den anderen sechs sind nur Männer. Wenn zwei Wohnheime nur Frauen enthalten, müssen die Verhältnisse in den anderen zehn durchschnittlich 9:1 sein. Genau zwei Wohnheime können halb und halb belegt sein, wenn zwei nur Frauen enthalten. Und so weiter. Das Prinzip gilt für Studienanfänger, schwarze Studenten, verheiratete Studenten und jede andere Gruppe. Wenn die schwarzen Studenten ein Zwölftel aller Studenten bildet, können sie alle in einem Wohnheim, 50:50 in zwei Wohnheimen oder im Verhältnis 1:3 in vier Wohnheimen sein. Es ist unmöglich, dass Weiße im Durchschnitt mit mehr als einem von zwölf Schwarzen wohnen. Auf kleinerer Basis spielt die Unteilbarkeit von Menschen eine Rolle. Auf Viererzimmer verteilt kann niemand weniger als 25 Prozent der Bewohner ausmachen. Wenn Schwarze ein Zwölftel der Bewohner ausmachen, können nur drei Elftel der Weißen einen schwarzen Zimmergenossen haben. Wenn jeder Schwarze einen schwarzen Zimmergenossen bevorzugt und die Weißen ebenso denken, dann ist das einzige akzeptable Verhältnis zwei zu zwei, wobei zehn Zwölftel der Zimmer nur Weiße beherbergen. Dasselbe gilt für Krankenhausstationen, Militäreinheiten und im Extremfall für Streifenwagen der Polizei mit Zwei-Personen-Besatzung, bei denen nach dem Prinzip der [Rassen-]Integration alle Autos 50:50 besetzt sind, niemand mit einem Partner seiner eigenen Hautfarbe fährt. (Schelling 1978: 58f.; Einfügung d. Übers.)

Es gibt bei diesen Folgerungen nichts zu kritisieren. Man braucht keine Daten zu sammeln; sie ergeben sich durch einfaches Rechnen. Das macht sie aber nicht offensichtlich: „Es ist erstaunlich, wie viele Stunden in Ausschusssitzungen damit verbracht worden sind, Frauen und Männer in Wohnheimen zu mischen, oder Schwarze und Weiße, Studienanfänger und Fortgeschrittene, mit dem Ergebnis, dass das einfache rechnerische Prinzip verletzt wurde, dass – wie immer man sie auch verteilen mag – die Zahlen in allen Wohnheimen zusammen die Zahlen ergeben müssen, die tatsächlich vorhanden sind.“ (Schelling 1978: 59).

Es ist nicht wahr. Na und? Merkwürdigerweise (es scheint merkwürdig, bis man auf angemessen abstrakte Weise darüber nachdenkt) haben Antins Geschichte und ähnliche als Parabeln verfasste Analysen viel mit mathematischen Modellen gemeinsam, die wiederum Webers Idealtypus entsprechen. 165

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Aus welchem Grund? Antins Geschichte ist erfunden. Das Land, das er beschreibt, gibt es nicht. Die Geschichte, die er erzählt, hat sich nie ereignet. Auch die mit Webers Idealtypus beschriebene Bürokratie existiert nicht, und keine Auswahl von Symphonieorchestern plant ihre Programme Jahr für Jahr so präzise, wie es mein erfundenes mathematisches Modell beschreibt. Modell und Idealtypus sind ebenso Fiktion wie Antins Erzählung. Alle drei haben auch gemeinsam, dass sie analytisch sind. Sie zerlegen wirkliche Situationen, um ihre wichtigen Bestandteile zu finden und zeigen dann in Form eines Modells, wie sich diese Komponenten gegenseitig beeinflussen und voneinander abhängen. Aber Geschichten, Typen und Modelle unterscheiden sich auch substantiell voneinander, und die Unterschiede sind lehrreich. Mathematische Modelle stellen die analysierten Beziehungen auf eine Weise dar, die zugleich präzise und abstrakt ist (Eigenschaften, die nicht notwendigerweise zusammen auftreten). Sie funktionieren metaphorisch und vergleichen die konkreten gesellschaftlichen Phänomene, die sie modellieren, mit einem abstrakten mathematischen Objekt (so wie wir Entfernungen berechnen, indem wir sichtbare Orte und Sterne mit dem abstrakten Gebilde eines Dreiecks vergleichen), und schließen von den Eigenschaften abstrakter Objekte auf die Eigenschaften des spezifischen Gegenstands, den wir untersuchen. So beschreiben Kemeny, Snell und Thompson die Heiratsregeln einer Gesellschaft als Auswirkung – modelliert als Permutationsmatrix – der sieben Axiome eines Verwandtschaftssystems, das Kindern eine Gruppenzugehörigkeit zuweist und die Heirat zwischen manchen Gruppen vorschreibt und zwischen anderen verbietet. Interessanterweise zeigt ihre Analyse, dass die Anzahl der möglichen Systeme sehr begrenzt ist, wenn Menschen tatsächlich so handeln, wie es das System bestimmt. Die in einem solchen Modell analysierten Beziehungen sind notwen­digerweise „wahr“. Wenn die Spezifikationen des Systems zutreffen, folgen die Ergebnisse automatisch, ebenso wie die Summe der Quadrate über beiden Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks notwendigerweise dem Quadrat über der Hypotenuse entspricht. Das ist einfache, unausweichliche geometrische Logik. Das Modell erhebt jedoch nicht den Anspruch, dass irgendetwas in der Welt so ist. Es sagt nur, dass dies geschehen würde, wenn irgendetwas so wäre. Da aber kaum eine menschliche Handlung irgendeiner dieser mathematischen Gebilde sehr nahe kommt, haben die Anbieter von Modellen ein Problem. Obwohl Modelle nicht wahr sein müssen, wird oft verlangt, dass sie tatsächlichen gesellschaftlichen Erscheinungen, an denen wir interessiert sind, „ähnlich“ sind. Zwar können wir darstellen, wie ein abstraktes Objekt hergestellt werden kann. Doch je mathematisch präziser, sauberer und eleganter es ist, desto weniger sagt es über die Dinge aus, die wir modellieren wollen. Es liegt jedoch zum Teil an unserem Einfallsreichtum, Gemeinsamkeiten zu finden. Ich verliere die Hoffnung nicht,

9 Parabeln, Idealtypen und mathematische Modelle

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unter anderem weil die anderen beiden Versionen „unrealistischer“ Repräsentationen so erfolgreich sind. Der Idealtypus, der dieser Kritik weniger ausgesetzt ist, sieht sehr wie die Wirklichkeit aus. In jeder staatlichen Behörde finden wir Akten, wie Weber sie beschrieben hat. Zwar können sie auf der Festplatte eines Computers liegen, aber es sind Akten mit der Funktion, die ihnen Weber zugeschrieben hat. Und die Beamten sind gewöhnlich in der Lage, ein Beschäftigungssystem zu beschreiben, das viele der Merkmale hat, die Weber den Laufbahnen und Beschäftigungsverhältnissen in bürokratischen Systemen zuschrieb. Die Beziehungen zwischen den Elementen eines Idealtypus sind nicht unbedingt wahr, haben aber eine Art von Verbindung in der menschlichen Logik. Wir können sehen und verstehen, wie diese Eigenschaften zusammen­w irken, wie die Existenz von Akten zu einer gewissen Vorhersehbarkeit von Handlungen führt. Trotzdem sind diese Beziehungen nicht logisch zwingend wahr. Sie haben zwar etwas mit der wirklichen gesellschaftlichen Welt zu tun, sie sind aber nicht genau so – nicht wie eine wirkliche Bürokratie, sondern wie Dinge, die wir für Bürokratie halten. So kann es geschehen, dass Modelle nicht zu den Beziehungen passen, für die sie gedacht sind. Bei der Beurteilung eines solchen Modells können wir uns auf unsere eigene Erfahrung mit „solchen“ Situationen und Organisationen beziehen und dann sehen, ob das Vorgeschlagene sinnvoll ist oder nicht. Antins Erzählung ist ziemlich konkret, obwohl er alles erfunden hat. Er will uns helfen, den Geldwert von Dingen zu erkennen, und zeigen, wie unsere volkstümliche Auffassung davon in die Sprache eingedrungen ist. Er möchte, dass wir verstehen, wie eine Umweltsituation jeden Lebensbereich berühren kann. Schlechte Luftqualität kann zum Verlust der Privatsphäre führen, wodurch Menschen gezwungen werden, in öffentlichen Einrichtungen miteinander zu schlafen; wie ein System der Rationierung von Luft je nach Härte der Arbeit – gewiss ein gerechtes und vernünftiges System – dazu führen kann, dass Bildhauer als „Arbeiter“ gelten, aber Maler und Schriftsteller nicht, und wie das wiederum zu politischen Konflikten führen kann, bei denen sogar eine Freundin getötet wird. Die Einzelheiten in Antins Geschichte sind überzeugend, auch wenn wir erkennen, dass sie nur erfunden sind. Die sprachlichen Auswirkungen, die er für uns analysiert, mit allen dazugehörigen technisch-linguistischen Beobachtungen, klingen gut genug, um wahr zu sein, obwohl man eine bekannte Sprache auf Ähnlichkeiten untersuchen müsste um herauszufinden, warum das der Fall ist. Antins Erzählung braucht nicht – wie Webers Idealtypus – irgendetwas Wirkliches zu verkörpern, und die Regelmäßigkeiten, auf die er hinweist, haben keine abstrakte Form. Vielmehr werden sie als spezifische Gegebenheiten einer spezifischen 167

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umweltbezogenen und politischen Situation und Sprache dargestellt. Wir brauchen nicht zu glauben, dass es das irgendwo gibt, aber wir glauben es wahrscheinlich doch. Alle diese unwahren, aber trotzdem nützlichen Analysen kommen irgendwelchen Arten von Nutzern zugute. Mathematische Modelle werden für die relativ kleine Anzahl an Soziologen und Anthropologen gemacht, die genug technische Kenntnisse und Interessen haben, dass sie sogar selbst solche Modelle entwickeln könnten, aber sie finden auch unter spielerischen Dilettanten wie mir Aufnahmebereitschaft. Idealtypen gehören inzwischen zur Standardausrüstung in der Soziologie. Sie werden von vielen Sozialwissen­schaftlern und in anderen Disziplinen angewendet, obwohl ich glaube, relativ wenig Leute entwickeln neue für ihre eigenen Zwecke, wie Weber es damals getan hat. An Parabeln müssen sich viele Soziologen erst noch gewöhnen. Ich glaube nicht, der Einzige zu sein, aber wir sind gewiss eine kleine Gruppe – vielleicht nur die Leute, die bei einer von Antins Aufführungen seiner „talk pieces“ dabei waren. Ich glaube, sie vermitteln eine Denkweise, die Soziologen in Betracht ziehen sollten, die ihnen viel nützen könnte. Sie erinnert uns daran, dass die Wahrheit eine große Sache ist, aber eben nicht die einzig wichtige.

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Diagramme: Mit Zeichnungen denken 10 Diagramme: Mit Zeichnungen denken

Datenbilder Der Technikhistoriker Eugene S. Ferguson betonte in seinem aufschlussreichen Artikel The Mind‘s Eye: Nonverbal Thought in Technology (Ferguson 1977) die visuellen Komponenten des Denkens. Er zeigte darin, wie Technikentwickler und Wissenschaftler Bilder und Diagramme statt Wörter und Zahlen benutzen, um Ideen und Möglichkeiten darzustellen. Schon lange haben Erfinder und Ingenieure Bilder verwendet um zu durchdenken, wie Maschinen arbeiten, und sie haben sich gegenseitig ihre Ergebnisse in bildlicher Form vorgestellt. Die Explosionszeichnung einer Maschine zeigt dem Fachmann alles, was er braucht, um zu verstehen, welche Beziehungen zwischen den Teilen bestehen, wie die Elemente einander ergänzen, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, und wie man eine solche Maschine selbst herstellen kann. Ein Großteil des kreativen Denkens der Designer unserer technologischen Welten ist nonverbal, nicht leicht auf Worte reduzierbar; seine Sprache ist stattdessen ein Objekt oder ein Bild oder eine geistige bildliche Darstellung. Aus solchem Denken sind die Uhr, die Druckerpresse und das Schneemobil entstanden. Technikentwickler, die ihr nichtsprachliches Wissen direkt in Gegenstände (wie die von einem Handwerker entworfene amerikanische Fällaxt) oder in Zeichnungen verwandelt haben, die anderen ermöglichten, das zu bauen, woran sie gedacht haben, wählten dadurch die Gestalt und viele Eigenschaften unserer von Menschenhand geschaffenen Umwelt aus. Dieser intellektuelle Teil unserer Technologie, der weder verschriftlicht noch wissenschaftlich begründet ist, blieb im Allgemeinen unbeachtet, denn sein Ursprung liegt in der Kunst statt in der Wissenschaft. Da der wissenschaftliche Bestandteil des technischen Wissens im 19. und 20. Jahrhundert beachtlich zugenommen hat, waren wir geneigt, die zentrale Rolle des nichtsprachlichen Wissens in den „großen“ Entscheidungen über Form, Anordnung und Textur zu übersehen, welche die Funktionsparameter des Systems bestimmen. (Ferguson 1977: 835) 169 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_10

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Soziologen arbeiten nicht mit Maschinen. Das, was sie untersuchen, ist deswegen nicht so leicht zu zeichnen wie das Ineinandergreifen von Zahnrädern oder die Rotation einer Achse. Zumeist gibt es nur Bilder, die darstellen, was Michael Lynch unfreundlich, aber richtigerweise „Bilder von nichts“ genannt hat: „die Skizzen, Diagramme und tabellarischen Reihen in theoretischen Argumenten“ (Lynch 1991: 2). Er illustrierte es mit einer von Ralph Turner konstruierten „schematischen Darstellung“ zur Beschreibung von Harold Garfinkels implizitem Modell des Accounting, in der Ausdrücke wie „Fähigkeit der Sprachnutzung“ und „deliberative Fähigkeiten“ mit anderen Bezeichnungen wie „Fähigkeit zur Indexikalität“ und „Wissensvorräte“ (in der Regel durch Pfeile mit zwei Spitzen) verbunden sind. Manche der Pfeile sind mit Ausdrücken wie „die kontextualisierte Interpretation von Gesten aktiviert“ markiert. Lynch beschreibt dieses und andere Theoriebilder als „geordnete Ansammlungen nominaler, durch kausale oder quasi-kausale Vektoren verbundener Faktoren“ (ebd.: 3). Solche Bilder geometrischer Figuren mit Wörtern, die durch Pfeile mit zwei Spitzen verbunden werden, welche in beide Richtungen laufende Kausalitäten anzeigen, sind in soziologischen Schriften häufig. Die Begriffe in den Figuren bezeichnen fast immer abstrakte Konzepte wie zum Beispiel „Gesellschaft“, „Kultur“ und „Persönlichkeit“. Diese Bilder erzeugen, was Lynch „Eindruck von Rationalität“ und „rhetorische Mathematik“ nennt – so lauten seine aparten Ausdrücke für: absolut gar nichts. Er stellt solche Bilder jenen Bildern gegenüber, die eine deutlichere Beziehung zu einer Art geteilter Realität haben. Ich erwähne Lynchs Analyse, um diese leeren „Theoriebilder“ von anderen Bildern zu unterscheiden, die eine klarere Beziehung zu einer empirischen, von Wissenschaftlern untersuchten Realität haben, und deren Zweck es ist, die oben erwähnte wichtige Aufgabe der Zusammenfassung von Details zu erfüllen. Wer in Details ertrinkt, erzielt keine soziologischen Befunde. Unverdaute Details, die zu nichts führen, langweilen den Leser nur. Details des täglichen Lebens zu ignorieren, führt zu abstrakten Konzepten, deren Beziehung zur gesellschaftlichen Realität, die sie erklären sollen, niemanden überzeugt. Wir brauchen Methoden für die Darstellung von so vielen Daten wie der Nutzer handhaben kann, und zwar auf eine Weise, die diese Handhabung einfach und verständlich macht – wie die Vermittlung durch die von Ferguson beschriebenen technischen Zeichnungen. Soziologen könnten daher versuchen, die Funktion der soziologischen Maschinen, die wir studieren, ebenso unmittelbar begreiflich zu machen wie die technische Zeichnung einen Motor erklärt. Dieses Kapitel hat ein bescheidenes Ziel: Ich möchte Lesern einige Möglichkeiten zeigen, die nützlich sein könnten. Diese bescheidenen Möglichkeiten erfordern

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keine geheimnisvollen Künste. Sie bedeuten etwas mehr Arbeit für Nutzer, aber sie zahlen sich durch besseres Wissen und Verständnis aus. In manchen klassischen Werken der Soziologie sind Zeichnungen und Diagramme fantasievoll verwendet worden, um kompliziertes Material darzustellen, dessen Darstellung als Text sehr viele Worte erfordert hätte und viel schwerer zu verstehen gewesen wäre. Diese „Datenbilder“ (im Gegensatz zu Lynchs „Theoriebildern“) geben ihre Bedeutung nicht auf den ersten Blick preis, so wie es John Tukey von einer guten statistischen Grafik forderte. Obwohl die wichtigsten Punkte auf einen Blick erkennbar sind, brauchen die Bilder mehr Arbeit, bevor sie ihre volle Bedeutung zu erkennen geben. Dies wirft wieder ein grundsätzliches Problem von Repräsentationen auf: Viele Nutzer wollen diese zusätzliche Arbeit nicht leisten. Das Gleichgewicht zwischen Innovation und Standardisierung zu finden, ist ein Problem der Art von Bildern, die ich als hilfreich empfinde. Benutzen wir ein Standardformat, um unsere Daten darzustellen, verlieren wir eine Menge an spezifischen Informationen, die helfen würden, das Wissen zu erklären, für das in Standardformaten kein Platz ist. Nutzer, die das Format gut kennen, mögen das Beweismaterial nicht anschauen, das wir ihnen geben, wie die Studenten, die McGill befragte und die die Tabellen in den gelesenen Artikeln nie beachteten. Erfinden wir jedoch mit jeder Aussage ein neues Format, dann riskieren wir die Abwanderung von Nutzern, die sich nicht die Mühe machen wollen, die Zusammenhänge herauszufinden. Sie wollen die in den Listen der Namen und Positionen von Haackes „Guggenheim-Projekt“ versteckten Beziehungen nicht selbst entdecken. Ein Soziologe beklagte sich über Haackes Werk: „Es hat keine Schlussfolgerungen! Wenn der Mann etwas zu sagen hat, dann soll er es doch tun und nicht meine Zeit verschwenden!“ Selbst wenn der erforderliche Aufwand minimal ist, denken Viele, es sei wie der Versuch, die Botschaft von Talcott Parsons zu entschlüsseln, und lassen es bleiben. Sie stellen die Kosten-Nutzen-Rechnung auf, die Harvey Molotch beschrieben hat, glauben nicht, dass sich die Anstrengung lohnt, und ärgern sich über die „extra“ Mühe, die das Werk ihnen abfordert. Mit anderen Worten, wenn das Bild nur für die eine Aufgabe gemacht ist, wird es fremd sein, und die Nutzer werden den zusätzlichen Aufwand scheuen, der zum Verständnis erforderlich ist. Ist es aber ein Standardformat, dann bietet es schon beinahe qua Definition keinen Platz für die idiosynkratischen Details eines bestimmten Falls. Natürlich ist nicht jeder Fall vollkommen einmalig – als Soziologen glauben wir ja, dass es irgendwo Gesetzmäßigkeiten gibt –, aber die Merkmale des Einzelfalls werden sozusagen in seinem eigenen Dialekt ausgedrückt. Bei der Übersetzung aus dem Dialekt in die Standardsprache gehen nicht nur die Nuancen verloren, sondern vielleicht auch echte Substanz. 171

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Ich betrachte jetzt einige klassische Datenbilder um zu sehen, was ihre Schöpfer mit welchem Ergebnis taten, dabei konzentriere ich mich auf Tatsachen und Prozesse, die mit hierarchischen gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängen. Dabei habe ich ein Vorurteil: Bilder wie diese sind eine Ressource, die darauf wartet, genutzt zu werden. Mehr als irgendwo anders in diesem Buch bin ich in diesem Kapitel auf Bekehrung aus.

Klasse, Kaste und Netzwerke Der soziologische Klassiker Deep South (Davis, Gardner, Gardner 1941) berichtet über soziale Ungleichheit innerhalb und außerhalb ethnischer Gruppierungen in der Kleinstadt Natchez im US-Staat Mississippi in den 1930er Jahren. Das farbige Ehepaar Allison und Elizabeth Davis und die weißen Eheleute Burleigh und Mary Gardner wohnten zwei Jahre dort, tauchten vollständig in das gesellschaftliche Leben ihrer jeweiligen Klassen und Kasten ein und untersuchten gründlich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekte des Klassen- bzw. Kastensystems. Das Buch ist eine bemerkenswerte Studie, die erneut „interessant“ wurde, nachdem sie von Experten der Netzwerkanalyse als früher Vorläufer ihrer Disziplin entdeckt wurde (Freeman 2003). Manche der interessanten Diagramme und Tabellen im Buch behandeln das Klassensystem der weißen Kaste, wie es sich im familiären und gesellschaftlichen Leben manifestierte (Davis, Gardner, Gardner 1941: 59ff.). Diese, sowie andere mit dem Anthropologen W. Lloyd Warner verknüpfte Studien sind kritisiert worden, das Eigentum an Produktionsmitteln und die das gesamte Gesellschaftssystem tragenden wirtschaftlichen Ungleichheiten nicht genügend berücksichtigt zu haben. Diese Kritik trifft aber auf Deep South nicht zu, denn Teil 2 (ebd.: 259ff.) untersucht akribisch die wirtschaftliche Basis jener Gesellschaft, das System der Baumwollproduktion und seine wirtschaftlichen und politischen Folgen. Das Thema des Buches ist „Klasse“ in der speziellen Bedeutung, die die Autoren dem Begriff gegeben haben: „In unserem Sinn ist ,soziale Klasse‘ die größte Menschengruppe, deren Angehörige eng vertrauten Umgang miteinander pflegen. Eine Klasse besteht also aus Familien und gesellschaftlichen Gruppierungen. Die Beziehungen zwischen diesen Familien und Gruppen bei ungezwungenen Aktivitäten wie gegenseitigen Besuchen, Tanzveranstaltungen, Empfängen, Teegesellschaften, aber auch bei größeren informellen Angelegenheiten, bilden die Struktur einer gesellschaftlichen Klasse. Eine Person gehört jener gesellschaftlichen Klasse an, mit der sie den meisten vertraulichen Umgang pflegt“ (Davis, Gardner, Gardner 1941: 59). Die Autoren erklären, wie sie die sozialen Klassen kennenlernten:

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Die sowohl weißen als auch schwarzen Forscher wurden in die Feinheiten des Klassenverhaltens eingeführt, während man ihnen zugleich beibrachte, wie man mit Personen anderer Kasten umzugehen hatte. Ob es darum ging, eine Einladung zu einer Party anzunehmen, zu entscheiden, ob man eine Familie besucht, oder einen Kirchgang zu planen – die teilnehmenden Beobachter wurden von Leuten mit relativ hohem gesellschaftlichem Status innerhalb ihrer jeweiligen Kaste „adoptiert“ und in den wichtigen Fragen des „Wer“ und „Wo“ beraten. Bestimmte Leute hatte man nicht als Gleichwertige, sondern als Untergeordnete zu behandeln. An gewissen Orten „konnte man es sich nicht leisten“, gesehen zu werden, „Spaß zu haben,“ oder gar am Gottesdienst teilzunehmen, ohne an Status einzubüßen. Das ging nur zum Zweck der Forschung. (ebd.: 59)

Die Autoren legen dar, wie sie hörten, dass Leute ihre Mitbürger mit stereotypen Ausdrücken wie „führende Familien“, „feine alte Familien“, „die Vierhundert“, „die bessere Gesellschaft“ beschrieben oder als „einfache Leute“, „nette, anständige Leute“, „gute, aber nichtssagende Leute“, „arme Weiße“, „Red Necks“ usw. bezeichneten (ebd.: 60). Den systematischen Charakter dieser Benennungen analysierten sie als eine Hierarchie aus drei sozialen Klassen, die jeweils wieder in ein „oberes“ und ein „unteres“ Segment aufgeteilt waren. „Die Weißen beziehen sich nicht nur häufig auf diese Gliederungen ihrer eigenen Kastengruppe, sondern sie denken auch im Rahmen einer sozialen Hierarchie, in der manche Menschen ‚oben‘ und manche ‚unten‘ stehen. Dabei betrachten sie manche Menschen als ,gleichrangig‘, manche als ,über‘ und andere als ,unter‘ ihrem eigenen Stand. Sie benutzen wiederkehrende Ausdrücke wie ,er steht nicht auf unserer sozialen Stufe‘, ‚sie ist nicht wie wir‘, ,sie sind einfach niemand‘, ,diese Leute gehören zu den ganz hohen Schichten‘ oder ,sie sind weiter nichts als weißer Abschaum!‘ […] Die Leute sind gewohnt, gemäß dieser Auffassung von ihrem eigenen ,Platz‘ und von der sozialen Stellung anderer in der Gesellschaft zu handeln“ (ebd.: 60f.). Das Buch enthält 26 Diagramme verschiedener Art, die Schlussfolgerungen über und Belege für dieses System ungleicher Teilhabe an der Gesellschaft darstellen. Ich mache ein paar Bemerkungen zu einigen dieser Diagramme und empfehle Ihnen, das Buch zu lesen und sich mit der gesamten darin dargestellten Vielfalt zu befassen. Die Autoren stellten sofort fest, dass zwar alle in der örtlichen Gesellschaft lebenden Menschen diese sozialen Gliederungen mehr oder weniger erkannt hatten, dass sich das Klassensystem und die von ihnen erkannten Segmente jedoch nach der Stellung richteten, die sie selbst darin einnahmen. Die Autoren präsentieren ihre Analyse dieser unterschiedlichen Klassenperspektive in einer Abbildung, die sie „Die sozialen Perspektiven der gesellschaftlichen Klassen“ nennen (Davis, Gardner, Gardner 1941: 65). Ein kurzer Blick führt unmittelbar zu der Folgerung: Obwohl jede Gruppe eine etwas andere Ansicht von dem System hat, widersprechen die verschiedenen 173

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Ansichten einander nicht. Bei längerer Betrachtung bestätigen sich zwei weitere noch interessantere Folgerungen: Während die Angehörigen aller Klassengruppen erkennen, dass es Klassen über und/ oder unter ihnen gibt, je größer die soziale Distanz zu den anderen Klassen, desto weniger deutlich werden feinere Unterschiede gemacht. (ebd.: 71)

Und: Obwohl der Einzelne sehr deutlich erkennt, dass es Gruppen unmittelbar über und unter seiner eigenen gibt, ist er sich gewöhnlich nicht über den sozialen Abstand bewusst, der zwischen seiner eigenen und diesen benachbarten Gruppen eingehalten wird. So sieht der Einzelne in allen Fällen außer der oberen Unterklasse nur einen minimalen Abstand zwischen seiner Klasse und den benachbarten Klassen. Das wird durch gestrichelte Linien dargestellt […] Generell visualisieren die Leute die Klassengruppen über ihnen weniger deutlich als die unter ihnen; meistens minimieren sie soziale Unterschiede zwischen sich selbst und denen weiter oben. (ebd.: 71f.)

Schaut man sich die Abbildung 10.1 genauer an, merkt man, dass sie das und noch mehr vermittelt. Sie ist eine effiziente Art, komplizierte Schlussfolgerungen und deren tragende Einzelheiten darzustellen. Man muss sie allerdings sorgfältig lesen. Die Autoren hinterlassen viel Arbeit für Nutzer, die Dinge überprüfen oder Implikationen für ihre eigenen Überlegungen ermitteln wollen. Eine Reihe von Diagrammen zeigt die Analyse der „sozialen Cliquen in der weißen Gesellschaft“ (ebd.: 137ff.). Vorbereitende Diagramme (Abbildungen 3 und 4, 148f., letztere hier als Abbildung 10.2 dargestellt) zeigen gesellschaftliche Events auf der horizontalen Ebene und Namen von Frauen auf der vertikalen: ein X bedeutet, dass die entsprechende Frau an der Veranstaltung teilgenommen hat. Mit etwas Mühe sieht man, wer mit wem und wie oft teilgenommen hat. Miss Thelma Thompson und Mrs. Sophia Harris nahmen an allen neun Veranstaltungen teil. Miss Kathleen Mills nahm an allen Veranstaltungen mit Ausnahme von dreien teil und die anderen drei Damen an noch weniger, woraus wir erkennen, dass Johnson und Harris den Kern der Gruppe bildeten. Die Autoren machten sich noch mehr Mühe und stellten uns ihre Abbildung 5 zur Verfügung (ebd.: 150, hier als Abbildung 10.3 wiedergegeben), die Material der vorigen Abbildungen verwendet, um die Grade der Zugehörigkeit zu den Gruppierungen zu zeigen, und darüber hinaus wann und auf welche Weise die beiden Gruppen überlappen. Das deutet auf Unterschiede zwischen Kern-, Primär- und Sekundärangehörigen der Gruppierungen hin. Nutzer können selbst die Einzelheiten der Teilnahme sehen, die diese Ideen zusammenfassen.

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OBERE OBERKLASSE „Alte Aristokratie“ „Aristokratie“, aber nicht „alt“ „Nette, anständige Leute“ „Gute, aber nichtssagende Leute“ „Arme Weiße“

UNTERE OBERKLASSE OO

„Alte Aristokratie“

UO

„Aristokratie“, aber nicht „alt“

OM

„Nette, anständige Leute“

UM

„Gute, aber nichtssagende Leute“

OU UU

„Arme Weiße“

OBERE MITTELKLASSE

„Gesellschaft“

{

UNTERE MITTELKLASSE

„Alte Familien“

OO

„Gesellschaft“, aber nicht „alte Familien“

UO

„Alte Aristokratie“ (älter)

Abgestiegene Aristokratie (jünger)

„Leute, die zur Oberklasse gehören sollten“

OM

„Leute, die sich einbilden, jemand zu sein

„Leute, die nicht viel Geld haben“

UM

„Wir armen Leute“

OU

„Leute ärmer als wir“

UU

„Leute, die niemand sind“

„Leute, die niemand sind“ OBERE UNTERKLASSE

„Gesellschaft“ oder „Leute mit Geld“ „Leute, die oben sind, weil sie etwas Geld haben“

UNTERE UNTERKLASSE OU UU OM UM

„Gesellschaft“ oder „Leute mit Geld“ „Leute ganz oben“, aber nicht „Gesellschaft“

„Arme, aber ehrliche Leute“

OU

„Snobs, die aufsteigen wollen“

„Haltlose Menschen“

UU

„Leute, genau so gut wie alle“

Abb. 10.1 Die sozialen Perspektiven der gesellschaftlichen Klassen (Davis, Gardner, Gardner 1941: 65)

Die Autoren verwendeten eine weitere Art von Diagramm, um „soziale Gruppierungen in der farbigen Gesellschaft“ darzustellen (ebd.: 208f.). Ihre Abbildung 12 (212, hier als Abbildung 10.4 dargestellt) zeigt die „soziale Stratifikation der farbigen Gruppierungen“ und wird folgendermaßen erklärt (Ich hoffe, es ist nicht erforderlich zu erläutern, dass Kritik an Davis, Gardner und Gardners Verwendung des Begriffs farbig anachronistisch wäre, denn das war in den 1930er Jahren und Anfang der 1940er Jahre die respektvolle Art zu sprechen): 175

176

Teil II Beispiele

Code-Nummern und Daten der im Old City Herald berichteten gesellschaftlichen Veranstaltungen

Namen der Teilnehmerinnen in Gruppe II

1 6/27

2 3/2

3 4/12

4 9/16

5 2/25

6 5/19

7 3/15

8 9/16

9 4/6







1a.

Miss Thelma Johnson













2a.

Mrs. Sophia Harris



















3a.

Mrs. Kathleen Mills



















4a.

Mrs. Ruth Turner



















5a.

Mrs. Alice Jones



















6a.

Mrs. Julia Smith



















Abb. 10.2 Häufigkeit der gemeinsamen Teilnahme einer Gruppe von Frauen in Old City, 1936 – Gruppe II (Davis, Gardner, Gardner 1941: 149)

Art der Mitgliedschaft Clique I : Kern . . . . . .

Primär . . . . Sekundär . . Clique I : Primär . . . .

Kern . . . . . .

Sekundär . .

Mitglieder

{

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

{ { {

{ {

Veranstaltungen und Beteiligung 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

C C – C

C C C –

C C C C P P

C – C C P –

C C C C P P P – S

C C C C – P P S –

– C C C P – P – S S – – C C C

C C C C – P P S S S P P C – C S

C – C – – – – S S S P P C C – S S S

– P P C C C S – –

– – – – C C – S S

S P P C C C S

C

13

14

P C C C

P C C C

Abb. 10.3 Arten von Mitgliedern und Verbindung zwischen zwei überlappenden Gruppierungen (Davis, Gardner, Gardner 1941: 150)

10 Diagramme: Mit Zeichnungen denken

177

[Die Anordnung] einiger der aktivsten Gruppierungen […] wurde schon gezeigt. Die zweite Stufe, auf der dieses System geordneter Gruppierungen mit dem größeren System gesellschaftlicher Klassen verbunden wird, wurde durch Klassenlinien dargestellt. Der soziale Raum wird in nur zwei Dimensionen gezeigt: (1) Höhe, welche die Stufe in der gesellschaftlichen Statusverteilung markiert, und (2) Breite, welche die Spannweite der Altersverteilung bedeutet. Eine dritte Dimension, die Tiefe, ist nicht dargestellt, denn die relative Größe der Klassen sowie ihr Status und Alter wurden nicht in Betracht gezogen […] Die Tatsache, dass die meisten Gruppierungen durch schmale, kurze Ellipsen oder durch Kreise dargestellt werden, zeigt zwei allgemeine Merkmale von Gruppierungen, nämlich, dass sowohl der Altersbereich als auch der Statusbereich dieser informellen Gruppen schmal ist. (Davis, Gardner, Gardner 1941: 211f.)

Beide Diagrammarten liefern das Rohmaterial für weitere Analysen interessanter Fragen, etwa derjenigen nach gesellschaftlicher Mobilität. Wie erleichtert die Mitgliedschaft in einer Gruppierung den Aufstieg im Klassensystem (ebd.: 137ff.)? Leser, die daraus Nutzen ziehen wollen, müssen sie sehr genau studieren, den Linien und Markierungen folgen, um zu sehen, welche Art von gesellschaftlicher Beteiligung Altersbereich

Klassenstatus

15-25 Jahre

U

B2

A1 A2 A3 A4 B1

UM

25-35 Jahre

G3

R4

G1

R2

C1 C2 C3 C4

L1 L3 L3 L6

K7

K6

Y2 Z2 Z4 Z1 Z3

T2

A1 A2

T3

T5 J5 J6 J7

J4

J1 J2 J3

A3 A4

A5

D1 D2

D3 E1 E2 E3 E4

R1 T1

K5

CX1 X2 X3

L4 L5

R3 W1 W2 W3

K1 K2 K3 K4

Y1 Y3

C7

G2

S2 S3 S6

UL

C1 C2 C3 C4

G4

B3 S1

LM

35-40 Jahre

B1 B2 B4 B5

D4

D5 D6

F2 F3 F4 F5 F7 F2

Abb. 10.4 Gesellschaftliche Stratifikation von Gruppierungen Farbiger (Davis, Gardner, Gardner 1941: 212) 177

178

Teil II Beispiele

sie darstellen, und ihre Vorstellungen von den gesellschaftlichen Klassen und deren Manifestation im gesellschaftlichen Leben im Licht dieser Belege bewerten. Die Studenten im Seminar „Telling About Society“ beklagten sich, diese Diagramme und jene, die in diesem Kapitel noch kommen, seien „schwer zu lesen“. Sie meinten – durchaus zutreffend –, dass sie eine ungewohnte visuelle Sprache lernen (für alle Leser ungewohnt, da sie für diese spezifische Studie erfunden wurde) und sich interpretative Fähigkeiten aneignen mussten, wenn auch nichts allzu Kompliziertes, und die Bedeutung neuer Ausdrücke und ihrer visuellen Gegenstücke in einem Labyrinth von kleinen Bildern begreifen mussten. Sie sahen nicht ein, warum sie das „mussten“ und betrachteten diese Forderung als Verstoß gegen ihre implizite Vereinbarung mit den Machern der Repräsentationen (auch das zeigte wieder den moralischen Unterton dieser Art von Kritik). Ich führte aber eine andere Art von Moral ins Feld und sagte, das sei doch lächerlich. Sie brauchten doch nur aufmerksam hinzuschauen. Im Laufe unserer Unterhaltung stellte ich fest: Genau das war das Problem. Diese Bücher verlangten von ihnen, dass sie Arbeit verrichteten, von der sie der Meinung waren, dass sie die Aufgabe von Autoren sei – sie hatten nicht erwartet, dass sie selbst beim Lesen sozialwissenschaftlicher Studien solche Arbeit leisten sollten. Wie die Studenten, die McGill interviewt hatte, wollten sie Antworten bekommen, ohne mehr Arbeit aufwenden zu müssen als unbedingt notwendig war – „unnötige“ Arbeit bedeutete, dass es überhaupt keinen Grund gab, diese Arbeit noch einmal zu leisten, wenn die Gültigkeit der jeweiligen Schlussfolgerungen bereits durch einen externen Prozess wie zum Beispiel den Review-Prozess einer Zeitschrift abgesichert worden war, nur um am Ende herauszufinden, dass ja sowieso alles stimmte.

Klasse, ethnische Zugehörigkeit und Beruf Die bahnbrechende Studie von Everett C. Hughes über den Industrialisierungsprozess, French Canada in Transition, enthält mehrere hervorragende grafische Repräsentationen gesellschaftlicher Phänomene. Diagramm VII, „Ethnische Zusammensetzung von Interessengruppen“ (Hughes 1943: 134) sieht ganz nach Tukey aus. Es zeigt die Anteile französischer und englischer Herkunft in fünf verschiedenen Interessengruppen in der Kleinstadt „Cantonville“ in Quebec in der Form eines einfachen zweiteiligen Balkendiagramms (hier als Abbildung 10.5 reproduziert). Im Zusammenhang mit der im Buch vorgestellten Analyse der ethnischen Arbeitsteilung in Kanada, in der Provinz Quebec und in der Kleinstadt selbst liefert dieses Diagramm seine Informationen sehr effizient: Die „stärkste wirtschaftliche Macht in der Stadt“ hatte nahezu ausschließlich englischstämmige Mitglieder,

10 Diagramme: Mit Zeichnungen denken

179

während andere, weniger mächtigen Wirtschaftsvereinigungen überwiegend französischstämmige Mitglieder hatten. So unterstrich das Diagramm die Analyse des Buches: Dominanz der englischen über die französischen Bevölkerungsteile im wirtschaftlichen Bereich. Die Balken im Diagramm liegen zwar unkonventionell waagerecht, stellen aber ansonsten auch für Nutzer, die es eilig haben, kein Problem dar . Englisch

Französisch

Verband kanadischer Hersteller Handelskammer

17

64

Verband der Einzelhändler Liga der Grundstücksbesitzer Nationale katholische Gewerkschaften Das Diagramm vergleicht nicht die Mitgliederzahl der Organisationen miteinander, sondern nur die Zahl der englischen und französischen Mitglieder jeder Organisation. Die Liga der Grundstücksbesitzer und die Gewerkschaften haben jeweils Hunderte von Mitgliedern. Wir sind ziemlich sicher, dass es im Verband der Einzelhändler und in den Gewerkschaften überhaupt keine englischen Mitglieder gibt. Vielleicht bis zu vier oder fünf Angehörige der alten nicht-industriellen englischen Familien gehören der Liga der Grundstücksbesitzer an. Zu den französischen Mitgliedern des Verbands kanadischer Hersteller gehören die Manager der kleineren Betriebe und einige Männer mit kommerziellen Interessen, die daran beteiligt waren, Industrie in die Stadt zu bringen.

Abb. 10.5 Ethnische Zusammensetzung der Interessengruppen (Hughes 1943: 134)

Anders ist es mit Diagramm X (Hughes 1943: 164, hier als Abbildung 10.6 reproduziert) „Verwandtschaftliche und andere Verbindungen einer Gruppe führender Männer“, das Belege zu einigen Überlegungen über die Rolle von Verwandtschaftsverhältnissen im gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben der frankokanadischen Gemeinschaft liefert. Nachdem er drei weitere Gruppen wohlhabender Franko-Kanadier identifiziert hat („zwei alten Familien“, eine Gruppe von sechs „Familien von Geschäftsleuten und Akademikern8, die […] ein ‚ruhiges Leben‘ führen“ und die „sportbegeisterte Clique von hohem gesellschaftlichen Ansehen“), konzentriert er sich auf 8

Anmerkung des Übersetzers: Im Original ist hier von „professional men“ die Rede, was im Deutschen eher der Berufsgruppe der Professionen entspricht (etwa Anwälte, Ärzte, sonstige Freiberufler mit akademischem Abschluss). Aus Gründen der Lesbarkeit wurde der Begriff hier und im Folgenden mit „Akademiker“ übersetzt. 179

180

Teil II Beispiele

les arrivistes, [die] ein Netzwerk von Verwandtschaftsbeziehungen und gegen­seitigen Ehen bilden, das bis in die unteren Schichten und in die ländliche Umgebung reicht […] Zu diesem Netzwerk von Verwandten, wechselseitigen Ehen, Partnerschaften und engen Freundschaften gehören vier der sieben Rechtsanwälte, zwei Ärzte, meh­rere prominente Geschäftsleute sowie einige weniger wichtige Familien. Die gan­ze Gruppe ist durch mehrere Bindungen mit dem Pfarrer der führenden Kir­chen­gemeinde verknüpft. Sechs dieser Männer bekleiden heute ein öffentliches Amt, andere hatten früher eines; alle sind politisch konservativ, obwohl sie zwi­schen ex­trem nationalistischen bis moderaten und kompromissbereiten Ein­stel­lungen ge­gen­über den Anglokanadiern variieren. Während einige der Männer dem Golfclub angehören und wichtige strategische Beziehungen zu Engländern in den Bereichen Industrie, Handel und Politik pflegen, hat keine der Familien dieser Gruppe gesellschaftliche Kontakte mit englischen Familien. (Hughes 1943: 163)

Hughes weist auf die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie der ethnischen Zusammensetzung im Laufe der Industrialisierung der Provinz Quebec hin, bietet aber keine weiteren Erläuterungen, sondern überlässt die Erkundung des Diagramms dem Leser. Was könnte ein fleißiger Leser damit anfangen? Als einfachste Erkenntnis lässt sich feststellen, dass viele Pfeile Mitglieder dieser kleinen Gruppe von Männern verbinden und sie als enge Gruppe mit vielfachen gesellschaftlichen Beziehungen darstellen. Daraus können wir schließen, welche Pflichten und Aufgaben aus solchen Verbindungen erwachsen, oder wir könnten noch genauer hinschauen, jede Verbindung betrachten und ihr Potenzial für gemeinsame Aktivitäten innerhalb dieser kleinen ethnischen Elite beurteilen. Zum Beispiel:

Schwäger

Valley, Jr.

Sohn

Brüder Schwäger

Laurent Prominenter Akademiker und Politiker

Besitzer eines kleinen Ladens

J. Trembley

H. Vallée Wichtiger Unternehmer, Großgrundbesitzer

im Geschäft der Väter

Labelle, Jr.

Sohn

Labelle Wichtiger Unternehmer, Großgrundbesitzer

Partner

Neffe

Neffe

Schwäger

Cousins, Partner

Junger Akademiker

Trembley, Jr.

Sohn

Schwäger 2. Ehe

Trembley Großgrundbesitzer, Kaufmann

eng befreundet

Francœur

Junger Akademiker

Neffe

Raimbault

Schwäger

Schwiegersohn

Sellier, Jr.

H. Sellier

Kaufmann

Junger Akademiker

Sohn

Raimbault

Cousin

Sellier Prominenter Akademiker und Politiker

Ladenbesitzer

Cousin

Cousin

Akademiker

Cousin

Raimbault Der Curé

10 Diagramme: Mit Zeichnungen denken 181

Abb. 10.6 Verwandtschaftliche und andere Verbindungen einer Gruppe führender Männer (Hughes 1943: 164)

181

182

Teil II Beispiele

Labelle und H. Vallée sind Partner in einem wichtigen Unternehmen, in dem beide auch ihre Söhne beschäftigen. H. Vallée und Raimbault, der Pfarrer, sind Schwäger, und H. Vallée ist der Bruder von J. Vallée, wodurch beide Schwäger des Akademikers9 und Politikers Laurent sind. J. Vallée hat zweimal geheiratet und ist daher auch der Schwager des Kaufmanns und Grundbesitzers Tremblay. Tremblay ist durch diese Heirat auch ein Schwager von Pfarrer Raimbault. Raimbault ist ein Cousin der anderen beiden Raimbaults, die auch Cousins von einander sind, und er ist der Onkel von Tremblays Sohn, dem Cousin von Francœur, der einer seiner Geschäftspartner ist. Francœur wiederum ist Schwager von Sellier, Jr., dem Sohn von Sellier, einem anderen prominenten Akademiker*und Politiker. Es dauert bedeutend länger, dies in Worten auszudrücken, und ergibt keine so deutliche und verständliche Übersicht der gegenseitigen Verbindungen wie die Partnerschaftsund Verwandtschaftslinien, die sich über die Seite schlängeln. Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich auszumalen, dass für diese Männer wechselseitige Kommunikation und Loyalitäten im Geschäftsleben sowie in gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten eine große Rolle spielen. Man kann sehen, dass englischsprachige Bürger keine Chance hatten, in diese Welt einzudringen, da es unwahrscheinlich gewesen wäre, dass sie ein Verwandtschaftsverhältnis und die anderen damit einhergehende Beziehungen mit den Frankokanadiern hatten. Es ist ebenso klar, dass die französischsprachigen Bürger keine Zeit hatten, sich mit den Anglokanadiern zu mischen, und selbst wenn dafür Gelegenheit bestanden hätte, hätte sie ihre auf Ethnie und Familie basierende Loyalität wohl davon abgehalten. Wir können auch sehen, wie dieses Gewebe von Beziehungen die Möglichkeiten des kollektiven Handelns innerhalb einer ethnischen Gruppe steigert und die Chancen für eine solche Handlung über ethnische Grenzen hinweg schmälert (man sollte auch beachten, dass ein solches Netzwerk ebenso Konfliktmöglichkeiten enthält, die solche Handlungen verhindern). Als die Seminarstudenten sich über diese Diagramme beschwerten, betonten sie besonders etwas, das mir selbst vielmehr wie eine Art Tugend vorkam – dass die Grafiken nämlich ganz und gar auf die spezifische Art der Nutzung zugeschnitten waren, die ihnen zugedacht war. Jedes Diagramm nimmt die Form an, die dem damit verknüpften besonderen Ziel innerhalb des Buches entspricht. Wenn Hughes die engen Bindungen innerhalb einer Gruppe darstellen möchte, lösen seine Diagramme das Problem sauber und wirkungsvoll. Diese Form würde aber nicht per se ebenso gut zu einer anderen Gruppe passen, in der die Bindungen anders verteilt oder anderer Art sind, selbst wenn es vielleicht ein Vorteil sein könnte, dass manche Leute bereits gelernt haben, das Diagramm zu lesen. 9 Anmerkung des Übersetzers: im Original „professional man“ bzw. „professional“.

10 Diagramme: Mit Zeichnungen denken

183

Die Abbildung gesellschaftlicher Vorgänge Die klassische Studie eines armen italienischen Viertels in Boston in den 1930er Jahren, Die Street Corner Society von William Foote Whyte, (1981) beruhte auf vier Jahren teilnehmender Beobachtung, während derer der Autor in der Nachbarschaft wohnte und sich aktiv an den dortigen Aktivitäten beteiligte. All diese Daten zusammenzufassen war eine gigantische Arbeit. Whyte sagt nicht viel darüber, wie er diese Analyse zustande brachte, obwohl er detailliert berichtet, wie er seine Feldforschung durchführte. Er zählte Interaktionen zwischen Menschen, wie aus seinen enorm detaillierten Feldnotizen hervorgeht, und er führte auch Buch über Interaktionen zwischen Menschen in ihren institutionellen Rollen wie zum Beispiel als Politiker, Gangster oder Mitglieder und Funktionäre lokaler Vereine. Er fasste manche dieser Themen in Diagrammen zusammen, die Informationen auf schnell lesbare Weise verdichten. Wichtige Informationen können direkt aus Bildern abgelesen werden (mit ein paar nützlichen Erläuterungen des Autors). Die Diagramme sind besonders hilfreich, wenn Whyte Vorgänge beschreibt, also Ereignisse, die sich Schritt für Schritt ereigneten. Ein einfaches Beispiel ist die Diskussion der sozialen Distanz zwischen den College Boys – ehrgeiziger, gesellschaftlich mobil, weniger an die Nachbarschaft gebunden – und den Corner Boys – traditioneller, ohne höhere Bildung, zumeist arbeitslos, untereinander loyaler. Whyte sagt, seiner Erfahrung nach interagierten Mitglieder der beiden Gruppen nie direkt miteinander, sondern höchstens durch Vermittler, deren eigener Status etwas zweifelhaft war (Whyte selbst war das deutlichste Beispiel eines solchen Vermittlers: Er stand mit beiden Gruppen in Kontakt, ohne wirklich einer der Gruppen anzugehören). Dann zeigt er ein Beispiel aus seinen Notizen, das seine Aussagen stützt. Nachdem er drei soziale Schichten im Viertel definiert hatte – College Boys, Corner Boys und Vermittler, die mit den beiden anderen Gruppen in Beziehung stehen konnten –, beschreibt er eine Unterhaltung auf der Straße, die zeigt, wie die drei Gruppen interagierten: Eines Abends im Herbst 1937 stand ich in der Norton Street und sprach mit Chick Morelli, Phil Principio [College Boys], Fred Mackey und Lou Danaro [Vermittler], als Frank Bonelli und Nutsy [Corner Boys] herbeikamen und sich in unserer Nähe hinstellten. Ich stand zwischen den zwei Gruppen. Ich redete mit Chick, Phil, Fred und Lou und wandte mich um, um mit Frank und Nutsy zu reden. Eine allgemeine Unterhaltung fand nicht statt. Dann bewegten sich Lou und Fred und stellten sich so hin, daß sie die anderen direkt ansahen und mir unmittelbar gegenüberstanden. Ich hatte jetzt zwei Mitglieder jeder Gruppe auf jeweils einer Seite. An diesem Punkt änderte sich der Verlauf des Gesprächs, so daß beispielsweise Nutsy etwas zu Fred sagte und Fred das Gespräch mit Chick und Phil fortsetzte; Chick sagte etwas zu Lou, und Lou setzte das Gespräch mit Nutsy und Frank fort. Zu keinem Zeitpunkt 183

184

Teil II Beispiele

sprachen Chick oder Phil direkt mit Frank oder Nutsy. Nach kurzer Zeit sprach Lou die allgemeine Einladung aus, wir sollten uns in seinen Wagen setzen. Chick, Phil und Fred nahmen an. Nutsy ging zu dem Wagen hinüber und sprach eine Weile mit Lou durch das Wagenfenster. Dann kam er zu Frank und mir zurück und wir gingen weg. (Whyte 1996: 99f.; Einfügung in eckigen Klammern H.B.)

Er stellte es grafisch als Interaktion in drei Schritten dar, als kurze Zusammenfassung seines geschriebenen Textes (ebd.: 95, hier als Abbildung 10.7 reproduziert). Wir sehen alles gleichzeitig und können die drei Schritte des kleinen Geschehens leicht vergleichen. Wir können es aber erst, nachdem wir die schriftliche Version gelesen haben. Wir müssen wissen, was sie getan haben, ehe wir es sehen können. Die Symbole haben in dieser Studie eine spezielle Bedeutung.

Unterhaltung an der Straßenecke 1.

2.

3.

Corner Boy College Boy Mittelmann Beobachter Pfad der Interaktion Die Positionen der Boxen zeigen die räumlichen Beziehungen.

Abb. 10.7 Unterhaltung an der Straßenecke (Whyte 1996: 99)

Das ist bei zwei anderen Diagrammen weniger der Fall: „Ein Corner Boy wird verhaftet und wieder rausgeholt“ und „Wie die Corner Boys zu ihrem Zaun im Park kamen“ (ebd.: 250f., hier als Abbildungen 10.8 und 10.9 reproduziert), die wohl viele Leser ohne besondere Anleitung verstehen können. Whyte erklärt, dass sich Lokalpolitiker entscheiden müssen, wie sie ihren begrenzten Einfluss nutzen wollen, den sie auf andere Teile des politischen Apparats der Stadt haben. In Fall der Freilassung eines Corner Boys: „Ein Mann wird von

10 Diagramme: Mit Zeichnungen denken

185

einem Streifenpolizisten oder einem Sergeant verhaftet. Er nimmt Kontakt zu einem der Stadtbezirkspolitiker auf. Der Politiker spricht mit dem Captain, dem Vorgesetzten des Beamten, der den Mann verhaftet hat. Der Captain bittet den Beamten, die Anzeige fallen zu lassen. Der Beamte tut das; der Mann wird freigelassen. Der Captain ist zwar verantwortlich für seine Abteilung, aber er hat einen Kommissar, einen Hauptkommissar und den Polizeipräsidenten in der Hierarchie über sich. In diesem Fall, wie in den meisten derartigen Fällen, muß die Interaktion nicht über die Ebene des Captain hinaus gehen.“ (Whyte 1996: 252) Wie Abbildung 10.8 zeigt, ist das verhältnismäßig einfach. Der verhaftete Corner Boy (1) spricht mit einem Corner Boy-Anführer (2), der mit einem Politiker (3) spricht, der mit dem Captain (4) spricht, der mit dem für die Verhaftung zuständigen Polizisten (5) spricht, und der Fall ist erledigt.

Regierung des Bundesstaates GOUVERNEUR

Polizei Polizeichef Superintendent Stellv. Superintendent Captain Lieutenant Sergeant Streifenpolizist 1

SENATOR Abgeordneter

4 5

Anführer der Corner Boys Corner Boy

3

2

Die Pfeile zeigen die Richtung und Abfolge der Interaktionen an. Die Positionen der Boxen zeigen den relativen Status.

Abb. 10.8 Ein Corner Boy wird verhaftet und wieder rausgeholt (Whyte 1996: 255)

185

1

Immobilienabteilung

Bank Präsident

Die Pfeile zeigen die Richtung und Reihenfolge der Interaktionen. Die Positionen der Boxen zeigen den relativen Status

Sam Mannschaftskapitäne Corner Boys

Sams Freund

2

Parkverwaltung Beauftragter

2

Sam Mannschaftskapitäne Corner Boys

1

Mr. Kendall

3 Venuti

4

Parkverwaltung Beauftragter

7 Sam Mannschaftskapitäne Corner Boys

1

Mr. Kendall

2 2

3 3

9

8

Legislative

Cotillo Fiumara

6

Exekutive

Stadtverwaltung Bürgermeister Parkbeauftragter

5

4

186 Teil II Beispiele

Abb. 10.9 Wie die Corner Boys zu ihrem Zaun im Park kamen (Whyte 1996: 256) Parkverwaltung

10 Diagramme: Mit Zeichnungen denken

187

Als Sam Franco eine Softball-Liga für die Corner Boys organisierte, stand der örtliche Park nicht für Ligaspiele zur Verfügung, weil bei früheren Spielen einige Fenster in benachbarten Gebäuden zu Bruch gegangen waren. Die Liga brauchte einen Maschendrahtzaun, um die Bälle aufzufangen, damit nicht wieder Fenster zerbrochen würden. Wie konnte man zu einem Zaun kommen? Das Buch verwendet drei ganze Seiten dazu, die möglichen Wege zu beschreiben und zu erklären, wie einer davon schließlich Erfolg brachte. Sam wandte sich an Mr. Kendall, einen Sozialarbeiter im Gemeindehaus des Viertels. Er hatte ihn durch Doc kennengelernt, einem Anführer der Corner Boys und gutem Freund von Whyte. Zuerst versuchte es Kendall mit Venuti, einem Lokalpolitiker, dessen Beziehungen aber nicht ausreichten, um den Zaun durchzusetzen. Dann wandte er sich an Stadtrat Angelo Fiumara: „Angelo Fiumara war nicht daran interessiert, etwas für Mr. Kendall zu tun, bis er erkannte, daß der Sozialarbeiter Teil einer verzweigten Organisation war, die in diesem Fall Sam Franco einschloß, sechzehn Anführer von corner gangs und alle ihre Anhänger. Daraufhin bearbeiteten er und Andy Cotillo den Oberbürgermeister. Cotillo arbeitete im Büro des Bürgermeisters, und Fiumara hatte über ihn seine Verbindung aufgebaut. Beide Männer waren in einer Position, in der sie Druck auf die Spitze dieser Legislativhierarchie auszuüben vermochten, und als sie das taten, fand die von Sam Franco eingeleitete Aktion ein erfolgreiches Ende.“ (Whyte 1996: 256f.) Dies alles sowie die erfolglosen Versuche sind im Diagramm (Abb. 10.9) zusammengefasst. Jemand wollte mir einmal einreden, dass „Wortmenschen“ und „Bildmenschen“ zwei verschiedene Sorten Mensch sind, aber das glaube ich nicht. Die Leute, deren Untersuchungen ich hier besprochen habe, konnten sowohl Worte als auch Bilder für sich arbeiten lassen. Ich bin überzeugt, dass die Kombination zu besserem Verständnis führt; aber sie ist ungewöhnlich. Wie Tukeys statistische Innovationen – zum Beispiel der Box-Plot – erfordern sie, dass die Nutzer sich etwas mehr anstrengen. Die Daten erscheinen nicht in einfachen formelhaften Mustern, die man auf den ersten Blick begreift; man muss sich etwas Mühe geben, um die Bedeutung zu verstehen. Ich sagte schon oben, dass ich in diesem Kapitel etwas bekehrerisch wirken wollte. Ich hätte es gern, wenn mehr Leute solche Mittel verwenden würden und Formate erzeugten, die genau das ausdrücken, was sie sagen wollen, statt ihre Ideen in standardisierte Pakete zu zwängen. Das ist keine übertriebene Hoffnung.

187

11

Visuelle Soziologie, Dokumentarfotografie und Fotojournalismus 11 Visuelle Soziologie, Dokumentarfotografie und Fotojournalismus

Repräsentationen der Gesellschaft werden in sozialen Organisationen erstellt und genutzt, und wir verstehen sie auch am besten in diesem Zusammenhang. In diesem Kapitel wird am Beispiel der Fotografie gezeigt, wie derselbe Gegenstand – in diesem Fall dasselbe Foto – in Bezug auf verschiedene Organisationszusammenhänge verschiedene Bedeutungen haben kann. Wir werden die Merkmale dieser Zusammenhänge hier näher erläutern.

Drei Arten von Fotografie Leute, die fotografisches Material für sozialwissenschaftliche Zwecke benutzen möchten – das wird manchmal als visuelle Soziologie bezeichnet – geraten oft durcheinander. Die von visuellen Soziologen aufgenommenen Bilder sind den Bildern von anderen, die behaupten, Dokumentarfotografen oder Fotojournalisten zu sein, so ähnlich, dass sie sich fragen, ob sie überhaupt etwas Besonderes machen. Sie versuchen, die Verwirrung aufzuklären, indem sie nach wesentlichen Unterschieden, den entscheidenden Merkmalen jedes Genres suchen, als wäre es ein Problem der richtigen Definitionen. Die Etiketten dieser Genres stellen keine platonischen Urformeln dar, deren Bedeutung wir nur durch tiefsinniges Denken und Analysieren ergründen können. Sie sind einfach das, was Leute nützlich finden. Wir können erfahren, was Leute tun, die Dokumentarfotografie oder den Fotojournalismus als Etikett benutzen, aber wir können nicht herausfinden, was die Begriffe wirklich bedeuten. Die Bedeutung solcher Fotos ergibt sich aus den Organisationen, in denen sie genutzt werden. Sie entsteht aus dem gemeinsamen bzw. aufeinander bezogenen Handeln all der Leute, die in solchen Organisationen tätig sind und ändert sich deswegen von Fall zu Fall und von Ort zu Ort. Es ist wie mit Gemälden, deren Bedeutung in den Welten der Maler, Sammler, Kritiker und Kuratoren variiert. Auch Fotografien erhalten ihren 189 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_11

190

Teil II Beispiele

Sinn erst durch das Verständnis der Menschen, die mit ihnen zu tun haben, sie nutzen und ihnen dadurch Bedeutung verleihen (siehe Becker 1982). Visuelle Soziologie, Dokumentarfotografie und Fotojournalismus sind, was sie in ihrem täglichen Gebrauch in den Welten der Fotografie geworden sind, oder was man aus ihnen gemacht hat. Sie sind schlicht und einfach gesellschaftliche Konstruktionen. Darin gleichen sie allen anderen Möglichkeiten zu berichten, was wir über die Gesellschaften, in denen wir leben, wissen oder glauben, herausgefunden zu haben – all die Möglichkeiten, die in diesem Buch diskutiert werden. Wir können zu dieser Tätigkeit des Benennens der Genres und der Zuschreibung von Bedeutung mindestens zwei Arten von Fragen formulieren. Organisationsanalytische: Leute, die Aktivitäten wie diese Formen der Bildherstellung in unterschiedliche Kategorien einteilen, tun das nicht nur, um sich und anderen die Dinge zu erleichtern, indem sie irgendwelche Kürzel erfinden. Fast immer wollen sie damit auch einen anderen Zweck erfüllen: Die Aktivitäten einhegen; angeben, wohin sie organisatorisch gehören oder wer wofür verantwortlich ist; und wer wozu bevollmächtigt ist. Es stellt sich also die Frage, wer welche Ausdrücke für die verschiedenen Arten benutzt, um über Fotografien zu sprechen? Welcher Anspruch wird mit dieser so beschriebenen Arbeit verbunden? Wie möchte man die Arbeiten auf diese Weise in die Arbeitsorganisation einordnen? Umgekehrt: Welche Art von Arbeiten und welche Leute will man ausschließen? Kurz, was will man auf diese Weise erreichen? Historische: Woher stammen diese Ausdrücke? Wozu sind sie früher benutzt worden? Wie entsteht aus der früheren Anwendung ein heutiger Kontext? Wie schränkt dieser historische Kontext ein, was heute gesagt und getan werden kann? „Dokumentarfotografie“ war eine Art von Tätigkeit um die Wende zum 20. Jahrhundert, als die hohen Wellen sozialer Reformen die Vereinigten Staaten überfluteten und Fotografen, die Missstände aufdeckten, fanden ein offenes Publikum und auch genug Sponsoren, die für die Anfertigung dieser Bilder zahlten. „Visuelle Soziologie“, sofern man den Begriff überhaupt auf jene Ära anwenden kann, bestand aus ganz ähnlichen Bildern, die aber im American Journal of Sociology veröffentlicht wurden. Keiner der Begriffe bedeutet heute noch dasselbe wie damals. Die großen sozialen Reformorganisationen haben ihren Charakter geändert. Ihr Einsatz von Fotografien ist heute zahlreichen anderen Techniken untergeordnet. Die Soziologie ist „wissenschaftlicher“ geworden, weniger zugänglich für Berichte, die etwas Anderes als Worte und Zahlen enthalten. Die Bedeutung des Fotojournalismus wandelte sich von einfachen Illustrationen für Zeitungsartikel zu einer Auffassung

11 Visuelle Soziologie, Dokumentarfotografie und Fotojournalismus

191

von Fotografie als einer gleichrangigen und halb-unabhängigen Art der Informationsvermittlung (Hagaman 1996: 3ff.). Die drei Ausdrücke haben also verschiedene geschichtliche und gegenwärtige Bedeutungen. Jeder ist mit einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext verbunden. „Fotojournalismus“ ist das, was Journalisten tun: Sie erzeugen Bilder als Teil der Aufgabe, Tageszeitungen und Wochenzeitschriften zu veröffentlichen (heute wahrscheinlich meistens Tageszeitungen, seit dem Tod der großen illustrierten Nachrichtenmagazine wie Look Anfang der 1970er Jahre). Wie stellt man sich Fotojournalismus normalerweise vor? Unvoreingenommen. Sachlich. Vollständig. Aufmerksamkeit erregend, Geschichten erzählend, mutig. Unser Bild des Fotojournalisten, soweit es auf historischen Persönlichkeiten beruht, besteht zum Teil aus „Weegee“ (Arthur Fellig), wie er in seinem Auto übernachtet, seine Storys mit der Schreibmaschine im Kofferraum tippt, Zigarren raucht, hinter Krankenwagen und Feuerwehr her rast, und Gangster für eine Boulevardzeitung in New York knipst. Er beschrieb seine Arbeit so: „Morde und Brände, meine Bestseller, mein Brot und meine Butter“ (Weegee 1945: 11). Ein weiterer Teil des Bildes besteht aus Robert Capa, wie er mitten im Kampfgewühl Nahaufnahmen von Tod und Zerstörung für die Nachrichtenmagazine produzierte (sein Motto war: „Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, dann bist du nicht nahe genug dran“ – Capa 1968). Schließlich gehört zum Stereotyp auch Margaret Bourke-White in Fliegerkluft, vor einer Tragfläche neben Motor und Propeller stehend, in einer Hand die Kamera, in der anderen die Fliegerhaube. Sie flog um die Welt und produzierte klassische Fotoessays im Stil von Life Magazine (Callahan 1972: 24). Neuere Versionen des Stereotyps erscheinen in Hollywoodfilmen: Nick Nolte auf der Haube eines Panzers stehend, der durch feindliches Feuer ins Schlachtfeld rollt, sein Leben riskierend, um Kriegsbilder zu knipsen. Die Realität ist weniger heroisch. Fotojournalismus ist alles, was er im Rahmen der Besonderheiten des Publizistik-Gewerbes sein kann. Wie sich dieser Beruf geändert hat, wie das Zeitalter von Life und Look durch die Konkurrenz von Radio, Fernsehen und später dem Internet verblasste, so änderten sich auch die Fotos der Journalisten. Fotojournalismus funktioniert nicht mehr wie in den Tagen von Weegee oder den ersten illustrierten Zeitungen in Deutschland (K. Becker 1985). Die heutigen Fotojournalisten sind gebildet, mit Hochschulabschluss. Sie können schreiben und sind nicht einfach Illustratoren für die Artikel der Reporter. Sie haben eine kohärente Bildtheorie, die auf dem Konzept des erzählenden Bildes beruht (Hagaman 1996). Trotzdem wird auch der heutige Fotojournalismus wie schon seine Vorläufer durch den verfügbaren Platz eingeschränkt, und auch durch die Vorurteile, blinden Flecke sowie vorgefertigten story lines der ihnen vorgesetzten Redaktionsleiter (Ericson, 191

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Teil II Beispiele

Baranek, Chan 1987). Noch entscheidender ist, dass Leser gar nicht mehr davon ausgehen, sich an der Entzifferung von Zweideutigkeiten und Komplexitäten der in ihren Tageszeitungen oder Zeitschriften erscheinenden Fotos zu beteiligen. Diese Fotos müssen daher sofort erkennbar und interpretierbar sein (Hagaman 1993: 9ff.). Der Fotojournalismus wird auch dadurch eingeschränkt, wie Redakteure fotografische Aufträge vergeben. Außer den Sportfotografen, die sich manchmal noch spezialisieren können, entwickeln Fotojournalisten im Unterschied zu Reportern kein „Revier“, ein Gebiet im Leben einer Stadt, das sie kontinuierlich abdecken und so gut kennen, dass sie es ernsthaft analysieren und verstehen können. Da ihre Fotos unweigerlich ihr Verständnis der abgelichteten Ereignisse und gesellschaftlichen Phänomene widerspiegeln, bedeutet die durch ihren Job bedingte Unkenntnis, dass die entstehenden Bilder fast unausweichlich nur auf einer oberflächlichen Beschäftigung mit etwas beruhen. Heroische Legenden beschreiben die wenigen Fotografen – W. Eugene Smith, Henri Cartier-Bresson –, die mutig oder unabhängig genug waren, um diese Hindernisse zu überwinden. Aber die Legenden dienen nur dazu, jene zu ermutigen, deren Arbeit diese Einschränkungen immer noch reflektiert. (Mehrere Sozialwissenschaftler haben die Organisation der Nachrichtengewinnung untersucht. Siehe zum Beispiel Epstein 1973; Hall 1973; Molotch, Lester 1974; Schudson 1978; Tuchman 1978; Ericson, Baranek, Chan 1987; und als kritische Fotojournalistin: Hagaman 1996.) Die Dokumentarfotografie war historisch sowohl mit der Erkundung von Unbekanntem wie auch mit Sozialreformen verbunden. Manche Dokumentarfotografen arbeiteten sprichwörtlich an der „Dokumentation“ von Merkmalen der natürlichen Umgebung, etwa Timothy O‘Sullivan, der die US-amerikanische geologische Erkundung des 40. Breitengrades (1867–1869) sowie die Vermessung der amerikanischen Südweststaaten durch Leutnant George M. Wheeler begleitete. Dabei nahm er die inzwischen berühmten Bilder des Canyon de Chelly auf (Horan 1966: 151ff.; 237ff.). Andere dokumentierten unbekannte Lebensgewohnheiten – wie John Thompson mit seinen Fotografien vom Straßenleben in London (Newhall 1964: 139); Eugène Atget mit seiner riesigen Sammlung von Menschen und Szenen in Paris (siehe die vierbändige Ausgabe von Szarkowski und Hambourg 1983), oder August Sanders monumentale Studie deutscher Sozialtypen (Sander, Sander, Keller 1986). Gerade diese beiden letzteren Projekte waren so groß angelegt, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes unpraktisch waren, das heißt, auf keinen unmittelbaren praktischen Nutzen angelegt. Andere wie Lewis Hine (Gutman 1967) arbeiteten für die großen Gesellschaftsstudien Anfang des 20. Jahrhunderts, oder für Skandalblätter, wie Jacob Riis (1971). Ihre Arbeiten wollten das Übel aufdecken und den Wechsel fördern. Ihre Bilder ähnelten denen der Journalisten, waren aber keine Illustrationen von Zeitungsar-

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tikeln und hatten daher mehr Raum zur Entfaltung. Ein klassisches Beispiel ist das Bild von Hine, „Leo, 48 Zoll groß, 8 Jahre alt, sammelt Spulen auf für fünfzehn Cent am Tag“, auf dem ein kleiner Junge neben Maschinen steht, von denen wir fast mit Sicherheit annehmen, dass sie sein Wachstum gehemmt haben. Was soll die Dokumentarfotografie „eigentlich leisten“? In der reformerischen Version soll sie „tief schürfen“, das erreichen, was Robert E. Park (ein Soziologe, der für Tagezeitungen in Denver, Detroit, Chicago und New York als Journalist gearbeitet hatte) Big News nannte; sich um Gesellschaftsfragen „kümmern“, eine aktive Rolle im gesellschaftlichen Wandel spielen, sozial verantwortlich sein, sich über ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft Gedanken machen. Fotografen wie Hine sahen, dass ihre Arbeit einen unmittelbaren Einfluss auf Bürger und Gesetzgeber hatte, und das zeigte sich seitdem immer wieder. Eine aus fotografischer Sicht chauvinistische Geschichtswahrnehmung schreibt häufig das Verbot von Kinderarbeit unmittelbar den Arbeiten von Hine zu. In einer alternativen Version sollte „dokumentarisch“ gar nichts Spezifisches sein, da die Arbeit nicht für jemanden gemacht wurde, der irgendwelche Anforderungen hätte durchsetzen können. Sander, der hoffte, sein Werk im Abonnement verkaufen zu können, beschrieb es verschiedentlich als Darstellung der „bestehenden Gesellschaftsordnung“ und als eine „physiognomische Zeitaufnahme des deutschen Menschen“ (Sander, Sander, Keller 1986: 23ff.). Atget, der eher wie der archetypische naive Künstler wirkte, beschrieb sein Werk gar nicht, sondern stellte es einfach her und verkaufte die Drucke an alle, die sich dafür interessierten. Heute hat sein Werk für uns explorativen, investigativen Charakter, eher wie Sozialwissenschaft. Zeitgenössische Dokumentarfotografen, deren Arbeit sich bewusster der Sozialwissenschaft nähert, haben wie Anthropologen erkannt, dass sie sich um ihre Beziehung zu den Menschen, die sie fotografieren, kümmern und sie rechtfertigen müssen. Die visuelle Soziologie ist fast vollständig ein Geschöpf der professionellen Soziologie, eine akademische Disziplin und eine arme Verwandte der visuellen Anthropologie, die eine behaglichere Beziehung zu ihrer Mutterdisziplin hat. In der anthropologischen Tradition, die Forscher in ferne Länder reisen ließ, um Schädel, Sprach- bzw. Schriftfunde und archäologisches Material zu sammeln, galt die Fotografie nur als eine zusätzliche Aufgabe der Feldforschung (Collier, Collier 1986). In ihren Anfängen war die Soziologie stärker mit der Sozialreform verbunden und die Bildsprache hatte keine Tradition darin. Darum akzeptieren auch heute die meisten Soziologen diesen Auftrag der Fotografie nicht. Sie sehen wenige legitime Anwendungen von visuellem Material, außer als „Lehrmittel“. Es ist, als wäre die Verwendung von Fotografien und Filmen in einer wissenschaftlichen Studie nur die Befriedigung des niederen Geschmacks der Öffentlichkeit oder 193

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der Versuch, Leser mit illegitimen „rhetorischen“ Mitteln zu überreden, wacklige Schlussfolgerungen zu akzeptieren (eine Version des Vorwurfs der „Hinterlist“). Die Verwendung von Bildmaterial scheint „unwissenschaftlich“ zu sein, wahrscheinlich weil „Wissenschaft“ in der Soziologie als objektiv und neutral definiert wurde – genau das Gegenteil des kämpferischen Geistes der früheren Sensationsmacherei, die eng mit der Fotografie verbunden war (Stasz 1979). Die Definition von Bildmaterial als unwissenschaftlich ist kurios, da Naturwissenschaftler routinemäßig Bildmaterial als Beweismittel zeigen. Heute sind Biologie, Physik und Astronomie ohne fotografische Nachweise undenkbar. Innerhalb der Sozialwissenschaften werden Fotografien nur in der Geschichtsforschung und in der Anthropologie benutzt, und das sind die am wenigsten „wissenschaftlichen“ Disziplinen. Wirtschaftswissenschaft und Politikwissenschaft, die „wissenschaftlichsten“ Disziplinen, machen das nicht. Die Soziologie, die dem vermeintlich wissenschaftlichen Charakter dieser letzteren Fächer nacheifert, verwendet sie auch nicht. Darum sind die wenigen aktiven visuellen Soziologen nur jene, die Fotografie woanders gelernt und sie in ihre akademische Arbeit hinein geholt haben. Was sollen visuelle Soziologen „eigentlich leisten“? Ich vermute, man erwartet, dass sie das tun sollen, was ihnen die Aufmerksamkeit und den Respekt ihrer Disziplin einbringt. Was müssten sie erreichen, um andere Soziologen zu überzeugen, dass ihr Werk irgendwie einen integralen Bestandteil des soziologischen Ganzen bildet? Es geht aber nicht nur darum, ihre professionellen Kollegen zu überzeugen. Sie müssen sich auch selbst überzeugen, dass ihre Arbeit „echte Soziologie“ darstellt, und dass sie nicht einfach „hübsche“ oder „interessante“ Fotos herstellen. Dazu müssten sie zeigen, dass ihre visuelle Arbeit das Unternehmen Soziologie fördert, wie auch immer dessen Aufgabe bestimmt sein mag. Da Soziologen sich aber nicht darüber einig sind, was Soziologie ist, bleibt der Auftrag der visuellen Soziologie ähnlich verworren. Zumindest sollten visuelle Soziologen helfen, Fragen der Soziologie auf eine Weise zu beantworten, die für die eine oder andere Fraktion der Disziplin akzeptabel ist. Ich möchte etwas hinzufügen, was bis jetzt noch fehlt. Gibt es Themen, für die Fotografie eine besonders gute Forschungsmethode darstellen würde? Die Veröffentlichungen der International Visual Sociology Association und ihrer Mitglieder zeigen entsprechende Beispiele (siehe deren Homepage visualsociology.org). Ich habe diese Unterschiede herausgearbeitet, aber die Grenzen zwischen den drei Tätigkeitsbereichen verschwimmen zunehmend. Die Situationen, in denen die Leute arbeiten, und die Zwecke, für die sie fotografieren, vermengen zunehmend zwei oder mehr Genres.

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Kontext Wie alle kulturellen Gegenstände erhalten auch Fotografien ihre Bedeutung durch ihren Kontext. Sogar Gemälde oder Skulpturen, die isoliert zu existieren scheinen, wenn sie im Museum ausgestellt sind, erhalten ihre Bedeutung durch den Kontext, der daraus besteht, was über sie geschrieben wurde – etwa in der Beschreibung, die gleich daneben hängt oder anderswo steht. Er besteht aber auch aus anderen Objekten im selben Museum oder aus Dingen, die Betrachter kennen, sowie aus Diskussionen über die Themen, die sie darstellen. Wenn wir denken, es gäbe keinen Kontext, dann heißt das nur, dass der Künstler klugerweise unsere Bereitschaft genutzt hat, den Kontext selbst zu schaffen. Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Fotografien, die im Namen der Kunst hergestellt werden, bestehen die drei angesprochenen fotografischen Genres darauf, umfangreichen gesellschaftlichen Kontext für die dargestellten Fotografien zu liefern. Dies ist nicht der Ort, die Fluidität der Definitionen für fotografische Kunst zu erörtern. Aber meine letzte Bemerkung sollte erkennen lassen, dass die Welt der Kunstfotografie häufig Arbeiten in den fotografischen Kanon aufgenommen hat, die aus ganz anderen Gründen als der absichtlichen Herstellung von Kunst gemacht wurden. Dazu gehören auch Fotografien, die für journalistische oder dokumentarische Zwecke aufgenommen wurden. Weegee, der Fotojournalist, dessen Werke jetzt in vielen Museen hängen, stellt den Extremfall dar. Oft zeigen zeitgenössische Kunstfotografien etwas, das Gegenstand einer Dokumentarfotografie sein könnte (zum Beispiel arme Kinder am Straßenrand eines Slums). Aber sie bieten selten mehr Kontext als Ort und Datum. Sie halten die minimalen gesellschaftlichen Daten zurück, die wir gewöhnlich benutzen, um uns über andere zu informieren, und überlassen es den Betrachtern, die Bilder so gut wie möglich durch Kleidung, Stellung, Verhalten oder Haushaltsgegenstände zu interpretieren. Was als künstlerisches Geheimnis erscheint, ist meistens nur Unkenntnis, die durch die Weigerung des Fotografen entsteht, den Nutzern einige grundlegende Informationen zu geben. Routinemäßig bieten Dokumentarfotografie, Fotojournalismus und visuelle Soziologie mindestens genug Hintergrund, um die Bilder verständlich zu machen. Manche Arbeiten in der dokumentarischen Tradition, oft durch Einwirkung der Sozialwissenschaften auf den Fotografen beeinflusst, enthalten sehr viel Text, manchmal in den Worten der dargestellten Menschen (zum Beispiel Danny Lyons Bikeriders, 1968, oder die Carnival Strippers von Susan Meisalas, 1976, die beide als unabhängige Projekte entstanden sind). Der Text mag nicht mehr als eine ausreichende Bildunterschrift sein im Stil von Lewis Hine, Dorothea Lange oder wie im Portrait eines Bahnarbeiters von Jack Delano, das er in Chicago für die Farm Security Administration gestaltet hat und dessen Unterschrift lautet: „Frank Williams 195

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arbeitet an den Reparaturschienen eines Bahnbetriebs der Illinois Central Railroad. Mr. Williams hat acht Kinder, von denen zwei in der US-Armee dienen. Chicago, November 1942“ (Reid, Viskochil 1989: 192). Bildbände enthalten oft umfangreiche Einführungen und Essays, welche die Bilder in einem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang verorten. Aber so einfach ist es nicht. Nur den Kontext implizit zu lassen, macht ein Foto nicht unbedingt zu Kunst, und ein vollständiger Kontext macht es nicht automatisch zu einer Dokumentarfotografie, zu Sozialwissenschaft oder zu Fotojournalismus. Nicht alle guten Dokumentararbeiten liefern einen solchen Kontext. Robert Franks The Americans (denen ich unten mehr Beachtung schenke) gibt seinen Bildern auch nicht mehr Textunterstützung als die meisten Kunstfotografen, aber das Werk verdient nicht die oben angeführte Kritik. Warum nicht? Weil die Bilder selbst – gut angeordnete, repetitive Variationen einer Reihe von Themen – ihren eigenen Kontext bilden und Betrachtern beibringen, was sie wissen müssen, um ihre eigenen Schlüsse darüber zu ziehen, was gezeigt wird. (Wie wir gesehen haben, hat auch Walker Evans ähnliche Mittel verwendet, um Betrachtern die Möglichkeit zu bieten, ihren eigenen Kontext zu bilden.) In Kürze: Kontext verschafft Bildern Sinn. Wenn das Werk den Kontext nicht auf eine der diskutierten Arten bietet, arbeiten die Betrachter oft selbst daran, sich den Kontext aus ihren eigenen Ressourcen zu bilden.

Praktische Beispiele Wir wollen diesen Gedankengang verfolgen und uns Bilder ansehen, die jeweils eines der drei Genres verkörpern. Wir werden dann sehen, wie sie auch als Beispiel der jeweils anderen Genres interpretiert werden können. Das zeigt uns, welcher organisatorische Kontext und welche damit einhergehende, von bereitwilligen Nutzern geleistete Arbeit zur Bedeutung einer fotografischen Repräsentation beitragen. Wir wollen Fotografien jedes Genres als das sehen, als das sie nicht gemacht wurden – betrachten wir zum Beispiel eine Dokumentarfotografie als Nachrichtenfoto oder als Werk der visuellen Soziologie. Was geschieht, wenn wir Bilder auf eine Art lesen, die für die Organisationen ungewöhnlich ist, für die sie gemacht wurden, auf eine Art, die ihre Macher gar nicht beabsichtigt hatten, oder wenn man sie zumindest anders als normalerweise betrachtet? Eine Dokumentarfotografie als visuelle Soziologie oder Fotojour­na­lis­mus betrachten: In Robert Franks En route from New York to Washington, Club Car, einem Bild aus seinem Buch The Americans (1969: 25), sitzen drei Männer in einem Eisen-

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bahn-Clubwagen. Zwei große Männer wenden uns den Rücken zu und sind der Kamera so nahe, dass sie leicht verschwommen wirken. Sie tragen Tweedjacken, haben dichtes dunkles Haar, sind gegeneinander gelehnt und nehmen das halbe Bild ein. Zwischen ihnen, im Fokus, sehen wir den kahlen Kopf eines dritten Mannes im schwarzen Anzug und hinter ihm die Bar, über der viele kleine sternförmige Lichter glänzen. Er hat Hängebacken, seine Stirn hat Falten, und er sieht die anderen nicht an. Er sieht ernst, sogar düster aus. Frank nahm das Bild, wie alle Bilder in The Americans, mit dokumentarischer Absicht auf, als Teil eines größeren Projekts, mit dem er die amerikanische Gesellschaft beschreiben wollte. Er erklärte seine Absichten in seinem Antrag auf das Guggenheim-Stipendium, welches das Projekt ermöglichte: Was ich vorhabe, ist Beobachtung und Zeugnis dessen, was ein eingebürgerter Amerikaner in den Vereinigten Staaten sieht, was die Art der Zivilisation ausmacht, die hier geboren wurde und sich weithin ausdehnt. Es ist übrigens wahrscheinlich, dass ein aufmerksamer, im Ausland reisender Amerikaner frische Eindrücke aufnimmt; und das Umgekehrte mag zutreffen, wenn man die Vereinigten Staaten mit europäischen Augen betrachtet. Ich spreche von Dingen, die es hier und dort und überall gibt – leicht zu finden, aber nicht leicht auszuwählen und zu interpretieren. Ein kleiner Katalog entsteht vor dem geistigen Auge: eine Stadt bei Nacht, ein Parkplatz, ein Supermarkt, eine Autobahn, der Mann, dem drei Autos gehören, und der Mann, der keines hat, der Farmer und seine Kinder, ein neues Haus und ein windschiefes Holzhaus, die Diktatur des Geschmacks, der Traum der Pracht, Reklame, Neonlichter, die Gesichter der Führenden und Gesichter der Geführten, Benzintanks und Postämter und Hinterhöfe. (Tucker, Brookman 1986: 20)

An anderer Stelle erklärte er sein Projekt so: Mit diesen Fotografien habe ich versucht, einen Querschnitt durch die amerikanische Bevölkerung zu zeigen. Ich habe mich bemüht, es einfach und ohne Verwirrung zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein persönlicher Blick, und ich habe daher verschiedene Aspekte des amerikanischen Lebens und der Gesellschaft ignoriert […] Mir wurde oft vorgeworfen, ein Thema bewusst für meinen Standpunkt verfälscht zu haben. Vor allem weiß ich, dass ein Fotograf dem Leben nicht gleichgültig gegenüberstehen darf. Oft besteht eine Meinung aus Kritik. Aber Kritik kann auch aus Liebe entstehen. Wichtig ist, zu sehen, was Anderen unsichtbar bleibt. Vielleicht der Anblick von Hoffnung oder von Traurigkeit. Es sind auch immer die sofortigen Wirkungen auf einen selbst, die ein Foto erzeugt. (aus U.S. Camera Annual 1958 in Tucker, Brookman 1986: 31)

In diesem Kontext können wir En route from New York to Washington, Club Car als eine Stellungnahme zur amerikanischen Politik betrachten. Wie wir an anderer Stelle in Franks Buch erfahren, sind diese großen und physisch imposanten Männer 197

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jene Sorte, die politische Machtpositionen einnehmen und Orte wie die Clubwagen der Züge zwischen New York, dem Finanzzentrum des Landes, und Washington, dem politischen Zentrum, besetzen. Was dieses Bild dokumentarisch macht und ihm seine vollständige Bedeutung verleiht, ist sein Platz in einer Folge von Bildern. Es sagt nichts Ausdrückliches über amerikanische Politik. Aber wir verstehen seine politische Aussage, indem wir die Bedeutung der Details des Bildes durch ihre Verwendung an anderer Stelle im Buch ableiten. Wir lernen, dass ein großer Mann ein mächtiger Mann ist (wie in Bar – Gallup, New Mexico, auf dem ein großer Mann in Jeans und Cowboyhut eine überfüllte Bar dominiert) und dass ein gut gekleideter großer Mann ein reicher und mächtiger Mann ist (Hotel lobby – Miami Beach, auf dem ein großer Mann mittleren Alters von einer Frau begleitet wird, die einen teuren Pelzmantel zu tragen scheint). Wir lernen, dass Politiker große und daher mächtige Männer sind (City fathers – Hoboken, New Jersey, auf dem eine Gruppe solcher Männer eine politische Bühne füllt). Wir sehen diese großen, gut gekleideten Männer im Zug zwischen diesen beiden Machtzentren. Die Sterne in den Lampen über der Bar rufen die Sterne in der amerikanischen Flagge ins Gedächtnis sowie ihren Gebrauch und Missbrauch in politischen und alltäglichen Zusammenhängen, die in anderen Fotografien des Buches dokumentiert werden. Sie deuten an, dass wir den Mächtigen bei einer irgendwie unbestimmten Arbeit zuschauen, die uns wahrscheinlich nicht gut bekommen wird. Das Bild dient als Teil von Franks Analyse – implizit, aber trotzdem deutlich – der Funktion des politischen Systems der U.S.A. Würde die Analyse explizit zum Ausdruck kommen, könnte ihre Komplexität sie gut und gerne als visuelle Soziologie ausweisen. In diesem Fall würden wir wahrscheinlich mehr darüber wissen wollen, was wir zu sehen bekommen. Wer sind diese Leute? Was tun sie eigentlich? Aber noch wichtiger: Wir würden deutlicher wissen wollen, was Frank uns über das Wesen der amerikanischen Politik erzählt hat. Wir würden diese feinen Abstufungen der fotografischen Behandlung der amerikanischen Gesellschaft gern austauschen, wie es tatsächlich viele Kommentatoren getan haben (siehe Brumfeld 1980; Cook 1982; 1986), gegen eine explizite Aussage über das Wesen dieser Gesellschaft, ihre Klassenstrukturen und ihre politische Struktur, ihre Altersgruppen, ihre Geschlechterzusammensetzung, und ihren Gebrauch wichtiger Symbole wie der Flagge, des Kreuzes und des Automobils. Eine solche explizite Aussage über kulturelle Muster und die gesellschaftliche Struktur würde das Bild zwingen, jene abstrakten Fragen nach der Organisation der Gesellschaft zu beantworten, die Soziologen interessieren. Selbst dann wäre es unwahrscheinlich, dass viele Soziologen Franks Buch als Werk der wissenschaftlichen Soziologie akzeptieren würden. Sie würden zu Recht vermuten, dass sich Fotografien leicht manipulieren lassen. Die Anspruchsvolleren

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würden merken, dass man nicht einmal das eigentliche Bild ändern, sondern nur die Elemente richtig einrahmen und auf den richtigen Moment warten muss. Sie würden zu Recht ablehnen, ein einzelnes Bild als Ersatz für ein größeres Universum ähnlicher Situationen zu verwenden. Sie wären zu Recht unsicher, ob die Bilder die Bedeutung haben, die ich ihnen zuweise. Sie würden jedoch nicht den nächsten Schritt gehen, nämlich einzusehen, dass jede Form von sozialwissenschaftlichen Daten genau dieselben Probleme hat, und dass keine Methode sie sehr gut löst. Würde das Foto auf der Titelseite einer Tageszeitung erscheinen, würden wir dasselbe Bild vielleicht als Pressefoto betrachten. Aber die Leute auf dem Bild werden nicht namentlich genannt und Zeitungen drucken selten Fotos von anonymen Menschen. Im Gegenteil: Es wird Fotojournalisten eingebläut, bis sie instinktiv Namen und andere relevante Informationen von Leuten verlangen, die sie fotografieren (Studenten in einem Kurs für Fotojournalisten werden gewarnt, dass ein fehlerhafter Name in der Bildunterschrift automatisch zum Nichtbestehen der Prüfung führt). Um als Pressefoto zu dienen, müsste das Bild eine ganz andere als die von Frank verwendete Unterschrift tragen. Zum Beispiel: „Senator John Jones aus Rhode Island diskutiert Kampagnenstrategie mit zwei Assistenten.“ Selbst dann wäre es unwahrscheinlich, dass dieses Bild in der Zeitung erscheinen würde, weil es körnig und unscharf ist und die beiden Assistenten uns den Rücken zuwenden. Der Redakteur würde den Fotografen zurückschicken, um ein schärferes Foto einer solchen Routinesituation zu erhalten, das weniger körnig wäre und uns die Gesichter aller drei Männer erkennen lässt. Viele konventionelle Fotografen und Kritiker beklagten sogar, was dieser fiktive Redakteur an Franks Bild beanstandet hätte. Den Herausgebern von Popular Photography zum Beispiel gefiel Franks Buch nicht. Die folgenden Kommentare erschienen in Band 46, Nummer 5 im Mai 1960: „Frank ist es gelungen, durch das widerspenstige Medium der Fotografie eine intensiv persönliche Vision darzustellen, und das ist nicht zu tadeln. Aber was das Wesen dieser Vision anbelangt, so finde ich seine Reinheit zu häufig durch Boshaftigkeit, Verbitterung und enge Vorurteile ebenso gestört wie dadurch, dass zu viele Bilder fehlerhaft sind – durch ihre bedeutungslose Unschärfe, Körnigkeit, trübe Belichtung, tiefe Horizonte und allgemeine Nachlässigkeit. Als Fotograf missachtet Frank alle Standards für Qualität und Disziplin in der Technik“ (Arthur Goldsmith, zitiert in Tucker, Brookman 1986: 36f.). Ein anderer Kritiker schrieb: „Es scheint, als würde er seine Kamera nur in die Richtung halten, in die er aufnehmen möchte, ohne sich um Belichtung, Komposition und andere unwichtigere Dinge zu kümmern. Wenn Sie unscharfe Bilder, harte, unnötige Körnigkeit, zusammenlaufende Vertikale, einen totalen Mangel an normaler Komposition und eine lockere Schnappschussqualität mögen, dann ist Robert Frank der Richtige für Sie. Wenn nicht, dann könnten 199

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Sie The Americans für einen der am stärksten irritierenden Bildbände halten, die jemals erschienen sind“ (James M. Zanutto zitiert in Tucker, Brookman 1986: 37). Hätte jedoch ein Fotojournalist das Bild für einen Bericht über politische Korruption aufgenommen, hätte ihm sein Redakteur solche „technischen“ Fehler wohl aufgrund der Bedeutung seiner Enthüllung verziehen. In diesem Fall hätte die Bildunterschrift vielleicht gelautet: „James McGillicuddy, der politische Boss von Boston, im Gespräch mit Senator John Jones aus Rhode Island, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Senat, und Harry Thompson, CEO eines großen Rüstungsunternehmens.“ Der Redakteur hätte vielleicht einen eindrucksvollen Leitartikel dazu geschrieben, und der Senator hätte wohl wie so viele Politiker, denen Fehlverhalten vorgeworfen wird, seine Anwesenheit bestritten und darauf bestanden, es hätte sich um zwei andere Männer gehandelt. Tatsächlich hätte eines von Franks Bildern (1965 auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago aufgenommen) im richtigen Zusammenhang in einer Tageszeitung oder Zeitschrift als „Pressefoto“ erscheinen können. Die Bildunterschrift (Convention Hall – Chicago) nennt typischerweise keine Namen. Wir sehen den überfüllten Saal eines politischen Parteitags. Wieder wenden uns zwei Männer den Rücken zu. Links und rechts von ihnen sehen wir die Gesichter zweier Männer. Der eine sieht hinter einer dunklen Brille weltmännisch und ruhig aus. Der andere, mit Hängebacken, schaut beunruhigt zu Boden. Die Gesichter dieser beiden Politiker waren damals erkennbar, und ihre Namen hätten dem Bild vielleicht „Nachrichtenwert“ verliehen. Der verstört aussehende Mann war ein Soziologe (einst einer meiner Professoren an der University of Chicago, deswegen erkannte ich ihn), der den Lehrstuhl gegen die Politik getauscht hatte: Joseph Lohman, ein bekannter Kriminologe, der nacheinander Sheriff von Cook County und Staatssekretär in Illinois wurde, sich erfolglos um die Kandidatur der Demokraten für den Gouverneursposten des Bundesstaates bewarb und dann der Politik den Rücken zuwandte, um Dekan des Fachbereichs Kriminologie an der University of California – Berkeley zu werden. Zur Zeit des Fotos war er noch politisch in Illinois aktiv und vertrat den Typus der „guten Regierung“ in der Tradition von Adlai Stevenson. Ich glaube, er spricht auf dem Bild mit Carmine DeSapio, einem wichtigen Politiker aus New York City in der altmodischen Partyboss-Tradition. Im Kontext jenes Parteitags hätte das Bild vielleicht „Pressewert“ haben können, weil es auf ein unwahrscheinliches und daher interessantes potenzielles politisches Bündnis hinwies. Ein soziologisches Bild als Journalismus und als Dokumentar­fotografie betrachten: Douglas Harper schrieb sein Werk über Landstreicher als soziologische Studie. In der ursprünglichen Dissertation wurden seine Fotografien in „Band 2“ verbannt und erhielten keine Bildunterschriften. Aber das Buch, das er daraus entwickelte, Good

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Company (1981), enthielt eine große Anzahl an Fotografien, nicht als Illustrationen, wie Fotos in Soziologie-Lehrbüchern erscheinen, sondern als integrierte Elemente der soziologischen Untersuchung, also für das soziologische Verständnis der Leser gedacht. Sie enthalten und reflektieren Ideen, die soziologischen Ursprungs und daher vielleicht nicht so unmittelbar transparent sind wie andere Fotografien. Hier ist ein Beispiel: das Bild Jungle; Wenatchee (1981: keine Seitenangabe) von Carl, einem Landstreicher, den Harper während seiner Feldstudien beim Rasieren antraf. Harper erklärt, dass dieses Bild im Kontext gesehen als Beleg gegen die allgemeine Auffassung zu werten ist, diese Männer seien stets ungepflegt und würden nicht auf ihr Äußeres achten (ein anderes Bild in der Serie, Boston Skid Row, das einen unrasierten Landstreicher zeigt, scheint eben diese Meinung zu unterstützen, s. Abb. 11.2). Harper gibt zu bedenken, dass auch ein Mann, den wir mit einem Zweitagebart antreffen, sich schließlich vor zwei Tagen rasiert haben muss.

Abb. 11.1 Jungle; Wenatchee (Harper 1981: S. 200)

Harpers Bilder werden nicht nur durch ihren Inhalt, sondern durch ihren Kontext zur visuellen Soziologie. Sie erscheinen umgeben von einem soziologischen, aber unkonventionellen Text, der ihre Bedeutung erklärt. Ein Teil des Textes erzählt, wie

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Harper von Carl über die Hobo-Kultur10 informiert wurde. Ein zweiter Teil erklärt diese Kultur in analytisch-soziologischer Sprache: die charakteristischen Formen der sozialen Organisation, in die Hobos eingebunden sind und die Bedingungen, unter denen solche Anpassungen entstehen und bestehen bleiben. Der Text, sowohl Harpers Erzählung seiner eigenen Anpassung an das Leben auf der Straße als auch seine spätere explizit soziologische Analyse, verleiht den Bildern zusätzliche Substanz, soziologische Bedeutung und Beweiskraft.

Abb. 11.2 Boston Skid Row (Harper 1981: S. 201)

Wir können versuchen, dieselben Bilder als Fotojournalismus zu betrachten. Stellen Sie sich vor, die Bilder seien Illustrationen für eine Zeitungsartikelserie zum Thema „Obdachlosigkeit“. In diesem Kontext würden die Fotos, wie es für fotojournalistische Bilder typisch ist, ihre Bedeutung durch den Vorrat der jederzeit verfügbaren Stereotype erhalten, den tägliche Zeitungsleser mit sich herumtragen. Wir würden 10 Anmerkung des Übersetzers: „Hobo“ ist ein umgangssprachlicher US-amerikanischer Begriff für einen Landstreicher, „Penner“ oder Wanderarbeiter.

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wahrscheinlich niemals den Mann sehen, der sich rasiert, weil es unwahrscheinlich ist, dass ein Fotojournalist Monate damit zubringt, die Art von Zugang zu erhalten, die Harper gelungen ist, aber auch – und noch wichtiger – weil ihm die Fachkenntnisse fehlen, die dem Foto erst die Bedeutung verschaffen. Selbst ein Fotojournalist vom Rang eines W. Eugene Smith musste noch auf dem Höhepunkt seiner Karriere wiederholt mit Life Magazine kämpfen, damit er wenigstens drei Wochen an einem Ort verbringen durfte, um ein Foto-Essay zu erarbeiten. Außerdem würde ein Redakteur dem Fotografen, der solche Bilder abliefert, sagen: „Diese Bilder sagen mir nicht ,obdachlos‘.“ Warum nicht? Weil Redakteure schon vor einer Untersuchung des Themas wissen, oder zu wissen meinen, wie die Story aussehen muss. Was immer die Story auch über „das Problem“ der Obdachlosigkeit aussagt, sie muss sich damit decken, was die Leser schon wissen und glauben. Ein angemessenes Bild muss, damit es sofort verständlich ist, auf dem entsprechenden Vorwissen der Leser aufbauen. Für den Redakteur – und damit auch den Fotografen – ist deswegen bereits im Voraus entschieden, was „Obdachlosigkeit“ bedeutet; sie versuchen nicht, darüber etwas herauszufinden, was sie noch nicht wussten. Ihr Problem ist ein technisches: Wie erhält man ein Bild, das am besten zur bereits ausgewählten Story passt (siehe Hagaman 1993; 1996). Können wir Harpers Bilder als Dokumentarfotografie auffassen? Ja, wir könnten sie mit den von Hine geprägten klassischen Worten so sehen, dass sie zeigen, was anders werden muss, oder vielleicht gemäß der anderen Hälfte des berühmten Ausspruchs von Hine, zeigen, was gewürdigt werden muss. In einem angemessenen Zusammenhang von Text und anderen Fotos, könnten wir sie als Teil der Bemühungen einer aufgerüttelten Gruppe von Wissenschaftlern betrachten, das Leben dieser im Lande herumziehenden Männer zu ändern. Oder wir könnten – eher gemäß Harpers eigener Absicht – die Unabhängigkeit und den Lebensstil dieser Männer anerkennend zelebrieren. David Matza beschreibt, wie die Chicago School of Sociology dies tat, indem sie Formen der Devianz anerkannte, die von Durchschnittsmenschen für gewöhnlich verachtet werden (Matza 1969). Diese zelebrierende Art von Betrachtung hat viel mit der häufig gehörten anthropologischen Forderung gemeinsam, man solle die Menschen, die man studiert, auch achten. Ein journalistisches Bild als visuelle Soziologie und als Dokumentar­fotografie betrachten: (Es ist mir noch nie gelungen, das Bild zu finden, das ich jetzt beschreiben möchte, aber ich habe andere gesehen, die ihm ähnlich genug sind, um mein Argument zu unterstützen. Ich bin so frei und beschreibe das „perfekte“ Bild, das mir vorschwebt.) Wir wollen also folgendes Bild in Betracht ziehen: Wir sehen einen Hubschrauber auf dem Rasen in einem Garten, der aussieht wie der am Weißen Haus in Washington, DC. Ein Teppich läuft vom Gebäude zum Hubschrauber. 203

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Ein Mann mit gesenktem Kopf und gekrümmten Schultern geht auf dem Teppich zum Hubschrauber, während auf beiden Seiten Menschen stehen und weinen. Wer im Jahre 1974 nicht Zeitung gelesen hat, mag nicht wissen, was hier gezeigt wird, aber das Bild war für Menschen in aller Welt, die damals Zeitung lasen, sofort zu erkennen. Es ist Richard Nixon, der das Weiße Haus verlässt, nachdem er soeben sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten niedergelegt hat. Seine öffentliche Behauptung, er sei kein Gauner, wurde dadurch Lügen gestraft, dass fortlaufend veröffentlicht wurde, „was er wusste und wann er es wusste“. Das Bild war damals ein klassisches Pressefoto. Kurz nach seiner Veröffentlichung erlitt es das Schicksal aller Pressefotos. In kürzester Zeit sind sie keine Neuigkeit mehr und haben „nur noch historischen“ Wert. Ihr Nachrichtenwert richtet sich nach dem Zusammenhang, also danach ob die Gegebenheit „jetzt“ zeitgemäß ist. Das Pathos und die emotionale Kraft des Nixon-Fotos verlangte von allen Zeitungslesern, dass sie das Bild in den Kontext rückten und damit sofort wussten, was es bedeutete, als sie es zu Gesicht bekamen. Das Bild fasste eine Geschichte zusammen, die sie monatelang in der Presse und am Fernsehen verfolgt hatten: der allmähliche und scheinbar unausweichliche Sturz eines mächtigen politischen Führers, der durch seine eigenen Lügen und sein Paranoia zu Fall gebracht und letztendlich durch eine Kombination aus politischen und journalistischen Attacken besiegt wurde. Jahre später hat das Bild keine solche Bedeutung mehr. Es hält eine Begebenheit fest, von der Leute, die damals keine Zeitungen oder Zeitschriften lasen, vielleicht dennoch gehört haben. Aber es hat keinen Neuigkeitswert und stellt nicht mehr den Endpunkt eines Geschehens dar, dessen Ausgang bis dahin unbekannt und zweifelhaft gewesen war. Es muss um etwas anderes gehen als um Zeitgeschehen. Was könnte es noch sein? Im richtigen Zusammenhang können Pressefotos von bleibendem Interesse dokumentarischen Wert erhalten, so wie Erich Salomons Fotografien dokumentarisch geworden sind, die er zwischen den beiden Weltkriegen von Ereignissen wie der Friedenskonferenz von Versailles aufnahm (Salomon 1967). Die Politiker, die Salomon fotografierte – Persönlichkeiten jener Zeit wie Gustav Stresemann und Aristide Briand – haben keinen Neuigkeitswert mehr. Aber wir könnten das Nixon-Foto – auch nicht mehr von Neuigkeitswert für uns – mit Salomons Fotos kombinieren, um ein allgemeingültiges Dokument von Aspekten der politischen Entwicklung zu gestalten. Andere, eher historisch Interessierte könnten das NixonBild in eine größere Betrachtung der Watergate-Ereignisse einbetten. Könnte das Nixon-Bild Teil einer soziologischen Analyse werden? Ein Soziologe könnte sich zum Beispiel, wie viele vor ihm, damit auseinandersetzen, wie die Presse mit dem typischen Phänomen des politischen Skandals umgeht, wie sie das Mittel

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der fotografischen Repräsentation einsetzt, um auf die politische Herabstufung eines in Ungnade gefallenen Staatsmanns hinzuweisen (Molotch, Lester 1974). Eine gute soziologische Analyse dieses Problems würde einen Vergleich von Nixon-Fotos in verschiedenen Stadien seiner Karriere erfordern. Nixon wäre ein hervorragendes Thema für eine solche Analyse, weil seine Karriere und sein Ruf in relativ kurzer Zeit stark schwankten. Man kann erwarten, dass fotografische Repräsentationen ähnliche Variationen zeigen würden. Andere Analysen politischen Verhaltens könnten sich mit den öffentlichen Ritualen einer Gesellschaft befassen, mit dem Gebrauch quasi-königlicher Utensilien und mit Veranstaltungen, um eine Art von monarchischem System innerhalb einer politischen Demokratie zu kreieren. In einer solchen Studie wären Bilder von Nixon umgeben von anderen Fotos ähnlicher Rituale und von Texten, die andere Mittel enthüllen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen.

Zusammenfassung Repräsentationen haben keine feststehenden Bedeutungen, deren weitere Konsequenzen dann analysiert werden können. Sie existieren in gesellschaftlichen Kontexten und sind Wahrheit oder Fiktion, Dokument oder erfinderische Konstruktion, je nachdem, was die Endnutzer aus ihnen machen. Das Experiment hier zeigt, wie dasselbe Bild verschiedene Bedeutungen haben kann, wenn es in verschiedenen Umfeldern von verschiedenen Menschen verwendet wird.

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Drama und Vielstimmigkeit: Shaw, Churchill und Shawn 12 Drama und Vielstimmigkeit: Shaw, Churchill und Shawn

Wollen wir die Stimmen und Standpunkte nur mancher oder aller Teilnehmer in unsere Repräsentationen der sozialen Situationen einbeziehen, die wir untersuchen? Viele Soziologen denken, dass wir uns für einen kohärenten und glaubhaften Bericht des gesellschaftlichen Lebens mit den Bedeutungen befassen müssen, die Akteure den Objekten, den anderen Menschen, ihren eigenen Aktivitäten und denen anderer Menschen verleihen. Wenn wir von Bedeutungen sprechen, sprechen wir von Stimmen, denn Bedeutungen entstehen durch Interaktion, und Interaktion besteht zu einem großen Teil aus Gesprächen, aus den Stimmen wirklicher Menschen, die miteinander sprechen Nicht alle denken so. Skeptiker könnten sagen, dass wir gar keine Stimmen anhören müssen. Es sei gleichgültig, was die Leute sagen. Wichtig sei, was sie tun und getan haben. Wir Menschen, als Marionetten der außerhalb unserer Kontrolle liegenden gesellschaftlichen Kräfte, kennen die Gründe für unsere eigenen Handlungen gar nicht. So sind wir bei dem berühmten Dilemma zwischen Handeln und Struktur angelangt. Können Menschen aus eigenem Ermessen handeln oder nicht? Wenn sie das nicht können, dann kommt es nicht auf die Bedeutungen an. Was immer sie auch denken mögen und egal welche Bedeutung sie anderen Leuten und Dingen zuschreiben, sie haben keine Wahl und müssen tun, wozu die höheren Kräfte sie zwingen. Wissenschaftler, die so reden, schmuggeln jedoch ausnahmslos die Stimmen der Menschen, über die sie sprechen, wieder herein und schreiben denen, deren Handlungen sie erläutern, alle möglichen Bedeutungen und Interpretationen zu. Ihre eigenen allwissenden analytischen Stimmen vertreten all die anderen, deren Tun sie zu analysieren beanspruchen. Bruno Latour beschreibt das als den „Sprecher-Effekt“: Jemand sagt uns, was die Leute, deren Handlungen wir analysieren wollen, im Sinn haben (Latour 1987: 70ff.). Dieser allwissende Erklärer – die Voiceover-Stimme im Dokumentarfilm, die Stimme des Sozialwissenschaftlers, der die Ergebnisse einer Befragung „interpretiert“ – sagt uns, was das alles bedeutet, was die Menschen, 207 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_12

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die befragt wurden, wirklich gedacht haben müssen. Diese autoritative Stimme spricht im standardgemäßen klassischen Journalartikel in dem Abschnitt, in dem der Wissenschaftler die Ergebnisse „diskutiert“. Die autoritative Stimme erhält ihre Autorität, ihre Überzeugungskraft, von einer Annahme, die sowohl die Sprecher als auch die Zuhörer akzeptieren: dass hinter der Stimme wissenschaftlich (oder sonst wie) nachgewiesenes Wissen steckt. James Clifford erklärt, wie Anthropologie – zuerst begriffen als gelehrte Zusammenfügung dessen, was „Männer vor Ort“ (Missionare, Händler, Entdecker) aufgeschrieben hatten – von ausgebildeten Wissenschaftlern zu einer Wissenschaft gemacht wurde, die Material (das in ihren Händen zum „Beweismaterial“ wurde) auf wissenschaftliche Weise sammelten und nutzten, um sorgfältig gestaltete wissenschaftliche Hypothesen nachzuweisen (Clifford 1988). Wenn Anthropologen das tun, dann wahren sie – gemäß dieser Darstellung – ihre wissenschaftliche Neutralität. Aber sie kombinieren sie mit der Behauptung, es handele sich um Insider-Wissen aus erster Hand. Die endgültige Rechtfertigung für unseren Glauben an die von einer Stimme des Forschers mitgeteilten Ergebnisse ist die Kombination verallgemeinernder, systematisch wissenschaftlicher Neutralität und detailliertem Wissen, das eigentlich nur von persönlicher Anwesenheit, eigener Betrachtung und Aufzeichnung in Feldnotizen stammen könnte. (Ganz gewiss kann „persönliche Anwesenheit vor Ort“ stark verwässert und höchst metaphorisch werden, wenn im Falle einer Befragung oder demografischen Studie der Ausdruck „vor Ort“ das Büro bedeutet, in dem jemand die Befragungsergebnisse mit dem Computer erfasst hat.) Clifford verfolgt diese beiden Behauptungen in den Besonderheiten der anthropologischen Prosa von Bronisław Malinowski und anderen Autoren: Im Wechsel zwischen Textstellen verallgemeinernder „objektiver“ Prosa und den aufregenden Berichten persönlicher Erfahrung („Unsere Gruppe, die vom Norden aus segelte …“), bekundet die Erstere die Wissenschaft, die Letztere die persönliche Beteiligung. Klassische anthropologische Berichte erzählten von den untersuchten Völkern und von der Teilnahme der Anthropologen an ihrem Leben. Erst dadurch wurde die Studie möglich und glaubhaft. Mikhail Bakhtin bestand darauf, es müsse mehr einbezogen werden als nur die autoritative Stimme des Autors (die er der epischen Form und einer stabilen hierarchischen Gesellschaft gleichsetzte). Er stellte die Ideen der Mehrstimmigkeit11 und dialogischen Prosa vor (soviel ich weiß, hat er diese Begriffe auch eingeführt). Er entwickelte diese Begriffe, um etwas über Romane zu sagen, was er für wichtig hielt: Er wollte Dickens dafür loben, dass er so viele verschiedenen Arten von 11 Anmerkung des Übersetzers: In deutschen Übersetzungen des Werkes von Bakhtin ist auch von „Redevielfalt“ oder „Polyphonie“ die Rede.

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Menschen in seinem Roman auftreten und zu Wort kommen ließ. Aber seine Idee ist ohne weiteres auch auf andere Gebiete übertragbar. Bakhtin erklärt die Idee in The Dialogic Imagination so: „Ein Wort, ein Diskurs, eine Sprache oder Kultur erfährt ‚Dialogisierung‘, wenn sie relativiert, entprivilegiert wird, wenn sie sich der miteinander konkurrierenden Definitionen für dieselbe Sache bewusst werden. Nichtdialogisierte Sprache ist autoritativ oder absolut“ (Bakhtin 1981: 427).12 In einer Welt, in der sich Bedeutungen je nach Redner und gesellschaftlicher Situation und Stellung des Sprechers ändern, kann ein literarisches Werk, das beansprucht, unser Verständnis dieser Welt zu verbessern, nicht mit einer eindeutigen autoritativen Stimme sprechen, denn es gibt keine Möglichkeit, genau die Stimme auszuwählen, die die ganze Wahrheit enthält. Ein literarisches Werk, das akkurat sein möchte, muss diese verschiedenen Stimmen enthalten, die die Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen ausdrücken. Es muss Gespräche zwischen Menschen enthalten, die verschiedene Meinungen vertreten. Es nimmt also die Form eines Dialogs an und wird somit „dialogisch“. Eine einfache Idee. Wie beziehen wir sie auf das Problem der Gesellschaftsrepräsentation? Die Gesellschaft besteht aus einer Vielfalt an Gruppen, die Dingen und Menschen und Ereignissen ihre jeweils eigene Bedeutung verleihen. (Im Grenzfall ist die Gruppe nur eine Person, mit der niemand sonst darüber einig ist, was die Dinge bedeuten. Meistens behandeln wir solche Leute als Verrückte.) Mitglieder einer Gruppe, die Dinge ähnlich definieren, können aufgrund dieser gemeinsamen Definition gemeinsam handeln. Wenn sie nicht dieselben Definitionen teilen, sind ihre Versuche gemeinsamer Aktionen erfolglos. Ich habe dabei nichts Mysteriöses im Sinn. Beim Häuserbau ist es viel besser, wenn alle Handwerker sich auf dieselben Fachbegriffe einigen. Bittet mein Zahnarzt seinen Assistenten, ihm einen „Gingivalrandschräger“ zu reichen, haben meine Zähne eine bessere Chance, wenn Zahnarzt und Assistent dabei an dasselbe Instrument denken. Wenn wir die Aktivitäten eines kleinen Teils der Gesellschaft adäquat darstellen wollen, können wir uns nicht auf die unmittelbar betroffenen Leute beschränken. Jede noch so kleine Aktivität besteht aus Menschen, die gemeinsam handeln, und im Prinzip wollen wir die Vielfalt der an dieser Aktivität beteiligten Menschen darstellen. Wir betrachten daher ihre Beziehungen zu anderen Gruppen und Organisationen. Wenn wir ein Krankenhaus verstehen wollen, können wir nicht nur das Pflegepersonal und die Ärzte beobachten und mit ihnen sprechen. Um zu verstehen, was sie warum tun, sollten wir auch mit der Verwaltung, den Patienten, Technikern, Helfern, Hausmeistern, Köchen, Lieferanten, Versicherungsfirmen, 12 Anmerkung des Übersetzers: Becker zitiert hier aus dem Glossar zu Bakhtins Buch, das von dessen Übersetzern Caryl Emerson und Michael Holquist angelegt wurde. 209

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dem Personal in der Wäscherei und all den anderen Personen und Einrichtungen sprechen, besonders auch mit Patienten, deren Zustand der Grund ist, warum das Krankenhaus überhaupt besteht. Nachdem wir das alles gesehen und gehört haben, wollen wir auch gewährleisten, dass jede Gruppe in unserer Repräsentation „zu Wort kommt“, dass ihre Bedeutungen berücksichtigt werden und ihren Teil zur Lösung des Rätsels beitragen. Sonst würden wir nicht ausreichend darlegen, was wir erklären wollen. Um ehrlich zu sein: Obwohl es Aufgabe der Soziologie ist, zu verstehen und dann unser Verständnis zu kommunizieren, hätten wir sonst keine Ahnung, was unsere Daten bedeuten; unsere Berichte würden die Befunde falsch auslegen, unsere Prognosen wären völlig daneben, und wir wären ständig überrascht von dem, was geschieht. Gäbe es Übereinstimmung oder einen Konsens unter den Menschen, die wir studieren, und wüssten wir genau, dass ein Sprecher wirklich für alle spricht, so dass wir wissen oder vermuten könnten, dass sie alle wirklich dasselbe denken, glauben und tun würden, dann wäre unsere Aufgabe leichter. Wir müssten nicht all diese Stimmen berücksichtigen. Eine einzige würde genügen. Aber gerade das hat Bakhtin beklagt. Ein genaues Zuhören in Bezug auf irgendein beliebiges soziales Problem beschert uns ein wahres Babel verschiedener Stimmen. Wenn wir also die Aufgabe der Repräsentation ernst nehmen wollen, müssen wir all diese Stimmen anhören und darüber berichten. Ich wiederhole nicht das konventionelle sentimentale Plädoyer, Menschen, die sonst nicht gehört würden, eine „Stimme zu geben“, weil es moralisch das Richtige ist. Ich will auch nicht andeuten, dass diese sonst unbeachteten anderen Stimmen womöglich eine „Wahrheit“ (oder sogar „die Wahrheit“) enthalten, zu der die üblicherweise, mit oder ohne unsere Hilfe, gehörten Menschen keinen Zugang haben, oder dass sie zwar die Wahrheit kennen, sie uns aber vorenthalten. Das Argument ist noch hartnäckiger. Wir können unsere selbst gestellte Aufgabe der akkuraten Beschreibung nicht erfüllen, wenn wir nicht allen zuhören. Jede Person und jede Gruppe kennt eine Sache besser als alle anderen Menschen, nämlich ihr eigenes Denken und bisheriges und zukünftiges Tun. Sie mögen uns über all das nicht die Wahrheit sagen, aber das ist ein allgemeines Problem. Wenn irgendjemand weiß, was sie denken, dann sind sie es selbst. (Ja, ich glaube, dass die Idee des „falschen Bewusstseins“ die Wirklichkeit grotesk verdreht.) Wenn wir in unserer Beschreibung eines Organisationsprozesses nicht einfügen, was Menschen aller Art wissen, dann lassen wir in unserer Analyse viele wichtige Dinge aus und verstehen viele Dinge falsch. Jeder, der das gesellschaftliche Leben beschreiben will, bekommt durch diese Argumentationslinie schwierige Probleme. Muss wirklich jede Stimme dargestellt werden? Selbst in der einfachsten Situation sind das eine Menge Stimmen. Es ist

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einfach festzustellen – wie ich es in Kunstwelten (Becker 1982) getan habe –, dass sich selbst an der einfachsten Aktivität eine enorme Zahl von Menschen beteiligt. Sie mögen nicht alle gleichzeitig im selben Raum sein und mögen sich nicht einmal persönlich kennenlernen oder gegenseitig von ihrer Existenz wissen, aber es ist keine komplizierte Analyse notwendig um zu erkennen, dass sich ohne die Beteiligung all dieser Menschen das Ganze nicht so ereignet hätte. Zum Beispiel bestand ich in Kunstwelten auf folgender Feststellung: Ohne die Leute, die sich um den Parkplatz kümmern, wäre die Oper anders, denn es wird sich auswirken, wie einfach es ist zu kommen, das heißt, wer und wie viele als Besucher erscheinen, aus welchen Quellen die Einnahmen in welcher Höher stammen, also wieviel für eine Produktion zur Verfügung steht, und folglich welche Künstler engagiert werden können und was angeschafft werden kann. Aber normalerweise denken wir nicht, es sei erforderlich, die Stimmen der Parkplatzwächter zu repräsentieren, wenn wir etwas über die Oper schreiben. Als Philippe Urfalino eine wichtige Entwicklung in der Geschichte der Pariser Oper beschrieb, zitierte er vier Stimmen, nämlich die der vier Männer, die hauptverantwortlich für die Entwicklung des neuen Gebäudes und der neuen damit zusammenhängenden Konzepte für die Oper waren (Urfalino 1990). Es wäre einfach, ein gutes Argument daraus zu machen, dass zu wenige Menschen zu Wort kamen und mehr Stimmen gehört werden sollten. Urfalino bestätigt das Problem und fügte hinzu, dass diese vier nicht als wichtige Personen in der Geschichte besonders bekannt sind, aber er besteht darauf, dass sie die ausschlaggebenden Akteure für die wesentlichen politischen und technischen Entscheidungen und Maßnahmen waren, die zur erfolgreichen Fertigstellung des Projekts führten (ebd.: 7ff.). Es ist leicht zu erkennen, dass der Einbezug dieser vier ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist. Wenn man darauf besteht, dass jede Stimme gehört werden muss, heißt das nur, dass es immer vorteilhaft ist, mehr Stimmen zu hören, und nicht, dass man sich beschweren muss, wenn etwas nicht ganz perfekt ist. Wir können es mit Latours Bericht aus dem Jahr 1996 über das gescheiterte Projekt vergleichen, in Paris ein neues, innovatives Metrosystem zu bauen. Er berücksichtigte viel mehr Leute und Einrichtungen um zu erklären, wie das Projekt scheiterte, weil zuletzt keiner der vielen Beteiligten vom neuen Metrosystem begeistert genug war, um es zu verwirklichen (Latour 1996). Vielleicht müssen wir nicht jede Stimme anhören, aber wir brauchen mehr als nur ein paar und unbedingt mehr als die einzige Stimme des „allwissenden“ Autors oder Wissenschaftlers, wenn wir eine vollständige und überzeugende Geschichte erzählen wollen. Wir haben jedoch keinen Algorithmus, mit dem wir entscheiden können, wie viele Stimmen wir auf welche Weise einbeziehen müssen. Schon lange gibt es einige konventionelle Lösungen für dieses Problem. So können wir zum 211

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Beispiel die Leute, die eine Organisation leiten, für alle anderen Beteiligten sprechen lassen. Das hierarchische Organisationsprinzip sieht vor, dass die Führungsspitze einer hierarchischen Einrichtung mehr über sie weiß, sie besser versteht und sie mit mehr Autorität beschreiben kann als die unteren Ebenen (für eine umfangreichere Diskussion einer „Hierarchie der Glaubwürdigkeit“ siehe Becker 1967). Wir müssen das nicht glauben, aber die Leute, die unsere Gesellschaft analysieren, unterliegen dieser Gefahr oft, beteiligen sich an den untersuchten Hierarchien und akzeptieren sie. Indem sie also gut sozialisierte Mitglieder der Einrichtung werden, akzeptieren sie auch diese Theorie der Wissensverteilung. Sie brauchen nur noch das Wort von den Verantwortlichen an der Spitze und schon ist ihre Arbeit getan. Manche Soziologen, die das Gesundheitswesen studieren, glauben, Ärzte wüssten schließlich mehr über Krankheit und Gesundheit als Soziologen, und wir sollten daher ihr Wissen nicht in Frage stellen. Die Stimmen der Patienten, die von Ärzten diagnostiziert werden, oder die Stimmen neutraler Beobachter müssten nicht gehört werden. Thomas Scheff (1974; 1975) und Walter Gove (1970; 1975) stritten zum Beispiel darüber, ob Menschen, die von Psychiatern als psychisch krank eingestuft werden, sich wirklich wesentlich von Menschen unterscheiden, die nicht so bezeichnet werden. Gove dachte, sie unterscheiden sich, da Ärzte mehr über psychische Krankheiten wissen als alle anderen, und dass daher Menschen, die von Ärzten als verrückt erklärt werden, tatsächlich verrückt sind. Scheff meinte, man müsse nicht wirklich verrückt sein, um als verrückt bezeichnet zu werden. Andere studieren Jura und denken, dass Rechtsanwälte – besonders solche, die für ihren Berufsstand sprechen – darüber schließlich am meisten wissen. Das ist zu einer heiklen Angelegenheit für Soziologen geworden, die wissenschaftliche Vorgänge studieren, denn Wissenschaftler werden ärgerlich, wenn Soziologen und andere „Relativisten“ ihr schwer erarbeitetes Wissen als sozial kontingent bezeichnen (siehe die Diskussion in Hacking 1999). Das ist die einfache Lösung für das Dilemma, wie viele Stimmen ein Forschungsbericht berücksichtigen sollte. Wir fragen die Autoritäten – die verantwortlichen Fachleute, den Vorstandsvorsitzenden eines Unternehmens, die Leiter des Strafverfolgungssystems – und sie werden uns mitteilen, was wir wissen müssen. Natürlich glaubt heute niemand mehr, man könne Industriearbeiter studieren, indem man die Bosse fragt, was sie denken und tun. Man befragt vielmehr die Arbeiter direkt im persönlichen Gespräch oder per Fragebogen. Dabei akzeptiert man aber eine schleichende Form der Glaubwürdigkeits-Hierarchie. Man stellt nämlich die Fragen, die man der Führungsebene zufolge stellen sollte, untersucht deren Problemstellung mit deren Variablen, und lässt aus, was die Bosse für unnötig halten. So suchen Soziologen des Bildungssystems andauernd eher bei den Schülern

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nach Gründen für „Bildungs-Misserfolge“ statt bei den Lehrern, ganz abgesehen von der Schulverwaltung oder dem Schulsystem. Schon vor geraumer Zeit beschlossen manche Sozialwissenschaftler herauszufinden, was andere an solchen Prozessen Beteiligte denken und tun; Forschungspläne und -arbeiten sollten also auch deren Interessen und Fragen berücksichtigen. Das Studium des sogenannten abweichenden Verhaltens erlebte eine Blüte, als Forscher die Bedeutung, Ideen und Theorien der als deviant Bezeichneten untersuchten sowie der Personen, die diese Kennzeichnung eingeführt hatten. Dies ist unter der Überschrift „aus der Perspektive von“ Untergebenen in einer Organisation oder anderen Beteiligten mehr oder weniger institutionalisiert worden. Angenommen, wir entscheiden uns, all diese anderen Stimmen einzubeziehen. Wie soll das geschehen? Sozialwissenschaftler haben das lange diskutiert (Clifford, Marcus 1986; Clifford 1988), aber Anhänger einer anderen Methode des Erzählens über Gesellschaft waren schon früher an dem Punkt und haben dem Problem weit mehr Beachtung geschenkt. Bakhtin (1981) konzentrierte sich auf den Roman, darauf, wie Romane alle möglichen Stimmen einbrachten, um interessant zu sein, wie sie Charaktere aus allen Gesellschaftsschichten erschufen und sie reden und reden und reden ließen. Dickens hat die ganze Gesellschaft zum Leben erweckt: Bürokraten und Taschendiebe, Rechtsanwälte und Schulmeister … was auch immer. Bakhtins Stichworte – Dialog, dialogisch und Heteroglossie – bezeichnen dieses Merkmal der novelistischen Praxis, die den Stimmen vieler Menschen fast automatisch Platz verschafft.

George Bernard Shaw: Zwei Seiten eines Arguments Wie wir bereits festgestellt haben, unterscheiden Analysen der Gesellschaft in jedem Medium typischerweise zwischen Gut und Böse. Handlungen beziehen sich oft auf bestrafte Bosheit und belohnte Redlichkeit. In ironischen Versionen bleibt Bosheit ungestraft und Tugend unbelohnt, aber oft bedauern gebildete (wie auch weniger anspruchsvolle) Betrachter einen solchen Ausgang. Viele der wirkungsvollsten Analysen struktureller Zusammenhänge (wie Erving Goffmans Studie psychiatrischer Kliniken und anderer totaler Institutionen, die im nächsten Kapitel behandelt wird) machen dem Nutzer dieses Urteil nicht leicht. Sie erläutern die Umstände und das Denken der Bösen wie auch der Guten mit so viel Detail, dass die Ursachen für ihr Handeln deutlich werden. Dadurch wird es schwierig, sie aus simplen moralischen Gründen zu verurteilen. 213

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Dramatiker lösen das Problem, indem sie mehrere Darsteller auf die Bühne stellen, die mit verschiedenen Stimmen sprechen. (Selbst der Einzeldarsteller in Monologen wie Samuel Becketts Das letzte Band und Glückliche Tage [Beckett 1960; 1961] spricht Andere an, die wir durch ihre unausgesprochene Hälfte der Unterhaltung kennenlernen.) Wenn der Autor die dramatische Form wählt, dann muss er dafür sorgen, dass jede Figur sich verständlich macht, denn sonst gäbe es keinen dramatischen Konflikt und die Zuschauer wären gelangweilt. Ich konnte nicht finden (und gebe daher hier keine Quelle an), an welcher Stelle der Drehbuchautor David Mamet gesagt hat, dass jede Figur die Szene betritt und etwas will, und was sie in der Szene tut, spiegelt ihren Versuch wider zu bekommen, was sie will. Daraus folgt, dass die Zuschauer eine Szene nicht verstehen können, wenn sie nicht wissen, was die Figuren im Sinn haben. George Bernard Shaw nutzte die dramatische Form für lebhafte intellektuelle Diskussionen über ernsthafte soziale und soziologische Probleme. In Major Barbara diskutieren der Waffenhersteller Mr. Undershaft und seine Tochter Barbara, Major der Heilsarmee, über die Moralität des Krieges. Die Hauptdarsteller verkörpern und sprechen jeweils für entgegengesetzte Ansichten. Shaw gebraucht dieses Mittel meisterlich in Frau Warrens Beruf, seiner Stellungnahme zur Prostitution und seinen moralischen Argumenten zum Thema. In diesem Stück über Vivie Warren, einer jungen Frau, die soeben ihr Mathematikstudium in Cambridge absolviert hat, und ihre Mutter, die im Ausland wohnt und deren Geldquelle für Vivies Unterhalt nie erklärt wird, will Shaw folgenden Punkt zur Geltung bringen: Frau Warrens Beruf wurde 1894 verfasst, um auf die Tatsache hinzuweisen, dass Prostitution nicht durch weibliche Verdorbenheit und männliche Zügellosigkeit, sondern schlicht durch Unterbezahlung, Unterbewertung und Überarbeitung von Frauen entsteht, ein Grund, der so beschämend ist, dass die ärmsten der Frauen gezwungen sind, Prostituierte zu werden, damit sie überhaupt existieren können. Faktisch verlieren alle attraktiven, besitzlosen Frauen Geld, indem sie entweder unfehlbar tugendhaft bleiben oder Ehen schließen, die nicht mehr und nicht weniger käuflich sind. Wenn wir auf gesamtgesellschaftlicher Ebene das bekommen, was wir Tugend nennen, dann nur, weil wir dafür mehr bezahlen. Keine normale Frau würde professionelle Prostituierte sein, wenn sie sich verbessern könnte, indem sie anständig wäre, und würde auch nicht für Geld heiraten, wenn sie es sich leisten könnte, aus Liebe zu heiraten. Außerdem wollte ich die Tatsache bloßstellen, dass Prostitution nicht nur freiberuflich als selbstständige Beschäftigung in der Wohnung einer alleinstehenden Frau ausgeübt wird, die ihre eigene Herrin und die Geliebte ihrer Kunden bleibt, sondern dass Frauen auf organisierte Weise im Rahmen eines riesigen internationalen Geschäfts zum Vorteil von Kapitalisten ausgebeutet werden, genau wie andere Geschäfte auch. Daran verdienen auch die Großbesitzer von Liegenschaften, einschließlich die Kirchen durch die Mieten für die Häuser, in denen sie betrieben wird. (Shaw 1946: 181)

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Er bringt seine Meinung zum Ausdruck, indem er Mutter und Tochter miteinander streiten lässt, die jeweils ihren eigenen Standpunkt vertreten. Ihre Argumente erhalten einen Teil ihrer Aussagekraft durch das Drama ihrer Beziehung, in dem das Geheimnis von Frau Warrens Gewerbe schließlich gelüftet wird. Indem die beiden Hauptdarstellerinnen ihre gegenseitigen Argumente so gut wie möglich vortragen, wird gewährleistet, dass die Analyse und somit die Zuschauer keine Seite der Debatte gedankenlos akzeptieren. Wir lernen schnell, dass Frau Warrens Gewerbe daraus besteht, in europäischen Großstädten eine Kette von Bordellen zu besitzen und zu betreiben. Vivie, die ihre Mutter nur selten zu Gesicht bekommen hat, weiß davon nichts, ist jedoch verständlicherweise sehr neugierig. Als ihre Mutter zu ihrer Abschlussfeier anreist, drängt Vivie auf mehr Information. Obwohl es nie offen ausgesprochen wird, begreift sie bald, dass ihre Mutter Bordelle besitzt und betreibt und dass sie ein gutes Geschäft daraus gemacht hat, das ihren großen Luxus einschließlich Vivies Studium finanziert. Frau Warren verteidigt ihre Befürwortung der Prostitution damit, dass ihre Schwester Liz, die das Geschäft erfolgreich gegründet hatte, sie einst überredete einzusteigen. Die Schwester ist bereits im Ruhestand und lebt nun als Dame der gehobenen Gesellschaft in Winchester. Frau Warren weiß um das viel schlimmere Schicksal ihrer Halbschwestern, die ihr beruflich nicht gefolgt sind: „Sie waren die Anständigen. Und was hatten sie von Ihrer Anständigkeit? Ich will es dir sagen. Eine von ihnen arbeitete für 9 Shilling die Woche, 12 Stunden pro Tag, in einer Bleiweißfabrik, bis sie tot war, Bleivergiftung. Sie glaubte, sie käme mit gelähmten Händen davon, aber sie starb. Die andere wurde uns immer als Vorbild hingestellt, weil sie einen Arbeiter von den Deptforder Markthallen geheiratet hatte und sein Zimmer und drei Kinder ordentlich und sauber hielt, mit 18 Shilling die Woche, bis er anfing zu trinken. Da hat es sich doch gelohnt, anständig zu sein, oder nicht?“ (Shaw 1991: 190) Frau Warren bekam einen Job in einer Bar, wo ihre Schwester sie zufällig traf, die noch als Kind verschwunden ist: Als sie nun sah, daß ich hübsch geworden war, sagte sie zu mir über die Bar herüber,: „Was soll’n das hier, du dumme Gans! Gesundheit und Aussehen kaputtmachen für anderer Leute Profit?“ Liz hatte Geld gespart, wollte ein Haus in Brüssel kaufen, zu zweit, dachte sie, könnten wir rascher zu was kommen. […] Das Haus in Brüssel war wirklich große Klasse. Ein besserer Platz für eine Frau als die Fabrik, in der Anne Jane vergiftet wurde. Keines unserer Mädchen wurde je so behandelt, wie ich behandelt worden war in der Spülküche des Abstinenzler-Lokals oder in der Waterloo-Bar oder zu Hause. Hätte ich trotzdem dort bleiben sollen, um ein zerschundenes altes Ripp zu werden, bevor ich 40 war? (ebd.: 191f.)

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Von diesen Argumenten beeindruckt, nimmt Vivie den konventionellen moralischen Standpunkt ein, diese Art von Beruf sei doch erniedrigend. Diese vertrauten Argumente werden nicht ausführlich vorgetragen, aber man fühlt ihre Präsenz in den wenigen Sätzen, die Vivie ausspricht. Sie meint, es müsse doch etwas Besseres geben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre Mutter habe doch offensichtlich geschäftliches Talent und sei gewillt, hart zu arbeiten. Das hätte sich doch auch auf andere Weise bezahlt gemacht. Aber davon will Frau Warren nichts hören. Es sei das einzige Geschäft, in dem sie und ihre Schwester ihr gutes Aussehen als Kapital nutzen könnten. Sie stimmt Vivie zu, es könne natürlich mit respektlosen Kunden manchmal rau zugehen. Aber sie sagt, die Frau müsse eben „die Unerträglichkeiten ertragen, sie kann’s sich nicht aussuchen, sowenig wie die Schwester im Krankenhaus oder sonstjemand“ (ebd.: 192). Als Vivie ihre Mutter in einer vorhersehbaren rhetorischen Wendung fragt, ob sie sich denn nicht für ihr Tun schäme, sagt Frau Warren: „Na ja, Kindchen, klar, das gehört ja zum guten Ton, daß man sich ‘n bißchen geniert dafür, von einer Frau wird das einfach erwartet.“ Sie fügt hinzu: „Wenn man die Welt schon so organisiert für die Frauen, ist es falsch, so zu tun, als wäre die Welt ganz anders organisiert. Nein: Ich habe mich nie geniert, nicht so viel. Nach meiner Meinung durfte ich stolz darauf sein, daß wir das so gut gemanagt haben, daß man uns nichts nachsagen konnte und daß es die Mädchen gut hatten bei uns. Einige machten sogar Karriere. Eine heiratete einen Botschafter.“ (ebd.: 194f.) Vivie erlebt bald ihre eigene Versuchung in Form von Shaws anderer Erläuterung dazu, wie Frauen gekauft und verkauft werden. Sir George Crofts, ein älterer Herr, Partner ihrer Mutter im Bordellgeschäft (obwohl Vivie nicht weiß, dass er es war, der das Anfangskapital zur Verfügung gestellt hat), will Vivie nun heiraten und verspricht ihr viel Geld. Sie weist ihn ab, und aus Gehässigkeit enthüllt er gegenüber Vivie seine Rolle im Geschäft. Er sagt ihr auch, die Behauptung ihrer Mutter, sie hätte das Geschäft aufgegeben, sei nur eine bequeme Lüge gewesen. Jetzt versteht Vivie endlich, dass die Bordelle schon immer ihr eigenes unbeschwertes Leben finanziert haben. Crofts erklärt ihr das System verzweigter Beziehungen, das praktisch die gesamte Gesellschaft verbindet, die üblichen Guten wie auch die üblichen Bösen, sie eingeschlossen: Sie würden den Erzbischof von Canterbury wohl kaum schneiden, nur weil die Kirchenverwaltung unter ihren Pächtern auch Zöllner und Missetäter hat? Haben Sie Ihr Crofts-Stipendium im Newnham vergessen? Stammt von meinem Bruder, Mitglied des Parlaments. Er kriegt seine 22 Prozent von ‘ner Fabrik mit 600 Mädchen, und nicht eine von denen kann von ihrem Lohn leben. Und wie sollen die, bitte, durchkommen, wenn sie keine Familie haben, auf die sie zurückgreifen können? Fragen Sie mal Ihre Mutter! Und ich soll es wohl ablehnen, 35 Prozent einzustreichen, während

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alle anderen schlau genug sind, einzustreichen, was überhaupt einzustreichen ist? Da müßte ich ja hier sein Tippt an die Schläfe. Wenn Sie Ihre Bekanntschaften nach moralischen Grundsätzen auswählen wollen, dann verschwinden Sie besser gleich ganz aus diesem Land, es sei denn, Sie legen keinen Wert mehr auf Umgang mit besseren Leuten. (ebd.: 209f.)

Beide Frauen haben gute Gründe für ihre jeweilige Einstellung. Die Argumente sind noch überzeugender dank der Emotionen, mit denen sie geäußert werden und die durch die Situation dramatisch gerechtfertigt sind. Natürlich zieht Vivie eine Lehre daraus, und genau darum geht es in dem Stück. Sie sagt ihrer Mutter: Ich habe gegen Crofts nicht mehr als gegen jeden anderen rohen Kerl seiner Klasse. Ich gestehe sogar, daß ich ihn fast bewundere, weil er stark genug ist, sich auf seine Art zu vergnügen und jede Menge Geld zu machen, anstatt seine Zeit mit Jagden, Rennen, Fressen, Mode und Nichtstun totzuschlagen, wie es sonst in seiner Klasse üblich ist. Es ist mir auch völlig klar, daß ich kein bißchen anders geworden wäre als meine Tante Liz, wenn ich in solchen Verhältnissen aufgewachsen wäre. Ich glaube nicht, daß ich engherziger bin als du oder mehr Vorurteile habe. Eher weniger. Auf jeden Fall bin ich nicht mehr so sentimental. Und daß die prima Moral nur ein Unterdrückungsmittel ist, weiß ich auch. Und wenn ich dein Geld nehme und mein Leben damit verbringe, es auf die schickste Art auszugeben, dann genauso leer und verkommen sein werde, wie die dümmste Kuh es gern sein möchte, dann kann ich das haben, ohne daß einer mich deswegen anquatscht. Aber ich will eben nicht verkommen. (ebd.: 230)

Ohne moralisieren zu wollen, möchte ich feststellen, dass Sozialwissenschaftler systematisch jedes Drama in ihren Präsentationen vermieden und den Preis dafür gezahlt haben, dass es schwierig ist, mehrere Standpunkte zu vertreten.

Caryl Churchill: Viele Stimmen erzählen eine Geschichte Caryl Churchills Drama Mad Forest (1996) beschäftigt sich mit Ereignissen in Rumänien im Dezember 1989, als Regierungschef Nicolae Ceaușescu in einer schlagartigen Revolte gestürzt und schließlich zusammen mit seiner Frau Elena hingerichtet wurde. Anfang März 1990 besuchten Caryl Churchill und Regisseur Mark Wing-Davey vier Tage lang Bukarest. Ende des Monats kehrten sie mit einem Team von Theaterleuten und zehn Schauspielstudenten zurück. Sie interviewten Leute, arbeiteten mit Studenten an der Theater- und Filmhochschule „Ion Luca Caragiale“ zusammen und „trafen sich mit vielen anderen Leuten“. Sie führten also 217

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eine Art soziologische Untersuchung durch. Dann schrieben sie das Theaterstück, probten es und führten es am 13. Juni 1990 erstmalig auf. Im ersten und dritten Akt des Dramas geht es um die Ehe der Lehrerin Lucia, Tochter eines Elektrikers und einer Straßenbahnfahrerin, und des Kunststudenten Radu, dem Sohn eines Architekten und einer Lehrerin – ein junger Mann aus der Mittelklasse heiratet ein Mädchen aus der Arbeiterklasse. Schon diese Geschichte und ihre Auflösung sind interessant und wichtig, aber ich beschränke mich hier auf Akt 2 (Churchill 1996: 29ff., alle folgenden Zitate entstammen diesen Seiten). In Akt 2 erscheinen (in der Vorstellung am Berkeley Repertory Theater) die elf Schauspieler. Auf der Bühne sitzen sie nebeneinander auf Stühlen, Gesicht nach vorn. Die Regieanweisung lautet: „Keine der Charaktere in diesem Akt sind die Charaktere des Stücks, das in Teil 1 begann. Sie sind Rumänen, die Englisch mit rumänischem Akzent sprechen. Alle Darsteller verhalten sich, als seien sie jeweils allein auf der Bühne, um uns zu berichten, was geschah.“ Sie sprechen in knappen Aussagesätzen. Ihre Berichte sind von einer Zeile bis vielleicht 150 Wörter lang. Jeder beschreibt, was er am 21. Dezember, dem Tag des Aufstands, sah und hörte und wusste und tat, als sich die Menge auf dem öffentlichen Platz versammelte sowie danach, als der Aufstand an Dynamik gewann. Niemand hat einen Überblick über das gesamte Ereignis. Sie wissen nur, was sie selbst getan haben und was in ihrer unmittelbaren Umgebung geschah. Aber indem jede Person erzählt, was sie weiß, erhalten die Zuschauer einen umfassenderen Eindruck vom gesamten Geschehen. (Dies ähnelt der dem Militärhistoriker S.L.A. Marshall zugeschriebenen Methode, der in Gruppen-Interviews Informationen über das Verhalten an der Front sammelte, wobei jeder Beteiligte in einer Einheit erzählte, was er gesehen und getan hatte; Chambers 2003). Keine einzelne Stimme ist besonders wichtig. Keine vertritt einen bestimmten politischen Standpunkt, obwohl sie durchaus verschiedene gesellschaftliche Stellungen repräsentieren, denn sie unterscheiden sich ja nach Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf, Klasse und so weiter – und Chancen. Im Ganzen gesehen, geben die vielen Stimmen einen ausgewogenen und umfassenden Überblick über das Geschehene. Die elf Teilnehmer beschreiben etwas, woran Soziologen schon lange interessiert sind, und zwar unter der Rubrik „elementares kollektives Verhalten“ (Blumer 1951): die Untersuchung von Menschenmengen, Mobs und ähnlichen Formen unorganisierter kollektiver Aktionen. Die Schauspieler bieten die beste Beschreibung des Verhaltens in solchen Situationen, die ich je gelesen habe – durch den Aufbau schlichter Details. Die Sprecher identifizieren sich am Anfang und beschreiben dann, was sie an „dem Tag“ getan haben. So beginnt der 2. Akt, in dem die Personen erstmalig erkennen, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hat:

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Studentin. Ich heiße Natalie Moraru. Ich bin Studentin. Am 21. Dezember hatte ich mich beim Frühstück mit meiner Mutter über eine Lappalie gestritten und war wütend weggegangen. Es gab nichts Besonderes. Ein paar alte Männer unterhielten sich. Ein paar Polizisten in Zivil standen herum. Sie denken, sie sind so schlau, aber jeder weiß, wer sie sind, weil sie immer ihre Gesichter so verziehen. Übersetzer. Ich heiße Dimitru Constantinescu. Ich arbeite als Dolmetscher für eine Übersetzungsagentur. Am 21. hörten wir im Büro zu, wie Ceaușescu eine Radioansprache hielt. Alles war total vorhersehbar. Man hatte Leute in Bussen aus Fabriken und Instituten geholt, und er wollte ihre Zustimmung für die Niederschlagung der von ihm so gennannten Hooligans in Temeswar. Plötzlich hörten wir Buhrufe, und dann war das Radio tot. Wir wussten, dass etwas geschehen war. Wir waren fürchterlich erschrocken. Wir zitterten alle.

Manche merken zunächst gar nichts: Ärztin. Ich heiße Ileana Chirița. Ich bin medizinische Praktikantin. Ich gehe von der Uni ins Krankenhaus. Wir müssen sechs Monate Praktikum machen. Der 21. war ein ganz normaler Tag für uns. Ich wusste von gar nichts.

Aber bald bildet sich eine Menschenmenge: Bulldozerfahrer. Ich komme von der Arbeit, um meinen Sohn von der Schule abzuholen, und ich gehe nicht zum Arbeitsplatz zurück. Ich gehe zum Platz vor dem ZK-Gebäude. 1. Student. Da waren zwei Lager, die Armee und die Menschen, aber niemand hat geschossen. Manche Arbeiter kamen vom Volkspalast mit Baumaterial, um Barrikaden zu errichten. Es kamen immer mehr Menschen, und wir wurden zusammengepfercht.

Manche Leute gingen nach Hause und versuchten zu ignorieren, was sich offensichtlich abspielte, aber andere wollten dabei sein: 1. Student: Da sind Lastwagen, die uns Getränke bringen. Ich sage den Leuten, sie sollen nichts trinken, denn die Securitate will uns betrunken machen, damit wir schlecht aussehen. Abends versuchten wir, auf dem Rosettiplatz eine Barrikade zu bauen. Wir setzten einen Lastwagen in Brand. Securitate. In meinem Bereich sind Barrikaden, und es brennen Autos. Ich melde es. Später schießt die Armee auf Leute und fährt mit Panzern in die Menge. Ich verlasse den Dienst.

Und die Geschichte geht weiter, immer in demselben eintönigen Berichtstil. Es wird von weiteren Geschehnissen erzählt: Man merkt zunehmend, dass etwas schief 219

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Teil II Beispiele

geht. Die Menge wird immer größer. Gerüchte gehen um („Wir haben im Radio gehört, dass sich der Oberbefehlshaber der Armee umgebracht hat und zum Verräter erklärt wurde.“) Soldaten mischen sich unter die Menge („Dann sah ich, dass sie Blumen in den Gewehrläufen hatten“), die Staatssicherheit bricht zusammen („Als ich mich umdrehte, sah ich, dass die Polizei verschwunden war“) und „Es gab keine Worte auf Rumänisch oder auf Englisch, um zu beschreiben wie glücklich ich war.“ Es gibt aber eine Gegenbewegung: terroristi fangen an zu schießen. Leute erscheinen mit ihren Gewehren. Junge Menschen sind bereit, für die Bewegung zu sterben. Sie finden Gewehre in einer Waffenfabrik, die nicht verteidigt wird. Menschen sterben. Dann: 1. Student. Am 25. hören wir vom Prozess und von ihrem Tod (der Ceaușescus). Es wird bekanntgegeben, dass die Leute ihre Waffen zurückgeben sollen. Also gehen wir zur Fabrik und geben unsere Gewehre ab. Von den 28 mit Gewehren leben nur noch vier.

Leute finden sich mit den neuen Umständen ihres Lebens ab. Securitate. Als ich von der Hinrichtung am 25. hörte, ging ich nachts mit meinem Vater zum Amt, um zu melden, was ich während des Ereignisses getan hatte. Ich wurde drei Tage lang von der Armee festgehalten und dann aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Eines will ich sagen. Bis zum Mittag des 22. waren wir die Ordnungskräfte. In diesem Sinn waren wir erzogen. Ich werde nie für Unordnung sein. Alle schauen mich an, als hätte ich etwas falsch gemacht. So war aber damals das Gesetz, und alle waren damit einverstanden.

Am ersten Abend des Seminars verteilte ich Kopien der Textfassung. In elf der 25 Kopien hatte ich die Texte der verschiedenen Rollen farblich markiert. Wenn in der Kopie, die man bekam, eine Rolle markiert war, musste man diese später vorlesen. Die Studenten beschwerten sich, dass sie keine Schauspieler seien. Ich sagte, es sei egal, und zitierte David Mamets Mantra: „Nicht spielen, nur vorlesen.“ Manche beklagten sich immer noch, aber schließlich stimmten alle zu. Die Studenten hatten Recht: Sie waren keine Schauspieler, aber das war völlig unbedeutend. Sie lasen alle ihre Rollen vor, und der dramatische Erfolg war außergewöhnlich. Als wir mit diesem kurzen Teil des 2. Akts fertig waren, blieben alle still und waren zweifellos bewegt. Probieren Sie dieses Experiment selbst! Sie werden erfahren, wie überzeugend diese knappe dramatische Erfahrung eine Episode darstellen kann, bei der es Sozialwissenschaftlern schwerfällt, sie nur halb so gut zu beschreiben.

12 Drama und Vielstimmigkeit: Shaw, Churchill und Shawn

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Wallace Shawn: Die fehlende Stimme Shaw gibt uns zwei Stimmen, die miteinander streiten. Churchill gibt uns viele Stimmen, keine wichtiger als die andere, die eine komplexe Situation zusammensetzen. Wallace Shawn gibt uns absichtlich eine Stimme, und sie ist die falsche. Wir sind es so sehr gewohnt, dass fiktive Darstellungen einen moralischen Standpunkt haben, dass ein Bühnenautor, der keinen liefert, Zuschauer und Kritiker verwirrt. Der Dramatiker Wallace Shawn hat dies mehr als einmal getan und dabei immer eine Menge Unbehagen verursacht. In seinem Stück Aunt Dan and Lemon (Shawn 1985) erzählt eine junge, kränkliche und naive Frau (mit dem Spitznamen Lemon) die Geschichte ihrer weltgewandten, vornehmen Tante Danielle, einer in England wohnenden US-Amerikanerin. Im Laufe des Dramas erweist sie sich aber (in ihren Worten und Taten) als verwerflich. Sie sympathisiert mit all den schlimmsten Merkmalen und Aktionen des US-amerikanischen und europäischen gesellschaftlichen und politischen Establishments. So verteidigt sie zum Beispiel Henry Kissinger und Neville Chamberlain, aber es kommt noch schlimmer. Diese Enthüllungen entwickeln sich langsam, und man erfährt wirklich erst am Ende, dass Tante Dan eine überzeugte Nazi-Anhängerin war und dass sich Lemon die schlimmsten Meinungen ihrer Tante zu eigen gemacht hat, und stolz darauf ist, den Mut zu diesen Meinungen zu haben. Es ist nicht nur, dass Tante Dan Kissinger verehrt. Sie bewundert Politiker, die dreist genug waren zu tun, was sie für richtig hielten, obwohl es schwächeren Menschen erscheint, es mangele diesen Politikern an Mitgefühl und sie seien sogar unmoralisch. Die Tante ist auf unterschiedliche Art unmoralisch, was sowohl politisch links wie rechts stehende konventionelle Menschen abstoßend finden. Lemon folgt ihr nicht in allen Dingen, bewundert sie aber für alles. Lemons letzter Monolog, den ich hier nicht ausführlich zitiere (er ist viel länger als der unten abgedruckte Auszug), ist die ehrlichste Äußerung ihrer Bewunderung für alles, was alle Zuschauer fast mit Gewissheit abstoßend finden. Sie erklärt, dass die Nazis, um die von ihnen angestrebte „Volksgemeinschaft“ zu erzielen, alle Nicht-Deutschen ausrotten und Kreuzungen mit anderen Rassen vermeiden mussten. Sie vergleicht dies damit, dass die frühen Siedler in Amerika, die eine europäische Gesellschaft einrichten wollten, ganz genauso die Indianer töten mussten, die jedes Fleckchen ihres Landes gegen sie verteidigten. Dann sagt sie: Wir müssen zugeben, dass es uns nicht mehr wirklich interessiert. Ich glaube, es ist dieses letzte Eingeständnis, das die Leute so wütend auf die Nazis macht, denn in unserer Gesellschaft haben wir diesen Kult um das entwickelt, was die Leute „Mitgefühl“ nennen. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter immer geschrien 221

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hat: „Mitgefühl! Mitgefühl! Du musst Mitgefühl für andere Leute haben! Du musst Mitgefühl für andere Menschen haben!“ Und ich muss zugeben, da ist etwas an den Nazis, das ich erfrischend finde, und darum lese ich auch so gern über sie jeden Abend. Sie hatten den Mut zu sagen: „Was ist dieses Mitgefühl? Also mir ist nicht klar, was das sein soll. Ich möchte wirklich wissen, was das bedeuten soll.“ An einem Punkt müssen sie sich wohl gegenseitig gefragt haben: „Sag mal, Heinz, hast du das jemals gefühlt?“ „Nein, Rolf, du etwa?“ Und so mussten sie alle zugeben, dass sie wirklich keine Ahnung hatten, was zum Teufel es sein sollte. Ich finde es richtig entspannend, über diese Leute zu lesen, denn ich muss gestehen, dass ich es auch nicht weiß. Ich meine, ich habe es gefühlt, wenn ich einen Roman gelesen oder einen Film gesehen habe: „Oh, wie traurig, das Kind ist krank! Die Mutter weint“, aber ich kann mich nicht erinnern, es jemals im Leben gefühlt zu haben … Wenn ich etwas von Tante Dan gelernt habe, dann war es eine Art von Ehrlichkeit. Es ist so einfach, zu sagen, wir sollen alle liebevoll und süß sein, und dabei freuen wir uns über einen gewissen Lebensstil – und wir leben -, wegen der Existenz gewisser anderer Menschen, die bereit sind, den Job des Tötens zu übernehmen. Es ist gar nicht so schlecht manchmal zuzugeben, dass wir so leben, und vielleicht sollten wir diesen gewissen Menschen sogar ein kleines, winziges Dankeschön sagen. Das ist sicher mehr, als sie erwarten, aber ich glaube, sie wären trotzdem glücklich. (Shawn 1985: 83ff.)

Shawns Werk ist nicht so besonders, weil er diese niederträchtigen oder ignoranten Typen offen und detailliert portraitiert, sondern weil in dem Stück nichts, kein Wort, keine Geste sagt, dass irgendetwas an dem, was sie sagen und tun, falsch ist. Sie artikulieren vollständig ihre eigenen Gedanken und Aktionen, als sprächen sie zu wohlwollenden Zuschauern, als hätte ihnen ein wohlwollender Bühnenautor gelauscht und diese herrlichen Unterhaltungen und Selbstgespräche aufgeschrieben. Keine Person im Stück repräsentiert eine andere Meinung. Niemand widerspricht im Namen der Vernunft oder der Menschlichkeit. Diese Stimme fehlt. Shawn portraitiert keine Debatte zwischen Personen, die verschiedene, aber vernünftige Lösungen für Probleme haben. Es gibt keine Debatte, denn von der anderen Seite ist niemand da um zu sprechen. Es ist, als wäre Sir George Crofts die einzige Person, von der man in Shaws Stück hört, der einzige Charakter, für den es schwer ist, ein gutes Wort zu finden. Theaterbesucher (und Nutzer aller Arten dramatischer Repräsentation) erwarten, dass der Autor die Bösewichte für sie identifiziert. Das ist die übliche Arbeitsteilung zwischen Nutzern und Machern im Theater. Frank Rich, der Shawns Stück für die New York Times rezensierte, schrieb: „Der einseitig fokussierte Mr. Shawn liefert keine Rolle, um der redegewandten Lemon zu widersprechen. Stattdessen ist es dem Publikum überlassen, sich selbst eine Widerlegung auszudenken – weshalb wir uns fragen müssen, ob wir im wirklichen Leben der falschen Polemik einer klugen Faschistin wie Lemon Widerstand leisten könnten und würden. Ich kann

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mich nicht erinnern, jemals ein Theaterstück gesehen zu haben, das einem Publikum so unangenehm war, und ich meine das als hohes Lob.“ (Rich 1985) Niemand unter den Zuschauern hat Schwierigkeiten selbst herauszufinden, wer die Bösen in Aunt Dan and Lemon waren. Man könnte versuchen, Lemon aufgrund ihrer Jugend und Ignoranz zu entschuldigen, aber dazu kann man sich nicht entschließen. So dumm ist sie nicht, oder zumindest sollte sie das nicht sein. Es war nicht die Unfähigkeit, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, was die Leute, die das Stück gesehen oder gelesen haben, so aufgeregt hat. Der Grund für ihren Unmut war, dass Shawn es nicht selbst gesagt hat – durch den Mund einer Person, die ihn sichtlich vertrat – oder dass er die Geschichte nicht zu einem befriedigenden Ende brachte, bei dem Dan ein Schicksal trifft, das sie verdient hat. (Zwar stirbt Dan zuletzt an einer nicht genannten schleichenden Krankheit, aber das erkennt man nicht als dramatisch angemessene Strafe für ihre üblen Gedanken und Ansichten an. Auch nette Leute sterben auf diese Weise.) Die Leute reagierten stark auf Shawns Weigerung, seine offensichtlichen eigenen Gedanken auszusprechen. Wir sind darauf vorbereitet, dass Geschichten komplex sind, uns vor gewichtige und schwierige Aufgaben stellen, aber nicht, dass sie die Verantwortung ignorieren, ein mehr oder weniger explizites moralisches Urteil zu fällen. Die Leute wollen diese andere Stimme hören. Es ist dieselbe Erwartung, die Erving Goffman in seiner Analyse der Nervenheilanstalten enttäuschte, indem er eine sorgfältig neutrale wissenschaftliche Sprache wählte, um Situationen zu beschreiben, die von den meistern Lesern als erschreckend aufgefasst würden, wie wir im nächsten Kapitel feststellen werden.

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Goffman, Sprache und die Strategie des Vergleichs

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13 Goffman, Sprache und die Strategie des Vergleichs

In diesen letzten vier Kapiteln des Buches wende ich ein anderes Prinzip an. Ich beschäftige mich detailliert mit einigen klassischen Werken der Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene, die den bisher im Buch dargestellten Ideen entsprechen. Dieses Kapitel untersucht einen soziologischen Klassiker, während die letzten drei Kapitel Autoren literarischer Werke behandeln.

Das Problem der konventionellen Sprache Erving Goffmans zu Recht berühmter Essay „Über die Merkmale totaler Institutionen“ (1973: 13ff.) befasst sich beispielhaft mit den problematischen, niemals einfachen und direkten Beziehungen zwischen den Methoden, wissenschaftliche Forschung und Reflexion darzustellen, und dem politischen Inhalt des betreffenden Werkes. Es ist exemplarisch für Goffmans Darstellungslösung eines Problems, mit dem die sozialwissenschaftliche Literatur und Forschung ständig ringt: Wie vermeidet man analytische Mängel und Misserfolge, die sich aus unserer unbedachten Akzeptanz der Einschränkungen des konventionellen Denkens ergeben? Am deutlichsten manifestiert sich dieses Problem durch die nahezu universelle Parteinahme der Sozialwissenschaft, die Art und Weise wie Forschung „Partei ergreift“, leichtfertig und viel zu schnell die Bösen und die Guten identifiziert, Lob und Tadel verteilt, während die eigentliche Arbeit daraus bestehen sollte herauszufinden, wie alles funktioniert, und dann eine exakte Beschreibung der Erkenntnisse zu liefern. Autoren von Romanen und Bühnenstücken lösen das Problem, indem sie verschiedene Standpunkte charakterisieren. Typischerweise, aber nicht immer, lassen sie die Nutzer wissen, welche Stimme „Recht“ hat. Goffmans Methode, mit diesen Problemen in der Sozialwissenschaft umzugehen, verdient besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sozialwissenschaftler etwas untersuchen – eine Gemeinschaft, Organisation oder Bevölkerungsgruppe –, sind sie nie die ersten, die sich darum kümmern, 225 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_13

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niemals Neulinge in einer unbewohnten Landschaft, deren Merkmale sie benennen können, wie sie wollen. Jedes Thema, das sie behandeln, ist Teil der Erfahrungen vieler Menschen, die alle ihre eigene Art haben, davon zu erzählen, und ihre eigenen charakteristischen Wörter für Gegenstände und Geschehnisse und Menschen in diesem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens einsetzen. Diese Wörter sind nie neutrale objektive Bezeichnungen. Vielmehr bringen sie die Perspektive und die Situation der Menschen zum Ausdruck, die sie verwenden. Die Ureinwohner sind bereits anwesend und waren schon immer da. Alles in diesem Bereich hat schon einen Namen oder wahrscheinlich sogar viele Namen. Wenn wir für unsere Forschungsobjekte Bezeichnungen wählen, die von den entsprechenden Leuten schon verwendet werden, dann übernehmen wir mit den Wörtern auch die damit verbundenen Ansichten und Perspektiven. Da an allen gesellschaftlichen Aktivitäten viele verschiedene Menschen beteiligt sind, verpflichten wir uns durch die Anwendung eines bestimmten Vokabulars auch zu der einen oder anderen Perspektive, die von dieser oder jener bereits anwesenden Gruppe vertreten wird. Diese Perspektiven setzen immer viel als selbstverständlich voraus, was Sozialwissenschaftler wohl besser als problematisch auffassen sollten. Als ich Rauchen und Raucher von Marihuana untersuchte (Becker 1973), vermied ich absichtlich das Wort „Sucht“ bei der Beschreibung der Aktivität, obwohl viele oder die meisten Autoren zum Thema über „Marihuana-Süchtige“ schrieben. Ich meinte, dieses Wort enthielt eine falsche Annahme, und ich schrieb stattdessen über den „Marihuana-Konsum“. Viele Leser deuteten diese geringfügige sprachliche Abweichung so, dass Marihuana-Raucher eigentlich einer harmlosen Beschäftigung nachgehen und darum nicht strafgesetzlich verfolgt werden sollten. Natürlich lagen sie nicht daneben. Ich war zwar und bin immer noch dieser Meinung, aber das habe ich in meiner frühen Schrift zu diesem Thema nicht zum Ausdruck gebracht. Wie wir die Untersuchungsobjekte nennen, hat Konsequenzen. Interessierte versuchen, ein Thema so auszulegen, dass es ihre Interessen fördert und ihren Zielen entspricht. Und sie versuchen, Forscher zu beeinflussen, ein Untersuchungsthema so zu definieren, wie sie es als „richtig“ entschieden haben. Früher stritten die Mitglieder und Mitarbeiter von Interessenverbänden ständig darüber, wie viele Heroinsüchtige es in den U.S.A. gab oder in New York oder in welchem Zuständigkeitsbereich auch immer. Sie streiten vielleicht immer noch so (obwohl ich heute nichts mehr darüber lese). Das ist eine technische Frage, die davon abhängt, wie man solche Konsumenten richtig zählt. Eigentlich hätte die Frage nicht so viele hitzige Debatten auslösen sollen. Das geschah aber. Warum? Die Antwort hatte großen Einfluss auf die Budgets mancher Leute und Organisationen. Wenn ich ein Therapie-Zentrum für Süchtige betreibe und dafür Mittel beantrage, möchte ich, dass meine Geldgeber glauben, es wimmelt draußen in der Stadt von Junkies.

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Warum? Weil das schließlich bedeuten würde, dass viele Menschen die Art von Hilfe benötigen, die meine Organisation zur Verfügung stellen kann, und die Geldgeber wären eher gewillt, mir und meinen Leuten Geld für den Job zu geben, als wenn sie annähmen, dass nicht sehr viele Leute unsere Hilfe brauchen würden. Ich will, dass das Problem „ernsthaft“ aussieht, und das tut es erst, wenn die Zahl meiner potenziellen Klienten groß ist. Wenn ich aber eine städtische Polizeieinheit oder den Drogenbekämpfungsdienst leite, möchte ich diese Zahl so niedrig wie möglich sehen. Warum? Wenn die Zahl hoch ist und überall viele Süchtige umherlaufen, könnten meine politischen Feinde (die ich habe, wenn ich einen solchen Posten bekleide) damit zeigen, dass meine Bekämpfungsmaßnahmen nicht wirken, dass ich öffentliche Gelder verschwende und dass weder meine Organisation noch ich selbst als deren verantwortlicher Leiter es verdienen, unterstützt zu werden. Verdienen ist hier das auschlaggebende Wort, denn es ist ein Ausdruck des moralischen Urteils und keine Schlussfolgerung, die durch irgendein wissenschaftliches Verfahren und dessen Ergebnisse bestätigt wird. Es ist eine Schlussfolgerung darüber, was sein sollte, und beinhaltet eine Reihe von Urteilen darüber, was lohnenswert, gut, nett oder abscheulich ist – all das. Die meisten Wissenschaftler wurden geschult, zwischen Tatsachenurteilen und so genannten „Werturteilen“, also der Beurteilung von Gut und Böse, zu unterscheiden, und sie wurden vor allem gewarnt, ihre eigene Auffassung davon, was falsch ist, nicht ihre Schlussfolgerungen über das Bestehende beeinflussen zu lassen. Ob es uns gefällt oder nicht, wir sollten bereit sein, das Phänomen zu sehen und seine Existenz in unseren Analysen anzuerkennen. Hätte ich die Analyse durchgeführt, von der ich soeben sprach, über die Auswirkungen der in einem Zensus festgestellten Zahl von Süchtigen, hätte ich gar nicht sagen müssen, dass wir weniger Polizei brauchen, wenn es weniger Heroinsüchtige gibt. Meine Leser hätten mir diese Arbeit abgenommen. Sie wären allein zu dieser Schlussfolgerung gekommen, ohne dass ich es aussprechen musste. Und als ich das fragliche Verhalten „Marihuana-Konsum“ statt „Marihuana-Süchtigkeit“ nannte und eine Analyse vorlegte, die nicht dem Stereotyp der Drogensucht entsprach, konnten meine Leser ebenfalls das daraus folgende Urteil über Gut und Böse selbst erarbeiten. Sie erkannten, dass daraus „logischerweise“ folgte (und es folgte logischerweise, wenn man die Prämissen teilt, die meine Leser und ich überwiegend gemeinsam hatten), dass Marihuana-Konsumenten nicht strafrechtlich verfolgt werden sollten, nur weil sie kiffen. Zum Sprachgebrauch bezüglich Drogen gehört mehr als die einfache Unterscheidung zwischen „Konsum“ und „Sucht“. Marihuana-Konsumenten haben eine Sprache für ihre Aktivität. Das ist ein wichtiger Teil dessen, was mit „Drogenkultur“ gemeint ist. Sie sagen zum Beispiel, dass sie „high werden“, und nicht, dass 227

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sie „berauscht“ werden. Sie haben viele Synonyme für Marihuana, zum Beispiel „Gras“. Sie nennen die Person, von der sie Marihuana beziehen, eine „Connection“. Andere Leute, deren Beruf sich auch mit Marihuana befasst – Ärzte, Rechtsanwälte, Polizeibeamte – benutzen andere Wörter für dieselben Gegenstände und Aktivitäten. Sie sprechen vielleicht von „Cannabis“ und „Dealern“. Die Sprache der Nutzer drückt meistens aus, dass der Konsum freiwillig, angenehm und harmlos ist. Die medizinischen und juristischen Fachsprachen deuten hingegen an, dass der Konsum unfreiwillig, böse und schädlich ist. Wie Gegenstände und Aktivitäten genannt werden, spiegelt fast immer Machtverhältnisse wider. Menschen in Machtpositionen nennen die Dinge, wie sie wollen, und da sie viele Situationen kontrollieren, an denen andere Menschen beteiligt sind, müssen sich diese anderen darauf einstellen. Vielleicht verwenden sie ihre eigenen Wörter im privaten Umgang, aber in der Öffentlichkeit akzeptieren sie das Unausweichliche. Was immer meine Freunde und ich auch über „Gras“ denken mögen, Marihuana wird von jenen Leuten als Narkotikum bezeichnet, die dafür sorgen können, dass dieser Name sowie die entsprechenden Aktivitäten und Verbote als offizielle Bezeichnungen bestehen bleiben. Bei jedem Forschungsprojekt müssen Sozialwissenschaftler entscheiden, wie sie die Untersuchungsobjekte nennen wollen. Wenn sie die Ausdrücke übernehmen, die von den in die Untersuchungssituationen involvierten interessierten und mächtigen Akteuren festgelegt wurden, dann akzeptieren sie auch alle in dieser Sprache enthaltenen Vorannahmen. Wenn ich die Ausdrücke der Leute verwende, denen das Territorium „gehört“, und damit entscheide, die zugrunde liegenden Perspektiven zu übernehmen, erlaube ich auch, dass meine Analyse von den konventionellen gesellschaftlichen Vereinbarungen, von der Machtverteilung und den dadurch geschaffenen Privilegien geprägt wird. Wie ich bereits angedeutet habe, hat die Untersuchung von Bildungseinrichtungen darunter gelitten, dass Forscher die zwei Unterstellungen einfach akzeptiert haben, die niemand im Bildungswesen bezweifelt: Lehren und Lernen geschieht an Orten, die wir Schulen nennen. Geschieht es nicht in einer Schule, dann ist es auch keine Bildung, gleichgültig was dabei gelernt wird (siehe die Diskussion in Becker 1998: 143ff.). Die Akzeptanz und Übernahme konventioneller Definitionen der Phänomene, die wir untersuchen, hat sowohl technische als auch moralische Konsequenzen. Die technische Folge ist, dass die Klasse der Phänomene, über die ich verallgemeinerbare Aussagen treffen möchte, Dinge enthält, die nur zweierlei gemeinsam haben: die darauf bezogenen moralischen Haltungen der mächtigen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen sowie die Handlungen, die sie daraus ableiten. Demzufolge hat ein Forscher, der eine konventionelle Definition verwendet, enorme Schwierigkeiten, abgesehen von den Dingen, die mit diesen moralischen Auffas-

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sungen zusammenhängen, etwas Allgemeines über sein Thema zu sagen. Man kann über die Folgen solchen Denkens sprechen – das hat die Labeling-Theorie des abweichenden Verhaltens getan (Becker 1973). Aber man kann nichts darüber sagen, wie Menschen so werden, welche zugrunde liegenden Ursachen es gibt oder ähnliche Dinge, denn darauf bezogen gibt es in den betreffenden Fällen nichts, was allen gemeinsam wäre. Man kann keine Wissenschaft betreiben, wenn man keine hinreichend ähnlichen Fälle hat, auf deren Grundlange man etwas verallgemeinern könnte (Cressey 1951). Die moralische Konsequenz der Übernahme bestehender Ausdrücke und Perspektiven in unseren eigenen Studien ist, dass wir – bereitwillig oder nicht – auch alle in diesen Wörtern und Ideen enthaltenen Annahmen über richtig und falsch akzeptieren. Im Falle von Drogen akzeptieren wir die Idee, dass Süchtige Menschen sind, die sich selbst nicht mehr in der Gewalt haben und deshalb gezwungen sind, inhärent schlechte Dinge zu tun. Im Falle von Schulen akzeptieren wir, dass sie das Monopol des Lehrens und Lernens besitzen, das sie mit ihrer Sprache beanspruchen. Dies war Goffmans Problem, als er begann, ein Buch über die Nervenheilanstalt zu schreiben, die er untersucht hatte. Die gängige Sprache für die Diskussion der in solchen Institutionen untergebrachten Menschen verkörperte nur eine Stimme und eine Perspektive, nämlich die von Menschen, die befugt waren, andere einzusperren: das medizinische Personal, das die Anstalt leitete, die Juristen, die Menschen dort einliefern ließen, die Familien, die ihre Probleme gelöst hatten, indem sie unbequeme Angehörige dort unterbringen ließen, die Polizei, die Menschen, die in einem solchen Krankenhaus landen, manchmal als öffentliches Ärgernis betrachteten. Wie konnte Goffman verhindern, solche Kategorien wie „Geisteskrankheit“ und die damit zusammenhängenden Perspektiven als selbstverständlich vorauszusetzen? Er musste das vermeiden, denn die Akzeptanz dieser Kategorien mitsamt ihrer unterstellten Annahmen hätten der geplanten umfassenden Studie im Wege gestanden.

Sprache als Lösung Um zu verdeutlichen, wie Goffman eine praktikable Lösung des Problems der konventionellen Kategorien und der damit zusammenhängenden moralischen Urteile gefunden hat, beginne ich mit einer einfachen stilistischen Beobachtung: Kein Leser von Goffmans Essay über totale Institutionen kann die wesentliche Diskrepanz übersehen zwischen der gesellschaftlichen Realität, die er beschreibt, und der Art, wie er darüber spricht. Er beschreibt und analysiert gesellschaftliche Praktiken, die durchaus üblich sind, deren Existenz und Natur den meisten Erwachsenen bekannt 229

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ist, wenn nicht aus persönlicher Erfahrung, dann durch Bekannte, oder aus Presseberichten, Filmen, Theaterstücken und Romanen. Er beschreibt und analysiert organisierte gesellschaftliche Praktiken der Inhaftierung und Entwürdigung, die viele Leser abstoßend und abscheulich finden, die Schamgefühle darüber auslösen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der solche Dinge geschehen sind und weiterhin geschehen werden. Seine detaillierten und ausführlichen Beschreibungen machen es unmöglich, die weitere Existenz dieser beschämenden organisierten und von der Gesellschaft akzeptierten Aktivitäten zu ignorieren, und haben gelegentlich zu Reformversuchen geführt (obwohl Goffman allerdings nur einer von Vielen war, deren Schriften die Reformbewegung in Nervenheilanstalten angeregt haben). Die erwähnte Diskrepanz besteht erstens in der Sprache, in der er die Maßnahmen beschreibt, die das Anstaltspersonal in Bezug auf die Insassen ergreift. Trotz der abstoßenden Natur vieler der beschriebenen Handlungen verwendet er niemals eine urteilende Sprache. Weder brandmarkt er selbst die Praktiken, die wir nach seiner Beschreibung verurteilen möchten, noch deuten seine Adjektive und Adverbien auf seine negative Einschätzung hin. Er könnte ebenso gut einen Ameisenhügel oder einen Bienenstock beschreiben als verbreitete Form von gesellschaftlicher Institution, in der manche Menschen so behandelt werden (nicht zu vergessen, unsere gesamte Gesellschaft macht dabei mit, das heißt wir), dass ihr Leben dem von Mitgliedern einer solchen Insektengesellschaft gleicht. Diese Menschen werden in einem inflexiblen, demütigenden Kastensystem ohne Berücksichtigung individueller Gefühle oder Wünsche reglementiert. Goffman berichtet detailliert, was man in solchen Anstalten finden kann, und führt uns zu diesen Schlussfolgerungen, ohne dass er selbst etwas in der Hinsicht sagt. Hier folgen einige der Möglichkeiten, wie er Sprache anwendet, um eingebaute Urteile zu vermeiden. Er verwendet das Wort Staffelung (statt etwa Beherrschung) um das typische Autoritätssystem einer totalen Institution zu beschreiben: „jedes Mitglied der Personal-Klasse ist gewissermaßen berechtigt, jedes Mitglied der Insassen-Klasse zu disziplinieren, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit von Sanktionen wesentlich erhöht“ (Goffman 1973: 48; Hervorhebung H.B.). Das Wort ist neutral. Da es normalerweise nicht zu diesem Zweck benutzt wird, hat es keine unmittelbar negative Bedeutung, die ein Wort wie Beherrschung hat. Es bezeichnet einfach einen der vielen Wege, wie sich Autoritätsbeziehungen organisieren lassen, so wie Webers Unterscheidung von charismatischer, bürokratischer und traditioneller Herrschaft drei andere Formen beschreibt. Es ist viel einfacher, Beispiele von „gestaffelter Kontrolle“ zu finden als von „Beherrschung“. Erstere verlangt einfach die Feststellung einer wahrnehmbaren Tatsache – wer befiehlt wem –, während Letztere unterschwellig ein Urteil über die moralische Angemessenheit der Order-Erteilung enthält, was stets umstrittener ist.

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Es folgen einige weitere Beispiele dieser neutralen Sprache, die Goffman benutzt, um sich auf Dinge zu beziehen, die erwartungsgemäß starke negative Gefühle bei Lesern auslösen (Goffman 1973: 24ff.): „Aberkennung von Rollen“, um zu erklären, wie neu Aufgenommene daran gehindert werden, das zu sein, was sie in der Welt waren, in der sie vorher gelebt haben; „Trimmen“ und „Programmieren“, um zu beschreiben, wie „es möglich [wird], den Neuankömmling zu einem Objekt zu formen, das in die Verwaltungsmaschinerie der Anstalt eingefüttert und reibungslos durch Routinemaßnahmen gehandhabt werden kann“; „Identitäts-Ausrüstung“, um die Utensilien zu bezeichnen, die Menschen gewöhnlich haben um darzustellen, wer sie sind, die aber den Insassen in totalen Institutionen routinemäßig verweigert werden; „Verunreinigende Entblößung“, um auszudrücken, wie die Insassen in der Öffentlichkeit entwürdigt und gedemütigt werden; „Looping“, um zu beschreiben, wie Versuche eines Insassen, gegen die Demütigung anzukämpfen, zu weiteren Demütigungen führen; „Privilegiensystem“, um zu beschreiben, wie der Entzug normaler Rechte diese in Privilegien verwandelt, die man benutzen kann, um Gehorsam zu erzwingen; „Sekundäre Anpassungsmechanismen“, beziehen sich auf „Handlungen, die nicht unmittelbar gegen das Personal gerichtet sind, die es aber den Insassen erlauben, sich verbotene Genüsse bzw. erlaubte Genüsse mit verbotenen Mitteln zu verschaffen“ (ebd.: 59); eine große Bandbreite „persönlicher Anpassungen“ wie zum Beispiel ein „Rückzug aus der Situation“, den die Psychiater (laut Goffman) auch „Regression“ nennen mögen (ebd.: 65). Er benutzt auch Wörter, die zwar negative Beiklänge haben, von ihm aber auf neutrale Weise eingesetzt werden, wodurch sie ihre negative Bedeutung verlieren. So schreibt er beispielsweise, dass Neuankömmlinge „gedemütigt“ werden, aber Beispiele dafür schließen die Behandlung von Offiziersanwärtern beim Militär ein. 231

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Goffman beschreibt das Personal, indem er dessen Tätigkeiten als eine Art von Arbeit behandelt (und zeigt sich damit als Schüler von Everett C. Hughes, wie er oft selbst betonte), die nur Teil einer Reihe von anderen Arbeiten ist. Er unterstreicht, dass sich die Arbeit des Personals in totalen Institutionen auf Menschen statt auf lebloses Material bezieht, und erklärt die unterschiedlichen Probleme, die daraus erwachsen. „Die Tatsache, daß die Insassen in verschiedenster Hinsicht als Wert an sich zu gelten haben, sowie die große Zahl der Insassen konfrontieren das Personal mit einigen klassischen Schwierigkeiten, in die derjenige gerät, der Menschen regiert. Da die totale Institution gleichsam wie ein Staat funktioniert, hat ihr Personal unter den Widrigkeiten zu leiden, die dem Herrscher das Leben schwer machen.“ (ebd.: 81) Auch hier benutzt er die genannten sprachlichen Mittel und spricht „objektiv“ von der Arbeit des Personals als dem Umgang mit „menschlichen Objekten“ oder „menschlichem Material“.

Vergleichen als Lösung Die erwähnte Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Realität, die Goffman beschreibt, und der Art, wie er über sie berichtet, trifft auch auf die vergleichende Methode zu, die er anwendet, um den Idealtypus der totalen Institution zu finden. Leser seines Buches werden sich erinnern, dass er diesen Typ erfindet, indem er verschiedene, in modernen Gesellschaften vorkommende Organisationen vergleicht, die wichtige Unterscheidungsmerkmale aufweisen, und daraus ihre Gemeinsamkeiten ableitet. Zuerst definiert er die allgemeine Klasse der „sozialen Einrichtung“ als „Räume, Wohnungen, Gebäude oder Betriebe, in denen regelmäßig eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird“ (Goffman 1973: 15), und er schreibt dazu, wie schwierig es ist, diese Orte zu klassifizieren. Nichts könnte „neutraler“ oder „wissenschaftlicher“ sein. Anschließend unterteilt er die Einrichtungen grob nach ihrem Bezug zum Leben der an ihnen mitwirkenden Personen. Manche Institutionen akzeptieren bestimmte Menschen überhaupt nicht. Viele Institutionen haben eine wechselnde Kunden- oder Mitarbeiterpopulation. Andere, wie Familien, ändern ihre Zusammensetzung weniger häufig. In manchen Institutionen finden Aktivitäten statt, die ihre Teilnehmer ernst nehmen, während andere eher frivolen Aktivitäten dienen. Aus dieser nüchternen Sortierung gesellschaftlicher Organisationen besteht der erste Teil des Essays, in dem Familien, Freizeitaktivitäten und Arbeitsplätze einfach als gleichwertige Einrichtungen behandelt werden, die sich durch eine oder mehrere Dimensionen unterscheiden. Damit sind wir gewarnt, dass Goffman nicht normale Sozialwissenschaft betreibt. Die herkömmliche Sozialwissenschaft verwendet im Unterschied zu Goffman typischerweise Wörter und ihre damit

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zusammenhängende Beurteilung moralischer und gesellschaftlicher Werte als Kategorien der Klassifikation, die in der analysierten Organisation üblich sind (wie im Beispiel der Bildungsforschung). So enthält zum Beispiel die Unterscheidung zwischen „abweichenden“ und „normalen“ Aktivitäten genau solche Urteile, die bei juristischen und therapeutischen Organisationen üblich sind, die sich mit üblicherweise so klassifizierten Angelegenheiten befassen. Dasselbe gilt für die Einstufung von Organisationen und Aktivitäten als „funktional“ oder, noch deutlicher, als „disfunktional“. Dies sind Kategorien, deren Wortschöpfer ganz und gar beabsichtigten, dass sie als wissenschaftlich oder leidenschaftslos gelten. Der voreingenommene Charakter sozialwissenschaftlicher Kategorien ist noch offensichtlicher in der eher politisch und ethisch engagierten Forschung und Literatur, wo routinemäßig Ausdrücke wie „repressiv“ und „korrupt“ verwendet werden, um die analysierten Phänomene zu beschreiben. Goffman ist weniger neutral und mehr ironisch, wenn es um die Ideen geht, auf die sich die Mitarbeiter in Institutionen bei ihren Aktionen gegenüber den Insassen stützen. Er sieht die Theorien in der Sozialwissenschaft und verwandten Bereichen als Rohmaterial, dessen Analyse den Grundcharakter der Institutionen, die sie nutzen, enthüllt, und nicht als „Wissenschaft“ – so zum Beispiel in seiner nonchalanten Diskussion über das psychiatrische Theoretisieren: „Psychiatrische Heilanstalten spielen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, denn ihr Personal hält sich für spezialisiert in der Wissenschaft von der menschlichen Natur, und aufgrund dieses Wissens stellt es Diagnosen und verschreibt Therapien. In Standardlehrbüchern der Psychiatrie finden sich daher Kapitel über ‚Psychodynamik‘ und ‚Psychopathologie‘, welche bewundernswert eindeutige Formulierungen über das ‚Wesen‘ des Menschen enthalten.“ (ebd.: 91) Selbstverständlich erklärt er, dass der Sinn dieser Theorien die Validierung von Methoden ist, die angewandt werden, um eine große Zahl von Menschen unter den Bedingungen einer totalen Institution verwalten zu können. Nachdem Goffman soziale Einrichtungen definiert hat, schlägt er sofort ein weiteres Prinzip ihrer Klassifizierung vor, das eine Gruppe von anderen danach unterscheidet, ob „die einzelnen Mitglieder dieser Gruppe […] so viele Gemeinsamkeiten [haben], daß man nur dann Aufschluß über eine dieser Institutionen erhält, wenn man auch die übrigen untersucht.“ (ebd.: 15) Dann trennt er die entscheidenden Merkmale dieser Klasse: Jede Institution nimmt einen Teil der Zeit und der Interessen ihrer Mitglieder in Anspruch und stellt für sie eine Art Welt für sich dar; kurz, alle Institutionen sind tendenziell allumfassend. Betrachten wir die verschiedenen Institutionen innerhalb der westlichen Zivilisation, so finden wir, daß einige ungleich allumfassender sind als andere. Ihr allumfassender oder totaler Charakter wird symbolisiert durch Be233

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schränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit, die häufig direkt in die dingliche Anlage eingebaut sind, wie verschlossene Tore, hohe Mauern, Stacheldraht, Felsen, Wasser, Wälder oder Moore. Solche Einrichtungen nenne ich totale Institutionen, und im folgenden möchte ich ihre allgemeinen Merkmale untersuchen. (ebd.: 15f.)

Institutionen nehmen also unterschiedlich viel Zeit und Interesse der Beteiligten in Anspruch – von wenig bis viel. Manche nehmen so viel Zeit und Platz im Leben ihrer Teilnehmer in Anspruch, dass sie in Bezug auf andere „diskontinuierlich“ sind. Das sind „totale Institutionen“. Goffman unterscheidet in Bezug auf dieses eine Kriterium zwischen Institutionen, an die Menschen gebunden sind, weil sie sich nicht selbst versorgen können, weil sie für andere gefährlich sind oder beides, und solchen, in denen Menschen so abgeschlossen leben, damit sie eine wichtige Arbeit besser verrichten können, oder aus religiösen und ähnlichen Gründen Zuflucht suchen. Seine Analyse sucht auch nach anderen Kennzeichen, die gewöhnlich mit einer solchen totalen Kontrolle über das Leben in der Organisation einhergehen. Er beginnt bald, die Menschen „Insassen“ zu nennen, und er übernimmt diesen erniedrigenden Ausdruck, der typischerweise in psychiatrischen Anstalten (und Gefängnissen) verwendet wird, für die gesamte Klasse (einschließlich Nonnen und Mönchen, Soldaten und anderen Menschen, die man meistens nicht als eingesperrt bezeichnet). Goffmans analytische Taktik unterstreicht den Unterschied zwischen der Art der Institution, die er analysiert, und der Art, wie er sie beschreibt. Obwohl er fast im gesamten Essay über Einrichtungen schreibt, die wir routinemäßig sehr negativ beurteilen – psychiatrische Anstalten, Konzentrationslager und Gefängnisse – behandelt er sie als Teil derselben Kategorie wie Organisationen, über die wir gewöhnlich keine solchen negativen Meinungen haben: militärische Anlagen, Schiffe auf See und religiöse Zufluchtsorte. Dadurch entsteht im Zentrum seines Ansatzes eine scheinbare moralische Verwirrung, denn er konfrontiert uns mit einer Klassifizierung, die das als gleichwertig bezeichnet und behandelt, was wir – als moralisch kompetente Mitglieder unserer Gesellschaft, Klasse und Berufsgruppe – als moralisch verwerflich „kennen“. Wir mögen Antimilitaristen sein, aber nur wenige von uns würden Militärlager mit Konzentrationslagern vergleichen. Wir mögen wenig Sympathie für organisierte Religion aufweisen, aber wir wären wohl kaum bereit, Klöster mit Gefängnissen gleichzusetzen. Die vergleichende Methode funktioniert, wie wir feststellen konnten, indem sie eine gemeinsame Dimension bildet, in die eine Vielzahl von Fällen passt. So gibt es eine Dimension, die besagt, wie viel von der Zeit einer Person von einer Einrichtung bestimmt wird, und darin unterscheiden sich die Organisationen stark. So bestimmen manche – zum Beispiel ein Tennisclub, dem man angehört – sehr wenig,

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andere – wie eine Familie – hingegen mehr. Es besteht ein allgemeines Problem oder eine Frage, wie sich die Zeit der Leute auf die Gruppen verteilt, an denen sie teilnehmen, und die totale Institution liefert eine der vielen Lösungsmöglichkeiten für diese Frage. Nun steht die totale Institution nicht mehr als abweichend da – als wäre die gesellschaftliche Welt in Institutionen und Praktiken aufgeteilt, die als „gewöhnlich“ oder „normal“ gelten und von einer Person keine abnormale Verpflichtung verlangen, und dann gäbe es diese seltsame, vollständig andersartige Einrichtung, die totale Kontrolle verlangt. Statt anders und seltsam zu sein, ist sie jetzt einfach eine andere Einstellung auf der Skala, eine der möglichen Positionen. Das ist kein triviales Ergebnis. Ein Beispiel: Goffman analysiert, wie drei Typen von totalen Institutionen je verschiedene Begründungen für den „Angriff auf das Selbst“ geben: Religiöse Institutionen sagen, der Angriff auf das Selbst sei gut für Menschen, weil er hilft, ein angestrebtes Ziel zu erreichen (zum Beispiel die Transzendenz des Selbst). Gefängnisse und Konzentrationslager fördern ihn als eine Form von Kasteiung. Andere entschuldigen sich damit und sagen, er sei aus einem anderen wichtigen Grund notwendig (zum Beispiel für militärische Bereitschaft oder Sicherheit). Dann schreibt Goffman: „In allen drei Typen von totalen Institutionen jedoch sind diese verschiedenen Begründungen der Demütigung des Selbst sehr häufig bloße Rationalisierungen, die dazu dienen, den Tageslauf einer großen Zahl von Menschen auf beschränktem Raum und mit geringem Aufwand an Mitteln zu überwachen.“ (Goffman 1973: 52f.) Goffman vermeidet, uns mit dem unwohlen Gefühl zurückzulassen, das Wallace Shawn mit Aunt Dan and Lemon verursachte. Er schließt nämlich die Stimmen anderer an der Institution Beteiligten neben der gedemütigten, erniedrigten untersten Ebene ein. Wir erfahren, was die Psychiater denken, obwohl Goffman üblicherweise andeutet, dass sie sich mit ihren Aussagen einen wissenschaftlichen Status anmaßen, den sie nicht erreichen. Man muss beachten, dass seine Kritik eine wissenschaftliche Form annimmt, indem er hervorhebt, dass es den Ideen und Praktiken totaler Institutionen und ihres Personals an einer soliden Basis in der empirischen Forschung mangelt, und dass sie alle aus den gleichen alltäglichen organisatorischen Spannungen entstammen, unabhängig davon, welche höherwertige Rationalisierung das Personal auch nennen mag. Dabei lässt er seine Vergleiche als seine Beurteilung gelten. Man beachte, dass Wissenschaftler zeitgenössische Institutionen, die sie ablehnen, mit einem ähnlichen Manöver verurteilen können. Edgar Friedenberg verglich amerikanische High-Schools mit Gefängnissen, nicht nur als analytisches Mittel, um sie besser zu verstehen, sondern weit wichtiger, weil er seiner Abscheu über 235

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die von ihm beobachteten Bürgerrechtsverletzungen an den Schülern Ausdruck verleihen wollte (Friedenberg 1965).

Das technische und moralische Ergebnis Die Vermeidung eines eingebauten Urteils bedeutet keinesfalls, dass Goffman moralisch verwirrt war. Er war kein moralischer Trottel (in Anlehnung an Harold Garfinkels berühmte Beschreibung des Homunkulus in den meisten soziologischen Abhandlungen als „kultureller Trottel“). Im Gegenteil. Jeder sorgfältige Leser fühlt unter der Oberfläche der kühlen, nüchternen Sprache in Goffmans Essays, den Herzschlag eines leidenschaftlichen freiheitsliebenden Bürgerrechtlers. Mit der Wahl einer Methode, die sowohl antiseptische „wissenschaftliche“ Sprache als auch einen wertfreien Vergleich von Fällen ermöglichte, fand Goffman eine Lösung für das Problem der im konventionellen Denken eingebauten Annahmen. Wenn man die im gewöhnlichen Sprachgebrauch enthaltenen konventionellen Kategorien akzeptiert sowie die übliche Art, wie Institutionen und Praktiken traditionell eingeteilt werden, wenn man Menschen, die viel Alkohol trinken, gedankenlos als Alkoholiker und Leute, die Marihuana rauchen, als Süchtige bezeichnet, dann akzeptiert man auch die in diesen Wörtern enthaltenen Ideen und die damit zusammenhängenden Perspektiven. Wenn eine Person, die Marihuana raucht, ein „Süchtiger“ ist, dann wird diese Person es unkontrolliert rauchen, zum „Sklaven“ der Gewohnheit werden, Verbrechen verüben, um die Droge bezahlen zu können, und so weiter. Benutzt man diese Wörter, um die untersuchte Kategorie zu definieren, dann wird man keine empirischen Regelmäßigkeiten finden, mit denen man wissenschaftlich verallgemeinern kann. Durch Anwendung seiner neutralen Sprache für die Diskussion der totalen Institutionen identifiziert Goffman eine Klasse gesellschaftlicher Objekte mit gut definierten gemeinsamen, empirisch wahrnehmbaren und miteinander durch verifizierbare Muster verbundenen Merkmalen. Er kann Wissenschaft betreiben. Andere Macher von Repräsentationen, die ähnliche Taktiken vermeintlicher Neutralität verwendeten, wie der Konzept-Künstler Hans Haacke oder der Bühnenschriftsteller Wallace Shawn, kümmern sich nicht darum, ob sie wissenschaftlich arbeiten. Aber sie wollen, dass man ihre Arbeiten ebenso ernst nimmt, wie Goffman das für seine Studien beanspruchte, als Arbeiten eben, die etwas Wahres über die Welt sagen, die sie beschreiben. Warum rede ich so eindringlich davon, „Wissenschaft zu betreiben“? Es wird oft nicht anerkannt, in welchem Maße Goffman ein ernsthafter Empiriker war, vielleicht sogar (in einer bestimmten Bedeutung dieses Ausdrucks) ein so ge-

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nannter Positivist. (Darin kann man ihn, nebenbei bemerkt, mit Margaret Mead vergleichen.) Er glaubte an eine empirische Realität und misstraute allem, was irgendwie außerhalb des Normalen zu liegen schien, nicht empirisch nachweisbar oder übermäßig spekulativ war. Ich gestehe, all diese Vorurteile mit ihm zu teilen. Eine persönliche Erinnerung mag dieser allgemeinen Bemerkung etwas Leben verleihen. Irgendwann Anfang der 1960er Jahre, als er an der University of California in Berkeley unterrichtete, bat Goffman mich, zu seinem Seminar zu kommen, um einen Studenten, Marvin Scott, zu seinen Forschungen über Pferderennen zu hören. Diese hervorragende Studie (Scott 1968) beschäftigte sich mit der Art und Weise, wie die soziale Organisation des von ihm so genannten „Rennsports“ es für manche Trainer, Besitzer und Jockeys als vernünftig erscheinen ließ, ihr Pferd verlieren statt gewinnen zu lassen. Das mag überhaupt nicht logisch sein, aber die Organisation von Pferderennen hatte Anreize geschaffen, dass sich Leute oberflächlich betrachtet irrational verhielten. Scott bemerkte nebenbei, dass Glücksspieler auch bei Pferdewetten manchmal „Glückssträhnen“ oder „Pechsträhnen“ hatten. Goffman, der bis zu dem Punkt anerkennend zugehört hatte, unterbrach Scott und sagte, er meinte ja wohl, sie würden denken, dass sie solche Glücks- oder Pechsträhnen hatten. Aber Scott sagte nein, dies seien beobachtbare „Tatsachen“. Goffman, nicht gewillt, solch scheinbar übernatürliches Geschwätz zu akzeptieren, beharrte darauf und bezog sich auf die Wahrscheinlichkeitsgesetze, um Scott zu überzeugen, solche „Strähnen“ seien natürliche Ereignisse in jeder langen Reihe von Versuchen bei Spielen wie Black Jack oder Craps.13 (Ich glaube, er hatte sich über das Thema bei der Vorbereitung seiner Recherchen in Las Vegas schlau gemacht.) Schließlich explodierte sein Ärger über Scotts „unwissenschaftliches“ Beharren, das Glück der Spieler sei ein natürliches Phänomen. Goffman nutzte seine sprachliche Erfindungsgabe, um Dinge so zu benennen, dass sie herkömmlichen moralischen Urteilen entkommen und wissenschaftliche Arbeit entstehen konnte. Statt mit Verachtung auf die „unmenschlichen Praktiken“ in psychiatrischen Anstalten hinzuweisen oder die Ärzte und das Personal in den Anstalten zu verteidigen, die dort als ehrliche Mediziner arbeiteten und in einem schwierigen Beruf ihr Bestes taten, stellte er ihre Aktivitäten in einen Kontext organisatorischer Notwendigkeit, den sie mit anderen Berufen in anderen Organisationen mit sehr unterschiedlichem moralischem Ansehen teilten. Die entstehenden Verallgemeinerungen ermöglichten ein tieferes Verständnis dieser Phänomene, als Anprangerung oder Verteidigung je erreicht hatten oder erreichen konnten.

13 Anmerkung des Übersetzers: „Craps“ ist ein vor allem in den U.S.A. sehr beliebtes, auch „Seven Eleven“ genanntes Würfelspiel. 237

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Seine allgemeinen Schlussfolgerungen über totale Institutionen ermöglichten eine weit ernsthaftere moralische Bewertung dieser Praktiken, da die Beurteilung nun auf wesentlich mehr als einem lediglich oberflächlichen Verständnis davon beruhte, welche moralischen Entscheidungen die Akteure tatsächlich treffen mussten. Dieses tiefere Verständnis führte unweigerlich dazu, dass man die Einrichtungen statt die Einzelpersonen verantwortlich machte. Man beschuldigte die Einzelnen nicht einmal, dass sie das getan haben, was sie den Umständen ihrer Existenz tun müssen. Es ist niemals leicht, Menschen für Taten zu beschuldigen, für die letztendlich eine ganze Gesellschaft in all ihren Teilen Verantwortung trägt. Goffman erklärte: Durch diese Auflistung haben wir die totalen Institutionen ansatzweise definiert und versucht, einige ihrer gemeinsamen Merkmale festzustellen. […] Diese Ähnlichkeiten sind so augenfällig und dauerhaft, daß wir zu der Annahme berechtigt sind, daß es gute funktionale Gründe für diese vorhandenen Merkmale gibt und daß es möglich ist, sie zusammenzufügen und durch eine funktionale Erklärung zu erfassen. Wenn dies geschehen ist, werden wir kaum noch den einzelnen Chefarzt, Kommandanten, Wärter oder Abt loben und tadeln, wir werden vielmehr – unter Berufung auf die für sie alle verbindlichen Strukturen – zu einem Verständnis der in totalen Institutionen auftauchenden Probleme und Frage bereit sein.“ (Goffman 1973: 123)

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Jane Austens Stolz und Vorurteil beginnt mit dem bekannten Satz: „Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß ein alleinstehender Mann, der ein beträchtliches Vermögen besitzt, einer Frau bedarf.“ (Austen 2009: 6) Tatsächlich? Allgemein anerkannt? Eine Wahrheit? Wirklich? Eine aufregende Neuigkeit in der englischen Kleinstadt Meryton ist der Auslöser für Jane Austens stark übertriebene Verallgemeinerung. Aufgeregt berichtet Mrs. Bennet ihrem nicht gerade gleichgesinnten Ehemann, es sei soeben bekannt geworden, der nahegelegene Landsitz Netherfield Park sei an einen wohlhabenden jungen Gentleman, den Junggesellen Mr. Bingley verpachtet worden. Bevor wir der verallgemeinernden Aussage zustimmen können, die von dieser Nachricht ausgelöst wurde, möchten wir gewiss einige Definitionen haben. Das ist einfach. Wir alle wissen, was ein Junggeselle ist: ein unverheirateter Mann wie Mr. Darcy, der ebenfalls ledige Freund von Mr. Bingley. Jedenfalls ist dieser nicht offiziell verheiratet, da er keine Urkunde vorzeigen kann, die beweist, dass zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine Zeremonie stattgefunden hat, die vom Staat anerkannt wurde, der demnach gewisse Konsequenzen durchsetzen würde und auch anderen erlaubte, daraus folgende Konsequenzen durchzusetzen. Mit anderen Worten, „verheiratet“ mit allen gesellschaftlichen und juristischen Folgen und Bedeutungen dieses Wortes. „Eine Ehefrau“ lässt sich mit dieser Definition leicht verbinden als der weibliche Teil einer solchen Vereinbarung. 1813 in Jane Austens England mögen die Dinge so einfach gewesen sein. Die Autorin lässt uns das aber nicht lange glauben, denn sie stellt sofort eine große Auswahl an Ehen vor, die nicht alle so unproblematisch sind, wie man laut der Definition annehmen sollte. So sind zum Beispiel die Eltern der jungen Elizabeth Bennet ganz sicher formell verheiratet, jedoch hat dieses Ehepaar nicht viele der anderen Merkmale, die man von Verheirateten erwartet. Sie verstehen sich nicht besonders gut und haben unterschiedliche Ansichten, wie ihre Unterhaltung be239 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_14

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züglich Mr. Bingleys Ankunft verdeutlicht. Als Mr. Bennet fragt, ob Mr. Bingley verheiratet oder ledig ist, antwortet Mrs. Bennet: „Oh! Natürlich ledig, mein Lieber!! Ein alleinstehender Mann mit einem großen Vermögen – vier- oder fünftausend im Jahr! Was für eine wunderbare Sache für unsere Mädchen!“ [Die Bennets haben fünf Töchter im heiratsfähigen Alter; H.B.] „Wieso das, was haben sie damit zu tun?“ „Mein lieber Bennet“, entgegnete seine Gattin, „wie kannst du nur so schwer von Begriff sein! Du solltest wissen, daß ich daran denke, er könnte eine von ihnen heiraten.“ „Will er sich deshalb hier niederlassen?“ „Deshalb! Unsinn, wie kannst du so etwas sagen? Aber es ist doch sehr wahrscheinlich, daß er sich in eine von ihnen verliebt! Und darum musst du ihm deine Aufwartung machen, sobald er hier ist.“ „Dafür sehe ich keine Veranlassung. Du kannst ja mit den Mädchen hingehen, oder du lässt sie allein gehen, was vielleicht noch besser wäre, denn da du ebenso hübsch bist wie sie alle, magst du Mr. Bingley vielleicht von allen am besten gefallen.“ (ebd.)

Mrs. Bennet mag den Sarkasmus ihres Mannes gar nicht spüren, aber wir hören ihn heraus. Uns scheint klar oder zumindest wahrscheinlich zu sein, dass Mr. Bennet – in einer anderen Zeit, an einem Ort mit anderen Bräuchen, familiären und rechtlichen Beziehungen – eine Frau, die ihn so stark irritiert wie Mrs. Bennet, längst verlassen hätte. Die Erzählerin beschreibt das Paar so: „Mr. Bennet bestand aus einer so seltsamen Mischung aus gelegentlicher Heftigkeit, Schlagfertigkeit, sarkastischem Humor, Zurückhaltung und Kaprice, daß die Erfahrungen von dreiundzwanzig Ehejahren für seine Gattin nicht ausgereicht hatten, sein Wesen zu begreifen. Das ihre war weniger schwer zu ergründen. Sie war eine Frau von geringer Einsicht, wenig Kenntnissen und launenhafter Gemütsart. Wenn sie unzufrieden war, bildete sie sich ein, sie sei nervös. Ihre Lebensaufgabe war, die Töchter zu verheiraten – ihre Freude, Besuche zu machen und Neuigkeiten zu erfahren“ (ebd.: 7f.). Was uns daran erinnert, dass selbst unsere Definition von Ehe eine gewisse historische Kontingenz hat. Zur Zeit und im Land des Mr. Bennet war die Ehe lebenslang, zumindest für respektable Leute wie ihn. So ist es heute in den U.S.A. oder in Europa nicht mehr. Zumindest kann sich niemand darauf verlassen, wie die Statistik der Eheschließungen und Scheidungen zeigt. Noch komplizierter ist, dass es viel mehr Stufen zwischen ledig und verheiratet gibt als früher. In der Welt von Stolz und Vorurteil gab es auch schon die Stufe des Verlobtseins, aber ansonsten ging man ohne Zwischenstufen vom ledig sein aufs verheiratet sein über. Es gab kein „mit jemandem zusammen sein“ oder „zusammen wohnen“, was wir heute als Standardmöglichkeiten anerkennen.

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Wie steht es mit dem „guten Vermögen“, das ein Junggeselle haben mag? Wie viel wäre das? Jane Austen lässt uns wissen, dass Bingleys Einkommen aus „vier- oder fünftausend im Jahr“ besteht. Zumindest ist es diese Summe, die Mrs. Bennet gehört hat und ihrem Mann erzählt. Wir wissen nicht, wie viel das heute in so genannten konstanten Dollars wäre, aber es klingt nach sehr viel und ermöglicht ihm offensichtlich, sehr gut zu leben. Besser als Mr. Bennet, der nur zweitausend im Jahr hat (wir nehmen an, es waren zweitausend Pfund, obwohl nicht von der Währung die Rede ist) und gut genug lebt, mit all seinen Töchtern. Aber diese Töchter laufen Gefahr, in finanzielle Not zu geraten, denn das Vermögen, aus dem sein Einkommen stammt, soll von einem entfernten männlichen Verwandten geerbt werden, dem es „zugesprochen ist“. Tatsächlich erscheinen uns die „zweitausend“ als viel Geld, nicht nur „ausreichend“, sondern als das, was wir „reich“ nennen würden. Dies ist erst der Anfang von Jane Austens detaillierter Analyse der örtlichen Klassenunterschiede, nicht nur zwischen reich und arm, sondern auch innerhalb dieser großen Gruppierungen. So erhält auch der scheinbar unwichtige Unterschied zwischen Bingleys und Bennets Vermögen sein volles analytisches Gewicht. Und was bedeutet es, „einer Frau zu bedürfen“? Wohl nicht genau, was diese Worte auszudrücken scheinen. Mr. Bingley selbst zeigt kein starkes Verlangen nach einer Gemahlin und gibt keinen Anlass zur Annahme, er sei in ihre Gegend gezogen, um eine zu finden, wie Mr. Bennet seiner eifrigen Frau erklärt. Nein, es scheint zu bedeuten, dass Mrs. Bennet meint, er brauche eine Gemahlin, ob er nun so denkt oder nicht, es sei seine Pflicht, eine Frau zu finden und sie in der Nähe zu finden, und dass das die allgemein geteilte Auffassung der örtlichen Gesellschaft ist, jedenfalls unter den Müttern von Töchtern im heiratsfähigen Alter. So erklärt Jane Austen im zweiten Satz des Buches: Wie wenig die Gefühle und Ansichten eines solchen Mannes bei seinem ersten Erscheinen in einer Gegend auch bekannt sein mögen, diese Wahrheit sitzt so fest in den Köpfen der Familien in der Nachbarschaft, daß er sogleich als das rechtmäßige Eigentum der einen oder anderen ihrer Töchter betrachtet wird. (ebd.: 6)

In zwei Sätzen präsentiert Austen mit gut konstruierter Analyse die Heiratsbräuche einer bestimmten Gruppe des englischen Landadels im frühen 19. Jahrhundert. (Richard McKeon beschreibt ihre Konstruktion als „erzählte Anstandsregeln“ [1979: 522], was ich so ähnlich auslege wie das, was ich hier sagen möchte). Da sie schon gleich am Anfang des Buches erscheint, könnte man diese kurze Analyse für eine Hypothese halten wie das, „was bewiesen werden soll“, am Anfang einer mathematischen Beweisführung, worauf dann der eigentliche Beweis folgt. In Kürze erfahren wir auch einige Komplikationen und Warnungen, die eine solche Hypothese ebenfalls implizit oder explizit beinhaltet: dass wir nicht denken sollen, nur weil 241

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Menschen verheiratet sind, müssten sie auch notwendigerweise gut zusammenpassen oder mit dem Ergebnis glücklich sein – darum gehe es nicht in der Ehe, obwohl viele Verheiratete wünschen mögen, es wäre so; dass in der Tat eine Ehe je nach den Umständen der beteiligten Parteien viele verschiedene Formen annimmt; dass es sogar Ehen gibt, die keine echten sind, wie Elizabeths flatterhafte jüngere Schwester Lydia herausfindet, nachdem sie mit dem jungen Soldaten Wickham durchbrennt. So liefert das Buch letztendlich dieses anfängliche implizite Versprechen, eine mehr oder weniger komplette Analyse der von den Wohlhabenden ihrer Zeit und ihres Landes geteilten Überzeugungen und Praktiken über die Ehe zu erstellen, sowie der Motivationen und Ambitionen zu untersuchen, die solche Situationen in Menschen hervorrufen, und der Art von Ehen, die sich daraus ergeben haben. Auf welche Weise trifft Austens Hypothese genau zu? Eine Antwort könnte sein, was sie selbst sagt, dass sie „allgemein anerkannt“ ist, also dass alle Menschen sie für richtig halten. Nun müssen wir einsehen, dass Austen nicht einfach über Tatsachen berichtet. Sie ist eine Romanschriftstellerin, und zwar eine gute, und ein Zeichen ihres Könnens ist, dass sie eine Erzählerin erfunden hat, eine Persona, welche die Geschichte erzählt und selbst einige Eigenschaften und Fähigkeiten aufweist. Hier sehen wir, wie die Erzählerin auf geschickte Weise einen ironischen Standpunkt einnimmt. Dadurch klingt ihre Feststellung über Heiratsbräuche auf dem Lande, als wäre sie selbst nicht vollständig überzeugt, zumindest nicht in der Form, in der die Behauptung aufgestellt wird. Wir sollten also genau darlegen, was Austen als Autorin uns glauben macht, das Gestrüpp von Details über bestimmte Personen wegräumen, die ironischen Schichten des wer glaubt was entfernen und erst dann entscheiden, was die Hypothese „wirklich bedeutet“, die uns anfänglich so klar und eindeutig erschien. Ohne all die Einzelheiten zu erörtern, die Austen über Liebe und Ehe in dieser Gemeinschaft erzählt – denn ihr Buch präsentiert und erläutert nicht nur eine einzige Hypothese, sondern ein komplexes Netz von zusammenhängenden Beobachtungen – könnten wir sagen, sie habe uns einen Bericht über das Werbe- und Eheverhalten der Bevölkerung vorgelegt und gezeigt, wie ihre Personen sie im Rahmen von Gesetzen und Bräuchen umsetzen, die stark von komplexen Abstufungen ihrer Klasse und ihres Wohlstands beeinflusst sind. (Vielleicht vergleichbar mit anthropologischen Arbeiten über die Heiratsbräuche in anderen Kulturen.) Wir könnten ferner feststellen, dass Frauen durch diese Bräuche zum Heiraten gezwungen wurden, wenn sie eine Chance haben wollten, ein sinnvolles, glückliches Leben zu genießen, so wie diese Vorstellungen in jenen Gesellschaften durch Eltern, Gleichaltrige und von ihnen selbst bewertet werden. Der Roman entfaltet sich und entwickelt eine Vielfalt an potenziellen „ehelichen Laufbahnen“. Am meisten berührt uns die von Elizabeth, Mr. Bennets intelligenteste

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Tochter und zugleich seine Lieblingstochter, die schließlich Bingleys Freund Darcy heiratet, nachdem beide viele Missverständnisse und Hindernisse überwunden haben. Aber auf dem Weg dahin, bevor wir ihr endgültiges Schicksal und dessen Entwicklung erfahren, lernen wir viele Arten von unglücklichen Ehen kennen. Da sind zunächst Elizabeths Eltern in ihrer seit langem bestehenden Kompromissehe. Sie machen einander nicht sehr glücklich, haben sich aber schon seit Jahren damit abgefunden, das Beste daraus zu machen. Austen gibt uns eine ausführliche Beschreibung dieser Mesalliance: Hätte Elizabeth ihre Ansichten allein von ihrer eigenen Familie hergeleitet, so hätte sie kein sehr erfreuliches Bild von ehelichem Glück und häuslicher Behaglichkeit entwerfen können. Ihr Vater hatte, gefangengenommen von Jugend und Schönheit und diesem Anschein guter Stimmung, den Jugend und Schönheit gewöhnlich vermitteln, eine Frau geheiratet, deren schwacher Verstand und engstirniges Denken und Fühlen in ihrer Ehe schon sehr zeitig aller wirklichen Liebe zu ihr ein Ende gesetzt hatten. Respekt, Wertschätzung und Vertrauen waren für immer dahin gewesen, und alle seine Vorstellungen von häuslichem Glück vernichtet. Doch Mr. Bennet neigte nicht dazu, Trost für die Enttäuschung, die ihm seine eigene Unklugheit eingebracht hatte, in jenen Vergnügungen zu suchen, die allzu oft die Unglücklichen für ihre Torheit oder ihre Lasterhaftigkeit entschädigen. Er liebte das Land und Bücher; und aus diesen Vorlieben waren seine vornehmlichen Freuden erwachsen. Seiner Gattin war er für kaum etwas Anderes zu Dank verpflichtet, als daß ihre Beschränktheit und Torheit zu seiner Belustigung beitrugen. Dies ist nicht die Art des Glücks, die ein Mann im allgemeinen seiner Frau zu schulden wünscht; doch wo es an anderen Fähigkeiten zu unterhalten mangelt, wird der wahre Philosoph aus dem Nutzen ziehen, was ihm geboten wird. (ebd.: 278)

Wir erfahren auch, was ihre Tochter Elizabeth daraus über Ehesituationen gelernt hat: Elizabeth war jedoch niemals blind gewesen gegenüber der Ungehörigkeit des Verhaltens ihres Vaters als Gatte. Sie hatte es stets voll Kummer bemerkt; doch in Anbetracht seiner Fähigkeiten und dankbar dafür, wie liebevoll er sie selbst behandelte, bemühte sie sich zu vergessen, worüber sie nicht hinweggehen konnte, und aus ihren Gedanken diesen ständigen Bruch von Pflicht und Anstand in der Ehe ihrer Eltern zu verbannen – der, da er die Gattin der Verachtung ihrer eigenen Kinder aussetzte, so sehr verwerflich war. Doch hatte sie nie die Nachteile, die die Kinder einer so unharmonischen Ehe unvermeidlich zu fühlen bekommen, so stark empfunden wie jetzt; auch war sie sich niemals zuvor so vollkommen der Übel bewußt gewesen, die aus einer so unbedachten Lenkung der Fähigkeiten entstanden – Fähigkeiten, die, richtig genutzt, zumindest das Ansehen seiner Töchter gewahrt haben mochten, auch wenn sie den Gesichtskreis seiner Gattin nicht erweitern konnten. (ebd: 278f.)

Hier ist ein ausführlicheres Beispiel für Details in Austens Analyse dieser Ehesituationen und der Kalküle, die Frauen anstellen, wenn sie sie akzeptieren. Ihre beste 243

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Freundin Charlotte Lucas geht einen ähnlichen Kompromiss ein wie ­Elizabeths Eltern, indem sie den unsympathischen Geistlichen Mr. Collins heiratet, den Cousin, dem Mr. Bennets Vermögen zugesprochen ist: „Mr. Collins war nicht besonders intelligent, und den Unzulänglichkeiten seiner Veranlagung war durch Ausbildung und gesellschaftlichen Umgang nur wenig abgeholfen worden, da er den größten Teil seines Lebens unter der Leitung eines ungebildeten und geizigen Vaters zugebracht hatte; und obgleich er einer der Universitäten angehörte, hatte er lediglich die notwendigen Semester absolviert, ohne dort irgendwelche nützlichen Bekanntschaften zu machen […] [Er war] eine Mischung aus Stolz und Unterwürfigkeit, Selbstüberhebung und Demut.“ (ebd: 85) Warum hat Charlotte wohl einen solchen Mann geheiratet? [Ihre] ganze Familie war regelrecht außer sich vor Freude über dieses Ereignis. Die jüngeren Mädchen machten sich Hoffnungen, ein Jahr früher zu debütieren, als es sonst der Fall gewesen wäre; und die Jungen waren befreit von ihrer Befürchtung, Charlotte als alte Jungfer sterben zu sehen. Charlotte selbst blieb ziemlich gelassen. Sie hatte erreicht, was sie wollte, und hatte nun Zeit, darüber nachzudenken. Ihre Überlegungen waren insgesamt zufriedenstellend. Gewiss war Mr. Collins weder gescheit noch liebenswürdig, seine Gesellschaft war ermüdend, und seine Liebe zu ihr konnte nur in seiner Einbildung bestehen. Und doch würde er ihr Gatte sein. – Ohne daß sie viel von Männern oder Ehe gehalten hatte, es war stets ihr Ziel gewesen zu heiraten; es war die einzig ehrenhafte Art der Versorgung für eine gebildete junge Frau mit geringem Vermögen; und wie ungewiß es auch sein mochte, daß man dadurch glücklich würde, so mußte es doch das angenehmste Mittel gegen Armut sein. Dieses Mittel war ihr jetzt in die Hand gegeben; und in einem Alter von siebenundzwanzig Jahren und ohne jemals hübsch gewesen zu sein, empfand sie nun, welches Glück sie gehabt hatte. (ebd.: 148f.)

So akzeptierte sie, mit diesem Mann zu leben, und die vielen kleinen dadurch von ihr erwarteten Opfer, wie Elizabeth bei ihrem Besuch feststellte: [D]ie meiste Zeit zwischen Frühstück und Dinner verbrachte er mit Gartenarbeit, Lesen oder Schreiben oder damit, aus dem Fenster seiner Bibliothek zu sehen, die auf die Straße hinausging. Das Zimmer, in dem die Damen saßen, lag hinten. Elizabeth hatte sich zuerst ziemlich gewundert, daß Charlotte nicht das Speisezimmer für den gemeinschaftlichen Gebrauch vorzog; es war schöner geschnitten und hatte einen erfreulicheren Ausblick; aber sie erkannte bald, daß ihre Freundin einen ausgezeichneten Grund dafür hatte, denn Mr. Collins hätte sich zweifellos viel weniger in seinem eigenen Zimmer aufgehalten, wenn sie in einem gleichermaßen heiteren Raum gesessen hätten, und sie rechnete Charlotte diese Maßnahme hoch an. (ebd.: 199)

Austen macht deutlich, dass die Situation von Frauen wie Charlotte – ihre völlige wirtschaftliche Abhängigkeit von Männern wie Ehemann oder Vater, sowie die

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geringe Anzahl von Männern, die den strikten Anforderungen für einen geeigneten Ehemann gerecht werden konnten – einer vernünftigen Person wie ihr nicht viele Möglichkeiten oder Optionen ließ. Wie wir am traurigen Schicksal von Elizabeths jüngerer eigenwilliger Schwester Lydia erkennen, die unverheiratet mit dem Offizier George Wickham durchbrennt, gab es auch die Möglichkeit einer Quasi-Ehe anderer Art. Sie sagt tatsächlich, es sei ihr gleichgültig, ob sie verheiratet sind oder nicht, nur dass sie weiß, sie werden es eines Tages sein. Der Tag kommt schneller, als es Wickham lieb ist. Eigentlich möchte er Lydia in Richtung europäischer Kontinent verlassen, wo er möglicherweise eine reichere Frau zum Heiraten finden würde, die seine Spielschulden bezahlen könnte. Schließlich heiratet er Lydia aber doch, obwohl Austen erzählt, es sei deutlich, dass er sich nicht viel aus ihr macht. Darcy hat das Paar nämlich aufgespürt und die Sache forciert, indem er Wickham anbietet, seine Schulden sofort zu begleichen, wenn er Lydia heiratet. Wickham erkennt, dass er kein besseres Angebot erwarten kann. Sie heiraten und ziehen in den Norden des Landes, wo Lydias Begeisterung für ihn allmählich abflaut. Soweit wir erfahren, leben sie danach unglücklich bis ans Ende ihrer Tage, von manchen Verwandten akzeptiert, von anderen nicht. Andere Paare bieten Muster einigermaßen glücklicher Ehen, wie zum Beispiel Elizabeths Onkel und Tante Gardiner (Gardiner ist Mrs. Bennets Bruder), und, so wird suggeriert, die in Aussicht stehende Ehe von Elizabeth und Darcy. „Mr. Gardiner war ein verständiger, vornehmer Mann, an Charakter wie auch an Bildung seiner Schwester weit überlegen. Den Damen von Netherfield wäre es schwergefallen zu glauben, daß ein Mann, der vom Handel und in der Nähe seiner Lagerhäuser lebte, so wohlerzogen und liebenswürdig sein konnte. Mrs. Gardiner, die mehrere Jahre jünger war als Mrs. Bennet und Mrs. Philips, war eine freundliche, kluge und elegante Frau und die absolute Lieblingstante all ihrer Nichten in Longbourn“ (ebd.: 166). Im ganzen Buch bilden die Gardiners ein starkes Vorbild für die Bennet-Mädchen: eine ständige Quelle von gesundem Menschenverstand, sogar Weisheit; nicht nur Verwandte, sondern auch Freunde, die den Mädchen ohne Moralpredigt ruhig zuhören, wenn sie von ihren Sorgen erzählen; immer bereit, in schwierigen Situationen zu helfen. So hilft Mr. Gardiner Darcy dabei, die Sache mit Wickham zu schlichten. Sie sind das beständige Beispiel einer Ehe zwischen gleichwertigen Partnern, die einander lieben und respektieren. Schließlich haben wir ein gewisses Verständnis für die Prozesse, durch die Menschen in die eine oder andere Situation gelangen. Die Erzählung ist eine weitere Möglichkeit, soziale Fakten als eine Reihe von Schritten darzustellen (wie wir es in Whytes grafischer Analyse der Gewährung einer politischen Gefälligkeit im Jahr 1943 gesehen haben). Während wir lesen, wie die verschiedenen Paare endlich zusammenkommen, sehen wir, wie kontingent der Prozess ist, wie viel schiefgehen 245

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kann, wie viele Missverständnisse ein Zusammenkommen verhindern können, wie viele missbilligende Verwandte sich einmischen können. Man wundert sich, dass es überhaupt einer der Charaktere schafft zu heiraten, aber letztendlich sind alle Protagonisten verheiratet: Elizabeth und Darcy, Bingley und Jane, Charlotte und Collins, Lydia und Wickham. Man könnte sagen, Stolz und Vorurteil ist eine Ethnografie der Brautwerbung und Heirat, etwa so, wie sie möglicherweise ein Anthropologe oder Soziologe oder ein demografisch orientierter Historiker mit genügend Zeit und ausreichend umfangreicher Forschungsförderung produziert hätte. Nehmen wir vorläufig an, die im Buch erzählte Wahrheit sei die in meinen langen Ausführungen beschriebene Wahrheit, und wir akzeptieren die im ersten Satz des Buches – wenn auch nicht erschöpfend – zusammengefasste Beschreibung des Wunsches eines reichen Mannes nach einer Ehefrau. Ist dies wirklich eine allgemein anerkannte Wahrheit? Eigentlich nicht, denn Mr. Bennets Fragen zeigen schnell, dass er sie nicht anerkennt. Wenn Mrs. Bennet ihm gegenüber ihre Hoffnung ausdrückt, Mr. Bingley könnte eine ihrer Töchter heiraten, möchte er wissen: „Will er sich deshalb hier niederlassen?“ Natürlich ist das sehr deutlich nicht der Fall. Das ist aber auch nicht, was sie meinte. Mr. Bennets absichtliches Missverstehen beweist, dass er die allgemein anerkannte Meinung nicht teilt. Es ist anzunehmen, dass auch andere Leute sie nicht teilen. Wir können vermuten, dass Mr. Bingley sie nicht teilt, obwohl er wahrscheinlich noch gar nicht viel darüber nachgedacht hat. Es ist fast sicher, dass Mr. Darcy sie nicht teilt, der, wie wir bald erfahren, ebenso begütert ist und ebenso so sehr „einer Frau bedarf“ wie Mr. Bingley, es aber deutlich macht, dass er gar keine Frau will. Aus diesen Fällen wird klar, dass Austen uns auf ironische Weise beibringt, wir sollten ihre Hypothese nicht wörtlich nehmen. Wenn wir die Hypothese nicht akzeptieren können, weil sie allgemein anerkannt ist, weil alle wissen, dass sie wahr ist, weil sie anzuzweifeln uns zu einem törichten Kritiker machen würde, wie jener in Bruno Latours Bericht über ein wissenschaftliches Labor, der nicht glaubte, was alle anderen glaubten und wissenschaftlich belegten, wenn wir die Hypothese also aus dem Grund nicht glauben, welchen Wert hat sie dann überhaupt? Gibt es einen anderen Grund, an sie zu glauben? Und wir wollen glauben, dass es wahr oder richtig ist, dass eine Gesellschaft wie diese, mit ihren geschilderten Heiratsbräuchen im frühen 19. Jahrhundert im kleinstädtischen England tatsächlich existiert hat. Das ist keine auf Idealtypen basierte Analyse und auch keine Parabel, die manche Merkmale übertreibt, um gewisse analytische Möglichkeiten zu offenbaren. Es ist nicht die Art von Analyse, deren Wahrheit uns völlig gleichgültig ist. Aber wir haben Anlass, Austens Analyse als eine einigermaßen realistische Beschreibung eines Ehesystems aufzufassen. Wissenschaftler und überhaupt intelligente Menschen berücksichtigen gewisse Gründe bei der Beurteilung faktischer Aussagen über die Gesellschaft. Sie sind

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zum Beispiel eher bereit, eine Aussage anzuerkennen, wenn sie mit Tatsachen übereinstimmt, die sie unabhängig davon ermittelt haben, oder mit den Tatsachen, wie sie von der Person ermittelt wurden, die die Behauptung aufgestellt hat, vorausgesetzt, dass diese Person alle Vorsicht und Sorgfalt hat walten lassen, die wir von einem unabhängigen Faktenermittler erwarten (die Art von Sorgfalt, die ich bei der Diskussion um „Wirklichkeitsästhetik“ zusammengefasst habe). Leser des Romans könnten zumindest prinzipiell wenn auch nicht faktisch wissen, was diese Gründe waren, hätten wir unabhängige Tatsachen, an denen wir die Hypothese überprüfen könnten. Wir haben aber keine solchen Tatsachen. Es handelt sich nicht um eine historische Abhandlung wie „Sitten und Bräuche der Eheschließung in englischen Kleinstädten im frühen 19. Jahrhundert aufgrund einer Analyse regionaler Heiratsurkunden“, und es ist auch keine Biografie, in der die mit Ehe zusammenhängenden Umstände der beschriebenen Person nach Einsicht offizieller Dokumente und inoffizieller Quellen wie Briefe, Tagebücher und Zeitungsartikel entfaltet würden. Stolz und Vorurteil ist ein Roman, Erfindung, und so können wir diesen Test nicht anstellen, nicht nur, weil das Material aus irgendeinem Grund nicht zur Verfügung steht, sondern weil es gar nicht existiert. Austen hat alles erdichtet: die Menschen, die Geschehnisse, die ehelichen Karrieren und ihre Folgen. Sie durfte das alles (siehe John Herseys Sorgen), weil gleich unter dem Titel Roman steht. Die wichtigere Frage ist, ob sie auch die größere Wahrheit erfunden hat, die von diesen Menschen und Geschichten verkörpert wird, die analytische Darstellung damaliger in jener Gegend üblichen Ehen. Ein skeptischer Leser könnte durchaus nachvollziehbar sagen, es gäbe keinen offensichtlichen Grund, irgendetwas von dieser analytischen Darstellung zu glauben, da alle Tatsachen, die sie illustrieren, erdichtet waren. Austen hätte ja mit jedem Recht alles Mögliche erfinden können, oder? Ich meine aber, kaum ein Leser glaubt das. Im Gegenteil, die meisten Leser denken, sie haben etwas über jene Welt, über die Lebensart gelernt, in der Frauen in die Position gebracht wurden, irgendeinen statt gar keinen Mann heiraten zu müssen, da sie sonst einem unschönen zweitrangigen Leben als Gouvernante, alter Jungfer oder etwas ebenso Erniedrigendem und Unangenehmem entgegensehen mussten. Austens ernsthafte Leser meinen auch nicht, ihr Buch sei weniger wert als gute Geschichtsschreibung. Anders, aber nicht weniger wertvoll. Vielleicht sogar in mancher Beziehung besser. Das Buch ist in dem Sinne überlegen, dass man darin mehr über die täglichen Einzelheiten des Heiratens und der Ehe lernt, über das Auf und Ab von Beziehungen, über Momente, in denen alles unmöglich erscheint, worauf etwas geschieht, das alles wieder möglich macht, mehr über das Wechselbad der Gefühle mancher Menschen und wie sich manchmal die Meinungen über andere Menschen ändern, 247

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als Folge aller möglichen Einflüsse von Freunden, Verwandten und „der Gemeinschaft“ und ihrer Standards, die in kleinen, subtilen Details täglicher Interaktionen zum Ausdruck kommen. Man lernt kennen, was Soziologen die Kontingenzen von Ehekarrieren nennen könnten. Wieso glauben Leser, sie hätten das alles gelernt? Was steht im Buch, das sie so sicher macht? Erstens strahlen die Geschichten und die Details Glaubwürdigkeit aus. Sie entsprechen unserer Lebenserfahrung, unseren (natürlich konventionellen) Ideen über menschliches Verhalten. Wir vergleichen, wie wir uns in den verschiedenen Situationen verhalten würden. Die Erzählungen „haben Sinn“: Die Reihenfolge der Ereignisse, die Kausalketten könnten sich so ereignen, passieren wirklich so. Alles klingt so plausibel. Wir verstehen die Motivationen der Protagonisten, warum sie die Dinge tun, die im Buch geschildert werden. Alles läuft auf eins hinaus: Wir wenden unsere eigene Lebenserfahrung auf die Geschichte an und vergleichen, ob alles stimmt oder ob wir etwas akzeptieren müssen, das wir bisher nicht wussten oder glaubten. Das bedeutet, die Autorin muss uns erklären, wie etwas geschehen ist, das wir nicht für wahrscheinlich gehalten haben, und diese Erklärung muss dem Test mit unseren eigenen Erfahrungen standhalten. Das ist eine sehr konservative Prüfung und viele Romane sorgen dafür, dass sie bestanden wird, indem sie uns vertraute Geschichten erzählen, die zu unseren Stereotypen und Vorurteilen passen. Andere Romane erzählen uns Dinge, die wir zu kennen glauben, sie manipulieren aber unsere Erwartungen und schaffen Ergebnisse, die wir nicht vermutet hätten, und dann glauben wir, etwas gelernt zu haben, das wir noch nicht wussten. Dass jedoch eine Geschichte mit dem übereinstimmt, was wir bereits glauben, ist kein sehr starker Beweis für ihre Wahrheit. Es geht aber um etwas anderes: um viele Überlegungen, die Austen selbst gar nicht hatte, jedenfalls nicht explizit. Leser, die zu gewissen Schlüssen kommen wollen, müssen sich anstrengen, sich alle Einzelheiten merken, ihre Bedeutung entschlüsseln, sie miteinander oder mit Material in anderen Büchern in Beziehung setzen, sie formlos zu Folgerungen, Schlüssen und moralischen Urteilen zusammenfügen. Austen bietet keine säuberlich markierten Schlüsse, denen sie dann beweiskräftige Aussagen anhängt. Stattdessen erzählt sie eine Geschichte. Die Geschichte enthält alle möglichen sachlichen Details. Aufmerksame Leser nehmen diese Details auf und denken darüber nach, auch über ihre Zusammenhänge. Was ist Elizabeths Situation? Was wird mit ihr geschehen, wenn sie nicht heiratet? Man sieht, was aus ihrer Freundin Charlotte geworden ist, die den langweiligen Geistlichen Collins geheiratet hat. Würde es Charlotte ledig nicht besser gehen? Die Leser analysieren selbst, wägen Beweismaterial ab, bewerten alternative Deutungen und kommen zu einem Schluss. Das bedeutet viel Arbeit. Von Kapitel zu Kapitel überlegen sie, was wohl geschehen mag, wer

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mit wem zusammenkommt, wer dieses letzte Hindernis überwinden wird. Man weiß nie, ob es ein „Happy End“ geben wird. Die Leser suchen nach Austens Hinweisen, bewerten Wahrscheinlichkeiten und entwickeln Erwartungen, die erfüllt werden oder nicht. Wenn aufmerksame Leser so viel Arbeit leisten, dann glauben sie wahrscheinlich an die Ergebnisse ihrer eigenen Analyse; ihre eigene Arbeit und Überlegungen bestätigen die Gültigkeit des Ergebnisses. Als wir Stolz und Vorurteil im Seminar diskutierten, bewiesen wir mit unseren eigenen Gesprächen, wie kritische Leser verfahren. Ein skeptischer Teilnehmer, der wusste, dass ein erfahrener Soziologe womöglich methodische Fehler in Austens Analyse finden könnte, fragte, ob es eine ausreichende sachliche Grundlage für die Verallgemeinerungen des Buches gebe. Hatte uns die Autorin über dieses oder jenes genug erzählt? Vor allem, hatte Austen bei ihren Beschreibungen des englischen Ehelebens ein zu rosiges Bild vom damaligen Leben des Landadels gemalt? Es könnte sein, denn nach all ihren Wirrungen überwinden Elizabeth Bennet und Mr. Darcy viele Hindernisse, kommen schließlich zusammen und scheinen eine ganz und gar glückliche Zukunft zu erwarten. Lässt das also das Ehesystem so aussehen, als ob es den Frauen doch eine anständige Zukunft bietet, auch wenn vieles im Buch das Gegenteil andeutet? Können Leserinnen von heute Fehler in einem System finden, das für die damaligen Frauen vielleicht akzeptabel war? Ein anderer Seminarteilnehmer gab zu bedenken, Austen stelle ihren Lesern im Gegenteil einen großen Reichtum an Vergleichsdaten zur Verfügung, die man für eine umfassende und differenzierte Analyse gebrauchen könne. Dazu gehöre besonders die große Zahl unglücklicher Ehen, die sie in vielen zwingenden Einzelheiten geschildert hat: Elizabeths Eltern; das Schicksal der jüngeren Schwester, die mit einem Taugenichts durchbrennt, ihr eigenes Leben ruiniert und ihrer Familie Schande macht; die Ehe ihrer Freundin Charlotte mit dem langweiligen Geistlichen, und so weiter – ganz abgesehen von Austens sorgfältiger Aufmerksamkeit für die genau ermittelten Unterschiede hinsichtlich Reichtum und sozialer Stellung, da sie auf vielen Stufen des Klassensystems die Heiratschancen und das Eheleben beeinflussen. Kurz gesagt, Austen liefert uns wirklich genügend Daten für eine mögliche, weit umfassendere Analyse, als ihr ursprünglicher Kritiker zugestehen wollte. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Austen nicht nur Daten liefert, sondern Lesern, die aufmerksam genug sind, es zu merken, auch die Analyse erstellt. Ebenso wie die Fotografien von Walker Evans enthält und präsentiert ein langer komplizierter Roman wie Stolz und Vorurteil so viele Informationen über so viele verschiedene Fälle, dass sorgfältige Leser das Buch als Quelle für zahlreiche Hypothesen nutzen können, die weit über die eigentliche Absicht des Buches hinausgehen. Es beinhaltet genug Material für die Art vergleichender Analyse, die Goffman zur Idee der totalen Institutionen führte. Darum geht es, wenn man 249

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sagt, dass ein solches Buch reich an Möglichkeiten für soziologische Analysen und Denkanstöße ist. Romane können also neben ihren literarischen Qualitäten auch Qualitäten als Gesellschaftsanalysen haben. In Stolz und Vorurteil hat Austen eine Situation geschildert, die nicht viel anders war als die in Deep South beschriebene: eine kleine Gemeinschaft, in Klassen, Familien und Cliquen gespalten, in komplizierte Dramen sozialer Mobilität verwickelt. Es bestehen viele Unterschiede, aber nur im Detail (Hautfarbe ist kein Thema für Austen, und sie kümmert sich auch nicht um die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der beschriebenen Tätigkeiten). Die Analyse von Natchez in Deep South ist wie Austens Analyse von Meryton, wobei die in Natchez gezogenen Schlussfolgerungen durch viele Vergleiche ähnlicher Geschehnisse untermauert werden, während Austen bestimmte, entscheidende Ereignisse im Leben ihrer Protagonisten dazu verwendet, zu ähnlichen Schlüssen zu kommen oder uns zu solchen Schlüssen zu führen. Häufig bieten realistische Gesellschaftsromane Alternativen zu soziologischen Analysen. Sie liefern mehr Einzelheiten über Vorgänge und mehr Zugang zum Alltagsdenken der betroffenen Menschen. Das ist ein Grund, warum schon viele Soziologen Romane als Quellen soziologischer Erkenntnisse genutzt haben (wie in Coser 1972). Schließlich beweist Austen doch ihre Hypothese. Am Ende des Romans stellen wir fest, dass Mr. Bingley, der begehrte Junggeselle, der die Autorin zu ihrer Verallgemeinerung über ledige Männer veranlasste, wie sein Freund Mr. Darcy doch eine Frau brauchte, obwohl sich keiner der beiden darüber bewusst war. Indem sie ihre Ehefrauen fanden und heirateten, wurden sie zum rechtmäßigen Eigentum zweier Töchter des einheimischen Landadels. Quod erat demonstrandum.

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Georges Perec und seine Experimente mit Gesellschaftsbeschreibungen 15 Georges Perec und seine Experimente …

Der französische Schriftsteller Georges Perec experimentierte mit verschiedenen literarischen Formen – von mehr oder weniger standardförmigen Romanen bis hin zu Kreuzworträtseln. In englischsprachigen Ländern ist er wahrscheinlich am besten bekannt durch seinen massiven „experimentellen“ Roman Das Leben Gebrauchsanweisung (La Vie mode d‘emploi; Perec 1987), ein gewaltiges Panorama miteinander verknüpfter Geschichten. Man wird ermutigt, wenn nicht sogar dazu verpflichtet, sie in einer der vielen möglichen Reihenfolgen zu lesen. Der Roman kann daher aus heutiger Sicht als eine frühe, nicht computergestützte Version von Hypertext angesehen werden (siehe Joyce 1995). Die hervorragende Perec-Biografie von David Bellos enthüllt alles über diesen Autor (Bellos 1993). Perec sagte, einige seiner Schriften seien „soziologischer“ Natur, und spezifizierte dies umgehend als Frage, „mit welchen Augen […] man den Alltag [sieht]“ (Perec 1985: 10). Diejenigen, die über ihn geschrieben haben, nahmen das manchmal wörtlich. Manche seiner Werke können gewinnbringend als eine Art von Gesellschaftsbeschreibung gelesen werden, als ein „Erzählen über Gesellschaft“, das zwar anders ist als die in Jane Austens Romanen verkörperte Analyse geordneter sozialer Beziehungen, aber immer noch „literarisch“. Ich befasse mich hier mit drei seiner Werke: seinem frühen Roman Les Choses (1965), der ihn berühmt machte; Je me souviens (1978), ein Buch, das man selbst eine Erinnerung nennen könnte; und ein spätes Experiment in reiner Beschreibung Tentative d‘épuisement d‘un Lieu parisien (1975). Um die Schlußfolgerung gleich vorwegzunehmen, Perec zeigt uns die Anwendung und Grenzen eines Schreibens, das zur reinen Beschreibung neigt und mehr Details enthält als wir gewohnt sind (siehe auch Becker 1998: 6ff.). Es ist eine weitere Lösung des Problems der Zusammenfassung von Details und der Repräsentation „gelebter Erfahrungen“, und ein weiteres Beispiel, wie man einen Teil der darstellenden Arbeit auf die Nutzer abschieben kann. Diese Werke zielen darauf ab, Aspekte des gesellschaftlichen Lebens zu beschreiben, die gewiss gesellschaftlich sind, aber nicht auf regelmäßige soziale Beziehungen und deren 251 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_15

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Ordnung bezogen, wie zum Beispiel Studien über Gemeinschaften oder Heiratsbräuche. Daher sind sie Sozialwissenschaftlern weniger vertraut.

Les choses Les choses handelt von einem jungen Paar, Jérôme (24) und Sylvie (22), die in Teilzeit als Psychosoziologen arbeiten (nach und nach stellen wir fest, dass damit Marktforscher gemeint sind). Sie leben über ihre bescheidenen Verhältnisse hinaus in einem hippen Pariser Viertel, sehnen sich nach mehr und etwas Besserem, obwohl sie nicht genau wissen, was es sein sollte. Ihre Freunde sind genauso wie sie. Es gibt eine Art von Geschichte. Später widerfahren ihnen Dinge, aber keine sehr guten. Doch das Interesse des Romans liegt weder in den Geschichten noch in der tiefgreifenden Erkundung individueller Charaktere. Sein Hauptinteresse liegt in einer Darstellung der Lebensweise und des sozialen Charakters gerade dieser jungen Menschen, etwas, das nicht nur auf Jérôme und Sylvie zutrifft, sondern auf eine ganze Generation von Menschen wie sie (und was es bedeutet, „wie sie“ zu sein, ist natürlich eine wichtige, interessante und schwierige Frage). Zu sagen, Les choses sei eine verallgemeinernde Beschreibung einer Lebensweise, wäre irreführend, denn das Buch ist äußerst detailliert. Es ist verallgemeinernd im Stil einer altmodischen Ethnologie, die beschreibt, wie ein ganzes Volk lebt, ohne Variationen oder Veränderungen in Betracht zu ziehen, die sich ereignen könnten. Es beschreibt in minutiösem Detail die Kleidung der Hauptfiguren, die Möbel in ihrer Wohnung, ihre Arbeit, was sie sehen, wenn sie mit ihren Freunden Schaufensterbummel machen, was sie zu Hause und in Restaurants essen, was sie in ihrer Freizeit tun und (wichtig:) ihre Wünsche, Begierden und Träume. Tatsächlich analysiert das Buch die gesellschaftliche Situation dieser jungen Leute auf eine theoretisch und historisch interessante Weise. Ich will jetzt keine Analyse erstellen, denn das haben schon viele andere getan (siehe Leenhardt, Józsa 1999). Ich werde vielmehr beschreiben, auf welche Weise Perec uns diese Analyse vorstellt und welche literarischen Mittel er anwendet, die einen interessanten Vergleich mit dem Vorgehen von Sozialwissenschaftlern ermöglichen. Wenn man das Buch liest, stellt man fest, dass Perec ungewöhnliche grammatische Formen – Präteritum und Konjunktiv – wählt (ungewöhnlich genug im Englischen [und im Deutschen]14 und vielleicht sogar noch seltener im Französi14 Anmerkung des Übersetzers: Beckers folgende „Grammatiklektion“ wurde in Abstimmung mit ihm gekürzt und so umgeschrieben, dass sich die Erklärungen eher für deutsche als für englischsprachige Leser eignen.

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schen). Bekanntlich hat die französische Sprache – wie auch die deutsche – drei Vergangenheitsformen. Die erste Vergangenheit (Präteritum) wird in Romanen oder historischen Abhandlungen angewandt, aber nicht in der gewöhnlichen Unterhaltung. Sie beschreibt spezifische Handlungen, die zu einer bestimmten Zeit durchgeführt wurden: „Marie öffnete die Tür; Jean wusch das Geschirr ab; der Hund bellte. Es regnete.“ In allen anderen Zusammenhängen, besonders im eher formellen gesprochenen Französisch, wird die zweite Vergangenheit (das Perfekt, auch vollendete Gegenwart genannt) verwendet: „Der Hund hat gebellt.“ Es beschreibt Geschehnisse, die in der Vergangenheit stattgefunden, aber noch eine Auswirkung auf die Gegenwart haben oder die nur kurze Zeit zurückliegen. Bei dieser Zeitform wird ein Hilfsverb – sein oder haben – verwendet; „Marie hat die Tür geöffnet“ und „Jean hat das Geschirr abgewaschen“. Diese Form verschafft der Erzählung ein anderes Zeitgefühl als das Präteritum. Die dritte Form ist das Plusquamperfekt (die im Deutschen seltenste Form). Es drückt aus, dass die Handlung zum Zeitpunkt des Sprechens in der Vergangenheit abgeschlossen war („der Hund hatte gebellt“). In französischen Romanen wird zumeist im Perfekt erzählt, während das Präteritum Dingen vorbehalten bleibt, die vor einiger Zeit oder wiederholt vorkamen, sowie in besonderen grammatischen Situationen, zum Beispiel, wenn die eine Handlung stattfindet, während eine andere, längere Handlung fortgesetzt wird. („Draußen hatte der Hund gebellt, während Jean sein Buch las“. Dabei bellt der Hund im Plusquamperfekt und Jean liest im Präteritum). Perec erzählt einen großen Teil der Geschichte von Les choses im Präteritum. Er verwendet auch oft den Konjunktiv, meist um Dinge auszudrücken, die unter bestimmten Umständen passieren könnten oder würden, gelegentlich (insbesondere in Erzählungen), um eine Art Scheinwelt oder Distanz zu einer bestimmten Realität anzuzeigen. Auch in der deutschen Übersetzung von Eugen Helmlé, aus der der nachfolgende Satz stammt, kommt der Konjunktiv zum Ausdruck: „Die Wände des Schlafzimmers wären mit bedrucktem Kattun bespannt; über das Bett wäre ein Schottenplaid gebreitet. Ein Nachttisch, an drei Seiten von einem niedrigen Messinggitter eingefasst, trüge einen Silberleuchter […]“ (Perec 2004: 12) Eine gängige Verwendung des Konjunktiv im Englischen ist eine stilvolle Art, gewohnte oder wiederholte oder zumindest übliche Handlungen zu bezeichnen. Dieser Sprachstil des berühmten ersten Kapitels von Les choses zum Beispiel, das vollständig im Konjunktiv verfasst ist, gibt mir dieses Gefühl. Für französische Leser liest es sich vielleicht so, dass die beschriebene Wohnung gar keine spezifische, wirkliche oder gedachte Wohnung ist, sondern ein imaginärer, erdichteter und daher generalisierter Ort. Mir kommt es vor, als sei sie ein Platz, an dem viele Menschen wohnen würden. Das Ergebnis ist ähnlich, welche grammatische Form auch immer eingesetzt wird. 253

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Diese kleine Grammatiklektion war notwendig, um zu verstehen, was Perec in soziologischer Hinsicht in Les choses vorhat. Mit seinem Präteritum und dem Konjunktiv verwandelt er die meisten Handlungen und Geschehnisse in Dinge, die „üblicherweise“ vorkamen, nicht nur einmal, sondern öfters, die häufig wiederholt wurden, die zur Selbstverständlichkeit wurden und über das „Passierte“ des Alltags hinausgingen – das heißt, Dinge, die eine Routine und in gewisser Hinsicht einen fundamentalen Bestandteil des Lebens dieser Menschen im Buch darstellten. Sie machten nicht bloß an einem bestimmten Abend einen Schaufensterbummel, während dem dann ein bestimmtes Gespräch stattfand, was wiederum zu spezifischen Folgen führte. Nein. Sie machten oft abends Schaufensterbummel, und diese wiederholte Tätigkeit bekräftigte ihr Verlangen nach Dingen, die sie sich nicht leisten konnten. Und dieses nicht flüchtige, sondern dauerhafte Verlangen brachte sie dazu, Geld auszugeben, das sie nicht besaßen und auch nicht in Aussicht hatten. Und auch das hatte vorhersehbare Konsequenzen. Hier ist ein Beispiel: An Wohlstand – und das war zweifellos das Schlimmste – fehlte es ihnen gewaltig. Nicht so sehr an materiellem, meßbarem Wohlstand, wohl aber an einer gewissen Ungezwungenheit, einer gewissen Entspanntheit. Sie neigten dazu, gereizt, verkrampft, gierig, fast neidisch zu sein. Ihr Hang zum Wohlergehen, zum Besserleben drückte sich meist in einem törichten Proselytentum aus: dann diskutierten sie mit ihren Freunden lange über das Wesen einer Pfeife oder eines niedrigen Tisches, sie machten Kunstgegenstände daraus, Museumsobjekte. Sie begeisterten sich für einen Koffer – jene winzigen, außergewöhnlich flachen Koffer aus schwarzem, leicht genarbtem Leder, die man in den Schaufenstern der Geschäfte an der Madelaine sieht und die alle zu vermutenden Freuden von Blitzreisen nach New York oder London in sich zu bergen schienen. Sie gingen bis ans andere Ende von Paris, um sich einen Sessel anzusehen, von dem man ihnen gesagt hatte, er sei perfekt. Da sie ihre Klassiker kannten, zögerten sie sogar manchmal, ein neues Kleidungsstück anzuziehen, da es ihrer Meinung nach erst dreimal hätte getragen werden müssen, um tatsächlich tadellos auszusehen. Aber die ein wenig sakralen Gesten, mit denen sie vor dem Schaufenster eines Herrenausstatters, einer Damenboutique oder eines Schuhgeschäfts ihrer Begeisterung Ausdruck verliehen, machten sie meist nur ein wenig lächerlich. (Perec 2004: 22f.)

So kommt endlich eine Geschichte zustande. Aber sie ist eingehüllt, vergraben in einer Wolke von Dingen, die sich wiederholt routinemäßig ereignen und das Leben von Jérôme und Sylvie charakterisieren, auch das ihrer Freunde. Denn all diese Beschreibungen bestehen darauf, dass diese beiden (die im Fokus des Buches stehen) nicht die Einzigen sind, die solche Träume haben, in solchen Wohnungen leben, diese Art von Schnickschnack kaufen, diese Art von Jobs haben. Sie gehören einer gesellschaftlichen Schicht an, für die das Leben so ist – junge Leute, die ihrer Meinung nach Aussicht auf etwas Besseres haben. Wie Perec schreibt: „Aber heutzutage und in unseren Breiten gibt es immer mehr Menschen, die weder arm

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noch reich sind: sie träumen von Reichtum und könnten reich werden: aber gerade hier beginnt ihr Unglück.“ (ebd.: 63) Weil keine besonderen Begebenheiten vorkommen – kein „Hans tat dies und Maria tat das, und dann geschah jenes“ – fühlt sich die Geschichte amorph an: mehr wie eine Atmosphäre als eine Erzählung, wie eine Aura, die einen umgibt, statt wie eine Reise, die man unternimmt. Darin gleicht Les choses stark der ethnografischen Beschreibung einer Kultur, einer Lebensweise von geteilten Verständnissen und den dazu passenden Routinen. Es ist genau das, was man von einer Ethnografie erwartet. Und Perecs Ethnografie ist komplett, behandelt materielle Kultur, verwandtschaftliche und andere gesellschaftliche Beziehungen, Arbeit und Technologie, Überzeugungen und Werte, typische Berufe und Lebensstile, und all die anderen Dinge, die Ethnografen in eine „vollständige“ Beschreibung einer Kultur aufnehmen müssen. Letztendlich erscheint der Bericht über Sylvie und Jérôme weniger wie die Geschichte von zwei Menschen, über die wir viel gelernt haben und über die wir uns Gedanken machen, sondern mehr wie die von einem Soziologen erstellte Beschreibung einer typischen Lebenskarriere. Sie erinnert an die „Karriere“ des Zerfalls eines Paares, die wir von Diane Vaughan (1986) kennen oder an die „Karriere“ eines Musikers, die ich als Teil der Beschreibung einer Berufskultur erstellt habe (Becker 1973: 101ff.). Es ist Ethnografie als verallgemeinernde Fiktion oder verallgemeinernde Fiktion als Ethnografie. Les choses nutzt ein weiteres literarisches/ethnografisches Mittel: die detaillierte Liste von Gegenständen und Menschen, besonders von Gegenständen. Der berühmte erste Absatz des Buches ist eine solche Liste: „Zuerst würde der Blick über den grauen Teppichboden eines langen, hohen und schmalen Korridors gleiten. Die Wände wären Einbauschränke aus hellem Holz, deren Messingbeschläge glänzten. Drei Stiche – der eine stellt Thunderbird dar, Sieger in Epsom, der andere einen Schaufelraddampfer, die Ville-de-Montereau, und der dritte eine Lokomotive von Stephenson – würden zu einem von großen, schwarz gemaserten Holzringen gehaltenen Ledervorhang führen, der sich durch eine einfache Handbewegung zurückschieben ließe. Nun würde der Teppichboden einem fast gelben Parkett weichen, das drei Teppiche in gedämpften Farben teilweise bedeckten.“ (Perec 2004: 9)

Eine Liste ohne explizite formelle Analyse ihres Inhalts ist ein starkes darstellendes Mittel, das viel häufiger von Künstlern als von Sozialwissenschaftlern benutzt wird. Ich berücksichtige es im Zusammenhang mit zwei anderen Werken von Perec, die ebenfalls als eine Art von Repräsentation des gesellschaftlichen Lebens gelten können, und in denen dies noch stärker zum Ausdruck kommt (siehe Sontag 1982; Goody 1977: 74ff.) 255

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Je me souviens Ich erinnere mich (Je me souviens) ist ganz anders als Les choses. Es ist weder ein Roman noch überhaupt eine Geschichte, sondern besteht einfach aus 480 kurzen nummerierten Absätzen, zum Teil nur eine Zeile lang. Jeder Absatz enthält etwas, an das Perec sich aus seiner Kindheit und Jugend zwischen 1946 und 1961 erinnert, als er zwischen zehn und fünfundzwanzig Jahre alt war. Er sagt, er habe ein einfaches Auswahlsystem verwendet: „zu versuchen, aus dem Gedächtnis zu holen, was fast vergessen ist, unwichtig, banal, gewöhnlich, zwar nicht für alle, aber zumindest für die meisten“ (Perec 1978: 119). Darüberhinaus sagt er: „Diese ‚Ich erinnere michs‘ sind nicht eigentlich Erinnerungen, besonders nicht persönliche Erinnerungen, sondern nur kleine Stückchen des täglichen Lebens, Dinge, die in dem einen oder anderen Jahr alle Gleichaltrigen gesehen, erfahren und erlebt haben und die dann verschwanden und vergessen wurden; sie waren es nicht wert, Erinnerungen zu werden, sie verdienten es nicht, als Teil der Geschichte zu gelten oder einen Platz in den Memoiren von Staatsmännern, Bergsteigern oder Stars einzunehmen“ (ebd.: Schutzumschlag). Hier sind einige Beispiele: Ich erinnere mich an Lester Young im Club Saint-Germain; er trug einen Anzug aus blauer Seide mit rotem Seidenfutter. (10) Ich erinnere mich, dass ein Freund meines Cousins Henri den ganzen Tag im Bademantel blieb, wenn er für seine Prüfungen paukte. (131) Ich erinnere mich an die Kon-Tiki-Expedition. (143) Ich erinnere mich, daran zu glauben, dass die ersten Coca-Cola-Flaschen – die amerikanische Soldaten im Krieg getrunken haben könnten – Benzedrin enthielten (ich war sehr stolz zu wissen, dass es der wissenschaftlich Name von „Maxiton“ war). (4)

Das ist alles. Vierhundertachtzig davon. Nr. 480 blieb unvollendet. Es heißt nur „Ich erinnere mich“, gefolgt von der kryptischen Anmerkung: „Fortsetzung folgt …“ (und auf der nächsten Seite eine weitere Anmerkung, die besagt: „Auf Wunsch des Autors hat der Verleger am Ende des Buches einige Seiten leer gelassen, auf denen der Leser die ‚Ich erinnere michs‘ aufschreiben kann, zu denen ihn diese Lektüre hoffentlich angeregt hat“). Das Buch enthält auch ein komplettes Verzeichnis der im Text genannten Namen und Orte sowie Titel von Filmen, Büchern und Musikstücken. Auch hier scheint das Interesse darin zu liegen, eine bestimmte Lebensweise darzustellen.

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Es ist keine Erzählung im eigentlichen Sinn. Die Anordnung der 480 Erinnerungen in Je me souviens mag nicht willkürlich sein (obwohl es auch dafür keine Garantie gibt), und es könnte eine Entwicklung von einer zur anderen geben, die eine Art von erzählender Spannung hervorrufen könnte, aber ich kann sie nicht finden. Die einzige Figur ist der junge Perec, dessen Leben von einem älteren Perec erinnert wird. Aber es gibt nichts Persönliches, und auch nichts „Emotionales“, es sei denn, wir rechnen seinen Stolz dazu, den wissenschaftlichen Namen von Maxiton zu kennen. Nichts im Buch vermittelt einen Sinn von Drama oder Spannung, und man fragt sich auch nicht, wie alles weitergeht. Nichts „passiert“, die Dinge sind einfach da. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, keine Geschichte und keine Erzählung, und ganz gewiss keine Analyse. Es ist dem Leser überlassen, die Synthese durchzuführen. Man liest und merkt, dass man herausgefordert wird, ein Muster zu finden. Perec verrät nicht, was es ist, und es ist auch nicht ersichtlich, ob es in der Anordnung der Einträge überhaupt irgendwelche Hinweise gibt. Stattdessen scheint die Absicht des Buches rein historisch und ethnografisch zu sein. Noch deutlicher wird seine Besonderheit, wenn wir es mit dem Werk vergleichen, das Perec dabei Pate stand. In einer Vorbemerkung schreibt er: „Der Titel, die Form und zu einem gewissen Grad der Geist dieser Texte war von Joe Brainards I Remember angeregt worden (Brainard 1975).“ Der besondere Charakter von Perecs Buch wird etwas deutlicher, wenn wir uns Brainard anschauen. Perec sagt, Brainard habe ihn „zu einem gewissen Grad“ inspiriert, und diese Einschränkung ist richtig. Beide Bücher haben zwar denselben Titel, und das Format – Erinnerungen in kurzen Absätzen – ist dasselbe. Aber die Unterschiede sind wesentlich. Brainards Absätze sind miteinander verbunden. So folgen zum Beispiel auf die Erinnerung an einen Lehrer mehrere weitere. Die „Ich erinnere michs“ sind häufig echte Geschehnisse, kleine Anekdoten mit Anfang, Mitte und Ende. Ganz gewiss ist die Einschränkung in Bezug auf den „Geist“ des Werkes angebracht. Brainards Buch besteht aus rein biografischen Erinnerungen, es ist voller Geschichten, die schildern, was diesem jungen schwulen Künstler in seiner Kindheit widerfuhr, seine frühen sexuellen Erfahrungen, das neue Leben, das er in New York fand: eine gesellschaftliche, sexuelle und künstlerische Welt, die er sich in seiner Heimatstadt Tulsa in Oklahoma nie vorgestellt hätte. Brainard erscheint als der Hauptprotagonist im Buch. Seine Empfindungen dominieren die Seiten. Seine Erinnerungen sind keine einzelnen Spuren von Dingen, die alle hätten erleben können und alle erlebt haben. Im Gegenteil, sie erzählen davon, was er persönlich gesehen und gefühlt hat (selbst wenn viele andere Leute ähnliche Erfahrungen gehabt haben können), was er bemerkte und andere nicht, seine eigenen experimentellen sexuellen Erfahrungen mit Jungen und Mädchen, seine eigenen sexuellen Fantasien 257

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und Peinlichkeiten. Er schreibt nicht nur, was er getan hat, sondern auch, was er tun wollte und sich nicht traute. Die kurzen Absätze beschreiben nicht nur, was geschah und was da war, sondern auch seine Reaktion auf das, was geschah und da war. Er erinnert sich nicht nur an seine Erektion im Swimmingpool, sondern auch daran, wie verlegen er war, dass sie nicht nachließ. Er erzählt von Männern, die er attraktiv fand, von seinen Fantasien beim Masturbieren. Das Buch ist überschwänglich, extravagant, überwältigend. Es enthält viel über Kunst, aber nichts über Politik, viel über Sex, aber nicht viel über Orte. Wenn man es gelesen hat, weiß man viel über Brainard und die Welt der Künstler und Schriftsteller, in die er einzog, und etwas über die Welt der christlichen Sonntagsschule in Tulsa, wo er aufwuchs. Aber nicht viel über die allgemeine politische und populäre Kultur des Landes oder seinen Teil daran aus der Zeit, über die er schreibt (und man bekommt auch nicht viel Gefühl für die Zeit, also zum Beispiel keine Namen von Generälen und Politikern, dafür aber viele von Filmstars). Trotz einiger Ähnlichkeiten (eine der wenigen Überschneidungen ist, dass sich beide Autoren an die Kon-Tiki-Expedition erinnern) ist Perecs Buch ganz anders. Es erzählt keine Geschichten vom sexuellen Erwachen oder von peinlichen Momenten. Mit wenigen Ausnahmen betrifft es nur öffentliche Orte, Menschen und Geschehnisse (und die Ausnahmen, wie die Geschichte vom Mann, der den ganzen Tag beim Pauken für eine Prüfung den Bademantel trug, sind nicht sehr persönlich). Perecs Reaktionen auf die Dinge tauchen nicht auf. Das Buch zählt nicht all die neuen aufregenden Dinge auf, die ein Neuankömmling in der Großstadt erlebte. Stattdessen werden gewöhnliche alltägliche Dinge aufgezählt, die alle Leute sahen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris lebten, oder zumindest, was jeder Mann eines gewissen Alters und einer gewissen Klasse gesehen und beobachtet hat, und an das er sich vielleicht in späteren Jahren als Hintergrundbestandteil seines gewöhnlichen Lebens erinnert hätte. Perecs Buch verzeichnet, was Leute gesehen hätten, die am täglichen öffentlichen Leben in der Stadt teilnahmen: die Busse und die Metro, Lebensmittelgeschäfte, Kinos und andere Vergnügungsstätten, die Sportler, an denen ein junger Mann interessiert gewesen wäre. Etwas abenteuerliche junge Leute auf der Suche nach coolen Dingen, wie Perec es war, würden sich auch an Lester Young, Duke Ellington, Sidney Bechet und andere amerikanische Jazzmusiker erinnern (auch an weniger berühmte wie Earl Bostic; ich war erstaunt, diesen Altsaxophonisten zu finden, der nie eine Berühmtheit darstellte, obwohl er es verdient hätte). Hätte sich der besagte junge Mann für Literatur interessiert, würde er sich an bekannte Autoren wie Michel Butor und Alain Robbe-Grillet und deren Geburtsorte erinnern. Wenn er noch Intellektueller gewesen wäre, würde er auch politische Persönlichkeiten

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und Zusammenhänge im Gedächtnis haben. So stehen unter den Amerikanern im Verzeichnis Caryl Chessman (den heute vergessenen Fokus einer Kampagne gegen die Todesstrafe in Kalifornien) und Lee Harvey Oswald. Doch keiner dieser Namen wäre ausschließlich in Perecs Gedächtnis. Im Gegenteil: An sie würde sich wie er jeder erinnern oder, vielleicht besser gesagt, jeder würde erinnert werden können. Auch wenn diese Dinge, Orte und Menschen einen jungen intellektuellen, etwas politisch engagierten französischen Juden interessiert hatten, dem es gelungen war, nicht wie so viele andere ins KZ eingeliefert zu werden, auch wenn amerikanischer Jazz, Rock‘n Roll und die schwarze Künstlerszene eine neue Lebensart versprachen; auch wenn der Mai 1968 und Biafra und andere genannte politische Ereignisse den heutigen Leser daran erinnern, welche aufregenden Dinge damals stattgefunden haben – trotz all dem ist der Stil trocken, unaufgeregt: Die Aufzählung der in die Erinnerung gebrachten Dinge und Menschen und Ereignisse ist kommentar- und reaktionslos, es ist eben nur das Erinnern. Und zwar an Dinge, die durchaus trivial sind, ebenso wie an wichtigere Gegebenheiten: Lester Youngs blauen Seidenanzug mit rotem Futter, den Geburtsort von Claudia Cardinale, dass sich Mr. Spock einst als amerikanischer Präsidentschaftskandidat aufstellen ließ. Man fragt sich: Wozu soll das gut sein? Ja, wozu? Es summiert sich. Das Ganze ist größer als seine Teile. Lester Young plus Claudia Cardinales Geburtsort plus die Namen der Sieben Zwerge im Disney-Film (wie alle anderen kann sich auch Perec nur noch an einige erinnern) plus die Mode der 1950er Jahre (es war eine Weile lang schick, statt einer Krawatte Schnürsenkel um den Hals zu tragen) plus die französische Schreibweise des russischen Wortes für Buntstift – all das sammelt sich an zu einem sehr greifbaren Verständnis dessen, was die Menschen damals beschäftigte, Menschen wie Perec, viele Menschen, und was sie sahen, lasen und hörten und worüber sie sich unterhielten. Untypisch für ein so dünnes Buch gibt es ein sehr vollständiges Sachverzeichnis, das den Leser bescheiden auffordert, das Buch nicht von vorn bis hinten zu lesen, sondern in beliebiger Reihenfolge darin herumzublättern, wie er seinen Lesern auch für Das Leben Gebrauchsanweisung empfahl. (Viele Eintragungen sagten mir übrigens gar nichts, da ich nicht wusste, wer diese Leute waren. „Ich erinnere mich an Dario Moreno“ mochte ja Personen von Perecs Generation, vielleicht auch anderen Franzosen und vielleicht sogar manchen amerikanischen Lesern viel bedeuten, aber mir sagte es gar nichts, bis ich den Namen im Internet gesucht und herausgefunden hatte, dass er ein französischer Filmstar der 1950er und 1960er Jahre war. Die Eintragung leistet jedoch einen Beitrag zu der enormen Speicherbank, die das Buch heraufbeschwört.) Ich habe die Unterschiede zwischen Perecs und Brainards Buch etwas übertrieben. Sie sind wesentlich, aber es gibt schon Gemeinsamkeiten. Brainard führt viele 259

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Dinge auf, die auch in Perecs Buch stehen – zum Beispiel Filmstars – aber nicht alle. Politik ist eine bemerkenswerte Ausnahme. Es ist ein bißchen so, als hätte Perec etwa 80 Prozent von allem weggeworfen, was Brainard einschließt, das heißt den Inhalt auf Dinge beschränkt, die sich auf die Öffentlichkeit beziehen, und alles Persönliche und Emotionale weggelassen. Das ist ein großer Unterschied. Brainard ist kitschig und geschwätzig. Sein Buch portraitiert eine Kultur, indem er eine besondere Lebensart und persönliche Erfahrungen vorführt. Dadurch lernt man etwas über die berufliche und künstlerische Kultur und die sozialen Kontexte, in der diese Lebensart und Erfahrung vorkommen konnten. Perecs Buch, knapp und nüchtern, berichtet von amorpheren Dingen, die aber nicht weniger realistisch sind, vom kulturellen Hintergrund des Alltäglichen, vor dem sich die spezifischeren Einverständnisse abspielen, die unsere Kultur ausmachen. Es gehörte nicht zur französischen oder amerikanischen oder Jazzkultur, dass Lester Young einen blauen Seidenanzug mit rotem Seidenfutter trug, sondern es war Bestandteil all dieser Lebensweisen, dass er es tat und dass es manche Leute bemerkten und wussten, dass es stattfand. Es ist kein wichtiger Bestandteil der amerikanischen oder französischen Kultur, dass Disneys Sieben Zwerge die Namen trugen, die man ihnen gegeben hatte, aber sie trugen sie, und die meisten Leute kannten die (meisten) Namen. Das alles ist ein Bestandteil des Systems von Referenzen und Details, die eine Rolle im sogenannten kulturellen Leben spielen, obwohl ich nicht glaube, dass wir genau wissen, welche Rolle das ist. Das sagt Perec dazu: „Es kommt jedoch vor, dass [die Erinnerungen] ein paar Jahre später wiederkommen, intakt und winzig, durch Zufall oder weil wir sie eines Abends mit Freunden gesucht haben: es war etwas, was wir in der Schule gelernt hatten, ein Champion, ein Sänger oder ein erfolgreiches Starlet, eine Melodie, die in aller Munde war, ein Überfall oder eine Katastrophe, die Schlagzeilen machte, ein Bestseller, ein Skandal, ein Slogan, eine Gewohnheit, ein Ausdruck, ein Kleidungsstück oder eine Art, es zu tragen, eine Geste oder etwas noch dünneres, unwesentliches, ziemlich banales, auf wundersame Weise aus seiner Unwesentlichkeit gerissenes, für einen Moment gefundenes, das für einige Sekunden eine unmerkliche kleine Nostalgie weckte.“ (Perec 1978: Schutzumschlag). Ein Sozialwissenschaftler könnte sagen, dass solche geteilten Erinnerungsmomente den Klebstoff darstellt, der eine Generation zusammenhält und sie vielleicht zu kollektiven Handlungen befähigt, die ihren Mitgliedern sonst nicht zur Verfügung stünden.

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Tentative d’épuisement d’un lieu parisien Ein drittes Buch, Versuch einen Platz in Paris zu erfassen (Perec 2010), gehört zu einem größeren unvollendeten Korpus von Beschreibungen, die Perec für ein Dutzend Plätze in Paris geplant hatte. Er wollte jeden einmal im Jahr besuchen, immer in einem anderen Monat, und in zwölf Jahren dann eine komplette ganzjährige Beschreibung aller Plätze vorstellen. Die Texte in diesem kleinen Band sind wie die Texte in Je me souviens recht alltäglich: was von seinen Standpunkten auf dem Place St. Sulpice zu sehen ist, Listen von Buchstaben und Zahlen auf verschiedenen Schildern und an Lastwagen, Beschreibungen von Passanten, die er von seinem Platz im Café aus sehen konnte, von vorbeifahrenden Bussen, vom Taubenschwarm, der gelegentlich seinen Sitz auf dem Dach des Rathauses verlässt. Hier ist ein Beispiel: In herrlichem Zusammenspiel umkreisen die Tauben den Platz, kehren zurück und lassen sich wieder auf der Regenrinne des Rathauses nieder. Am Taxistand stehen fünf Taxis. Vorbeifahrt eines 87ers [Bus], Vorbeifahrt eines 63ers. Die Glocken von Saint-Sulpice beginnen zu läuten (die Totenglocke, wahrscheinlich)15 Drei Kinder werden zur Schule gebracht. Ein weiterer apfelgrüner 2CV.16 Erneut drehen die Tauben eine Platzrunde Ein 96er fährt vorbei, bleibt an der Bushaltestellte stehen (Tarifgrenze Saint-Sulpice); Geneviève Serreau steigt aus, sie biegt in die Rue des Canettes ein; ich rufe sie herbei, indem ich an die Scheibe klopfe, und sie kommt herein, um mir guten Tag zu sagen. Ein 70er fährt vorbei. [Und so weiter; H.B.]. (Perec 2010: 21)

Die einzige Erzählung hier ist, dass Perec auf einer Terrasse am Place St. Sulpice sitzt und betrachtet, was dort zu sehen ist. Und es gibt bruchstückhafte Geschichten davon, was er sieht: Fußgänger, vorbeifahrende Busse, fliegende Tauben. Es erinnert mich an James Agees ähnlich detaillierte, aber stärker fokussierte Beschreibung materieller Gegenstände und Geschehnisse in Let Us Now Praise Famous Men (Agee, Evans 1988). Es erinnert mich auch an John Cages Komposition für Klaviersolo 4‘33“, bei der ein Pianist in voller Konzertkleidung auf die Bühne kommt, sich 15 Anmerkung des Übersetzers: Becker übersetzt ins Englische: Sie schlagen die runde Stunde, kein Zweifel. Die Übersetzung folgt der deutschen Ausgabe. Fehlende Punkte am Satzende entsprechen dem Original (und der Übersetzung). 16 Anmerkung des Übersetzers: Der 2CV (Deux-chevaux) war ein Modell von Citroën, das im Deutschen unter der Bezeichnung „Ente“ bekannt ist. 261

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ans Klavier setzt, eine Stoppuhr auf das Notenpult legt und einstellt, die angegebene Zeit wartet, aufsteht und wieder geht. Cage wollte seine Zuhörer auf die Geräusche aufmerksam machen, die zu hören sind, wenn keine offizielle „Musik“ gespielt wird. Perec beschreibt das Banale, Alltägliche … Tatsächlich, wenn ich mir überlege, was er in diesem Büchlein getan hat, bin ich zunehmend um Worte verlegen, als gäbe es keine andere Möglichkeit, es darzustellen als nur zu wiederholen, was er selbst geschrieben und bereits erklärt hat, und das ist nicht hilfreich. Liest man Perecs Beschreibung, verfällt man zunehmend dem Gefühl (so ging es mir jedenfalls und wahrscheinlich auch anderen), sie sei wichtig, obwohl man nicht sagen kann wieso. Wenn wir Sozialwissenschaftler keine Ideen und Theorien darüber haben, dann sollten wir sie entwickeln. Ein sehr großer Anteil dieser Dinge – vorbeifahrende Busse, Leute, die ihre Regenschirme aufspannen, fliegende Tauben, die Beschriftung an Lastwagen – umgibt uns ständig. Wir werden erst dann auf sie aufmerksam, wenn etwas „nicht in Ordnung“ ist, wenn uns eine Taube auf den Kopf kackt, wenn jemand den Regenschirm aufspannt, obwohl es nicht regnet, wenn ein Bus in falscher Richtung durch eine Einbahnstraße fährt. Der gesunde soziologische Menschenverstand sagt uns, dass gerade solche Ereignisse uns an die Selbstverständlichkeiten und Rahmenbedingungen unseres normalen Lebens erinnern. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden, merken wir, dass „etwas nicht in Ordnung“ ist. Dabei handelt es sich um den fundamentalsten sozialen und emotionalen Glauben, den ich mir vorstellen kann. Ebenfalls interessant in diesem Buch ist die Beobachtung der ständigen Schwierigkeiten, die Perec mit seinen Beschreibungen hat, denn er befolgt dabei kein einheitliches System. Auf seinen Seiten ist viel von Bussen die Rede, aber sie kommen und gehen. Manchmal gibt es lange Listen davon, welche Busse soeben vorbeifuhren und ob sie voll waren oder nicht. Dann wird es ihm aber langweilig, und er wendet sich von der Straße ab oder hört einfach auf, sich mit Bussen zu beschäftigen. Er wendet sich den Tauben zu und interessiert sich dafür, was sie dazu bewegt, plötzlich gemeinsam das Dach des Rathauses zu verlassen. Aber auch das fesselt ihn nicht sehr lange. Tatsächlich lehrt uns das Buch, dass eine ziellose Beschreibung, wie Perec sie im Sinn hatte, eigentlich unmöglich ist, und folglich ist es eine Lektion darüber, wie und warum Forscher ihre Aufmerksamkeit auf etwas konzentrieren müssen.

Ist Perec Soziologe? Nein, Perec ist kein Soziologe, obwohl man das behaupten könnte. Es scheint, er habe etwas von der Soziologie gehört, von ihrer US-amerikanischen Version, die in den 1950er und 1960er Jahren in Frankreich Einzug hielt. Eines der lustigsten

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Dinge in Les choses ist die Beschreibung der kleinen Tricks bei soziologischen Interviews, die man damals anwendete und die auch heute noch praktiziert werden, zum Beispiel die lange Pause, die dem Befragten mitteilt, dass der Interviewer noch nicht zufrieden ist und mehr wissen möchte. Aber davon abgesehen war Perec kein professioneller Soziologe. Trotzdem wollte er die französische Gesellschaft oder zumindest einen Teil davon in einem bestimmten historischen Augenblick beschreiben. (Wie bereits erwähnt, nannte er eine der vier Kategorien, in die er sein Werk einteilte, „soziologisch“. Zu dieser Gruppe zählte er die drei Texte, mit denen ich mich in diesem Kapitel befasse.) Und dies tat er auf die zwei Arten, die ich skizziert habe. Um die beiden Ansätze zu verallgemeinern, könnte man sagen, sie waren verschiedene Versionen derselben Strategie: die Charakterisierung einer Kultur und Lebensweise, der relevanten Ansichten und damit zusammenhängenden Aktivitäten durch die Sammlung eigentlich nicht-analysierter Einzelheiten. In Les choses tut er es, indem er etwas so erzählt, als sei es eine Aufzählung von Dingen, die sich routinemäßig ereigneten. In Je me souviens und in Tentative sammelt er einfach Details des öffentlichen Lebens, schließt konsequent alles Private, Persönliche und Emotionale aus und lässt nur die Oberfläche stehen. Doch welch eine Oberfläche! In diesen Werken entsteht die Soziologie nicht durch das Erzählen einer Geschichte, deren Inhalt eine gesellschaftliche Analyse vermittelt. Keines dieser drei Werke erzählt etwas, wie Romanschriftsteller es tun. Man spürt nichts von notwendiger Entwicklung, von einer sich aufbauenden Geschichte, einer tiefen Analyse individueller Charaktereigenschaften, und es gibt keine Gefühle und nichts von gesellschaftlicher Struktur oder ihrer notwendigen Entfaltung. Wir („wir“ heißt hier in erster Linie wir Soziologen, aber auch alle beteiligten Kritiker und Kulturwissenschaftler) sprechen oft von literarischen Werken als wertvolle Wiedergaben des Lebens in einer Gesellschaft, als beschrieben sie in romanhaftem Detail Menschen und Ereignisse, die als Verkörperung einer Wahrheit gelten, nicht nur über die Menschen im Buch, sondern über solche Menschen im Allgemeinen, und eine Art allgemeine Wahrheit über derartige Ereignisse. Wir können Krieg und Frieden so auffassen, dass es uns durch die Besonderheiten der Erzählung und Figuren etwas über Krieg als soziales Phänomen darstellt. Bleakhaus und die darin erzählte Geschichte von Jarndyce gegen Jarndyce kann so aufgefasst werden (wie Dickens es auch wollte), dass sie eine „Wahrheit“ über das damalige britische Rechtssystem, seine Unzulänglichkeit, Bestechlichkeit und Ungerechtigkeit verkörpert. Auf subtilere Art verkörpert die ganze Struktur des Buches auch die Einrichtungen und die Spannungen der Gesellschaft, die es beschreibt und in der es zustande kam. Der brasilianische Kritiker Antonio Candido zeichnet sich durch Texte aus, die solche Merkmale eines Romans verdeutlichen (Candido 1995). 263

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Doch nichts von dem ist genau das, was ich hier meine. Mit Perec nimmt man nicht am emotionalen Leben der Figuren teil und identifiziert sich auch nicht mit ihnen. Man erhält auch keine ernsthafte Darstellung der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen, die in realistischen Romanen eine Hauptrolle spielen. Perec ist kein Modell für soziologisches Denken und Schreiben in dieser mehr oder weniger konventionellen Bedeutung. Diese drei Werke verkörpern stattdessen drei verschiedene Möglichkeiten literarische Mittel zu nutzen, um über Themen zu sprechen, die Sozialwissenschaftler interessieren, drei Methoden, die Sozialwissenschaftler selbst nutzen könnten, um über Gesellschaft zu erzählen. Les choses kommt der klassischen Gesellschaftsanalyse am nächsten. Man verlässt das Buch mit einem deutlichen Eindruck davon, wie das Leben für eine ganze Gesellschaftsschicht gewesen sein muss, für Menschen einer gewissen Art, einer gewissen Klasse, eines gewissen Alters und Familienstands. Wir können es eher mit sozialwissenschaftlichen Standardwerken vergleichen, die uns diese Aspekte des gesellschaftlichen Lebens vermitteln (zum Beispiel mit der Arbeit des Anthropologen Robert Redfield über „die kleine Gemeinschaft als typische Biografie“ [1956: 52ff.]). Die anderen beiden Bücher machen etwas, das Sozialwissenschaftler nicht sehr gut können: Sie stellen alltägliche lebensweltliche Erfahrungen dar. In der Einführung zu seiner Beschreibung des Place Saint-Sulpice bezeichnet Perec es als Absicht, „das Übrige zu schildern: das, was man im Allgemeinen nicht notiert, das was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, das, was passiert, wenn nichts passiert außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken“ (Perec 2010: 9; siehe auch Becker 1998: 95ff.). Alle drei Bücher, jedes auf andere Weise, beruhen auf detaillierter „roher Beschreibung“ als einem fundamentalen Mittel, dem Leser „Realität“ zu vermitteln. Wenn ich diese Werke als Protoethnografie behandle, meine ich nicht, dass sie nicht in erster Linie Literatur sind und dasselbe Potenzial wie alle anderen literarischen Werke besitzen. Aber vergessen wir das für den Augenblick und betrachten wir sie als Soziologie, wie Perec es selbst gesagt hat. (Es mag ja sein, dass die Meinung eines Autors von seinen eigenen Werken nicht unbedingt „ausschlaggebend“ ist. Das heißt aber nicht, dass wir sie ignorieren müssen.) Es ist nicht offensichtlich, wo dieses Zeug, „das passiert, wenn nichts passiert“, in das Raster der Inhalte einer sozialwissenschaftlichen Disziplin passt. Aber diese Strategie überschneidet sich mehr als nur ein bisschen mit dem, was zumindest manche Sozialwissenschaftler erreichen wollen: zur Beschreibung dessen, was eine Gruppe interagierender und kommunizierender Menschen unter gewissen historischen Umständen an gemeinsamem Wissen, Verständnis und gemeinsamer Praxis erzeugt hat – was wir gewöhnlich Kultur nennen. Darüber hinaus trägt sie dazu bei, eine Repräsentation der manchmal so genannten „gelebten Erfahrung“ von Menschen

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zu schaffen, obwohl diese Bezeichnung so vage ist, dass sie nichtssagend wird. Aber wenn es überhaupt etwas bedeutet, muss es sich zumindest auf diese Art von „was jeder wusste und fühlte“ in einer bestimmten historischen und gesellschaftlichen Phase beziehen. Perec lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das, was „unwichtig“ erscheint, nicht nennenswert, nicht (wirklich) wert, Theorien darüber aufzustellen. Sozialwissenschaftler bestehen auf Belegen dafür, was ihnen als gesellschaftliche Beschreibung und Analyse vorgestellt wird. Sie wollen, dass Dinge bewiesen werden, und das ist nicht ungerechtfertigt. Es überrascht nicht, dass Perec die Frage oder das Problem von „Beweisen“ niemals erwähnt. Leser könnten sich aber durchaus fragen, ob das Leben solcher Leute in jener Zeit in Paris wirklich so ausgesehen hat. Hätte ich dasselbe gesehen, wenn ich im Café de la Mairie am Place St. Sulpice gesessen hätte? Oder ist Perec nur ein Spinner, der sich Dinge vorstellt, die es nie gab? In einer Anmerkung nach dem Haupttext in Je me souviens zieht sich Perec aus der Affäre: „Wenn ich diese Erinnerungen an die Nachkriegszeit wachrufe, dann zaubern sie in mir eine Epoche hervor, die zum Reich der Mythen gehört. Das erklärt, wieso eine Erinnerung auch ,objektiv‘ falsch sein kann. So erinnere ich mich unter Nr. 101 richtig an die berühmten ,Tennis-Musketiere‘, aber nur zwei der vier Namen, die ich nannte (Borotra und Cochet) gehörten tatsächlich zu dieser Gruppe. Brugnon und Lacoste wurden durch Petra und Destremeau ersetzt, die später Meister wurden“ (1978: 119). Aber er gibt dem Leser genug Gründe zur Annahme, dass es wahrscheinlich genau so oder ziemlich genau so gewesen ist. Die Anmerkung, die ich soeben zitiert habe, gesteht einen Fehler ein, der die Eignung von Je me souviens als kulturelle Repräsentation wirklich nicht in Frage stellt. Als kulturelle Tatsache ist wichtig, dass die Namen von Tennis-Stars zum Wissen gehörten, das eine einigermaßen gebildete Person damals haben sollte. Es gehörte dazu, was E.D. Hirsch, Joseph Kett und James Trefil „kulturelle Bildung“ nannten (1987). Ob Perec sich an die richtigen Namen erinnerte, ist nicht wichtiger als die Namen der Sieben Zwerge von Walt Disney zu kennen. Aber das Geständnis zeigt Lesern, dass Perec um die Richtigkeit solcher Dinge besorgt war (allerdings nicht besorgt genug, um die Namen zu korrigieren!) und damit auch um die Betonung seiner Zuverlässigkeit. Die meisten Dinge, die er im Buch erwähnt, sind jedoch öffentlich belegt, ebenso wie Hans Haackes ähnliche Zitate im Zusammenhang mit seinen Konzept-Kunstwerken belegt sind. Sie sind so gut bekannt, dass die meisten Leser nichts erfahren, was sie nicht schon gewusst haben. Vielmehr erinnert das Buch die Leser an bereits Bekanntes und daran, wie das, was sie wissen, zusammengenommen eine Art kulturelles und soziales Ganzes darstellt. Dieses Ganze ist jedoch nicht leicht zu charakterisieren. Es hat nämlich nicht, zumindest nicht auf den ersten Blick, die Art von Zusammenhang, die Sozialwissenschaftler gerne einer Kultur zuschreiben, 265

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eine Ähnlichkeit, ein Ineinandergreifen oder eine Affinität von Teilen zueinander, die es einem Beobachter erlauben würde, diese Kultur mit einer dieser sinnigen zusammenfassenden Phrasen zu bezeichnen, die Sozialwissenschaftler so gern haben. So sagen wir zum Beispiel, eine Gesellschaft sei „industrialisiert“ oder von „puritanischer Ethik“ gekennzeichnet oder „dionysisch“ oder „apollinisch“. Les choses ist ein etwas anderer Fall. Als das Buch 1965 erschien und mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet wurde, löste es eine langwierige Diskussion darüber aus, ob man es überhaupt einen Roman nennen könne oder ob es eigentlich eine soziologische Abhandlung sei (die Erläuterung der kritischen Reaktion in Frankreich verdanke ich dem „Postface“ zur französischen Ausgabe von Jaques Leenhardt). Kritiker beanstandeten, es gäbe keine wirkliche Charakterisierung, keine Emotion, keine Wertvorstellungen, nichts von dem, was man im Nachkriegs-Frankreich üblicherweise von einem Roman erwartete (und natürlich nicht nur dort und dann). Stattdessen galt es nur als die Beschreibung einer Gesellschaft, die sich anschickte, von materiellem Konsum dominiert zu werden, eine Gesellschaft, in der eben Dinge das Leben der Menschen in einer Weise und in einem bisher nicht gekannten Ausmaß prägen. Diese Details summierten sich in einer Weise, die eine solche zusammenfassende Beschreibung des Buches ermöglichte. Und ein Teil der hitzigen kritischen Diskussion um das Buch befasste sich damit, ob diese Beschreibung zutraf oder nicht. Der Streit belegt, wie ernst man den Roman als Beschreibung des damaligen Frankreichs nahm. Wie in den anderen beiden Arbeiten gibt es auch hier sehr viele Einzelheiten. Jetzt geht es aber nicht um die Richtigkeit der Details, sondern um die Repräsentativität der Darstellung. Jérôme und Sylvie leben auf eine Weise, mit deren Einzelheiten französische Leser vertraut waren – sie kannten diese Teppiche und Lampen und all das andere materielle und immaterielle Zeug, mit dem das Paar sich umgab. Aber ist das alles? Müsste man nicht noch andere Dinge einbeziehen? Könnten wir nicht etwas sagen, das die Härte dessen abschwächen würde, was Leser und Kritiker als implizites Urteil über diesen Lebensstil betrachteten? Dies ist ein Problem der Repräsentation, das bei allen möglichen Projekten auftaucht, von fotografischen Arbeiten, die „zu einseitig“ erscheinen (siehe die wiederholte Kritik, Robert Franks Fotobuch The Americans sei „voreingenommen“), bis hin zu soziologischen Studien, wenn sich die darin dargestellten Personen beklagen, es gäbe doch andere, schönere Dinge hinzuzufügen, die einen ganz anderen Eindruck erweckt hätten. All diese Bedenken führen uns schließlich zu der Überlegung, ob nicht jede Art der gesellschaftlichen Repräsentation zwei Aspekte haben mag: den Wunsch, etwas zu zeigen, und den Wunsch, etwas zu erklären. Vielleicht ist es die Spannung zwischen diesen beiden Aspekten, die jede Art der gesellschaftlichen Analyse zusammenhält.

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Perecs soziologische Experimente haben viel mit konventioneller Soziologie gemeinsam. Obwohl sie eindeutig literarische Werke sind, sehen sie eher aus als hätte (ein fantasievoller) Soziologe sie geschaffen. Jane Austens Romane erzählen zwar eine Geschichte, wie man es in Romanen gewohnt ist, zeigen uns aber ebenso deutlich und ausführlich eine Lebensweise mit demselben generalisierten Verständnis, das wir in anthropologischen oder soziologischen Monografien vorfinden. Bei Italo Calvino ist es anders. Seine späteren Werke – so Avantgarde in Absicht und Ausführung – täuschen nicht vor, die getreue Beschreibung irgendeiner gesellschaftlichen Organisation oder Situation zu sein, und sie liefern nicht einmal die Hintergrundgeräusche, die Perec zu seiner Spezialität machte. Doch Calvino bringt etwas zum Ausdruck, für das wir uns interessieren sollten, besonders in Die unsichtbaren Städte (2013). Calvinos Prosa ist mit Recht berühmt geworden. Die Anhäufung unerwarteter Details, die lebendige, unerwartete Bildsprache, die alliterierende Auflistung von Dingen, Menschen und ihren Eigenschaften verleiht dem Leser ständig unvorhersehbare Freuden. Wenn ich hier einen anderen Aspekt von Calvinos Arbeiten hervorhebe, dann möchte ich damit keinesfalls seine literarischen Leistungen schmälern. Calvino gehörte der Pariser literarischen Werkstatt OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle) an. Zu ihren bekannten Mitgliedern gehörte auch Georges Perec. Wie bereits erwähnt, glaubte Perec, etwa ein Viertel seiner Werke könne als „soziologisch“ gelten, eine Beschreibung gesellschaftlicher Realität, die, wenn auch nur angedeutet, Sozialtheorien oder zumindest Rohmaterial für solche Theorien enthielt. Calvinos Buch über Städte kann mit etwas Fantasie als ein viel „theoretischerer“ Stil der Soziologie bezeichnet werden. Und wir würden davon profitieren, wenn wir mit der Wortklauberei aufhören, ob man dieses oder jenes „komische Zeug“ als Soziologie auffassen darf. Stattdessen sollten wir einfach prüfen, was es uns zu sagen hat. Die unsichtbaren Städte teilt die Eigenschaften jener Repräsentationen, die ich weiter oben als nicht wahr bezeichnet habe, die aber dennoch Analysen 267 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5_16

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enthalten, die Aufmerksamkeit verdienen. Genauer gehört es zu der Untergruppe des Genres, das ich Parabel genannt habe, obwohl die Segmente viel kürzer sind als Antins Geschichte vom lufthungrigen Land. Oberflächlich betrachtet ist Die unsichtbaren Städte eine Serie von Unterhaltungen zwischen einem alternden Kublai Khan und einem jungen Marco Polo. Khan sieht, dass sein Reich so riesig geworden ist, dass es nicht mehr effektiv regiert werden kann, dass es eine „endlose, formlose Ruine“ ist. Nur in den Reiseberichten von Marco Polo findet er noch „das Filigran eines Musters […], so fein, daß es dem Biß der Termiten entging“ (2013: 13). Kublai Khan glaubt nicht unbedingt alles, was Marco Polo ihm über die Städte erzählt, die er auf seinen Reisen besucht hat, aber er hört den fünfundfünfzig Kurzbeschreibungen der Städte aufmerksam zu. Wir als Leser auch. Marco Polo beschreibt jede Stadt, indem er sich dabei auf dominante Merkmale ihrer geographischen Lage, die Anordnung ihrer Gebäude, ihre gesellschaftlichen Gepflogenheiten oder viel subtilere Dinge konzentriert. Manchmal weist er auf die wichtigste Konsequenz ihres dominanten Merkmals hin. Zuerst beschreibt er Diomira: „Die Besonderheit dieser Stadt ist jedoch, das den, der eines Abends im September hier eintrifft, wenn die Tage kürzer werden und die bunten Lampen alle gleichzeitig über den Türen der Garküchen aufleuchten und eine Frauenstimme auf einer Terrasse ,Huch!‘ ruft, unwillkürlich der Neid auf diejenigen überkommt, die nun glauben, sie hätten schon einmal solch einen Abend wie diesen erlebt und seien damals glücklich gewesen.“ (ebd.: 15) Die Sprache ist bewegend, sogar erotisch („… und eine Frauenstimme ‚Huch!‘ ruft), und daran hat man schon genug Vergnügen. Vielleicht brauchen wir gar nichts Soziologisches hinzuzufügen. Aber die Ansammlung von fünfundfünfzig solcher Beschreibungen lässt Leser vermuten, dass es etwas gibt, das über die Anhäufung von stimmungsvollen Bildern hinausgeht, dass der Titel des Buches besagt, es handelt sich um Städte, weil Calvino uns etwas über Städte erzählen will. Das sagte er auch in einem Vortrag für Studenten an der Columbia University und in seinem Vorwort zur italienischen Auflage des Buches. In Unsichtbare Städte finden sich keine erkennbaren Städte. Sie sind alle erfundene Städte; ich habe ihnen allen den Namen einer Frau gegeben; das Buch besteht aus kurzen Kapiteln, von denen jedes einen Denkanstoß bietet, der für alle Städte oder die Stadt im Allgemeinen gilt. (Calvino 2017: i) Ich glaube, dass es nicht nur eine zeitlose Vorstellung von der Stadt ist, die das Buch hervorruft, sondern dass hier auch – manchmal implizit, manchmal explizit – eine Diskussion der modernen Stadt entwickelt wird. Von befreundeten Stadtforschern habe ich erfahren, dass das Buch verschiedene Aspekte ihrer Problematik berühre.

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Das ist kein Zufall, denn der Hintergrund ist derselbe. Und nicht erst gegen Ende erscheint in meinem Buch die Metropole der „big numbers“; selbst das, was an eine archaische Stadt zu erinnern scheint, macht nur deshalb Sinn, weil es mit der Stadt von heute vor Augen gedacht und geschrieben wurde. […] Für meinen Marco Polo ist es wichtig, die geheimen Gründe zu entdecken, die Menschen dazu veranlasst haben, in Städten zu leben, Gründe, die über alle Krisen hinweg gültig sein können. (ebd.: v-vi)

Über welche Städte erzählt er uns da? Zum größten Teil nicht über wirkliche Städte, nicht etwa über kaum getarnte Versionen von Paris oder London oder New York, sondern in den meisten Fällen Städte, die gar nicht existieren könnten – nicht, wenn wir die Beschreibungen wörtlich nehmen, obwohl sie vielleicht als Metaphern gelten könnten. Und trotzdem scheinen manche dieser beschriebenen Städte erkennbaren Großstädten zu ähneln. Esmeralda, das aus Straßen und Kanälen besteht, ist leicht als halbrealistische Version von Venedig zu erkennen, obwohl wir Marco Polos Eindrücke vielleicht nicht erwartet hätten. (Wirkliche Städte der Vergangenheit und Gegenwart werden in den späteren Unterhaltungen der beiden Männer genannt, und sogar imaginäre Städte aus der Literatur. So werden San Francisco und Neu-Atlantis in ihrem Gespräch heraufbeschworen, und in Khans zauberhaftem Atlas.) Wo befinden sich die Städte? Marco Polo reist vermutlich um die ganze bekannte Welt, doch zu seinen Lebzeiten gab es weit weniger Städte als in den darauffolgenden Jahrhunderten. Oft werden Städte so beschrieben, als wären sie an einer Meeresküste oder am Rand von Wüsten. Der Beschreibung von Menschen und Dingen zufolge scheinen sie meistens in Europa und Asien zu liegen und wohl kaum in Nord- oder Südamerika. Calvino warnt uns, mit den Städtenamen vorsichtig zu sein, aber die Namen haben eine Würze: romantisch, irgendwie nach Mittelmeerraum klingend und altmodisch. Fast alle enden mit einem Vokal, der grammatisch gesehen zumeist eine weibliche Form ausdrückt und ein weibliches Gefühl vermittelt. Wann soll es die Städte gegeben haben? Da Marco Polo sie für Kublai Khan beschreibt, sollen sie wohl aus deren Zeit stammen, dem ausgehenden 13. Jahrhundert. Viele üppige Details dieser Städte passen dazu. Manche Beschreibungen passen jedoch nicht, besonders nicht am Ende des Buches, wenn wir befremdet von Mülltransportern, Autos, Flughäfen, Kränen und Bulldozern sowie anderen modernen Maschinen lesen. Ein Anhaltspunkt dafür, was Calvino uns über die Städte erzählen will, liegt in der Aufteilung des Buches. Die fünfundfünfzig Beschreibungen bestehen aus elf Gruppen von je fünf Städten unter verschiedenen verlockenden Überschriften: „Die Städte und die Erinnerung“, „Die Städte und der Wunsch“, „Die Städte und 269

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die Zeichen“, „Die fragilen Städte“, „Die Städte und der Tausch“, „Die Städte und die Augen“, „Die Städte und der Name“, „Die Städte und die Toten“, „Die Städte und der Himmel“, „Die fortdauernden Städte“, „Die verborgenen Städte“. Die Gruppen sind in einer komplizierten Zahlenordnung verschachtelt, deren Bedeutung nicht ersichtlich ist und die ich für eine typische OuLiPo-Erfindung halte: eine systematische und willkürliche Anordnung der Teile einer Arbeit (siehe aber die Diskussion in Calvino, 2017: ii-iii). Jede Gruppe enthält Überschriften, unter denen Dinge über die Städte gesagt werden, und unter denen uns überraschende Merkmale zur Kenntnis gebracht werden. Manche Merkmale sind alltägliche physikalische Tatsachen, manche beziehen sich darauf, wie Menschen auf Städte reagieren, manche sind fantasievolle „was wäre wenn“-Formulierungen, die unseren Glauben an normalerweise unbestrittene Merkmale des gesellschaftlichen Lebens herausfordern. Wie Calvino den Columbia-Studenten 1983 erklärte, sollen wir denken, dass diese Städte in mancher, aber nicht in jeder Hinsicht zeitübergreifend sind. Diese Idee erscheint von Zeit zu Zeit ausdrücklich in der Unterhaltung zwischen Khan und Polo. Trotz all der vielen spezifischen Einzelheiten in Marco Polos Beschreibungen wird kein historisches Zeitalter und kein wirklicher Ort erwähnt (nicht wie sich zum Beispiel Max Webers Analyse der protestantischen Ethik auf spezifische Zeiten und Orte bezieht). Stattdessen heißt es „das Filigran eines Musters […], so fein, daß es dem Biß der Termiten entging“ (Calvino 2013: 13). Wir meinen, Calvino will uns jedenfalls etwas Wichtiges über Städte erzählen, denn wir können aus seinen Parabeln allgemeine Schlüsse über urbanes Leben ziehen. Jede Parabel bezieht sich auf etwas, das intrinsisch mit der Organisation des Lebens in der Stadt zu tun hat, auf irgendeine Dimension, durch die sich Städte – oder unsere Reaktion auf die Städte – unterscheiden. Solche Merkmale findet man in allen Städten. Nicht alle Städte haben zum Beispiel dasselbe Wasserleitungssystem, aber alle müssen ihre Bevölkerung mit sauberem Wasser versorgen und ihr Abwasser entsorgen (die Beschreibung von Armilla [2013: 54] konzentriert sich auf dieses Merkmal der städtischen Einrichtungen). Wie das geschieht, wird auf eine verständliche Weise auf andere Merkmale des Lebens in der Stadt bezogen. Solche Verallgemeinerungen gehören zu den normalen Aufgaben von Stadtsoziologen. Wir vergleichen Städte anhand von Größen wie Bevölkerungszahl und -zusammensetzung, ihrer geografischen Struktur, ihrer „Probleme“, und sogar ihrer immateriellen Werte wie „Kultur“ und „Tradition“ (Molotch, Freudenburg, Paulsen 2000). Wir wollen Calvinos Werk nicht schmälern, indem wir es auf diese prosaisch-wissenschaftliche Weise diskutieren, können aber feststellen, dass er zu diesen Standardmerkmalen einige neue Variablen hinzufügt, neue Dimensionen, entlang derer Städte erfolgreich verglichen werden können, obwohl Soziologen das

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bisher nicht getan haben, zumindest nicht systematisch. Die neuen Dimensionen sind in den Geschichten eingebettet, die Marco Polo Kublai Khan erzählt, und auch in deren Diskussionen darüber.

Calvinos Methoden Calvino erklärt die Methoden, mit denen er seine Theorie des Stadtlebens entwickelt, in achtzehn Dialogen zwischen dem Kaiser von China und dem Reisenden. Sie erörtern die theoretischen und epistemologischen Probleme der Sozialwissenschaft, indem sie sich über den Status der Stadtbeschreibungen unterhalten, die Marco Polo dem Kublai Khan vorträgt. Wir hören ihnen zu und erfahren nicht nur die Vorteile und Nachteile jeder Möglichkeit, sondern auch die Unmöglichkeit, mit Gewissheit zwischen ihnen zu wählen. Das dialogische Format (siehe Kapitel 12) fördert diese Ungewissheit. Wir lesen keine Abhandlung, die zu einer Schlussfolgerung kommt, sondern eine Diskussion, bei der Alternativen berücksichtigt, ausprobiert, abgelehnt, übertroffen und erneut in Betracht gezogen werden. Die Dialoge erkunden, lösen aber die methodischen Probleme nicht, die uns daran hindern, eine Stadt richtig zu verstehen. Die Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Khan und Polo erfüllen dramatisierende und charakterisierende, aber auch „wissenschaftliche“ Zwecke. Ganz gewiss stellen sie Kommentare zu Methodenproblemen dar, die Sozialwissenschaftlern weiterhin Sorgen bereiten. Khan und Polo erkennen die empirische Basis allen Wissens an und nehmen sie auf feinsinnige Weise hin. Einerseits wissen sie, dass unsere Ideen unsere Tatsachen beeinflussen. Wir sehen, worauf uns unsere Ideen vorbereiten. Andererseits können wir Tatsachen nicht steuern, indem wir Ideen manipulieren. Tatsachen sind widerspenstig und lassen sich nicht einfach nach Wunsch verbiegen. So sind die Besonderheiten der Städte, die Marco Polo beschreibt, nicht einfach Dinge, die er nach seinem Geschmack erfinden kann. Sie sind, was sie sind, und alle allgemeinen Vorstellungen, die wir haben, müssen damit übereinstimmen. So sagt Kublai Khan zu Marco Polo: „Ab jetzt werde ich es sein, der die Städte beschreibt, und du wirst nachsehen, ob sie existieren und so sind, wie ich sie mir ausgedacht habe.“ (Calvino, 2013: 49) Khans Beschreibungen werden einem empirischen Test unterzogen. Sie diskutieren die Zusammenhänge zwischen dem Einzelfall und der allgemeinen Regel, zwischen der Beschreibung einer bestimmten Stadt – ob wirklich oder erfunden – und einigen allgemeinen Vorschlägen, wie Städte organisiert sind und funktionieren, über deren Geschichte und mögliches Schicksal. Auch das ist ein immer wiederkehrendes Standardproblem sozialwissenschaftlicher Methoden. 271

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Sie erkennen, dass – wie bereits erwähnt – Marco Polos Beschreibungen Dimensionen des städtischen Lebens voraussetzen, die man bei der Beschreibung jeder Stadt in Betracht ziehen muss. Hier gehe ich über das hinaus, was im Text ihrer Gespräche explizit steht. Es mag nützlich sein, dies alles als „Probleme“ aufzufassen, die Städte lösen müssen. Die Stadt Fedora zum Beispiel bewahrt ihre zahlreichen Vorstellungen einer möglichen Zukunft als winzige Kristallkugeln in einem Museum auf. Das erinnert uns daran, dass jede Stadt viele mögliche Zukünfte hat, auf die sie reagiert. Jede einzelne Stadt hat ihre eigene Art und Weise, mit diesen potenziellen Zukünften umzugehen. Sie mag sie aufrechterhalten, unterdrücken, ignorieren oder vergessen. „Unsere Zukunft“ ist in allen Städten irgendwie gegenwärtig. Jede einzelne Stadtbeschreibung deutet mindestens eine solche Dimension an, und die Gesamtheit der Beschreibungen Marco Polos impliziert eine große Zahl solcher Dimensionen. Da es viele Möglichkeiten gibt, wie eine Stadt mit jeder Dimension umgehen kann, ist die Zahl der potenziellen Kombinationen enorm groß. Es ist eine Sache der mathematischen Kombinatorik. Diese analytischen Möglichkeiten kann man sich auf verschiedene Weise vorstellen. Man kann sagen, wenn man diesen allgemeinen Bestand an Dimensionen kennt, weiß man alles, was man braucht. Jeder Ort ist nur eine Version des allgemeingültigen Gesetzes. Khan sagt: „Dabei habe ich mir ein Modell der Stadt erdacht, aus dem sich alle möglichen Städte ableiten lassen. […] Es umfaßt alles, was der Norm entspricht. Da die existierenden Städte verschieden weit von der Norm abweichen, brauche ich bloß die Abweichungen von der Norm vorauszusehen und die wahrscheinlichsten Kombinationen zu berechnen.“ (ebd.: 75) Marco Polo schlägt ein alternatives Modell vor, das „nur aus Ausnahmen, Ausschlüssen, Widersprüchen, Inkongruenzen und Ungereimtheiten besteht. Wenn eine solche Stadt das Unwahrscheinlichste ist, was sich vorstellen läßt, erhöht sich durch Verringerung der abnormen Elemente die Wahrscheinlichkeit, daß es die Stadt wirklich gibt. Ich brauche also nur die Ausnahmen von meinem Modell abzuziehen und werde, egal in welcher Richtung ich gehe, immer zu einer der Städte gelangen, die, auch stets nur als Ausnahme, existieren. Allerdings kann ich meine Operation nur bis zu einer bestimmten Grenze treiben, andernfalls bekäme ich Städte, die zu wahrscheinlich sind, um wahr zu sein.“ (ebd.) Dadurch wird das Verständnis von Städten zu einer Art Schachspiel. Sobald man die Regeln und Gesetze kennt, kann man auch spielen. Kublai Khan meint aber, das sei zu abstrakt und ließe zu viel aus. Man habe beim Schach ja nur ein Stück Holz, ein Schachbrett. Marco Polo weist sofort darauf hin, dass es auch über ein Stück Holz viel zu wissen gibt. Oder man könnte sagen, man habe alles, was man braucht, sobald man eine Stadt gut kennt, denn die Verallgemeinerungen in Bezug auf all die anderen Städte wären

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ja darin schon enthalten. Als Kublai Khan Marco Polo fragt, warum er nie Venedig erwähnt, sagt Polo: „Jedesmal, wenn ich eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig. […] Um die Eigenschaften der anderen zu unterscheiden, muß ich von einer ersten Stadt ausgehen, die implizit bleibt. Für mich ist das Venedig.“ (ebd.: 94) Wir entdecken also neue Dimensionen des städtischen Lebens, indem wir bestimmte Städte miteinander vergleichen. Wenn wir mehrere Fälle anschauen, bildet der bekannte Fall den Kontrast, gegen den die neuen Merkmale und Dimensionen erkennbar werden. Umgekehrt führt der Versuch, das Unbekannte und Fremde zu verstehen, dazu, dass man Aspekte des Vertrauten erkennt, die man bis dahin nicht beachtet hat. Das geschieht, wenn wir verschiedene Städte oder die Vergangenheit einer Stadt mit ihrer Gegenwart vergleichen. Solche Vergleiche führen zur Untersuchung imaginärer Fälle, die möglich gewesen wären, aber nie zustande kamen: „tote Äste der Vergangenheit“. Hier sind kurz einige andere Regeln der analytischen Methode aufgeführt, die in den Dialogen zwischen Kublai Khan und Marco Polo zu finden sind: • „Aus der Zahl der vorstellbaren Städte müssen wir diejenigen ausschließen, deren Elemente sich ohne einen verbindenden Faden, eine innere Regel, eine Perspektive, einen Diskurs einfach nur aneinanderreihen.“ (ebd.: 49). • „Auch Städte glauben, sie seien ein Werk des Geistes oder des Zufalls, aber weder der eine noch der andere genügen, um ihre Mauern aufrechtzuerhalten.“ (ebd.) Das heißt, beide Erklärungen sind ungenügend. • Jedes Element des Ganzen ist wichtig. Es gibt kein Ganzes ohne seine Teile, und kein Teil bedeutet etwas ohne Bezug auf ein Ganzes. • Die Erinnerung ist veränderlich, nicht zuverlässig. Doch die „Form der Dinge erkennt man besser aus der Entfernung“ – mit zeitlichem und räumlichem Abstand (ebd.: 105). Aus welchem Blickwinkel beschreibt man am besten? Es ist gut, Schlussfolgerungen aus der Ferne zu treffen. Das Ziel aller Beschreibungen von Städten ist zu sehen, wie man lebt, zu sehen, was kommt, und es zu akzeptieren und Teil davon zu werden. Besser gesagt: zu sehen, was das Leben verbessern könnte, und diese Dinge aufrecht zu erhalten. Beim Erfinden einer Stadt sucht man nach einer Vollkommenheit, die Glückseligkeit erzeugt, und das ist eine Hauptaufgabe des Werkes.

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Calvinos Theorie der Städte Die kurzen Beschreibungen der Städte erzeugen Ideen, die über den einzelnen Ort hinaus Gültigkeit haben, über den Marco Polo gerade erzählt. So erfahren wir zum Beispiel, dass Eutropia aus vielen Städten besteht, die bis auf eine leer stehen, und dass ihre Bewohner ab und zu ihres Lebens, ihrer Ehepartner, ihrer Arbeit überdrüssig werden und dann alle zusammen in die nächste Stadt ziehen, wo sie mit neuen Partnern, neuen Häusern, neuen Berufen, neuen Ausblicken aus ihren Fenstern, neuen Freunden, neuen Freizeitbeschäftigungen und neuen Gesprächsthemen wieder von vorn anfangen. Wir erfahren, dass sich trotz dieses Umzugs nichts ändert, da dieselben Arbeiten ausgeführt werden, auch wenn andere Leute sie tun, und obwohl neue Leute sprechen, über dieselben Dinge gesprochen wird. Das deutet auf eine soziologische Verallgemeinerung hin: In jeder Stadt gibt es einen Bestand an gesellschaftlichen Praktiken – Arten der Ehe, der Arbeit und des Wohnens – die sich nicht ändern, obwohl die Leute, die sie pflegen, laufend durch den normalen Verlauf von Geburt, Tod, Zuwanderung und Abwanderung ausgewechselt werden. Plus ça change.17 Jede Beschreibung von Marco Polo schlägt in diesem Sinne eine Verallgemeinerung vor. Viele Berichte über eine Stadt verstärken, kommentieren oder deuten auf die Veränderung einer solchen generalisierenden Aussage hin, die in einer vorherigen Vignette enthalten war. Nachdem wir zum Beispiel über Eutropias unveränderliche Struktur und veränderliche Bevölkerung gelesen haben, erfahren wir von Melania, deren Leben als Ansammlung fortlaufender Dialoge beschrieben wird, die selbst eine solche Praxis verkörpern: „Der prahlerische Soldat und der Parasit begegnen, während sie aus einer Tür treten, dem jungen Verschwender und der Hure; oder der geizige Vater gibt, auf seiner Schwelle stehend, der verliebten Tochter die letzten Ratschläge und wird von dem törichten Diener unterbrochen, der losrennt, um der Kupplerin ein Billet zu überbringen.“ (ebd.: 86) Menschen sterben und werden geboren, aber die Dialoge gehen unverändert weiter: „Die Bevölkerung von Melania erneuert sich: Die Dialogpartner sterben einer nach dem anderen, und derweil werden diejenigen geboren, die ihren Platz im Dialog einnehmen werden, der eine hier, der andere dort. Wenn jemand die Seite wechselt oder den Platz für immer verlässt oder zum ersten Mal auftritt, ergeben sich Umbesetzungen in langer Reihe bis alle Rollen neu verteilt sind [aber dieselben Szenen werden mit denselben Rollen weiter gespielt; H.B.] […], auch wenn keiner von ihnen noch den Blick und die Stimme hat, die sie in der vorigen Szene hatten.“ (ebd.) Das führt zu der von 17 Anmerkung des Übersetzers: Teil des französischen Sprichworts „Plus ça change, plus c’est la même chose.“ Je mehr sich verändert, desto mehr bleibt gleich.

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Eutropia ausgehenden allgemeinen Aussage, dass diese unveränderlichen Praktiken in traditionellen Rollen und Skripten verkörpert sind. Mit anderen Worten: Städte besitzen eine charakteristische Kultur. Die folgenden Kommentare zu Calvinos theoretischen Befunden sind unvollständig und flüchtig. Sie umfassen nicht alle Lehren des Buches. Jede Stadt könnte eine Grundlage für ausgedehnte Kommentare bilden. Ich werde einige Ideen erwähnen und Calvinos Ausführungen darüber ausführlich behandeln. Um es zu wiederholen: Eine tatsächliche oder imaginäre Stadt stellt eine bestimmte Position innerhalb einer oder mehrerer Dimensionen einer Variation dar. Es gibt also ein Kontinuum, deren Pole gerecht und ungerecht sind, und eine gerechte Stadt wie Berenike scheint darauf eine eindeutige Position einzunehmen. Aber – eine weitere soziologische Lehre für uns – jede Stadt enthält neben ihren offensichtlich kennzeichnenden Merkmalen auch das Gegenteil: „Im Saatgut der Stadt der Gerechten ist seinerseits eine Saat des Bösen verborgen; die Gewißheit und der Stolz, auf der richtigen Seite zu sein – und dies mehr als viele andere, die sich gerechter als gerecht nennen –, lassen Groll, Rivalitäten, Ressentiments gären, der natürliche Wunsch nach Revanche an den Ungerechten färbt sich mit dem Verlangen, an ihrer Stelle zu sein, um dasselbe zu tun wie sie. Eine weitere ungerechte Stadt, wenn auch von der ersten verschieden, ist also dabei, sich in der doppelten Hülle des ungerechten und des gerechten Berenike einzunisten.“ (ebd.: 167) Obwohl ein Merkmal dominant oder überhaupt das einzige zu sein scheint, ist auch der andere Pol des angedeuteten Kontinuums da: Berenike enthält eine ungerechte Stadt, die darauf wartet, den Platz der gerechten Berenike zu übernehmen, und diese ungerechte Stadt birgt wiederum eine gerechte Stadt, die ebenfalls übernehmen will: Dies festgestellt, muß ich, um dir kein verzerrtes Bild vor Augen zu stellen, deine Aufmerksamkeit auf eine verborgene Eigenschaft dieser ungerechten Stadt lenken, die insgeheim in der geheimen Stadt der Gerechten keimt: das mögliche Wiedererwachen – gleich einem erregten Fensteraufreißen – einer latenten Liebe zum Gerechten, die noch keinen Gesetzen unterliegt und fähig ist, eine Stadt noch gerechter neuzugestalten, als sie es war, bevor sie Gefäß der Ungerechtigkeit wurde. Doch wenn man noch tiefer ins Innere dieses neuen Keims der Gerechten späht, entdeckt man ein winziges Fleckchen, das sich ausbreitet als die wachsende Neigung, das Gerechte durch das Ungerechte zu erzwingen, und vielleicht ist es der Keim einer riesigen Metropole … […] alle zukünftigen Berenikes [sind] schon in diesem Moment vorhanden […], eins ins andere gehüllt, eng zusammengepreßt, unentwirrbar. (ebd.)

Darin liegt eine Dialektik: Gerechtigkeit führt zu Ungerechtigkeit und diese wieder zu Gerechtigkeit. Im weiteren Sinne gibt es also kein X ohne die notwendige Existenz des Nicht-X. Das gilt nicht nur in der Logik, sondern auch in der Realität. 275

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Calvino verkörpert das in der Geschichte von Moriana. Diese Stadt hat ein schönes Gesicht, aber auch ein hässliches Gegenteil. Ihre Teile können weder voneinander getrennt werden, noch können sie einander betrachten. Eine Stadt kann diese entgegengesetzten Pole im regelmäßigen Rhythmus besetzen (alle sechs Monate von einem zum anderen wechselnd, wie eine Stadt mit Saison-Tourismus, die zwischen „der Saison“ und dem Rest des Jahres pendelt). Oder sie kann sie im historischen Verlauf einnehmen (sich langsam über Jahrhunderte von einer Form zur anderen verändern). Aber beide Pole sind immer da, auch wenn einer von ihnen versteckt, ruhend oder unsichtbar sein mag. Häufig verwendet Calvino eine räumliche Metapher für die Beziehung zwischen den beiden: Eine Form der Stadt ist im Himmel, die andere auf der Erde, oder eine ist auf der Erde, die andere ist unterirdisch. Manchmal, wie im Fall von Valdrada, spricht er von einer Stadt und ihrem Spiegelbild und überlegt sich, was wertvoller ist, die Wirklichkeit oder die Reflektion. Das Erzählte ermahnt uns, nicht zu schnell zu urteilen, welche Version bewundernswerter ist. Bathseba visiert die Vorzüge einer himmlischen Stadt an, aber die unterirdische Stadt, deren Merkmale die Menschen in Bathseba versuchen zu vermeiden, ist wirklich die perfekte Stadt: Bathseba ist eine „Stadt, die nur, wenn sie kackt, nicht geizig, berechnend, auf den eigenen Vorteil bedacht ist“ (2013: 118). Diese gegensätzlichen Pole können quasi-kausale Zusammenhänge haben. Veränderungen auf der einen Seite führen zu Veränderungen auf der anderen. Die Bewohner von Thekla bauen ununterbrochen. Als Marco Polo sie fragt, welche Baupläne sie befolgen, fordern sie ihn auf, bis zum Sonnenuntergang zu warten: „Die Arbeit endet bei Sonnenuntergang. Nacht sinkt über die Baustelle. Es ist eine sternklare Nacht. ,Da ist der Bauplan‘, sagen sie.“ (ebd.: 134) Solche Pläne führen nicht unbedingt zum gewünschten Erfolg, was auf ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Planung hindeutet. Auch die Bewohner von Perinthia betrachten den Himmel als ihren Bauplan und „Perinthia wurde exakt nach den Berechnungen der Astronomen erbaut“: Heute begegnet man auf den Straßen und Plätzen von Perinthia Krüppeln, Zwergen, Buckligen, krankhaft Fettleibigen, bärtigen Frauen. Aber das Schlimmste sieht man nicht, gutturale Schreie dringen aus Kellern und Dachböden, wo die Familien ihre Kinder mit drei Köpfen oder sechs Beinen verstecken. Die Astronomen von Perinthia sehen sich vor eine schwierige Wahl gestellt: entweder anzuerkennen, daß ihre Berechnungen allesamt falsch waren und ihre Zahlen den Himmel nicht zu beschreiben vermögen, oder zu offenbaren, daß die Ordnung der Götter genau diejenige ist, die sich in der Stadt der Monster widerspiegelt. (ebd.: 150f.)

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Der kausale Pfeil mag in einer Richtung verlaufen, die wir nicht erwarten. Wie in Thekla und Perinthia reflektieren auch die Regelungen in Andria die Regeln der Gestirne. Nicht, weil die Stadt den Sternen nacheifert. Nein, versichern die Bewohner Marco Polo, immer wenn sie die Stadt verändern, verändern sich die Sterne ebenso: „Jedesmal, wenn in Andria etwas geändert worden ist [eine neue Statue, ein Flusshafen, eine Rodelbahn; H.B.], suchen die Astronomen den Himmel mit ihren Teleskopen ab und berichten dann von der Explosion einer Nova oder dem Farbwechsel eines fernen Punktes am Firmament von Orange zu Gelb, von der Ausbreitung eines Nebels oder der Einkrümmung einer Spirale der Milchstraße.“ (ebd.: 157) Viele Städte legen Ideen über das Verhältnis zwischen Struktur und Funktion nahe. Man kann, wie in Dorothea, alles Wissenswerte über die Stadt aus ihrem räumlichen Plan ableiten: „man kann Berechnungen auf der Grundlage dieser Daten anstellen, bis man von der Stadt alles weiß, was man von ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wissen will.“ (ebd.: 17) Doch muss ein Plan nicht die Funktionen an bestimmte Plätze binden: „An jedem Ort dieser Stadt [Zoe] könnte man von Mal zu Mal schlafen, Gerätschaften herstellen, kochen, Goldmünzen horten, sich entkleiden, regieren, verkaufen, Orakel befragen.“ (ebd.: 41) Die Struktur kann auch eine Art von leerer Hülle sein: „Diese Stadt [Zora], die sich nicht aus dem Gedächtnis löschen läßt, ist wie ein Gerüst oder Gitterwerk, in dessen Felder jeder einordnen kann, woran er sich erinnern will: Namen berühmter Männer, Tugenden, Zahlen, pflanzliche oder mineralische Klassifikationen, Daten von Schlachten, Sternbilder, Satzteile.“ (ebd.: 23) Manche Städte sind wie Netzwerke organisiert. Manche der imaginären Städte sind nicht mehr als Netzwerke: Von Armilla ist nichts übrig als ihr System für die Wasserversorgung (jetzt von Wesen besiedelt, die das am meisten zu schätzen wissen: Najaden). In Ersilia werden Beziehungen durch Fäden dargestellt, die zwischen den Häusern verlaufen: „Wenn die Schnüre so viele geworden sind, daß man nicht mehr durchkommt, ziehen die Einwohner fort: Die Häuser werden abgebaut; zurückbleiben nur die Schnüre und ihre Stützen.“ (ebd.: 82) So kann eine Stadt vollkommen als Netzwerk der Beziehungen verstanden werden, von denen es viele Arten gibt. Zaira besteht aus „Beziehungen zwischen den Maßen ihre Raumes und den Ereignissen ihrer Vergangenheit: die Höhe einer Straßenlaterne und der Abstand vom Boden bis zu den baumelnden Füßen eines erhängten Usurpators; […] die Höhe jener Brüstung und der Sprung des Ehebrechers, der sich im Morgengrauen über sie schwingt; […] Die Stadt erzählt ihre Vergangenheit nicht, sie enthält sie wie die Linien einer Hand, eingeschrieben in die Ränder der Straßen, die Gitter der Fenster, die Handläufe der Treppengeländer, die Antennen 277

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der Blitzableiter, die Masten der Fahnen, jedes Segment seinerseits schraffiert von Kratzern, Sägespuren, Kerben und Schlägen.“ (ebd.: 18f.) Calvino beschreibt andere Stadtstrukturen in Form von verschachtelten Bildern. Die gegenwärtige Stadt Olinda enthält das noch zu entstehende Olinda, die historische Zukunft der Stadt, in embryonischer Form, als Keim oder Saatkorn in ihrem Zentrum, das dann herauswächst (ein Echo von Berenike). Das Stadtmuseum von Fedora bewahrt die Miniatur-Repräsentationen der Stadt – das Fedora, das hätte sein können, aber nie entstanden ist – in Kristallkugeln auf, die entsprechende ganz individuelle Träume seiner verschiedenen Bewohner enthalten. Die Welt (die wir als unsere Theorien über die Welt verstehen können) muss für „das große Fedora aus Stein und die kleinen Fedoras in den Glaskugeln Platz finden. Nicht weil sie gleichmäßig real wären, sondern weil sie alle nur Annahmen sind. Das eine enthält das, was man als notwendig akzeptiert hat, noch bevor es notwendig war, und die anderen das, was man sich als möglich vorgestellt hatte und was schon eine Minute später nicht mehr möglich war.“ (ebd.: 39f.) Calvino bietet uns historische Theorien, indem er die regulären Pfade verfolgt, auf denen sich eine Stadt entwickeln könnte. Einem wiederkehrenden Motiv zufolge werden die Städte immer größer, bis sie zu einer riesigen kontinuierlichen Stadt ohne Grenzen verschmelzen. In einer Form ist die Stadt fortlaufend, aber hier und da gibt es Flughäfen mit verschiedenen Namen. „Hätte ich bei der Landung in Trude nicht den Namen der Stadt in großen Buchstaben gelesen, hätte ich geglaubt, auf demselben Flugplatz angekommen zu sein, von dem ich abgeflogen war […] ,Du kannst abfliegen, wann du willst‘, sagten sie mir, ,aber du wirst zu einem anderen Trude kommen, das Punkt für Punkt diesem hier gleicht, die Welt ist bedeckt von einem einzigen Trude, das weder Anfang noch Ende hat, nur der Name am Flughafen wechselt‘.“ (ebd.: 135) In Cäcilia ist die Stadt mit der ländlichen Umgebung verschmolzen, und in dem Konglomerat suchen alle nach Spuren des einen oder des anderen, an das sie sich erinnern und das sie schätzen. In Leonia, das noch unglücklicher ist, erzeugen die Stadt und all die anderen Städte in der Umgebung so viel Müll, dass ihre Müllberge aneinander grenzen und schließlich eingeebnet und neu begonnen werden müssen (diese Städte gehören zu den Plätzen, an denen Calvino Anachronismen ausbeutet). Schließlich ermahnen uns Marco Polo und Calvino, dass Namen irreführend sind. Das entspricht dem größeren Punkt von erheblicher theoretischer Bedeutung, dass Dinge, die wir mit demselben Namen bezeichnen, nicht unbedingt identisch sein müssen. (Alle „Schulen“ sind nicht gleich.) Ein Name kann bestehen bleiben, was Kontinuität andeutet, obwohl der Name eigentlich das einzige ist, das eine neue und eine alte Stadt gemeinsam haben. Namen haben große Bedeutung, aber diese Bedeutung mag wenig oder gar nichts mit der Realität eines Ortes zu tun

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haben. Anlässlich einer Erfahrung in Pyrrha sagt Marco Polo: „In meinem Geist gibt es weiterhin eine große Anzahl von Städten, die ich nicht gesehen habe und nicht sehen werde, mit Namen, die eine Figur oder ein Fragment oder flüchtiges Aufblitzen einer vorgestellten Figur mit sich bringen. […] [Die imaginäre Stadt ist noch da; H.B.], aber ich kann sie nicht mehr mit einem Namen benennen und mich auch nicht mehr erinnern, wie ich ihr einen Namen geben konnte, der etwas ganz anderes bedeutet.“ (ebd.: 99f.) Namen (im weiteren Sinn als begrifflich definierte Kategorien) haben nur aus der Perspektive des Betrachters Bedeutung und nur von einem bestimmten Platz aus. So ist „Irene […] der Name einer Stadt in der Ferne, die sich ändert, wenn man ihr näher kommt.“ (ebd.: 131f.) Das ist ein guter Hinweis für Sozialwissenschaftler, die sich von Wörtern so bezaubern lassen, dass sie sie mit der wirklichen Sache verwechseln.

Literatur als Theorie des Sozialen Wäre Calvino wirklich ein Sozialtheoretiker, nicht nur so, wie ich ihm und seinem Werk diese Rolle auf meine spielerische Weise übertragen habe, würde er nicht so über Städte reden wie in diesem Buch. Nicht ein einziges Mal erwähnt er Max Weber oder Émile Durkheim oder Karl Marx, ganz zu schweigen von zeitgenössischen Sozialtheoretikern. Er bezieht sich auch nicht auf Autoren, die spezifisch über Städte geschrieben haben: Georg Simmel, Ernest W. Burgess, Louis Wirth. Sein Buch enthält keine Statistiken über die Bevölkerung und ihre Bestandteile, über die wirtschaftlichen Situationen oder den Bildungsstand der Einwohner. Stattdessen präsentiert er uns durch die Stimme von Marco Polo fantasievolle poetische Beschreibungen von Städten. Mit diesen Beschreibungen täuscht er nicht vor, tatsächlich existierende Orte zu charakterisieren. Im Gegenteil, sie sind mit Einzelheiten und Bildern angefüllt, die von komplizierten Gedanken und Gefühlen handeln, Bilder, die allgemeine Überlegungen in Gestalt von Metaphern vorstellen. Die Dialoge formulieren dazu den vorbereitenden Ausgangspunkt, dass es auf diese Weise viel einfacher ist, spezifische Tatsachen – etwa detaillierte Beschreibungen von Städten – zu verstehen, als durch abstrakte Abhandlungen. Wir Sozialwissenschaftler stellen unsere Ideen über das städtische Leben anders dar. Wir wissen, was wir durch unsere Art der Beschreibung zu erreichen glauben: Präzision, Systematik, die Kraft der Abstraktion zur Bildung logischer Klassen, mit denen wir etwas verallgemeinern können. Was hat Calvino gewonnen, das wir mit unseren abstrakten Beschreibungen verlieren? Können wir von ihm lernen, wie 279

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wir Dinge über Städte sagen können, die wir vielleicht schon kennen, die wir aber nicht in unsere eindeutigen Ergebnisse einzufügen wissen? Calvino spricht gelegentlich von Städten, die „aus Wünschen und Ängsten“ gebaut sind. Er sagt, das Unverständliche wird deutlich, wenn wir die Städte aus dieser Sicht betrachten. Er bemerkt auch, dass mit den Beschreibungen Gefühle und Stimmungen „eingeschmuggelt werden“, und er warnt, wir müssten diese loswerden, um aus der Ferne die „wirklichen Formen“ sehen zu können. Das ist ein Problem, für dessen Lösung die sozialwissenschaftlichen Methoden speziell geschaffen worden sind. Da Calvino alles versucht, um Stimmung und Gefühle zu kommunizieren, ist dies eine der vielen Regeln, deren Gegenteil auch gelten muss. Er kommuniziert die Nuancen der Stimmungen und Gefühle, indem er kleine Details beschreibt, wie zum Beispiel die Frauenstimme, die auf der Terrasse in Diomira „Huch!“ ruft. In Despina liegt „ein Segelschiff, das gleich ablegen wird, während der Wind bereits die noch nicht losgebundenen Segel bläht“ (ebd.: 25). Solche Einzelheiten leisten mehr, als nur eine Stimmung oder Gefühle zu vermitteln. Sie liefern auch Informationen, mit denen aufmerksame Leser das Wesen der Stadt verstehen und konstruieren können, über die erzählt wird. Dadurch wird jede kurze Beschreibung reich an analytischen Möglichkeiten – viel umfassender als die Möglichkeiten, die eine typische sozialwissenschaftliche Analyse zur Verfügung stellt. Die Möglichkeit, Stimmung und Gefühle zu verwenden, die ich hier nicht weiter erkundet habe, ist nur eine solche potenzielle Bereicherung. Für die richtigen Leser könnte jede Einzelheit zum Ausgangspunkt der Analyse eines Teils des städtischen Lebens werden. Die Frauenstimme, die „Huch!“ ruft, dürfte manche Leser dazu führen, die erotischen Aspekte des Stadtlebens zu bedenken (ebenso wie viele andere Teile des Buches). Der ausfahrende Windjammer könnte eine Untersuchung darüber auslösen, wie die in einer Stadt zur Verfügung stehenden Transportmittel nicht nur ihre eigenen Möglichkeiten, sondern auch unsere Meinung über die Stadt beeinflussen. Despina „präsentiert sich unterschiedlich, je nachdem, ob man vom Land oder vom Meer zu ihr kommt.“ (ebd.). Da literarische Beschreibungen viele Details enthalten, die zu einer solchen Erweiterung fähig sind (wie auch die weiter oben diskutierten Fotografien von Walker Evans), machen sie Vergleiche möglich, die die von Khan und Polo manchmal gewünschte analytische Distanz liefern. Es ist paradox, aber die detaillierte Betrachtung aus der Nähe führt zu diesem Abstand. Dies steht im direkten Widerspruch zum Wunsch der Stadtforscher, klar definierte Konzepte zu erhalten, die es ihnen ermöglichen, eine Stadt dieser oder jener Kategorie zuzuordnen, dieses oder jenes Merkmal als dominant zu erklären, damit eine definitive Analyse zustande kommt. Die eindeutigen Konzepte der Sozialwissenschaftler führen zu eindeutigen Ergebnissen. Literarische Beschreibungen

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tauschen Klarheit und eindimensionale Betrachtungen gegen die Möglichkeit aus, die vielseitigen Aspekte einer Geschichte für vielseitige Analysen zu verwenden. Die diesem Ansatz am stärksten entsprechenden Analysen sind die reichhaltigen Ethnografien, die Geertz als „dichte Beschreibungen“ bezeichnet (Geertz 1974). Anwender dieser Methode wissen gewöhnlich, dass sie etwas richtig machen, es fällt ihnen aber schwer zu erklären, was sie denn eigentlich richtig machen. Der Vergleich mit Calvinos Methode macht konkreter klar, was dieses etwas ist. Calvino (im Gegensatz zu Perec) hat nie behauptet, seine Arbeit sei Soziologie (sein Vortrag an der Columbia University ließ allerdings vermuten, er hätte eine solche „Anschuldigung“ vielleicht gar nicht abgestritten). Wir erkennen in seiner Arbeit aber Hinweise, wie wir uns von der Tyrannei konventioneller Formen befreien können. Es gibt mehr zu sagen und auch zu denken, als das, was unsere Formen uns sagen und denken lassen. Calvino ist eine Quelle, aus der wir schöpfen können.

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Letztendlich … Letztendlich … Letztendlich …

Ich habe mich sehr bemüht, nicht zu predigen oder zu moralisieren. Von einigen geringen Ausnahmen abgesehen, meine ich auch, das sei mir gelungen. Das bedeutet aber nicht, dass ich keine Überzeugungen habe. Hier sind sie also in Gestalt einer Schlussfolgerung. Ich bin überzeugt davon, dass es keine beste Art und Weise gibt, über die Gesellschaft zu erzählen. Viele Genres, viele Methoden, viele Formate – sie alle können sich dazu eignen. Statt einer idealen Form der Erzählung gibt uns die Welt Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen können. Jede Art, über Gesellschaft zu erzählen, kann in mancherlei Hinsicht Hervorragendes leisten, ist in anderer dann aber nicht so gut. Man kann nicht alles maximieren. Als Erwachsene haben wir das schon gelernt, aber viele Leute vergessen es und werden sehr selbstgerecht, wenn es um die Art und Weise geht, eine Geschichte zu erzählen. Das soll nicht heißen, es gäbe keine Unterschiede zwischen den Methoden, über Gesellschaft zu erzählen. Verfechter der Wissenschaft mögen fragen, welche Karte man lieber zur Verfügung hätte, die von einem kartografischen Fachmann oder die von einem Freund, der im Nachbarort wohnt. Dazu muss ich sagen: Es kommt darauf an. Es kommt darauf an, wozu ich die Karte brauche. Will ich den Weg zum Haus meines Freundes finden, hätte ich lieber seine Karte, in die er auch alle örtlichen Eigenheiten und Sehenswürdigkeiten eingezeichnet hat. Zur Berechnung städtischer Statistiken nehme ich die Karte des Kartografen. Spezialisierte wissenschaftliche Repräsentationen sind für spezifische wissenschaftliche Anwendungen. Aber das ist es nicht, was die meisten Leute üblicherweise wollen. Wer wissenschaftliche Arbeit leistet, braucht den ganzen wissenschaftlichen Apparat, den man für schlichte, alltägliche Zwecke nicht benötigt. Ich gebe zu, dass sich wissenschaftliche Repräsentationen sehr gut für solche Zwecke eignen, für die Wissenschaftler und andere Leute sie einsetzen. Ich bestehe aber darauf, dass es andere Zwecke gibt, für die sie sich nicht eignen mögen. Man denke an den jungen Engländer in San Francisco, dessen wissenschaftlich ausgelegte Karte ihm nichts 283 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5

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Letztendlich …

über die Steigung gesagt hat, die er erklimmen musste, um zu seinem Motel zu gelangen. So etwas kommt oft vor. Ich bin außerdem überzeugt, dass alle, die an der Produktion und Nutzung von Repräsentationen gesellschaftlicher Phänomene mitarbeiten, etwas zum Endprodukt beitragen, und ich bin besonders überzeugt davon, dass die Nutzer eine wichtige Rolle spielen. Was immer die Macher von Repräsentationen tun, wenn die Nutzer nicht mitmachen, wird die Story nicht erzählt, oder jedenfalls nicht so, wie es die Macher beabsichtigt haben. Repräsentationen enthalten unterschiedliche Mengen an Details und Informationen. Manche Macher schneiden ihre Berichte genau darauf zu, was erforderlich ist, damit die Nutzer das Argument des Machers akzeptieren. Andere fügen viele andere Informationen hinzu, die manche Nutzer als notwendig erachten mögen, andere nur minimal oder nur im Unterbewusstsein zur Kenntnis nehmen oder ganz ignorieren. Es muss nicht jeder Nutzer alles nutzen. Es bleibt ihnen überlassen. Manche Dimensionen reichen vom sorgfältig konstruierten Argument in einem wissenschaftlichen Fachartikel, der Nutzern gerade genug liefert um zu beurteilen oder zu akzeptieren, was der Macher vorschlägt, bis zum eher inklusiven Inhalt eines gut konstruierten Dokumentarfotos (wie die Fotos, die Walker Evans machte, um die unterschiedlichen Formen des Frauenlebens in den Vereinigten Staaten in den 1920er und 1930er Jahren zu ergründen). Dann gibt es eine zweite Dimension. Dabei besteht ein Pol aus Repräsentationen, die ermöglichen und oft verlangen, dass Nutzer umfangreiche interpretative Arbeit leisten, und die ihnen Material vermitteln, mit dem sie eine große Anzahl an Ideen untersuchen können, sogar solche, an die der Macher womöglich gar nicht gedacht hatte. Am anderen Pol stehen Repräsentationen, die weniger vermitteln und so weit wie möglich versuchen, die interpretativen Möglichkeiten der Nutzer auf das zu begrenzen, was der Macher beabsichtigt hat. Das Universum von der Darstellung von Gesellschaftlichem enthält unzählige Möglichkeiten, die Arbeit zwischen Machern und Nutzern aufzuteilen. Ich bin überzeugt, dass sich die gegenwärtige Sozialwissenschaft selbst verstümmelt hat, indem sie Forschern strikte Beschränkungen darüber auferlegt, welche Mittel erlaubt sind, um ihre Forschungsergebnisse zu vermitteln. Das formelhafte Wesen von Artikeln in der Fachliteratur lässt keinen Raum für „sachfremde“ Einzelheiten oder mehrdeutige Interpretationsmöglichkeiten, die bei anderen Formen der Repräsentation unserer Kenntnisse angeregt oder sogar gefordert werden. Akademische Bücher geben Autoren und Verlegern mehr Raum, die gewillt sind, ein Risiko einzugehen (obwohl die damit verbundenen Risiken äußerst gering sind). Macher in anderen Repräsentationswelten, besonders in der Kunst, müssen sich mit ihrer jeweils eigenen professionellen und organisatorischen Umwelt abfinden,

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die ebenso restriktiv sein kann. Jede dieser Welten hat ihre eigenen „richtigen Wege“, Dinge zu tun. Wer sie nicht befolgt, spielt mit seinen Karrierechancen und seinem Ruf. Künstlern kann vorgeworfen werden, sich zu sehr wie Sozialwissenschaftler zu verhalten. So haben Kritiker Georges Perec vorgehalten, er schreibe wie ein Soziologe, und an Hans Haackes Arbeit wurde kritisiert, sie sei mehr Soziologie als Kunstwerk. Sozialwissenschaftler, die auf ungewöhnliche Art und Weise erzählen, werden beschuldigt, nicht „wissenschaftlich“ genug zu sein. Die altertümliche Weise, wie Reviewer, Lektoren, Redakteure und andere verfahren, wenn sie entscheiden, ob eine Arbeit zur Veröffentlichung taugt, macht es Sozialwissenschaftlern schwer, „ungewöhnliche“ Mittel wie Tukeys Box-Plot-Grafik zu verwenden, ganz abgesehen von Bildmaterial oder Formaten, die – Gott bewahre! – wie „Kunst“ aussehen. Dieser Konservatismus schwächt die Sozialwissenschaften und das Kunstschaffen gleichermaßen. Wir haben hier einen traurigen Fall von „Es war gut genug für Opa, es ist gut genug für mich“. Dieses Buch bezeugt, welche Möglichkeiten wir ignoriert haben – als Teilnehmer an kollektiven Unternehmungen, die Gesellschaft zu erkunden und über sie zu erzählen. Ich bin überzeugt, wir sollten endlich aufhören, diese Möglichkeiten zu ignorieren und anfangen, die existierenden Ressourcen zu nutzen – wir alle, auf welchem Gebiet wir auch tätig sein mögen. Können wir das schaffen? Können wir es trotz der schweren Hand organisatorischer Einschränkungen, die sich am deutlichsten in den redaktionellen Gepflogenheiten der Journals widerspiegeln, aber auch in den Beurteilungsstandards der Berufungsausschüsse an Universitäten, der Kuratoren, der Intendanten von Theatern und Filmstudios, die herumsitzen und „Nein“ sagen? Natürlich können wir es schaffen. Die Arbeiten, die ich als Beispiele aufgeführt habe, beweisen es. Mathematiker nennen es einen Existenzbeweis. Einfacher ausgedrückt: Alles, was gemacht worden ist, kann gemacht werden. (Siehe auch die Diskussion an verschiedenen Stellen in Becker, Faulkner, Kirshenblatt-Gimblett 2006.) Ende meiner Predigt. Wie jeder Prediger hoffe ich, dass meine Gemeinde zugehört hat, aber ich bin nicht allzu hoffnungsvoll. Es wäre schön, wenn ich mich irren würde.

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Literatur Literatur Literatur

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Wie man über Gesellschaft erzählen kann Howard S. Becker im Gespräch mit Reiner Keller*18 Wie man über Gesellschaft erzählen kann Wie man über Gesellschaft erzählen kann

Editorische Notiz Das Interview fand am 19. September 2015 in der Pariser Wohnung von Howard S. Becker und seiner Ehefrau Dianne Hagaman statt. Die hier vorliegende übersetzte und geringfügig ergänzte Fassung erschien zuerst im Forum Qualitative Sozialforschung (Becker, Keller 2016). Howard S. Becker bat darum, den geschriebenen Stil so eng wie möglich an das ursprüngliche persönliche Gespräch anzupassen. Unterstrichene Wörter verweisen darauf, dass sie laut und besonders betont ausgesprochen wurden. [Lachen] bedeutet eine bestimmte Art von Gefühlsregung, „…“ zeigt eine kurze Gesprächspause an, „[…]“ heißt, dass beide Personen gleichzeitig sprechen.

1

Notieren und Noten spielen

Reiner Keller: Beginnen wir mit dem, was man Ihre Berufsbiografie nennen könnte. Sie promovierten in Chicago und begannen dann, an anderen Standorten, auch in anderen Städten an verschiedenen Forschungsprojekten zu arbeiten. Ich möchte über diese Übergangsphase sprechen, nachdem Sie mit dem PhD-Studium fertig waren und dann diese Art von Feldstudien betrieben. Wie kam das zustande?

*

Deutsche Übersetzung und geringfügige Ergänzung des zuerst 2016 im Forum Qualitative Sozialforschung erschienenen Gesprächs (Becker, Howard S. & Keller, Reiner (2016). Ways of Telling about Society. Howard S. Becker in Conversation With Reiner Keller [65 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 17(2), Art. 12, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1602122. Die Audioversion ist verfügbar unter: http://dx.doi.org/.5281/zenodo.49829er. 295

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Wie man über Gesellschaft erzählen kann

Howard S. Becker: Also zunächst müssen Sie wissen, dass ich den PhD gar nicht so ernst genommen habe. Ich hatte zunächst hauptsächlich Klavier gespielt und fasste das auch als Beruf auf. Ich wollte ein großer Jazzpianist werden. Aber ich war sehr jung und wohnte bei meinen Eltern. Mein Vater war dagegen, dass ich als Klavierspieler in Bars auftrat, und so musste ich studieren. Ich bekam den Bachelor in Chicago und wollte dann eigentlich Literatur studieren, denn ich las gern Romane, und dachte das würde … und dann im Sommer, noch vor dem Masterstudium, las ich „Black Metropolis“ (Drake, Cayton 2015). Ich dachte: „Das will ich machen. Das ist großartig.“ Es ist, als ob ich Anthropologe wäre, aber zu Hause bleiben könnte und nicht in die Länder reisen müsste. Also schrieb ich mich für Soziologie ein, und das erste Jahr studierte ich bei Everett Hughes.1

Abb. A-1 Everett C. Hughes vor Howard Beckers Haus in Kansas City2

1

Der Soziologe Everett C. Hughes (1897–1983) war eine der bekanntesten Persönlichkeiten in der US-amerikanischen Soziologie. Professor in Chicago von 1938 bis 1961; Herausgeber des American Journal of Sociology und 1963 Präsident der American Sociological Association. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehörten Fragen der Rassenbeziehungen und Ethnizität, Arbeit und Berufe, soziologische Feldforschung (vgl. Hughes 1984a). 2 Alle Fotografien im Interview sind mit Zustimmung von Howard S. Becker seiner Homepage entnommen (http://howardsbecker.com/photos.html, letzter Aufruf am 12. Januar 2019)

Wie man über Gesellschaft erzählen kann

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Es war ein Kurs über Feldstudien, und das gefiel mir. Es war interessant, denn Hughes schickte uns hinaus, um Feldstudien zu betreiben. Im nächsten Sommer belegte ich einen Kurs über „Fortgeschrittene Feldstudien“ bei Ernest Burgess,3 dem berühmten Ernest Burgess. Er sagte: „Entweder schaffen Sie es, 12 Fragebögen für meine Untersuchung über das Altern ausfüllen zu lassen, oder Sie fangen eine Masterarbeit an.“ Ich wusste, dass ich keine 12 Fragebögen machen wollte, also … Ich spielte Klavier in einer Bar an der 63. Straße. Daher fing ich an, Feldnotizen zu machen, was ich schon im Seminar gelernt hatte. Im Spätsommer las Burgess meine Aufzeichnungen. Er sagte daraufhin: „Das ist Professor Hughes, Schwerpunkt ‚Arbeit und Berufe‘„. […] R.K.: [Lachen] Dort gehören Sie hin! H.S.B.: […] Ja, genau. Fünfter Stock. Hughes hatte das alte Büro von Robert E. Park.4 Das war sehr bedeutsam … So ging ich zu Hughes, und zuerst … Er wollte nichts mit Studenten zu tun haben, wenn sie nichts Interessantes taten. Ich ging hin und klopfte an, und er sagte: „Was wollen Sie?“ Ich sagte: „Mr. Burgess hat gesagt, ich soll Ihnen diese Feldnotizen geben.“ Er sagte: „Gut, kommen Sie in einer Woche wieder.“ OK, also ging ich eine Woche später wieder hin, und es war völlig anders. Er sagte freundlich: „Kommen Sie rein und nehmen Sie Platz.“ Es war so: Er hatte seit Jahren jemanden gesucht, der einen nicht-akademischen Beruf untersuchen wollte, also keine Juristen oder Ärzte, sondern einen niedrigeren Beruf. Jetzt hatte er jemanden gefunden, und er wollte mich nicht verlieren. Er betreute meine Masterarbeit. Und außerdem hatte er eine Förderung für die Untersuchung von Grundschulen und Gymnasien in Chicago bekommen. Er brauchte jemanden, um Lehrer zu interviewen,

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Ernest W. Burgess (1886–1966) war kanadisch-amerikanischer Soziologe und einer der Begründer der Soziologie in Chicago, wo er von 1916 bis 1957 lehrte. 1934 wurde er der 24. Präsident der American Sociological Association (damals: American Sociological Society). Seine Arbeitsgebiete waren Stadtsoziologie, Altern, Familie. Zusammen mit Robert E. Park schrieb er eines der einflussreichsten Lehrbücher der Soziologie überhaupt (Park, Burgess 1921), sowie ein bahnbrechendes Buch über „The City“ (Park, Burgess, McKenzie 1925). 4 Robert E. Park (1864–1944) war eine der führenden Personen der US-amerikanischen Soziologie und Begründer der Stadtethnographie. Er erhielt seinen Doktortitel in Heidelberg, arbeitete als Journalist und lehrte von 1914 bis 1933 an der Universität von Chicago. Park war 1925 Präsident der American Sociological Society (später umbenannt in American Sociological Association). Zu seinen Arbeitsgebieten zählten Stadtsoziologie, Stadtökologie und die Soziologie der ‚Rassenbeziehungen‘ (vgl. Park 1974; Park, Burgess 1921). 297

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und bot mir den Job an. Ich erhielt einen Dollar die Stunde. Nicht großartig, aber auch nicht schlecht – es war ja 1949 oder 1950. Ich glaube, ich musste 50 oder 60 Lehrer interviewen. Ich gab ihm jedes Interview; er las und kommentierte. Nachdem ich etwa 20 gemacht hatte, ging ich wieder zu ihm und übergab ihm ein Interview. Er sagte: „Warum geben Sie mir das?“ Ich sagte: „Ich dachte, ich sollte das.“ Er sagte: „Sie wissen doch, wie es gemacht wird. Stören Sie mich nicht mehr damit.“ [Lachen] So unterrichtete er auch, es war wunderbar. – „Sie können es doch, machen Sie es einfach.“ So führte er mich im Wesentlichen durch …

R.K.: Darf ich Sie etwas fragen? Sie sprachen von Feldstudien und fortgeschrittenen Feldstudien. War der einzige Unterschied zwischen den beiden der Name des Kurses? H.S.B.: Ja, ich sehe, Sie kennen sich aus. Es bedeutet gar nichts. R.K.: Gute Feldstudien zu machen – was hieß das für Hughes? H.S.B.: Dass man gut zuhörte, dass man aufpasste, was die Leute sagten, und dass man sich das merken konnte. Was man hörte, verwendete man für weitere Fragen. Man musste wissen, was der Job verlangte, also sich merken, was die Person zu sagen hatte. Nicht eine Reihe von vorbereiteten Fragen stellen […] R.K.: Ja, stimmt.

Abb. A-2 Howard S. Becker als Klavierspieler in einer Bar in der 63. Straße in Chicago, ca. 1950

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H.S.B.: […] Wissen Sie, eine Unterhaltung zu führen, bei der alles gesagt wurde, was ein Soziologe wissen wollte. Was das war? Wer weiß? … Ich glaube, Hughes war nicht an Analysemethoden interessiert. Einer der Studenten höherer Semester, der für ihn arbeitete, zeigte mir, wie man die wichtigen Teile auswählt und wie man alles zusammenbaut und eine Aussage daraus macht. Ich schrieb die Masterarbeit, während ich mit den Lehrern beschäftigt war. Einmal – ich war schon fast damit fertig – sagte Hughes plötzlich: „Sie sollten einen Artikel schreiben.“ Ich fragte: „Worüber?“ Er sagte: „Na, über Ihre Masterarbeit. Schreiben Sie einen Artikel.“ „Worüber soll ich denn schreiben?“ Er sagte: „Nehmen Sie eine Idee und lassen Sie alles drin, was Sie dieser Idee anhängen können, und wenn es nicht passt, lassen Sie es weg.“ OK. So schrieb ich meinen ersten Artikel. Er hatte dieses bizarre Thema: Musiker. Ein solches Gebiet gab es gar nicht. Hughes war damals Redakteur der Zeitschrift American Journal of Sociology. Deshalb schickte ich den Artikel an andere Soziologie-Fachzeitschriften. Es gab nicht viele, und sie lehnten ihn alle ab. „Zu bizarr, nicht interessant.“ Schließlich sagte er: „OK, senden Sie ihn an das American Journal of Sociology,“ und dort wurde er veröffentlicht. So fing es an, und dann wurde es mir zur Gewohnheit.

Abb. A-3 Auftritt des „Bobby Laine Trio“ im 504 Club in Chicago ca. 1950 (Tenorsaxophon: Bobby Laine, Schlagzeug: Dominic Jaconetti, Klavier: Howard Becker)



Das habe ich dann gemacht, und als ich meinen PhD hatte, blieb ich noch zwei Jahre in Chicago. Ich hatte inzwischen geheiratet und brauchte nach meinem Masterabschluss einen Job. Ich war zu Hughes gegangen und hatte gesagt: „Nun, auf Wiedersehen. Es war sehr interessant, aber ich muss jetzt 299

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arbeiten. Ich werde Vollzeit als Klavierspieler arbeiten, und ich kann das hier nicht länger tun.“ Er hatte einfach ignoriert, was ich sagte, und mich gefragt: „Haben Sie ein Stipendium beantragt?“ Ich sagte: „Nein, ich verlasse die Uni.“ Er hatte erwidert: „Beantragen Sie jetzt ein Stipendium.“ Ich gehorchte und ich bin sicher, dass er dafür gesorgt hatte, dass ich das Stipendium bekam, und schon saß ich an meiner Doktorarbeit. Es war eigentlich komisch. Da es mir nicht wichtig war, fiel es mir auch nicht schwer. Ich machte mir keine Sorgen, wissen Sie? Ich machte einfach die Prüfungen, und […] R.K.: Sie waren gar nicht so erpicht darauf […] H.S.B.: Ja, ob ich es schaffe oder nicht … Nach zwei Jahren war ich fertig. Das ist der Hauptgrund, warum ich erst 23 war, als ich meinen Doktortitel bekam. Die Leute denken: „Oh, Sie müssen ja so klug gewesen sein,“ aber nein, es war mir ganz egal [kichert]. Ich habe es einfach gemacht. Und dann konnte ich keinen Job finden. Ich war ja erst 23. R.K.: Zu jung!

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„Treffen Sie mich morgen in Kansas City“

H.S.B.: Ja. Zu jung, aber ich überredete jemanden am Institut für Jugendforschung,5 das nicht zur University of Chicago gehörte. Der Staat Illinois zahlte mein Gehalt, aber es waren dort alles Leute aus Chicago. Ich überredete sie, mir eine halbe Stelle für eine Studie zum Marihuana-Konsum zu finanzieren. Als Musiker war ich natürlich damit vertraut. Und ich hatte ein Vorbild, nämlich das Buch von Alfred Lindesmith6 über Opiatabhängigkeit aus dem Jahr 1947. Kennen Sie das? R.K.: Ich kenne nur den Titel, das Buch kenne ich nicht.

5 Gegründet 1909; zur Geschichte, den Arbeitsgebieten und den Umbenennungen des Institutes vgl. www.psych.uic.edu/aboutus/history, letzter Aufruf am 12. Januar 2019. 6 Alfred R. Lindesmith (1905–1991) war Professor für Soziologie an der Indiana University. Er promovierte 1937 an der Universität von Chicago bei Herbert Blumer (einem ehemaligen Assistenten von George Herbert Mead und später führender Protagonist der Theorie der Symbolischen Interaktion; vgl. Blumer 1969).

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Abb. A-4 Alfred „Lindy“ Lindesmith

H.S.B.: Es sollte mal wieder neu aufgelegt werden. Ich meine, es ist ein wundervolles Buch. Und es hatte alles, was ich brauchte, denn Marihuana war ein sehr interessanter Fall zum gleichen Thema. Es war Lindesmiths Idee, das Phänomen der Abhängigkeit sei eine Folge davon, dass die Leute anders über die Droge und den Umgang mit ihr dachten. Ich wusste, dass es keine Marihuana-Abhängigkeit gab. Aber es gab dieses High-werden … und die Menschen müssen das verstehen. Jahre später sagte mir ein Pharmakologe, es sei wirklich ein Rätsel, weil Marihuana eine sehr geringe physiologische Wirkung hat. Wenn man die Droge pharmakologisch untersucht … sie hat gar keine Wirkung. Marihuana führt zu enormer psychologischer Wirkung, und daran waren wir sehr interessiert. Es ging darum, wie ein Konsument interpretierte, was geschah. Auch sich nicht darüber bewusst zu sein, dass es geschah. Das schrieb ich alles auf, und es wurde im American Journal of Sociology veröffentlicht. Es war sehr interessant, dass sich niemand darum kümmerte: „Nicht interessant!“ Denn es war kein gesellschaftliches Problem. Niemand regte sich auf. Das war komisch. Ich weiß nicht, wie ich die Idee des Labeling entwickelte. Ich meine, das gab es schon, es war nicht meine Erfindung. Edwin Lemert7 hatte 1951 schon darüber geschrieben, und andere Leute vor ihm. Ich glaube, ich habe 7 Edwin Lemert (1912–1996) war amerikanischer Soziologe und Kriminologe, schrieb Schlüsselwerke des Labeling-Ansatzes und führte unter anderem das Konzept der „sekundären Devianz“ ein. Er war Professor für Soziologie an der University of California, Los Angeles und der University of California, Davis. 301

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deutlicher und leichter verständlich geschrieben. Ich brachte es mit Musikern und Marihuana in Verbindung und machte ein Buch daraus. Das waren die Außenseiter (Becker 1963). Aber inzwischen arbeitete ich schon zwei Jahre in Chicago. Teilweise lehrte ich an der Uni, denn Hughes ging in Urlaub. Ich übernahm seinen Feldarbeit-Kurs. Ich machte weitere Marihuana-Forschungen. Dann erhielt ich ein zweijähriges Stipendium für die University of Illinois. Eines Tages rief Hughes mich an und sagte auf seine wunderbar direkte Art: „Treffen Sie mich morgen in Kansas City!“ Ich fragte: „Warum?“ Er sagte: „Wir werden eine medizinische Fakultät untersuchen.“ Ich fragte: „Wir?“ Er sagte: „Ja!“ Also flog ich nach Kansas City, traf mich mit ihm, und so geschah es. Die nächsten sieben Jahre forschte ich, zunächst an der medizinischen Fakultät. Wir schrieben das Buch Boys in White (Becker et al. 1961). Dann habe ich an der Universität gelehrt und es entstand Making the Grade (Becker, Geer, Hughes 1968). Anschließend ging ich nach Stanford, weil ich in San Francisco wohnen wollte. Es war kein bedeutendes Soziologiezentrum, aber es war nicht weit von San Francisco entfernt. Ich konnte in der Stadt wohnen und hinfahren, wenn es notwendig war, aber die Soziologiefakultät war schrecklich, und ich war da nicht wirklich engagiert. Ich war an einem Forschungsinstitut. Dann im Jahre 1965 – es waren nun 14 oder 15 Jahre seit meiner Promotion vergangen, und ich hatte schon viel veröffentlicht. Ich hatte drei Bücher geschrieben und viele Artikel. Und das amerikanische Universitätssystem fing gerade an, aus allen Nähten zu platzen, denn es gab ja so viele Studenten aufgrund des Babybooms und so weiter. Es wurden viele Professoren gebraucht, und besonders erfahrene Leute, denn es gab noch nicht genug ältere Leute im Fach. Ich war zwar nicht gerade, was man damals „heiß begehrt“ nannte, aber ich wollte nicht weg. Ich hätte niemals San Francisco verlassen, es sei denn, um nach Chicago zurückzukehren. Dafür wäre ich gegangen.

„Achtundzwanzig Prozent“

H.S.B.: Und Ray Mack8 war Leiter der Soziologie-Fakultät an der Northwestern University in Evanston, gleich nördlich von Chicago. Ich kannte ihn, weil […] 8 Raymond W. Mack (1927–2011) war Professor für Soziologie an der Northwestern University, Evanston, lehrte dort von 1953 bis 1971 und von 1987 bis 1992. Zwischen 1971 und 1987 war er Dekan aller Fakultäten und Vizepräsident der Universität. Er war

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R.K.: […] Er war Schlagzeuger. H.S.B.: […] Ja, er war Schlagzeuger. Daher kannte ich ihn. Wir waren gut befreundet. Er war ein sehr ungewöhnlicher, ungewöhnlich intelligenter Verwaltungsmann. Ehrlich gesagt, halte ich Verwaltungsleute normalerweise nicht für die intelligentesten Zeitgenossen. Aber er war es. Er wusste, wie alles zu laufen hat. Er begann damit, Leute anzuwerben, bevor er eine Stelle für sie hatte. Aber er beeindruckte damit: „Hier ist, wo du hingehörst, und wir finden was für dich, keine Bange!“ Eines Tages rief er mich an und bot mir eine volle Professur mit einem schönen Gehalt an, und ich sagte: „Sie verdammter Mistkerl!“ Er lachte, denn er wusste, was ich meinte. Denn ich musste ja San Francisco verlassen. Es dauerte sechs Wochen, aber dann gab ich auf. Es war wundervoll. Ich war dreißig Jahre oder noch länger dort. Es war ein großartiger Arbeitsplatz, wundervolle Studenten und gute Kollegen, an der ganzen Universität. Als ich dort anfing, hatten sie einen wunderbaren Ethnomusikologen namens Klaus Wachsmann.9 Dann hatten sie Paul Berliner,10 der ein großartiges Buch über Jazzimprovisationen schrieb (Berliner 1994). R.K.: Also haben Sie sich dort sehr wohlgefühlt? H.S.B.: Ja, und dann waren da noch … Später war da noch jemand, über den ich in Telling about Society schreibe (Becker 2007): L. Dwight Conquergood.11 Er war Professor für Performance Studies, ein Gebiet, das es erst seit kurzem gab. Er half, es zu erfinden, aber ich war bereits sehr daran interessiert, wie auch an anderen Wegen, Soziologie darzustellen, und die dramatische Darstellung

1968 Mitbegründer des dortigen Zentrums für Stadtforschung. Seine Hauptarbeitsgebiete waren Rassenbeziehungen und soziale Ungleichheit. 9 Klaus Wachsmann (1907–1984) war britischer Musikethnologe, sammelte und untersuchte traditionelle afrikanische Musik, zum Beispiel in Uganda. Er war 1963 bis 1968 Professor für Musik an der University of California, Los Angeles, die er dann für eine Professur an der Northwestern University verließ. 10 Paul Franklin Berliner (*1946) ist US-amerikanischer Musikethnologe und Musiker. Er war an der Northwestern University, von der aus er an die Duke University wechselte, wo er eine Professur für Arts and Sciences innehat. Hauptarbeitsgebiete: Afrikanische Musik, Jazz, Improvisation. 11 L. Dwight Conquergood (1949–2004), US-amerikanischer Ethnograph, erhielt seinen Doktortitel in Performance Studies an der Northwestern University, wo er anschließend ab 1978 zu lehren begann. Arbeitschwerpunkte waren unter anderem Ethnographien in Südostasien, Chicagos Straßenbanden, Flüchtlinge und die Todesstrafe. 303

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schien sehr interessant zu sein. Wir haben zwei Jahre lang gemeinsam ein Seminar durchgeführt. Im zweiten Jahr kam die Fotografin Dianne Hagaman12 dazu – inzwischen waren wir miteinander verheiratet – und sie fotografierte alles. Das ist Material, das wirklich noch ausgeschlachtet werden sollte. Leider ist Dwight sehr jung gestorben. Die Northwestern University war ein Ort … Als ich anfing, an Art Worlds zu arbeiten, hatte ich ein Stipendium am Center for Advanced Study. Dort belegte ich unter anderem einen Kurs an einer Kunsthochschule in San Francisco, um fotografieren zu lernen. Dann kam ich an die Northwestern zurück und entschloss mich, Fotografie zu unterrichten. Sie hatten niemanden dafür. Es war am Institut für Journalismus angeboten worden, aber dort gab es niemanden mehr dafür. Meine Kollegen waren großartig. Ich sagte: „Ich möchte Fotografie als Forschungsmethode unter­richten.“ „Prima! Mach das!“ So habe ich das sechs oder acht Jahre lang getan. R.K.: Ich möchte später zu den Themen Performance und Fotografie zurückkehren. Diese Entwicklung von der geförderten Forschung an der medizinischen Fakultät hin zum Unterrichten und zur Professur … Das war gewissermaßen ein Schritt zur Selbständigkeit. Sie sagten vorhin, all die Forschung sei von Hughes geleitet worden, und Sie mussten Feldarbeit und ähnliches machen […] H.S.B.: Na ja, ich war allmählich immer unabhängiger von Hughes geworden, weil ich immer mehr selbst produziert hatte. R.K.: Was bedeutete es eigentlich damals genau, Professor zu sein, im Vergleich zu heute? Im deutschen Universitätssystem ist es zum Beispiel so, dass Sie als Professor viele Verwaltungsaufgaben haben, so dass es schwierig ist, ins Feld zu gehen, wenn man keine Forschungsförderung hat, die einen für eine Weile freistellt. H.S.B.: Ich weiß nicht, wie es heute an US-amerikanischen Universitäten aussieht, aber ich glaube, da ist es nicht so schlimm. Ich glaube, europäische Universitäten – die französischen und britischen, die ich kenne – sind voll von solchen unnötigen Arbeiten. Das war bei uns anders, und ich fand es recht einfach, administrative Arbeit zu umgehen. An der Fakultät gab es davon nicht viel, und im Universitätsbereich … Man hatte damals nicht diese Systeme der Beurteilung, das Ranking und all das Zeug. Das gab es nicht. Wollte man eine 12 Eine Präsentation ihrer Arbeiten und auch einige gemeinsame Projekte mit Howard S. Becker finden sich unter www.diannehagaman.com, letzter Aufruf 12. Januar 2019.

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Forschungsförderung – gut. Dann genehmigte die Universität das. Sie hatten einen gewissen Nutzen davon, aber es war nicht notwendig. Und all diese Universitätskommissionen … Ich meine, man kann sehr schnell in den Ruf kommen: „Er ist nicht gut in Kommissionen.“ Ich bemühte mich sehr stark um diesen Ruf, und ich hatte Erfolg. Ray Mack kannte mich sehr gut. Er sagte: „Es stimmt, du bist nicht gut in Kommissionen, sie entsprechen nicht deinem Temperament. Darum bitte ich dich auch nicht.“ Ab und zu forderte mich mal jemand auf, einer Kommission beizutreten, und ich sagte einfach: „Nein, ich glaube nicht, dass ich das kann.“ Was ich dabei lernte, war sehr einfach: Sie wollten nicht mich in der Kommission, sie wollten irgendjemand in der Kommission. Wenn du nicht mitmachst, suchen sie einen anderen, bis sie jemanden finden, der dumm genug ist, ja zu sagen. Solche Leute gibt es immer. R.K.: Hieß das, dass Sie Studenten hatten und mit ihnen arbeiteten? Die Studenten machten Forschung, oder konnten Sie selbst ins Feld gehen? H.S.B.: Ich bot einen Kurs zur Arbeit im Feld an. Mehr oder weniger nach dem Modell von Hughes, nicht nach seinem Kurs, sondern seiner Art zu lehren. Es wurde bald sehr bekannt, wie ich das machte. Am ersten Tag des Seminars hatten die neuen Studenten meistens keine Ahnung, was geschehen würde. Ich kam rein und sagte: „OK. Bevor wir heute den Raum verlassen, müssen Sie mir alle sagen, wo Sie in den nächsten zehn Wochen Ihre Feldforschung machen wollen.“ Sie sagten dann: „Oh, wir sind noch nicht so weit.“ Ich sagte: „Natürlich nicht, aber Sie müssen sich entscheiden.“ „Wir können uns aber nicht entscheiden.“ „Sie werden sich jetzt entscheiden. Niemand verlässt den Raum vorher.“ Dann sagte jemand: „Ich möchte das und das …“ Dann diskutierten wir. Dann sagte jemand: „Ich kenne diese Organisation, die interessiert mich …“ Ich fragte sie nicht nach irgendwelchen Theorien, sondern fragte nur: „Wie oft tagen diese Leute?“ „Einmal im Monat.“ Ich fragte: „Und wo machen Sie die Feldforschung, wenn sie nur einmal im Monat tagen?“ „Wohin sollen wir denn gehen?“ Und ich sagte: „Ich weiß nicht, gehen Sie in eine Autowerkstatt.“ Jemand sagte: „Was ist mit der Feuerwehr?“ „Gute Idee. Gehen Sie hin. Die sind immer da.“ … Am Ende, nach zwei sehr quälenden Stunden, hatten sie alle zugestimmt, etwas zu tun. Dann sagte ich: „OK, nachdem Sie sich nun alle entschlossen haben, gehen Sie da hin und bleiben Sie drei bis vier Stunden dort.“ Sie fragten: „Was sollen wir dort machen?“ „Setzen Sie sich einfach hin und schauen zu, hören zu, und stellen Fragen, wenn Sie wollen.“ R.K.: Ein ziemlich direkter Weg hinein ins Beobachten, Befragen und sich Umsehen. 305

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H.S.B.: Ja. Einfach hingehen und machen. Es war sehr lustig. … Sie wussten, dass sie interviewen sollten, hatten aber keine Ahnung, was das bedeutete. … Dann mussten sie alles aufschreiben, was geschah, und mir das Geschriebene geben, und ich kommentierte. Dort lag die Arbeit für mich, weil ich die Vorlesungen nicht vorbereitete. Dann sagte Einer: „Ich habe endlich genug Mut gehabt, um jemanden zu fragen, ob ich ihn interviewen darf. Und er hat ja gesagt. Und dann wusste ich nicht, was ich fragen sollte.“ [Lachen] Dann fragte ich: „Hat sonst noch jemand diese Erfahrung gemacht?“ Dann haben wir darüber gesprochen – was sollte man fragen? Wie macht man das? Ich machte einige Vorschläge, aber im Wesentlichen zwang ich sie, sich das selbst beizubringen. R.K.: Und auch gegenseitig. H.S.B.: Ja, bald sprachen sie miteinander. Ich dachte immer, wenn wir soweit sind, dann war der Kurs erfolgreich. R.K.: Sie erwähnten die Hinwendung zum Performativen. In Telling about Society schreiben Sie auch darüber (s. oben Kapitel 7). Dort erklären Sie ein wenig, was Sie damals machten. In Bezug auf Performances kann man vielleicht zwei Aspekte unterscheiden. Das eine ist die Präsentation soziologischer Arbeiten wie zum Beispiel beim Vorlesen eines Textes. Im Buch schildern Sie anhand eines Beispiels, wie jemand etwas sehr emotional, mit viel Gefühl vorgelesen hat. H.S.B.: Oh, das hätten Sie hören sollen, es war so lustig! Sie wissen ja, wie sich ein soziologischer Artikel liest. 28 % davon und xx % davon … Dieser junge Mann – er war ein Student der Theaterwissenschaften. Die Hälfte der Studenten kamen von Drama und Theater, die anderen aus der Soziologie. Mit dramatischer Stimme: achtundzwanzig Prozent. [Lachen]. Er lag nicht daneben, denn in einem solchen Artikel gibt es natürlich implizit ein moralisches Urteil. Ein ernsthaftes moralisches Urteil, die Leute sind wütend. Aber natürlich ist das in der neutralen Sprache versteckt. R.K.: Ja, ja. Also diese Lesung als Art der Aufführung soziologischer Erkenntnisse oder Forschungsergebnisse … Gab es da noch andere Möglichkeiten? Theaterstücke oder Gedichte? H.S.B.: Da gab es ein wunderschönes Stück. Eine Studentin in diesem Kurs – sie war PhD-Studentin der Soziologie, lernte aber auch Kampfsportarten. Als

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sie an der Reihe war, etwas darzustellen, führte sie etwas Dramatisches auf. Sie zeigte eine Reihe von Filmen, in denen sie von verschiedenen Trainern in Kampfkunst unterrichtet wurde. … Kennen Sie das im Kampfsport, wenn man ein Brett mir der Hand zerbricht? Sie sagten ihr: „Also eine Frau kann das nicht. Sie könnten das nie tun.“ Einer nach dem anderen, vier oder fünf dieser Kurzfilme: „Sie können das nie.“ Dann gingen alle Lichter aus. Es war vollkommen finster, und dann erschien ein Licht über der Tür. Bumm! Sie tritt in voller Uniform in den Raum, und ihr Helfer steht auf und hält das Brett. Es war so dramatisch, es war so unglaublich. Und man dachte: „Kann sie das? Wird sie das jetzt machen?“ Bumm! Es war eine der spannendsten Szenen, die ich je gesehen habe. R.K.: Und sind diese Aufführungen auch vor anderen Zuschauern gezeigt worden? H.S.B.: Nein, nur in diesem Seminar. Mehrere wollten mitwirken, das war ein späterer Teil des Kurses, da wollten sie Gruppenvorführungen zeigen, die auch faszinierend waren. Es war sehr unterhaltsam, weil weder Conquergood noch ich wussten, was sie vorhatten. Niemand hatte jemals sowas gemacht, und niemand wusste, was geschehen würde. Sie waren so erfinderisch. Sie stellten sich unvorstellbare Dinge vor. Das führte zu etwas … sie stellten nicht nur Sozialwissenschaft dar. Sie führten auch literarische Werke vor und so weiter. R.K.: Zum zweiten gab im Zusammenhang mit Performances die Diskussion oder die Idee, Aufführungen zur Datensammlung zu benutzen. In Schulen, zum Beispiel, bat man Schüler, ihr Alltagsleben zu spielen […] H.S.B.: Das haben wir nicht gemacht, aber ich fand die Standard-Präsentationen in der Soziologie so langweilig, sie sind meistens nicht sehr interessant. Ich dachte, es sei wunderbar, wenn man … Und dann endlich. Ich hatte die Northwestern verlassen und war an der University of Washington in Seattle. Ich entwickelte ein Seminar namens „Telling about Society“, und wir machten jede Woche etwas Anderes. Ich bot diesen Kurs zweimal an, einmal in Seattle und einmal in Santa Barbara, und die Auseinandersetzungen, in die die Leute dabei gerieten, waren sehr, sehr interessant. „Sie können Jane Austen13 nicht

13 Jane Austen (1775–1817) war eine britische Schriftstellerin. Zu ihren berühmtesten und auch mehrfach verfilmten Werken gehören u. a. „Sinn und Sinnlichkeit“ aus dem Jahre 1811 sowie „Stolz und Vorurteil“ aus dem Jahre 1813. 307

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Soziologin nennen.“ Ich nenne sie aber so. Warum denn nicht? Oder George Bernard Shaw.14 R.K.: Die sind auch im Buch. H.S.B.: Ja. Eine Menge im Buch stammt aus diesem Kurs.

4 Fotografie R.K.: Und Sie schreiben über Fotografie, über Walker Evans15 zum Beispiel und andere Fotografen. Wir brauchen nicht über die Unterschiede zwischen eher Autoren gesteuerten oder Publikum gesteuerten Werken zu sprechen. Ich habe zum Beispiel über den Unterschied zwischen dem soziologischen Arbeiten und der Fotografie nachgedacht. KünstlerInnen bzw. FotografInnen können sich nur auf ihren eigenen, individuellen Blick auf das Geschehen beziehen – auf soziale Ungleichheit oder das Straßenleben […] H.S.B.: Also eigentlich sind viele Fotografen an denselben Dingen interessiert wie Soziologen. R.K.: Sie betreiben also auch eine Art von Forschung? H.S.B.: Absolut. Sie kennen doch bestimmt Robert Franks The Americans (1958).16 Das halte ich für ein soziologisches Werk. Gewiss würde Frank das bestreiten. Aber nur, weil er ein verrückter alter Mann ist. Walker Evans – sein Ansatz zu seinem Projekt war sehr soziologisch. Es ist einfach eine andere Methode. Wissen Sie, eines meiner Lieblingsprojekte dieser Art ist das Buch von John

14 George Bernard Shaw (1856–1950) war ein irischer Schriftsteller und Gewinner des Literaturnobelpreises im Jahre 1925. 15 Walker Evans (1903–1975) war US-amerikanischer Fotograf. Er wurde für seinen neorealistischen Stil und seine dokumentarischen Arbeiten über drei Farmerfamilien in den 1930er Jahren während der Zeit der Großen Depression berühmt (Agee, Evans 1941). 16 Robert Frank (*1924) ist ein schweizerisch-amerikanischer Fotograf, der von Walker Evans beeinflusst war und mit seinen Fotos von Menschen aus unterschiedlichen Klassen der US-amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre bekannt wurde.

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Berger17 und Jean Mohr18 namens A Seventh Man (Berger, Mohr 1975). Kennen Sie das Buch? R.K.: Nein, das kenne ich nicht. H.S.B.: Oh, es wäre eine wundervolle Erfahrung für Sie. Es geht um Gastarbeiter, die aus Südeuropa oder dem Mittleren Osten kommen, und deren Erfahrungen in Nordeuropa. Berger ist Schriftsteller und Jean Mohr ist ein Schweizer Fotograf. Das Buch ist eine ziemlich unglaubliche Kombination von Storys, Gedichten und anderen Fiktionen. Eine der Geschichten heißt „Er“. „Er verlässt das Dorf“, und es wird nicht gesagt, wo es ist. Er kommt in eine Großstadt. Es könnte in Deutschland sein oder in Schweden, und er macht seine Erfahrungen. Dann gibt es Fotos, wundervolle Fotos von all dem. R.K.: In Deutschland ist visuelle Soziologie heute „trendy“ und „hip“. Sie hat eine gewisse Wirkung, aber sehr häufig bezieht sich die Diskussion auf eine passende Art der Interpretation. Wie man Bedeutung aus einer Fotografie erhält. Sehr kompliziert, sehr anspruchsvoll. H.S.B.: Ich weiß, wie meine Leute sind. [Lachen] R.K.: Auf welche Weise sprechen Sie über die Fotos? Zuerst Beschreibung, und dann eine Art von Interpretation? H.S.B.: Also ich meine, es ist schon drin. Es ist so, dass die Interpretation meistens implizit bereits enthalten ist. Die Leute geben dir nur nicht die einzelnen Schritte. Sie sagen nur: Schau dies an! Walker Evans, Dorothea Lange19 zeigen Ihnen die Dust Bowl20 und die großen Wanderungsbewegungen (Lange 1939) und so weiter, also was hat sie uns zu sagen? „Sie müssen gut hinschauen, 17 John Berger (1926–2017) war ein britischer Schriftsteller, bekannt für sein fiktionales Werk und seine Schriften über Bilder sowie den Unterschied zwischen ‚Sehen‘ und ‚Anschauen‘ 18 Jean Mohr (*1925) ist Schweizer Dokumentarfotograf. Er arbeitete zu humanitären Interventionen bspw. über Flüchtlingscamps. 19 Dorothea Lange (1895–1965), US-amerikanische Pionierin der Dokumentarfotografie, wurde durch ihre Arbeit über die Great American Depression berühmt, in der sie u.a. Fotos von Arbeitslosen und Wohnungslosen veröffentlichte. 20 Dust Bowl ist ein gängiger Begriff für die Great Plains-Regionen (zum Beispiel in Oklahoma) in den USA, die in den 1930er Jahren schwer unter Staubstürmen und der 309

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denn es ist so subtil“, aber wenn Sie sich Robert Franks Buch anschauen, das ist nicht subtil. Es ist ziemlich deutlich, wie er die Amerikaner interpretierte. R.K.: Sie würden doch nicht behaupten, es gäbe nur eine einzig wahre Interpretation des Fotos? Ich habe den Eindruck, dass manche Kolleginnen und Kollegen versuchen, die einzige beste Art und Weise anzugeben, wie man Zugang zu einem Foto erhält. Ich weiß nicht genau, was die entsprechende Forschungsfrage ist, aber […] H.S.B.: Das gibt es genauso wenig, wie es einen einzigen besten Weg gibt, irgendetwas zu tun. Wenn es nur einen besten Weg gäbe, David Hume zu verstehen, würde man nicht heute noch darüber argumentieren. Es gibt nie einen besten Weg, es gibt nur einige gute Wege. Man probiert sie aus und sieht, was nützlich ist. R.K.: Ja, da stimme ich völlig zu. H.S.B.: Wenn Sie „Telling about Society“ empfehlen, müssen Sie das auch. R.K.: Es gibt mehrere Gründe, warum ich dieses Buch für die Soziologie empfehle. H.S.B.: Es gibt eine International Visual Sociology Association,21 wissen Sie das? R.K.: Ja. H.S.B.: Ein alter Freund von mir, der in späteren Jahren bei Hughes studiert hat, Douglas Harper,22 war ein großer Antreiber in dieser Gruppe. Aber es gibt in der ganzen Welt Leute, die dazu gehören. Und das sind meistens Professoren. Die sind vorwiegend daran interessiert, ein Gebiet aufzubauen und eine Theorie aufzustellen. Sie akzeptieren nicht den tentativen, annäherungsweisen Charakter des Wissens. Sie meinen, alles könne genau bestimmt werden. Aber so ist die Wissenschaft, die wirkliche Wissenschaft eben nicht. Das ist das neue Buch […]

Wirtschaftsdepression litten; damals wanderten die Menschen von dort in andere US-Regionen aus. 21 Gegründet im Jahre 1981, siehe http://visualsociology.org, letzter Aufruf am 12. Januar 2019. 22 Douglas Harper (*1948) ist US-amerikanischer Soziologe und Fotograf. Er ist Professor emeritus an der Duquesne University in Pittsburgh mit den Arbeitsschwerpunkten Visuelle Soziologie, Fotografie, Foto-Elizitation, Gedächtnis- und Erinnerungsstudien.

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R.K.: Das, an dem Sie zur Zeit arbeiten? H.S.B.: Ja, ich habe einen Entwurf und arbeite jetzt daran, ihn zu korrigieren. R.K.: Und es betrifft die Offenheit von […]?

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Daten, Evidenz, Ideen

H.S.B.: Es heißt „Should we believe what people tell us, or should we go and look for ourselves?“ Es geht um Daten, Beweismaterial, Ideen. Wir sammeln Beobachtungen auf irgendeine Weise – mit einem Fragebogen, aus einem Buch, im Zensus oder indem wir selbst hingehen und schauen. Und dann verwenden wir diese Ideen als Belege. Wir nutzen diese Daten als Beweismaterial, um darzustellen, dass diese Idee besser ist. Die Schritte, die Daten zu Beweisen machen, sind wirklich der schwierige Teil. Es gibt nämlich so viele Dinge, die schiefgehen können, und Soziologen sind nicht gut darin, … Sie denken lieber nicht darüber nach. Aber wenn wir uns ansehen, was Naturwissenschaftler tun, dann zielt deren größtes Bemühen darauf ab, Fehler zu vermeiden. So sind sie. Sie machen keine Fehler. Sie akzeptieren nichts als etwas, was es nicht wirklich ist. Ein Kapitel in meinem Buch erzählt zwei Geschichten über Wissenschaftler. … Kennen Sie diese Reihe, die hier in Frankreich veröffentlicht wird, „Raconter la vie“ (Das Leben erzählen)?23 Es ist eine ziemlich interessante Website und Buchserie. … Pierre Rosanvallon,24 ein Historiker, leitet das. Sie geben Bücher von 70, 80 Seiten heraus, jeweils die Lebensgeschichte einer Person, ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Verschiedene Arten von Leuten, verschiedene Arten von Arbeiten. Außerdem publizieren sie kürzere Bücher. Die längeren Bücher werden gedruckt und für fünf Euro verkauft, glaube ich. Die kürzeren sind online verfügbar. Sie haben ein Forum, in dem Leute sie diskutieren, es ist eine sehr interessante Sache. Ich habe in New York eine Rezension darüber auf einer Website namens „Public Books“ (Becker 2014a) geschrieben.

23 Eine 2013 gegründete Buchkollektion und partizipative Internetplattform, die inzwischen durch „Raconter le travail“ ersetzt wurde (http://raconterletravail.fr/projet/; letzter Aufruf am 26. Februar 2019). 24 Pierre Rosanvallon (*1948), Französischer Historiker, Professor am Collège de France (Paris). Arbeitsschwerpunkte: Demokratiegeschichte und (französische) Staats­geschichte, Probleme sozialer Gerechtigkeit in der Gegenwartsgesellschaft. 311

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R.K.: Ich werde mir das anschauen; klingt sehr interessant. H.S.B.: Ich glaube, es ist auf meiner Website angegeben. Warum erzähle ich Ihnen das alles? [Lachen] R.K.: Sie sprachen über Evidenz, Beweismaterial, und die beiden Geschichten über Wissenschaftler in Ihrem neuen Buch. H.S.B.: Ok, ja, ich habe eines von diesen Büchern genutzt, von einem Physiker namens Sébastien Balibar (2014). Er befasst sich mit Tieftemperaturphysik. Er versucht, so nahe wie möglich an den absoluten Nullpunkt heranzukommen. Und er hat nun alle möglichen Probleme, weil er diesen speziellen Kühlschrank hat, der durch irgendetwas gestört wird. Sie sind zwei Stockwerke unter der Erde im Keller, um gegen verschiedene Wellen und Dinge geschützt zu sein, aber etwas stört immer noch. Ihr ganzes Ziel ist, dieses Etwas zu ergründen, das sich dann als Röntgenstrahlen herausstellt, die von irgendwo durch irgendwelche Fenster kommen. Er muss sie loswerden. Das ist die Hauptaufgabe. Dann ist da ein wundervolles Stück von Bruno Latour aus dem Jahr 1995 namens Der Pedologenfaden von Boa Vista. Kennen Sie das? R.K.: Ich kenne das Kapitel, das er unter dem Titel „Zirkulierende Referenz“ in seinem Buch Die Hoffnung der Pandora veröffentlichte (Latour 2002: 36ff.). Es handelt davon, ob ein Wald in die Savanne hineinwächst oder sich zurückzieht. H.S.B.: Das ist ein überarbeiteter Artikel über genau dieselbe Sache. Dort zeigt er nämlich im Einzelnen, was diese Leute tun, um Fehler zu vermeiden. Und unsere Leute sind nicht daran interessiert so vorzugehen. Nur wenn sie erwischt werden, sonst nicht. Es hat gerade so einen Skandal gegeben, vielleicht wissen Sie davon. Kennen Sie die Sache mit der sozialen Isolation in Amerika? Robert Putnam25 schrieb ein Buch mit dem Titel Bowling Alone, mit der These, es gebe in den USA kein Gemeinschaftsleben mehr (Putnam 2000). „The General Social Survey“26 – wissen Sie, was das ist? 25 Robert Putnam (*1941), US-amerikanischer Politikwissenschaftler, Professor für public policy an der Harvard University. Arbeitsschwerpunkte: Demokratie, Ungleichheit, Religion und Öffentlichkeit (public culture). 26 Ein seit 1972 bestehender soziologischer Survey in den USA, der vom National Opinion Research Center der University of Chicago durchgeführt wird; vgl. http://www.norc. org/Research/Projects/Pages/general-social-survey.aspx, letzter Aufruf am 12. Januar 2019.

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R.K.: Ich habe so eine ungefähre Vorstellung. Eine Art großer Datenmaschine. H.S.B.: Ja, und jedes zweite Jahr nehmen sie eine ziemlich große Stichprobe, mehrere tausend Menschen, Amerikaner, und stellen ihnen eine bestimmte Zahl von Fragen, die immer dieselben sind. So erhalten sie Zeitreihen. Dann nehmen sie auch Fragen auf … Man schreibt denen und sagt: „Würden Sie die folgenden Fragen stellen?“, und sie wählen dann welche aus. Eine der Fragen an die Leute war: „Wenn Sie ein Problem zu besprechen haben, an wen würden Sie sich wenden?“ Und die eigentlich gesuchte Variable ist, wie viele Leute ein Befragter als Zeichen der sozialen Verbundenheit nennt. Das wurde über mehrere Jahre hinweg gefragt, und es waren meistens etwa 3 oder 3,2 oder so etwas. Plötzlich fiel das aber auf 1 oder 1,5 Leute, und da kommt der Aha!-Moment. Etwas ist geschehen! Niemand konnte das wirklich glauben … Man versuchte die üblichen Standardanalysen, fand aber nichts Besonderes bei den Leuten, die weniger Kontakte hatten … Sie konnten es nicht verstehen. Dann sagte jemand: „Versuchen wir mal, die Daten pro Befrager auszuwerten.“ Haben manche Befrager weniger bekommen? Ja! Es gab sechs oder sieben im Land, die bedeutend weniger erhalten hatten, und es wurde klar, was geschehen war. Die Interviewer hatten die Befragten entmutigt. Denn für jeden Namen musste ein weiterer kleiner Fragebogen ausgefüllt werden. Also konnte man sich vorstellen, dass gesagt wurde: „OK. Sie haben einen genannt, diesen hier. Vielen Dank, jetzt zur nächsten Frage.“ Und diese sechs oder sieben Befrager waren für den gesamten Effekt verantwortlich. Das sollte eigentlich niemanden überraschen. Julius Roth,27 ein sehr bekannter Feldforscher meiner Generation, hatte schon vor vielen Jahren einen Artikel geschrieben, der Hired Hand Research hieß (Roth 1966). Er schrieb: „Leute machen das für Geld. Man sollte vorsichtig in Bezug auf das sein, wofür man sie bezahlt, denn das bekommt man dann auch.“ Wenn man sie für die Zahl der Fragebögen bezahlt, dann wollen sie eben jeweils so schnell wie möglich fertig werden. Manche jedenfalls. R.K.: In Telling About Society hatte ich immer das Gefühl, dass Sie – obwohl Sie in Ihrem eigenen Erzählen über all die verschiedenen Darstellungsweisen, die Sie betrachten, eine allzu wissenschaftlich-soziologische Art der Darstellung vermeiden – aber doch überall im Buch so viele Hinweise auf genau solche Sachen geben, wie Sie sie eben erwähnt haben: auf präzise und überzeugende 27 Julius A. Roth (1924–2002) war US-amerikanischer Soziologe. Er hatte an der University of Chicago bei Everett Hughes promoviert. Sein Arbeitsschwerpunkt war Medizinsoziologie. 313

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Wege, über Gesellschaftliches nachzudenken und Daten, Argumente und Beweismittel zu präsentieren, einschließlich einiger Einflüsse von den Science Studies. Sie haben sich gerade auf Latour bezogen […] H.S.B.: Ja. Es gibt so viele wunderbare Sachen in der ernsthaften Methodologie-Literatur. Da ist zum Beispiel dieser große Statistiker, John Tukey.28 Ich habe Beispiele seiner lustigen Diagramme in Telling About Society. Sie sind so lehrreich. Und ich habe Soziologen gefragt: „Warum benutzt ihr die nicht?“ Und wissen Sie, wie die Antwort lautet? „Niemand benutzt sie.“ [Lachen] R.K.: So war das noch nie … Wir haben das nie gemacht […] H.S.B.: [Lachen] „So ist es nie gewesen“ … „Wollen Sie Ärger machen?“ R.K.: Das Buch ist also ein Eingriff in die Soziologie, in den Weg, die Soziologie zu praktizieren? H.S.B.: Dieses? R.K.: Ja, Telling About Society. H.S.B.: Absolut. R.K.: Vielleicht das neue auch? H.S.B.: Das ganz bestimmt. Die Idee ist: Warum benutzt ihr nicht Tukeys Erfindungen? Sie sind fabelhaft. Eines der schlimmsten Dinge in einer Soziologie-Fachzeitschrift ist: Man schlägt eine Seite um und sieht eine riesige Tabelle mit Hunderten von Zahlen. Vor Jahren sagte mir ein Statistiker: „Schauen Sie, es kommt einzig darauf an, zwei Zahlen zu vergleichen und zu sehen, welche größer ist oder ob sie beide gleich sind.“ Alles, was einem dabei hilft, ist gut, alles, was einen dabei stört, ist schlecht. Und Tukey hat dazu Mittel entwickelt. Ich meine, er war eine Größe auf dem Gebiet. Unsere Leute wollen das nicht hören. R.K.: Also könnte Telling About Society vielleicht sogar eine Art von Untertitel haben: „Telling About Sociology“ [Lachen] Das steht nicht auf der Titelseite, aber … 28 John Tukey (1915–2000) war US-amerikanischer Mathematiker und Professor für Statistik an der Princeton University mit dem Arbeitsschwerpunkt Statistische Methoden.

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H.S.B.: Ja, das wollte ich nicht, ich wollte ja nicht schimpfen. Ich sage nur: „Schau!“ Man geht in einen Laden und sieht sich nur das eine Regal an, aber da ist so viel mehr. So viele Dinge, die man tun könnte.

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Gemeinsam Dinge machen und rückgängig machen

R.K.: Wenn Sie erlauben – ich habe zwei weitere Fragen, dann können Sie entscheiden, ob wir aufhören sollen. Eine betrifft diese sehr zentrale Vorstellung von Doing things together (Becker 1986a), das ist ja so eine Art „soziale Welten“-Idee (Becker 2006)29, die auch in Kunstwelten sehr präsent ist. Ich vermute, wenn ich dabei an verschiedene Bücher, von Außenseiter bis Kunstwelten denke, dass es in Letzterem scheint, als würde das „gemeinsam Dinge machen“ so eine Art gemeinsame Herstellung bedeuten. H.S.B.: Naja, zur Kunstwelt gehören auch die Menschen, die Darstellungen konsumieren. R.K.: OK, also auch das Konsumieren. H.S.B.: Und sie machen das Werk, wenn sie es betrachten, anhören und so weiter. R.K.: Im Vergleich zu den Außenseitern – und damit komme ich auf meine Überlegungen zurück –, und vielleicht auch im Hinblick auf andere Situationen, habe ich mich gefragt, ob man da nicht einen wichtigen Unterschied erkennen kann: „Gemeinsam Dinge machen“ bedeutet in Außenseiter ja etwas völlig anderes. Zwischen der Polizei, die versucht, die Leute ins Gefängnis zu bringen, und den Marihuana-Konsumenten, die versuchen davonzukommen, gibt es also eine ganz andere Art von „gemeinsamem Machen“. Wissen Sie, was ich meine? H.S.B.: Ja, das stimmt. Die Idee entstand, nachdem ich Außenseiter geschrieben hatte, denn Devianz ist eine Art von Ko-Produktion zwischen all diesen Menschen. Nicht nur Polizei und Marihuana-Konsumenten, auch die Gesetzgeber

29 „Soziale Welten“ ist ein klassisches Konzept der Chicagoer Soziologietradition, das von Howard S. Becker und anderen benutzt wird (vgl. zum Beispiel Strauss 1991: 233ff. über „A social world perspective“). 315

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und die Verwaltungsleute, die das Gesetz ausführen. Sie wissen schon, alle, Wissenschaftler. R.K.: Gibt es Umstände, unter denen man sagen kann: „Gemeinsames Rückgängig-Machen“? H.S.B.: Das ist dasselbe. R.K.: […] Gemeinsam Dinge zerstören? H.S.B.: Das heißt ja, etwas anderes zu machen. Deswegen ist es dasselbe. Ich meine, es ist eine Art von … Die Idee ist einfach. Sie könnte nicht einfacher sein. Ich versuche, es Leuten so zu erklären: „Angenommen, Sie machen einen Film, und Sie können den Abspann am Ende des Films sehen, mit den Danksagungen. Sie sehen all die vielen Leute, die erwähnt werden.“ Mein Vorschlag ist ganz einfach: Die sind alle notwendig. Man kann doch einen Film nicht ohne die Caterer machen, die mittags Essen servieren. Man könnte es, aber es wäre dann nicht dieser Film. Was würde passieren, wenn es keine Caterer gäbe? Die Leute gehen weg. Sie müssen Mittagessen und gehen also irgendwo hin. Sie trinken auch etwas und kommen zu spät wieder. Es ist unglaublich teuer, einen Film zu drehen, mit all den gemieteten Einrichtungen, der Beleuchtung, den Kameras und so weiter. Alles kostet Geld, und Sie zahlen nach Stunden. Wenn die Leute zu spät vom Mittagessen wiederkommen, verlieren Sie Geld, und es steht weniger Geld zur Verfügung, um etwas anderes in dem Film zu machen. Ich bin überzeugt, dass man so denkt. Deshalb müssen die Leute beim Essen vor Ort bleiben. R.K.: Gestern sprach ich mit einem Künstler über das Kunstwelten-Buch, und die erste Frage war „Und was ist mit Mozart?“ (Becker 2014a) Was ist mit der Idee von Genie oder Kreativität? Wenn ich Sie richtig verstehe, ist überall Kreativität, aber so wie sie erkannt und anerkannt wird – das ist der gesellschaftliche Prozess. H.S.B.: Genau. Das ist genau richtig. Ich sage den Leuten: „Jeder ist kreativ“, denn man trifft ständig auf Dinge, die man nicht erwartet hatte. Nichts ist jemals genau so, wie man denkt, und man muss immer etwas erfinden. Und das tun die Leute auch. Sie erfinden ständig etwas Neues. „Oh, wir müssen Essen kochen! Oh, wir haben aber dies und jenes nicht! OK, dann nehmen wir stattdessen dies und das oder machen es so und so.“ Jeder ist kreativ. Der Unterschied bei diesen so genannten kreativen Menschen ist meistens, dass sie Ideen – wie zum

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Beispiel: etwas anders zu machen –, ihre Aufmerksamkeit widmen. Wenn anderen Leuten etwas in den Kopf kommt, dann sagen sie: „Das ist dumm, vergiss es!“ und niemand achtet darauf. Aber der kreative Mensch, derjenige, der als kreativ anerkannt wird, ist derjenige, der darauf hört und etwas daraus macht. R.K.: Weil sich die ganze Arena, die ganze Welt auf dieses Element konzentriert? H.S.B.: Nein, nicht genau. Niemand will, dass der zweite Geiger kreativ wird. Vergiss die Kreativität, tue was der Dirigent sagt! Du machst, was die erste Geige macht. Sagt er Abstrich, dann wird Abstrich gespielt. R.K.: Der Bandleader und seine Gruppe. H.S.B.: Jaja. Natürlich gibt es viel Unstimmigkeit darüber, wer kreativ sein darf und wer tun muss, was andere sagen. Darum ist ein Film so interessant … Noch niemand hat jemals die Frage beantwortet: Wer trifft wirklich die Entscheidungen? Ich liebe dieses wunderbare Beispiel: Im „Zauberer von Oz“30 gab es vier verschiedene Regisseure, bevor der Film fertig war. Das widerlegt die Auteur-Theorie. Es gab keinen Auteur. Das Eindrucksvollste im ganzen Film ist, wenn Dorothy in Oz ankommt, und bis dahin war der Film in Schwarz-Weiß … R.K.: und wird plötzlich farbig! H.S.B.: Wissen Sie, wem das eingefallen ist? Dem Komponisten und dem Liedtexter – Harold Arlen31 und Edgar „Yip“ Harburg.32 Das war ihre Idee. R.K.: Viel gemeinsames Schaffen, und eine andere Art von verteilter Kreativität. H.S.B.: Das meine ich: Darum geht es in der Soziologie. Wer darf was wann machen? Man muss sich ja aufeinander verlassen können, ist aufeinander angewiesen. Es gibt nichts, was so isoliert ist, dass man es ganz alleine macht.

30 US-Amerikanisches Musical und Fantasie-Film, der von Metro Goldwyn Meyer produziert und im August 1939 in die Kinos kam. 31 Harold Arlen (1905–1986) war US-amerikanischer Komponist, unter anderem von „Over the Rainbow“ aus „Der Zauberer von Oz“. 32 Edgar „Yip“ Harburg (1896–1981), US-Amerikanischer Songtexter, schrieb unter anderem den Text zu „Over the Rainbow“ aus „Der Zauberer von Oz“. 317

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Keine Chicago-Schule!

R.K.: Ich habe mich gefragt in Bezug auf das Außenseiter-Buch und die Labeling-Theorie, auf andere Weise auch im Hinblick auf Kunstwelten, aber es ist vielleicht doch dasselbe – also diese Denkweise […] H.S.B.: Ja, es ist eine Labeling-Theorie der Kunst. R.K.: […] wenn man das der Gesellschaft mitteilt, verändert das irgendwie die jeweilige gesellschaftliche Praxis? Es war offensichtlich die Labeling-Theorie, die einen gewissen Wandel in der Polizeiarbeit herbeiführte … und es hat Debatten gegeben. Vielleicht hat sich auch gar nicht so viel verändert? H.S.B.: Aber ich habe das Buch nicht geschrieben, um etwas zu verändern. R.K.: Nein, nein, das wollte ich auch nicht sagen, aber es hatte Auswirkungen, und die Leserschaft traf Entscheidungen, die etwas veränderten. H.S.B.: Ja, absolut. R.K.: Ich denke, dass soziologisches Schreiben immer eine Art von Eingriff in die Gesellschaft darstellt, natürlich mit mehr oder weniger Wirkung. H.S.B.: Ja, unbeabsichtigt, denn … wenn man erklärt, wie etwas funktioniert, sagt man den Leuten ja automatisch, wie es verändert werden könnte. Das heißt aber nicht, dass man es verändern könnte. Es heißt nicht einmal, dass irgendjemand es verändern kann. R.K.: Nein, nein. Das ist etwas völlig anderes. H.S.B.: Ich glaube, das ist schon immer ein Teil der Soziologie gewesen, von Anfang an. Ich müsste über Max Weber33 nachdenken, … oder Émile Durkheim34 33 Max Weber (1864–1920), einer der klassischen Begründer der Soziologie in Deutschland, argumentierte für eine auf soziales Handeln, soziale Beziehungen und die Rolle von Deutungsprozessen hin orientierte Soziologie. Sein Begriff des sozialen Handelns wurde unter anderem als interaction ins Englische übertragen. 34 Émile Durkheim (1858–1917) war einer der klassischen Begründer der Soziologie in Frankreich und plädierte für eine strukturorientierte Analyse „sozialer Tatsachen“ und sozialer Integration.

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vielleicht. Ich weiß nicht. Aber ich glaube, mein theoretischer Vorfahre war Georg Simmel.35 Ich glaube aber nicht, dass er daran interessiert war, etwas zu verändern. Er dachte nur: „Ich sehe mal, wie diese Maschine läuft!“ Sehen Sie, meine Traditionslinie verläuft von, mein Ursprung liegt bei Simmel. Robert E. Park war ein Schüler Simmels. Hughes war ein Schüler von Robert E. Park. Goffman36 ist anders, weil […] R.K.: […] Er war mehr von Durkheim beeinflusst, auch etwas von Simmel und dessen eher auf „formaler Soziologie“ beruhenden Teilen. H.S.B.: Aber Erving war ursprünglich Durkheim, Alfred Radcliffe Brown37, William Lloyd Warner38, Goffman. Das war die direkte Linie. R.K.: All diese verschiedenen Leute waren nie eine Art von Gruppe mit der Idee, gemeinsam die Soziologie zu verändern. H.S.B.: Nein! Es ist so lustig – einmal starteten Daniel Cefaï39 und ich dieses Projekt – kennen Sie ihn? 35 Georg Simmel (1858–1918) war ebenfalls einer der klassischen Begründer der Soziologie in Deutschland. Er vertrat eine „formale“ Soziologie, die sich für die sozialen Formen von Beziehungen interessierte, für die Wechselwirkungen zwischen Menschen und für die Rolle von Bedeutungen. Sein Konzept der „Wechselwirkung“ wurde ebenfalls als interaction übersetzt. Robert E. Park war eine Zeit lang sein Student; mehrere von Simmels Artikeln wurden sehr früh ins Englische übersetzt und avancierten zu Gründungstexten der Chicagoer Stadtsoziologie der 1920er Jahre. 36 Erving Goffman (1922–1982), kanadischer Soziologe, machte seinen Abschluss an der University of Chicago und war später Professor an der University of California in Berkeley. Seine zahlreichen Schriften über die Interaktionsordnung wurden weltberühmt. Goffman war im Jahre 1981 Präsident der American Sociological Association. 37 Alfred R. Redcliffe-Brown (1881–1955) war englischer Sozial- und Kulturanthropologe und stark von Emile Durkheim beeinflusst. Er arbeitete zur Funktion sozialer Strukturen in nicht-westlichen Gesellschaften (in Afrika, Australien), zum Beispiel über Verwandtschaft, Heirat und Familie. Nachdem er an verschiedenen Universitäten in der ganzen Welt gelehrt hatte (unter anderem auch an der University of Chicago), wurde er Professor an der Oxford University in Großbritannien. 38 W. Lloyd Warner (1898–1970), US-amerikanischer Anthropologe und Soziologie unter Einfluss von Radcliffe-Brown und anderen Klassikern der Anthropologie, wurde 1935 Professor an der University of Chicago und begann dort seine Community-Studies und Forschungen über Demokratie, Eliten, Klassen und andere Themen. 39 Daniel Cefaï (*1961) ist französischer Soziologe am Centre d‘Études des Mouvements Sociaux der Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und arbeitet seit 319

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R.K.: Ja. H.S.B.: Dann wissen Sie ja wie er ist: ein rastloser Arbeiter. R.K.: Ich kann es mir vorstellen. Ich habe einige seiner Bücher auf meinem Tisch. H.S.B.: Er ging nach Chicago und vergrub sich in der Bibliothek, in den Archiven. Er sammelte so viele Informationen, es ist wirklich erstaunlich. Er machte eine riesige Tabelle: 200 Leute, alles Studenten höherer Semester, und Hunderte von Fakten über jeden einzelnen. Dann legte er los. Ich meine, es wurde ein Projekt für uns beide: Er stellte mir Fragen, und ich musste lange Antworten schreiben, dann fragte er mich wieder: „Diese Person … gehörte sie zu der Gruppe? Und diese Person – war sie ein Mitglied der Gruppe?“ Und ich sagte; „Wovon reden Sie? Es gab keine Gruppe.“ [Lachen] Er sagte: „Natürlich gab es eine Gruppe: Sie, Joseph Gusfield40, Goffman …“ Nein, es war keine Gruppe. Es gab all die anderen Leute, 200 Leute und da sind die gar nicht mit eingerechnet, die den Abschluss nicht gemacht haben. Ich meine, Herbert Gans41 war mit einigen von uns sehr verbunden. Herb und ich sind die letzten, die noch übrig sind. Er hatte nie ein Diplom in Soziologie in Chicago, noch nicht einmal einen Master in Soziologie, sondern in Sozialwissenschaft, und dann ging er nach Pennsylvania und machte einen Abschluss in Planungswissenschaften. War er also ein Mitglied der Gruppe? Ich meine, dieses ganze Getue ist ziemlich blödsinnig. Es war so, als wenn Leute fragen, ob man ein symbolischer Interaktionist ist. Das ist nicht die Wirklichkeit. Aber was geschah, und das ist wirklich schade, es wurde eine Art von Realität, weil so viele Leute daran glauben. Sie lesen gar nicht, was diese Leute geschrieben haben. […] langem zur Geschichte und den Ansätzen der Chicagoer Soziologie, zu kollektivem Handeln und zum Pragmatismus. Er selbst führte unter anderem Feldforschungen zur medizinischen Notaufnahme von Obdachlosen in Paris durch. 40 Joseph Gusfield (1923–2015), US-amerikanischer Soziologe, promovierte 1953 an der University of Chicago und gründete später das soziologische Department an der University of California, San Diego. Seine Arbeitsschwerpunkte waren soziale Bewegungen und kollektives Handeln, mit einem spezifischen Fokus auf moralische Bewertungen des Alkoholkonsums. 41 Herbert Gans (*1927), in Deutschland geborener US-amerikanischer Soziologe, studierte in Chicago und wurde an der University of Pennsylvania in Soziologie und Planungswissenschaften promoviert. Er war später Professor für Soziologie an der Columbia University, New York. Zu seinen Forschungsgebieten zählen städtische Transformationsprozesse, Massenmedien, Public Policy und damit zusammenhängende Themen.

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R.K.: Na, da haben wir ja die „Definition der Situation“42 und ihre Folgen! H.S.B.: Ja, … die Leute wissen nur, dass es alle so sagen, und warum würden es denn alle sagen, wenn es nicht wahr wäre? Und darum ist es wahr. R.K.: Man muss also irgendwie mit den Auswirkungen dieser Definition fertig werden. H.S.B.: Oh, ich weiß nicht, was ich da tun kann, denn ich bin mir bewusst, einige sehr berühmte Leute gesehen zu haben, die das tun. Einer, von dem ich wirklich schockiert war, John Searle43 – wissen Sie, wer das ist? R.K.: Ja. H.S.B.: Also, ich halte ihn für einen arroganten Blödmann, aber … Er wollte eine Ontologie der Sozialwissenschaften verfassen (Searle 1995). Das ist das dümmste Buch, das ich je gelesen habe. Er hat überhaupt keine Soziologie gelesen, und dann stören er und einige seiner Kollegen sich an der Vorstellung, dass Wissenschaft etwas Relativistisches hat. … und Bruno Latour44 ist ihre bevorzugte Zielscheibe. Darum zitieren sie aus Texten von Latour, aber sie haben gar nicht gelesen, was sie zitieren. Es gibt einen wundervollen kurzen Artikel, den Bruno geschrieben hat: „Did Ramses II die of tuberculosis?“ (Latour 2000), und Bruno sagt: „Nein, er konnte nicht an Tuberkulose gestorben sein, denn das gab es gar nicht.“ „Ach, das ist ja lächerlich!“ Das heißt, sie kümmern sich gar nicht darum, was Latour eigentlich gesagt hat, denn er hatte gefragt: „Wie konnte etwas existieren, für das es noch keinen Namen gab?“ Er konnte nicht 42 Das bezieht sich auf ein berühmtes Zitat des frühen klassischen Chicagoer Soziologen William I. Thomas (1863–1947) und der Bevölkerungswissenschaftlerin Dorothy S. Thomas (1899–1970) aus deren gemeinsamer Untersuchung über „The Child in America“. Darin formulieren sie das sogenannte Thomas-Theorem: „Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, dann sind sie in ihren Folgen wirklich.“ (Thomas, Thomas 1928: 571; vgl. dazu insgesamt auch Keller 2012). 43 John R. Searle (*1932), US-amerikanischer Philosoph, Professor für Philosophie an der University of California, Berkeley, wurde mit seinen Arbeiten zur Sprechakttheorie berühmt. 44 Bruno Latour (*1947) ist französischer Philosoph, Soziologe und Anthropologe und eine der führenden Persönlichkeiten in der zeitgenössischen Wissenschaftsforschung. Unter anderem arbeitete er ethnographisch in einem Labor und im französischen Staatsrat. Er entwickelte wesentlich die Aktor-Netzwerk-Theorie mit und forderte ein „Parlament der Dinge“. 321

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im Sinne einer von Fachleuten erstellten Diagnose gestorben sein. Es ist offensichtlich. Und dann sagen sie auch, dass Thomas Kuhn (1962)45 schrieb: „Eine wissenschaftliche Revolution findet statt, wenn so viele Anomalien entstehen, dass sie nicht ignoriert werden können.“ Das ist genau das Gegenteil von dem, was Kuhn sagt, und zu diesem Punkt äußert er sich ganz deutlich. Er sagt, genau das ist nicht der Moment, in dem eine Revolution stattfindet. Er sagt, sie findet statt, wenn jemand versucht, das zu lösen [lacht], sie versuchen, es zu lösen, und dann haben Leute verschiedene Ideen, und sehr bald gerät das ganze gemeinsame Verständnis über ihre Arbeit ins Wanken. Dann machen sie eine Revolution. Es steht wörtlich in Kuhns Buch: „Das ist nicht, was ich meine.“ Aber Leute wie Searle ignorieren einfach, was er sagt. R.K.: Ich bin mehr in der Tradition von Berger und Luckmann46 ausgebildet, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Berger, Luckmann 1966). In Deutschland steht dieser Teil der Wissenssoziologie vielen Ihrer Arbeitsbereiche oder zumindest sehr ähnlichen Perspektiven nahe. In einem Interview wurden Sie nach Ihrem Verständnis der „gesellschaftlichen Konstruktion“ gefragt, und Sie erklärten: „‚Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ heißt für mich einfach, dass Menschen persönlich oder anders miteinander reden und entscheiden, wie man die Dinge in ihrer Umwelt nennt und wie man sie versteht. Andere Leute mögen diese Fragen anders beantworten, und darum hat der Begriff gesellschaftliche Konstruktion solche Zugkraft, denn er lässt uns sehen, dass Dinge, die wir für wirklich halten, nicht unbedingt auch für andere wirklich sind, und das führt zu einem sehr fruchtbaren Feld für Forschung und Erkenntnis.“ (Becker in Ralón, Ralón 2013: 4f.)



Und in einem anderen Gespräch sagten Sie, dass Sie nicht an einer Identitätspolitik interessiert sind, die sich an theoretischen Positionen wie „symbolischem Interaktionismus“ orientiert, worüber wir eben gesprochen haben, oder an

45 Thomas Kuhn (1922–1996), US-amerikanischer Wissenschaftsphilosoph und -historiker, schrieb ein bahnbrechendes Buch über Paradigmenwandel und wissenschaftliche Revolutionen. 46 Peter L. Berger (1929–2017), in Österreich geborener US-amerikanischer Wissens-, Religions-, Wirtschaftskultursoziologe, der sich auch für Modernisierungsprozesse interessierte. Er war Professor an der Boston University. Thomas Luckmann (1927–2016), in Slowenien geborener österreichisch-US-amerikanischer Wissens-, Religions- und Kommunikationssoziologe. Nach seiner Rückkehr aus den USA und einem kurzen Aufenthalt an der Universität Frankfurt am Main wurde er Professor für Soziologie an der Universität Konstanz.

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„Konstruktivismus“ (Becker in Danko 2015: 163). Im Falle der „gesellschaftlichen Konstruktion“ scheint das Konzept darüber hinaus anzudeuten, dass es keine realistische Perspektive darstellt […] H.S.B.: Ja, ja. R.K.: […] aber ich weiß, dass Luckmann und Berger sich selbst als Realisten verstanden, und sie mochten den Titel „gesellschaftliche Konstruktion“ oder Wörter wie „Konstruktivismus“ selbst nicht. H.S.B.: Ja, das ist schlecht, denn es führt … es führt zu dieser Art von Fehlinterpretation. R.K.: Searle hat sich ja irgendwie auch mit deren Buch angelegt. H.S.B.: Oh ja, Sie wissen ja, dass er ein arroganter Narr ist. … [Lachen] R.K.: Ich muss wohl aufhören, seine Bücher zu lesen und zu verfolgen, was er so treibt […] H.S.B.: […] arrogant, weil er zum Beispiel einmal eine Rezension oder so etwas in der Art für die New York Review of Books schrieb, in der er en passent den Aufsatz einer Philosophin über irgendetwas kritisierte. Sie schrieb dann in einen Leserbrief: „Leider hatte ich gar nicht geschrieben, was er mir vorwirft. Ich hatte vielmehr geschrieben: …“ Searle antwortete: „Ich hatte ihren Artikel nicht gelesen, als ich das schrieb, aber jetzt habe ich ihn gelesen, und ich habe immer noch Recht.“ Ich dachte, das war so eine Verletzung wissenschaftlicher … wie man sich zu benehmen hat.

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Über Soziologie erzählen

R.K.: Sie hatten einige Einwände gegen die Art und Weise wie in den USA Kriterien für „echte wissenschaftliche“ qualitative Forschung zustande gekommen sind. Es gab auch eine Diskussion darüber, ob Gelder oder Zuwendungen nur gezahlt werden sollen, wenn diese Kriterien gelten … Das war schon vor einiger Zeit; war diese Searle-Intervention vielleicht damit verbunden? 323

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H.S.B.: Das ist ja alles so politisch. Es gibt nicht viel Geld für Sozialwissenschaften. Das war noch nie der Fall. Ein sehr großer Teil davon läuft über den General Social Survey. Der gehört jetzt zu den Dingen, in die man investiert hat, und jetzt muss man weiter darin investieren […] R.K.: […] es am Laufen halten […] H.S.B.: Ja. immer weiter. Sonst hat man keinen Vorteil davon. Und NORC, das National Opinion Research Center47 an der University of Chicago hat einen Riesenapparat aufgebaut, um zu gewährleisten, dass der Survey alle zwei Jahre durchgeführt wird. Und da soll man Geld wegnehmen? Was wirklich dahintersteckt: Sie haben große Angst … vor unabhängigen Leuten; Leuten, über die sie keine Kontrolle haben. Denn der Kongress kann zuschauen und kann sehen, wofür sie Geld ausgeben, und sie kritisieren, und das passierte früher immer den Naturwissenschaften. R.K.: Davor hat man also große Angst? H.S.B.: Ja, große Angst, das ist ganz klar. Wenn man dort ist, kann man es sehen, wenn man ihnen über die Schulter schaut. Was passiert, wenn wir Geld für das und das ausgeben? Welcher Senator könnte uns lächerlich machen? Und die Wahrheit ist: Feldforschung kostet nicht viel. Wenn man sich dafür beurlauben lassen will, kann man das machen. Das haben schon viele Leute getan. Aber unter den heutigen Umständen, mit all dieser Verwaltungsarbeit … Meine Freunde in Großbritannien klagen sehr über diese Beurteilungsübungen, wie sie es nennen. … das ist […] R.K.: Das ist ein ganz starker Druck […] H.S.B.: […] Und alle möglichen Berichte müssen gemacht werden. Das ist viel Arbeit. Und irgendwer muss es machen. Das ist klar.

47 NORC „ist eine objektive, überparteiliche Forschungseinrichtung, die zuverlässige Daten und gründliche Analysen liefert, um kritische programmatische, ökonomische und politische Entscheidungen zu unterstützen.“ (http://www.norc.org/About/Pages/ default.aspx, letzter Aufruf am 16. Januar 2019).

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R.K.: In Ihrem Buch Telling about Society sagen Sie ganz am Ende, dass Sie Angst vor der Tragödie haben, die ein Verschwinden der Künste bedeuten würde, aber was die Soziologie anbelangt, sind Sie sich nicht so sicher […] H.S.B.: Das wäre keine solche Tragödie. [Lachen] R.K.: Sie haben so eine lange Erfahrung in der Soziologie. Haben Sie einen Wandel festgestellt zwischen der Soziologie – die selbst eine Multi-Disziplin darstellt, denn es gibt nicht nur eine Soziologie – und ihrer Wahrnehmung in der Gesellschaft? Ich denke zum Beispiel an den Labeling-Ansatz, über den wir gesprochen haben, oder „große“ Konzepte wie die „Risikogesellschaft“ – ich weiß nicht, ob Ihnen das ein Begriff ist, der Ausdruck stammt von dem deutschen Soziologen Ulrich Beck,48 der 1986 sagte, der Umgang mit Katastrophen und Risiken sei in der heutigen Gesellschaft zum zentralen Thema geworden. Und jetzt, 20 bis 30 Jahre später denkt jeder, es sei ein allgemeines Konzept; alle reden darüber … genauso erinnert sich niemand daran, dass das Konzept der „Wissensgesellschaft“ vor langer Zeit durch soziologische oder sozialwissenschaftliche Forschung entstanden ist. H.S.B.: Es ist alles wie diese Idee von den „Big Data“. R.K.: […] und es verändert die Wege und die Richtungen des politischen Denkens und der politischen Entscheidungen. H.S.B.: Es hat nichts mit wirklicher Soziologie zu tun, wenigstens glaube ich das. Ich habe großes Misstrauen gegen alles, was sich als: „Aha! Jetzt sehe ich, in welche Richtung die Welt läuft“ präsentiert. Sie läuft niemals so, wie vorhergesagt wurde. R.K.: Aber würden Sie sagen, dass Sie auf einer kleineren Stufe, zum Beispiel mit der Arbeit an den Kunstwelten, dem Außenseiter-Buch oder mit dem Buch über das Medizinstudium, dass Sie die Art und Weise verändert haben, wie die Menschen die Situation in diesem Bereich betrachten? Haben Sie diese Erfahrung gemacht oder denken Sie darüber nach, was dann passiert oder passiert ist? 48 Ulrich Beck (1944–2015) war einer der einflussreichsten deutschen Soziologen nach dem zweiten Weltkrieg. Er war Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und arbeitete zur soziologischen Diagnose gegenwärtiger gesellschaftlicher Transformationen. 325

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Abb. A-5 Herbert Blumer

H.S.B.: Das ist schwer zu sagen. Ich bin auch ein Schüler von Herbert Blumer.49 Und Blumers Idee, wie Veränderungen geschehen, ist eher … wie hat er es noch genannt? „kulturelle Verschiebung „ (vgl. Blumer 1951) oder so ähnlich. Man sieht es nicht einmal. Es ist wie das Schmelzen der Gletscher. Wenn man sich das mit einem Vergrößerungsglas anschaut, sieht man dann, wie die Gletscher schmelzen? Nein. R.K.: Immer nur ein winziges Puzzlestück. H.S.B.: Sehen Sie sich an, was überall auf der Welt, in allen fortschrittlichen Ländern mit Homosexualität geschehen ist. Es scheint, dass es plötzlich OK ist. Vorher war es nicht OK. In Großbritannien hat man noch vor 60 Jahren die Leute zu Tode gehetzt. R.K.: Und gar nicht weit entfernt, in Osteuropa und anderswo ist es immer noch nicht OK.

49 Herbert G. Blumer (1900–1987), US-amerikanischer Soziologe, war Namensgeber und einer der Hauptprotagonisten des „Symbolischen Interaktionismus“; arbeitete unter anderem zur soziologischen Theorie und Methodologie, über Rassenfragen und über Film. Er lehrte von 1925 bis 1952 an der University of Chicago und wechselte dann an die University of California, Berkeley, wo er das soziologische Department leitete. 1956 wurde er Präsident der American Sociological Association.

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H.S.B.: Stimmt. Oder in Afrika. Aber plötzlich schaut man sich um, und … Vor Jahren hat eine Freundin von mir, Gertrude Selznick, 50 eine Umfrage über Antisemitismus gemacht. Sie sagte: „Weißt du, was passiert? Was die Leute jetzt sagen?“ – Sie hatten so eine Frage, weil sie wussten, niemand würde zugeben, antisemitisch zu sein: „Haben Sie in letzter Zeit etwas Schlechtes über Juden gehört?“ Früher, sagte sie, haben die Leute darauf einfach mit „ja“ oder „nein“ geantwortet. Heute sehen sie den Fragenden schief an und sagen: „Wissen Sie denn nicht, dass heute niemand mehr so redet?“ Es ist ganz anders. Und in der nächsten Generation hört man nichts mehr, und dann existiert es auch nicht mehr. Es ist alles vorbei. Als ich jung war in Chicago, hatte ich einen guten Freund, einen Schlagzeuger, Rudy Ricupero. Er war Italiener. Ich meine damit, dass seine Familie möglicherweise aus Italien kam. Er wohnte im italienischen Viertel. Damals schauten sich in den Ferien viele Leute nach einem befristeten Job in einem Laden um, zum Beispiel als Lagerarbeiter in einem großen Kaufhaus in der Innenstadt. Dort wurden immer Leute gesucht. Er sagte, er hätte auch versucht, so etwas zu finden, aber immer, wenn er seine Adresse angab, 1052 Taylor Street, dann wussten die Leute in Chicago: Das war das alte Italiener-Viertel. Aber er hatte eine Tante, die woanders wohnte, und als er ihre Adresse angab, bekam er den Job. Ich meine, es ist diese Art von Veränderung. Eine Sache hat mich seit vielen Jahren amüsiert, ich nenne es das „Unsere Jugend kommt in die Hölle“- Syndrom. In den 1920er Jahren kam die amerikanische Jugend in die Hölle wegen der Filme, der Stummfilme. Dann kamen sie in die Hölle wegen der Tonfilme. Dann kamen sie in die Hölle wegen des Radios oder der Comic-Hefte. Eins nach dem anderen, immer dasselbe Argument. R.K.: Ja, im 19. Jahrhundert war es mit dem Bücherlesen genauso. H.S.B.: Ja, das heißt also, die Jugend kommt immer in die Hölle, bis sie erwachsen wird und selbst die Jugend sieht. All diese Dinge werden so ernst betrieben. Jetzt fahren alle zur Hölle, die mit Smartphones durch die Straßen gehen. [Lachen] R.K.: Das kann anscheinend zu ziemlich wirklichen Unfällen führen. Es scheint, dass manche Länder daran denken, die Nutzung in der Öffentlichkeit zu reglementieren. Wir sprachen über Latour. Und in „Telling about Society“ nehmen Sie häufig Bezug auf die Science Studies, und ich glaube, Sie sind da 50 Gertrude Selznick Jaeger (1915–1979) war Professorin für Soziologie an der University of California, Berkeley. Ihre Hauptarbeitsgebiete waren Antisemitismus und Rassismus. 327

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nahe daran. Es besteht aber vielleicht ein Unterschied im Hinblick auf die Rolle, die Dinge spielen … Aber ich möchte Sie noch etwas anderes fragen: Wenn Sie sich danach umsehen, was in der Soziologie geschieht – welche Arbeiten möchten Sie den Leuten empfehlen, was sollen sie lesen? Sie nannten einige Bücher in unserem Gespräch. In Telling about Society nennen Sie viele ältere Studien, zu denen man zurückkehren sollte. Aber finden Sie auch in der heutigen Soziologie etwas Interessantes? Oder eher außerhalb der Soziologie? H.S.B.: Oh, sicherlich in der Soziologie, die ganze Zeit über. Da gibt es diese wundervolle Geschichte der französischen Rap-Musik von Karim Hammou (2012). Und Alice Goffmans Arbeit über schwarze junge Männer und die Polizei (Goffman 2014). Claudio Benzecry (2011) interviewte alle Fans des Colón-Opernhauses in Buenos Aires, die ihr Leben der Oper widmen. Oder Collin Jerolmacks (2013) phantastische interkontinentale Feldforschung über Mensch-Tier-Beziehungen am Beispiel von Tauben. Das sind nur einige, und es tut mir leid, nicht all die anderen nennen zu können. Ich lese immer neue Dinge. Es gibt viele gute Sachen. Meine eigentliche Kritik ist, dass Leute nichts lesen. R.K.: Dann beginnen sie, unwissend zu arbeiten und zu schreiben? H.S.B.: Sie hören etwas. Die Leute sprechen über dies und jenes. Wenn ich Leute frage: „Kennen Sie das Buch?“ … Ich glaube, niemand liest Thomas Kuhns Buch. Alle wissen sie etwas darüber. Alle kennen „wissenschaftliche Revolution“, „Paradigma“. Sie haben die Wörter aufgeschnappt, aber sie wissen nicht, was er dazu sagte. R.K.: Es gehört zum Kanon, zur Tradition, aber sie arbeiten nicht damit. H.S.B.: Sie lesen es gar nicht. Wer liest denn? Oder die großen Klassiker wie Deep South (Davis, Gardner, Gardner 1941). Das ist ein großes Problem. Ich meine, ich könnte jahrelang Kurse über die gesammelten Werke von Everett Hughes anbieten (Hughes 1984). Sie sind so voller Ideen. R.K.: Er ist auch in Deutschland gewesen, ich glaube nach dem Zweiten Weltkrieg. H.S.B.: Oh ja, er war dort erstmals in den dreißiger Jahren, ungefähr 1930, und schrieb über die katholischen Arbeiter im Rheinland (Hughes 1984: 255ff.), und dann nach dem Krieg. Ja, er schrieb den berühmten Aufsatz „Good People and Dirty Work“ (Hughes 1962).

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R.K.: Ich habe über seinen Einfluss auf die deutsche Nachkriegs-Soziologie nachgedacht. Es gibt keine Quellen, aber einige Studien über Arbeiter und Orte, die für mich irgendwie den Geist von Hughes haben. H.S.B.: Ich weiß nicht, welche Verbindungen er in Deutschland hatte. R.K.: Es ist schwierig, da Zugang zu finden. H.S.B.: […] aber er war einer der wenigen, die Deutsch und Französisch lesen konnten. Er war ziemlich vertraut mit beiden Sprachen, und er machte Gebrauch davon. Er gab es auf, Leute wie mich davon zu überzeugen, eine Sprache zu lernen. Ich schäme mich, dass es bei mir so viele Jahre gedauert hat. R.K.: Aber Sie haben es nachgeholt. Sie haben ja Portugiesisch und Französisch gelernt. H.S.B.: Und es ist sehr nützlich für mich gewesen. Unter anderem gab es mir viele wundervoll interessante Fälle zum Nachdenken. R.K.: Vielleicht hören wir hier auf. Ich danke Ihnen vielmals. H.S.B.: Gern geschehen. Kommen Sie mal wieder.

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Autoren- und Herausgeberangaben Autoren- und Herausgeberangaben Autoren- und Herausgeberangaben

Howard S. Becker Howard S. Becker wurde 1928 in Chicago geboren und gehört zu den bedeutendsten Vertretern der zeitgenössischen Soziologie. Sein ganzes Leben lang hat er soziologisches Arbeiten eng mit der Betätigung als Jazzmusiker verknüpft. Becker erhielt seine akademische Ausbildung im Kontext der Chicagoer Tradition der soziologischen Forschung, die von Everett C. Hughes und weiteren nahestehenden Kollegen im Institut für Soziologie in Chicago Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre gelehrt wurde. Nach der Promotion zum PhD im Jahre 1951 befasste er sich in einer Reihe von Studien mit Fragen der Devianz (Drogenkonsum) und der Musik, mit Schullehrern und dem Wandlungsprozess von Studenten zu professionellen Medizinern. Im Jahre 1965 wurde er Professor für Soziologie an der Northwestern University in Evanston (Illinois), wo sein Interesse an Kunst, Fotografie und an der Präsentation sozialwissen­schaftlicher Forschungsergebnisse in Gestalt von dramatischen Aufführungen immer stärker wurde. Zu seinen hauptsächlichen soziologischen Arbeitsschwerpunkten zählten die Soziologie des Abweichenden Verhaltens und des Labeling, die Professionssoziologie, die Soziologie der Kunst und der (Jazz-) Musik, das Verhältnis von Soziologie und Fotografie und die Methodologie der soziologischen Forschung. Im Jahre 1991 wechselte er zur University of Washington in Seattle. Auch in Brasilien hat er unterrichtet. Seit Mitte der 2000er Jahre hielt Becker jedes Jahr in Frankreich Vorlesungen und nahm dort an Konferenzen teil. Von 1961 bis 1964 war er Redakteur der Zeitschrift Social Problems, von 1964 bis 1965 Vizepräsident der Pacific Sociological Association, von 1965 bis 1966 Präsident der Society for the Study of Social Problems, und von 1977 bis 1978 Präsident der Society for the Study of Symbolic Interaction. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören Boys in White. Student Culture in Medical School (Becker et al. 1961), Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance (Becker 1963), Making the Grade. The Academic Side of College Life (Becker, Geer, Hughes 1968), Art Worlds 333 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. S. Becker, Erzählen über Gesellschaft, Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5

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Autoren- und Herausgeberangaben

(Becker 1982), Doing Things Together (Becker 1986a), Writing for Social Scientists. How to Start and Finish Your Thesis, Book, or Article (Becker 1986b), Tricks of the Trade. How to Think About Your Work While Doing It (Becker 1998), Telling about Society (Becker 2007), Do You Know …? The Jazz Repertoire in Action (Becker, Faulkner 2009), What About Mozart? What About Murder? Reasoning from Cases (Becker 2014b) und Evidence (Becker 2017). Becker erhielt zahlreiche Fellowships und Auszeichnungen, unter anderem 1980 den Charles Horton Cooley-Preis der Society for the Study of Symbolic Interaction sowie fünf Ehrendoktorwürden in Frankreich und Großbritannien. 51

Reiner Keller, Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. 2015-2019 Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschafts für Soziologie. Arbeitsschwerpunkte: Diskursforschung, Wissens- und Kultursoziologie, soziologische Theorie, interpretative Methoden, gesellschaftliche Naturverhältnisse. Buchveröffentlichungen u.a.: Doing Discourse Research. An Introduction for Social Scientists. London: Sage 2013; Das Interpretative Paradigma. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS 2012; Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS-Verlag 2005 (2. aktualisierte Auflage 2008; 3. Auflage 2011); Michel Foucault. Konstanz: UVK 2008; Weitere Herausgeberschaften u.a.: Keller, Reiner/Poferl, Angelika (Hrsg.) (2018): Wissenskulturen der Soziologie. Weinheim: BeltzJuventa; Keller, Reiner/Hornidge, Anna/Schünemann, Wolf (Eds.) (2018): The Sociology of Knowledge Approach to Discourse. Investigating the Politics of Knowledge and Meaning-making. London: Routledge. Keller, Reiner/Meuser, Michael (Hrsg.) (2017): Alter(n) und vergängliche Körper. Wiesbaden: SpringerVS. Raab, Jürgen/Keller, Reiner (Hrsg.) (2016): Wissensforschung – Forschungswissen. Verhandlungen des ersten Sektionskongresses der Sektion Wissenssoziologie. Weinheim: BeltzJuventa. Keller, Reiner/Knoblauch, Hubert/Reichertz, Jo (Hrsg.) (2013): Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Wiesbaden: Springer VS; Clarke, Adele E. (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Hrsg. & mit einem Vorwort von Reiner Keller. Wiesbaden : Springer VS; Mitherausgeber der Zeitschrift für Diskursforschung.

51 Die Informationen beruhen auf der Einführung von Dagmar Danko (2015).