Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt: Theoretische Konzepte und empirische Tendenzen der Regulierung von Arbeit und Beschäftigung in der Transnationalisierung [3. Aufl. 2019] 978-3-658-26868-8, 978-3-658-26869-5

Arbeit und Produktion sind im 21. Jahrhundert immer stärker grenzüberschreitend vernetzt. Dies galt aber bisher nicht in

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Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt: Theoretische Konzepte und empirische Tendenzen der Regulierung von Arbeit und Beschäftigung in der Transnationalisierung [3. Aufl. 2019]
 978-3-658-26868-8, 978-3-658-26869-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XX
Die gesellschaftliche Bedeutung der Erwerbsregulierung (Ludger Pries)....Pages 1-10
Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit (Ludger Pries)....Pages 11-34
Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung (Ludger Pries)....Pages 35-62
Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive (Ludger Pries)....Pages 63-94
Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern (Ludger Pries)....Pages 95-181
Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung (Ludger Pries)....Pages 183-220
Globale und internationale Erwerbsregulierung (Ludger Pries)....Pages 221-245
Erwerbsregulierung in der Europäischen Union (Ludger Pries)....Pages 247-263
Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen (Ludger Pries)....Pages 265-305
Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen (Ludger Pries)....Pages 307-333
Entstehende supra- und transnationale Governance (Ludger Pries)....Pages 335-350
Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung (Ludger Pries)....Pages 351-366
Back Matter ....Pages 367-399

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Ludger Pries

Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt Theoretische Konzepte und empirische Tendenzen der Regulierung von Arbeit und Beschäftigung in der Transnationalisierung

3. Auflage

Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt

Ludger Pries

Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt Theoretische Konzepte und ­empirische Tendenzen der Regulierung von Arbeit und ­Beschäftigung in der ­Transnationalisierung 3., aktualisierte Auflage

Ludger Pries Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland

ISBN 978-3-658-26868-8 ISBN 978-3-658-26869-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2010, 2017, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort zur ersten Auflage

Häufig wird die tief greifende Internationalisierung unserer Lebenszusammenhänge vor allem als wirtschaftliche Globalisierung, als ‚von oben‘ den Menschen aufgezwungen und als bedrohlich wahrgenommen. Bei genauerem Hinsehen können wir aber auch viele Tendenzen sozialer, politischer und kultureller Internationalisierung ausmachen. Sie bergen Risiken, aber auch vielfältige Chancen. Dies gilt auch für den Bereich der Arbeits- Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen der Menschen. Weder stimmt es, dass die Globalisierung wie ein Sturm alle bestehenden nationalen Schutzregeln für die Menschen hinwegfegt, noch ist die Annahme richtig, dass der globalisierte Kapitalismus grundsätzlich nicht im Interesse der arbeitenden Menschen gezähmt und reguliert werden könne. Gerade vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Jahre 2008 stellt sich diese Frage einer angemessenen Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft drängender denn je. Dieses Buch will ein differenziertes Bild der tatsächlich bestehenden Mechanismen und Möglichkeiten zeichnen, die Erwerbsbedingungen über die Grenzen der Nationalgesellschaften hinweg im Sinne der Beschäftigten und einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung zu beeinflussen. Ein tieferes Verständnis der Internationalisierung von Erwerbsregulierung ist für Wissenschaftler und für Praktiker wichtig. Auch wenn hier eine sozialwissenschaftliche und speziell eine soziologische Betrachtungsweise im Vordergrund steht, kann diese Veröffentlichung doch auch für den Bereich der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie für andere Disziplinen (wie z. B. die Sozialgeographie, die Kommunikations- und die Geschichtswissenschaft) hilfreich sein. Diejenigen, die im Rahmen (inter-)gouvernementaler Strukturen arbeiten, können durch die Lektüre die widersprüchlichen Tendenzen von Abgabe und Zugewinnen nationalstaatlicher Souveränität im Prozess der Internationalisierung von Erwerbsregulierung besser verstehen. Führungskräfte und Interessenvertreter in grenzüberschreitend aktiven Unternehmen können die Chancen, aber auch die Fallstricke der Unternehmensinternationalisierung für V

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Vorwort zur ersten Auflage

den Bereich der Erwerbsregulierung besser erkennen und gestalten. Für international aktive Organisationen wie z. B. ­Gewerkschafts- und Unternehmerverbände, Verbraucherverbände und andere Nicht-Regierungs-Organisationen können die folgenden Ausführungen dazu beitragen, die eigenen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen angemessener abzuschätzen und zu entwickeln. Wer das G ­ esamtpanorama internationaler Erwerbsregulierung überblickt, wird viele neue Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für sich entdecken. Das vorliegende Buch entstand aus mehrjährigen Erfahrungen in Forschung und Lehre. Ich danke dem gesamten Team am Lehrstuhl Soziologie/Organisation, Migration, Mitbestimmung der Ruhr-Universität Bochum, besonders Markus Hertwig, Fabian Hoose und Sophie Rosenbohm, für fruchtbare Zusammenarbeit und hilfreiche Hinweise und Kommentare. Dies gilt auch für die Studierenden verschiedener Seminare, in denen Teilaspekte dieser Veröffentlichung thematisiert wurden. Mein Dank gilt auch Patricia Pielage, Katharina Westerholt, Johannes Pries und besonders Christopher Collet, die bei der Literaturrecherche und Materialzusammenstellung mit viel Engagement geholfen haben. Soweit sinnvoll wurden anderssprachige Zitate vom Autor ins Deutsche übersetzt. Die Abkürzungen internationaler Organisationen wurden in der Regel in der jeweiligen internationalen Fassung beibehalten. Alle zitierten Linkadressen von Webseiten wurden im April 2016 überprüft. Entgegen traditionellen Gewohnheiten wurden Internet-Adressen in recht breitem Umfang in die Fußnoten aufgenommen, sie sollen einen schnellen Zugriff auf einschlägige und qualitativ hochwertige Quellen ermöglichen. Trotz aller Hilfe und Unterstützung liegt die Verantwortung für mögliche Unzulänglichkeiten des Textes bei mir. Für jede Art von Kritik, Verbesserungsvorschlägen und Kommentaren bin ich deshalb dankbar ([email protected]). Bochum im April 2009

Ludger Pries

Vorwort zur zweiten, aktualisierten und grundlegend erweiterten Auflage

Ob es um Kinderarbeit in Indien, erzwungene Sexarbeit zwischen Rumänien und Deutschland, Vollzeitarbeit in Mexiko mit einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums, verwehrte Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisierung in vielen Teilen der Welt, ungleiche Bezahlung für gleiche Arbeit zwischen Männern und Frauen, um gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen, Anerkennung und Menschenwürde in der Arbeit, um Mitbestimmung und andere Formen der betrieblichen oder überbetrieblichen Interessenvertretung, um die Zukunft der Gewerkschaften oder die Rolle von Nichtregierungsorganisationen für menschenwürdige Arbeit geht – das Thema der „Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt“ ist aktueller denn je. Nach nur sechs Jahren der Drucklegung der ersten Auflage waren – nicht zuletzt, weil sich im Bereich der grenzüberschreitenden Mechanismen der Erwerbsregulierung sehr viel verändert hat – substanzielle Aktualisierungen nötig. Gleichzeitig wurde die zweite Auflage um zwei substanzielle Teile erweitert. Zum einen wurde ein Abschnitt zu Theorien der Erwerbsregulierung aufgenommen, zum anderen wurde dem Modell der Erwerbsregulierung in Deutschland ein eigener Abschnitt gewidmet. Ich hoffe, dass das Buch damit für Studierende und Lehrende, aber auch für Praktiker, die mit Arbeit, Wirtschaft und Organisation im Allgemeinen und mit der Regulierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen im Besonderen befasst sind, noch ‚runder‘ geworden ist. Das Buch ist aber auch eine Einladung an alle wissenschaftlich am Thema Interessierten, hinter die Kulissen der Alltagsnachrichten und auch der eigenen ‚Alltagsempirie‘ zu schauen und ein tieferes Verständnis für dieses alle Menschen einer Erwerbsgesellschaft direkt betreffende Thema zu gewinnen.

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Vorwort zur zweiten, aktualisierten und grundlegend erweiterten Auflage

Ich möchte ganz besonders Katrina Böse für umfangreiche Recherche- und Korrekturarbeiten danken, sie hat sich sehr gewissenhaft um die Überprüfung bestehender Daten, Literaturhinweise und Internetinhalte gekümmert. Sehr hilfreich war auch die Unterstützung durch Susanne Axt und Valentin Gube. Bochum im Mai 2016

Ludger Pries

Inhaltsverzeichnis

1

Die gesellschaftliche Bedeutung der Erwerbsregulierung . . . . . . . . . 1

2

Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit. . . . . . . . . . . . 11 2.1 Unterschiedliche Kontexte von Erwerbsarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.2 Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit . . . . . . . . . . . 19

3

Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.1 Zum Begriff und Konzept Industrieller Beziehungen. . . . . . . . . . 35 3.2 Von der Industrial-Relations-zur Erwerbsregulierungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.3 Paradigmen der Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.4 Neo-institutionalistisches Konzept der Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

4

Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive. . . . . . . . . . . . . . 63 4.1 Dimensionen Regelungsgegenstände und Regulierungsarenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.2 Dimensionen Räumliche Reichweite und Regulierungsmodus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.3 Dimensionen Konfliktregulierung und Dominante Akteure. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.4 Dimensionen Machtressourcen, Akteurskonstellation und Ideologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

IX

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Inhaltsverzeichnis

5

Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern. . . . . . . . 95 5.1 Erwerbsregulierung in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.2 Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.3 Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

6

Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung. . . . . . . . . . . 183 6.1 Konvergenz oder Divergenz der Erwerbsregulierung? . . . . . . . . . 184 6.2 Generelle Internationalisierungstypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.3 Akteure internationaler Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . . . . . . . 197

7

Globale und internationale Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . . . . . . . 221 7.1 Die ILO und globale Mindestarbeitsstandards . . . . . . . . . . . . . . . 224 7.2 Internationale Bestimmungen und Organisationen. . . . . . . . . . . . 234 7.3 NAALC und das nordamerikanische Freihandelsabkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

8

Erwerbsregulierung in der Europäischen Union. . . . . . . . . . . . . . . . . 247 8.1 Europäische Sozialpolitik und der Soziale Dialog. . . . . . . . . . . . . 248 8.2 Das Beispiel der Euro-Betriebsräte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

9

Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 9.1 Gewerkschaftsaktivitäten und freiwillige Unternehmenserklärungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 9.2 Bilaterale Regulierungsmechanismen in internationalen Konzernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 9.3 Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs) . . . . . . . . . . . . . 285

10 Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 10.1 Erwerbsbezogene Zertifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 10.2 Erwerbsbezogenes Labeling und Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . 316 10.3 Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 11 Entstehende supra- und transnationale Governance . . . . . . . . . . . . . 335 11.1 Europäische Governance der Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . . . 336 11.2 OECD-Leitsätze zu multinationalen Unternehmen. . . . . . . . . . . . 341

Inhaltsverzeichnis

XI

12 Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . 351 12.1 Entwicklungsmöglichkeiten der Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . 352 12.2 Gesellschaftliche Institutionen und Regulierung. . . . . . . . . . . . . . 359 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Abkürzungsverzeichnis

ACFTU All-China Federation of Trade Unions AITUC All India Trade Union Congress AKP-Staaten Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (African, Caribbean and Pacific Group of States, ACP countries) AoA Fragen landwirtschaftlicher Produkte ASEAN Association of Southeast Asian Nations BDA Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände BDI Bundesverband der Deutschen Industrie BIAC Business and Industry Advisory Committee BMW Bayerische Motoren Werke AG BR Betriebsrat BSCI Business Social Compliance Initiative BWI Building and Woodworkers International CCC Clean Clothes Campaign CEDAW Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women CNN Cable News Network COE Collective Owned Enterprises COLSIBA Coordinadoro Latinoamericana de Sindicatos Bananeros COSIBAH Coordinadora de Sindicatos Banaeros y Agroindustriales de ­Honduras CR/CSR Corporate (Social) Responsibility DJSI Dow Jones Sustainability Indexes EADS European Aeronautic Defence and Space Company EBR Eurobetriebsrat ECOSOC Economic and Social Council

XIII

XIV

Abkürzungsverzeichnis

ÉGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EI Education International ESA European Sociological Association ETUC European Trade Union Confederation ETUI European Trade Union Insitute for Research EU European Union EUROBAN European Banana Action Network FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations FDB Forenede Danske Brugsforeninger FENACLE Federación Nacional de Campesinos Libres del Ecuador FFI Fabrics International FIA International Federation of Actors FIE Foreign Invested Enterprises FIM International Federation of Musicians FPO For-Profit Organization GATT General Agreement on Tariffs and Trade GRI Global Reporting Initiative GUF Global Union Federation HIV Human Immunodeficiency Virus IAEA International Arts and Entertainment Alliance IBFG Internationalen Bund Freier Gewerkschaften ICEM International Federation of Chem., Energy, Mine & General ­Workers’ Unions ICFTU International Confederation of Free Trade Unions IFA International Framework Agreement IFJ International Federation of Journalists IFTU International Federation of Trade Unions IG Industriegewerkschaft IGB Internationaler Gewerkschaftsbund IGO International Governmental Organization ILC Indian Labour Conference ILO International Labour Organization IMF International Monetary Fund IMF International Metalworkers’ Federation INGO International Non-Governmental Organization INTUC Indian National Trade Union Congress IOE International Organisation of Employers ISO Internationalen Organisation für Standardisierung

Abkürzungsverzeichnis

XV

ITF International Transport Workers’ Federation ITGWLF International Textile, Garment and Leather Workers Federation ITUC International Trade Union Confederation IUF International Union of Food, Agricultural, Hotel, Restaurant, Catering, Tobacco and Allied Workers’ Associations IWF Internationale Währungsfonds KILM Key Indicators of the Labour Market LDAAC Labour Disputes Arbitration Advisory Committee LDAC Labour Dispute Arbitration Committee LLSC Labour Law Surveillance Committee MAI Multilateral Agreement on Investment Mercosur Mercado Común del Sur (Southern Common Market) MFN Most Favoured Nation MNE Multinational Enterprise NAFTA North American Free Trade Agreement NCL National Centre for Labour NCP National Contact Points NGO Non-Governmental Organization OAS Organization of American States OECD Organisation for Economic Co-operation and Development PEW Plattformen der Erwerbsregulierung POE Privat Owned Enterprises PSI Public Service International SE Societas Europeae (Europäische Gesellschaft) SEEDS Sustainable Environment and Ecological Developments Society SEWA Self Employed Woman Association SWRC Staff and Workers Representative Councils TRIMS Handelsbezogene Investitionsmaßnahmen TRITS Fragen der geistigen Eigentumsrechte TUAC Trade Union Advisory Committee to the OECD UAW The International Union, United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of America UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UGT Unión General de Trabajadores UN United Nations UNCTAD United Nations Conference on Trade and Development UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization UNI Global Union for skills and services

XVI

Abkürzungsverzeichnis

UNICE Union of Industrial and Employers’ Confederation of Europe UNICEF United Nations International Children’s Emergency Fund UNO United Nations Organization USA United States of America VR Volksrepublik WCC World Company Councils WCL World Confederation of Labour WGB Weltgewerkschaftsbund, World Federation of Trade Unions WFTU WTO World Trade Organization

Abbildungsverzeichnis

Abb. 3.1 Soziale Institutionen, Arenen und Akteure der Erwerbsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Abb. 4.1 Erwerbsregulierung im institutionellen Kräftefeld . . . . . . . . . . 65 Abb. 4.2 Gewerkschaftliche und tarifliche Deckungsraten EU-28. . . . . . 77 Abb. 4.3 Wegen Arbeitskonflikten ausgefallene Arbeitstage pro tausend Beschäftigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Abb. 4.4 Entwicklung gewerkschaftliche Organisationsrate im EU-Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Abb. 5.1 Entwicklung von Mitgliederzahl und Organisationsgrad DGB 1950–2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Abb. 5.2 Entwicklung Flächentarifbindung nach Beschäftigten 1996–2013. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Abb. 5.3 Streiktage pro 1 000 Beschäftigte in EU-Mitgliedsländern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Abb. 5.4 Anteil Arbeitskonflikte nach Typ 2010 (n = 600 863). . . . . . . . 135 Abb. 5.5 Beziehungen zwischen Staat, Partei und Gewerkschaften in China. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Abb. 6.1 Jährlicher Zufluss ausländischer Direktinvestitionen nach Zielregionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Abb. 6.2 Internationale Organisationen: INGOs und IGOs (1950–2005). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Abb. 6.3 Mitgliederzahlen in Internationalen Organisationen (1956–2004). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

XVII

XVIII

Abbildungsverzeichnis

Abb. 7.1 Umsetzungsmechanismus der ILO-Normen . . . . . . . . . . . . . . . 231 Abb. 8.1 Entwicklung Anzahl neuer, existenter und aufgelöster EBR 1985–2015. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Abb. 9.1 WWCs und WCCs im Organisationsbereich des IMF 1980–1992. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Abb. 10.1 Übersicht verschiedener Zertifizierungsinstrumente. . . . . . . . . 311

Tabellenverzeichnis

Tab. 2.1 Idealtypen von Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Tab. 2.2 Fünf Erwerbsarbeit strukturierende Institutionen. . . . . . . . . . . . 21 Tab. 4.1 Regulierungsbezüge und Regulierungsergebnisse . . . . . . . . . . . 68 Tab. 4.2 Dimensionen der Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Tab. 4.3 Betriebliche Vertretungsstrukturen in ausgewählten EU-Ländern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Tab. 5.1 Mitgliederstruktur der DGB-Gewerkschaften 2015. . . . . . . . . . 103 Tab. 5.2 Anteil von Betrieben und Beschäftigten mit BR 1996, 1998, 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Tab. 5.3 Anteil Betriebe mit BR, AVO und ohne kollektiver Interessenvertretung 2005. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Tab. 5.4 Anteil der Industrieproduktion staatlicher Betriebe (VR China 1983–2003). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Tab. 5.5 Beschäftigte nach Unternehmenstyp in der VR China (in Millionen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Tab. 5.6 Arbeitskonflikte und involvierte Beschäftigte (VR China 1994–2009). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Tab. 5.7 Arbeitskonflikte vor Nationalem Schlichtungskomitee China 1994–2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Tab. 5.8 Gewerkschaften in neu gegründeten Betrieben (Shanghai, Ende 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Tab. 5.9 Konfliktregulierungsmechanismen in Betrieben (Shanghai 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Tab. 5.10 SWRC in der Verarbeitenden Industrie nach Unternehmenstyp 1997. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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XX

Tabellenverzeichnis

Tab. 5.11 Arbeitsbedingungen in Unternehmen mit und ohne SWRC 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Tab. 5.12 SWRC-Vorkommen und betriebliche Arbeitspolitik (VR China, 1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Tab. 5.13 Formeller und informeller Erwerb in Indien nach Sektoren (1961–2000). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Tab. 5.14 Durch Streik und Aussperrung verlorene Arbeitstage/100 000 Beschäftigte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Tab. 5.15 Entwicklung von Arbeitskonflikten (Indien 1950–1996). . . . . . 165 Tab. 5.16 Entwicklung registrierter Gewerkschaften und Mitglieder 1949–1993. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Tab. 5.17 Sozio-ökonomische Entwicklungskennziffern 1960–2005. . . . . 177 Tab. 6.1 Idealtypen der Internationalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Tab. 6.2 Internationale Gewerkschaftsverbände GUFs 2010 und ITUC 2016. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Tab. 7.1 Die acht Kernarbeitsnormen der ILO (Stand April 2016). . . . . . 226 Tab. 7.2 Typen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung. . . . . . . . . . . 244 Tab. 9.1 Die zehn Prinzipien des Global Compact. . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Tab. 9.2 Vergleich der Weltarbeitnehmervertretungen bei VW und DaimlerChrysler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Tab. 9.3 Abgeschlossene IFAs nach Unternehmen (bis Anfang 2008). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Tab. 9.4 Weiterentwicklung von IFAs in ausgewählten Konzernen bis 2004. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Tab. 10.1 DJSI-Kriterien für Unternehmensnachhaltigkeit für drei Branchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Tab. 10.2 GRI-Indikatoren für Arbeitspraktiken/Gute Arbeit. . . . . . . . . . . 319 Tab. 10.3 Gegenüberstellung GRI-Richtlinien und gewerkschaftliche Vorschläge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Tab. 11.1 OECD-Mitgliedsländer und Beitrittsdatum . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Tab. 11.2 Stand der 2001–July 2003 von OECD-Watch eingebrachten Beschwerden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

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Die gesellschaftliche Bedeutung der Erwerbsregulierung

Fast alle Menschen verbringen den Großteil ihres wachen Lebens mit Erwerbsarbeit. Die Bedingungen, unter denen sie erwerbstätig sind (z.  B. Lohnhöhe, Arbeitszeit, Urlaub), werden durch Gesetze, Tarifverträge, betriebliche Bestimmungen oder auch nur durch individuell-vertragliche Abmachungen festgelegt. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden diese Bedingungen von Erwerbsarbeit überwiegend in den Grenzen von Nationalstaaten reguliert. Durch die zunehmende Internationalisierung von Produktion und Dienstleistungen nimmt die Wirksamkeit nationaler Erwerbsregulierung ab. Niedrige Löhne in einigen Ländern können zu Produktionsverlagerungen oder zu Lohnreduktionen in anderen Ländern führen. Arbeit und Produktion sind im 21. Jahrhundert immer stärker grenzüberschreitend vernetzt. Gerade die Kettenreaktionen, die von der US-amerikanischen Immobilienkrise über die allgemeine Finanzkrise zur globalen Wirtschaftskrise führten, machen diese internationale Verflechtung der Wirtschaft deutlich. Während Arbeit, Produktion und Finanzen also in hohem Maße international vernetzt sind, erscheint die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen der erwerbstätigen Menschen zunächst weitgehend national strukturiert. Nationale Mechanismen und Institutionen dominieren immer noch die Festlegung etwa von Bezahlung, Arbeitszeit, Arbeitsschutz und Beteiligung der Beschäftigten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings eine Vielfalt von grenzüberschreitenden Formen der Festlegung z. B. von Mindeststandards für Arbeit und von Verhaltensregeln für internationale Konzerne. Auch wenn – wie in den weiteren Kapiteln gezeigt wird – diese Regulierungen jeweils ihre strukturellen Begrenzungen haben und in der Praxis nicht immer umgesetzt werden: Im Vergleich etwa zur Finanzwirtschaft verfügt die Realwirtschaft durchaus über die Konturen einer emergierenden internationalen Governance von Erwerbsregulierung. Es entsteht eine transnationale Netzwerktextur der Erwerbsregulierung, die internationale Organisationen, staatliche Akteure, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_1

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Nicht-Regierungsorganisationen, globale Konzerne, Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen einbezieht. Der ‚globalisierte Kapitalismus‘ agiert zwar grenzüberschreitend, aber nicht ungebändigt. Einige Beispiele können dies verdeutlichen. Beispiel 1: Mattel, einer der größten Kinderspielzeughersteller der Welt, war im Jahre 2007 gezwungen, mehrere Millionen Barbie-Puppen und andere Spielgeräte aufgrund einer großen, weltweiten öffentlichen Kampagne zurückzunehmen. Giftige Stoffe waren in der Produktion oder für die Farben verwendet worden, mit denen zum Beispiel grüne Militärjeeps angemalt worden sind. Obwohl Mattel selbst ein durchaus strenges Qualitätskontrollsystem besitzt, ist auf diese Weise ein kurzfristiger wirtschaftlicher Schaden und längerfristiger Imageschaden entstanden. Dies hatte seinen Grund nicht zuletzt darin, dass in China, dem weltweit wichtigsten Produzenten von Kinderspielzeug, die Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen der Menschen in den verschiedenen Fertigungsstufen, Branchen und Regionen extrem stark auseinandergehen. Während die Arbeit bei den größeren Endherstellern, die mit Unternehmen wie Mattel direkt verhandeln, einigermaßen geregelt und erträglich ist, wird sie für die meisten Beschäftigten der vielen kleinen Zulieferer und der Zulieferer von Zulieferern immer schlechter bezahlt und ungeschützter. Durchaus modernen, vergleichsweise gut bezahlten Arbeitsplätzen, vor allem in den größeren chinesischen Städten, stehen zum Teil mittelalterliche Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse gerade in peripheren Regionen gegenüber. Offensichtlich reichte das hochformalisierte Qualitätskontrollsystem bei Mattel nicht aus, um die potenziellen Störquellen für Qualitätsproduktion durch die gesamte Zulieferkette zu kontrollieren. Über die erwähnte Rückrufaktion für Kinderspielzeuge können so – wenn auch nur für kurze Zeit – die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auch aus den entlegensten und marginalisierten Teilen einer chinesischen Provinz in die globale Öffentlichkeit gelangen. Die lokalen Arbeits- und Betriebskulturen, die möglicherweise ausbeuterische Produktions-organisation oder die praktizierten Maßstäbe für Gesundheitsschutz in einem kleinen Zulieferunternehmen verschaffen sich so weltweit Gehör.1 Beispiel 2: Wegen konjunktureller Schwankungen und allgemein gestiegener Produktivität der brasilianischen Automobilindustrie war im Volkswagenwerk in São Bernardo die Reduktion der Produktion und damit auch der Beschäftigung zum Ende der 1990er Jahre unvermeidlich. Während 1989 noch etwa 143 000

1Vgl.

zum Mattel-Unternehmen z. B. http://www.csr-asia.com/upload/csrasiaweeklyvol3week32.pdf; http://corporate.mattel.com/about-us/corporate-responsibility.aspx.

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Arbeitnehmer bei den in Brasilien produzierenden Endherstellern und 310 000 in der Zulieferindustrie tätig waren, also insgesamt 453 000 Beschäftigte, sank deren Zahl bis 1997 auf insgesamt nur noch 329 000 Arbeitsplätze; hierin spiegeln sich Produktivitätsanstiege bei den Produzenten und ein geringeres Nachfragewachstum als angenommen wider (Arbix und Rodriguez 1999). Der Volkswagenkonzern hatte in Deutschland seit den 1980er Jahren eine alternative Strategie entwickelt zu dem hire and fire, also dem ständigen Einstellen und Entlassen von Beschäftigten je nach Auftragslage, wie es vor allem aus angelsächsischen Ländern bekannt ist. Anstatt Tausende von Menschen zu entlassen, war die wöchentliche Arbeitszeit für alle Beschäftigten drastisch reduziert worden. Diese Politik der Beschäftigungsstabilisierung durch Arbeitszeitflexibilisierung und vorübergehende Arbeitszeitreduktion wollte die Konzernzentrale – und zwar Management und Arbeitnehmervertretung im Konzernbetriebsrat – auch für die Lösung der Beschäftigungsprobleme in Brasilien anwenden. Für die brasilianischen Arbeiter war dieses Ansinnen aber völlig unverständlich: Warum sollten diejenigen Arbeiter, die schon seit Jahrzehnten bei Volkswagen beschäftigt waren, zurückstecken, um denjenigen eine stabile Beschäftigung zu ermöglichen, die erst sehr kurz bei Volkswagen do Brasil arbeiteten, also viel weniger Senioritätsrechte erworben hatten? Warum sollten die brasilianischen Gewerkschaften unbedingt dem gleichen Modell folgen wie ihre Kollegen in Deutschland? In Urabstimmungen der brasilianischen Belegschaft wandte sich im Jahre 1997 die große Mehrheit der Belegschaft gegen eine solche Lösung. Erst zwei Jahre später war es in erneuten Verhandlungen möglich, eine dem deutschen Modell ähnliche Lösung für das brasilianische Werk in São Bernardo umzusetzen. „Ein Vier-Tage-System konnte in Brasilien zur Verhinderung betriebsbedingter Kündigungen vor zwei Jahren [also im Jahr 1999; Anmerkung L. P.] vereinbart werden. Damit konnte eine in Deutschland vereinbarte Vorgehensweise analog im VW-Konzern übertragen werden.“ (Widuckel 2001, S. 339). Offensichtlich lassen sich arbeitspolitische Lösungen, selbst wenn sie von Management und Arbeitnehmervertretung auf Konzernebene vereinbart wurden, nicht beliebig auf Standorte in anderen Arbeitskulturen und mit anderen Beschäftigungs- und Lebensbedingungen übertragen. Für alle beteiligten Gruppen in Brasilien und in Deutschland war dieser Beschäftigungskonflikt in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ein schmerzvoller Lernprozess. Die brasilianischen Arbeiter mussten erkennen, dass es Alternativen zur generellen Entlassung der jeweils jüngsten Beschäftigten gab. Die deutschen Arbeitnehmervertreter mussten akzeptieren, dass sie den brasilianischen Kollegen trotz aller guten Vorsätze nicht einfach die deutschen Politikmuster der Beschäftigungsstabilisierung verordnen konnten, sondern dass alternative Konfliktlösungen auch sozial-kulturell akzeptiert werden mussten.

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Beispiel 3: Lateinamerikanische Bananenarbeitergewerkschaften wie z. B. die Lateinamerikanische Koordination der Bananenarbeitergewerkschaften (COLSIBA), die Nationale Föderation der Freien Bauern- und Indigena-Organisationen (FENACLE) oder die Koordination der Bananenarbeitergewerkschaften in Honduras (COSIBAH) hatten sich bereits seit den 1980er Jahren gegen die extremen Ausbeutungsbedingungen auf vielen Bananenplantagen zur Wehr gesetzt und die Einhaltung bestimmter Mindeststandards gefordert. Die Lateinamerikanische Koordination der Bananenarbeitergewerkschaften (COLSIBA) schloss dann im Jahre 2001 mit dem internationalen Bananenproduzenten Chiquita – mit etwa einem Viertel der Weltbananen-Exporte gleichauf mit Dole einer der zwei weltgrößten Bananenproduzenten – ein Internationales Rahmenabkommen ab. In diesem sogenannten International Framework Agreement (IFA) wurden Mindestarbeitsschutzbestimmungen für die Arbeiter der Plantagen definiert, von denen Chiquita seine Waren einkaufte. Allerdings unterliefen die entsprechenden großen Plantagen dieses Abkommen regelmäßig durch die Auftragsvergabe an Subunternehmen, die wiederum dem Abkommen mit Chiquita nicht unterlagen. Auf der nationalen Ebene und in den bilateralen Verhandlungen mit Chiquita konnte die Bananenarbeitergewerkschaft COLSIBA offensichtlich keine wirksamen Mittel mobilisieren, um diese Vertragsunterlaufungen zu verhindern. Erst als in wichtigen Abnehmerländern in Europa, zum Beispiel in der großen dänischen Lebensmittelkette Forenede Danske Brugsforeninger (FDB), von Nicht-Regierungsorganisationen und dem European Banana Action Network (EUROBAN) eine Kampagne gegen den Bananenproduzenten Chiquita begann, wurde es möglich, genügend Druck aufzubauen, um die Einhaltung der Vereinbarungen auch in der Alltagspraxis in Costa Rica, Guatemala, Honduras und Panama durchzusetzen. Wie der damalige Präsident von Chiquita Steve Warshaw erklärte, war es vor allem diese internationale Kampagne, die den Konzern tatsächlich zu einer Revision seiner Arbeitspolitik bewegte: „In the wake of particularly damaging media coverage, we embarked on a disciplined path toward corporate responsibility“ (zit. nach Riisgaard 2002, S. 10). Beispiel 4: Lange Zeit hatten internationale Arbeitgeberverbände wie zum Beispiel die International Organisation of Employers (IOE) sowie auch eine Reihe marktliberal orientierter nationaler Regierungen geglaubt, die wirtschaftliche Globalisierung bestünde im Wesentlichen aus dem Niederreißen ‚überkommener‘ nationaler Bestimmungen und protektionistischer Maßnahmen, an deren Stelle keine grenzüberschreitenden neuen Regelungsmechanismen treten müssten. Deshalb hatten sie im Jahre 1998 ein multinationales Abkommen in aller Schnelle und ohne breite öffentliche Erörterung verabschieden wollen, in dem unter anderem geregelt werden sollte, dass grenzüberschreitend tätige

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Unternehmen überall auf der Welt nur denjenigen Bestimmungen unterworfen sein sollten, die auch in ihrem eigenen Herkunftsland Anwendung fänden. Nachdem dieses mehr oder weniger geheim verhandelte Multilateral Agreement on Investment (MAI) dennoch, zunächst angefacht durch kanadische Nicht-Regierungs-Organisationen, an die Öffentlichkeit geraten war, entbrannte ein Sturm der Entrüstung, an dessen Ende die Verabschiedung neuer Regeln für multinationale Konzerne durch die OECD stand. Diese Richtlinien ermöglichen es Einzelpersonen und Organisationen, in sogenannten Kontaktbüros ihres jeweiligen Landes, Beschwerden gegen das Verhalten multinationaler Unternehmen anzubringen. Inzwischen existiert in der Praxis ein äußerst ausdifferenziertes System ‚nationaler Kontaktpunkte‘ in vielen OECD-Ländern und ein komplexes Netz von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden sowie Nicht-Regierungs-Organisationen, durch welches das Verhalten der multinationalen Unternehmen im Hinblick auf die in den OECD-Richtlinien aufgeführten Kriterien kritisch beobachtet und ggf. beanstandet wird. Zu den bei nationalen Kontaktpunkten durch NGOs ‚angeklagten‘ Unternehmen zählen Namen wie Fibres and Fabrics International (FFI), Toyota und Continental AG, Adidas und Alcoa Aluminium.2 Alle diese Beispiele machen zweierlei deutlich: Erstens ist die Welt der Arbeit und Produktion im 21. Jahrhundert in einem so starken Ausmaß grenzüberschreitend vernetzt, dass Ereignisse an einem bestimmten Ort Rückwirkungen sogar in den am weitesten davon entfernten Regionen der Welt entfalten können. Für Unternehmen, staatliches Handeln, Gewerkschaften, Internationale Regierungs- und Nicht-Regierungs-Organisationen gilt gleichermaßen: Wer diese hochkomplexen real existierenden Abhängigkeits- und Wirkungsbeziehungen nicht kennt und nicht in sein Handeln einbezieht, wird seine Ziele kaum erreichen können. Alle Beispiele machen aber zweitens auch deutlich, dass entgegen allen Thesen vom entfesselten globalen Kapitalismus und von der vollständig deregulierten internationalen Wirtschaft auch die grenzüberschreitend tätigen Unternehmen und die modernen global player eigentlich nicht regellos schalten und walten können. Auch im 21. Jahrhundert sind Wirtschaftsorganisationen in hochkomplexe und sich weiter entwickelnde Institutionengefüge eingebunden. Diese durchaus wirkungsmächtigen gesellschaftlichen Normen und Regelwerke beschränken

2Vgl. ausführlicher hierzu Abschn. 7.2 und 11.2 sowie die offizielle Website der OECD zu den nationalen Kontaktpunkten sowie die NGO-kritische Begleitung http://oecdwatch.org/ und die gewerkschaftliche OECD-MAI-Website http://www.tuac.org/ und die entsprechende Arbeitgeber-Website http://www.biac.org/, für die gewerkschaftlichen Beschwerdeverfahren vgl. http://www.tuac.org/en/public/e-docs/00/00/01/70/document_doc.phtml.

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sich keineswegs auf nationalstaatliche Gesetze, deren Einflussmöglichkeiten im wahrsten Sinne des Wortes schnell an ihre Grenzen stoßen. Sie beinhalten auch die neuen Formen einer globalen kritischen Öffentlichkeit, die sich z. B. über das Internet sowie über Internationale Regierungs- und Nicht-Regierungs-Organisationen formiert und neue Erwartungen der Legitimation von Unternehmenshandeln setzt. Ein nicht unwesentlicher Faktor für die Dynamik der Finanzkrise im Jahre 2008 war gerade, dass das internationale Finanzsystem weitgehend aus solchen Regulierungs- und Compliance-Strukturen ausgenommen war und in weitgehender Intransparenz gegenüber den verschiedenen Formen öffentlicher, gesellschaftlicher Kontrolle operierte. Betrachtet man die alten und neuen Formen der lokalen, nationalen und grenzüberschreitenden Einflussnahme auf Wirtschaftshandeln jeweils einzeln und isoliert, dann mag man – je nach Standpunkt – die Ohnmacht lokaler Beschäftigtengruppen und nationaler Staaten gegenüber internationalen Konzernen beklagen oder als Befreiung wirtschaftlichen Handelns feiern. In diesem Handbuch wird ein anderer Weg beschritten: Die einzelnen Regulierungsmechanismen, die jeweils für sich genommen wenig gegen grenzüberschreitend aktive und agile Unternehmen ausrichten können, werden als Teilstücke eines emergierenden internationalen Geflechtes von harten Regeln und Normensystemen, ‚weichen‘ nachhaltigen Legitimationserfordernissen, grenzüberschreitenden Kommunikationskanälen und Interaktionszusammenhängen sowie internationalen Akteursnetzwerken vorgestellt und untersucht. Erst diese Sichtweise ermöglicht ein Verständnis der Wechselwirkungen und Dynamiken, die in der Internationalisierung der Regulierung von Arbeit und Beschäftigung liegen. Dieses Buch beschäftigt sich mit Erwerbsregulierung, also mit den formellen und informellen Regeln sowie mit den realen Praktiken und Mechanismen der Festlegung, Kontrolle und Weiterentwicklung der Bedingungen, unter denen Menschen beschäftigt werden, ihre Arbeit verrichten und am Arbeits- und Produktionsprozess beteiligt sind. Diese Muster von Erwerbsregulierung waren seit der Entstehung des industriellen Kapitalismus, also über ein bis zwei Jahrhunderte, vorwiegend nationalstaatlich ausdifferenziert. Überall auf der Welt existieren nationale Arbeitsrechtssysteme, nationale Gewerkschaftsverbände und Arbeitgeberorganisation sowie nationale Mechanismen und Traditionen der Lohnfestlegung, der Arbeitskulturen, der Konfliktaustragung und -schlichtung, der Arbeitszeitfindung und -praxis sowie der Partizipation der Beschäftigten in der Wirtschaft. Entsprechend gibt es durchaus viele Handbücher und Überblickswerke, die in der Tradition der international vergleichenden Forschung und Darstellung nationale Systeme von Arbeitsbeziehungen erläutern und gegenüberstellen.

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Eine wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang, ob sich im Rahmen eines universellen Veränderungsdrucks und von Internationalisierungsprozessen die spezifischen Bedingungen und Modelle einzelner Länder angleichen (Universalismus- bzw. Konvergenzthese) oder ob die nationalspezifischen Kulturen und institutionellen Regulierungssysteme bestehen bleiben und weltweite Herausforderungen gegebenenfalls unterschiedlich verarbeiten (Partikularismus- oder Divergenzthese). In Bezug auf dieses Problem wird hier ein dritter Standpunkt bezogen: Einerseits werden durchaus weltweite oder zumindest immer stärker grenzüberschreitende Herausforderungen und Veränderungskräfte für Arbeit und Beschäftigung wirksam, diese werden aber andererseits nicht zu einer immer homogeneren Landschaft der Erwerbsregulierung führen, sondern entsprechend der jeweiligen nationalgesellschaftlichen Bedingungen unterschiedlich verarbeitet, adaptiert und weiterentwickelt.3 Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Behandlung solcher Phänomene der Erwerbsregulierung, die als transnationale und internationale Strukturen und Prozesse die Grenzen von Nationalstaaten und Nationalgesellschaften überschreiten. Es geht also in erster Linie um sich neu herausbildende, relativ dauerhafte und dichte, grenzüberschreitende Beziehungsgeflechte und nicht um einen klassischen Vergleich von nationalen Systemen der Erwerbsregulierung. Es wird davon ausgegangen, dass die wirtschaftliche Globalisierung von Wertschöpfungsketten und Unternehmensaktivitäten begleitet wird von einem sich durchaus verdichtenden Geflecht von grenzüberschreitenden Beeinflussungspraktiken und Regulierungsmechanismen. Hierbei bilden sich immer stärker mehr oder weniger eigenständige internationale Regulierungstypen heraus, die in den Kap. 7 bis 11 ausführlicher beschrieben werden. Hierzu gehören etwa die globalen Mindeststandards der Menschenrechte und der ‚Millenium Development Goals‘ sowie die auf Arbeit bezogenen Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO-Mindeststandards, Abschn. 7.1), neue Formen der suprastaatlichen Gesetzgebung und Regulierung etwa im Rahmen der Europäischen Union (z. B. zu Euro-Betriebsräten, Abschn. 8.2), zwischen Gewerkschaften und einzelnen Konzernen abgeschlossene Internationale Rahmenabkommen (IFAs, Abschn. 9.3) oder etwa die bereits erwähnten Richtlinien für multinationale Unternehmen der OECD (Abschn. 11.2). Für die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen der Menschen überall auf der Welt werden zunehmend

3Zur

These konvergenter Divergenzen vgl. Katz/Darbishire (2000); zum grundlegenden Argument der konvergenten Divergenz und der divergenten Konvergenz vgl. auch Abel und Pries (2006) und weiter unten Abschn. 5.1).

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aber auch neue Formen produktbezogener Labels und unternehmensbezogener Zertifizierungen (Kap. 10) relevant sowie auch die von den Vereinten Nationen initiierten Maßnahmen freiwilliger Verpflichtungserklärungen grenzüberschreitender Unternehmen (Abschn. 9.1). Schließlich sollen auch internationale Kampagnen wie etwa die Clean Cloth Campaign und die dadurch mögliche Herstellung einer globalen oder transnationalen Öffentlichkeit thematisiert werden (Abschn. 10.3). Über diese sich entwickelnde, emergente Landschaft grenzüberschreitender Erwerbsregulierung liegen inzwischen vielfältigste Einzelstudien und Forschungsergebnisse vor. Dabei werden in aller Regel einzelne dieser Regulierungstypen, Akteursgruppen oder etwa Regionen betrachtet. Lebhafte Diskussionen über den tatsächlichen Regulierungseffekt und -wert einzelner Mechanismen finden sich sowohl in der Wissenschaft als auch unter den Praktikern in Staat, Unternehmen und Verbänden. So etwa existiert die Meinung, dass die ILO-Mindestnormen eigentlich kaum eine regulierende Wirkung für Unternehmens- und staatliches Handeln entfalten. Diese Mindeststandards seien zwar jeweils von der Mehrheit aller Nationalstaaten ratifiziert worden, aber überall dort, wo diese zu einschneidenden Veränderungen in bestimmten Bereichen führen müssten, hätten sich nationale Regierungen gegen eine Ratifizierung bisher erfolgreich gewehrt, wie zum Beispiel beim Thema der Kinderarbeit oder der Gewerkschaftsfreiheit. (vgl. ausführlich Abschn. 7.1). In Bezug auf die OECD-Multinational Guidelines lässt sich von kritischer Seite die Meinung vernehmen, diese seien weitgehend wirkungslos, wenn es um die tatsächliche Offenlegung und Bekämpfung unternehmerischen Fehlverhaltens gehe. Umgekehrt gibt es auch Stimmen aus dem Unternehmerlager, die beanstanden, diese Richtlinien gäben profilierungssüchtigen NGOs nur allzu viele Gelegenheiten, Sand ins Getriebe der Weltwirtschaft zu streuen. Gegen die Internationalen Rahmenabkommen wird eingewendet, hierbei handele es sich fast ausschließlich um unverbindliche Schönwettererklärungen, die keinerlei Überprüfungs- und Erzwingungsmechanismen für die einzelnen Standorte der unterzeichnenden internationalen Konzerne beinhalteten. Kurzum: Zu allen einzelnen Regulierungsarenen und deren spezifischen Instrumenten lassen sich skeptische bis kritische Einwände im Hinblick auf ihre tatsächliche Regulierungswirkung vorbringen. Eine zentrale Überlegung dieses Buches ist allerdings, dass die konkrete Wirkungsweise und die tatsächlichen Effekte der hier zu behandelnden grenzüberschreitenden Regulierungen nicht angemessen abgeschätzt werden können, wenn sie nur als einzelne Maßnahmen oder als isolierte Regulierungstypen betrachtet werden. Vielmehr müssen diese unterschiedlichen Regulierungstypen als in sich schon komplexe Handlungs- und Kräftefelder in einer sich

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entwickelnden und verdichtenden Textur internationaler Erwerbsregulierung verstanden werden. Die Stärke und Wirkung jedes Einzelnen dieser Fäden lässt sich nicht abschätzen, wenn er nur als isolierter Faden betrachtet wird; das Geflecht als Ganzes muss Bezugspunkt für die Analyse und Beurteilung der einzelnen Regulierungstypen sein. Diese Betrachtungsweise verlangt, in komplexeren Netzwerkstrukturen und verschachtelteren Beziehungsgeflechten zu denken, weil nur dies den tatsächlichen Verhältnissen angemessen ist und für alle beteiligten Akteursgruppen (staatliche Einrichtungen, Unternehmen, Internationale Organisationen, Gewerkschaftsverbände, Nicht-Regierungs-Organisationen und andere in diesem Feld Tätige) erfolgreiches Handeln ermöglicht. Deshalb steht die Darstellung der internationalen Regulierungstypen und ihrer jeweiligen Vernetzung untereinander hier im Mittelpunkt. Zu einer angemessenen Behandlung der Internationalisierung von Erwerbsregulierung gehört zunächst einmal eine genauere Darstellung dessen, was unter Erwerbsregulierung im Einzelnen zu verstehen ist. Hierunter fallen Bereiche, die in anderen Zusammenhängen als Industrielle Beziehungen, als Arbeitsbeziehungen oder als Arbeitspolitik bezeichnet werden und die mit den Tätigkeitsbereichen des internationalen Personalwesens in Unternehmen, der staatlichen Arbeits- und Sozialpolitik, den zwischenstaatlichen Internationalen Beziehungen, der internationalen Solidarität von Gewerkschaftsverbänden, der Arbeits- und Sozialpolitik internationaler Arbeitgeberverbände oder der Arbeits- und Menschenrechtspolitik von Nicht-Regierungs-Organisationen zu tun haben (Kap. 2). In Kap. 3 werden dann verschiedene sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte behandelt sowie ein institutionensoziologisch orientiertes Verständnis der Strukturierung von Erwerbsarbeit skizziert. Anschließend werden in Kap. 4 die einzelnen Dimensionen und Aspekte von Erwerbsregulierung erläutert und die breite Varianz der Ausformungen nationaler Regime der Erwerbsregulierung durch Hinweise auf einzelne Länder verdeutlicht. Im Kap. 5 werden die nationalen Regime von Erwerbsregulierung für Deutschland sowie für die zwei hinsichtlich ihrer Bevölkerung – und damit auch in Bezug auf Erwerbsarbeit – größten Länder der Welt, die Volksrepublik China und Indien, in der gebotenen Kürze vorgestellt. Nach diesen Ausführungen zum Verständnis von Erwerbsregulierung und zu deren Variationsbreite in einer internationalen Perspektive wird die Frage nach ihrer möglichen Konvergenz oder Divergenz ausführlicher behandelt (Abschn. 6.1). In diesem Zusammenhang wird eine differenzierte Typologie von Formen der Internationalisierung vorgeschlagen. Denn schon die eingangs erwähnten Beispiele zeigen, dass nicht alle grenzüberschreitenden Phänomene auch globale Beziehungen im Sinne von überall auf der Welt präsenten Beziehungen sind. Globalen Charakter können die Menschenrechte und auch

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die ILO-Mindeststandards beanspruchen. Dagegen beziehen sich die Internationalen Rahmenabkommen nur auf das Geflecht der Standorte der daran jeweils beteiligten Unternehmen. Wiederum andere und durchaus relevante grenzüberschreitende Regulierungsformen beziehen sich auf Makroregionen wie die Europäische Union (z. B. die Direktiven zur Einrichtung von Euro-Betriebsräten) oder Nordamerika (z. B. die arbeitsbezogenen Nebenabkommen im Rahmen des NAFTA-Vertrages). Es werden insgesamt sieben Idealtypen der Internationalisierung vorgestellt, wobei jeweils einige Beispiele für entsprechende erwerbsregulierende Mechanismen und Akteurskonstellationen gegeben werden (Abschn. 6.2). Für das Verständnis und die Behandlung internationaler Erwerbsregulierungsarenen ist auch die Kenntnis der Geschichte, Struktur und Arbeitsweise der dafür relevanten korporativen Akteure von Bedeutung. Hierzu zählen vor allem die spezifischen UN-Einrichtungen wie die ILO, Internationale Organisationen wie die OECD oder die WTO, die Verbände von Gewerkschaften und Arbeitgebern, die internationalen Unternehmen sowie internationale Nicht-Regierungs-Organisationen und neuere internationale Regulierungsassoziationen, wie sie etwa im Rahmen der korporativen Unternehmensverantwortung (corporate social responsibility) entstanden sind (Abschn. 6.3). Die wichtigsten grenzüberschreitenden Regulierungstypen von Arbeit und Beschäftigung werden dann in den Kap. 7 bis 11 vorgestellt. Dabei werden die jeweils dominanten Akteure, die Legitimations- und Kontrolllogiken und die Regulierungsbreite und -tiefe skizziert sowie die Verwobenheit der einzelnen Arenen in die internationale Gesamttextur aufgezeigt. In Kap. 12 werden abschließend die Entwicklungsperspektiven der internationalen Erwerbsregulierung diskutiert.

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Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

Das Thema der Erwerbsregulierung umfasst generell die formellen und informellen Regeln sowie die realen Praktiken und Mechanismen der bewussten und expliziten, interessen- und machtdurchtränkten, individuellen und kollektiven Festlegung, Kontrolle und Weiterentwicklung der materialen Normen und prozeduralen Regeln, unter denen Menschen beschäftigt werden (Beschäftigungsbedingungen), ihre Arbeit konkret verrichten (Arbeitsbedingungen) und am Arbeits- und Produktionsprozess beteiligt sind (Partizipationsbedingungen). Damit nimmt die Sozialwissenschaft der Erwerbsregulierung Theorie- und Forschungslinien aus verschiedenen Einzeldisziplinen und Themenfeldern auf. Die klassische Industrielle-Beziehungs-Forschung (Müller-Jentsch 1997) war vor allem auf die organisierten Interessenaushandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im Rahmen staatlicher Rahmenordnungen fokussiert und konzentrierte sich auf die Untersuchung formalisierter und größtenteils industrieller Normalarbeit in hochindustrialisierten Ländern. Im Mittelpunkt von Studien zur Arbeitspolitik (Jürgens und Naschold 1984) standen die öffentlich-staatlichen Muster von verbandlichen Interessenpolitiken, wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen und staatlichen Ordnungsmustern industriell-kapitalistischer Demokratien. Die sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (Lutz und Sengenberger 1974) integrierte ökonomische und soziologische Theorieperspektiven und empirische Studien zu den Mechanismen der Qualifizierung, Allokation, Gratifizierung sowie horizontalen und vertikalen, betriebsinternen und -externen Mobilität abhängiger Beschäftigter in industriell-kapitalistischen Gesellschaften. Systematische Untersuchungen der Erwerbsorientierungen und Arbeitsverläufe von abhängigen und selbstständigen Beschäftigten in Schwellenländern und im so genannten Informellen Sektor der Wirtschaft (Pries 1997) legen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_2

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nahe, abhängige Erwerbsarbeit differenziert im Rahmen der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Institutionensysteme zu betrachten, in denen sich die unterschiedlichen Typen von Erwerbsarbeit ausformen und strukturieren. Dabei gilt es zu bedenken, dass Erwerbsarbeit keineswegs nur, oft sogar nicht einmal in erster Linie, durch die Formen ihrer kollektiven Regulierung strukturiert wird. In vielen Ländern des Südens, in China, Indien und Mexiko etwa, ist die Mehrheit der Erwerbstätigen nicht im formellen Sektor tätig. Oft sind sogar zwei Drittel bis drei Viertel der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung informell beschäftigt, d. h. sie haben keinen formellen Arbeitsvertrag, sind in keine oder völlig unzureichende Systeme sozialer Sicherung eingebunden, und auch die klassischen Vertretungsorgane von Beschäftigten wie Gewerkschaften haben praktisch keine Bedeutung für die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen. Dennoch sind die Erwerbsbedingungen in diesen Bereichen keineswegs chaotisch und unstrukturiert. Erwerbsarbeit wird überall durch gesellschaftlich wirksame Institutionen strukturiert. Ihre bewusste Regulierung im Sinne spezifischer Regeln, Praktiken und Mechanismen der Festlegung, Kontrolle und Weiterentwicklung der Beschäftigungs-, Arbeits- und Partizipationsbedingungen ist ein Teilaspekt dieses größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs. Deshalb wird im Folgenden zunächst der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang von Erwerbsarbeit dargestellt, in den die Untersuchung der Erwerbsstrukturierung und der Erwerbsregulierung dann eingebettet werden muss (Abschn. 2.1). Anschließend werden fünf soziale Institutionen der Erwerbsstrukturierung in ihren verschiedenen Dimensionen und Aspekten näher erläutert (Abschn. 2.2). Danach werden verschiedene sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte vorgestellt, die für die Analyse von Erwerbsregulierung nutzbar gemacht werden können (Kap. 3).

2.1 Unterschiedliche Kontexte von Erwerbsarbeit Auf der ganzen Welt prägt Erwerbsarbeit das Leben der Menschen. Unter Erwerbsarbeit werden hier all diejenigen Tätigkeiten verstanden, die zielorientiert vollzogen werden und dazu dienen, Einkommen oder Güter zur materiellen Daseinsvorsorge zu generieren. Erwerbsarbeit kann subsistenzorientiert bzw. direkt bedarfswirtschaftlich erfolgen oder aber tauschwirtschaftlich ausgerichtet sein (vgl. Tab. 2.1). Beim ersten Typus steht die Herstellung von Gütern im Vordergrund, welche der unmittelbaren Bedarfsdeckung dienen. Ein großer Teil von Erwerbsarbeit in sich entwickelnden Ländern des Südens ist subsistenzorientierte, hauptsächlich landwirtschaftliche Arbeit. Tauschorientierte individuelle Erwerbsarbeit

2.1  Unterschiedliche Kontexte von Erwerbsarbeit

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Tab. 2.1   Idealtypen von Arbeit Arbeit Erwerbsarbeit zur materiellen Daseinsvorsorge

Nichterwerbsarbeit zur gesellschaftlichen Daseinsvorsorge

Tauschwirtschaftlich

BedarfsEigenarbeit wirtschaftlich

abhängig

z. B. Nahrung z. B. Wohnen

Selbstständig

z. B. künstlerisch

Anerkennungsarbeit z. B. z. B. Wissens- sozial erwerb

z. B. politisch

Quelle: Eigene Ausarbeitung

dagegen zielt vor allem auf die Generierung von Geldeinkommen durch abhängige oder selbstständige Erwerbsarbeit. In diesem Falle dient dann das Einkommen dazu, Verfügungschancen über knappe Güter und Dienstleistungen zu gewinnen. In Kooperativen und Genossenschaften kann tauschorientierte Erwerbsarbeit auch kollektiv organisiert sein (Williams 2007). Neben der Erwerbsarbeit zur materiellen Daseinsvorsorge (des homo oeconomicus) gibt es noch andere Formen von Arbeit, die vor allem der sozialen Daseinsvorsorge dienen. Hier sind etwa die selbstorientierte, häufig kreativ-künstlerische Entäußerungsarbeit (des homo faber und des homo ludens) und die Anerkennungsarbeit bzw. das bürgerschaftliche Engagement (des homo sociologicus und des zoon politikon) zu erwähnen. Während sich schöpferische Arbeit z. B. im Bilder Malen oder Kunstschnitzen äußert, zielt Anerkennungsarbeit auf die Gewinnung von Fremdbestätigung und soziale Integration wie etwa bei ehrenamtlichen Tätigkeiten oder bürgerschaftlicher Arbeit. Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit lassen sich in der Praxis nicht vollständig klar voneinander trennen. Auch in der Erwerbsarbeit spielt – und dies wird nur allzu häufig unterschätzt – neben dem Ziel der Einkommensgenerierung oder Güterherstellung der Aspekt der Anerkennung und Selbstverwirklichung immer eine äußerst große Rolle. Umgekehrt kann auch die Anerkennungsarbeit etwa in der Kirchengemeinde mit dem Ziel verbunden sein, Auftragschancen für die eigene, selbstständige Unternehmung und damit für die Erwerbsarbeit zu verbessern. In vielen Ländern der Welt gibt es auch im 21. Jahrhundert noch Formen gemeinsamer gemeindlicher Arbeit etwa zum Ausbau oder zur Pflege von Straßen, Schulen und anderen Gebäuden oder zur gemeinschaftlichen Ernte auf kollektivem oder öffentlichem Besitz (so die faenas in Mexiko, das gemeinsame Fischen in Indien oder musahip in der Türkei). Wo immer Erwerbsarbeit auf der Welt stattfindet, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Arbeitsleistungen und ihren Erträgen. Während dies in der

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

Subsistenzlandwirtschaft durch die Intelligenz, das Geschick und die Kraft des Arbeitenden selbst sowie die Schicksalsschläge und Einflüsse der Natur bestimmt wird, muss es bei der abhängigen oder selbstständigen Erwerbsarbeit in irgendeiner Weise ausgehandelt bzw. reguliert werden. Die einfachste und grundlegendste Form einer solchen Festlegung des Verhältnisses von Arbeitsleistung und Arbeitsertrag ist der marktliche Tauschvertrag. Unabhängige und souveräne Akteure tauschen genau spezifizierte Arbeitsleistungen gegen festgelegte Geldbeträge, Güter oder andere Arbeitsleistungen. Bei diesem klassischen marktorientierten bzw. marktstrukturierten Tauschmodell wird von mehr oder weniger unabhängigen, souveränen und voraussetzungslosen Tauschpartnern ausgegangen. Unabhängig meint, dass sie von keiner dritten Kraft oder Person abhängig ihre Vertragsentscheidungen treffen können; souverän meint, dass sie in ihrer Existenz, Sicherheit und Wohlfahrt nicht unmittelbar vom Abschluss bzw. der Erfüllung dieses Tauschvertrages abhängen; voraussetzungslos bezieht sich auf die Annahme, dass bei den Vertragspartnern keinerlei institutionalisierte Erwartungen und durch die soziale Umwelt festgelegte Präferenzen vorliegen und es sich damit tatsächlich um einen völlig frei ausgehandelten Vertrag handelt. Während selbstständige Erwerbsarbeit sich dadurch auszeichnet, dass spezifische Leistungen (z. B. die Herstellung eines Möbelstücks) durch schriftlichen oder mündlichen Vertrag fixiert gegen einen bestimmten Geldbetrag getauscht werden, ist das Besondere abhängiger Erwerbsarbeit, dass hier ein längerfristiger Vertrag über die Nutzung von Arbeitsvermögen im Tausch gegen die Zahlung eines bestimmten Arbeitsentgeltes getauscht wird. Wenngleich selbstständige Erwerbsarbeit weltweit von erheblichem Umfang und großer Bedeutung ist, beschäftigt sich dieses Handbuch ausschließlich mit abhängiger Erwerbsarbeit. Diese nimmt in den entwickelten industrialisierten Ländern eine dominierende Position ein und verdrängt auch in vielen sich entwickelnden Ländern des Südens die traditionellen Formen bedarfswirtschaftlicher Arbeit. In einem Land wie Deutschland waren 2014 nur etwa ein Zehntel (11 %) aller Erwerbstätigen selbstständig Beschäftigte. Auch in der Europäischen Union insgesamt machte ihr Anteil im Jahre 2013 mit 16,5 % ebenfalls nur eine kleine Minderheit aller Erwerbstätigen aus, und in allen OECD-Ländern liegt der Anteil selbstständiger Erwerbsarbeit noch leicht unter dem europäischen Wert.1 In vielen sich entwickelnden Ländern des Südens macht selbstständige Erwerbsarbeit häufig die

1Vgl.

OECD (2016), Self-employment rate (indicator). https://doi.org/10.1787/fb58715e-en (Accessed on 06 May 2016) und https://data.oecd.org/emp/self-employment-rate.htm#indicator-chart.

2.1  Unterschiedliche Kontexte von Erwerbsarbeit

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Hälfte aller Erwerbstätigkeit aus. Hier sind die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbsarbeit besonders schwierig zu bestimmen, insgesamt aber lässt sich sagen, dass der Anteil von abhängiger Erwerbsarbeit zunimmt. Aus verschiedenen Gründen ist das bereits skizzierte, an der neoklassischen Ökonomie angelehnte Modell der marktlich strukturierten, freien, souveränen und voraussetzungslosen Aushandlung der Bedingungen für abhängige Erwerbsarbeit unzureichend. Selbst in den hochentwickelten, marktliberalen Ländern wie den USA oder Großbritannien gibt es vielfältige staatliche Regulierungen und Mindestnormen für Erwerbsarbeit und auch dort werden die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vieler Menschen nicht allein individuell, sondern auch durch Kollektivvereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden festgelegt. Individuelle Erwartungen und Präferenzen sind sehr stark geprägt vom gesellschaftlichen Institutionengefüge. In anderen Ländern wie z. B. Deutschland oder Österreich werden die Erwerbsbedingungen äußerst stark von beruflichen Gremien wie Handwerks- oder Angestelltenkammern bestimmt. Für akademische Berufe wie Rechtsanwälte oder Ärzte trifft dies auf eine Vielzahl von Ländern auf der ganzen Welt zu. Besonders in Ländern Lateinamerikas, in China, Indien oder dem Nahen Osten wird dieses Modell der marktlich-vertraglichen Festlegung von Erwerbsarbeitsbedingungen stark durch die besondere Rolle von clanförmigen und familienbezogenen Netzwerkstrukturen relativiert. Hier richtet sich die Qualität eines Arbeitsplatzes oder die Höhe der Entlohnung für einen Beschäftigten weniger nach dessen individueller Aushandlungsstärke, sondern nach seiner Zugehörigkeit zu sozialen und seiner relativen Position innerhalb sozialer Netzwerkstrukturen. Aus Untersuchungen über große Unternehmen ist zudem seit Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt, dass hier betriebsinterne Arbeitsmärkte bestehen, die nach organisationsbezogenen Regeln funktionieren und nicht dem marktlichen Tauschmechanismus unterliegen (vgl. Abschn. 2.2). Zusammengefasst zeigt sich, dass die Festlegung der Bedingungen von abhängiger Erwerbsarbeit keinesfalls nur marktlich-vertragsorientiert erfolgt. Vielmehr spielen soziale Netzwerkstrukturen, die Beruflichkeit von Arbeit, die selbstgesetzten organisationalen Regeln von Großunternehmen und die staatlich-öffentlichen Festlegungen und Vorgaben eine entscheidende Rolle für die Strukturierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. Das einfache neoklassisch-ökonomische Vertragsmodell ist auch aus einer historisch-evolutionsbezogenen Sicht kritisch zu hinterfragen. Der Einwand jedenfalls, bei den zitierten Mechanismen netzwerkförmiger, organisationsbezogener, beruflichkeitsorientierter und öffentlich-staatlicher Strukturierung von Erwerbsarbeit handele es sich gleichsam um ‚Verunreinigungen‘ der ursprünglichen

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

­ ertragssituation lässt sich mit Blick auf die Geschichte leicht entkräften. Denn V nicht der Markt und die unabhängigen, souveränen und voraussetzungslosen Tauschpartner für Erwerbsarbeit stehen am Anfang der Entwicklung von menschlicher Arbeit: Vielmehr haben sich erwerbsorientierte Märkte erst spät entwickelt und durchgesetzt. Die mittelalterlichen Märkte in Europa etwa mussten durch die landesfürstlichen Souveräne genehmigt werden. Arbeit in ihren unterschiedlichsten Formen als Erwerbsarbeit war öffentlich reguliert. Dies gilt für die Gilden und Zünfte, die bestimmte Tätigkeitsbereiche wie etwa Schmieden, Brotbacken oder Schuhe fertigen detailliert in den ihnen vom jeweiligen Landesherren gegebenen Rahmen ausformulierten. Auch in den Ländern des Südens und den sich später industrialisierenden Ländern entwickelte sich die abhängige Erwerbsarbeit nicht aus einem als ‚Naturzustand‘ unterstellten marktlich-vertraglichen System heraus, sondern aus hochgradig öffentlich bzw. gesellschaftlich institutionalisierten Systemen. Hierzu zählen etwa die Haciendas mit ihren quasi leibeigenschaftlichen Encomendadosystemen in Lateinamerika, die Sklaverei in Nordamerika sowie die Plantagenund Zwangsarbeit in den Kolonien. Diese Differenzierungen bezüglich der historischen Entstehung und gegenwärtigen Einbettung von abhängiger Erwerbsarbeit müssen unbedingt beachtet werden. Nur allzu häufig wird der dominierende Fokus auf Erwerbsarbeit bestimmt durch die ökonomisch dominierenden Länder und die dort relevanten bzw. für relevant gehaltenen Erwerbsverhältnisse. Dies bezieht sich vor allem auf das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, wie es aus den hochindustrialisierten Ländern bekannt ist. Gemeint ist hiermit ein mehr oder weniger explizit (z. B. durch einen schriftlichen Arbeitsvertrag) formalisiertes Verhältnis abhängiger Erwerbsarbeit als Vollzeitarbeitsverhältnis mit Abgaben an die öffentlichen Sozialversicherungssysteme (z. B. eine Arbeitslosen-, eine Kranken- und eine Rentenversicherung). Dieses formalisierte und standardisierte Normalarbeitsverhältnis prägte zumindest während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich die Lebenswirklichkeit und die Normalitätserwartungen der überwiegenden Mehrheit der in den hoch industrialisierten Ländern lebenden Menschen. Diese Normalarbeit bestimmte aber niemals die Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Erwerbstätigen auf der Welt. Nach Angaben der ILO leben und arbeiten etwa acht Zehntel der über drei Milliarden Menschen, die weltweit erwerbstätig sind, außerhalb der sogenannten bzw. ehemaligen Ersten und Zweiten Welt, also der früh industrialisierten und der ehemals sozialistischen Länder. Nach der gleichen Quelle ist auch die Mehrheit der weltweiten Erwerbstätigen in informellen Arbeitsverhältnissen tätig, nur etwa zwei Zehntel haben mindestens eine Form sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche. Das Ausmaß an Kinderarbeit ist seit dem neuen Jahrhundert stark zurückgegangen, von etwa 246 Mio. in

2.1  Unterschiedliche Kontexte von Erwerbsarbeit

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2000 auf rund 168 Mio.2 Betroffenen weltweit fast genau so groß wie die tatsächlich vorhandene bzw. geschätzte Normalarbeit in allen industrialisierten Ländern zusammen.3 Schließlich ist bei der Beschäftigung mit Erwerbsarbeit ein weiterer großer Irrtum die Annahme, dass sich diese vorwiegend als dauerhaft stabile und sedentäre Tätigkeit an einem Ort und in einem mehr oder weniger klar abgezirkelten nationalstaatlichen Bezugssystem vollzöge. Völlig zu Recht wird immer wieder betont, dass sich die spezifischen Bedingungen von Erwerbsarbeit vor allem nationalstaatlich ausdifferenzieren und die nationalen Gesellschaftssysteme eine extrem starke Prägekraft für Erwerbsarbeit besitzen. Dieser Aspekt ist von großer Bedeutung und soll im weiteren Verlauf der Darstellung durch die Behandlung verschiedener hoch industrialisierter Länder und neuer dynamischer Schwellenländer unterstrichen werden. Selbst in zwei unmittelbar benachbarten Ländern wie etwa Frankreich und Deutschland unterscheiden sich die Mechanismen und Regeln, die dominanten Akteursgruppen und die Reichweite bestimmter Regelungstypen abhängiger Erwerbsarbeit ganz erheblich. Trotz dieser Bedeutung nationalstaatlicher Systeme der Erwerbsregulierung müssen aber in Zeiten der Globalisierung auch andere Wirkungskräfte Berücksichtigung finden. Bei der Frage der Verlagerung von Produktionsstandorten wird dies unmittelbar deutlich. Die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen etwa in Rumänien oder in China wirken angesichts einer anstehenden Verlagerung von Produktionsteilen z. B. aus Deutschland oder den USA in viel direkterer Weise auf die Erwerbsbedingungen in Deutschland oder den USA, als dies noch vor dreißig Jahren der Fall war. Eine große Herausforderung für die national fixierten Systeme der Erwerbsregulierung besteht gerade darin, dass die realen ökonomischen Wirkungskräfte sich immer weniger an national-gesellschaftlichen Grenzen orientieren. Hinzu kommt eine wachsende internationale Arbeitsmigration, die ebenfalls das klassische Modell von nationalstaatlich regulierter Normalarbeit immer stärker in Zweifel zieht. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) kalkulierte für 2015, dass von den weltweit geschätzten 232 Mio. internationalen Migranten insgesamt neun Zehntel von Arbeitsmigranten und ihren Familien

2Vgl. http://www.ilo.org/global/topics/child-labour/lang--en/index.htm; vgl. zur Kinderarbeit auch die kritischen Erörterungen in Liebel et al. (2008). 3Vgl. Sengenberger (2006, S. 213); UNICEF (2001); als Bericht über Fortschritte in der Eindämmung von Kinderarbeit vgl. ILO (2006).

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

gestellt werden und dass etwa 150 Mio. direkte Arbeitsmigranten waren.4 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die formale Unterscheidung von interner und internationaler (Arbeits-)Migration mitunter wenig über die Veränderungen von Erwerbsund Lebensbedingungen aussagt. Wer etwa innerhalb der EU, z. B. zwischen Deutschland und den Niederlanden oder zwischen Polen und Österreich, aus Arbeitsgründen migriert, zählt als internationaler Arbeitsmigrant. Seine oder ihre allgemeinen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sowie allgemeinen Lebensumstände können dabei relativ ähnlich bleiben im Vergleich zu dem Wandel, den in dieser Hinsicht eine Erwerbsperson erlebt, die vom Land in eine große Industriemetropole etwa in China oder Indien wechselt. Alleine für die Volksrepublik China werden etwa 130 Mio. interne Arbeitsmigranten geschätzt.5 Durch die Internationalisierung von Arbeitsmigration, die zunehmend grenzüberschreitende Organisation von Leistungserstellungsprozessen und Wertschöpfungsketten sowie die Internationalisierung von Wirtschaftsorganisationen werden die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen an einem Ort der Welt immer stärker in Beziehung gebracht zu den entsprechenden Erwerbsbedingungen an anderen Plätzen des Globus. Das Lohnniveau, die Arbeitszeiten, die Stabilität von Arbeitsverträgen, das als normal erachtete Ausmaß an Arbeitsleistungen und die Möglichkeiten der Mitsprache der Beschäftigten, all dies lässt sich nicht mehr allein im lokalen oder nationalen Rahmen angemessen analysieren. Es wird ein Modell von Erwerbsregulierung benötigt, welches einerseits differenziert genug die Feinheiten lokaler und nationaler Strukturen und Prozesse aufnehmen kann und andererseits in seinen grundlegenden Betrachtungsdimensionen allgemein genug ist, um die Vielfalt der Erwerbsregulierung in der Welt angemessen zu berücksichtigen. Bevor sozialwissenschaftliche Theorien der Erwerbsregulierung vorgestellt und diskutiert werden (Kap. 3), gilt es aber zunächst, den weiteren gesellschaftlich-institutionellen Zusammenhang darzustellen, in welchen Erwerbsarbeit eingebettet ist und in dem sie strukturiert wird.

4Vgl.

http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/publication/wcms_436343.pdf und http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_protect/---protrav/---migrant/documents/genericdocument/wcms_220084.pdf. 5Vgl. http://www.cfr.org/china/chinas-internal-migrants/p12943.

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit

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2.2 Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit Wie bereits angedeutet wird Erwerbsarbeit in unterschiedlichen Gesellschaften durch jeweils spezifische Kräftefelder von historisch gewachsenen und recht stabilen sozialen Institutionen beeinflusst und strukturiert. Unter sozialen Institutionen werden hier ganz allgemein sozial (und nicht biologisch) vererbte und erlernte Normen-, Handlungs- und Beziehungsprogramme verstanden werden, die für große soziale Gruppen bestimmte Lebensbereiche strukturieren sowie soziale Identität und Stabilität stiften. Institutionen üben einen „sozialen Zwang“ (Émile Durkheim) aus, dem sich in der Regel niemand entzieht, vor allem, weil die mit der Institution verbundene ‚Handlungsprogrammierung‘ gar nicht als Zwang wahrgenommen wird. Überall auf der Welt wachsen die Menschen mit ihren leiblichen oder anders ‚gefundenen‘ Eltern in einer Familie auf. Die dominanten Formen und Untertypen von Familie können zwar ganz erheblich – im Zeitverlauf und zwischen verschiedenen sozialen Gruppen – variieren, etwa von der bürgerlich-klassischen Zwei-Generation-Kleinfamilie bis zu einer viele Generationen und Verwandtschaftsgrade umfassenden Großfamilie oder Clanstruktur, von einer staatlich und/oder religiös befestigten bisexuellen Lebensgemeinschaft bis zu lebensphasenbezogenen Patchwork-Strukturen verschiedener Geschlechterarrangements. Aber Familie und Elternschaft, in welcher Form auch immer, als das Aufwachsen von Kindern mit einem kleinen und geschützten Kreis gesellschaftlich dafür autorisierter Erwachsener ist die weltweit am meisten verbreitete soziale Institution. Eine andere soziale Institution, die heute für fast alle Menschen auf der Welt selbstverständlich ist und gar nicht hinterfragt wird, ist die Schule oder genereller das ausdifferenzierte Erziehungssystem. Beginnend im 18. Jahrhundert hat sich schon im ausgehenden 20. Jahrhundert das Lernen aller Mitglieder einer Gruppe in dafür speziell geschaffenen Einrichtungen, Schulen und Universitäten, als ein ‚sozialer Zwang‘ institutionalisiert. Die allgemeine Schulpflicht wurde z. B. in Preußen zwar formal 1718 dekretiert, aber wegen des Fehlens von Lehrern allerorten nicht umfänglich umgesetzt (was heute noch für einige Länder des Südens gilt). Es brauchte noch etwa 150 Jahre, bis die allgemeine Schulpflicht auch praktisch umgesetzt, institutionalisiert war. Eine weitere, für unseren Zusammenhang besonders relevante soziale Institution ist die der abhängigen Erwerbsarbeit in dafür spezifisch geschaffenen räumlich-rechtlichen Einheiten, Fabriken und allgemein Wirtschaftsorganisationen. In Deutschland gehen etwa neun Zehntel aller Erwerbstätigen einer abhängigen, formellen, d. h. vor allem sozialversicherungspflichtigen Arbeit in irgendeiner Organisation nach. Das war noch vor hundert

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

Jahren in Deutschland und ist noch heute in vielen Ländern des Südens völlig anders. Für den hier interessierenden Zusammenhang können vor allem fünf Institutionen identifiziert werden, die Erwerbsarbeit idealtypisch besonders stark strukturieren und überall auf der Welt – wenn auch in stark variierenden Mischungsverhältnissen – von Bedeutung sind: soziale Netzwerke, Märkte, Berufe, Organisationen und das öffentliche Regime (siehe Tab. 2.2). Der internationale Vergleich zeigt, dass Nationalgesellschaften sich durch jeweils unterschiedliche und spezifische Mischungsverhältnisse von dominanten und weniger dominanten Institutionen auszeichnen.6 Zwar können sich diese besonderen institutionellen Arrangements im Laufe der Zeit langsam ändern, aber sie weisen in aller Regel doch eine enorme Dauerhaftigkeit über politische und sonstige Konjunkturen hinweg vor. Im Folgenden sollen für jede dieser fünf erwerbsstrukturierenden Institutionen deren historische Entstehungskontexte, die jeweils dominante Handlungsressource, die leitenden Normen und Kommunikationsmedien sowie beispielhaft typische Rahmenbedingungen skizziert werden. Soziale Institution Netzwerk Die wohl älteste soziale Institution, die Arbeit und Erwerb wesentlich bestimmt, ist der familiäre Lebenszusammenhang als primäres soziales Netzwerk. In agrarisch geprägten und vorindustriellen Gesellschaften ist die Trennung von Arbeit und Wohnen/‚Freizeit‘ noch nicht sehr entwickelt. Beides findet gleichsam unter demselben Dach statt. Auch die für modern-industrielle Gesellschaften typische Dreiteilung von Lebensverläufen in Kindheit/Jugend/Ausbildung, Erwerbsphase und Ruhestandsphase war unbekannt. Die Rechte und Pflichten jedes Einzelnen in Bezug auf Arbeit und Erwerb richteten sich nach überlieferten Wertvorstellungen und den Notwendigkeiten des (groß-)familiären Lebenszusammenhangs. Die Institution des sozialen Netzwerks ist durch die dominante Handlungslogik wechselseitiger Verpflichtungen und Gunst sowie durch eine generalisierte und unspezifische Reziprozität und Solidarität gekennzeichnet. Weder fragt unter ‚normalen‘ Bedingungen der ‚mithelfende Familienangehörige‘ explizit nach dem Lohn für seine (z. B. Ernte-)Arbeit, noch fragt die Mutter nach dem Geldwert und der spezifischen Gegenleistung ihrer Kinderbetreuungs- und Altenpflegearbeit.

6Vgl.

allgemein Pries (2005); zu Beschäftigungsordnungen vgl. Heidenreich (2004); zu Geschlechterregimes und Arbeit vgl. Pfau-Effinger (2000); Lenz (2007).

Organisationales/posi- Organisationale Normen/ tionales Kapital Interessen; Loyalität/ begrenzte Reziprozität

Politisches Kapital

Organisation

Öffentliches Regime

Quelle: Eigene Ausarbeitung

Kulturelles Kapital

Beruf

Generelle Normen- und Regelorientierung, staatl. Zwang

Berufsehre, wissenschaftliches Wissen und Ethos

Ökonomisches Kapital Wettbewerb, Optimierung individ. Gewinn; Interesse

Markt

Wechselseitige Verpflichtungen und Gunst; generalisierte Reziprozität

Handlungsnorm

Soziales Kapital

Handlungsressource

Soziales Netzwerk

Soziale Institution

Bestimmungsdimension

Tab. 2.2   Fünf Erwerbsarbeit strukturierende Institutionen

Gesetze, Kollektive Verträge, Vereinbarungen; moderner Bürger-Status

contested terrains, widerstreitende Interessen

Rollenübernahme und Formelle/informelle Funktionsausübung Normen; Hierarchie, Anordnung, Entscheidung

Zertifikate, Ehre/Reputa- Individuengebundene, tion, Zünfte traditioneller standardisierte Ressourcen Status

Geld; Äquivalententausch; Berechenbare, anonym Vertrag tauschbare Güter

Vertrauen, nichtmonetari- Nichtstandardisier- und sierter Tausch; traditionel- nichtquantifizierbarer Austausch, affektuelles ler Status framing

Kommunikationsmedium Kontext/setting

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit 21

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

Das wichtigste Medium, in dem Ansprüche und Erwartungen an Arbeit und Erwerb im institutionellen Kontext der Familie kommuniziert werden, ist Vertrauen im Sinne einer nicht formalisierten und unspezifischen Erwartungshaltung und Tauschbeziehung. Nach Marschall (1964) bestimmt im familiären Lebens- und Arbeitszusammenhang nicht der Vertrag, sondern der Status die Erwerbsbedingungen und das Erwerbshandeln in einem Kontext nicht standardisierten und nicht quantifizierbaren Austauschs. Dieser Austausch ist langfristig ausgerichtet: jüngere Menschen erbringen in der Erwerbsarbeit Vorleistungen, die sie im Alter von den nachwachsenden Generationen zurückzubekommen erwarten. Die bestimmende Ressource, die Menschen im Rahmen der sozialen Institution Familie ansammeln und mobilisieren, lässt sich in Anlehnung an Pierre Bourdieu (1982, 1985) und James Coleman (1988) als soziales Kapital bezeichnen. Dieses ist ‚gespeichert‘ in den sozialen Beziehungen zwischen Menschen als wechselseitige Erwartungshaltungen von Bekanntheit, Vertrauen, Solidarität und Hilfe. Es ist in Grenzen auf andere bzw. weitere spezifische soziale Beziehungen transferierbar, aber – da in personalen Beziehungen erworben – nicht beliebig anonym tauschbar oder zu ‚horten‘ wie etwa Geld. In vielen Ländern werden familienähnliche soziale Netzwerkbeziehungen durch Patenschaftssysteme geknüpft. So werden in Mexiko zum Beispiel durch das sogenannte compadrazgo-System soziale Beziehungsnetzwerke aufgebaut, indem nicht direkte leibliche Verwandte, sondern Bekannte oder Arbeitskollegen eingeladen werden, die Patenschaft etwa bei der Entlassung eines Kindes aus der Grundschule, der Sekundarschule oder des Gymnasiums, bei der Hochzeit oder anderen feierlichen Gelegenheiten zu übernehmen. Paten gehen damit gewisse Fürsorge- und Beistandsverpflichtungen für ihre ‚Patenkinder‘ ein. Patenkinder und deren Eltern mobilisieren die Ressource des durch das compadrazgo-System akkumulierten sozialen Kapitals regelmäßig bei dem schwierigen Übergang vom Ausbildungssystem in das Erwerbssystem, indem sie die compadres um Beistand und Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche bitten. Häufig versuchen Familien wegen dieser erwerbsrelevanten Funktion des compadrazgo-Systems, für ihre Familienangehörigen Paten zu finden, die eine privilegierte Position (etwa Vorgesetzte) im Erwerbssystem innehaben (Nutini und Bell 1989; Pries 1997). Eine sehr starke Bedeutung haben in China die sozialen Netzwerke der Guanxi als Beziehungsgeflechte, über die auch Geschäftskontakte und Arbeitskarrieren organisiert werden (Yeung und Tung 1996). Auch in Russland spielen Clanstrukturen als soziale Netzwerke (und auch das öffentliche Regime) für die Wirtschaft generell und speziell für Erwerbsarbeit eine mindestens so wichtige Rolle wie rein marktlich-vertragliche Beziehungen. Dies zeigte sich im letzten

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit

23

Jahrzehnt immer wieder an Wirtschaftspotentaten, die in ihren jeweiligen sozialen Netzwerkstrukturen in Ungnade gefallen waren. Im Hinblick auf die Strukturierung von Arbeit und Erwerb hat die Institution des sozialen Netzwerks keineswegs nur für traditionale, agrarisch geprägte oder spät industrialisierte Länder eine zentrale Bedeutung. Sie gilt sowohl für primäre, auf Familienbanden gegründete soziale Netzwerke als auch für sekundäre Netzwerkbeziehungen als dauerhafte, auf Vertrauen und unspezifischen Reziprozitätserwartungen basierende (aber nicht notwendig familienbasierte) Kooperationszusammenhänge. Dies zeigt sich z. B. an der nicht zu unterschätzenden Bedeutung von primären und sekundären Netzwerkbeziehungen in den weltgrößten Automobilkonzernen (die Familienclans der Toyoda und Ohno bei Toyota, die Ford-Familie für das gleichnamige Unternehmen, die Quandt-Familie für BMW und der Piech-Porsche-Clan bei Volkswagen). Sekundäre soziale Netzwerkbeziehungen sind in vielen Ländern z. B. für die Arbeitssuche sehr bedeutsam: Einstellungen erfolgen für die unterschiedlichsten Berufspositionen häufig aufgrund von Empfehlung durch Bekannte und Freunde, die bereits in der einstellenden Organisation tätig sind oder dorthin enge Beziehungsnetzwerke pflegen (z. B. Deeke et al. 1987). Soziale Institution Markt Neben der sozialen Institution der Familie ist auch der Markt eine über mehr als ein Jahrtausend durch Habitualisierung und symbolisch-normative Explizierung gewachsene soziale Institution. Etymologisch bereits im Lateinischen mit dem Sinngehalt von ‚Handel treiben‘ verbunden wurde ‚market‘ etwa im England des 13. Jahrhunderts zunehmend zum Begriff für die räumlich und zeitlich aus den sonstigen Lebensvollzügen abgetrennte Veranstaltung des Anbietens und Erwerbens von Gütern als Waren. Neben den direkten Naturalientausch trat zunehmend der Warenhandel und -austausch mittels Geld als neuem Tauschmittel in der Form von in der Regie der jeweiligen territorialen Souveräne (Kaiser, Könige, Fürsten, freie Städte) geprägten Münzen. Geld als das wichtigste Kommunikationsmedium in der Institution Markt hat den großen Vorteil seiner fast beliebigen Akkumulierbarkeit. Dies kennzeichnet auch das ökonomische Kapital als die hauptsächliche Handlungsressource der Markt-Institution, die beliebig transferier- und akkumulierbar ist. Die grundlegende Handlungsnorm, die den Markt als soziale Einrichtung bestimmt, besteht im Verfolgen des individuellen Eigennutzes durch Tauschoperationen. Dabei treffen sich Individuen aufgrund ihrer gemeinsamen Tauschinteressen (und nicht wegen dauerhafter sozialer Bindungen), um einen raum-zeitlich begrenzten Austausch im wechselseitigen

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

I­nteresse zu organisieren.7 Marktliche Austauschbeziehungen sind im Gegensatz zu familiären Austauschbeziehungen quantifizier- und berechenbar und auf unmittelbar-kurzfristige, explizite Reziprozität ausgerichtet. Im Realtausch wechselt ‚Ware gegen Ware‘ den Besitzer, seit vielen Jahrhunderten allerdings existiert auch der monetäre Tausch ‚Ware gegen anerkanntes generalisiertes Zahlungsmittel‘ (z. B. Geld oder Muscheln). Eine zentrale Bedeutung als erwerbsstrukturierende Institution gewann der Markt erst mit dem industriellen Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert. Bis dahin waren hauptsächlich bestimmte, von den jeweiligen politischen Souveränen freigegebene Güter als Waren auf dem Markt getauscht worden. Historisch waren also Märkte nicht der ursprüngliche und quasi natürliche Vergesellschaftungszusammenhang, wie es z. B. nicht selten neo-klassische ökonomische Theorien und das Menschenbild des homo oeconomicus nahe legen. Sie mussten als soziale Aktionsräume vielmehr gegen den Widerstand und die Kontrollansprüche der jeweiligen politischen und sozialen Machthaber errungen werden. Märkte haben deshalb historisch immer schon andere soziale Institutionen vorgefunden, die das Alltagsleben der Menschen und auch deren Arbeits- und Erwerbshandeln strukturierten. In einer historisch-soziologischen und wirtschaftssoziologischen Perspektive sind Märkte in komplexe Institutionengeflechte eingebundene soziale Veranstaltungen. Erst mit der Auflösung von Leibeigenschaft, Sklaverei und z. B. kolonialen Encomendado-Systemen (als modernen Formen von Arbeits- und Residenzverpflichtungen) und mit der Ausbreitung moderner Lohnarbeit im Kapitalismus wird Arbeitskraft und Arbeitsvermögen (und nicht wie im Sklavenhandel die Arbeitskräfte als ganze Menschen) zu einer marktgängigen Ware. Die Besonderheit dieser neuen Ware Arbeitskraft gegenüber anderen Typen von Waren ist, dass sie als marktfähiges Arbeitsvermögen nicht von ihrer Trägerin oder ihrem Träger, also den konkreten handelnden Personen getrennt werden kann. Mit dem modernen Kapitalismus eroberte sich die Marktlogik einen immer größeren Bereich in der Strukturierung von Arbeit und Erwerb. Erwerbsgelegenheiten ergaben sich nun nicht mehr ausschließlich oder vorwiegend durch den Besitz von Land, im ausschließlich familiären Lebenszusammenhang oder durch persönliche Gnadens- und Gefälligkeitsbeziehungen. Erwerbssuchende konnten – und mussten – ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten nun direkt als Arbeitsvermögen den Unternehmern als neuem Sozialtypus anbieten. Je nach den marktlichen Knappheitsverhältnissen konnten die Erwerbschancen sehr stark variieren.

7Das

komplizierte Verhältnis von Interessen und Ideen kann hier nicht vertieft werden, vgl. etwa Münnich (2011).

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit

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Dass der Markt auch in der modernen Gesellschaft nur eine und nicht die einzige soziale Institution ist, die abhängige Erwerbsarbeit strukturiert, zeigt ein Blick auf die gegenwärtige Weltwirtschaft und verschiedene Länder. So belegen alle Länder dieser Welt den Warenhandel mit irgendwelchen Formen von Zöllen. Indien wendet einen Importzoll von etwa 13,5 % an, die USA von nur 3,5 % und die EU von immerhin 5,3 %, die Spitzenzölle für bestimmte Waren liegen meistens weit höher. Textil- und Bekleidungsgüter belegen die USA mit einem Importzoll von 7,9 % und die EU im Durchschnitt mit 6,6 %; für Agrargüter kassiert die EU einen Importzoll von immerhin 12,2 %, ein Umstand, der regelmäßig Proteste in den potenziellen Exportländern von Agrargütern hervorruft.8 Der Grad der Durchdringung der Wirtschaft durch staatliche Einflussnahme ist in Russland und China sehr hoch, auch in Frankreich hat die soziale Institution des Marktes einen gegenüber dem öffentlichen Regime eingeschränkteren Stellenwert als etwa in Deutschland oder England. In den USA schließlich gibt es bestimmte Branchen mit einer sehr starken marktlichen Strukturierung von Erwerb und Wirtschaft (z. B. Lebensmitteleinzelhandel), während der Markt in anderen Bereichen wie etwa der Rüstungsproduktion nur eine sehr eingeschränkte Rolle spielt. Soziale Institution Beruf Eine dritte soziale Institution, die mindestens genauso alt ist wie der Markt, ist das gesellschaftliche Normengerüst der Beruflichkeit von Arbeit. Im Rahmen gemeinschaftlich-arbeitsteiliger Lebensvollzüge wurden schon seit Jahrtausenden bestimmte Gruppen von gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten zu spezifischen Tätigkeits- und Qualifikationsbündeln zusammengefasst und meistens auch bestimmten Personengruppen zugeordnet. Beck et al. (1980) (Kapitel II) entwickeln die Beruflichkeit von Arbeit als eine zur ‚familialen‘ und zur ‚feudalen‘ alternativen dritten Organisationsform von Arbeitsvermögen, deren Bedeutung sich unter den Bedingungen entwickelter Warentauschverhältnisse und der Marktförmigkeit auch von Arbeitskraft extrem erhöht hat: „Unabhängig von und gewissermaßen ‚quer‘ zur üblichen Unterscheidung der jeweiligen Inhalte, Funktionen und Tätigkeiten der Arbeitsteilung hat sich eine neue Unterscheidung nach verschiedenen (historischen) Organisationsformen von Arbeitsvermögen bewährt, zu denen neben der ‚familialen‘ und ‚feudalen‘ insbesondere eben die berufliche

8Vgl.

INSM (2007, S. 36 f.) und für die hier aufgeführten Daten vom Mai 2016 https:// www.wto.org/english/res_e/statis_e/statis_bis_e.htm?solution=WTO&path=/Dashboards/MAPS&file=Tariff.wcdf&bookmarkState={%22impl%22:%22client%22,%22params%22:{%22langParam%22:%22en%22}}.

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

gehört.“ (Beck et al. 1980, S. 40, Hervorhebung im Original). Berufe können allgemein als spezifische und typische, sozial standardisierte Tätigkeitsbündel verstanden werden. Diese Bündelung bestimmter Tätigkeiten im arbeitsteiligen gesellschaftlichen Lebenszusammenhang ergibt sich historisch als vielschichtiger Prozess von Ausdifferenzierung, Spezialisierung, Abschottung, Standardisierung und Normierung. Aus dem alltagsweltlichen Lebensvollzug werden bestimmte Tätigkeiten ausdifferenziert und an spezifische Gruppen von Personen gleichsam delegiert: So kümmern sich etwa die Köhler um die Zubereitung des in früheren Zeiten so lebenswichtigen Brennstoffs Holzkohle; die Verarbeitung von Leder für Pferdegeschirre wird ebenso aus dem Jedermanns-Tätigkeitsbereich ausgegliedert wie später die Produktion von Brot und anderen Backwaren. Bestimmte Personengruppen können sich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie des produktionsbezogenen Wissens spezialisieren und hierdurch wiederum die soziale Berechtigung ihres ausdifferenzierten Tätigkeitsbereiches stabilisieren (etwa Ärzte als Monopolisten für bestimmte Heilverfahren oder Elektriker als allein Autorisierte, bestimmte elektrische Anschlüsse vorzunehmen). Spezialisten für bestimmte Tätigkeitsbereiche schließen sich in Gremien, vor allem in Europa im Mittelalter zu Gilden zusammen, welche zunehmend den Zugang zu diesen Berufen und zu den damit verbundenen Wirtschafts- und Erwerbstätigkeiten regeln und kontrollieren. Ein spezielles Ausbildungswesen, die Lehre, sorgt nicht nur für die Abschottung dieser jeweiligen Erwerbstätigkeiten gegenüber Nicht-Ausgebildeten, sie führt auch zu einer Standardisierung von Wissen, Arbeitsvollzügen und Arbeitsleistungen. Schließlich ist die Entstehung der Beruflichkeit von Arbeit auch unmittelbar mit der Etablierung spezifischer Normen verbunden, die sich als Arbeitsethik sowohl auf die funktionale Arbeits- und Erwerbstätigkeit beziehen, als auch in der gesamten individuellen Lebensführung und im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang die soziale Positionierung, den Status und die (berufsständische) Ehre zuweisen. In einer soziologischen Perspektive ist hervorzuheben, dass es sich bei „Berufen um gesellschaftlich normierte und institutionalisierte Zusammensetzungen und Abgrenzungen der zu Erwerbszwecken einsetzbaren Arbeitsfähigkeiten von Personen handelt; als institutionalisierte Strukturbestände erscheinen diese Berufe als den einzelnen Personen vorgegebene Schablonen, nach denen ihr Arbeitsvermögen ‚gebündelt‘, spezialisiert, definiert und von Generation zu Generation weitergegeben wird“ (Beck und Brater 1977, S. 19; vgl. ausführlich Beck et al. 1980). Berufe entstanden in Europa schon im Mittelalter in manuellen und handwerklichen Tätigkeitsbereichen. Als akademische Professionen haben sie sich vor allem seit der Aufklärung in modernen Gesellschaften weltweit

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit

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v­ erbreitet; in anderen Formen spielen ihre Vorläufer natürlich in allen menschlichen Verflechtungsbeziehungen und seit allen Zeiten – etwa als Geistliche, Schamanen, Medizinmänner etc. – eine bedeutsame Rolle. Die Beruflichkeit von Arbeit als gesellschaftliche Institution ist auch im 21. Jahrhundert in sozio-technischer, sozialökonomischer, sozialrechtlicher und sozio-kultureller Hinsicht von nicht zu unterschätzender Bedeutung (Fürstenberg 2000). Wenn man für die Institution Familie das soziale und für die Institution des Marktes das ökonomische Kapital als wichtigste Handlungsressource bestimmen kann, so lässt sich für die Beruflichkeit von Arbeit und Erwerb das kulturelle Kapital angeben. Kulturelles Kapital wird bei Bourdieu (1983) in die drei Untertypen des objektivierten kulturellen Kapitals (z. B. Kunstgegenstände oder Bücher), des institutionalisierten kulturellen Kapitals (z. B. zertifizierte Bildungsabschlüsse oder Doktortitel) und des inkorporierten kulturellen Kapitals (z. B. Fertigkeiten oder Kenntnisse) differenziert. Beruflichkeit von Arbeit bezieht sich auf das institutionalisierte und auf das inkorporierte kulturelle Kapital, also auf Wissen, Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten, die – sofern es sich um Beruflichkeit im engeren Sinne handelt – durch entsprechende Organisationen oder Verfahren zertifiziert sind. Der Gesellen- oder Meisterbrief etwa sind in Deutschland solche Zertifikate, die von den Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern vergeben werden. Berufe als soziale Institution strukturieren Erwerbshandeln und generell wirtschaftliche Aktivitäten, indem etwa die Berufszertifikate gleichsam als Währung und Ausweis für bestimmte Fähigkeiten zur Erledigung ganz spezifischer Tätigkeitsbündel angesehen werden – sowohl von den ‚Anbietern‘ als auch den ‚Nachfragern‘ von Arbeitsvermögen. Zertifikate dienen also als wichtiges Kommunikationsmedium der Beruflichkeit von Arbeit. Beruflich-professionelle Arbeit wird stärker als z. B. überwiegend marktlich oder familiär strukturierte Arbeit von den Normen des ‚Berufsethos‘ und allgemein dem Streben nach beruflich-professioneller Reputation als gesellschaftlicher Anerkennung bestimmt (Fürstenberg 2000). Selbstverständlich ist die Beruflichkeit von Arbeit in jeder Erwerbsgesellschaft auch in die Zwänge von Einkommenserwerb und Geldwirtschaft eingebunden. Gleichwohl ist die dominante Handlungslogik und Handlungsnorm der sozialen Institution Beruf nicht die Maximierung individueller und monetärer Gewinne, sondern das Befolgen spezifischer Berufsnormen und das Streben nach Berufsehre und Ansehen. Die Arbeits- und Erwerbsnormen zum Beispiel eines Hochschullehrers können sich von denen eines marktlich agierenden Weiterbildners oder Beraters dadurch unterscheiden, dass ersterer vorwiegend nach zusätzlichem Wissen, Berufsehre und Reputation strebt und sich letzterer vor allem an dem Ausnutzen ökonomischer Gelegenheiten ausrichtet.

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

Nach Fürstenberg (2000) impliziert die Berufsförmigkeit von Erwerbsarbeit wesentlich mehr als nur die Fragen von Qualifikationsbündelungen und -erwerb. Berufsförmige Arbeit betrachtet Fürstenberg als das Organisationsprinzip von gesellschaftlichem Zusammenleben schlechthin. Sie repräsentiert ein Koordinationsmodell von Wirtschaft und Erwerb insgesamt, welches eine Alternative zum rein staatlichen Steuerungsmodell einerseits und zum rein marktliberalen Wettbewerbsmodell andererseits ist. Dieses dritte Modell bezeichnet Fürstenberg als Solidarleistungsgesellschaft oder Kooperationsmodell: „Stärker an sozialen Strukturzusammenhängen einer sicher herausbildenden ‚Bürgergesellschaft‘ orientiert ist das Kooperationsmodell, das weder vom Individuum noch vom Staat als Steuerungsinstanz ausgeht, sondern von sozialen Netzwerken, von Leistungszusammenhängen, in denen die Menschen solidarische Mitverantwortung übernehmen“ (ebd., S. 115). Beispiele für solche Formen kollektiv-solidarisch organisierter Erwerbsarbeit finden sich in vielen sich industrialisierenden Ländern des Südens, so etwa in Taxi- oder Markt-Kooperativen Lateinamerikas, Afrikas oder Indiens (vgl. z. B. Pries 1997). Auch der seit einem halben Jahrhundert erfolgreiche Komplex unterschiedlichster Kooperativen im nordspanischen Mondragón kann als Beispiel dienen (Whyte und Whyte 1991). Soziale Institution Organisation Historisch war neben der Familie, dem Markt und dem Beruf auch die Gebundenheit von Arbeit und Erwerb an Organisationen von großer Bedeutung (Türk et al. 2002). Vor allem mit dem Aufkommen des modernen Fabrikwesens entwickelten sich spezifische, jetzt organisations- und nicht mehr (nur) berufsdefinierte Anforderungen an Arbeitsplätze sowie Mechanismen der Qualifizierung, der Entlohnung sowie der horizontalen und vertikalen Mobilität von Arbeitskräften. Diese Anforderungen und Definitionen waren also weder in erster Linie marktlich, d. h. durch die Angebots- und Nachfrageverhältnisse auf den externen Güter- und Arbeitsmärkten, noch vorwiegend beruflich bestimmt, sondern durch die betrieblich-organisationsgebundenen Regeln und Gewohnheiten geprägt. Besonders in den Ländern, in denen die Beruflichkeit von Arbeit keine so starke Tradition hatte (etwa Frankreich, vor allem aber in den USA) entwickelten sich die so genannten betriebsinternen Arbeitsmärkte als wichtige Ergänzungen oder gar Alternativen zu den erwerbsstrukturierenden Institutionen des Berufs und des Marktes. Diese betrieblichen Arbeitsmärkte brachten Vorteile für die drei wichtigsten Akteursgruppen Staat, Unternehmer und Arbeitnehmer. In agrarischen Lebenszusammenhängen sozialisierte Arbeitssuchende konnten in den entstehenden Fabriken auf den untersten Stufen von Qualifikationsanforderungen unmittelbar

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit

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Tätigkeiten aufnehmen, ohne vorher lange Ausbildungszeiten zu durchlaufen. Durch learning by doing und training on the job konnten sie schrittweise ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbauen und in der betrieblichen Aufstiegsleiter – vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Expansion – durchaus beachtliche Aufstiegsmobilität realisieren. Die Beschäftigten mussten nicht – wie häufig im Rahmen beruflicher Ausbildungssysteme üblich – in längeren Qualifizierungsphasen auf Einkommen verzichten, sondern konnten direkt im Produktionsprozess ‚normale‘ Löhne und Qualifikationen erwerben. Für die Unternehmen war vorteilhaft, dass die Qualifikationen der Arbeitskräfte sehr spezifisch an die betrieblichen Bedürfnisse angepasst waren, dass sie den Teil der ‚Stammbelegschaften‘ durch die Aussicht auf innerbetriebliche Karriereleitern binden und motivieren konnten und dass sie nicht umfangreiche gesonderte Ressourcen in die Qualifizierung der Arbeitnehmer investieren mussten, weil die Anlernung vorwiegend durch aufeinander aufbauende Positionssequenzen in der Arbeit erfolgte. Der Staat schließlich war ebenfalls von den Aufgaben größerer Investitionen in ein gesondertes arbeitsorientiertes (berufliches) Bildungswesen entbunden und konnte – in Übereinstimmung mit dem liberal-politischen Credo – die Wirtschaft der Gesellschaft weitgehend sich selbst überlassen. Für die USA (Kerr 1954; Kerr et al. 1960), für Westeuropa (Maurice et al. 1979, 1980; Lutz 1976) und für spät industrialisierte Länder (Pries 1997) wurden ausführlich die Entstehung und die Funktionen solcher internen Arbeitsmärkte untersucht. In der Regel bestehen Eingangsschleusen in die Betriebe auf der untersten Stufe von Qualifikationsanforderungen; über diese werden die Beschäftigten aus dem so genannten betriebsexternen oder sekundären Arbeitsmarkt rekrutiert. Jenseits dieser betrieblichen Einstiegsarbeitsplätze werden dann aber alle frei werdenden Stellen (vacancies) nicht nach dem marktlichen Prinzip von Angebot und Nachfrage oder nach einem beruflichen Prinzip besetzt, sondern nach den innerhalb des Betriebes verabredeten Normen. Alle Arbeitsplätze in einem Unternehmen sind dann im Idealfall jeweils einer spezifischen vertikalen Aufstiegslinie zugeordnet, welche die Arbeitsplätze ähnlicher Tätigkeitsinhalte und unterschiedlicher, hierarchisch angeordneter Qualifikationsniveaus zusammenfasst (z. B. Hilfsschweißer, angelernter Schweißer, Schweißer, besonders erfahrener Schweißer, Spezialschweißer). Diese Aufstiegslinien sind wesentlich am Prinzip der Seniorität ausgerichtet, dem zufolge ein freiwerdender Arbeitsplatz demjenigen zusteht, der sich in der jeweils zutreffenden Aufstiegslinie in der darunter angesiedelten Qualifikationsstufe befindet und dort bereits am längsten tätig war. Wie auch immer und von wem im Einzelnen die Bestimmungen der betriebsinternen Arbeitsmärkte ausgestaltet waren (durch einseitiges Dekret der Unternehmensleitung, durch die gewerkschaftliche Kontrolle der externen Rekrutierung

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

und internen Arbeitsplatzmobilität oder durch beiderseitige formalisierte Verhandlungen), sie entwickelten sich mit dem industriellen Kapitalismus und der in Fabriken organisierten Lohnarbeit zu einem äußerst wichtigen, eigenständigen Bestimmungsgeflecht von Arbeit und Erwerb. Die dominante Handlungslogik und -norm dieser erwerbsstrukturierenden Institution Betrieb waren und sind die durch die Organisation gesetzten betrieblichen Regeln und nicht die marktliche Logik von individueller Gewinnoptimierung, nicht die familiäre Norm diffuser langfristiger Reziprozitätserwartungen und auch nicht die berufliche Norm einer arbeitsinhaltlichen berufsständischen Bindung. Organisation als soziale Institution bezieht sich vielmehr auf begrenzte und spezifizierte Reziprozität. Wichtige Kommunikationsmedien für die Koordination von arbeitsteiligen Leistungsprozessen sind die Hierarchie, Anordnung und Entscheidung im Rahmen organisationaler Gebilde. Der Handlungskontext wird nicht vorwiegend emotional-affektuell wie in der Familie, nicht anonym-atomisiert wie beim Markt und nicht durch Statusorientierung wie im Falle des Berufes bestimmt, sondern durch die Rollenübernahme und Funktionsausübung im Organisationskontext. Die wichtigste Handlungsressource, die im Rahmen von betrieblicher Erwerbsstrukturierung mobilisiert und kontrolliert wird, könnte man als organisationsgebundenes positionales Kapital bezeichnen. Hiermit sind die Rechte, Ansprüche, Erwartungen und Kompetenzen gemeint, die den Organisationsmitgliedern durch ihre jeweilige Positionierung innerhalb des organisationalen Gefüges erwachsen und die nicht auf andere Organisationen, wohl aber auf andere Personen als Positionsinhaber übertragbar sind. Soziale Institution Öffentliches Regime Die fünfte soziale Institution, die für die Strukturierung und Regulierung von Erwerbsarbeit von großer Bedeutung ist, wird hier als öffentliches Regime9

9Der

Regime-Begriff wird hauptsächlich in der Politikwissenschaft und hier speziell dem Bereich der Internationalen Beziehungen verwendet; er soll im Zusammenhang dieses Handbuchs generell komplexe Figurationen von Handlungsorientierungen und -praktiken der Interessenaushandlung kennzeichnen. Krasner (1983, S. 2) unterschied vier regimekonstituierende Elemente: Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren: „Regimes can be defined as sets of implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors’ expectations converge in a given area of international relations. Principles are beliefs of fact, causation, and rectitude. Norms are standards of behavior defined in terms of rights and obligations. Rules are specific prescriptions or proscriptions for action. Decision-making procedures are prevailing practices for making and implementing collective choice.“ Rittberger (1995, S. 10) und Wolf

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit

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bezeichnet. Sie bezieht sich auf Dynamiken der Strukturierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen, die im Rahmen von nationalstaatlichen, supranationalen oder völkerrechtlichen Souveränitätsansprüchen und durch die Bezugnahme auf das Gemeinwohl bzw. generalisierte Normen, Regeln und Verfahren ‚öffentlich‘ legimitiert sind. Wenn man an moderne wohlfahrtsstaatliche Regulierungen von Arbeit und Beschäftigung denkt, wird unmittelbar deutlich, wie stark staatliche bzw. öffentliche Normen und Regeln (in der Form von Gesetzen, Tarifverträgen, Vereinbarungen etc.) alle Menschen in ihrem Erwerbsleben betreffen. Diese Strukturierung reicht von der zeitlichen Dimension (Mindestalter für Erwerbstätigkeit, Renten- und Pensionsaltersgrenze etc.) über vielfältigste Arbeits-, Gesundheits- und Beschäftigungsschutzvorschriften, über mit formaler Erwerbsarbeit verbundene und obligatorische Abgabensysteme für Arbeitslosen-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen bis hin zu gesetzlichen und kollektivvertraglichen Normen und Regeln bezüglich der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sowie der Partizipationschancen von Erwerbstätigen. Darüber hinaus sind aber auch supranationale Regelsetzungen (z. B. die europäische Richtlinie zur Einführung von Euro-Betriebsräten von 1994) und Mechanismen für deren Überwachung (z. B. durch den Europäischen Gerichtshof) zumindest in einigen Weltregionen von zunehmender Bedeutung. Schließlich gehören zum öffentlichen Regime auch die global auf der Ebene der ‚internationalen Völkergemeinschaft‘ verabschiedeten und von den Nationalstaaten anerkannten Richtlinien und Mindeststandards (z. B. die UNO-Deklarationen und ILO-Mindeststandards). Die Strukturierung von Arbeit und Erwerb im Rahmen eines öffentlichen Regimes ist freilich keine Erfindung des modernen Wohlfahrtsstaates, sie reicht vielmehr über Jahrtausende zurück bis zur Entstehung von politischen Souveränen überhaupt. Besonders ausgeprägt war in Europa die staatliche Normierung von Arbeit und Erwerb im Mittelalter, wobei sich dieses Vorschriften- und Vertragswesen keineswegs auf die mit dieser Zeit üblicherweise assoziierte agrarisch-feudale Welt beschränkte. Besonders aufschlussreich ist hier – neben der

(1994) fügten als fünften Bestandteil effectiveness als ein „Verhaltenselement der Regeleinhaltung“ hinzu und betonten, dass „ohne ein Mindestmaß an Effektivität i. S. der Regeleinhaltung nicht von der Existenz eines Internationalen Regimes gesprochen werden [kann, L. P.]. Ein Internationales Regime ist also immer mehr als eine vertragliche Vereinbarung, es ‚lebt‘ nur dann, wenn eine Bereitschaft der beteiligten Akteure erkennbar ist, die vereinbarten Verhaltensnormen auch anzuerkennen und davon ausgehende ‚Spiel‘-regeln einzuhalten“ (ebd., S. 423 f.).

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

Regelung des Marktrechts, des Münzprägerechts, der Regulierung des Warenverkehrs (nicht nur durch Könige und Landesfürsten, sondern auch durch reichsfreie Städte wie z. B. das mittelalterliche Stapelrecht der freien Reichsstadt Köln) oder den Auflagen bezüglich der Ausübung bestimmter Berufe durch die jeweiligen Territorialsouveräne – der mittelalterliche Bergbau. Bergbauliche Aktivitäten gab es in Deutschland schon im frühen Mittelalter. Nach dem beginnenden Abbau von Eisenerzen im Erzgebirge war der Kupfer- und Silberbergbau im Harz im späten Mittelalter ein lukratives, technisch hoch entwickeltes und durch die jeweiligen Welfenkönige und Landesfürsten hochgradig reguliertes Geschäft. Die sogenannten Bergfreiheiten gewährten zu einer Zeit, als Arbeit und Erwerb der meisten Menschen durch Leibeigenschaft bestimmt war, den Bergarbeitern sehr weitgehende Rechte (etwa der Bewegungsfreiheit, der Nutzung von Wasser, Grund und Boden sowie der Abhaltung von Märkten, vgl. Ließman 1997, S. 19). Die Struktur der sogenannten Gewerkschaften als der frühen Formen von Aktiengesellschaften war ebenso minuziös durch die Landesfürsten geregelt wie die Arbeitsorganisation, die Entlohnung sowie generell die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bergleute durch die landesfürstlich eingesetzten Bergämter. „Für den hannoverschen Teil des Oberharzes wurde 1672 per Reglement von Herzog Johann Friedrich das sog. Direktions-Prinzip erlassen. Das Clausthaler Bergamt bekam dadurch die alleinige Betriebsleitung der Gruben und Hütten in die Hand, das gesamte Forstwesen unterstand ebenfalls der Bergbehörde und auch gegenüber Polizei- und Stadtverwaltung war das Amt mit besonderen Befugnissen ausgestattet. (…) Nahezu 200 Jahre lang regierte das Clausthaler Bergamt als Beauftragter des Landesherren den Oberharz als Bergwerksstaat. Mit einer Fülle von Verordnungen und Erlassen wurde auf fast alle Bereiche des täglichen Lebens direkt oder indirekt Einfluss genommen mit dem Ziel, den zum Betrieb der Gruben erforderlichen Personalbestand zu sichern. Die in den Bergfreiheiten des 16. Jahrhunderts verankerten Rechte wurden eingeschränkt und existierten bald nur noch auf dem Papier“ (Ließmann 1997, S. 22 und 24; vgl. auch Radday 2002, S. 22 ff.).

Das öffentliche Regime als erwerbsstrukturierende Institution ist also nicht erst seit der modernen Industriegesellschaft und war vor dieser auch nicht nur für den Bereich der agrarisch-feudalen Arbeit von Bedeutung. Auch das mittelalterliche Gildenwesen und das System reichsfreier Städte mit einer ausdifferenzierten, bürgerlichen, öffentlich-politischen Sphäre und Normen- und Regelsetzungs- und -kontrollkompetenz sind Vorläufer der modernen sozialen Institution öffentlicher Regime. Entscheidend ist dann allerdings, dass mit dem aufkommenden industriellen Kapitalismus neue Verbände und kollektive Organisationen der bedeutsamer werdenden Erwerbsklassen der Unternehmer und der Arbeiter entstanden.

2.2  Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit

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Die Koalitionsfreiheit als Grundlage für die dauerhafte und stabile Bildung von Arbeitgeber- und Arbeitervereinigungen wurde vom sächsischen Staat 1861, vom preußischen Staat 1869 (Reichsgewerbsordnung § 152) und schließlich nach der Gründung des Deutschen Reiches durch die Reichsgewerbeordnung von 1872 für ganz Deutschland zugestanden. Aus dem staatlichen Monopol der Normen- und Regel-Dekretierung für die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen differenziert sich in Deutschland und vielen anderen europäischen Gesellschaften immer stärker ein öffentliches Regime der Erwerbsregulierung in der Triade von Staat, Kapital und Arbeit heraus. Diese Entwicklung verlief historisch also genau umgekehrt zu einer durchaus verbreiteten, vor allem angelsächsisch geprägten, aber für Deutschland keinesfalls angemessenen Sichtweise, nach der die staatliche Durchdringung und Regulierung der Arbeits- und Beschäftigungssphäre erst – gleichsam als Befriedungsmaßnahme – eingesetzt habe, nachdem sich die kollektiven Akteursgruppen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände machtvoll im öffentlichen Raum etabliert hätten. Das öffentliche Regime der Erwerbsstrukturierung war zunächst ein staatlich-hoheitliches und differenzierte sich erst später mit der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie zum pluralen Dreieck aus den Kollektivakteuren von Staat, Kapital und Arbeit aus. Es befindet sich gegenwärtig in einer noch weitergehenden Ausdifferenzierung nach Akteursgruppen (neuere soziale Bewegungen, nicht der traditionellen Triade unmittelbar zurechenbare Nicht-Regierungs- und Nicht-Profit-Organisationen wie z. B. Greenpeace oder Attac) und räumlichen Bezugsebenen (lokal, regional, national, supranational und global). Die hier öffentliches Regime genannte soziale Institution öffentlicher und kollektiver Normen- und Regelorientierung reicht in ihren tatsächlichen Kontinuitätslinien und historisch-sozialen Wurzeln weit hinter den industriellen Kapitalismus und den modernen Wohlfahrtsstaat zurück. Gemeinsam ist den nach Ländern und im Zeitverlauf variierenden spezifischen Ausprägungen dieser erwerbsstrukturierenden Institution öffentliches Regime, dass sie alle auf der dominanten Handlungsressource politischen Kapitals beruhen. Politisches Kapital als Legitimitätsgeltung und Chance der Machtausübung und Interessendurchsetzung ist die entscheidende Ressource, die das Kräftefeld dieser sozialen Institution bestimmt und von den kollektiven Akteuren mobilisiert wird. Politisches Kapital ist weder positions- noch organisationsgebunden, sondern immer ein auf öffentlichen Beziehungen zwischen kollektiven Akteuren beruhendes Potenzial als Beeinflussungschance und -beziehung. Die als ‚normal‘ erwarteten Logiken des Handelns sind die Orientierungen an materialen Normen und prozeduralen Regeln. Gesetze, Tarif- und andere Kollektivverträge sowie (Betriebs-)Vereinbarungen sind die wesentlichen Kommunikationsmedien im Rahmen des öffentlichen Regimes der Erwerbsstrukturierung. Dabei ist

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2  Zur Gesellschaftlichen Einbettung von Erwerbsarbeit

zu berücksichtigen, dass der Handlungskontext durch eine Legitimitätsordnung des Kräftemessens und des Aushandelns divergenter Interessen durch entsprechende Interessenverbände bestimmt ist (durch Berufsverbände, Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen). Konflikt und Kooperation widerstreitender Akteursgruppen sind also die als legitim anerkannten und charakteristischen Handlungskontexte dieser sozialen Institution. Die für diese soziale Institution wichtigsten Kommunikationsmedien sind die durch Machtsetzungen, Interessenaushandlungen und -kompromisse möglichen Rechtsnormen und -systeme in Form von Gesetzen, Verträgen und Vereinbarungen. Zusammengefasst zeigt sich, dass auch jenseits der Erwerbsregulierung als der Regeln, Praktiken und Mechanismen der Festlegung, Kontrolle und Weiterentwicklung der Bedingungen, unter denen Menschen beschäftigt werden (Beschäftigungsbedingungen), ihre Arbeit konkret verrichten (Arbeitsbedingungen) und am Arbeits- und Produktionsprozess beteiligt sind (Partizipationsbedingungen) die Erwerbsarbeit genuin gesellschaftlich beeinflusst und strukturiert ist. Die erwerbsstrukturierende Institution der Familie und des sozialen Netzwerks ist letztlich so alt wie die Menschheit selbst; die Institution des Berufes hat sich bereits mehreren tausend Jahren (etwa in Form von Händlern, später Medizinern, Schreibern etc.; vgl. Beck et al. 1980, Kapitel II; Reinisch und Götzl 2011, S. 21 ff.) herausgebildet; Ähnliches gilt für die Institutionen des Marktes und des öffentlichen Regimes.10 Im Vergleich zur Strukturierung von Erwerbsarbeit durch (diese) Institutionen ist die Erwerbsregulierung wesentlich jüngeren Datums. Zwar gibt es Vorläufer etwa in den Zünften, aber die Formen und Akteure der expliziten Regulierung von Erwerbsarbeit – wie öffentliche Arbeitsbehörden, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Nicht-Regierungsorganisationen und soziale Bewegungen, internationale Standards, Organisationen und Monitoringsysteme – haben sich erst mit dem industriellen Kapitalismus vor allem seit dem 19. Jahrhundert entwickelt. Einige ausgewählte sozialwissenschaftliche Theorien der Erwerbsregulierung werden im folgenden Kapitel vorgestellt.

10Vgl.

als erste Orientierung zu Berufen https://de.wikipedia.org/wiki/Beruf; zu Märkten https://de.wikipedia.org/wiki/Marktsoziologie#Aktuelle_Vertreter_der_Marktsoziologie_ im_deutschsprachigen_Raum.

3

Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Während die Perspektive der Erwerbsstrukturierung und ihrer sozialen Institutionen auf das generelle gesellschaftliche Kräftefeld ausgerichtet ist, in dem und durch das Arbeit und Beschäftigung wesentlich geprägt werden, liegt der Fokus der Erwerbsregulierung auf der bewussten und expliziten, interessen- und machtdurchtränkten, individuellen und kollektiven Aushandlung, Festlegung und Kontrolle materialer Normen und prozeduraler Regeln der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen. Ein Teil dieses Gegenstandsbereiches wird traditionell mit Begriffen wie Industrielle Beziehungen, Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Arbeitsbeziehungen oder industrielle Arbeitsbeziehungen bezeichnet. Insgesamt besteht dabei eine große Definitionsbreite bis hin zur Begriffsbeliebigkeit sowohl in allgemeinen Nachschlagewerken als auch in spezialisierten Einführungs- oder Überblickswerken vor. Nach einer kurzen Darstellung und Kommentierung ausgewählter Definitionen und Begriffsverwendungen von Industriellen Beziehungen (Abschn. 3.1) werden Begründungen für die Erweiterung dieses Forschungsprogramms hin zur Erwerbsregulierungsforschung gegeben (Abschn. 3.2). Daran schließt sich eine Darstellung und Diskussion relevanter theoretisch-paradigmatischer Ansätze für die Erwerbsregulierungsforschung an (Abschn. 3.3 und 3.4).

3.1 Zum Begriff und Konzept Industrieller Beziehungen Der Begriff Industrielle Beziehungen ist eine wörtliche Übersetzung der englischen Bezeichnung industrial relations. Die Etablierung der Industrial-Relations-­ Forschung begann in den 1920er Jahren in den USA und dann seit den 1930er Jahren in Großbritannien (Frege 2008, S. 36 f.). Die relativ breite Verwendung des © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_3

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Begriffs Industrielle Beziehungen in der Soziologie, aber auch in den Arbeits-, Wirtschafts-, Politik- und Rechtswissenschaften korreliert keineswegs mit einem einheitlichen und präzisierten Begriffsinhalt und -verständnis. Dies soll am Beispiel einiger der seit den 1980er Jahren angebotenen Definitionen in Nachschlagewerken und Lexika gezeigt werden. Hillmann (1994, S. 362) klärt den Begriff Industrielle Beziehungen folgendermaßen: „Industrial Relations (engl.), ‚industrielle Beziehungen‘, die Gesamtheit der Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen, d. h. das System von Regeln, nach denen die Arbeitgeber- u. Arbeitnehmerseite ihre bes. Interessen artikulieren, konfrontieren, aushandeln u. institutionalisieren.“ Hier wird der Akzent also auf Industrial Relations als Regelsystem (und weniger auf die Aspekte der tatsächlichen Praxis und Mechanismen) der Regulierung von Interessen gelegt. Während der Begriff Arbeitsbeziehungen häufig in einem sehr allgemeinen und weiten Sinne für alle sozialen Beziehungen in der Arbeit Verwendung findet, grenzt Hillmann den Begriff Arbeitsbeziehungen sehr stark für einen Teilbereich der Industrial Relations ein (ebd., S. 468): „Labour Relations (engl.), ‚Arbeitsbeziehungen‘, amerik. Bezeichnung f. jenen Teil der Industrial Relations, der die überbetriebl. Beziehungen zw. den Arbeitgeberverbänden u. den Gewerkschaften umfasst.“ Im Lexikon zur Soziologie (Fuchs et al. 1988, S. 112) und bei Reinhold (2000, S. 288) wiederum wird das Konzept der Industriellen Beziehungen sehr eng nur auf den Aspekt der über einzelne Betriebe hinausreichenden Konfliktregelung beschränkt: „industrial relations: Industriebeziehungen, industrielle Beziehungen: sie umfassen die Regelungen von strukturellen Konflikten, die über den einzelnen Betrieb hinausreichen und die am Produktionsprozess beteiligten Gruppen betreffen. Insbesondere werden die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vertraglich bestimmt (z. B. Lohnverhandlungen).“ Wie schon bei Hillmann (1994) wird auch hier in der Betonung auf die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen der Staat als Akteur der Industriellen Beziehungen weitgehend marginalisiert. Für Müller-Jentsch (1989, S. 27 f.) sind „die Begriffe Arbeitsbeziehungen oder industrielle Beziehungen […] – in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen mittlerweile synonym verwandte – wörtliche Übersetzungen aus dem Englischen (Labour Relations, Industrial Relations). […] Arbeitsbeziehungen bezeichnen ganz allgemein die ökonomischen Austauschprozesse und sozialen Konfliktbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit (in einem Betrieb, einem Wirtschaftszweig oder einem Land) sowie die aus diesen Interaktionen resultierenden Normen, Verträge und Institutionen.“ Abgesehen von der nicht unproblematischen Gleichsetzung von Labour Relations, Industrial Relations, Arbeitsbeziehungen und Industriellen Beziehungen wird hier eine sehr breite

3.1  Zum Begriff und Konzept Industrieller Beziehungen

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Begriffsdefinition vorgeschlagen, denn die „ökonomischen Austauschprozesse […] zwischen Kapital und Arbeit“ (Entlohnungsfragen, Lohntheorien, ‚Ausbeutungsverhältnisse‘ etc.) gehen ja weit über den unmittelbaren Bereich der Regulierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen hinaus. Ausdrücklich betont wird von Müller-Jentsch auch der kollektive Charakter der Industriellen Beziehungen: „Arbeitsbeziehungen haben die kollektive Regelung von Arbeitsverhältnissen als Brennpunkt (d. h. die Auseinandersetzungen und Kompromisse über die Festsetzung von Beschäftigungs-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen von Kollektiven abhängig Beschäftigter).“ (ebd., S. 28, Hervorhebung im Original, vgl. sinngemäß Müller-Jentsch 2002). Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive unterscheidet Himmelmann (1987) verschiedene Ansätze der sozialwissenschaftlichen Forschung über Arbeitsbeziehungen. Eine sozial- und gewerkschaftskritische Denkschule (z. B. Joachim Bergmann, Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch, Wolfgang Streeck et al.) habe zunächst die ‚Zentralisierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik‘ und die ‚Verrechtlichung der industriellen Beziehungen‘ kritisiert und in Dichotomien wie ‚Sozialpartnerschaft oder Klassenkampf‘ sowie ‚Konflikt und Kooperation‘ argumentiert, dann aber nach 1982/1983 die eigenen Positionen einer kritischen Revision unterzogen. In einer eher funktional-strukturellen Perspektive hätten andere Autoren (Carl Hinrichs, Helmut Wiesenthal et al.) in Anlehnung an Theorien rationaler Wahlentscheidungen (rational choice), öffentlicher Güter und Verbändestrukturen die Gewerkschaften und Unternehmerverbände in ihren widersprüchlichen Anforderungen hinsichtlich der Mitgliederinteressen und der Erhaltung der Systemrationalität thematisiert. Wiederum andere Autoren hätten in Anlehnung an lohntheoretische Überlegungen eine Theorie des collective bargaining zu entwickeln versucht oder aber sich eher phänomenologisch dem Themenfeld der Arbeitsbeziehungen genähert. Die angelsächsische Industrial-Relations-Forschung fassen Jary und Jary (1991) in einem soziologischen Lexikon zusammen und definieren zunächst industrial relations als „the relations between employees and employers, and the study of these relations“ (ebd., S. 232). Mit dieser Definition, die im Wesentlichen mit den weiter oben vorgestellten von Hillmann (1994), Fuchs et al. (1988) und Reinhold (2000) übereinstimmt, wird der Gegenstandsbereich der Industriellen Beziehungen einerseits auf die Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen eingeschränkt, also die Bedeutung staatlicher Interventionen, des öffentlichen Regimes insgesamt oder auch von Nicht-Regierungsorganisationen marginalisiert. Andererseits wird er erheblich über den engeren Rahmen der Aushandlung und Kontrolle der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen hinaus auf das Gesamt der Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen ausgedehnt. Denn

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

zu letzteren gehören ja z. B. auch alle Aspekte der Arbeitsorganisation, also der horizontalen und vertikalen Verteilung und Koordination aller Aufgaben und Tätigkeiten oder der Personalarbeit insgesamt. Jary und Jary (ebd.) führen dann im Hinblick auf die vorherrschenden Paradigmen der Industrial-Relations-Forschung vor dem Hintergrund der Erfahrung für Großbritannien aus: „In stressing the need to consider employment relationships within the dynamics of capitalist society, a key feature of which is the way the conflict between capital and labor is expressed in class relationships and state activity, Marxists have produced valuable insights and broadened the study of industrial relations. Nevertheless, this perspective also has its critics. Crouch (1982), for example, suggest that some Marxists underplay the constant choices about goals and means that employees have to make, while attempts to ascribe industrial conflict to class relations is unconvincing. Clearly, the resurgence of forms of unitarism in the 1980s also indicates a continuing debate about balance of power in industrial relations.“

In Großbritannien war, anders als in den USA, das marxistische Paradigma in der Industrial-Relations-Forschung bis in die 1980er Jahre vorherrschend. Demnach wurden die Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen als ein Teil der allgemeinen Klassenbeziehungen und des Klassenkampfes in der industriell-kapitalistischen Gesellschaft verstanden. Mit den Regierungen von Margret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA drangen dann mit Macht auch andere theoretische Paradigmen in die Industrial-Relations-Forschung vor: „In the late 1980s the neoliberalist policies being pursued in Britain, theoretically underpinned by the writings of Hayek and Friedman, are founded on marked distrust of both corporatist institutions and labor unions, and express the view that many industrial relations problems derive from excessive use of power by union officials. (MacInnes 1987) Debate between competing theories led Fox (1965) to distinguish between unitarist and pluralist perspectives. In the unitarist perspective, cooperation is normal and organizational efficiency and rationality reside in managerial prerogative; conflict is seen as irrational and due to communications problems, agitators, etc. Pluralists, in contrast, regard conflicts between legitimate interest groups as normal, but resolvable through mutually advantageous collective bargaining procedures. This approach, exemplified in the Donovan Commission (1968), underpinned several reforms to British industrial relations in the 1970s, but has been subjected to several criticisms, for example: (a) that in focussing on the failure of industrial relations institutions to regulate conflict, PLURALISM neglected the inequalities of power and advantage that generate conflict in the first place (…); (b) that corporatist or Marxist theories provide a better account of industrial relations (see CORPORATISM)“ (ebd., S. 232 f., Hervorhebung im Original).

3.2  Von der Industrial-Relations-zur Erwerbsregulierungsforschung

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Mit den in diesem Zitat gelieferten Charakterisierungen sind wesentliche paradigmatische Ansätze der Forschung benannt. Diese werden im übernächsten Abschn. 3.3 ausführlicher behandelt. Zuvor ist die Erweiterung von der Industrial-Relations- zur Erwerbsregulierungsforschung darzustellen und zu begründen.

3.2 Von der Industrial-Relations-zur Erwerbsregulierungsforschung Die Notwendigkeit, den Forschungsbereich von der klassischen Fokussierung auf Industrielle Beziehungen auszuweiten, ergibt sich aus verschiedenen Gründen. Einige haben mit Defiziten zu tun, die bereits seit deren Etablierung bestanden, andere beziehen sich eher auf die veränderte Welt des 21. Jahrhunderts. Im Jahre 2010 wurde der Name der bereits 1966 gegründeten International Industrial Relations Association (IIRA) durch die Bezeichnung International Labour and Employment Relations Association (ILERA) ersetzt. In der Begründung für die Umbenennung heißt es: „When the IIRA was established in 1966, the founding members hailed mostly from English speaking countries. At the time, the label industrial relations referred to relations between employers and workers, with a focus on relations in unionized companies and in the public sector. Since 1966 the range of issues covered at IIRA congresses has broadened. (…) The Association has also become increasingly relevant in developing countries where many persons work in the informal economy. Over the years, the association has broadened the scope of subject matter to issues such as the transnational movement of labour, non-standard work, labour market regulation and trade and labour standards, and discrimination in employment. Many felt that there was a need for our name to reflect this new world of work, the broader subject matter and the reality of developing country labour markets. The new name refers to labour to include all those who work whether in paid employment, self employment or the care economy. It covers people and work – and not only work. It also aligns the Association more clearly with the International Labour Organization including the very broad range of subject matter found in ILO conventions. The term employment relations is used to describe all types of workplace relations and is intended to be broader than the industrial or manufacturing sector.“1

Wesentliche Argumente für eine Erweiterung von der Industrial-Relations zur Erwerbsregulierungsforschung sind in dem Zitat zusammengefasst. Vier

1http://www.ilo.org/public/english/iira/about/index.htm

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

­ ichtungen dieser Erweiterung sind dabei hervorzuheben. Erstens wird mit dem R Begriff Erwerbsregulierung zunächst eine Ausdehnung über das klassische Feld kollektiver Aushandlung, Konfliktaustragung und Festlegung intendiert. Kollektive Regulierung – mit dem Ergebnis gesetzlicher, tarifvertraglicher und betrieblicher Normen und Standards – stand während des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Industrielle-Beziehungs-Forschung. Tatsächlich hatte industrielle und tayloristische Massenarbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sehr vielen Ländern – vor allem des Nordens – eine herausragende Bedeutung. Für diesen Bereich spielte kollektive Interessenregulierung durch die klassischen Interessenverbände (Gewerkschaften, Arbeitsgebervereinigungen) eine große Rolle. Allerdings waren die entsprechenden Formen kollektiver Erwerbsregulierung auch schon im 20. Jahrhundert nicht vorherrschend im Bereich etwa kleinbetrieblicher und handwerklicher Arbeitsverhältnisse. Mit der quantitativen und qualitativen Zunahme qualifizierter Dienstleistungs- und Wissensarbeit in netzwerkförmigen oder auch in großbetrieblichen Strukturen, aber auch mit der Expansion von Alleinselbstständigen in quasi-abhängiger Erwerbsarbeit (etwa in Logistiksektor) ist der kollektive Modus von Interessenaushandlung nicht mehr unbedingt der dominante Mechanismus für die Festlegung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen. Neben kollektiver Erwerbsregulierung durch dafür legitimierte und spezialisierte kollektive Akteure gewann einerseits die individuelle Aushandlung an Gewicht, andererseits wurde die öffentlich diskursive Aushandlung und Kontrolle von Erwerbsbedingungen etwa durch Konzepte der corporate social responsibility (CSR) und entsprechender Mechanismen der gesamtgesellschaftlichen Rechenschaftslegung und Legitimation immer bedeutsamer (vgl. ausführlich Kap. 9 und 10). Die zunehmende Bedeutung dieser diskursiven Regulierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen äußert sich z. B. in den freiwilligen Deklarationen von Mindeststandards der unternehmerischen Arbeitspolitik wie etwa im Rahmen der Global Compact-Initiative der Vereinten Nationen oder in den vielfältigen Initiativen von Nicht-Regierungsorganisationen, über produktbezogene Labels (wie Fair Trade oder Clean Clothes) auch die Arbeitsund Personalpolitik von Unternehmen zu beeinflussen. Individuelle Regulierung von Arbeit und Beschäftigung hatte neben der im Industrial-Relations-Paradigma vorrangig betrachteten kollektiven Erwerbsregulierung schon immer eine große Bedeutung; diskursive, indikatororientierte und eher indirekte (weil nicht notwendig in erster Linie von den unmittelbar am Produktionsprozess beteiligten Akteursgruppen ausgehandelte oder überwachte) Regulierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen dürfte sich im 21. ­Jahrhundert zu einer der vielleicht wichtigsten Formen der Erwerbsregulierung entwickeln.

3.2  Von der Industrial-Relations-zur Erwerbsregulierungsforschung

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Eine zweite Erweiterung der Industrielle-Beziehung-Forschung im Konzept der Erwerbsregulierung bezieht sich auf die Aspekte von Beteiligung, Partizipation und Mitbestimmung der Beschäftigten an relevanten Entscheidungen und am betrieblichen Leistungserstellungsprozess selbst. Diese Fragen spielten in der arbeitssoziologischen und Industrial-Relations-Forschung in den meisten frühindustrialisierten Ländern keine besonders große Rolle, wohl aber in der deutschsprachigen Mitbestimmungs- und Beteiligungsforschung (Apel 1969; Naphtali 1966; Fürstenberg 1975; Dörre 2001). Für ein Land wie Deutschland mit einer ausgeprägten Tradition betriebsverfassungsrechtlich abgesicherter Partizipationschancen war und ist eine enge Fixierung der Industriellen Beziehungen auf die Aspekte der Arbeits- und der Beschäftigungsbedingungen nicht angemessen. Aber auch für andere Länder gewinnen mit der Bedeutungszunahme von qualifizierter Wissensarbeit, die nicht mehr hinreichend über die traditionellen Kontrollformen gesteuert werden kann, und von neuen dezentralen Organisationsformen die Fragen einer angemessenen Einbeziehung der Beschäftigten in alltägliche und strategische Entscheidungsprozesse an Bedeutung. Dies gilt schließlich auch für europäische Regelungen im Rahmen der Euro-Betriebsrats-Richtlinie und im Hinblick auf die Informations- und Beteiligungsrechte der Beschäftigten in der neuen europäischen Kapitalgesellschaftsform societas europeae (vgl. Kap. 8). Dies verweist unmittelbar auf eine dritte Erweiterung der Forschungsperspektive Industrieller Beziehungen, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, die Mechanismen und Logiken der Regulierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen im Zeitalter von Globalisierung und Transnationalisierung in ein komplexeres Kräftefeld als das der nationalstaatlichen Arbeitspolitiken einzubetten. Die Dynamik der Aushandlungen etwa von Arbeitszeitflexibilisierung oder Leistungszumutungen auf der betrieblichen Ebene lässt sich häufig überhaupt nicht angemessen erklären und verstehen, ohne auf die Konkurrenz des entsprechenden Betriebes mit anderen Betrieben des gleichen Konzerns oder mit eigenständigen Unternehmen in anderen Ländern und Erdteilen zu nehmen. Umgekehrt kann auch für eine lokale Situation der Erwerbsregulierung (z. B. in Polen, Ungarn oder Indien) der Rekurs auf globale (Mindest-)Standards oder auf Elemente der europäischen Erwerbsregulierung (wie z. B. Euro-Betriebsräte oder EU-Direktiven und Richtlinien) für die beteiligten Akteursgruppen eine mindestens ebenso wichtige Bedeutung haben wie nationale oder lokale Einflussbedingungen. Auch für den Bereich der Erwerbsregulierung ist also der methodologische Nationalismus (Wimmer und Glick Schiller 2002; vgl. Kap. 5) zu überwinden und müssen Mehrebenenanalyseperspektiven – je nach dem spezifischen Forschungsgegenstand – entweder in den Vordergrund rücken oder aber zumindest systematisch einbezogen werden.

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Eine vierte Begründung und Richtung der Erweiterung der Industrial-Relations-Forschung bezieht sich auf deren Beschränkung auf die Problemstellungen früh industrialisierter Länder. Industriell-kapitalistische, formalisierte abhängige Erwerbsarbeit, die im Fokus dieser Forschung stand, hatte und hat etwa für die OECD-Länder eine durchaus große Bedeutung. Man kann sogar sagen, dass das dort vorherrschende Normalarbeitsverhältnis (Mückenberger 1985 und 1986) für einige Jahrzehnte eine Strahlkraft auch weit jenseits des engeren Bereiches seiner Gültigkeit gehabt hat. Allerdings haben sich die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen des weit überwiegenden Teils der weltweit Erwerbstätigen schon immer von den Bedingungen dieses Normalarbeitsverhältnisses stark unterschieden (Dombois und Pries 1994). Erwerbsregulierungsforschung muss in diesem Zusammenhang Begrifflichkeiten, Theorien und Methoden entwickeln, die diesem erweiterten Wirklichkeitsbereich angemessen sind. Aus seiner angelsächsischen Tradition hat sich der Begriff der Industriellen Beziehungen nie wirklich lösen können. Zudem kann er nicht als allgemein anerkannter Oberbegriff für solche Forschungsbereiche wie die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, die Mitbestimmungsforschung, die Arbeitspolitik, die arbeitsorientierte Verbändeforschung etc. gelten. Er steht eher für die Phasen der industriell-frühkapitalistischen Entwicklung und der wohlfahrtsstaatlichen Massenproduktion der 1950er bis 1980er Jahre in den früh industrialisierten Ländern, als für die Wirklichkeit der Erwerbsregulierung in den spät industrialisierten Ländern oder gar für die Wissensarbeit und Dienstleistungsarbeit des 21. Jahrhunderts. Auf der Grundlage einer Revision einschlägiger internationaler Publikationen zum Themenfeld Industrielle Beziehungen und Erwerbsregulierung (Hyman 1989; Müller-Jentsch 1997; Poole 1986; Blyton et al. 2008) werden im folgenden Abschnitt relevante Paradigmen als wissenschaftlich-theoretische Rahmungen behandelt.

3.3 Paradigmen der Erwerbsregulierung Bereits in dem Abschn. 3.1 waren in dem längeren Zitat von Jary und Jary (1991) verschiedene Bezeichnungen für paradigmatische Rahmungen der Industrial-Relations-Forschung genannt worden: unitaristische und pluralistische Konzepte, marxistische und korporativistische Konzepte. Als unitaristisch lässt sich vor allem die systemtheoretische Perspektive charakterisieren, nach der Gesellschaften und Organisationen als soziale Systeme zunächst nach Funktions-, Rationalitäts- und Effizienzaspekten gegliederte ganzheitliche Struktur- und Ablaufmuster bilden. Konflikte und Machtasymmetrien sind darin konzeptionell

3.3  Paradigmen der Erwerbsregulierung

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zunächst nicht vorgesehen. Diese sind dagegen Ausgangspunkt in pluralistischen Paradigmen. Ebenso wie Gesellschaften als Ganze sind auch die Wirtschaft und deren Organisationen jeweils von einer Vielzahl unterschiedlicher Interessengruppen geprägt, die durch bestimmte Mechanismen – wie z. B. demokratische Wahlen und parlamentarisches System oder Tarifverhandlungen – ausgeglichen werden. Grundsätzlich lassen sich auf den Bereich der Erwerbsregulierung alle relevanten sozialwissenschaftlichen Paradigmen anwenden wie etwa Handlungs- oder Strukturtheorien, Systemtheorie oder Marxismus. In der historischen Entwicklung sind einige Paradigmen besonders intensiv für den Bereich der Regulierung von Erwerbsarbeit ausdifferenziert worden. Müller-Jentsch (2008) schlug eine Unterteilung in Systemtheorie, Marxismus, Institutionalismus, Handlungstheorie, Strukturationstheorie und ökonomische Ansätze vor. Diese ist – ebenso wie jede andere – mit Mängeln behaftet. Denn es gibt ja auch systemtheoretische Argumentationen in marxistischen Ansätzen und umgekehrt; die Strukturationstheorie beansprucht, Struktur und Handlung genuin zu integrieren, wäre also von Handlungstheorie nur schwer systematisch zu trennen; ökonomische Ansätze überlappen sich teilweise mit marxistischen Ansätzen. Man kann die wissenschaftlich-theoretischen Verankerungen der Erwerbsregulierungsforschung auch nach den drei Bereichen von Makrotheorien (Liberalismus, Marxismus, Funktionalismus/Systemtheorie; Institutionenökonomie), Mikrotheorien (methodologischer Individualismus, Rational Choice-Modell, RREEMM-Modell/Lindenberg 1985; Humankapitaltheorie/Becker 1983) und Theorien mittlerer Reichweite (Varieties of Capitalism/Hall-Soskice 2001; Logik kollektiven Handelns/Olson 2004; Schmitter und Lehmbruch 1979) aufgegliedert behandeln. Dies wäre für eine stärkere theoretisch-paradigmatische Fundierung der Erwerbsregulierungsforschung sinnvoll, kann hier aber nicht geleistet werden. Im Folgenden wird eine sehr grobe Dreiteilung der Paradigmen vorgenommen. Zunächst werden Theorieansätze vorgestellt, die Phänomene der Erwerbsregulierung erklären und verstehen wollen und dabei die bestehende gesellschaftliche Ordnung und Produktionsweise des industriellen oder modernen Wissenskapitalismus als gegebene Rahmenbedingung unterstellen. In einer zweiten Gruppe werden Theorieansätze skizziert, die Erwerbsregulierung in einer dem vorherrschenden System gegenüber kritischen Perspektive thematisieren. Schließlich werden genuin soziologische Paradigmen „mittlerer Reichweite“ (Merton 1995) vorgestellt, die nicht eindeutig einer systemimmanenten oder systemkritischen Denkschule zugerechnet werden können.

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Institutionenökonomie und Strukturfunktionalismus Am Beginn der Industrial-Forschung standen sowohl in den USA als auch in Großbritannien Theorien, die zwar häufig in Distanz zu klassischen ökonomischen Theorien standen, gleichwohl die bestehende institutionelle Ordnung als gegebenen Rahmen ihrer Analysen nicht hinterfragten, sondern nach spezifischen Verbesserungen innerhalb des gegebenen Industriekapitalismus suchten: „The aim was to solve the labor problem without threatening capitalism“ (Frege 2008, S. 37). In den USA entwickelte sich vor allem die (auch explizit an der deutschen historischen Schule der Ökonomie ansetzende) bis heute einflussreiche Institutionenökonomie. Sie versucht, mit Theorie-Instrumenten der Ökonomie gesellschaftlich, und hier vor allem wirtschaftlich relevante Phänomene zu erklären. Ausgangspunkt ist dabei vereinfacht immer das Zusammenleben von atomisierten, rational agierenden und entscheidenden Individuen nach dem Modell des Homo Oeconomicus. Diese vereinbaren, ihre Aktivitäten nach bestimmten institutionellen Regeln zu koordinieren. Der property-rights-Ansatz versucht, das Entstehen unterschiedlicher Typen von Eigentums- und Verfügungsrechten zu erklären wie vor allem 1) das einfache Nutzungsrecht an einer Sache, 2) das ‚Fruchtziehungsrecht‘ als Recht, die aus der Nutzung einer Sache entstehenden Erträge behalten zu können, 3) das Recht, eine Sache auch verändern zu können und 4) das Recht, eine Sache auch veräußern zu können (vgl. als Übersicht auch für die folgenden Aspekte Williamson 1990). Solche unterschiedlichen Nutzungsrechte gab es historisch lange vor dem modernen Kapitalismus, etwa in der Form der Allmende oder des Bergregals. Die mit dem Aufkommen des Industriekapitalismus sich rasch verbreitende moderne Lohnarbeitsbeziehung beruht auf dem ‚Fruchtziehungsrecht‘, also dem Recht des Käufers der Ware Arbeitskraft, die Ergebnisse aus dieser Arbeitskraftnutzung für sich zu behalten. Mit dem vereinbarten Arbeitslohn als ‚Miete‘ waren die Ansprüche des Arbeitnehmers abgegolten. Unternehmen wurden als Privatangelegenheit und die entsprechenden Verträge als Privatverträge zwischen Arbeitern und Unternehmern betrachtet (der Begriff Arbeitnehmer verkehrt ja eigentlich die Tatsache, dass die entsprechende Person ihr Arbeitsvermögen gibt). „In essence, the US and Britain regarded the capitalist enterprise as a ‚private affair‘ (firm as private property) and the economy as an assembly of free individuals joining in contractual relationships“ (Frege 2008, S. 48). Betriebe und Unternehmen entstehen entsprechend der Institutionenökonomie überall da, wo die marktliche Koordination von Wirtschaftsaktivitäten zwischen Einzelnen weit mehr Aufwand implizieren würde. Denn jeder individuelle Vertrag, der zwischen Käufer und Verkäufer von Waren und Dienstleistungen abgeschlossen wird und eine Transaktion von Verfügungsrechten von dem einen

3.3  Paradigmen der Erwerbsregulierung

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auf den anderen Vertragspartner beinhaltet, impliziert Transaktionskosten. Denn vor dem Vertragsabschluss müssen sich beide Seiten über den Markt informieren, Kontakte zu möglichen Vertragspartnern aufnehmen und eventuell auch viel Zeit und Geld in die rechtsverbindliche Vertragsausformulierung investieren. Auch nach einem Vertragsabschluss fallen noch Kosten etwa der Kontrolle der Vertragseinhaltung oder von Vertragsanpassungen an. Anstatt alle auf dem Markt verfügbaren Einzelteile eines Autos einzukaufen und entweder selbst zusammenzubauen oder durch viele Arbeitskräfte mit jeweils spezifischen Leistungsverträgen montieren zu lassen, werden Autos heute in aller Regel von großen Unternehmen gekauft bzw. verkauft, die mit Tausenden von Beschäftigten und Zulieferern längerfristige Verträge abschließen. Bei dem gegebenen Beispiel von Automobilkonzernen wollen die Unternehmen nicht mit jedem einzelnen Beschäftigten sehr spezifische individuelle Vertragsbedingungen aushandeln. Gewerkschaften und auch Betriebsräte bündeln die relevanten Vertragsfragen der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen. Der Unternehmerverband schließt einen Tarifvertrag mit der zuständigen Gewerkschaft, die Unternehmensleitung eine Betriebsvereinbarung mit dem zuständigen Betriebsrat ab. Auf diese Weise sparen beide Seiten erhebliche Transaktionskosten, die entstünden, wenn alle individuellen Arbeitsverträge auch einzeln verhandelt werden müssten. Ein Betriebsrat als Vertretungsorgan der abhängig Beschäftigten besitzt demzufolge für das Management – gerade in großen Unternehmen – den Vorteil, einen klar definierten, einheitlichen Ansprechpartner zu konstituieren. Informationen müssen nicht umständlich in Einzelgesprächen vermittelt und Abstimmungsprozesse nicht zwischen Geschäftsleitung und einzelnen Mitarbeitern verhandelt werden. Aufgrund der Komplexität der Leistungserstellungsprozesse sieht das Management in Großbetrieben vermutlich eher die Vorteile kollektiver Regulierungsformen und steht möglicherweise auch der Wahl eines Betriebsrats aufgeschlossen gegenüber, während die Geschäftsleitungen bzw. Eigentümer kleiner Unternehmen viele Fragen eher im direkten Gespräch selbst klären. Tatsächlich lässt sich empirisch der Einfluss der Betriebsgröße auf die Wahrscheinlichkeit eines Betriebsrates nachweisen (Hauser-Ditz et al. 2008). Generell kann die Transaktionskostentheorie genutzt werden, um das Entstehen und die Stabilität kollektiver Formen der Erwerbsregulierung gegenüber individuellen Vertragsaushandlungen zu erklären. Tarifverträge, Gewerkschaften, starke Arbeitgeberverbände, Betriebsräte oder andere betriebliche Vertretungsorgane sind tatsächlich eher in großen und komplexen Organisationszusammenhängen formalisierter abhängiger Erwerbsarbeit anzutreffen als in Bereichen informeller Arbeit auf eigene Rechnung.

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Eine dritte Variante der Institutionenökonomie befasst sich mit dem sogenannten Prinzipal-Agenten-Verhältnis in der Wirtschaft. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Partner, die z. B. einen Liefer- oder einen Arbeitsvertrag abschließen, in ihrer Entscheidungsfindung ungleich beeinträchtigt sind. So kann die eine Seite über umfassende Marktkenntnisse verfügen, während der Vertragspartner kaum Informationen über Knappheitsverhältnisse hat. Bezogen auf Erwerbsarbeit und das Beschäftigungsverhältnis kann der Beschäftiger als Prinzipal nur eingeschränkt das tatsächliche Verhalten des Beschäftigten als seines Agenten im Hinblick auf die Arbeitsausführung kontrollieren. Denn der Agent verfügt über Spezialkenntnisse, implizites Wissen, alltägliche Routinen und Erfahrungen und verborgene Informationen, für die ihn der Prinzipal ja eingestellt hat und die sich diesem grundsätzlich entziehen. Der Prinzipal ist also von dem Verhalten des Agenten abhängig. Da grundsätzlich opportunistisches Verhalten unterstellt wird, also Handeln zum eigenen Vorteil, muss der Prinzipal versuchen, durch bestimmte Mechanismen wie Kontrollen, Anreizsysteme oder Unternehmenskultur seine Agenten dazu zu bewegen, entgegen ihrer eigenen Absichten das zu tun, was er von ihnen erwartet.2 Neben diesen institutionenökonomischen Theorieansätzen war auch eine eher aus der Soziologie und hier vor allem aus dem systemtheoretischen Strukturfunktionalismus gespeiste Denkschule vor allem seit den 1950er Jahren relevant. Während in der Institutionenökonomie ein Menschenbild des Homo Oeconomicus und rationaler Wahlentscheidungen vorherrscht, geht der Strukturfunktionalismus von gesellschaftlichen Normen als Handlungsorientierungen aus. In der Aufbruchsstimmung der vor allem durch Talcott Parsons entwickelten Idee, ein für alle gesellschaftlichen Zusammenhänge anwendbares Schema strukturfunktionalistischer sozialer Zusammenhänge anzubieten, formulierte Dunlop für den Bereich der Industriellen Beziehungen: „The central task of a theory of industrial relations is to explain why particular rules are established in particular industrial relations Systems and how and why they change in response to changes affecting the System“ (Dunlop 1958, S. VIII f.). Das System der Industriellen Beziehungen hat sich demnach ähnlich wie andere Subsysteme in der modernen Industriegesellschaft herausgebildet, um bestimmte Funktionen zu erfüllen. Die Hauptfunktion dieses Subsystems ist das der Regelsetzung für die Arbeitsbeziehungen, und die Hauptakteure sind staatliche Organe, die Arbeitgeber und deren Organisationen sowie die Arbeitnehmer und ihre Organisationen. Ähnlich

2Vgl.

http://www.hans-jonas-zentrum.de/down/Schreyoegg-PA.pdf.

3.3  Paradigmen der Erwerbsregulierung

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wie bei Parsons ist die Integration dieser Akteursgruppen über gemeinsame Normen bzw. durch eine geteilte Ideologie wesentlich. Diese Grundidee der Ausdifferenzierung eines eigenständigen Systems der Definition von Regeln für die Kooperation lässt sich sowohl auf die Makroebene von Gesamtgesellschaften (z. B. Arbeitsrecht und Konfliktkultur) wie auf die Mesoebene (etwa von Tarifvertragssystemen) und die Mikroebene von Betrieben und Unternehmen (Regelsetzung und -kontrolle sowie Konfliktschlichtung durch Personalabteilung und Beschäftigtenvertretung) anwenden. Der Wandel der Umweltbedingungen, etwa in Form wirtschaftlicher Konjunkturen, internationaler Wettbewerbsfähigkeit oder technologischen Wandels erfordert nun ständige Anpassungen der Regelsysteme. Groser und Keller (1979, S. 241) sehen folgende Vorteile des systemtheoretischen Ansatzes: „Im Gegensatz zu isolierten, partiellen und rein disziplinär orientierten Forschungsprogrammen bietet es einen Rahmen für interdisziplinäre Kooperation, d. h. zur notwendigen integrierten Analyse von Arbeitsbeziehungen. Sein heuristischer Wert besteht darin, daß Problemfelder offengelegt werden, die (bei, LP) rein disziplinärer Betrachtung kaum ins Blickfeld kommen (z. B. Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Sektor, Probleme multinationaler Konzerne).“ Kapitalismuskritische Ansätze der Erwerbsregulierung Ausgangspunkt marxistischer Theorien ist die Annahme antagonistischer Klassenlagen und Interessen von Kapitalisten und Arbeitern. Für Marx bestimmen sich soziale Klassen in erster Linie über die Stellung in den generellen Produktionsverhältnissen einer Gesellschaft. Diese Produktionsverhältnisse werden als die Verteilung von Grund und Boden, Rohstoffen und Geld (im agrarischen Produktionsverhältnis) und später dann auch Maschinen, Werkzeugen und Kapital (unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen) verstanden. Bei Marx wird die Klassenlage also durch den Besitz der gesellschaftlichen Produktionsmittel bestimmt. Im Kapitalismus sind dies die industriellen Produktionsmittel sowie Rohstoffe und Kapitalien, die allesamt im Besitz der Kapitalistenklasse, der Bourgeoisie sind. Die Arbeiterklasse ist zunächst nur eine Klasse an sich. Da die Lohnarbeiter außer ihrer Arbeitskraft keine eigenen Produktionsmittel (auch keinen Grund und Boden) besitzen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sind sie objektiv in der gleichen Klassenlage, die sich durch ihr Verhältnis zu den (industriellen) Produktionsmitteln bestimmt, die sich allesamt in den Händen der Kapitalistenklasse befinden. Da es sich um antagonistische Beziehungen handelt, Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse sich wechselseitig konstituieren und unversöhnlich gegenüberstehen, kann es für Marx auch keine Reformen des Kapitalismus geben,

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

s­ondern nur dessen Aufhebung durch die Machtergreifung der Arbeitsklasse als Übergangsetappe auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft (Marx 1975; Marx und Engels 1972). Auch wenn die Marxschen Analysen der Funktionsweise kapitalistischer Gesellschaften noch heute mit großem Gewinn zu lesen sind, so hat sich seine Revolutionstheorie doch als weniger stark erwiesen. Seine paradigmatische Sichtweise auf den Kapitalismus prägte die Grundfragen der sogenannten Labour Process Debate, die in den USA und dann auch in Großbritannien in den 1970er und 1980er Jahren enormen Einfluss in der Industrial-Relations-Forschung hatte. Ausgangsfragen waren: Wie schaffen es die Kapitalisten, trotz doch antagonistischer Interessen die Arbeiter zu einem für sie notwendigen und ‚ertragreichen‘ Arbeitshandeln zu bewegen? Über welche Mechanismen wird das Arbeitsvermögen, welches der Unternehmer einkauft, in tatsächliches produktives Arbeitshandeln transformiert? Es geht also um die Mechanismen der Steuerung und Kontrolle von Arbeitshandeln bzw. um die Transformation von Arbeitskraft in Arbeitsverausgabung: Welche konkreten Ansprüche an Arbeitshandeln ergeben sich aus dem Arbeitsvertrag? Wie werden Beschäftigte für die konkreten Arbeitsaufgaben qualifiziert? Nach welchen Mechanismen wird die horizontale (Arbeitseinsatz-)Mobilität und Zuweisung von Beschäftigten auf Arbeitspositionen organisiert? Was sind legitime Erwartungen des Unternehmers an die Leistungsverausgabung der Beschäftigten? Das in der Labour Process Debate zentral behandelte sogenannte Transformationsproblem behandelt also die Frage, wie unter kapitalistischen Lohnarbeitsbedingungen das vom Unternehmer mit dem Arbeitsvertrag erwirkte formelle Recht der Anweisung und der Nutzung von Arbeitskraft in reales Arbeitshandeln transformiert wird, welches sich den jeweiligen betrieblichen Zielen der Güter- und Leistungserstellung zum Zwecke der Kapitalverwertung einund unterordnet und zu deren optimaler Realisierung beiträgt. Die Antwort der Labour Process Debate darauf – und damit letztlich auch auf die Frage nach der enormen Überlebensfähigkeit der kapitalistischen Produktion und Herrschaft – lautete: Aufgrund struktureller, in der Natur der Produktionsprozesse angelegter Kontingenzen und Imponderabilien lässt sich betriebliches Arbeitshandeln nicht vollständig planen, vorschreiben und kontrollieren (was ja der große Traum des Taylorismus gewesen ist). Betriebe sind also immer auf die zumindest partielle ‚freiwillige‘ Kooperation der Beschäftigten angewiesen. Die ‚Ungewissheitszone‘ (Crozier und Friedberg 1979), die abhängig Beschäftigte in mehr oder weniger engen oder weiten Grenzen immer kontrollieren, bezieht sich sowohl auf die Inhalte des Arbeitshandelns selbst als auch auf den Grad der Leistungsverausgabung. Sie ist Basis ihrer betrieblichen Primärmacht, also ihres unmittelbaren, aus dem Arbeitsverhältnis erwachsenden Macht- und

3.3  Paradigmen der Erwerbsregulierung

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­ erhandlungspotenzials (Jürgens 1984; Hildebrandt und Seltz 1987). Zusammen V mit der institutionalisierten kollektiven Sekundärmacht (Normen, Arbeitsrecht, Tarifverträge, kollektive Organisationsformen etc.) sind damit die Bedingungen für in Grenzen autonomes betriebliches Arbeitshandeln gegeben. Diese theoretische Grundlegung der Handlungs- und Politikpotenziale abhängig Beschäftigter war eine überzeugende Antwort sowohl auf das traditionell-liberale Verständnis betriebsförmiger Arbeit, in dem Kooperationsbereitschaft prinzipiell unterstellt und durch Anreizsysteme gefördert wird, als auch auf allzu einfache marxistische Versionen einer tendenziell allumfassenden Arbeitskontrolle und ‚reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital‘.3Denn die Fragen, warum eigentlich ein Betrieb mit weit ausdifferenzierten Aufgabenbeschreibungen und Positionen und mit nach Lebenslage und Lebensstilen sehr unterschiedlichen Beschäftigten, die zunächst einmal nur formal über einen Arbeitsvertrag mit diesem verbunden sind, ‚funktioniert‘ und wie die Inhalte des Arbeitshandelns und das Ausmaß der Leistungsverausgabung betrieblich gesteuert und kontrolliert werden, wurden in der Industriesoziologie lange Zeit vorwiegend mit Dichotomien wie der von ‚Planung und Ausführung‘ oder von ‚Befehl und Gehorsam‘ beantwortet. Dieser in der Betriebswirtschafts- und der Managementlehre lange Zeit gebräuchlichen Unterscheidung zufolge besteht das Arbeitshandeln des Managements – vereinfacht – aus ‚planen, entscheiden, anweisen und kontrollieren‘ und das der Beschäftigten aus ‚ausführen, Regeln befolgen, reagieren‘ (und gelegentlich widerspenstig sein). Die moderne, vor allem aus der Sozialpsychologie kommende Commitment-Forschung stellt im Gegensatz dazu die Frage in den Mittelpunkt, wie die Folgebereitschaft der Organisationsmitglieder eigentlich in Verhältnissen abhängiger Erwerbsarbeit hergestellt und garantiert werden kann Meyer und Allen 1991). Am Anfang der Labour Process Debate stand ein Buch von Braverman (1980), in dem dieser die Entwicklung des modernen Kapitalismus als Abfolge von drei dominanten Kontrollformen der Arbeit beschreibt. Diesem – aus heutiger Sicht mechanistischen – Kontrollverständnis zufolge herrschte zunächst im Produktionsprozess die persönliche Kontrolle des Vorgesetzten (in der Regel des Eigentümerunternehmers oder eines fachautoritativen Meisters) vor. Die ganze handwerklich kleinbetriebliche Produktion ist demnach von dieser einfachen personalen Kontrollform bestimmt.

3Die

Theorie der ‚reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital‘ wurde im Anschluss an die Arbeiten von Sohn-Rethel (1970) vor allem am Frankfurter Institut für Sozialforschung entwickelt (Schmiede 1980).

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Nach dieser Phase persönlicher und vielfach auf Willkür basierender Kontrolle des Arbeitshandelns setzte sich mit dem Größenwachstum der Betriebe ein bürokratisches Kontrollmodell durch. Der Taylorismus steht als Inbegriff für diese Phase, in der ‚das Kapital‘ durch ‚wissenschaftliche‘ Arbeitsanalyse und Betriebsführung das Produktionswissen der Beschäftigten lückenlos zu dokumentieren suchte, um es dann in Form detaillierter Arbeitsanweisungen für die Kontrolle von deren Arbeitshandeln zu benutzen. In einer dritten Phase schließlich führen die in die Betriebsstrukturen eingelassenen Formen der technisch-organisatorischen Steuerung von Arbeitshandeln und Leistungsverausgabung zu einer scheinbaren Objektivierung der Arbeitskontrolle. Diese Phase kann vor allem mit der fordistischen Produktionsweise assoziiert werden, in der das Fließband zum eigentlich den Produktionsprozess organisierenden Medium wurde. Die Arbeitssteuerung ist in das technisch-organisatorische System eingelassen und wird praktisch unsichtbar. Aufgabenabläufe und Leistungsverausgabung werden vom Rhythmus des technischen Systems, nicht von bürokratischen Arbeitsblättern oder autoritären Vorgesetzten bestimmt. In kritischer Auseinandersetzung mit Braverman wurden nun in der Labour Process Debate alle möglichen relevanten Faktoren analysiert, die zu einer Stabilisierung kapitalistischer Herrschaft im modernen Produktionsprozess beitrugen. Friedman (1977 und 1987) kritisierte die deterministische Modellierung der drei Kontrollphasen und argumentierte, dass das Management flexibel verschiedene Formen der Kontrolle, unter auch die der ‚verantwortlichen Autonomie‘, also der bewussten Überlassung von Autonomiespielräumen für die Beschäftigten. Edwards (1979) schlägt ebenfalls ein Dreiphasenmodell von Kontrollmodellen vor, füllt vor allem die letzte Phase inhaltlich aber völlig anders als Braverman. Für Edwards folgt den Phasen der einfachen, direkten und der technisch-organisatorischen Kontrolle die Phase der bürokratischen Kontrolle (vgl. auch Edwards und Scullion 1982). Diese ist nicht mit dem Taylorismus – wie bei Braverman – gleichzusetzen, sondern zielt auf die Steuerung des Arbeitshandelns durch bürokratische Regeln, die von den Beschäftigten akzeptiert und internalisiert, gegebenenfalls sogar mitgestaltet werden. Burawoy (1979) und andere haben den Ablaufdeterminismus auch des Modells von Edward kritisiert. Für Burawoy sind die bestehenden Kontrollstrukturen weniger das einseitige Ergebnis von manageriellen Entscheidungen und Strategien als vielmehr das Ergebnis komplexer Machtauseinandersetzungen zwischen betrieblichen Akteuren. Auch für Burawoy ist die eigentlich interessante Frage, warum sich die Beschäftigten eigentlich freiwillig den betrieblichen Kontrollstrukturen fügen. So fruchtbar die Beiträge der Labour Process Debate (und auch der hier nicht weiter vertieften französischen Regulationstheorie, vgl. Boyer 1986) für die

3.3  Paradigmen der Erwerbsregulierung

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arbeits- und industriesoziologische Diskussion waren, sie haben eher indirekt zur Weiterentwicklung der Theorie der Erwerbsregulierung beigetragen. Letztlich waren sie stark in der marxistischen Grundannahme eines antagonistischen Klassenwiderspruchs zwischen Kapitalisten und Arbeitern verstrickt und gefangen. Zur Beantwortung der Frage, warum in allen Ländern der Welt offensichtlich eine enorme Bereitschaft der abhängig Beschäftigten besteht, an der Stabilität und dem Erfolg des ‚eigenen‘ Unternehmens mitzuwirken, können Theorien ‚mittlerer Reichweite‘ sehr viel beitragen. Soziologische Paradigmen ‚mittlerer Reichweite‘ Hierunter sind theoretisch-konzeptionelle Ansätze zu verstehen, die weniger auf einen gesamtgesellschaftlichen Erklärungsanspruch abzielen, als vielmehr darauf, bestimmte Gegenstandsbereiche besser analysieren, erklären und verstehen zu können oder spezifische Betrachtungsweisen in die Erwerbsregulierungsforschung einzubringen. Im Folgenden wird weder eine historisch getreue Rekonstruktion hier relevanter Ansätze angestrebt noch eine theoretisch eindeutige Einordnung. Eine erste paradigmatische Perspektive zielt auf die Eigenständigkeit kultureller Aspekte der Erwerbsregulierung ab. Im Gegensatz zu streng-ökonomischen, strukturfunktionalistischen oder auch marxistischen Argumentationen wird davon ausgegangen, dass die verschiedenen Formen von Erwerbsregulierung immer auch in kulturelle Orientierungsmuster eingebunden sind. Die kulturellen und kognitiven (Wert-)Vorstellungen von sozialen Gruppen sind demnach ein wichtiges Erklärungsmoment der Strukturen und Dynamiken von Erwerbsregulierung (Tolbert und Zucker 1983). Dies gilt z. B. für die Beruflichkeit von Arbeit. Bestimmte Arbeitnehmergruppen wie hochqualifizierte Angestellte präferieren – und dies grosso modo überall auf der Welt – individuelle Formen der Interessenregulierung (für Deutschland vgl. Baethge et al. 1995; Kotthoff 1997). Daneben treten gerade in bestimmten Segmenten hochqualifizierter Wissensarbeit auf der betrieblichen Ebene neben oder alternativ zu Betriebsräten überdurchschnittlich häufig andere kollektive Interessenvertretungsformen wie Runde Tische auf (vgl. Abel et al. 2005; Boes und Baukrowitz 2002; Boes et al. 2003; Hauser-Ditz et al. 2008). Die spezifische Branchenkultur und Berufssozialisation der dort tätigen Menschen prägt auch die Formen der Erwerbsregulierung; dies zeigt sich sehr deutlich etwa in der Erwerbsarbeit und ihrer Regulierung im Bereich Neuer Medien und der Entwicklung von Computerspielen (Ittermann 2009; Hoose 2016). In die Richtung einer systematischen Ausweitung der Forschung zu industriellen Beziehungen von einer ausschließlich auf Interessen fokussierten Perspektive hin zu einer Analyse der Arbeitssphäre als eines Bereiches auch des Kampfes um Anerkennung argumentiert

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Schmidt (2005). Er zeigt, dass z. B. in der Behandlung der Gruppen von Erwerbstätigen mit Migrationsgeschichte die Anerkennung von besonderen Interessen und Identitäten etwa hinsichtlich der Behandlung religiöser oder anderer Feiertage und ­Traditionen im Kontext zunehmender globaler Migrationsprozesse von besonderer Bedeutung ist. Neben berufskulturellen Einflüssen spielen auch betriebskulturelle Faktoren eine erhebliche Rolle für die Ausformung der Formen von Erwerbsregulierung. Diese sind als Teil einer betrieblichen Sozialordnung (Kotthoff und Reindl 1990) immer auch in betriebsspezifische Kulturen und Beziehungsgeflechte eingebettet (vgl. zum negotiated-order-Konzept Strauss 1978). Der Betrieb ist analytisch als historisch „gewachsene Beziehungsstruktur“ (Kotthoff und Reindl 1991, S. 116) mit je eigenen „Organisations- und Verhandlungskulturen“ (Bosch et al. 1999, S. 29) zu verstehen. Wichtige betriebskulturelle Unterschiede verlaufen dabei entlang der Dimensionen der Eigentümerstruktur und der Betriebsgröße. In von Eigentümern geführten Klein- und Mittelbetrieben herrscht in der Regel ein Klima, in dem sowohl Geschäftsleitung als auch Beschäftigte die Einrichtung einer Kollektivvertretung (eines Betriebsrates, einer Gewerkschaftsgruppe) als Affront gegen die ‚Betriebsfamilie‘ ansehen würden. Die meistens langfristigen Beziehungen in der Arbeit sind durch wechselseitiges Vertrauen sowie einfache und direkte Kontrolle des Arbeitshandelns bestimmt. In Großbetrieben sind dagegen Wechsel der personalen Beziehungen im Arbeitsbereich häufiger; die Betriebsleitungen kennen die einzelnen Beschäftigten nicht persönlich; in der Anonymität großbetrieblicher Kultur ist die Wahrscheinlichkeit kollektiver Formen der Erwerbsregulierung größer. Ein Aspekt der betriebskulturellen Ausformung der Erwerbsregulierung ist auch die Personalpolitik bzw., neudeutsch, die Strategien des Human Resource Management (HRM). Wenn das Management den Beschäftigten weitreichende direkte Partizipationsmöglichkeiten im Arbeitsbereich oder auch Beteiligung durch Runde Tische einräumt, dann kann dies die Wahrscheinlichkeit der Bildung eigenständiger kollektiver Interessenvertretungen verringern (Hauser-Ditz et al. 2008). Als ein Theorieansatz mittlerer Reichweite ist auch das Konzept der Arbeitspolitik zu erwähnen. In den 1980er Jahren entstanden wurde dabei die „gesellschaftliche Regulierung der Arbeit und der sozialen Sicherung“ (Naschold 1985b; Jürgens und Naschold 1984; Abromeit und Blanke 1987) in den Mittelpunkt gestellt. Hierbei wird Politik nicht verstanden als ein grundsätzlich von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen unabhängiges Institutionengefüge und auch nicht als „Willensverhältnis“ oder Instrument (Naschold 1985a, S. 25), sondern „zentral ist die Endogenisierung von Politik als ‚authentic constituens of a

3.3  Paradigmen der Erwerbsregulierung

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productive system‘ (Wilkinson 1983), also die systematische Verankerung von Politik als ‚immanentes und gleichzeitig exterritoriales‘ (de Brunhoff 1978) Element des technisch-ökonomischen Bedingungszusammenhangs“ (ebd., S. 10). Politik ist demnach die „Regulation (Konstitution, Reproduktion und Transformation) sozialer Beziehungen“ (ebd., S. 9), sie ist „eine Regulationsform, die sicherlich auch eine staatliche Politik ist, jedoch gerade auch im scheinbar Politik-neutralisierten Bereich des Arbeits- und Produktionsprozesses von Bedeutung ist.“ (ebd., S. 28). Mit diesem Verständnis von Arbeitspolitik wird aus politikwissenschaftlicher Perspektive ein zur traditionellen Industrial-Relations-Forschung alternativer und innovativer Zugang zum Themenfeld der Erwerbsregulierung gesucht, der später (Abromeit und Blanke 1987) aber nur teilweise ausdifferenziert wurde. Während in den weiter oben skizzierten institutionenökonomischen Theorien die Wirtschaft sowie die darin involvierten Akteure zunächst als gleichsam vorgesellschaftliche Einheiten konzipiert sind, aus denen heraus sich dann soziale Institutionen durch Verabredungen zwischen Akteuren entwickeln, sind im Arbeitspolitik-Ansatz der technisch-ökonomische Bereich und die Produktionssysteme immer schon genuin in gesamtgesellschaftliche Beziehungsgefüge von Politik eingebunden. Politik wird dabei in einem sehr weiten Sinne verstanden als die Regulierung sozialer Beziehungen – sie findet daher (fast) überall statt. Arbeitspolitik als auf Arbeit bezogene Regulierung sozialer Beziehungen wird („immanent“) in Unternehmen und der Wirtschaft praktiziert (z. B. bei der Festlegung von Arbeitsteilung im Produktionsprozess oder von Ergebnisbeteiligung am Produktionsprozess durch Entlohnung), aber ebenso („exterritorial“) praktiziert im parlamentarischen System (etwa bei der Definition von Rentenansprüchen oder Beteiligungsrechten von Betriebsräten). Der Ansatz der Arbeitspolitik ist nicht vollständig ausgearbeitet worden, er bietet gute Anschlussmöglichkeiten an das von Beck (1991) entwickelte Verständnis von Politik und „Subpolitik“, aber auch an die französische Regulationstheorie (Boyer 1986; Boyer und Freyssenett 2002). Der konzeptionelle Ansatz von Primärmacht und Sekundärmacht schließt eng an das Konzept der Arbeitspolitik an. Primärmacht erwächst in Arbeitszusammenhängen aus der Knappheit und Bedeutung der Ressourcen von Akteuren (Wissen, Kenntnisse, Beziehungen, Fähigkeiten etc.). Hochqualifizierte Arbeitnehmer mit Spezialwissen, über das nur sie verfügen, sind für ein Unternehmen im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar, sie haben eine hohe Primärmacht. Umgekehrt benötigt ein Beschäftigter, der in einem Supermarkt Regale einräumt, vergleichsweise wenig Spezialwissen und ist einfach

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

zu ersetzen, seine Primärmacht ist gering. Kollektive Interessenvertretungsformen können eine schwache Primärmachtausstattung teilweise kompensieren, indem sie eine Sekundärmacht gegenüber Verhandlungspartnern, z. B. Unternehmen oder auch staatlichen Organen, aufbauen. Die geringe Macht, die der einzelne Beschäftigte gegenüber einem Arbeitgeber besitzt, kann durch einen Zusammenschluss der abhängig Beschäftigten, die ihre Stimme gemeinsam erheben (voice-Strategie), erhöht werden; denn in der Regel haben weniger gut mit Ressourcen ausgestattete Beschäftigte auch schlechtere Chancen auf einen Wechsel des Unternehmens (exit-Strategie); wenn sie nicht zu einer kollektiven voice-Strategie finden, bleibt ihnen nur das Akzeptieren aller vom Beschäftiger gesetzten Bedingungen (loyalty-Strategie) (Hirschman 1974). Dies erscheint vor allem dann relevant, wenn die aus den „Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den sozialen Akteuren im Betrieb erwachsenen Machtpositionen“ (Jürgens 1984, S. 61) der Beschäftigten aufgrund ihrer Arbeitsmarktsituation oder Qualifikationsausstattung gering sind. Während stark nachgefragte und hochqualifizierte Arbeitskräfte über ausreichend Primärmacht verfügen, um ihre Interessen gegenüber der Geschäftsleitung auch individuell durchsetzen oder – wenn dies nicht gelingt – auch die Exit-Option wählen zu können, sind geringqualifizierte Arbeitnehmer in der Regel auf die Gewinnung von Sekundärmacht durch Bildung von Allianzen angewiesen. Eine kollektive Interessenvertretung (Gewerkschaft, Betriebsrat etc.) fungiert für die Arbeitnehmer als ein Organ, welches ihnen eine ‚kollektive Stimme‘ (voice) verschafft. Neben dem Bedarf von Beschäftigten an kollektiver Organisierung, der sich durch ihre Ressourcenausstattung bestimmt, ist auch der Aspekt ihrer Organisationsfähigkeit von Belang. Die Chancen der Bildung kollektiver Vertretungsformen bei Arbeitgebern und bei Arbeitnehmern hängen nach Traxler vor allem von den „Bedingungen der Interessenartikulation“ (Traxler 1999, S. 66), d. h. von den (Macht-)Ressourcen der Akteure ab: „Für die Interessendurchsetzung gilt wie für die Realisierung jeder anderen Form von Zwecksetzung, dass ihre Erfolgschancen entscheidend von den Ressourcen abhängen, die dafür jeweils mobilisiert werden können“ (ebd., S. 67). In bestimmten Fällen ist die Organisationsfähigkeit der abhängig Beschäftigten zu gering, um eine Initiative zur Bildung einer kollektiven Interessenvertretung hervorzubringen. Dabei stehen Organisationsfähigkeit und Organisationsbedarf in einer inversen Beziehung: Während mit steigender Machtressourcenmobilisierung die Organisationsfähigkeit steigt, sinkt gleichzeitig der Organisationsbedarf (ebd., S. 70; vgl. auch das Konzept schwacher Interessen Willems und Winter 2000 und Winter und Willems 2007).

3.3  Paradigmen der Erwerbsregulierung

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Ein letztes Konzept mittlere Reichweite, das hier vorgestellt werden soll, ist das der Aushandlungsprozesse im Rahmen von Erwerbsregulierung. Grundsätzlich ist immer nur ein sehr kleiner Teil der real wirksamen Normen und Mechanismen der Erwerbsregulierung formalrechtlich durch Gesetzte oder ­Verordnungen festgelegt. Deshalb ist die Arbeitswelt in hohem Maße von impliziten und expliziten Verhandlungen bestimmt (Trinczek 1987, 1989). Dies betrifft das tatsächliche Ausmaß des Engagements in der Arbeit, den Umgang mit ­Fehlern in der Arbeitsausführung, die Toleranzbereiche bei Zuspätkommen oder Sonderurlaubsbegehren. Ein analytisches Konzept von Verhandlungsmodi wurde von Walton und McKersie (1965) entwickelt (vgl. auch Kochan und Lipsky 2003). Der eher konfliktive Verhandlungstypus des distributive bargaining bezieht sich ihnen zufolge primär auf verteilungsrelevante Verhandlungsgegenstände; die Verhandlungssituation wird als Nullsummenspiel definiert, bei dem die eine Seite gewinnt, wenn die andere in entsprechendem Ausmaß verliert. Demgegenüber handelt es sich beim Modus des integrative bargaining um einen auf Wechselseitigkeit und Kooperation zielenden Typus, wobei die Verhandlungspartner ein Interesse an der gemeinsamen Problemlösung und Kompromissfindung besitzen. Typischerweise lassen sich den beiden Verhandlungsmodi unterschiedliche Regulierungsfelder zuordnen, wobei gemeinhin zwischen ‚­harten‘ (verteilungsrelevanten) und ‚weichen‘ Regulierungsthemen unterschieden wird. Als dritten Typus von Verhandlungen, der eher indirekter Natur, aber dafür nicht weniger wichtig ist, bezeichnen Walton/McKersie das attitudinal structuring. Wie der Name andeutet, geht es hierbei weniger um die eigentlichen Verhandlungsinhalte, sondern um die Beeinflussung der Einstellungen und Haltungen des Verhandlungspartners. Ziel dieses attitudinal structuring kann etwa sein, Widerstände gegen das Behandeln bestimmter Themen abzubauen oder die grundsätzliche Kooperationsbereitschaft zu festigen. Schon die Verbesserung der Büroausstattung der Interessenvertretung oder der gemeinsame Besuch einer Fachmesse können hierfür genutzt werden. Als vierten Typus von Verhandlungen wird das intraorganizational bargaining genannt. Hierbei geht es die Aushandlung und Festlegung von Verhandlungsinhalten und -strategien innerhalb der eigenen Organisation oder Gruppe (z. B. Managementseite, Betriebsrat, Gewerkschaft, Arbeitgeberverband). In einer Verhandlung zwischen Management und Betriebsrat oder zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband stehen sich ja keineswegs völlig einheitliche, hermetisch geschlossene kollektive Akteure gegenüber. So gibt es innerhalb der Gewerkschaft und des Arbeitgeberverbandes eher verhandlungsbereite oder eher konfliktbereite Untergruppen; für einige Fraktionen können Lohnfragen wichtiger sein, für andere Arbeitszeitfragen. Auch

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

nach Abschluss interorganisationaler Verhandlungen müssen die Ergebnisse in den Organisationen vermittelt, besprochen, verteidigt, erläutert werden, müssen intra-organisationale Konflikte verarbeitet werden.4 Abschließend werden im folgenden Abschn. 3.4 Grundelemente des Neo-Institutionalismus vorgestellt, weil sich dieses auf einer Mesoebene angesiedelte Theoriekonzept als Klammer für vielfältige Forschungsperspektiven eignet.

3.4 Neo-institutionalistisches Konzept der Erwerbsregulierung Der sozialwissenschaftliche Neo-Institutionalismus entwickelte sich nicht in erster Linie im Feld der Industriellen Beziehungen oder Erwerbsregulierung. Vielmehr ging es in einer organisationssoziologischen Perspektive um die Frage, wie sich die jeweils spezifischen Strukturen und Prozesse von Organisationen – seien es Unternehmen oder andere Leistungsorganisationen wie öffentliche Krankenhäuser oder Universitäten – erklären lassen. Zu den Strukturen gehören dabei die horizontale und vertikale Arbeitsteilung, der Grad der Formalisierung, Standardisierung und Spezialisierung der Aufgabenstrukturen, aber natürlich auch die Eigentümerstruktur, Größe und die Besonderheiten der technisch-produktiven Abläufe. Alle diese Aspekte, das haben die vorhergehenden Sektionen des Abschn. 3.3 gezeigt, hängen natürlich in der einen oder anderen Weise mit der Erwerbsregulierung zusammen. Denn durch die organisationalen Strukturen und Prozesse werden Qualifikationsprofile definiert, Kooperationsformen geprägt, Kontrollformen im Sinne der Labour Process Debate vorgegeben. Generell gilt, dass die je spezifischen organisationalen Strukturen und Prozesse einerseits ein Ergebnis von Aushandlungen sind und insofern Ergebnis von Erwerbsregulierung; der Grad der

4Vgl.

die Konflikttheorie von Dahrendorf, der sich auch mit dem industriellen Konflikt ausführlich beschäftigte und allgemein folgende typische Konflikte unterschied: „Rollenkonflikt, Proporzkonflikt, industrieller Konflikt, Klassenkonflikt, internationaler Konflikt. Ausdrucksformen lassen sich in mehreren Dimensionen unterscheiden: Im Hinblick auf die Intensität (nach dem Grad der inneren Beteiligung) und Gewaltsamkeit (nach der Wahl der Ausdrucksmittel), aber auch im Hinblick auf die Erscheinungsform als manifester (als solcher gewollter), latenter (unterschwelliger) oder umgeleiteter (als solcher nicht mehr direkt erkennbarer in andere Verhaltensweisen abgedrängter) Konflikt“ (Dahrendorf 1969, S. 1006).

3.4  Neo-institutionalistisches Konzept der Erwerbsregulierung

57

Formalisierung von Prozessen kann z. B. Ergebnis von Lohnfindungsmechanismen sein, oder eine stark hierarchisierte Aufgabenverteilung kann der Ausdruck einer an Seniorität orientierten Aufgabenverteilung sein. Andererseits strukturieren die organisationalen Strukturen und Prozesse auch die Spielräume und Logiken von Erwerbsregulierung erheblich vor; hohe interne Personalmobilität kann z. B. Abteilungsegoismen bei Aushandlungsprozessen verringern, oder hochformalisierte und hochstandardisierte Prozessabläufe legen daran orientierte Leistungsentlohnung nahe. Der organisationssoziologische Neo-Institutionalismus ist also erstens für Erwerbsregulierungsforschung relevant, weil er die jeweils betriebsförmige Einbettung der Erwerbsregulierung in die umfassenderen Organisationsstrukturen und -prozesse ermöglicht. Zweitens ist dieser Ansatz interessant, weil er, wie der Name erkennen lässt, auf soziale Institutionen fokussiert, die die organisationalen Strukturen und Prozesse – jenseits von technisch-ökonomischen Rationalitäts- und Effizienzkalkülen – über den Mechanismus von wahrgenommenen Legitimationserwartungen des gesellschaftlichen Umfeldes beeinflussen. Drittens ermöglicht dieser Ansatz einen systematischen Bezug auf die in Abschn. 2.2 vorgestellten Institutionen der Strukturierung von Erwerbsarbeit. Bevor diese Bezüge erörtert werden können, sind wesentliche Elemente des Neo-Institutionalismus zu skizzieren. Die neo-institutionalistische Theorie geht von der Annahme aus, dass (Leistungs-)Organisationen ihre Strukturen und Prozesse nicht nur nach rationalen Effizienz- und Effektivitätskalkülen an den explizierten Organisationszielen (der Eigentümer oder Shareholder) ausrichten, sondern auch an den wahrgenommenen bzw. unterstellten Legitimitätserwartungen der organisationalen Umwelt (der Stakeholder), die durch gesellschaftliche Institutionen strukturiert und geprägt ist (Meyer und Rowan 1977; Scott 2001; Walgenbach und Meyer 2007). Die den Organisationen unterstellte Rationalität ist in der Perspektive des Neo-Institutionalismus in Wirklichkeit ein Mythos. Erwerbsbezogene Organisationen beziehen aus ihrer Umgebung, ihrem ‚organisationalen Feld‘, solche Rationalitätsmythen, um die Komplexität ihrer internen und externen Wirklichkeit zu reduzieren und Sinn sowie Legitimation zu produzieren. Mit dem Begriff des organisationalen Feldes wird zunächst allgemein „a collection of interdependent organizations operating within common rules, norms and meaning systems“ (Scott 2003, S. 130) bezeichnet. Ein organisationales Feld besteht demzufolge aus den kollektiven und korporativen Organisationen, die sich selbst als interagierend wahrnehmen und die in Interaktionsbeziehungen zueinanderstehen. Eine zentrale Annahme neo-institutionalistischer Forschung ist dabei, dass innerhalb des organisationalen Feldes institutionelle Einflüsse die

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

Strukturen und Praktiken der beteiligten Organisationen beeinflussen. „Wider societal forces operate to structure organizational fields, which develop their own distinctive institutional logics and governance systems, and these systems, in turn, influence the structure and activities of individual organizations“ (Scott 2001, S. 148). Die institutionellen Einflüsse wirken dabei in Form von Zwang (regulative Anweisungen oder staatliche Auflagen), von Normen (internalisierte geteilte Leitbilder und Vorstellungen) oder von kulturell-kognitiven Rahmungen (Erwartungshaltungen und Einstellungen anderer Feldakteure werden antizipiert und nachgeahmt).5 Neo-institutionalistische Theorien sollen vor allem erklären, warum Organisationen 1) nur mit einer eingeschränkten Rationalität operieren, 2) sich die Organisationsstrukturen und -strategien von Organisationen im gleichen ‚organisationalen Feld‘ (z. B. einer Branche) stark ähneln und dabei aber 3) Strukturen und Verhaltensweisen aufweisen, die in einer kontingenztheoretischen Perspektive rationaler Umweltanpassungen nicht hinreichend zu erklären sind. Organisationen passen sich, so die Annahme des Neo-Institutionalismus, im Hinblick auf ihre Strukturen und Arbeitsweisen, eventuell sogar im Hinblick auf ihre Zielsetzungen oder ‚nur‘ bezüglich ihrer Außendarstellung an die von ihnen wahrgenommenen Erwartungen ihrer Umwelt bzw. ihres organisationalen Feldes an, ohne diese Anpassungen an die Umwelterwartungen tatsächlich auf ihre Effizienz und Rationalität für die Leistungserstellung der Organisation hin überprüft oder gar daraus abgeleitet zu haben. In dieser Sichtweise werden Organisationen nicht in erster Linie als Instrumente zur Verfolgung explizierter rationaler Interessen (z. B. Profitmaximierung oder Wasserversorgung) der Gründer, Eigentümer bzw. Leitungsorgane verstanden, sondern als kollektive Akteure, die sich gegenüber einem komplexen Feld von Anspruchsgruppen legitimieren (und häufig auch perpetuieren) wollen. Ein Unternehmen stellt z. B. vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund ein, und zwar nicht, weil es von einer höheren Leistungseffizienz ‚diversity-konformer‘ Belegschaften ausgeht, sondern weil die Umwelt (Kunden, der Staat etc.) dies so erwartet. In der neo-institutionalistischen Forschung und Theorie ist umstritten, ob sich Organisationen an die von ihnen wahrgenommen Rationalitätsmythen und Legitimationserwartungen entweder nur äußerlich und oberflächlich, gleichsam als window dressing nach außen, anpassen (also nach außen einen ‚Schein‘

5Als

guten einführenden Überblick zum soziologischen Neo-Institutionalismus vgl. Walgenbach und Meyer (2007) und Brinton und Nee (2001).

3.4  Neo-institutionalistisches Konzept der Erwerbsregulierung

59

aufbauen, der nach innen nicht umgesetzt, gelebt bzw. eingehalten wird: strukturelle Entkopplung zwischen ‚Schein‘ und ‚Sein‘) oder aber tatsächlich ihre internen Strukturen und Abläufe an den wahrgenommenen Erwartungen ausrichten (‚Schein‘ und ‚Sein‘, talk und action sind gleich bzw. werden zur Deckung gebracht). In der Forschung überwiegen die Befunde, dass Organisationen auf lange Sicht eine strukturelle Entkopplung kaum durchhalten können, dass also längerfristig – selbst, wenn von den Organisationen nicht gewollt, gleichsam ‚hinter dem Rücken der Akteure und als ‚nicht beabsichtigte Folge absichtsvollen Handelns‘ (Merton 1936) – die im organisationalen Feld dominanten institutionellen (regulativen, normativen, kognitiven) Legitimitätserwartungen auch in die Organisation diffundieren und hier Struktur und Handeln bestimmen. Während lange Zeit (nicht zu Unrecht) kritisiert wurde, dass Organisationen im Neo-Institutionalismus eher als passive Anpasser an Organisationsumwelten konzipiert wurden, werden sie in letzter Zeit stärker auch konzeptionell handlungstheoretisch als strategische Akteure und als aktiv durch institutional work (Helfen und Sydow 2013; Lawrence et al. 2011) am Aufbau einer negotiated order (König 2005; Strauss 1978; Wirth 2000) Beteiligte in komplexen intraund interorganisationellen Verhandlungsprozessen (Walton und McKersie 1965; Walton et al. 1994) aufgefasst. Dementsprechend sind für die Analyse von Aushandlungen über Erwerbsbedingungen oder allgemein von Erwerbsregulierung sowohl die spezifische Verhandlungssituation (die beteiligten Akteure sowie deren Strategien und Taktiken), als auch der Verhandlungskontext (die Vor-Erfahrungen der Beteiligten miteinander, entsprechende Macht- und Loyalitätsbeziehungen, Strategieoptionen für die Involvierten etc.) und der allgemeine strukturelle Kontext (rechtlicher Rahmen, Normengefüge, Struktur von Arbeit und Branchen allgemein etc.) zu berücksichtigen (vgl. Strauss 1978). Solche Verhandlungen haben grundsätzlich immer eine eigenständige Ebene innerhalb und zwischen den beteiligten Organisationen. Organisationen und ihre Akteure orientieren sich dabei an gesellschaftlichen Institutionen, sie reproduzieren und verändern diese aber auch in ihrer sozialen Praxis durch verschiedenste Formen (Lawrence und Suddaby 2006, S. 221). Verbindet man die neo-institutionalistischen Annahmen mit den im Abschn. 2.2 vorgestellten fünf erwerbsstrukturierenden Institutionen, so lassen sich drei grundlegende Mechanismen unterscheiden, über die die Institutionen soziales Netzwerk, Beruf, Markt, Organisation und öffentliches Regime in die Erwerbsregulierung hineinwirken (vgl. Abb. 3.1): Zwang als regulative Anweisungen oder staatliche Auflage, Normen (im Sinne internalisierter Leitbilder und Vorstellungen) und kulturell-kognitive Rahmungen. In einer

60

3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung Bestimmungs dimension

Handlungs-ressource

Arenen und Akteure der Erwerbsregulierung regulative Säule normative Kognitive Säule Säule

Soziales Netzwerk Beruf

Soziales Kapital Kulturelles Kapital

Expertennetzwerke

Markt

Ökonomisches Kapital

Organisation

Organisationspositionales Kapital Politisches Kapital

Soziale Institution

Öffentliches Regime

Aktivistengruppen Issue-Profis in GUF, ETUI, EWC, NGO, UN DJSGI, Labels CSR, GC MNC + GUF Campaigning = IFA Decent Work

ILO Min.Stand.

Abkürzungen: GUF = Global Union Federation, ETUI = European Trade Union Institute, EWC = European Works Council, NGO = Non-Governemental-Organisation, UN = United Nations, DJSGI = Dow Jones Sustainability Group Index, CSR = Corporate Social Responsibility, GC = Global Compact, MNC = Multinational Corporation, ISA = International Framework Agreement, ILO = International Labour Organisation Quelle: Eigene Ausarbeitung

Abb. 3.1   Soziale Institutionen, Arenen und Akteure der Erwerbsregulierung

i­nteraktionistischen Perspektive handelt es sich dabei um mehrdirektionale und Mehrebenenverbindungen. Die erwerbsstrukturierenden Institutionen gliedern und durchdringen das ‚organisationale Feld‘ der (regulativen, normativen und kognitiven) Legitimitätserwartungen, in dem die kollektiven und korporativen Organisationen der Erwerbsregulierung agieren. Letztere wiederum versuchen beständig, diese Landschaft der erwerbsstrukturierenden Institutionen auf der kognitiven, normativen oder regulativen Ebene zu reproduzieren, anzupassen oder gar umzupflügen. Am Beispiel einiger Arenen und Akteure der Erwerbsregulierung lässt sich die Erklärungskraft des dargestellten konzeptionellen Modells für grenzüberschreitende Erwerbsregulierung erläutern. Die von der ILO verabschiedeten Mindestarbeitsstandards (vgl. ausführlicher Abschn. 7.1) haben inzwischen einen quasi-legalen völkerrechtlichen Status, weil sie von der überwiegenden Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft ratifiziert und als für alle UN-Mitgliedsstaaten allgemein verbindlich erklärt wurden. Trotz ihres starken Gewichts auf der globalen regulativen Ebene und des durchaus beachtlichen politischen Kapitals steht und fällt ihr tatsächlicher Einfluss mit den Aktivitäten vieler Akteure in anderen institutionellen Bezügen als nur denen des öffentlichen Regimes. Dazu gehört z. B. die Verabschiedung von International Framework Agreements (IFAs)

3.4  Neo-institutionalistisches Konzept der Erwerbsregulierung

61

zwischen Multinationalen Unternehmensorganisationen (MNC) und Globalen Gewerkschaftsorganisationen (‚Global Union Federations‘ GUF), in denen in der Regel die ILO-Mindeststandards ein wesentlicher Referenzpunkt sind. IFAs haben zwar keine direkt regulative Bindungswirkung (sind z. B. nicht gerichtlich einklagbar), sie können gleichwohl je nach dem organisationalen Kapital, d. h. hier dem Gewicht der beteiligten Organisationen, auf der normativen Ebene die involvierten Akteursgruppen durchaus erheblich beeinflussen (vgl. hierzu und dem Folgenden ausführlicher die Kap. 9 und 10). Auf der institutionellen Ebene des Marktes anzusiedeln sind Mechanismen wie der von den Vereinten Nationen initiierte Global Compact (GC), freiwillige Erklärungen zur Corporate Social Responsibility (CSR) sowie Markenlabels (wie z. B. Fair Trade) oder Börsenindizes wie der Dow Jones Sustainability Index (DJSI), in denen ebenfalls in der Regel Bezug auf die ILO-Mindeststandards genommen und deren Einhaltung proklamiert wird. Auf dieser marktinstitutionellen Ebene übt die Ressource des ökonomischen Kapitals immer dann eine starke regulierende Wirkung aus, wenn durch Veränderungen in anderen Bereichen z. B. der DJS-Index sinkt, Marken durch schlechte Presse einen spürbaren Imageverlust erleiden, Absatzrückgänge zu verzeichnen sind oder gar aktiv Kaufboykotts über öffentliche Kampagnen (Campaigning) und die sozialen Netzwerke von Aktivistengruppen organisiert werden. Über die letzteren Aktivitäten kann z. B. eine normativ-kognitive Figur wie die des Decent Work in der öffentlichen Meinung, aber auch als Bezugspunkt für Organisationsaktivisten etabliert werden. Als ‚Issue-Profis‘ können Experten in den verschiedensten Organisationen bezeichnet werden, für die z. B. die Einhaltung der ILO-Mindeststandards ein Grundbestandteil ihres Arbeits- und Berufsverständnisses ist. Solche Experten können in den Globalen Gewerkschaftsverbänden (GUFs), beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut in Brüssel (ETUI), in Euro-Betriebsräten (EWCs), in Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und natürlich auch in den entsprechenden Fachabteilungen von Unternehmen (UN) tätig sein. Das von ihnen repräsentierte kulturelle Kapital äußert sich z. B. in Zertifikaten für besuchte Schulungen, in spezifischen Wissensbeständen und einem entsprechenden Berufsethos. Soziales Kapital wird in Bezug auf die ILO-Mindeststandards nicht nur in den sozialen Netzwerken von Aktivistengruppen aufgebaut, sondern auch innerhalb und durch die Arbeitsbezüge der Issue-Experten in den Organisationen. Vieles spricht dafür, dass die weitere Ausdifferenzierung und Internationalisierung der Erwerbsregulierung als säkulare Trends zu betrachten sind. Die vormals sehr stark nationalstaatlich eingefassten Institutionen der Erwerbsregulierung (Netzwerk, Beruf, Markt, Organisation und öffentliches Regime)

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3  Begriffe und Theorien der Erwerbsregulierung

erweitern sich ebenso auf die supranationale, transnationale und globale Ebene wie die erwerbsregulierenden Akteursgruppen und die entsprechenden Arenen. Die hier nur angedeutete institutionentheoretische Fundierung und akteursorientierte neo-institutionalistische Erweiterung der Analyse von Erwerbsregulierung kann helfen, sowohl deren vielfältige Ebenen systematisch zu erfassen als auch das enge klassische Dreieck von Staat, Kapital und Arbeit zu erweitern. Neben theoretischen Fundierungen und Erweiterungen sind für die Analyse der Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt die Hauptanalysedimensionen so zu vertiefen, dass sie möglichst breit, also auch außerhalb Deutschlands und jenseits der Welt der früh industrialisierten Länder wirklichkeitserschließend sind.

4

Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Nach der generellen Abgrenzung und Bestimmung des Forschungsfeldes der Erwerbsregulierung im vorhergehenden Kapitel, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen nun auf die Erörterung abhängiger Erwerbsarbeit in einer international vergleichenden Perspektive. Im Kap. 2 wurden die allgemeinen sozialen Institutionen vorgestellt, die abhängige und selbstständige Erwerbsarbeit insgesamt strukturieren. Diese Institutionen wirken auf einzelne Akteure, auf Akteursgruppen sowie auf kollektive und korporative Akteure1 insgesamt wie ein Kräftefeld unterschiedlicher Handlungsressourcen, dominanter Handlungsnormen, hauptsächlicher Kommunikationsmedien und spezifischer Handlungssituationen bzw. -settings. Dabei sind Akteure je nach raum-zeitlichen Bedingungen dem Wirken der verschiedenen Institutionen in variierendem Grade ausgesetzt. Sie können in Grenzen auch selbst diejenigen Handlungssituationen meiden oder suchen, in denen bestimmte Institutionen stärker und andere dafür schwächer wirken – aber sie können sich nicht dem Einfluss dieser fünf Institutionen völlig entziehen. Wichtig ist nun, dass die besondere Konfiguration der fünf Institutionen, die spezifische Bedeutung jeder einzelnen und das jeweilige Zusammenwirken aller miteinander von einem Land zum anderen sehr stark variieren. In gewisser Hinsicht bestehen die Nationalgesellschaften als gesonderte Sozialräume gerade dadurch und darin, dass sich ihre tragenden Institutionen der Vergesellschaftung vor dem

1Kollektive

Akteure sind Organisationen wie Gewerkschaften, Arbeitgeber- und andere Interessenverbände sowie politische Parteien, deren Ressourcen vor allem von den Organisationsmitgliedern und deren Mobilisierbarkeit abhängen, wobei die organisationsbezogenen Interessen und Präferenzen der Mitglieder relativ ähnlich sind; als korporative Akteure werden dagegen solche Organisationen bezeichnet, deren Mitglieder divergente Interessen haben können und die dennoch ihre Ziele durch Ressourcenmobilisierung erreichen können (z. B. Unternehmen, öffentliche Verwaltungen, Universitäten).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_4

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64

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Hintergrund historischer Entwicklungspfade jeweils zu spezifischen ‚k­ontingenten Konfigurationen‘ (Pries 1997) ausgebildet und stabilisiert haben.2 Hierauf wird etwa in der neueren Literatur unter dem Stichwort der Varieties of Capitalism (Hall und Soskice 2001) verwiesen. Kapitalistische Gegenwartsgesellschaften zeichnen sich demnach durch eine unterschiedliche Rolle und Einbettung des Marktes als Koordinationsmechanismus aus; in ‚liberalen Marktgesellschaften‘ ist der Markt als Institution von größerer Bedeutung als in ‚koordinierten Marktgesellschaften‘ (in denen das öffentliche Regime und andere Institutionen sehr wichtig sind). Vielfältigste Befunde zeigen auch, dass sich nationale Gesellschaften etwa auch durch die Rolle und Bedeutung von Professionen und Berufen (Beck et al. 1980) oder Organisationen (Brossard und Maurice 1974) oder Netzwerken (Halpern 2005) sehr stark unterscheiden. Das generelle Kräftefeld der fünf erwerbsstrukturierenden Institutionen beeinflusst die Bedingungen und Formen von Erwerbsarbeit nicht nur direkt über die erwerbsbezogenen Handlungen einzelner Akteure, Akteursgruppen sowie kollektiver und korporativer Akteure (Arbeitnehmer, Beschäftiger, Haushalts- bzw. Familienmitglieder, Berufsausbildungseinrichtungen, Finanzaufsichtsbehörden, gesetzgebende Körperschaften etc.). Vielmehr haben sich im Laufe der historischen Entwicklung arbeitsteiliger Kooperationszusammenhänge – und das heißt letztlich: seit Tausenden von Jahren – spezifische soziale Mechanismen und Normensysteme zur expliziten Regulierung von Arbeit allgemein herausgebildet (Geschlechterregime, Berufsgliederungen, Gilden, Zünfte etc.). Mit der Expansion abhängiger Erwerbsarbeit wurden dann seit dem ausgehenden Mittelalter explizite und kollektive Formen der Erwerbsregulierung vor allem durch die Landesherren und die entstehenden Staaten und seit dem 19. Jahrhundert vor allem durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände immer bedeutsamer.3 Unter Erwerbsregulierung wird in diesem Sinne die bewusste, interessen- und machtdurchtränkte sowie kulturell geprägte individuelle und kollektive Aushandlung, Festlegung und Kontrolle der Arbeits-, Beschäftigungsund Partizipationsbedingungen verstanden (vgl. Abb. 4.1).

2Der

Terminus Konfiguration wird in Anlehnung an den vom Alfred-Weber-Schüler Norbert Elias eingeführten Figurationsbegriff gebraucht, der damit allgemein „Verflechtungsmodelle interdependenter Individuen“ (1986, S. 11 und 141) bezeichnet; kontingent sind die spezifischen Kombinationen von Merkmalsausprägungen im Sinne von nicht völliger Determiniertheit und von nicht völliger Beliebigkeit. 3Zu den weitgehenden Regulierungen der Erwerbs- und sogar der Wohn- und sonstigen Lebensbedingungen der Bergleute im mittelalterlichen Harz vgl. z. B. die sogenannte Bergfreiheit von 1532 in Ließmann (1997, S. 19). Als internationale Überblickswerke aus einer traditionellen Industrial-Relation-Perspektive vgl. Kaufman (2004) und Morley et al. (2006); zur Geschichte der Gewerkschaften allgemein vgl. Mielke (1983) und Abschn. 5.3.4.

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

65

Abb. 4.1   Erwerbsregulierung im institutionellen Kräftefeld. (Quelle: Eigene Ausarbeitung)

Die Beschäftigungsbedingungen4 betreffen das Arbeitsvertragsverhältnis selbst: Für welche Leistung (gemessen z. B. in Arbeitsstunden oder in erreichten und messbaren Produktionseinheiten) erhält der Beschäftigte welche G ­ egenleistung (z. B. in

4In

der angelsächsischen Forschung wird explizit zwischen den employment relations und den work relations unterschieden, dies entspricht der hier vorgenommen Differenzierung in Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen bzw. -beziehungen. Im Sinne der Handlung-Struktur-Problematik verweisen die Begriffe Bedingungen und Beziehungen auf zwei unterschiedliche Aspekte desselben Gegenstandes: einerseits auf die in feste Regeln, Normen, Strukturen und sogar Artefakte (Lohnbüros, Stechuhren etc.) gegossenen Sedimente als Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen und andererseits auf die diese Bedingungen ‚zum Leben erweckende‘ soziale Praxis der Interpretation, Ausfüllung und Ausnutzung als Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen. Da in dieser Arbeit die Erwerbsregulierung als Kräftefeld der Aushandlung, Festlegung und Kontrolle der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen im Mittelpunkt der Betrachtung steht und nicht deren konkrete gelebte betriebliche Praxis, wird hier weitgehend der Bedingungs-Begriff verwendet.

66

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Form von direktem Lohn, Leistungszuschlägen, Urlaub etc.). Diese Beschäftigungsbedingungen werden – soweit sie formalisiert und schriftlich geregelt sind – in der Regel im individuellen Arbeitsvertrag fixiert, wobei meistens auf entsprechende beschäftigungsrelevante Gesetze und Tarifverträge verwiesen wird. Obwohl der Arbeitsvertrag – ob schriftlich oder nur mündlich geschlossen – normalerweise für sehr lange Zeitperioden gilt, ergeben sich dennoch häufig Änderungen bezüglich der Beschäftigungsbedingungen: Die Lohnhöhe oder die Arbeitszeiten werden verändert; die Anzahl der gewährten Urlaubstage wird erhöht oder reduziert; ein Recht auf zusätzliche Freistellungen z. B. zur eigenen Weiterbildung oder für elterliche Erziehungszeiten wird eingeführt. Solche Veränderungen können durch betriebliche kollektive oder individuelle Absprachen, durch Tarifverträge oder durch nationale oder gar supranationale Gesetze und Richtlinien angestoßen werden, in jedem Fall verändern sie die Beschäftigungsbedingungen. Während sich die Beschäftigungsbedingungen auf das Arbeitsvertragsverhältnis beziehen, werden unter Arbeitsbedingungen die spezifischen Umstände verstanden, unter denen im Rahmen des Arbeitsverhältnisses das Arbeitsvermögen eines Beschäftigten tatsächlich genutzt wird, also im Rahmen der Betriebsziele in Arbeitshandeln transformiert wird: Was wird im Einzelnen vom Beschäftigten erwartet? Wer hat welche Anweisungen zu geben? Wem gegenüber ist der Beschäftigte berichtspflichtig? Was wird als ‚normale‘ Arbeitsleistung angesehen und durch welche Anreizstrukturen und Kontrollmechanismen wird sicher zu stellen versucht, dass der Beschäftigte auch im Rahmen der betrieblichen Vorgaben und Ziele arbeitet? Die hier angesprochenen Fragen werden in der einschlägigen Literatur auch als das Kontroll- oder Transformationsproblem der Arbeit oder als das Prinzipal-Agenten-Problem diskutiert (Minssen 2006, Kap. 2). Edwards (1979) hatte im Zusammenhang der sogenannten Labour-Process-Debate (­Burawoy 1985; Hildebrandt und Seltz 1987) drei Formen der Arbeitskontrolle unterschieden: einfache, bürokratische und technische Kontrolle (vgl. auch Edwards und Scullion 1982). In der institutionenökonomischen Forschung werden ähnliche Problemstellungen unter dem Stichwort des Prinzipal-Agenten-Verhältnisses (Ross 1973; als Überblick vgl. Kieser 2001, Kap. 7) diskutiert – allerdings ohne eine explizite Bezugnahme auf im engeren Sinne soziologische oder politikwissenschaftliche Erklärungsansätze: Wie kann ein Auftraggeber als unternehmerischer Vertragspartner (‚Principal‘) sicherstellen, dass der Auftragnehmer als beschäftigter Vertragspartner (‚Agent‘) sich tatsächlich an den Vorgaben, Zielen und dem Willen des ‚Prinzipals‘ orientiert, wenn der ‚Agent‘ aufgrund seines Wissens und seiner Aufgabenstellung der eigentliche Experte in bezug auf die zu erfüllende Aufgabe ist? Aus der prinzipiellen Unbestimmtheit von Arbeitsverträgen im Hinblick auf die spezifischen Arbeitsinhalte und das konkrete Arbeitshandeln ergibt sich auch ein

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

67

Teilaspekt der Regulierung der Partizipationsbedingungen. Vielfältige Studien zeigen, dass selbst unter hochgradig taylorisierten, standardisierten und minutiös vorbestimmten Arbeitsbedingungen die Beschäftigten ‚Ungewissheitszonen‘ (­Crozier und Friedberg 1979) kontrollieren und deshalb Leistungserstellungsprozesse immer auf die aktive Beteiligung und das freiwillige Einbringen von impliziten Wissensbeständen durch die Beschäftigten angewiesen sind. Nicht zufällig werden die Probleme der Mitarbeiterbeteiligung und Beschäftigtenpartizipation gerade seit den 1990er Jahren in Bereichen hochqualifizierter Wissensarbeit besonders intensiv diskutiert: Komplexe Aufgabenstellungen wie z. B. die Entwicklung neuer Produkte oder die Erstellung von Softwareprogrammen entziehen sich weitgehend der direkten Kontrolle und Steuerung durch Vorgesetzte oder ‚Prinzipale‘; zielorientierte und dezentrale bzw. ‚rekursive Selbststeuerung‘ (Minssen 1999) bei einem größeren Ausmaß direkter Partizipation der Beschäftigten an den auf den Leistungserstellungsprozess bezogenen Entscheidungen werden deshalb zunehmend zu einem Thema der Erwerbsregulierung. Neben den Interessen der Unternehmen bzw. Beschäftiger an der aus ihrer Sicht adäquaten Festlegung der Partizipationsbedingungen bestehen auch seitens der Beschäftigten mehr oder weniger explizite Interessen an der individuellen und kollektiven Partizipation an den operativen, auf den Leistungserstellungsprozess bezogenen Entscheidungen und an den eher strategischen, längerfristigen, gesamtbetrieblichen Entscheidungen. Dies liegt vor allem darin begründet, dass abhängige Erwerbsarbeit niemals nur der rein materiellen Daseinsvorsorge und der materiellen Reproduktion dient: Sie ist immer auch ein wichtiger, manchmal sogar der wichtigste Bereich, in dem Menschen Anerkennung, Selbstbestätigung und beruflich-fachliche Selbstverwirklichung finden können. Da die operativen und die strategischen Entscheidungen in Leistungsorganisationen die Erwerbsbedingungen der darin Beschäftigten unmittelbar und auch längerfristig beeinflussen, ergibt sich das legitime und grundsätzliche Streben der Arbeitnehmer nach Partizipation und demokratischer Teilhabe in Betrieb, Unternehmen und der Wirtschaft insgesamt. Für die Regulierungsbezüge der Beschäftigungs-, Arbeits- und Partizipationsbedingungen gilt, dass sie nicht nur zwischen Beschäftigten und Beschäftiger, sondern auch nach Berufs-, Funktions- oder Qualifikationsgruppen sowie nach vielen anderen Merkmalen (wie z. B. der biografisch-lebensphasenbezogenen Situation, dem Geschlecht, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit) variieren können. Dies macht ihre Aushandlung, Festlegung und Kontrolle zu einem sehr komplexen und dauerhaften Prozess. Als dessen Ergebnis lassen sich zwei Typen von Regulierungsergebnissen unterscheiden: Erwerbsregulierung zielt auf die Aushandlung, Festlegung und Kontrolle von materialen Normen der

68

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

­ rbeitsvertragsgestaltung, der Entlohnungs- und Vergütungsbestimmungen, von A Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, der Arbeits- und Urlaubszeiten und der horizontalen und vertikalen Erwerbsmobilität (z. B. durch Tarifverträge, Gesetze oder individuelle Arbeitsverträge) und von prozeduralen Normen der individuellen und kollektiven Interessenaushandlung und Konfliktregulierung (z. B. durch Tarifvertragsgesetze, Rationalisierungsschutz- und Standortsicherungsabkommen oder informelle Schlichtungsverfahren). Beispiele für die Beziehungen zwischen Regulierungsbezügen und den Regulierungsergebnissen materialer und prozeduraler Normen sind in Tab. 4.1 angegeben. Sowohl materiale als auch prozedurale Normen sind zum Teil explizit und schriftlich formalisiert, zum Teil bestehen sie aber auch als informelle Erwartungen und Normalitätsstandards. Sowohl die Regulierungsbezüge als auch die Art der Regulierungsergebnisse variieren nach Branchen, Betriebsgrößen, Unternehmenskulturen, Arbeitspolitiken, Ländern, in der Zeit und nach anderen Faktoren ganz erheblich. Traditionelle Dienstleistungsbereiche wie der Lebensmitteleinzelhandel oder das

Tab. 4.1   Regulierungsbezüge und Regulierungsergebnisse Reg. bezug BeschäftigungsReg. ergebnis bedingungen

Arbeitsbedingungen

Partizipationsbedingungen

Materiale ­Normen

z. B. „Die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt 37 Stunden“ oder „Das monatliche Entgelt beträgt 2 500 €“

z. B. „Der Beschäftigte X hat den Arbeitsanweisungen seines Vorgesetzten Y und den Hinweisen des Qualitätsbeauftragten Z zu folgen“

z. B. „Das Projektteam regelt die Anwesenheitszeiten autonom“ oder „Bei Einhalten der Auftragstermine können die Beschäftigten die Sequenz von Arbeitsschritten und Aufträgen selbständig ändern“

Prozedurale Normen

z. B. „Die tatsächlich zu leistende wöchentliche Arbeitszeit wird im Projektteam vereinbart, im Zweifelsfall werden der Vorgesetzte und der Betriebsrat hinzugezogen“

z. B. „Sollte der Beschäftigte X die Arbeitsaufträge nicht in der geforderten Zeit erledigen können, hat er dies unverzüglich der Produktionsplanung mitzuteilen“

z. B. „Bei innerbetrieblichen Versetzungen ist der Betriebsrat vorher anzuhören“ oder „Bei Investitionsentscheidungen über 1 Mio. € ist vorher die Meinung des Vertretungsgremiums einzuholen“

Quelle: Eigene Ausarbeitung

4.1  Dimensionen Regelungsgegenstände und Regulierungsarenen

69

Friseurgewerbe, die kleinbetrieblich strukturiert sind, zeichnen sich durch nur wenig formale Regulierungen vor allem der Beschäftigungsbedingungen aus. In großbetrieblichen Fertigungsindustrien wie der Chemie- oder Automobilbranche sind dagegen häufig sehr dezidierte formelle Regulierungen auch der Arbeitsbedingungen zu finden. Die Partizipationsbedingungen werden in vielen Ländern und Branchen kaum zum expliziten Gegenstand der Erwerbsregulierung gemacht. Dagegen sind sie material und prozedural recht stark in Ländern mit einer ausgewiesenen Mitbestimmungstradition wie Deutschland und Österreich festgelegt. Sowohl materiale als auch prozedurale Normen können stark formalisiert sein (wie z. B. in Deutschland oder Frankreich), aber auch durchaus auf eher informellen custom and practices beruhen (wie z. B. in Großbritannien). Begriffe wie Innovative Human Resource Management, die in vielen Ländern im Zusammenhang neuer Beteiligungs- und Einbindungsstrategien diskutiert werden, deuten darauf hin, dass die Partizipationsbedingungen zunehmend in vielen Ländern in den Segmenten hochqualifizierter Wissensarbeit als Gegenstand der Erwerbsregulierung thematisiert werden. Dimensionen der Regulierung von abhängiger Erwerbsarbeit Um das Panorama der Erwerbsregulierung zu vervollständigen und möglichst alle relevanten Aspekte aufzunehmen, die für eine internationale Betrachtung nicht nur der alten früh industrialisierten, sondern auch der sogenannten Schwellen- und Entwicklungs-Länder von Bedeutung sind, werden im Folgenden neun Dimensionen der Erwerbsregulierung vorgestellt. Erwerbsregulierung lässt sich demnach untersuchen nach den Aspekten der dominanten R ­ egelungsgegenstände, der Regulierungsarenen, ihrer räumlichen Reichweite, des spezifischen Regulierungsmodus, der spezifischen Konfliktregulierungsformen, der hauptsächlichen Akteure, ihrer vorherrschenden Machtressourcen, der spezifischen Akteurskonstellation und -dynamik sowie der bestimmenden gemeinsamen Ideologie und Normen (vgl. Tab. 4.2).

4.1 Dimensionen Regelungsgegenstände und Regulierungsarenen Eine erste Dimension der Erwerbsregulierung betrifft die Regelungsgegenstände. Grundsätzlich können alle Aspekte der Beschäftigungsbedingungen (vor allem Entgelt, Arbeitszeit, Urlaub, externe Mobilität im Sinne von Beschäftigungssicherung, Kündigungsmöglichkeiten etc.), der Arbeitsbedingungen (vor allem Formen der Qualifikationsnutzung und der Qualifizierung, interne längerfristige

Regional

Individuen

Dominante Akteure

Antagonistisch

Utilitaristisch

Collective Bargaining

UN-Verbände Ökonomisches Kapital

Kulturelles Kapital

Unternehmen

Quelle: Eigene Ausarbeitung

Gemeinsame Ideologie

Material Bipartistische Tarif-Schlichtung

Soziales Kapital

Akteurskons- Liberal-­ Political tellation individualistisch Bargaining

Dominante Machtressourcen

Betriebl. ­Gremien

Unabhängige Justiz

Konfliktregulierung

National

Qualifizierung

Qualifikation

Betriebl. Vertr. Gewerkschaften Org.

Informell

Regulierungsmodus

Lokal

Räumliche Reichweite

Arbeitszeit

Betriebliche Vereinbarung

Externe Mobilität

Lohn

Regulierungs- Individueller arena Vertrag

Regelungsgegenstand

Tab. 4.2   Dimensionen der Erwerbsregulierung

Populistischkorporatistisch

Tarifvertrag

Arbeitseinsatz

Interne ­Mobilität

Arbeitskontrolle

Organisationales Kapital

Berufsgruppen

Staat

Tripartistische/ Öffentliche Organe

Prozedural

Supranational

Politisches Kapital

Medien

NGOs/soz. Beweg.

Kollektiver Arbeitskampf

Transnational

Diskursive ­Legitimation

Mitbestimmung

Beteiligung

Sozialpartnerschaftlich

Politische Einseitige Konzertierung Dekretierung

Formell

Global

Gesetz/Rechtsnorm

Arbeitsorganisation

70 4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

4.1  Dimensionen Regelungsgegenstände und Regulierungsarenen

71

horizontale und vertikale Arbeitsmobilität, kurzfristige Arbeitseinsatzmobilität, Arbeitsorganisation im Sinne von Aufgabenbreite, -tiefe und -wechsel, Arbeitskontrolle etc.) und der Partizipationsbedingungen (individuelle oder kollektive Beteiligung in alltäglichen operativen Entscheidungen, Mitbestimmung bei operativen und strategischen Entscheidungen etc.) von Regelungen betroffen sein. Tatsächlich aber variieren die Schwerpunkte der Regelungsgegenstände nach Ländern, Branchen und auch in der Zeit ganz erheblich, ohne dass sich daraus – weder aus Beschäftigten- noch aus Beschäftigersicht – eine einfache und eindimensionale ‚besser-schlechter‘ Rangordnung von Mustern der Erwerbsregulierung konstruieren ließe. Entscheidend ist vielmehr, dass alle beteiligten Akteursgruppen zunächst einmal die Vielfalt und Andersartigkeit dieser Modelle zur Kenntnis nehmen und in ihrem Handeln berücksichtigen. Die Regelungsgegenstände Entgelt, Arbeitszeit und Urlaub machen in fast allen Ländern und Branchen traditionell und auch weiterhin den Kernbestand der Erwerbsregulierung aus. In einigen Ländern konzentrieren sich die Regelungsgegenstände auch weitgehend auf diese Aspekte der Beschäftigungsbedingungen, namentlich auf die Lohnhöhe und Lohnzusatzleistungen (wie z. B. Zuschläge für Überstunden, Nacht- und Feiertagsarbeit) sowie die Anzahl und Lage der Urlaubstage. Dies gilt z. B. für die gewerkschaftlich nicht organisierten Bereiche der US-amerikanischen Wirtschaft. In anderen Ländern dagegen spielen daneben auch Fragen der Regulierung und Kontrolle der innerbetrieblichen horizontalen und vertikalen Mobilität eine sehr große Rolle; dies gilt etwa für die Senioritätsregeln betrieblicher Arbeitsmärkte in den gewerkschaftlich kontrollierten Branchen und Unternehmen Mexikos oder der USA. Fragen der betrieblichen oder überbetrieblichen Beschäftigtenpartizipation in den unterschiedlichen Formen und Graden sind in vielen Ländern nur ein marginaler Gegenstand der Erwerbsregulierung. Sie haben aber in Ländern wie Deutschland und Österreich traditionell, in Ländern Skandinaviens sowie Spaniens und Frankreichs seit einigen Jahrzehnten und in allen Ländern der EU seit der Verabschiedung der Direktive 95/94/EC zur Einrichtung von Euro-Betriebsräten (siehe Abschn. 8.2) ein erhebliches Gewicht. Betrachtet man die Entwicklungen der Erwerbsregulierung in einer vergleichenden Längsschnittperspektive, so zeigen sich widersprüchliche Tendenzen der Einschrän­ kung und der Ausweitung der Regelungsgegenstände. In Deutschland z. B. ergab sich seit den 1980er Jahren eine nachhaltige Ausweitung und Differenzierung der Regelungsgegenstände von eher quantitativen zu eher qualitativen Regelungsgegenständen und von einer Fokussierung auf die Beschäftigungsbedingungen zu einer Ausweitung auch auf die Arbeits- und Partizipationsbedingungen. G ­ ewerkschaftsund Arbeitgeberverbände haben diesen Wandlungsprozess als Übergang zu einer ­qualitativen Tarifpolitik ­charakterisiert: Von der – in den 1960er und 1970er Jahren

72

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

vorherrschenden – Konzentration auf Fragen der Lohnhöhe und auf das (noch in den 1980er Jahren prominente) Problem des absoluten Arbeitszeitumfangs entwickelte sich Tarifpolitik immer stärker hin zu Regelungsgegenständen der Arbeitsplatzsicherung, des sogenannten Rationalisierungsschutzes sowie zu Themengebieten wie der Flexibilisierung tariflicher Regulierungen (z. B. zur Arbeitszeit) auf der betrieblichen Ebene und der Qualifizierung (Artus 2001; Bispinck und Schulten 2003). In vielen Ländern, vor allem in sich industrialisierenden Ländern des Südens mit nur schwach entwickelten, formalisierten Strukturen der Erwerbsregulierung, brachte die zunehmende Internationalisierung von Wirtschaftsaktivitäten eine Schwächung der Verhandlungspositionen der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen mit sich – die Regelungsgegenstände reduzierten sich häufig auf die drängendsten Fragen der Lohnentwicklung und auf die Verteidigung bestehender – durchaus nicht immer zeitgemäßer – rechtlicher Mindestnormen (z. B. die gewerkschaftliche Kontrolle betriebsinterner Arbeitsmärkte). Dimension Regulierungsarenen Eine zweite Dimension der Erwerbsregulierung bezieht sich auf die allgemeine sozial-rechtliche und legitimatorische Rahmung sowie die Akteursbezüge der Erwerbsregulierung, welche hier unter dem Begriff der Regulierungsarenen gefasst werden. Entgegen anderen Konzeptionierungsvorschlägen5 werden hier generell fünf verschiedene Arenen unterschieden: der individuelle Vertrag, die betriebliche Vereinbarung, der Tarifvertrag, das Gesetz bzw. die staatliche Regelung und die diskursive Legitimation. Der individuelle Vertrag ist sicherlich die

5Müller-Jentsch

hatte dem Begriff der Arena in seiner Darstellung des deutschen Systems der Industriellen Beziehungen eine sehr große, aber nur wenig ausgeführte Bedeutung zugeschrieben; danach sind ‚Arenen der Industriellen Beziehungen‘ komplexe Institutionengefüge, welche die jeweils ‚gültigen‘ dominanten Aushandlungsgegenstände und -akteure sowie die damit korrespondierenden Interessenregulierungs- und Konfliktformen bestimmen (vgl. Müller-Jentsch 1997, S. 195). Für Deutschland unterscheidet Müller-Jentsch dann zwei ‚Arenen der Industriellen Beziehungen‘, nämlich die Betriebsverfassung und die Tarifebene. Die Charakterisierung des deutschen Gefüges der Erwerbsregulierung als dual ist nicht neu, sie durchzieht alle einschlägigen Überblickswerke (z. B. Fürstenberg 1969). Problematisch an dem von Müller-Jentsch vorgeschlagenen ‚Arenen‘-Begriff ist einerseits, den ‚Arenen‘ eigenständige und getrennte Institutionengefüge zuzuordnen und andererseits, die Erwerbsregulierung auf diese beiden Arenen zu reduzieren. So betonen Schmidt und Trinczek (1989) die engen Verflechtungen zwischen betrieblicher und tariflicher Ebene und meinen, dass „schon auf der Ebene personeller Verschränkungen von einer wechselseitigen Durchdringung beider Ebenen im Sinne einer ‚Vergewerkschaftung der Betriebsräte‘ bzw. einer ‚Verbetriebsrätlichung der Gewerkschaften‘ gesprochen werden“ könne (ebd., S. 182).

4.1  Dimensionen Regelungsgegenstände und Regulierungsarenen

73

älteste, für viele Bereiche von Erwerbsarbeit nach wie vor die vorherrschende und auch in Kombination mit den anderen Regulierungsarenen eine nach wie vor äußerst wichtige Form der Fixierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen. In kleinbetrieblichen Erwerbsstrukturen etwa werden in sehr vielen Ländern fast alle relevanten Bestandteile der Erwerbsbedingungen wie die Lohnhöhe, die Arbeitszeiten, die Leistungszumutungen und Kontrollformen individuell zwischen dem Beschäftiger und den Beschäftigten ‚ausgemacht‘. Dieses ‚Ausmachen‘ ist dabei häufig eine Mischung aus rudimentären Vertragsfestlegungen, informellen Absprachen sowie impliziten Normen ‚nach Brauch und Sitte‘, die zwischen dem Beschäftigten und dem Beschäftiger historisch gewachsen sind. Auch wenn so verstandene individuelle Verträge in die kollektive Unternehmenskultur eingebunden sind, bleibt ihr Legitimationsbezug das individuelle Arbeitsverhältnis. Die Einbettung individueller Verträge in kollektive betriebliche Normenstrukturen verweist bereits auf die zweite Regulierungsarena, die betrieblichen Vereinbarungen, deren Legitimationsbezug die betriebliche Sozialordnung ist. Solche betrieblichen Vereinbarungen können hochgradig formalisiert sein: In Deutschland z. B. handeln die Betriebsräte als Repräsentationen der Beschäftigten mit der Unternehmensleitung explizite Regeln und Vereinbarungen aus. In anderen Ländern sind die betrieblichen Verhandlungspartner in der Regel andere, etwa betriebliche Gewerkschaftsorgane (wie in England), aus Management- und Arbeitnehmervertretern bestehende Informationsorgane (wie in Frankreich) oder Fabrikkomitees (wie in Brasilien), die die Funktion der betrieblichen kollektiven Verhandlungspartner übernehmen. Betriebliche Aushandlung muss sich in dem hier dargestellten Verständnis nicht auf einen Einzelbetrieb beschränken, sie kann vielmehr auch auf einen großen komplexen Konzern mit vielen Einzelbetrieben bezogen sein.6 Die Regulierungsarena betrieblicher Vereinbarungen beschränkt sich nicht auf formalisierte rechtlich bindende Abkommen, sie kann auch vorwiegend – wie z. B. in Großbritannien – informelle (aber deshalb nicht unbedingt weniger mächtige) Bindungswirkungen als custom and practice entfalten. Die dritte Regulierungsarena bezieht sich auf kollektiv-tarifvertragliche Aushandlungen zwischen den Interessenverbänden der Beschäftigten und der Beschäftiger, in der Regel Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. E ­ rgebnis

6Vgl. zu den weltweit gültigen Betriebsvereinbarungen zur Einrichtung von WeltkonzernBetriebsräten oder Weltkonzern-Ausschüssen in europäischen Automobil- und Chemieunternehmen wie Volkswagen, DaimlerChrysler, BASF oder Danone; vgl. Müller et al. (2004) und zu den International Framework Agreements auf Weltkonzernebene Abschn. 6.4.

74

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

dieser Aushandlungen sind normalerweise Tarifverträge als privatrechtliche Kollektivvereinbarungen, die für die Mitglieder der jeweiligen Verbände bindend und rechtswirksam sind. In Ländern mit stark etatistischen Traditionen können Tarifverträge allerdings auch einen über das Privatrecht hinausgehenden, quasi öffentlichen Charakter annehmen. So werden etwa in Mexiko Tarifverträge erst dann rechtswirksam, wenn sie in der entsprechenden Abteilung des Arbeitsministeriums geprüft und registriert worden sind; in Frankreich gelten trotz eines sehr geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrades (von nur etwa einem Zehntel aller Beschäftigten) wegen der staatlichen Politik der Generalisierung von Tarifverträgen diese für etwa neun Zehntel aller Arbeitnehmer. Die tarifvertragliche Regulierungsarena erstreckt sich normalerweise auf bestimmte Branchen und/oder Regionen, sie kann allerdings auch (wie etwa im Falle Englands) stark auf Berufsgruppen ausgerichtet sein oder (wie etwa im Falle Brasiliens) vornehmlich auf die lokale Ebene, oder schließlich auch auf einzelne Großunternehmen (wie etwa im Falle der Haustarifverträge für Volkswagen in Deutschland oder der Tradition betrieblicher Gewerkschaften und Tarifverträge in Mexiko). Während der Legitimationsbezug des Tarifvertrages das bürgerliche Vertragsrecht ist, ist dies bei der vierten Regulierungsarena das öffentliche Recht. Diese bezieht sich auf die Aushandlung und Kontrolle von staatlichen bzw. gesetzlichen oder quasi-gesetzlichen Bestimmungen, die die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen im weiteren Sinne betreffen oder im engeren Sinne gestalten. Hierzu zählen für Deutschland etwa das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 und seine Novellierung von 2001, das Tarifvertragsgesetz von 1949, die für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge sowie das gesamte System der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, insofern hiermit quasi nicht hinterfragte bürgerrechtliche Ansprüche verbunden sind. Für Deutschland ist seit 2015 ein durch staatliche Regulierung, nämlich durch das Mindestlohngesetz, festgesetztes Mindestniveau der Entlohnung festgelegt worden, wie es dies schon vorher in vielen anderen Ländern gab.7 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass zunehmend nicht nur nationalstaatliche, sondern auch supranationale und globale Rechtsnormen, wie etwa das System von Direktiven und Verordnungen im Rahmen der EU (vgl. Teil 6) oder die auf der Ebene der ILO als einer UNO-Unterorganisation von der internationalen Staatengemeinschaft verabschiedeten Arbeitsmindeststandards (vgl. Teil 5), zu dieser Regulierungsarena zu zählen sind.

7Vgl.

http://www.mindest-lohn.org/; zur Statistik der Mindestlöhne vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VerdiensteArbeitskosten/Mindestloehne/ Tabellen/MindestlohnDeutschland.html.

4.2  Dimensionen Räumliche Reichweite und Regulierungsmodus

75

Eine fünfte Regulierungsarena schließlich, die in der wissenschaftlichen Forschung und Literatur bisher nur wenig Beachtung fand, bezieht sich auf die öffentlich-diskursive legitimatorische Verfestigung von Normalitätsstandards und Anspruchsrechten im Hinblick auf die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen. Die Wirkung öffentlicher Kampagnen z. B. gegen Zwangsarbeit, gegen Extremformen der Kinderarbeit, gegen besonders ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in chinesischen Fabriken, südspanischen Gewächshäusern oder zentralamerikanischen Bananenplantagen oder gegen angekündigte Werksschließungen hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass sich Unternehmen, Staaten, Arbeitnehmer und Gewerkschaften nicht nur im formalrechtlichen und vertraglichen Bezugsrahmen von Betrieben, Tarifvertragsgebieten oder Nationalstaaten legitimieren müssen. Jenseits der formalrechtlichen Bindungen überprüfen Unternehmen, welche Wirkungen eigene Maßnahmen wie etwa Massenentlassungen oder externe Enthüllungen von Verstößen gegen die ILO-Arbeitsmindeststandards bei Zulieferern für das eigene Image und bei den verschiedenen Stakeholder- und Shareholdergruppen haben könnten. Ähnlich, wie sich für den Shell-Konzern der Versuch, eine ausgediente Ölbohrplattform in der Nordsee zu versenken, zu einem großen Ansehens- und finanziellen Verlust auswuchs, unterliegen auch Maßnahmen und Politiken im Bereich der Erwerbsregulierung der sensiblen öffentlichen Beobachtung und bedürfen der diskursiven Legitimation. Die Bedeutung dieser Regulierungsarena wächst in dem Maße, wie Aspekte der Umweltverträglichkeit, der Nachhaltigkeit und der corporate social responsibility im gesellschaftlichen Diskurs an Bedeutung gewinnen.

4.2 Dimensionen Räumliche Reichweite und Regulierungsmodus Eine dritte Dimension der Erwerbsregulierung bezieht sich auf die räumliche Reichweite der Normen- und Regelsetzung und -kontrolle. Hier lassen sich grob die sechs geografischen Raumbezüge lokal, regional, national, supranational, global und transnational unterscheiden. Betriebsvereinbarungen etwa zur Standortsicherung können sich auf eine lokale Betriebsstätte oder einen nationalen Geltungsraum beschränken. Sie können sich aber auch (wie etwa im Falle der verschiedenen Standortsicherungsabkommen für General Motors Europa seit 2000) supranational auf die gesamte europäische Region beziehen oder auch (wie im Falle konzernweit gültiger Mindestarbeitsbedingungen und freiwilliger Vereinbarungen) transnational für alle bestehenden Zweigbetriebe und Unternehmensbeteiligungen Gültigkeit besitzen. Schließlich kann der Raumbezug auch

76

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

global bzw. weltweit definiert sein wie etwa im Falle der allgemeinen Menschenrechte oder der von der ILO als allgemeingültig für alle sie tragenden Mitgliedsstaaten gebilligten Vereinbarungen zu Mindeststandards von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.8 Dass es sinnvoll ist, zwischen den Dimensionen Regulierungsarena und räumliche Reichweite zu unterscheiden, zeigen zwei Beispiele: In der Regulierungsarena betriebliche Vereinbarung verhandelte Bestimmungen können eine Raumwirksamkeit von der lokalen Ebene nur eines Betriebes bis zur globalen Ebene aller weltweiten Standorte entfalten (wenn es sich um sogenannte International Rahmenabkommen handelt, vgl. Teil 7). Der Raumbezug von tariflichen Regulierungen kann ebenfalls von der lokalen Ebene über die regionale und nationale bis zur supranationalen (vgl. etwa die beginnenden tarifvertraglichen Absprachen auf der EU-Ebene) oder transnationalen Ebene reichen. Insgesamt ist also wichtig, zwischen den Regulierungsarenen und der räumlichen Reichweite von Erwerbsregulierung systematisch zu unterscheiden, auch wenn hier häufig „wahlverwandtschaftliche Korrelationsbeziehungen“ (vgl. weiter unten) beobachtet werden können. Dass dies aber nicht notwendigerweise so ist, zeigt sich an der Abb. 4.2. Selbst innerhalb der EU als einem im Vergleich zu anderen Regionen der Welt ja durch gemeinsame Geschichte und eine inzwischen jahrzehntelange Integrationspolitik Gebiet gibt es Länder mit sehr hohen gewerkschaftlichen Organisations- und tariflichen Deckungsraten (z. B. Dänemark, Finnland, Schweden), aber auch Länder mit sehr recht niedriger gewerkschaftlicher Organisations- aber hoher tariflicher Deckungsrate (etwa Frankeich, Niederlande, Portugal). In Japan und den USA sind beide Werte extrem niedrig, es sind dort jeweils weniger als ein Fünftel aller Beschäftigten in Gewerkschaften organisiert und von Tarifverträgen erfasst (Carley 2002, S. 9, 17).9

8Genau

genommen handelt es sich bei dem komplizierten Verabschiedungsmodus der ILOcore conventions um internationale bzw. intergouvernementale und nicht im strengen Sinne um globale Normen. Gleichwohl kann zumindest der Regelungsanspruch einiger dieser Bestimmungen, wie etwa diejenigen zu forced labour (Convention no. 29 von 1930) und zur Koalitionsfreiheit (Convention no. 87 und 98 von 1948 und 1949), als quasi-­global angesehen werden, weil sich auch die wenigen Länder, die diese Vereinbarungen noch nicht ratifiziert haben, dem aus diesen Regulierungen entstehenden globalen Legitimationsdruck kaum entziehen können, vgl. Abschn. 6.1. 9Zur Definition und Berechnung der entsprechenden Raten vgl. EC (2015, S. 19, 29) sowie allgemein Ebbinghaus und Göbel 2014; allgemein zu EU-vergleichenden Daten http:// de.workerparticipation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen.

4.2  Dimensionen Räumliche Reichweite und Regulierungsmodus

77

Abb. 4.2   Gewerkschaftliche und tarifliche Deckungsraten EU-28. (Quelle: Eigene Zusammenstellung nach EC 2015, S. 20, 29)

Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass sehr große Variationen zwischen den Ländern hinsichtlich der räumlichen Reichweite ihrer wichtigsten Elemente der Erwerbsregulierung bestehen. Ländern mit vorwiegend regionalen und sektoralen Regulierungen durch Tarifverträge (Deutschland, Spanien, Italien) stehen solche mit einer Dominanz betrieblicher Vereinbarungen (Großbritannien, Frankreich, Polen) oder lokaler Tarifverträge (Brasilien, z. T. China) gegenüber. In Deutschland

78

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

hat sich durch die ‚Verbetrieblichung‘ tarifvertraglicher Aushandlungsgegenstände das duale System regionaler Tarifverträge und lokal-betrieblicher Vereinbarungen weiter ausdifferenziert und stabilisiert (Artus 2001). In anderen Ländern wie z. B. Belgien, Finnland, Irland und Norwegen ist die Erwerbsregulierung um nationale Tarifverträge zentriert. In post-sozialistischen oder noch-sozialistischen Ländern spielt als Erbe des staatsdominierten Wirtschaftens die nationale Ebene häufig noch eine große Rolle, so z. B. über die an die Kommunistische Partei gekoppelten Gewerkschaftsorganisationen in der Volksrepublik China und mittels der Wirtschafts- und Sozialräte in Slowenien, Ungarn und Rumänien (Kohl und Platzer 2004). In vielen sich spät industrialisierenden Ländern Afrikas und Lateinamerikas haben regionale staatliche und Verbandsstrukturen kein großes Gewicht, und die räumliche Reichweite der Erwerbsregulierung weist eine duale Struktur von lokal-betrieblicher und nationaler Ebene auf. Dimension Regulierungsmodus Eine weitere, vierte Regulierungsdimension bezieht sich auf den Regulierungsmodus, wobei grundsätzlich und vereinfachend zwischen materialer und prozeduraler Regulierung einerseits und zwischen informeller und formeller Regulierung andererseits unterschieden werden kann. Während im Falle materialer Regulierung bestimmte Bedingungen für Arbeit, Beschäftigung und Partizipation explizit definiert werden (z. B. „das Gehalt in der Besoldungsgruppe X beträgt Y Euro monatlich“ oder „die wöchentliche Arbeitszeit beträgt 35 Stunden“), wird im Falle prozeduraler Normen das Verfahren festgelegt, nach dem Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen definiert und kontrolliert werden. Prozedurale Regulierung könnte man auch als reflexive oder Meta-Regulierung bezeichnen. Beide Regulierungstypen haben für die involvierten Akteure und Akteursgruppen Vor- und Nachteile sowie insgesamt beachtliche Eigenheiten. Materiale Festschreibungen können z. B. die Beschäftigten gegenüber allzu starken konjunkturbedingten ‚Ausschlägen‘ und Zumutungen schützen. Prozedurale Regulierungen erleichtern fallweise flexible Lösungen. Material-substanzielle Regulierung begrenzt mögliche Konflikte auf Fragen der Normenauslegung und Normenkontrolle. Bei prozeduraler Regulierung können Konflikte hinsichtlich dieser Aspekte der Normenauslegung und -kontrolle und auch in Bezug auf die Normensetzung selbst und die Aushandlung darüber entstehen, welche Beteiligungsansprüche legaler und legitimer weise erhoben werden können. Neben der – gerade auch im Arbeitsrecht üblichen – Unterscheidung zwischen materialen und prozeduralen Normen ist auch das Gegensatzpaar von informellen und formellen Normen für die Erwerbsregulierung von großer Bedeutung. Gerade in bezug auf Aspekte der ‚normalerweise zu erwartenden Arbeitsleistung‘ herrschen in Arbeitsbezügen in der Regel eher informelle Normen und Normalitätsstandards

4.2  Dimensionen Räumliche Reichweite und Regulierungsmodus

79

vor – nur in extrem taylorisierten bzw. parzellierbaren Arbeitsvollzügen (etwa bei Montagebandarbeit oder der Stückgutfertigung eines traditionellen Drehers) ist die Leistungserbringung minutiös formalisierbar. Gerade für den angelsächsischen Bereich umschreibt der Begriff der custom and practice einen Regulierungsmodus zwischen den Idealtypen der hochgradig formalisierten und der kasuistisch-informellen Regulierung: Für bestimmte Aspekte der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen gibt es ‚übliche‘ Prozeduren (z. B. die Anhörung eines Arbeitsteams vor einer Neueinstellung) und/oder ‚normale‘ materiale Standards (etwa der Behandlung von Schwerbehinderten oder Berufsunfallkranken). Solche Regeln ‚nach Brauch und Sitte‘ entfalten nicht selten eine größere Beständigkeit und Regelungskraft als viele formalisierten Regelwerke. Die angeführten Beispiele zeigen auch, dass sowohl prozedurale als auch materiale Normen informell ad hoc, formell oder nach custom and practice ausgehandelt und festgesetzt werden können, sodass in der Realität sehr viele Kombinationsmöglichkeiten denkbar sind. Studien zur Erwerbsregulierung, vor allem international vergleichende Untersuchungen, konzentrieren sich häufig auf die formellen Regeln. Dies hat zweifelsohne große Vorteile, denn der Zugang zu den entsprechenden Daten (z. B. Tarifverträge, Gesetze, Gerichtsurteile) und ihre intersubjektive Überprüfbarkeit sind einfacher. Außerdem indizieren formelle Regulierungen sowie deren Veränderungen immer auch ein Stück weit die reale Regulierungspraxis. Man kann formelle Normen und Regeln auch als Sedimente der (informellen) Praxis von Erwerbsregulierung oder als ‚vorübergehenden Waffenstillstand‘ im Kräftemessen der Interessen ansehen. Ohne deren Kenntnis als wichtige strukturierende Elemente ist in aller Regel auch die alltägliche (informelle) Regulierungspraxis oder die Dynamik von Konfliktsituationen kaum zu verstehen. Gleichwohl sind Vorbehalte gegenüber einer ausschließlich auf formelle Normen ausgerichteten Betrachtungsweise angebracht, denn diese formellen Regelungen gewinnen meistens erst in der Wechselwirkung mit informeller Regulierung ihre eigentliche Bedeutung. In aller Regel gilt: Je rigider formelle Normen zentralistisch gesetzt werden, desto bedeutsamer sind – gleichsam als Überdruckventil – für die tatsächliche Erwerbsregulierung informelle Normen. Dies zeigt sich z. B. an der tatsächlichen Regulierung der Lohnhöhe in Kuba oder an dem realen Gang von Schlichtungsvereinbarungen bei Arbeitskonflikten in traditionell stark staatskontrollierten Ländern wie China, Mexiko oder Russland.10 Formelle und

10Zu

dem Argument informeller Flexibilisierungen bei formeller Rigidisierung vgl. allgemein Pries (1988); zu China vgl. Abschn. 4.1 und http://www.europe-solidaire.org/spip. php?article12396#top; zu Mexiko vgl. Dombois und Pries (1999); zu Russland vgl. http:// www.europe-solidaire.org/spip.php?article8444; zu den institutionellen Charakteristiken von Lohnfindung im internationalen Vergleich vgl. http://www.uva-aias.net/208.

80

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

informelle Nomen sind in mehr oder weniger ausgeprägter Intensität meistens gleichzeitig vorhanden. Nationalspezifische Regime der Erwerbsregulierung lassen sich durch das jeweilige Mischungsverhältnis charakterisieren. Deutschland weist ein vergleichsweise hohes Niveau an Formalisierung und Verrechtlichung auf. Für viele Transformationsländer Mittel- und Osteuropas sind informelle Regulierungen von großer Bedeutung, und das custom and practice-Prinzip ist für angelsächsische Länder besonders relevant.

4.3 Dimensionen Konfliktregulierung und Dominante Akteure Eine wichtige Dimension der Erwerbsregulierung ist fünftens die Art und Weise, wie individuelle und kollektive Konflikte reguliert werden (Lewin 2009). Solche Konflikte können als vorwiegende Normengenerierungs-, Normenveränderungsoder Normenauslegungskonflikte charakterisiert werden. Letztere entstehen hinsichtlich von Regelungsbereichen, für die formalisierte – prozedurale oder materiale – Normenfestlegungen existieren, aber entweder eine Partei einen offensichtlichen Verstoß gegen diese Normen reklamiert oder die genaue Auslegung dieser Normen strittig ist. Konflikte hinsichtlich prozeduraler Regulierungen betreffen z. B. häufig die Frage, ob eine Beschäftigteninteressenvertretung (z. B. ein Fabrikkomitee, ein Betriebsrat oder ein Euro-Betriebsrat) rechtzeitig und umfassend informiert und konsultiert wurde. Materiale Normenauslegungen ­werden etwa zu contested terraines, wenn es um die Einbeziehung bestimmter Lohnnebenleistungen in vereinbarte prozentuale Entgelterhöhungen geht. Sehr häufig entstehen Konflikte um die Veränderung von Normen. So kann etwa von einer Gewerkschaft eine dauerhafte Reduktion der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit als Normenveränderung angestrebt werden, und sie muss diese unter Umständen durch einen längeren offenen Arbeitskampf durchsetzen (vgl. Kittner 2005, z. B. zum Streik der IG Metall für die 35-­Stundenwoche in Deutschland ebd., S.  706 ff.; Kädtler 2014, S. 441 ff.). Umgekehrt will ein Unternehmen in einer Krisensituation vielleicht Zuschläge ersatzlos streichen, die es schon seit vielen Jahren gezahlt hat (auch wenn darüber keine explizite Vereinbarung besteht). Wenn Konflikte in Themenbereichen entstehen, für noch keinerlei formalisierte oder explizite Normen bestehen, lässt sich von Normengenerierungskonflikten sprechen. Diese treten meistens bei drastisch veränderten Umweltverhältnissen, z. B. bei der Einführung völlig neuer Arbeitstechnologien, auf oder, wenn sich eine der dominanten Akteursgruppen in einer besonders vorteilhaften Verhandlungsposition wähnt. Von ‚umgeleiteten Konflikten‘ lässt sich

4.3  Dimensionen Konfliktregulierung und Dominante Akteure

81

dann sprechen, wenn der eigentliche Konfliktgegenstand nicht die Generierung, Interpretation oder Veränderung von Normen ist, sondern hierauf bezogene Forderungen eigentlich nur der Vorwand sind, um andere Ziele und Interessen zu verfolgen. So kann ein Konfliktpartner z. B. einen Normengenerierungskonflikt beginnen in der vorherrschenden Absicht, einen bestimmten Gegenspieler in seiner Existenz auszulöschen oder die eigene Anhängerschaft fester zu binden bzw. zu erweitern (und nicht, um ganz bestimmte Normen tatsächlich neu zu generieren). Obwohl diese generellen Konflikttypen in allen Ländern in der einen oder anderen Weise vorkommen dürften, unterscheiden sich die dominanten Mechanismen ihrer Bearbeitung doch ganz erheblich. In der Volksrepublik China z. B. hat die betriebliche Konfliktregulierung durch eine bipartistische Schlichtungs- und durch eine tripartistische Schiedskommission quantitativ und qualitativ die größte Bedeutung. In Deutschland dagegen sind einerseits sehr dezidierte bipartistisch geregelte tarifliche Schlichtungsordnungen zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden und andererseits die unabhängigen (und von der Grundstruktur tripartistischen) Arbeitsgerichte wichtig. Dagegen spielen in lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko und Brasilien die staatlichen Schlichtungsorgane eine direkt intervenierende große Rolle. Die Häufigkeit und Dauer von direkten kollektiven Arbeitskämpfen sowie der Umfang der involvierten Beschäftigten variiert selbst in den Ländern Europas extrem stark (vgl. Abb. 4.3). Für die in der Abb. 4.3 aufgeführten Länder ergeben sich für den betrachteten Zeitraum 1999 bis 2008 aus den verfügbaren Angaben die folgenden arithmetischen Mittelwerte: Deutschland 3,5 Arbeitstage, Finnland 57,7 Arbeitstage, Großbritannien 25,3 Arbeitstage, Italien 79,5 Arbeitstage, Kanada 165,2 Arbeitstage und Spanien 127,7 Arbeitstage. Es zeigt sich also, dass Streiks und Aussperrungen – hier über den einzigen verfügbaren Annäherungswert gemessen – sowohl nach Ländern als auch nach Perioden sehr stark variieren. Dimension Dominante Akteure Eine sechste Dimension der Erwerbsregulierung betrifft die jeweils dominanten Akteure und Akteursgruppen. Neben den individuellen Akteuren im unmittelbaren Verhältnis von Beschäftigten und Beschäftigern haben auf der betrieblichen und Unternehmensebene die verschiedensten Formen von betrieblichen Vertretungsorganen große Bedeutung. Diese können – wie z. B. in Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich und Norwegen – aus formalisierten, rechtlich abgesicherten ‚gemischten Gremien‘ von Beschäftigten- und Beschäftiger-Vertretern bestehen oder aber – wie in den meisten anderen Ländern Europas – als reine Beschäftigtenvertretungen arbeiten (EU 2006, S.  61  ff.). Daneben existieren in vielen ­Branchen auch informelle, rechtlich nicht regulierte ‚Andere Vertretungsorgane‘

82

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Abb. 4.3   Wegen Arbeitskonflikten ausgefallene Arbeitstage pro tausend Beschäftigte. (Quelle: Eigene Ausarbeitung nach ILO (http://laborsta.ilo.org/); die Rate gibt die Anzahl der wegen Streik und Aussperrung nicht gearbeiteten regulären Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte an.)

(­Hauser-Ditz et al. 2008). Gerade in Bereichen hochqualifizierter Wissensarbeit existieren solche ‚Anderen Vertretungsorgane‘ (Abel und Pries 2005; Hauser-Ditz et al. 2008; Ittermann 2009). In England haben sich auf der betrieblichen Ebene die shop stewards als wichtige gewerkschaftliche Akteursgruppe etabliert, die als Vertrauensleute der Belegschaft eine wichtige Stellung im Betrieb einnehmen ­ (Goodman und Whittingham 1969; Traxler 2003; Partridge 2007). In fast allen Ländern der Welt sind die Gewerkschaften und Unternehmerverbände sehr wichtige Akteure der Erwerbsregulierung. Sie organisieren nicht nur die Tarifverhandlungen auf den unterschiedlichsten Ebenen, sondern nehmen auch aktiv auf die öffentlich-staatliche Arbeitspolitik Einfluss. Die jeweilige Stärke und die Strukturen der Gewerkschafts- und Unternehmerverbände sowie ihr Verhältnis zum Staat variieren nach Ländern und Branchen sehr stark. So sind die Unternehmerverbände in vielen spät industrialisierten Ländern, vor allem den post-sozialistischen Staaten, extrem schwach oder gar nicht ausgebildet. Dies beschränkt die Funktionen der Gewerkschaften strukturell, da der wichtigste Partner für Kollektivverhandlungen fehlt. Bei den Gewerkschaften lassen sich einheitsgewerkschaftliche Strukturen wie in Deutschland und (eher als staatlich auferlegte Zwangsbestimmung) in der VR China (vgl. Abschn. 5.2) von

4.3  Dimensionen Konfliktregulierung und Dominante Akteure

83

Konstellationen weitgehend gleich starker weltanschaulicher Richtungsgewerkschaften wie z. B. in Belgien, Brasilien, Frankreich oder Spanien unterscheiden. Viele Länder weisen diesbezüglich eine Mittelposition mit einigen starken, häufig auch vom Staat präferierten und einigen schwachen Richtungsgewerkschaften auf (z. B. Indien, Mexiko, Spanien). Die sozialwissenschaftliche Forschung über Unternehmerverbände und ihre Rolle in der Erwerbsregulierung ist im Vergleich zu den Gewerkschaften schwach entwickelt, obwohl die gewerkschaftlichen Strukturen, Politiken und Wirkungen im Regime der Erwerbsregulierung meistens ohne Bezugnahme auf die entsprechenden Unternehmerverbandsstrukturen überhaupt nicht verständlich werden (vgl. Behrens und Traxler 2003; Traxler und Huehmer 2007). Große Beachtung verdient auch der Staat als Akteur der Erwerbsregulierung. Er tritt in den unterschiedlichsten Rollen auf – von dem Extrem des ‚Nachtwächters‘, der nur für die Wahrung eines Mindestrahmens für die Wirtschaft verantwortlich zeichnet, bis hin zum autoritären Interventionsstaat, der sich als Hauptverantwortlicher der Erwerbsregulierung versteht. Die jeweilige Bedeutung des Staates zeigt sich auch in der Ausdifferenzierung seiner entsprechenden Organe, vor allem der Funktionen der Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. So findet z. B. die Arbeitsrechtsprechung in Deutschland in einem eigenständigen System von unabhängigen Arbeitsgerichten statt, während sie in den meisten Ländern der Welt als Teil der allgemeinen bürgerlichen Rechtspflege behandelt wird oder weitgehend direkter staatlicher Entscheidungsregie (wie zum Teil in Mexiko) unterliegt. Darüber hinaus spielen oft die Berufsgruppenverbände als korporative Akteursgruppen für die Erwerbsregulierung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Dies zeigt sich weltweit in der Machtstellung etwa der Ärzte- und Anwaltsverbände, die den Zugang zu ihrer jeweiligen Profession selbstständig kontrollieren und wichtige Aspekte der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen festlegen. Die relative Bedeutung der betrieblichen Vertretungsorgane, der Gewerkschaftsund Arbeitgeberverbände, des Staates sowie der Berufsgruppenverbände variiert nach Ländern sehr stark. Während in einigen Ländern ‚monistische Systeme‘ mit überwiegender Regulierungskompetenz für Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände (USA, Großbritannien) oder mit Staatsdominanz (VR China, Russland) vorherrschen, bestimmen in anderen Ländern ‚duale Systeme‘ der Erwerbsregulierung das Bild, in denen – freilich mit jeweils unterschiedlichem Gewicht – betriebliche Vertretungsorgane und Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände aktiv sind (vgl. Tab. 4.3). Neben diesen in der Forschung mehr oder weniger gut untersuchten Akteursgruppen gewinnen zunehmend auch Nicht-Regierungsorganisationen, soziale

84

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Tab. 4.3   Betriebliche Vertretungsstrukturen in ausgewählten EU-Ländern Land

Betriebliche Interessen- Mindestbeschäftigtenvertretung zahl für Gremien-­ Einrichtung Vertretungsstruktur

Bulgarien

Gewerkschaftliche ­Vertretung

5 Gewerkschaftsmitglieder

Monistisch: ­Gewerkschaften

Deutschland

Betriebsrat

5 Beschäftigte

Dualistisch

Frankreich

Arbeitnehmerdelegierte 11 Betriebsrat

Dualistisch

50

Gewerkschaftsvertreter 50 Arbeitsschutzkomitees 50 Großbritannien

Gewerkschaftsvertreter Mehr als 21 Beschäftigte

Monistisch: ­Gewerkschaften

Italien

Einheitliche Gewerk- 15 schaftsvertretung (RSU): 2/3 durch Gesamtbelegschaft, 1/3 durch gewerkschaftliche Organe gewählt

Monistisch: ­Gewerkschaften

Portugal

Gewerkschaftsvertreter Nicht vorhanden (Betriebsräte möglich, jedoch selten)

Monistisch: ­Gewerkschaften

Schweden

Gewerkschaftsvertretung

Nicht vorhanden

Monistisch: ­Gewerkschaften

Betriebsrat

51

Dualistisch

Ungarn

Gewerkschaftsvertreter 50 Quelle: Eigene Anpassung nach Bouquin et al. (2007, S. 19) sowie http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Laender

Bewegungen und komplexere Aktivisten-Netzwerke sowie die Medien als Akteursgruppen für die Erwerbsregulierung an Gewicht. Dies hängt sehr stark mit den sich verändernden Legitimationsanforderungen für wirtschaftliches Handeln insgesamt und speziell für unternehmerische Entscheidungen zusammen (Stehr 2007). In jüngeren Kampagnen wie z. B. der Clean-Cloth-Kampagne (CCC, vgl. Abschn. 10.3) konnten NGOs und Studentenvereinigungen erhebliches Druckpotenzial gegenüber den Unternehmen aufbauen, die den großen privaten Eliteuniversitäten die mit entsprechenden Logos versehenen Bekleidungsstücke lieferten. Ähnliche Kampagnen und Regulierungsstrategien, die von der Konsumentenseite

4.4  Dimensionen Machtressourcen, Akteurskonstellation und Ideologie

85

her auf die Verbesserung der Erwerbsbedingungen von Beschäftigten drängen, gehören in zunehmendem Ausmaß zur normalen Umwelt großer Unternehmen.11 Ähnliches gilt auch für die Verbreitung komplexer Indizes wie den Dow Jones Sustainability Group Index oder die Social Accountability 8000, welche durchaus erheblichen Einfluss auf die Erwerbsregulierung nehmen können – allerdings über vergleichsweise indirekte Akteursbeziehungen wie z. B. die Tätigkeit internationaler Rating- und Monitoring-Gruppen.12 Während die Regulierungsarena der diskursiven Legitimation einerseits vergleichsweise schwache und diffuse Durchsetzungsmechanismen und einen eher informellen Regulierungsmodus aufweist, sollten ihre möglichen Auswirkungen nicht unterschätzt werden, da ihre räumlichen Wirkungen sehr weit reichen können und hier unter Umständen Regelungsgegenstände thematisiert werden, die in anderen Regulierungsarenen z. B. wegen fehlender starker Akteure kaum bearbeitet werden.

4.4 Dimensionen Machtressourcen, Akteurskonstellation und Ideologie Eine siebte Dimension der Erwerbsregulierung bezieht sich auf die dominanten Machtressourcen, die die Akteure und Akteursgruppen jeweils mobilisieren können. Grundsätzlich kann man hier in Anlehnung an die bereits erwähnten fünf erwerbsstrukturierenden Institutionen die Handlungsressourcen sozialen, kulturellen, ökonomischen, organisationalen und politischen Kapitals unterscheiden. Gerade in der individuell-vertraglichen Regulierungsarena werden vorwiegend soziales und kulturelles Kapital, also ‚Beziehungen‘ sowie der Verweis auf Loyalitätsverpflichtungen einerseits und die personengebundenen Qualifikationen andererseits ins Feld geführt. Letztere sind für individuelle Akteure die Hauptgrundlage für die ‚Primärmacht‘, die sie im Rahmen des Prinzipal-Agenten-­Verhältnisses mobilisieren können: Aufgrund ihrer Qualifikationen, Fertigkeiten, Kontextinformationen etc. besitzen abhängig (und in der Regel auch selbstständig) Beschäftigte als Ausführende von Arbeitsaufträgen in Bezug auf deren Details und Umsetzung strukturell einen Wissensvorsprung gegenüber dem Auftraggeber als ihrem ‚Prinzipal‘. Für korporative Akteure der Erwerbsregulierung, wie die Unternehmen als Beschäftiger und die Gewerkschafts- sowie Unternehmerverbände, sind das ökonomische

11Vgl.

z. B. http://www.transnationale.org/ und http://www.oecdwatch.org/. z. B. http://www.accountability.org/, http://www.sa-intl.org/, http://www.sustainabilityindexes.com/ und http://www.nachhaltigkeit.info/; vgl. auch Kap. 10. 12Vgl.

86

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

­ apital (z. B. in der Form von Finanzressourcen, um Arbeitskonflikte durchzuK stehen) und das politische Kapital in der Regel von ausschlaggebender Bedeutung. In Tarifauseinandersetzungen z. B. können Gewerkschaften entweder über öffentlichkeitswirksame Medienkampagnen und Streikgeldzahlungen – für die viel ökonomisches Kapital mobilisiert werden muss – Einfluss nehmen oder aber über das organisationale Kapital der Mobilisierung von Mitgliederloyalität in Form ehrenamtlicher Mitarbeit, dem Aufruf zu Demonstrationen etc. Politisches Kapital kann über öffentlichen Druck, über eine gewerkschaftsnahe oder unternehmerfreundliche Partei oder über die Berufung auf rechtliche Normierungen und die formalisierten Mechanismen ihrer Überwachung (z. B. durch die Arbeitsgerichtsbarkeit) mobilisiert werden. Organisationales Kapital kann sich auf der Ebene individueller Aushandlungslogiken auf die Kompetenzen und Ressourcen beziehen, die ein Akteur allein aufgrund seiner Positionierung innerhalb einer komplexeren Organisation zu mobilisieren in der Lage ist, es kann aber auch als kollektive Loyalitätsbindung und Folgebereitschaft ein enormes Handlungspotenzial nach außen darstellen. Generell lässt sich für die Erwerbsregulierung eine gewisse Bedeutungsverschiebung vom sozialen und kulturellen Kapital hin zum ökonomischen und organisationalen und schließlich verstärkt zum politischen Kapital feststellen. Vielen Gewerkschaften in den früh industrialisierten Ländern wurde in den 1970er und 1980er Jahren z. B. ein Wandel von sozialen Bewegungsorganisationen, die das soziale, kulturelle und organisationale Kapital ihrer Mitglieder mobilisierten, zu Dienstleistungs- bzw. Versicherungsorganisationen, die vorrangig ökonomisches und politisches Kapital mobilisieren, attestiert (Schmidt 1971; Schroeder und Weßels 2013). Wie stark die gewerkschaftliche Organisationsrate und die tarifliche Deckungsrate zwischen Ländern variieren und innerhalb von Ländern voneinander abweiche können, zeigte bereits die Abb. 4.2. Sie machte deutlich, dass diese Variationen durchaus unabhängig voneinander sind, also niedrige Gewerkschaftsraten mit hohen tariflichen Deckungsraten einhergehen können und umgekehrt. Dies verweist auf die Bedeutung der institutionellen Einbettung des Regimes der Erwerbsregulierung: In Frankreich werden viele Tarifverträge trotz sehr niedriger gewerkschaftlichen Organisationsrate durch den Staat für allgemein verbindlich erklärt; in Belgien, Dänemark, Finnland und Schweden erklärt sich die sehr hohe gewerkschaftliche Organisationsrate durch die (Mit-)Verwaltung der Arbeitslosenversicherung durch die Gewerkschaften (sog. Gent-System, vgl. Leonardi 2006). Die Frage der mobilisierbaren Machtressourcen stellt sich nicht nur für die Gewerkschaften immer wieder. Auch die Arbeitgeberverbände leiden in vielen Ländern seit den 1990er Jahren unter massivem Mitgliederschwund (Traxler und Huemer 2007; EC 2015, S. 24 ff.).

4.4  Dimensionen Machtressourcen, Akteurskonstellation und Ideologie

87

In post- oder noch-sozialistischen Ländern existieren zum Teil überhaupt keine Arbeitgeberverbände. Betrachtet man die Entwicklung der gewerkschaftlichen Netto-­Organisationsrate im zeitlichen Verlauf, so zeigt sich seit dem 21. Jahrhundert für die meisten EU-Mitgliedsländer eine abfallende Tendenz der Anzahl der gewerkschaftlich organisierten und noch im aktiven Erwerbsleben stehenden abhängig Beschäftigten im Verhältnis zu den im jeweiligen Betrachtungsjahr (2001, 2007 und 2012/2013) Erwerbstätigen (Abb. 4.4). Dabei zeigt sich allerdings kein einheitlicher Trend. Bei einigen Ländern mit einem sehr hohen Niveau gewerkschaftlicher Organisation ist der Trend zwischen allen drei betrachteten Zeitpunkten durchgehend negativ (Malta, Schweden, Zypern), bei anderen wurde der Abwärtstrend abgebremst oder sogar umgekehrt (Belgien, Dänemark, Finnland).13 In einer international vergleichenden Perspektive ist relevant, dass für konkret zu untersuchende Länder, Regionen oder Fallbeispiele in einem ersten Schritt alle fünf genannten Machtressourcen zu berücksichtigen sind und in einem zweiten Schritt die spezifische Zusammensetzung und Dynamik der unterschiedlichen Machtressourcen rekonstruiert werden sollte. Ein Vergleich etwa der gewerkschaftlichen Organisationsraten und der tariflichen Deckungsraten in wichtigen europäischen Ländern und in Japan sowie den USA (vgl. Abb. 4.4 für die EU) zeigt, dass auch in Ländern mit äußerst niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad (z. B. Frankreich mit weniger als 10 %) die abhängig Beschäftigten eine durchaus starke Position im Regime der Erwerbsregulierung einnehmen können, etwa wenn ihnen die punktuelle Mitgliedermobilisierung ebenso gelingt wie die Mobilisierung politischen Kapitals über politische Parteien und ein stark etatistisches öffentliches Regime (vgl. dazu schon Abschn. 2.2). Umgekehrt zeigt das Beispiel der Erwerbsregulierung im Italien der 1980er Jahre, dass extreme Fähigkeiten der Mitgliedermobilisierung noch keine hinreichende Garantie für eine auf Dauer ausreichende Machtmobilisierung im Regime der Erwerbsregulierung darstellen. Dimension Akteurskonstellation Die achte Dimension der Erwerbsregulierung zielt auf die Konstellation der daran beteiligten Akteure und Akteursgruppen. Dabei können grundsätzlich drei verschiedene Interaktionsmodi unterschieden werden: Verhandlung, Wettbewerb und Deliberation (Kohler-Koch 1998, S. 24). Während in Verhandlungssituationen

13Vgl.

allgemein die sehr gut aufbereiteten Daten in http://de.worker-participation.eu/ Nationale-Arbeitsbeziehungen.

88

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Abb. 4.4   Entwicklung gewerkschaftliche Organisationsrate im EU-Vergleich. (Quelle: Eigene Zusammenstellung nach EC 2015, S. 20)

von den beteiligten Akteuren ein gemeinsames Ergebnis durch Kräftemessen angestrebt wird, führt die Wettbewerbslogik in der Regel zur Marginalisierung oder gar zum Ausscheiden bestimmter Akteure; die deliberative Verhandlungssituation ist auf die Geltung des besseren Arguments orientiert (vgl. allgemein Bessette 1980). Bezogen auf Tarifverhandlungen können alle drei Mechanismen zum Tragen kommen. Bestimmte Länder, Branchen und Akteurskonstellationen

4.4  Dimensionen Machtressourcen, Akteurskonstellation und Ideologie

89

lassen sich auch durch spezifische Gewichtungen von Verhandlung, Wettbewerb und Deliberation charakterisieren. So ist der Verhandlungsmodus in Deutschland generell, speziell etwa in der Energie- oder Chemieindustrie dominant, während z. B. in Frankreich allgemein und in Deutschland z. B. in der Metallindustrie eine wettbewerbliche Interaktionslogik stärker ausgeprägt ist – sie wird von allen beteiligten Gruppen, den Arbeitergebern, den Gewerkschaften und den Arbeitnehmern als Normalitätserwartung eingebracht. Stark deliberative Elemente kennzeichnen die Verhandlungen um die Einführung von Mindestlöhnen in verschiedenen Branchen in Deutschland: Hier lassen sich kaum verfestigte, homogene Positionen der Arbeitgeber ausmachen, politische Akteure und wissenschaftliche Argumente sowie Beispiele anderer europäischer Länder spielen eine vergleichsweise große Rolle.14 Im Hinblick auf Erwerbsregulierung lässt sich eine erste idealtypische Situation als liberal-individualistische Verhandlungs- und Kontraktsituation oder auch als individual bargaining bezeichnen. Sie wird z. B. in der neoklassischen Ökonomie als Modell unterstellt und geht von einer mehr oder weniger ausgeglichenen Verhandlungssituation zwischen einem Beschäftigten bzw. Beschäftigung Suchenden und einem Beschäftiger aus. Die Verhandlungsmacht der beteiligten Seiten richtet sich nach der allgemeinen Marktlage sowie der individuellen Ressourcenausstattung und Präferenzstruktur. Die Beschäftigten bzw. Beschäftigung Suchenden bringen in diesem Modell ihre Ressourcen als Primärmacht unmittelbar in den nicht durch Dritte vermittelten Aushandlungsprozess ein (Jürgens und Naschold 1984). Hochqualifizierte Wissensarbeiter hatten z. B. unter Bedingungen einer boomenden Internetökonomie gute Chancen, positive Arbeits-, Beschäftigungsund Partizipationsbedingungen individuell auszuhandeln. Unter Bedingungen struktureller Massenarbeitslosigkeit sind auch hohe Qualifikationen und flexible individuelle Präferenzen keine hinreichende Voraussetzung für eine starke Primärmacht-Verhandlungsposition in der Erwerbsregulierung. Dem Marktmodell der liberal-individualistischen Akteurskonstellation gegenüber steht das idealtypische Modell der einseitigen autokratischen Setzung. Autoritäre Regime wie etwa die ‚Entwicklungsdiktaturen‘ in vielen Teilen der Welt oder totalitäre Staaten wie der spanische Frankismus oder der deutsche Nationalsozialismus beanspruchten für sich das Monopol der einseitigen ­ Setzung von

14Vgl. aus Gewerkschaftssicht http://www.dgb.de/schwerpunkt/mindestlohn; aus Sich der Arbeitgeber http://www.iwkoeln.de/infodienste/iw-nachrichten/beitrag/ein-jahr-mindestlohnesbleiben-fragen-258596.

90

4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen.15 Der Versuch einer einseitigen autoritären Setzung der Erwerbsbedingungen kann nicht nur vonseiten des Staates, sondern auch des einzelnen Unternehmers bzw. Beschäftigers ausgehen. Wo ein großes Unternehmen in einer strukturschwachen Region als einziger Arbeitsplatzanbieter fungiert, ist eine quasi monopolartige Situation des Erwerbsangebotes gegeben, die zu einer Akteurskonstellation unilateraler Setzung führen kann. Eine einseitige Beherrschung des Feldes der Erwerbsregulierung durch einen oder mehrere Beschäftigte ist im Extremfall ebenfalls denkbar. So wird etwa für die Prinzipal-Agenten-Beziehung der Fall diskutiert, dass ein Agent aufgrund von Wissensvorsprung und monopolisierten Beziehungen den Prinzipal gleichsam von sich abhängig machen kann. Dies ist aber eine völlig instabile und auf Dauer nicht haltbare Akteurskonstellation, weil der Prinzipal per Definition entscheidende Verfügungsrechte besitzt, die ihm – wenn auch nur unter Verlusten – ein Austauschen des Agenten ermöglichen. Wesentlich häufiger als diese beiden idealtypischen Extreme der liberal-­ individualistischen und der einseitig-autoritären Akteurskonstellationen finden sich in der einschlägigen Literatur und in der Wirklichkeit Akteurskonstellationen, die mit den Begriffen collective bargaining und political bargaining bezeichnet werden. Im ersten Fall handelt es sich um mehr oder weniger machtgleichgewichtige Akteurskonstellationen, in der Regel zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden, die nach eingespielten Normen und expliziten Regeln Erwerbsbedingungen aushandeln und kontrollieren. In diesen Aushandlungen mobilisiert jede Seite die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen (z. B. Geld als ökonomisches Kapital, Beziehungen zu Medien als soziales Kapital oder Mitglieder als organisationales Kapital). Collective bargaining bedingt einen staatlich-rechtlich geschützten Bereich autonomer Regulierung zwischen Kapital und Arbeit (Tarifautonomie). Diese dyadische Akteurskonstellation ist für Länder mit einer liberalen Tradition (Großbritannien, USA, eingeschränkt auch Indien) typisch. Im Gegensatz hierzu nimmt der Staat in der Akteurskonstellation des political bargaining eine wesentlich aktivere Rolle als ‚Mitverhandler‘ ein, der mehr oder weniger direkt und unmittelbar in das Regulierungsgeschehen der Tarifparteien involviert ist bzw. eingreift. Für die 1970er Jahre wurde etwa für verschiedene

15Dass

sich unter einem Regime autoritärer Setzung der Bedingungen von Erwerbsarbeit immer auch Ventile flexibler informeller Regulierung öffnen, zeigt das Beispiel des Frankismus in Spanien (Pries 1987) oder auch der betrieblichen Regulierungen etwa in großen Stahlunternehmen wie Krupp während des Nationalsozialismus (Herbert 1999).

4.4  Dimensionen Machtressourcen, Akteurskonstellation und Ideologie

91

westeuropäische Länder eine solche Akteurskonstellation unter dem Stichwort des Neo-Korporatismus diskutiert (Schmitter und Lehmbruch 1979). In Deutschland gab es z. B. eine so genannte ‚konzertierte Aktion‘ von Staat, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden, in der die allgemeine Lohnpolitik und sogar die effektiven Lohnerhöhungsraten in enger Abstimmung politisch ausgehandelt wurden. Die Akteurskonstellation der Erwerbsregulierung in Ländern mit einer entwicklungsautoritären Tradition (wie Mexiko, Brasilien oder Argentinien, vgl. Dombois und Pries 1999) war bis in die 1980er Jahre sehr stark durch eine solche triadische Konstellation des political bargaining charakterisiert. Zwar kann das relative Gewicht aller drei kollektiven Akteursgruppen im Falle des political bargaining konkret stark variieren, aber letztlich wird die Dynamik der Erwerbsregulierung in diesem Modell nicht vorrangig durch die unabhängige Ressourcenmobilisierung im Kapital-Arbeit-Verhältnis bestimmt, sondern durch die Mobilisierung politischer Einflussnahme und Kräfte im Rahmen des Staatssystems. Dimension Gemeinsame Ideologie Als neunte Dimension der Erwerbsregulierung lässt sich schließlich die für das jeweilige Regime der Erwerbsregulierung vorherrschende gemeinsame Ideologie benennen. Hierbei geht es nicht um die gegensätzlichen Standpunkte etwa von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden oder den Staat im Hinblick auf bestimmte Einzelaspekte der Erwerbsregulierung, sondern um die gemeinsamen Glaubensvorstellungen und Wertorientierungen, die alle in die Erwerbsregulierung involvierten Hauptakteursgruppen, vor allem die Gewerkschaften und Arbeitergeberverbände sowie die staatlichen Einrichtungen, aber auch die Nicht-Regierungsorganisationen und sonstigen Interaktionspartner weitgehend teilen. Es geht um die gemeinsam geachteten Spielregeln und Normalitätsannahmen. Idealtypisch können fünf Ausprägungen dieser gemeinsam anerkannten Verhaltensnormen und wechselseitigen Erwartungen unterschieden werden. Im Rahmen einer antagonistisch-klassenkämpferischen Ideologie gehen die beteiligten Akteursgruppen, vor allem Kapital und Arbeit, von einer Logik des Nullsummenspiels aus: Was die eine Seite fordert und zu erreichen versucht, kann sie nur auf Kosten der anderen Seite durchsetzen. Für legitim wird gehalten, dass beide Seiten ausschließlich ihren eigenen Vorteil suchen und den ‚Gegner‘ im Rahmen der als legitim erachteten Spielregeln ‚über den Tisch zu ziehen versuchen‘. Dem Verhandlungspartner werden prinzipiell opportunistische bzw. dem eigenen Interessengefüge feindliche Absichten unterstellt. Marxistisch inspiriertes Klassenkampfdenken gehört ebenso in diese Kategorie wie dogmatischer Neo-Liberalismus. Antagonistisch-klassenkämpferische Ideologien waren traditionell in Mittelmeerländern und in vielen Entwicklungsländern bei einem Großteil der Akteursgruppen verbreitet.

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4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

Als extreme Gegenposition hierzu lässt sich der zweite Idealtypus der Sozial-partnerschaft bezeichnen. Gemeinsame Grundorientierung der beteiligten Partner ist es, die kurz- und langfristigen Interessen aller beteiligten Gruppen anzuerkennen und nach Lösungen zu suchen, die allen Beteiligten eine dauerhafte und nachhaltige Perspektive und Entwicklung ermöglichen. Vorherrschend ist die Suche nach Win-Win-Situationen und nach Synergieeffekten, die die gemeinsam geteilten Projekte weiterentwickeln. So kann z. B. im Rahmen einer von allen Akteursgruppen (Staat, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände) geteilten nationalistischen Grundorientierung angestrebt werden, die Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigung nationaler Standorte zu sichern und zu fördern. Grundannahme der Sozialpartnerschaft ist es, dass durch die verabredete Vorrangstellung gemeinsamer Zielsetzungen alle beteiligten Parteien im Endergebnis bessere Resultate für sich erzielen als bei einer anderen dominanten Ideologie. Sozialpartnerschaftliche Ideologien finden sich vor allem in west- und nordeuropäischen Ländern (Deutschland, Österreich, Skandinavien). Ein dritter Ideologietyp ist durch kurzfristige und utilitaristische Orientierungen gekennzeichnet. Für die USA wurde der Begriff des business unionism geprägt für eine pragmatische, angeblich ideologiefreie, tatsächlich instrumentalistisch-utilitaristische Ideologie, der es nur um die als legitim erachtete Verfolgung eigener Vorteile geht. Nicht das Bekunden grundsätzlicher gemeinsamer oder unterschiedlicher Wertorientierungen oder Klasseninteressen steht im Mittelpunkt, sondern das pragmatische Verhandeln unterschiedlicher Interessen zwischen einer Gewerkschaft und einem Unternehmen. Dabei unterstellen beide Seiten, dass die andere Seite legitimerweise nur den eigenen Vorteil verfolgt, sich opportunistisch verhält und kein langfristiges ‚Gemeinwohl‘ verfolgt. Die Interessen von Gewerkschaft und Unternehmen werden als miteinander konkurrierend wahrgenommen, ähnlich den Konkurrenzverhältnissen, die auch zwischen zwei Unternehmen oder zwei rivalisierenden Gewerkschaften bestehen können. Der für Deutschland verschiedentlich konstatierte Typus von Betriebsräten als Co-Managern kann z. B. zwischen dem utilitaristischen und dem sozialpartnerschaftlichen Ideologietypus angesiedelt werden. Er könnte sich eventuell auch in modernen chinesischen Großbetrieben finden. Ein vierter Ideologietyp lässt sich schließlich als populistisch-korporatistisch bezeichnen. Alle relevanten Akteursgruppen teilen die Grundannahme, Bestandteil eines ‚organischen Ganzen‘ zu sein, in der Sprache des spanischen Frankismus: ‚Glieder eines Körpers‘. Die Führer und Funktionäre der Gewerkschaften, Unternehmerverbände und staatlichen Organe müssen sich nicht in erster Linie als legitime Vertreter von Partikularinteressen legitimieren, sondern durch einen Diskursbezug auf ihre öffentliche und politische Verantwortung für ein imaginiertes

4.4  Dimensionen Machtressourcen, Akteurskonstellation und Ideologie

93

Ganzes. Korporatistische, häufig sehr stark von oben entwickelte Organisationen der Erwerbsregulierung finden sich in vielen post-sozialistischen Ländern und in solchen sich spät industrialisierenden Ländern, die ein Modell staatlich-autoritärer nachholender Entwicklung verfolgten oder verfolgen. Auch in hochindustrialisierten Ländern wie Deutschland gab es in den 1970er und 1980er Jahren heftige politische und wissenschaftliche Debatten über mögliche Tendenzen korporatistischer Entwicklungen. Skandinavien gilt traditionell und auch gegenwärtig noch als Beispiel für einen modernen wohlfahrtsstaatlichen Korporatismus (Mailand 2009). Häufig sind es gerade parastaatliche Sektoren, in denen eine korporatistische gemeinsame Ideologie die Erwerbsregulierung dominiert. Populistische Ideologien sind ‚weichere‘ Formen der Beschwörung von Gemeinsamkeiten über alle sozialen Lagen und Unterschiede hinweg, bei denen die beteiligten Akteursgruppen meistens opportunistisch weit verbreitete Stimmungslagen aufgreifen. Populistisch-korporatistische Tendenzen lassen sich im 20. Jahrhundert in China ebenso ausmachen wie in Argentinien oder Mexiko bis in die 1980er Jahre. Die hier nur skizzierten Dimensionen zeigen sehr deutlich, wie vielfältig sich die Regime der Erwerbsregulierung je nach Ländern, aber teilweise auch differenziert nach Wirtschaftsbranchen und in der zeitlichen Entwicklung gestalten können. In einer international vergleichenden Perspektive ergeben sich dabei in der Regel ‚wahlverwandtschaftliche Entsprechungen‘ zwischen bestimmen Merkmalen der einzelnen Dimensionen. So ist es wahrscheinlicher, dass in einem Regime mit einer antagonistischen Ideologie eine Akteurskonstellation des collective bargaining anzutreffen ist als eine Akteurskonstellation der Konzertierung. In einem System der Erwerbsregulierung mit einem starken Staat und starken zentralen Verbänden der Arbeitgeber und Gewerkschaften kann eher eine vorherrschende nationale räumliche Reichweite von Regulierungen erwartet werden als eine lokal begrenzte. Bei dominanten Akteuren aufseiten der Unternehmen und eher schwachen Repräsentationen der Beschäftigten und bei einer liberal-individualistischen Akteurskonstellation ist eher mit einer Regulierung nur der Kernelemente der Beschäftigungsbeziehungen zu rechnen als mit einer umfassenden Behandlung aller Aspekte der Regelungsgegenstände. Generell bilden nationale Regime der Erwerbsregulierung typischerweise recht stabile kontingente Konfigurationen von Merkmalsausprägungen in den einzelnen Regulierungsdimensionen. Eine wichtige und im Weiteren wieder aufzunehmende Frage ist, ob sich diese nationalen Regime der Erwerbsregulierung unter dem Druck der Internationalisierung von Wettbewerb und wechselseitigem Lernen tendenziell angleichen und sich so längerfristig ein weltweites homogenes Muster der Erwerbsregulierung herausbildet. So werden von einigen Wissenschaftlern etwa globale Tendenzen einer zunehmenden ‚Deregulierung‘ im Sinne

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4  Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive

einer Verlagerung der Erwerbsregulierung auf die individuelle Regulierungsarena oder einer Verschiebung von bindenden zu freiwilligen Regelsystemen behauptet.16 Vieles spricht dafür, mit differenzierteren forschungsleitenden Thesen den Wandel der relativen Bedeutung von Regulierungsarenen zu untersuchen, als dies Schlagworte wie ‚Verrechtlichung‘ oder ‚Deregulierung‘ implizieren (z. B. Abel und Pries 2005; Dombois et al. 2007; Müller-Jentsch 2011). In den meisten Ländern und Regionen der Welt lässt sich ein recht komplexer Mix einer stärkeren individuellen und betrieblichen und gleichzeitig einer gesetzlich-nationalen oder formalisierten, häufig aber indirekten internationalen Normierung (z. B. über Handelsverträge) feststellen (vgl. allg. Brandl 2006a, Kap. 6; Hepple 2005, chapt. 10; Senghaas-Knobloch 2005; für Australien z. B. ähnlich Howe 2005). Zudem ist eine Bedeutungszunahme der individuellen Regulierungsarena nicht gleichbedeutend mit Präkarisierung von Erwerbsarbeit, sondern muss z. B. nach hochqualifizierten Beschäftigtengruppen (für die diese Regulierungsarena durchaus Vorteile versprechen kann) und nach Problemgruppen des Arbeitsmarktes (für die eine Individualisierung in der Regel den Verlust kollektiven Schutzes bedeutet) differenziert betrachtet werden. In dem folgenden Kapitel werden für Deutschland sowie die zwei Länder China und Indien einige Grundstrukturen der jeweiligen nationalen Regime der Erwerbsregulierung skizziert. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage, ob die nationalen Muster von Erwerbsregulierung im gegenwärtigen Prozess der Internationalisierung von Wirtschaft und Arbeit eher konvergieren oder sich vielmehr kultur- und landespezifisch weiter ausdifferenzieren. Diese Frage (so wird in Kap. 6 argumentiert) lässt sich nicht beantworten, ohne den weiteren Rahmen der Möglichkeiten und Grenzen einer Internationalisierung der Erwerbsregulierung zu untersuchen, was danach in den Kap. 7 bis 12 behandelt wird.

16Vgl. z. B. Bispinck und Bahnmüller (2007, S. 24 f.); Bispinck und Schulten (2009, S. 201 ff.); Streeck (1998, S. 183 f. und 186 ff.).

5

Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Es gibt Regionen und Kontinente, deren Regime der Erwerbsregulierung wissenschaftlich vergleichsweise gut dokumentiert sind. Hierzu zählt in erster Linie die Europäische Union, die in den letzten zwei Jahrzehnten ein beispielloses System transparenter und der interessierten Öffentlichkeit leicht zugänglichen Information über die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen in den Mitgliedsländern aufgebaut hat. Vor allem das von der Europäischen Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen betreute European Industrial Relations Observatory1, das vom Europäischen Gewerkschaftsbund betriebene Forschungsinstitut ETUI2 sowie die von der Europäischen Union, besonders der General-Direktion Employment, Social Affairs and Equal Opportunities veröffentlichten Dokumente, können hierzu gezählt werden.3 Aber auch für andere Regionen der Welt wie z. B. Nord-, Zentral- und Südamerika gibt es vielfältige Forschungen und Dokumentationen über die Regime

1Vgl. die Website (http://www.eurofound.europa.eu/eiro/index.htm) und hier z. B. die Annual Reports der European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions, http://www.eurofound.europa.eu/). 2Vgl. die Website der EU http://de.worker-participation.eu/; die Website http://www.workerparticipation.eu/des European Trade Union Institute, http://www.etui.org/. 3Vgl. zum Europäischen Arbeitsrecht und dem Arbeitsrecht in den EU-Mitgliedsländern http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=157&langId=de, zur Erwerbsregulierung in den Mitgliedsstaaten allgemein http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=575; zur Arbeitnehmerpartizipation in Betrieben und Unternehmen http://www.worker-participation.eu/; zum Sozialen Dialog innerhalb der EU http://ec.europa.eu/employment_social/social_dialogue/index_en.htm.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_5

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5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

der Erwerbsregulierung.4 Im Vergleich hierzu ist der internationale Kenntnisstand über die Regime der Erwerbsregulierung in Afrika, Asien und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eher gering. Gerade angesichts der Dynamik der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der zahlenmäßigen Bedeutung der arbeitenden Menschen in Ländern wie Russland, China oder Indien erscheint eine solche Vernachlässigung kaum gerechtfertigt. Alleine die Volksrepublik China und Indien stellen fast ein Drittel der Weltbevölkerung und spielen eine immer größere Rolle in der internationalen Wirtschaft und Politik. Zwar haben beide Länder einige Gemeinsamkeiten, z. B. im Hinblick auf die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre hinein prägende Bedeutung eines starken Entwicklungsstaates, gleichzeitig weisen beide Länder aber äußerst stark kontrastierende Regime der Erwerbsregulierung auf. Diese sollen deshalb im Folgenden näher beschrieben werden.

5.1 Erwerbsregulierung in Deutschland In einer internationalen Perspektive und vor allem im Vergleich zu den beiden anderen in diesem Kapitel vorzustellenden Ländern China (Abschn. 5.2) und Indien (Abschn. 5.3) zeichnet sich Deutschland hinsichtlich seines Regimes der Erwerbsregulierung durch einige Besonderheiten aus. Einige dieser Spezifika hängen damit zusammen, dass Deutschland ein vergleichsweise früh industrialisiertes Land ist. Dies führte – ähnlich wie in den anderen frühkapitalistischen Ländern Europas – zu einer Dominanz von formalisierter und abhängiger Erwerbsarbeit und zu einem Mindestmaß an sozialstaatlicher Absicherung und Regulierung.5 Für Deutschland sind im Hinblick auf Erwerbsregulierung drei Gesichtspunkte seiner historischen Entwicklung von Bedeutung. Bezogen auf die sozial-ökonomischen Bedingungen konnten sich seit etwa der Mitte des

4Vgl.

als ersten Überblick Mielke 1983; für Nordamerika die Website http://www.nlrb. gov/ des National Labor Relations Board; für Lateinamerika de la Garza (2000); als Drei-Länderstudie Dombois und Pries (1999). 5Bei genauerer Betrachtung finden sich diesbezüglich auch innerhalb der Gruppe der früh industrialisierten Ländern erhebliche Unterschiede, etwa zwischen Italien, Spanien und Deutschland im Hinblick auf informelle Erwerbsarbeit oder das Absicherungsniveau sozialstaatlicher Sicherung. Gleichwohl ist das Ausmaß formalisierter abhängiger Erwerbsarbeit und öffentlicher Absicherung trotz dieser Varianzen wesentlich höher als in Ländern wie China, Indien oder in Lateinamerika und Afrika.

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

97

19. Jahrhunderts (und damit später als in England) eine weitgehend endogene industrielle und technische Entwicklungsdynamik, ein ausdifferenziertes und auf jahrhundertealte Zunfttraditionen aufbauendes System der Ausbildung und Qualifizierung und eine eigenständige Arbeits- und Arbeiterkultur herausbilden (Lutz 1984). Die wesentlichen Elemente des deutschen Sozialstaatsmodells sind in Küsters (2007, chapter 1) in ihrer Bedeutung für das Regime der Erwerbsregulierung beschrieben. Hinsichtlich der politisch-sozialen Veränderungen gilt für Deutschland ebenso wie für die meisten Länder der ‚Alten Welt‘, dass die Herausbildung eines modernen Nationalstaats ein äußerst langwieriger Prozess war, der – a grosso modo – ‚von innen‘ erfolgte und mit gesellschaftlicher Demokratisierung und Institutionenbildung einherging. Für Deutschland kann die Bedeutung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für diese von innen erfolgende demokratisch-politische Reifung gar nicht überschätzt werden. Die heute so viel beschworene ‚Zivilgesellschaft‘ eroberte sich gerade in der Form der Arbeiterbewegung in vielen westeuropäischen Ländern massenhaft ihren eigenen Aktionsraum gegen absolutistische und Obrigkeitsstaaten. Schließlich hat sich drittens auch der moderne Wohlfahrtsstaat seit der Gründung des deutschen Reiches 1871 in verschiedenen Schüben und gegen vielerlei Widerstände durchgesetzt. Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung sind zum festen Bestandteil von abhängiger Erwerbstätigkeit geworden. Auf der Basis der Generalisierung abhängiger Erwerbsarbeit vollzog sich während des gesamten 20. Jahrhunderts deren Formalisierung, Institutionalisierung und Homogenisierung. Dies schlägt sich in der sozialen Institution des Normalarbeitsverhältnisses als (historisch von Männern dominierter) lohn- oder gehaltsabhängiger Vollzeitbeschäftigung in formalisierten, kollektiv regulierten Bahnen und mit einer Einbindung in das öffentliche System der sozialen Sicherung nieder. In kaum einem anderen Land der Welt ist dieses Normalarbeitsverhältnis so ausgeprägt wie in Deutschland. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind neun Zehntel aller Erwerbstätigen als Lohn- oder Gehaltsempfänger und nur ein Zehntel als Selbstständige und Mithelfende beschäftigt. Mehr als drei Viertel aller Erwerbstätigen sind Vollzeitbeschäftigte, und von den abhängig Beschäftigten (Arbeiter, Angestellte und Beamte) sind mindestens neun Zehntel direkt sozialversichert. Gleichzeitig hat sich innerhalb formal abhängiger Erwerbsarbeit die Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses quantitativ relativiert. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist seit Beginn der 1980er bis in die 2010er Jahre von einem Zehntel auf ein Fünftel verdoppelt, und auch die Gesamtzahl der geringfügig entlohnten Beschäftigten hat sich seit

98

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

den 2000er Jahren erhöht. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage resümierte 2008 in einer Studie zu Normalarbeit und atypischen Beschäftigungen: „In den Jahren 1991 bis 2007 hat die Bedeutung des N ­ ormalarbeitsverhältnisses deutlich abgenommen. Der Anteil der atypischen Beschäftigungsverhältnisse ist hingegen angestiegen. Im Jahr 2007 machten sie fast ein Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse aus. Diese Entwicklung ist vor allem auf die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen. In geringerem Umfang geht sie auch auf die Bedeutungszunahme der geringfügigen Beschäftigung zurück. Die Ausbreitung befristeter Beschäftigungsverhältnisse spielte nur eine untergeordnete Rolle. Eine Betrachtung der drei Sektoren der Volkswirtschaft hat zudem gezeigt, dass die Bedeutung des Tertiären Sektors für die Beschäftigung in Deutschland im Beobachtungszeitraum signifikant zugenommen hat. Zudem zeigt sich, dass dort inzwischen fast vier von zehn Beschäftigungsverhältnissen atypisch – vor allem in Form von unbefristeter Teilzeitarbeit – sind.“6

Trotz dieser neueren Entwicklungen war und ist für das Verständnis der Erwerbsregulierung in Deutschland das Normalarbeitsverhältnis zentral und stilbildend. Es ist der Bezugspunkt tariflich-kollektivrechtlicher Regulierungen und auch die Berechnungsgrundlage für Lohn-, Lohnersatz- und Rentenansprüche. Gleichzeitig war es jahrzehntelang der Fixpunkt der Normalitätserwartungen der Bevölkerung.7 Die besondere Prägekraft des Normalarbeitsverhältnisses hängt eng mit dem Grad und den Mechanismen der kollektiven Regulierung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zusammen. Auch wenn sich in einer mikroskopischen Feineinstellung viele Tendenzen einer Flexibilisierung, Dezentralisierung und Individualisierung der Normen und Praktiken der Regulierung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ausmachen lassen – in einer international vergleichenden Grobeinstellung besitzt das Regime der Erwerbsregulierung in Deutschland eine erstaunliche Stabilität und Anpassungsfähigkeit.

6http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/gutachten/

ga08_ana.pdf.; vgl. auch https://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistiknach-Themen/Beschaeftigung/Beschaeftigung-Nav.html; http://www.bpb.de/nachschlagen/ zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61684/erwerbstaetigkeit. 7Vgl. Dombois 1999; http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/178192/normalarbeitsverhaeltnis?p=all. der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen) mithilfe differierender Regulierungsmodi und Konfliktregulierungsformen (Tarifverhandlungen/ Streik, vertrauensvolle Zusammenarbeit/Verhandlungen) sowie eingebunden in unterschiedliche gemeinsame Ideologien (konfliktorientierte Tarifinteressenaushandlung, Betriebswohl und Beschäftigteninteressen) miteinander in Beziehung stehen.

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

99

Die Erwerbsregulierung in Deutschland wird allgemein als ein duales System bezeichnet: Tarifautonome Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verhandeln die allgemeinen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in Tarifverträgen für Regionen, Wirtschaftssektoren oder auch Einzelunternehmen aus; daneben verhandeln gesetzlich mit vergleichsweise starken Rechten ausgestattete Betriebsräte als Interessenvertretungen aller Beschäftigten eines Betriebes oder Unternehmens mit der jeweiligen Betriebs- oder Unternehmensleitung über die Einhaltung bestehender erwerbsrelevanter Gesetze, Tarifverträge und Vorschriften und über deren betriebliche Ausgestaltung etwa in Betriebsvereinbarungen. Das deutsche System wird als dual charakterisiert, weil – im Lichte der in Kap. 4 vorgestellten Dimensionen – zwei unterschiedliche Akteurskonstellationen und dominante Akteure (Gewerkschaft/Arbeitgeberverband, Betriebsrat/Betriebsleitung) in jeweils rechtlich und gesellschaftlich separaten Regulierungsarenen (Tarifrecht, Betriebsverfassung) mit unterschiedlicher räumlicher Reichweite (Region/Sektor, Betrieb/Unternehmen) getrennte Regelungsgegenstände (allgemeine Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen wie Lohn und Arbeitszeit, betriebliche Ausgestaltung. Dieses duale System der Erwerbsregulierung unterscheidet sich eindeutig von monistischen Systemen, in denen tarifliche Regulierung zwischen Gewerkschafts und Arbeitgeberverbänden oder betriebliche Regulierung durch Fabrikkomitees vorherrschen. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass die nationalen Regime der Erwerbsregulierung schon innerhalb der EU wesentlich komplexer sind: „Employee representation varies across Europe, combining both representation through local union bodies and works councils – or similar structures elected by all employees. In the 28 EU states plus Norway, there are four states where the main representation is through works councils with no statutory provision for unions at the workplace; eight where representation is essentially through the unions; another 12 where it is a mixture of the two, although sometimes unions dominate; and a further five where unions have been the sole channel, but legislation now offers additional options. In many countries, national legislation implementing the EU’s information and consultation directive has complicated the picture. One common feature of most states is that unions play a central role.“8

Für Deutschland ist von Bedeutung, dass die beiden skizzierten Säulen der dualen Erwerbsregulierung erstens nicht die einzigen relevanten Cluster aus Akteuren, Themen, Konfliktformen etc. sind und dass es sich keineswegs um separierte Säulen, sondern eher um kommunizierende Röhren handelt. Dieser Gedanke soll

8http://www.worker-participation.eu/index.php/National-Industrial-Relations/Across-Europe

100

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

nach der Darstellung der beiden Säulen von tarifvertraglicher Aushandlung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden einerseits und Betriebsrats-­ Mitbestimmung im Rahmen von Betriebsverfassung wieder aufgenommen werden. Tarifverhandlungen und Gewerkschaften Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Verbots von Gewerkschaften und der (angeblichen) Gleichschaltung von Arbeit und Kapital in der Deutschen Arbeitsfront während der NS-Zeit wurde in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland das Tarifvertragsgesetz 1949 – noch vor der Gründung der Bundesrepublik – zunächst für die britische und US-amerikanische Besatzungszone beschlossen.9 Wegen der NS-Erfahrungen und im Geiste der beiden traditionell liberalen Besatzungsmächte begrenzt es die Rolle des Staates und garantiert den Tarifvertragsparteien weitgehende Autonomie. In der BRD entwickelten sich dann vergleichsweise starke Tarifverbände, vor allem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinen angeschlossen nationalen Einzelgewerkschaften und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.10 Wenige Branchengewerkschaften mit vergleichsweise großer Organisationsmacht und Mobilisierungsfähigkeit handeln in Prozessen des collective bargaining, also weitgehend autonom und ohne Einmischung des Staates, mit ebenfalls relativ mitgliederstarken, repräsentativen und gegenüber den Verbandsmitgliedern verpflichtungsfähigen Unternehmerverbänden ein ausdifferenziertes Set von Tarifverträgen aus. Die Aushandlungsterrains beschränken sich seit den 1980er Jahren nicht mehr nur auf die traditionellen reproduktiven Aspekte von Lohnhöhe, Lohnnebenleistungen, Urlaub etc., sondern beziehen zunehmend qualitative Aspekte wie die sozialverträgliche Regulierung technischer und organisatorischer Innovationen oder unterschiedliche Modelle von Arbeitszeitgestaltung und Qualifizierung ein. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass dieses tarifvertragliche Regulierungsregime – auch wenn nur etwa ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten in Gewerkschaften organisiert ist11 – trotz vieler Differenzierungen und Veränderungstendenzen (die weiter unten angesprochen werden) nach wie vor eine stil- und normbildende Wirkung für fast alle abhängig Erwerbstätigen besitzt (Traxler 1997).

9Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tarifvertragsgesetz; http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismus/39551/wirtschaft-und-gesellschaft?p=all. 10Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Gewerkschaftsbund; https://de.wikipedia. org/wiki/Bundesvereinigung_der_Deutschen_Arbeitgeberverbände. 11Vgl. http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Quer-durch-Europa/ Gewerkschaften; https://de.wikipedia.org/wiki/Gewerkschaft#Organisationsgrad.

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

101

Die Vereinigungen der Arbeitgeber besitzen in Deutschland eine doppelte Struktur. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), in dem 36 Mitgliedsverbände mit etwa 100 000 Unternehmen und acht Millionen Beschäftigten zusammengeschlossen sind, vertritt vor allem die wirtschaftsfachlichen und allgemein politischen Interessen der Arbeitgeber in Politik und Gesellschaft.12 Für Tarifverhandlungen und die direkte Interessenvertretungen gegenüber Gewerkschaften ist die bereits erwähnte Dachorganisation BDA zuständig, in der 50 Bundesfachverbände (nach Wirtschaftsaktivitäten) und 14 Landesvereinigungen zusammengefasst sind; die Fachverbände führen in der Regel auf regionaler Ebene die Tarifverhandlungen mit der entsprechenden Gewerkschaft. Seit den 1990er Jahren hat sich in dem für die Gewerkschaften unmittelbar relevanten tariflichen Verhandlungspartner der BDA eine Zweiteilung der Mitgliedschaftsformen entwickelt: Unternehmen können einem der BDA-Fachverbände entweder als klassisches tarifgebundenes Mitglied angehören – und sind damit an alle durch die eigene Organisation ab geschlossenen Tarifverträge gebunden – oder als Mitglied ‚ohne Tarifbindung‘ – in diesem Fall nimmt das Mitgliedunternehmen die Dienstleistungen der BDA in Anspruch, muss sich aber nicht an die Tarifverträge halten.13 In Deutschland gibt es im Wesentlichen drei Dachverbände, die für sich die Bezeichnung Gewerkschaften beanspruchen: der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Deutsche Beamtenbund (DBB) und der Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands (CGB). In der Wissenschaft wie in der Gesellschaft ist umstritten, ob der CGB als Gewerkschaft zu bezeichnen ist, weil ihm die formalrechtlich geforderte ‚Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler‘ teilweise abgesprochen wird.14 Der DBB ist mit etwa 1,3 Mio. Mitgliedern in 43 Mitgliedsgewerkschaften auf den Bereich des öffentlichen Dienstes fokussiert; für den Bereich der Beamten gelten in Deutschland rechtliche Sonderbedingungen, da ihnen kein Streikrecht zusteht.15 Seit den 2000er Jahren haben – nicht zuletzt unter zunächst wohlwollender Förderung durch Arbeitgeberverbände – kleinere Berufs- und Spartengewerkschaften (z. B. Cockpit für Flugzeugführer, GDL als

12Vgl.

http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/de_unsere-mitglieder; www.bdi.eu. https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitgeberverband; zur Entwicklung der Arbeitgeberverbände insgesamt und der Bedeutung der OT-Mitgliedschaften vgl. Behrens (2013) und allgemein Schroeder und Weßels (2010). 14Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Gewerkschaften_in_Deutschland. 15Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/DBB_Beamtenbund_und_Tarifunion; http://www.dbb. de/lexikon/themenartikel/s/streikrecht-und-beamte.html. 13Vgl.

102

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Abb. 5.1   Entwicklung von Mitgliederzahl und Organisationsgrad DGB 1950–2012. (Quelle: Schroeder und Greef 2013, S. 130)

Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands oder Marburger Bund für Ärzte) ihre Aktivitäten ausgebaut. Die Arbeitgeberseite erhoffte sich durch eine ‚Pluralisierung‘ der Gewerkschaftslandschaft mehr Konkurrenz und eine Befriedung der großen Einheitsgewerkschaften. Die gegenwärtige und zukünftige Bedeutung solcher Spartengewerkschaften sollte allerdings nicht überschätzt werden (Keller 2015). Die für die Erwerbsregulierung in Deutschland wichtigste gewerkschaftliche Dachorganisation ist der DGB. Die Abb. 5.1 zeigt die Entwicklung der absoluten Mitgliederzahl der DGB-Gewerkschaften sowie der gewerkschaftlichen Bruttoorganisationsrate (bei der nicht nach erwerbstätigen oder bereits im Ruhestand sich befindlichen Gewerkschaftsmitgliedern unterschieden wird). Die Gesamtzahl an Gewerkschaftsmitgliedern nahm nach der Wiedervereinigung aufgrund der fast hundertprozentigen Organisierung der Beschäftigten der ehemaligen DDR sehr schnell zu, schrumpfte dann aber kontinuierlich, bis sich seit den 2010er Jahren eine gewisse Stabilisierung abzeichnet.16 Die Abbildung lässt gleichzeitig erkennen, dass sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad seit den 1950er Jahren von über 40 % auf unter

16Dies

gilt z. B. für die IG Metall, die größte der DGB-Gewerkschaften, die von 2011 bis 2015 sogar jeweils Mitgliederzuwächse verzeichnen konnte; vgl. https://www.igmetall.de/ pressemitteilungen-2016-18316.htm; für die EU werden ähnliche Stabilisierungstendenzen im Hinblick auf die Stärke der Erwerbsregulierung beobachtet, vgl. etwa unter dem Titel „Wages and collective bargaining: light at the end of the tunnel?“ ETUI (2016, S. 39 ff.) und zur Veränderung der tariflichen Deckungsraten im EU-Vergleich EC (2015, S. 29).

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

103

Tab. 5.1   Mitgliederstruktur der DGB-Gewerkschaften 2015 Gewerkschaft

Insgesamt

Männlich

Weiblich

in v. H.

Gesamt

in v. H.

Gesamt

in v. H.

IG Bauen-Agrar-­ Umwelt

273 392

4,5

204 873

74,9

68 519

25,1

IG Bergbau, Chemie, Energie

651 181

10,7

513 717

78,9

137 464

21,1

Gew. Erziehung und Wissenschaft

280 678

4,6

79 580

28,4

201 098

71,6

IG Metall

2 273 743

37,3

1 867 759

82,1

405 984

17,9

Gew. Nahrung-Genuss- 203 857 Gaststätten

3,3

118 503

58,1

85 354

41,9

Gew. der Polizei

176 930

2,9

134 739

76,2

42 191

23,8

EVG

197 094

3,2

154 538

78,4

42 556

21,6

ver.di

2 038 638

33,4

978 047

48,0

1 060 591

52,0

DGB-gesamt

6 095 513

100,0

4 051 756

66,5

2 043 757

33,5

Quelle: http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen/2010/

20 % mehr als halbiert hat. Im Europäischen Vergleich liegt Deutschland damit im unteren Mittelfeld (siehe Abb. 4.2). Im Jahre 2015 waren in den acht Mitgliedsgewerkschaften des DGB etwa 6 Mio. Arbeitnehmer organisiert, davon zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen. Die IG Metall und die für den Öffentlichen Dienst zuständige Gewerkschaft Verdi stellen zusammen mehr als zwei Drittel aller DGB-Mitglieder. Der Frauenanteil ist besonders in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und in Verdi überdurchschnittlich hoch (vgl. Tab. 5.1). Die Normen und Prozeduren von Tarifverhandlungen sind durch das Tarifvertragsgesetz und durch zwischen den jeweiligen Tarifvertragsparteien abgeschlossene Schichtungsvereinbarungen bestimmt. Das Standardverfahren verläuft auf der nach den folgenden Stufen.17 Die Gewerkschaftsmitglieder werden in den Betrieben, in der Regel über die gewerkschaftlichen Vertrauensleute, bezüglich der Tarifforderungen konsultiert. Ähnlich werden die Unternehmen über ihren BDA-­ Fachverband einbezogen. Bei dem Vorstand der jeweiligen Gewerkschaft wird bzw.

17Vgl.

http://www.tarifregister.nrw.de/tarifsystem/funktion_tarifsystem/; http://www.bpb. de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/187824/grundlagen-der-lohnpolitik.

104

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

ist eine Tarifkommission eingesetzt, die den noch laufenden Tarifvertrag mit einem bestimmten Forderungskatalog zu kündigen beschließt. Der Gewerkschaftsvorstand entscheidet über die Tarifforderungen, kündigt den entsprechenden Tarifvertrag und übermittelt die Forderungen an den entsprechenden Arbeitgeberverband. Beide Seiten beauftragen jeweils ihre Verhandlungskommission, in angemessener Zeit vor Ablauf des Tarifvertrages die Verhandlungen aufzunehmen. Während der Laufzeit eines Tarifvertrages gilt die sogenannte Friedenspflicht: Direkte Arbeitskampfmaßnahmen können erst nach Ablauf des Tarifvertrages und der Friedenspflicht sowie den entsprechenden internen Abstimmungsprozeduren der beteiligten Verbände durchgeführt werden; allerdings können Warnstreiks (befristete Arbeitsniederlegungen von einigen Stunden), Demonstrationen und andere Aktionen auch vor Ablauf der Friedenspflicht organisiert werden. Können sich die Tarifvertragsparteien auf dem Verhandlungsweg einigen, wird durch entsprechende Unterschriften ein neuer Tarifvertrag rechtskräftig. Kommt es zu keiner Einigung, kann das Scheitern von jedem der beiden Verhandlungspartner erklärt werden. Auf Gewerkschaftsseite wird dann von der Tarifkommission ein Antrag auf Urabstimmung über einen entsprechenden Streik gestellt, der Vorstand entscheidet über die Urabstimmung und führt sie gegebenenfalls durch. Es kann aber auch von beiden Seiten ein Schlichtungsverfahren beantragt bzw. diesem zugestimmt werden; dabei versucht eine von beiden Seiten akzeptierte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens als Schlichter, die beiden Verhandlungsparteien zu einem Kompromiss zu bewegen. Kommt es weder bei den Tarifverhandlungen noch in der Schlichtung zu einer Einigung, so kann das Scheitern von jedem der beiden Verhandlungspartner erklärt werden. Auf Gewerkschaftsseite wird dann eine Urabstimmung durchgeführt, bei der sich drei Viertel der zum Streik aufgerufenen Mitglieder für den Streik aussprechen müssen, damit dieser legal ist. Kommt es zum Streik, können während dessen Verlaufs weitere Tarifverhandlungen geführt oder auch eine Schlichtung versucht werden. Kommt es zu einem Verhandlungsergebnis, muss mindestens ein Viertel der zum Streik aufgerufenen Mitglieder diese akzeptieren, damit der neue Tarifvertrag gültig wird. Tarifverträge lassen sich entsprechend der beteiligten Vertragsparteien nach Verbandstarifverträgen einerseits und Haus-/Firmen-Werkstarifverträgen andererseits unterscheiden; sie können aber auch nach regionaler, fachlich-sektoraler, persönlicher (Gültigkeit nur für bestimmte Arbeitnehmergruppen) oder zeitlicher (Laufzeit ein, zwei oder mehr Jahre) Hinsicht differenziert werden. Grob wird in Deutschland zwischen Lohn-/Einkommens-Tarifverträgen (Regelung der absoluten Entlohnungshöhe und möglicher Steigerungen während der Laufzeit), ­ Manteloder Rahmentarifverträgen (mit Definitionen der Entgeltgruppen sowie den

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

105

Kriterien der Zuordnung von Arbeitnehmern, Kriterien der Arbeits- und Leistungsbewertung, Arbeitsbedingungen, Urlaub, Arbeitszeit, vermögenswirksame Leistungen etc.) und speziellen Tarifverträgen (etwa zur Beschäftigungssicherung im Rahmen von Rationalisierungen, zur Qualifizierung oder Altersteilzeit) unterschieden. Ein theoretisch durchaus wichtiges, in Deutschland aber im internationalen Vergleich relativ wenig genutztes Verfahren ist das der Allgemeinverbindlichkeitserklärung: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach § 5 Tarifvertragsgesetz einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien unter bestimmten Voraussetzungen für allgemein verbindlich erklären. Von den rund 71 900 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind zur Zeit 490 allgemein verbindlich (238 Ursprungs- und 252 Änderungs- bzw. Ergänzungstarifverträge), darunter 163, die (auch) in den neuen Bundesländern gelten.“18

Es sind also weit weniger als ein Prozent aller Tarifverträge für allgemein verbindlich für die jeweilige Branche erklärt worden. Dies stellt sich in anderen Ländern zum Teil radikal anders dar. In Frankreich beträgt die tarifliche Deckungsrate z. B. über neun Zehntel, obwohl nur weniger ein Zehntel der abhängig Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert (EC 2015, S. 20 und 29). Wie im obigen Zitat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) angegeben existierten in Deutschland zur Mitte der 2010er Jahre etwa 72 000 gültige Tarifverträge. Diese sollen in den Tarifregistern auf Länderebene öffentlich zugänglich gemacht werden und ermöglichen Analysen nach vielfältigen Aspekten.19 Auf der Basis der regelmäßigen Befragungen des IAB-Betriebspanels kann die tatsächliche Tarifbindung der Beschäftigten nach vielfältigen Gesichtspunkten ausgewertet werden.20 In der längerfristigen Entwicklung zeigt sich für die Privatwirtschaft in West- und in Ostdeutschland eine deutliche Abnahme der

18verbindliche-tarifvertraege.html;

vgl. dort auch die Liste aller für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge. 19Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tarifregister und z. B. http://www.tarifregister.nrw.de/; auch das WSI der Hans-Böckler-Stiftung führt ein Tarifarchiv, vgl. http://www.boeckler.de/ index_wsi_tarifarchiv.htm. 20Für weitegehende wissenschaftliche Analysen auf der Basis des IAB-Betriebspanels vgl. http://infosys.iab.de/infoplattform/thema.asp?AP=3.

106

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Flächentarifbindung, gemessen in der Anzahl der von Tarifverträgen erfassten Beschäftigten (vgl. Abb. 5.2). Noch geringer wird der Anteil der Tarifbindung, wenn man die Anzahl der Betrieb berücksichtigt; es sind nur etwa 30 % der westdeutschen und nur 17 % der ostdeutschen Betriebe direkt an einen Tarifvertrag gebunden; der Unterschied zur Tarifbindung nach Beschäftigten erklärt sich dadurch, dass größere Betriebe in der Regel eher einem Tarifvertrag unterliegen. Gleichwohl ist zu betonen, dass jeweils über die Hälfte der nicht tariflich gebundenen Betriebe erklärten, sich an den Bestimmungen des jeweiligen Branchentarifvertrages zu orientieren (Ellguth und Kohaut 2014, S. 288). Betrachtet man die Anzahl der Beschäftigten, dann arbeiten in Westdeutschland 60 % in einem Betrieb mit direkter Tarifbindung, ein weiteres Fünftel arbeitet in Betrieben, die sich am Branchentarifvertrag orientieren, sodass Tarifverträge zusammengenommen für über 80 % direkte oder indirekte Gültigkeit haben; für Ostdeutschland sind 47 % der Beschäftigten direkt durch Tarifvertrag erfasst, und über 25 % arbeiten in Betrieben, die sich am Branchentarifvertrag orientieren, sodass zusammen knapp drei Viertel in ihren Erwerbsbedingungen durch Tarifverträge strukturiert werden (ebd., S. 287).

Abb. 5.2   Entwicklung Flächentarifbindung nach Beschäftigten 1996–2013. (Quelle: Ellguth und Kohaut 2014, S. 289)

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

107

Abb. 5.3   Streiktage pro 1 000 Beschäftigte in EU-Mitgliedsländern. (Quelle: EC 2015, S. 37)

Zu Recht resümieren Heidenreich/Zirra im Jahre 2012: „Die in Deutschland üblichen, branchenweit gültigen ‚Flächentarifverträge‘ haben durch die Festlegung von Mindestbedingungen zu einer Vereinheitlichung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und damit auch zu einer Homogenisierung der Industriestruktur beigetragen. (…) Hierdurch werden die Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen, zwischen verschiedenen Branchen und zwischen größeren und kleineren Unternehmen und ansatzweise auch zwischen Ost und Westdeutschland gering gehalten und der soziale Friede im Land gesichert.“21

Bezüglich des letzten in dem Zitat angesprochenen Aspekts, des sozialen Friedens, ist zu betonen, dass in Deutschland aufgrund einer Kultur sozialpartnerschaftlicher und konfliktfähiger Kooperation und wegen der ausdifferenzierten Konfliktschlichtungsverfahren, die wie weiter oben erwähnt für den Beginn eines Streiks recht hohe (75 % der zum Streik Aufgerufenen) und für die Beendigung eines Streiks wesentlich niedrigere (25 % der zum Streik Aufgerufenen) Hürden festlegen, das Streikniveau vergleichsweise niedrig ist. Die Abb. 5.3 (vgl. auch Abb. 4.3) gibt die durchschnittliche Anzahl der registrierten Streiktage pro 1000 Beschäftigte für die beiden Perioden 2002–2007 und 2008–2012 wider. Durch die Wahl der 5- bzw. 6-Jahresperiode wird die Wirkung von möglichen Ausnahmesituationen (z. B. ein überdurchschnittlich lang andauernder Streik) gedämpft. Die Veränderungen zwischen beiden betrachteten Perioden für das jeweilige Land sind in einigen Fällen nicht so groß, dass sich

21http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138705/

neue-regulierungsformen-der-arbeitswelt

108

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

das Gesamtniveau des betrachteten Landes gegenüber den anderen wesentlich verändern würde (Belgien, Deutschland, Frankreich, Finnland, Zypern, Malta, Niederlande, UK). Für andere Länder hat sich zwischen den beiden Perioden ein eher qualitativer Unterschied ergeben – für Dänemark und Irland hat sich ein Anstieg, für Spanien, Italien und Österreich ein Rückgang des Streikniveaus ergeben. Deutlich wird das enorm niedrige Konfliktniveau in Deutschland im EU Vergleich, welches auch auf globaler Ebene gilt.22 Die Säule der tarifgesetzlich basierten autonomen Aushandlung von Erwerbsbedingungen zwischen vertretungswirksamen Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden erweist sich insgesamt als stark und – trotz der beobachteten Abwärtstendenzen hinsichtlich Mitgliederstärke der Verbände – relativ stabil. Gerade im Hinblick auf die Rolle der Gewerkschaften ist sie dabei mit der in der folgenden Sektion zu behandelnden zweiten Säule, der betriebsverfassungsrechtlich basierten Mitbestimmung, eng verwoben. Doch bevor diese erläutert wird, sind einige eher qualitative Charakteristika der Gewerkschaften in Deutschland vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung zu erwähnen, ohne die das Regime der Erwerbsregulierung kaum verständlich wird. Gewerkschaften sind historisch in Europa und besonders auch in Deutschland als genossenschaftliche Selbsthilfeverbände mit einem starken Berufsbezug entstanden. Sie waren auf die Prinzipien der Solidarität, der wechselseitigen Hilfeleistungen in Notfällen ‚nach innen‘ ausgerichtet. Daneben sind Gewerkschaften auch und vor allem Interessenverbände, die die erwerbsbezogenen Interessen ihrer Mitglieder nach außen vertreten. Schließlich sind Gewerkschaften historisch auch politische Gestaltungsverbände und Teil sozialer Bewegungen. Sie sind ein relevanter Machtfaktor nicht nur in der Wirtschaft, sondern in der Regel auch in Politik und Gesellschaft, etwa in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung oder in der allgemeinen Diskussion über Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik. Seit dem Erstarken der Gewerkschaften im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erweiterte sich in Deutschland ihr rein genossenschaftlicher Charakter zu dem einer breiteren sozialen Bewegung mit dem Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Einflussnahme und Mitgestaltung. In dem Maße, wie diese allgemeine gesellschaftliche Mitgestaltungsfunktion der Gewerkschaften anerkannt wurde, trat ihr Charakter einer sozialen Bewegung zurück. Sie wurden als Berufsverbände mit politischem Gestaltungsanspruch, gleichsam als ‚intermediäre

22Vgl.

z. B. Perry und Wilson (2004); die Autoren merken zu Recht an, dass in Deutschland während der 1980er Jahre sehr viele durch Arbeitskonflikte ausgefallene Arbeitstage auf Aussperrungen durch die Arbeitgeberseite zurückzuführen waren, vgl. ebd., S. 5.

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

109

Organisation‘ zwischen Politik und Wirtschaft, fest in das Institutionensystem integriert. Die Gewerkschaften in Deutschland zeichnen sich im internationalen Vergleich durch drei Besonderheiten aus. Zunächst haben sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg – und nicht zuletzt aufgrund der historischen Erfahrungen zersplitterter Gewerkschaftsverbände in der Weimarer Republik – weitgehend als Einheitsgewerkschaften nach dem Prinzip von Wirtschaftssektoren institutionalisiert. In einem Betrieb und in einer Branche gibt es in der Regel nur eine Gewerkschaft, die die dort Beschäftigten z. B. in Tarifverhandlungen vertritt. Dieses Prinzip wird durch die jüngere Entwicklung zu Multibranchengewerkschaften und die Entstehung kleiner Berufs- bzw. Spartengewerkschaften aufgeweicht, ist aber im Vergleich zur Situation in vielen anderen Ländern immer noch bedeutsam. Zweitens bestimmt der grundgesetzlich und durch das Tarifvertragsgesetz verankerte Regelungsauftrag an die autonomen Tarifpartner bei gleichzeitig durchaus stark verhandelten und formalisierten Schlichtungsprozeduren das deutsche System. In anderen Ländern mischt sich häufig der Staat wesentlich direkter in die Tarifauseinandersetzungen oder aber es fehlt fast vollständig an formalisierten Verhandlungsrichtlinien. Die Stärke und relative Stabilität der Gewerkschaften ist in Deutschland auch traditionell durch die geradezu symbiotische Beziehung zwischen Tarifautonomie und Betriebsverfassung und konkret zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten bestimmt. Drittens sind die Gewerkschaften traditionell durch eine berufliche und Facharbeiter-Orientierung sowohl der Tarifpolitik als auch des Funktionärskörpers selbst geprägt, und sie zeichnen sich durch Dialogbereitschaft gegenüber Unternehmen und Arbeitgeberverbänden sowie eine starke Mitverantwortung für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Wirtschaft aus. Vor dem Hintergrund dieser historischen gewachsenen Charakteristika lassen sich seit den 1990er Jahren einige grundlegende Veränderungstendenzen beobachten.23 Eine erste betrifft den bereits erwähnten stetigen Mitgliederrückgang und die Pluralisierung der Mitgliedschaft (Meise 2014, S. 31 ff.) bei den DGB-Gewerkschaften. Wirtschaftlicher Strukturwandel hin zu Branchen und Berufen mit traditionell niedrigem Gewerkschaftseinfluss verschärften die gewerkschaftlichen Organisationsprobleme ebenso wie der allgemeine Wertewandel in Richtung Individualisierung von Interessenlagen und die veränderten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von projektförmigen und

23Vgl.

die Beiträge in Schroeder (2013) und in „Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament“, Nr. 13–14/2010.

110

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

virtuellen Kooperationsbeziehungen. Direkte und dauerhafte Erfahrungen eines gemeinsamen Erwerbsschicksals werden seltener. Ein zweiter Veränderungstrend betrifft die vielfältigen Fusionen zwischen mehr oder weniger gleich großen Gewerkschaften – wie z. B. zwischen der IG Bergbau und Energie und der IG Chemie, Papier, Keramik zur IG BCE – und die Integrationen von kleinen Gewerkschaften in große – wie etwa der Gewerkschaft Holz und Kunststoff in die IG Metall. Mergers und Aquistions gibt es also nicht nur bei Unternehmen. Die Zahl der im DGB zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften hat sich auf diese Weise von 16 vor der Wiedervereinigung auf acht halbiert. Die Zusammenschlüsse wie IG BAU, IG BCE und ver.di zielen auf die Anpassung an veränderte strukturelle Rahmenbedingungen und weitere Bündelung gewerkschaftlicher Organisationsmacht. Dennoch führten die neu gebildeten Gewerkschaftsorganisationen weder direkt zu deutlichen Attraktivitäts- und somit Mitgliedergewinnen noch zur Herausbildung einer neuen gewerkschaftlichen Organisationsidentität beitragen. Durch die Fusionen sind die großen Einzelgewerkschaften in Deutschland heute Multibranchengewerkschaften – mit all den sich daraus ergebenden Konflikten z. B. im Hinblick auf das Organisierungsmonopol. Einerseits können Unternehmen dadurch in die vielleicht komfortable Rolle des concession bargaining geraten, also des Aushandelns von Zugeständnissen bei konkurrierenden Verbänden. Andererseits bringen viele zwischengewerkschaftliche Konflikte auch mehr Unruhe und Unberechenbarkeit in die Verhandlungen und möglicherweise in die Betriebe. So konkurrieren etwa die IG BCE, ver.di und die IGM um die Mitgliederrekrutierung in Betriebsteilen verschiedener großer Konzerne wie z. B. Thyssen, die aufgrund ihrer vielfältigen Aktivitäten keinen eindeutigen Branchenbezug (mehr) aufweisen. Nicht selten sind die Transaktionskosten dieser neueren Fusionstendenzen bei den Gewerkschaften für alle beteiligten Akteure enorm. Eine dritte Veränderungstendenz betrifft die Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Verbandslandschaft insgesamt. Schon seit langem bestanden neben dem DGB der Beamtenbund sowie der CGB und eine Zahl von rund 40 weiteren Interessenorganisationen, die überwiegend berufsständisch organisiert sind. Eine Vielzahl dieser Verbände organisiert und vertritt die Interessen von Beschäftigten im Gesundheitswesen (Ärzte, technische Assistenten, Pflege, Apothekenangestellte), im öffentlichen Dienst (Soldaten, Kriminalbeamte, Richter, Verwaltung, Polizei, Post), im Verkehr (Piloten, Flughäfen, Boden, Berufs-Kraftfahrer) und im Kulturbereich (Schauspieler, Bühnenangehörige, Orchesterangehörige, Vertragsfußballspieler etc.). Neben dem DGB hatten lange Zeit vor allem der Deutsche Beamtenbund und die Deutsche Angestelltengewerkschaft ein starkes Gewicht. Nachdem die DAG im DGB aufgegangen ist, hat sich die Verbandslandschaft nun

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

111

keineswegs vereinfacht, vielmehr haben kleinere Verbände außerhalb des DGB relativ an Bedeutung gewonnen oder konnten ihre Mitgliederzahl halten. Dies trifft z. B. für den Deutschen Beamtenbund, für die Christlichen Gewerkschaften und für den Marburger Bund zu. An Bedeutung gewonnen haben auch kleine Interessenverbände, die spezifische Berufsgruppen von Hochqualifizierten wie etwa die Flugzeugkapitäne, Lokführer oder Ärzte organisieren; aufgrund ihrer strategischen Positionen und relativ homogener Interessen können diese kleinen Berufsgruppen durchaus sehr vertretungswirksam sein. Insgesamt bleibt allerdings festzuhalten, dass die DGB-Gewerkschaften nach wie vor quantitativ wie qualitativ die Tarifregulierung und die Vertretung der abhängig Beschäftigten allgemein weitgehend bestimmen. Ihre Position wird aber durch die skizzierte Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Verbandslandschaft herausgefordert, was sich z. B. im Möbeltischlerhandwerk an der Konkurrenz zwischen der IG Metall und dem CGB oder im Gesundheitswesen an Konflikten zwischen ver.di und dem Marburger Bund zeigt. Als eine vierte für die Gewerkschaften wichtige Veränderungstendenz lässt sich die Dezentralisierung und partielle Erosion von Tarifregulierung nennen. Durch tarifliche Öffnungsklauseln hat seit den Abkommen zur Wochenarbeitszeitverkürzung in den 1980er Jahren die betriebliche Ebene eine wichtige Funktion in der flexiblen Ausgestaltung regional-branchenbezogener Tarifverträge erhalten. Inzwischen hat dieses Instrument tariflicher Rahmenregelungen einerseits und zwischen Betriebsräten und Unternehmensleitungen auszuhandelnden Betriebsvereinbarungen andererseits in vielen Branchen an Bedeutung gewonnen. Dies ist auch als ein Versuch der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände zu verstehen, der Kritik von Unternehmen an mangelnder Flexibilität und den Verbandsaustritten entgegenzukommen. Diese Dezentralisierung der Tarifregulierung bisher nicht den Rückgang der tarifvertraglichen Deckungsrate und den Trend zu Arbeitgeberverbandsmitgliedschaften ohne Tarifbindung völlig aufhalten können. Betriebsverfassung und Mitbestimmung Der zweite Pfeiler des dualen Regulierungsregimes ist die auf starken gesetzlichen Bestimmungen beruhende, vor allem prozedurale Beteiligung der Beschäftigten durch Betriebsräte in den Unternehmen und durch Präsenz in den Aufsichtsräten großer Aktiengesellschaften festlegt. Betriebsräte können aber auch materiale Ausgestaltungen der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen aushandeln. Sie haben darüber hinaus den gesetzlichen Auftrag, über die Einhaltung bestehender gesetzlichen, tariflichen und sonstigen Normen zu wachen, dies gilt vor allem in den Bereichen der Sozialversicherung sowie des Unfall-, G ­ esundheitsund des Kündigungsschutzes. Schon über diese ­ Aufgabenbestimmung des

112

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Betriebsrates, „darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden“24, ist eine genuine Brücke zwischen der Säule der Tarifverhandlungen und der betrieblichen Mitbestimmung geschlagen. Wie im Weiteren gezeigt werden soll, gibt es darüber hinaus geradezu symbiotische Beziehungen zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften. Zum Verständnis der Mitbestimmung in Deutschland sind einige historische Anmerkungen notwendig. Denn die Grundidee der Mitbestimmung hat sich über verschiedene Entwicklungsetappen konkretisiert und gefestigt, sie entstand aus historisch einmaligen Konstellationen, in denen zumindest drei Faktoren relevant wurden Der erste bezieht sich auf den jahrzehntelangen Kampf der Arbeiter und Gewerkschaften für Unfall- und Gesundheitsschutz, wozu die Einrichtung von entsprechenden betrieblichen Ausschüssen gefordert wurde. Bereits in der 1891 geänderten Gewerbeordnung wurde, vor allem zur Verbesserung des Arbeitsschutzes – die Möglichkeit der Bildung von Arbeiterausschüssen mit Anhörungsrecht vorgesehen. Ähnliche betriebliche Ausschüsse zur Verbesserung von Gesundheit, Hygiene und Unfallverhütung existieren in der einen oder anderen Form und zumindest als gesetzliche Möglichkeit in vielen Ländern der Welt, auch in den spät industrialisierten. In Deutschland weitete sich die Gesetzgebung vor allem für Bergwerke und den dort besonders relevanten Unfallschutz kontinuierlich aus (1900 Bayrisches Bergbaugesetz, 1905 Preußisches Bergbaugesetz, dessen Novelle 1912 nach großem Bergarbeiterstreik) und führte zur obligatorischen Einrichtung von Arbeiterausschüssen in allen Bergwerken mit mehr als 20 bzw. 100 Beschäftigten. Während der erste Faktor in sehr vielen Ländern ähnlich zum Tragen kam bzw. kommt, hat der zweite Faktor, der das besondere Gewicht der Mitbestimmung in Deutschland mit erklären kann, mit der historischen Ausnahmesituation des – von Deutschland initiierten – Ersten Weltkrieges zu tun. Die Reichsregierung benötige für ihren Angriffskrieg die Gefolgschaft aller sozialen Gruppen des Landes. Während ein Großteil aller erwachsenen Männer im Krieg war, wurden die in den Betrieben Verbleibenden umso wichtiger für die Aufrechterhaltung der kriegswichtigen Produktion. Deshalb wurde 1916, also mitten im Krieg, das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ verabschiedet, durch welche für alle Gewerbebetriebe mit über 50 Arbeitern verpflichtend die Einführung von Arbeiterausschüssen beschlossen wurde. Für den Historiker Teuteberg war damit

24§ 80, Absatz (1)1 Betriebsverfassungsgesetz; https://www.gesetze-im-internet.de/betrvg/__80. html.

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

113

das „Ende der einseitigen Fabrikherrschaft“25 eingeläutet. Aus der Notwendigkeit heraus, die Mitverantwortung der Arbeitnehmer für die Wirtschaft (und für den Krieg) sicherzustellen, wurden ihnen in einer Ausnahmesituation weitgehende Rechte eingeräumt. Der dritte historisch relevante Faktor für das Gewicht, welches die Mitbestimmung in Deutschland erlangte, waren die Situationen einer erheblich geschwächten und – weil aktiv am Kriegsgeschehen jeweils beteiligte – de-legitimierten Arbeitgeberseite nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. In der revolutionären Nachkriegssituation wurde 1918 unter Berufung auf das Hilfsdienstgesetz die Bildung von betrieblichen Arbeiter- und Angestelltenausschüssen verordnet. „Diese Verordnung schreibt die Errichtung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen in sehr erweitertem Umfang vor und vergrößert ihren Aufgabenbereich wesentlich“ (Schultz 1919, S. 2). Während der Reformphase der Weimarer Republik wurde 1920 das Betriebsrätegesetz und 1922 das Gesetz über die Entsendung von BR-Mitgliedern in den Aufsichtsrat beschlossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg strebten viele Gewerkschafter und Parteien (einschließlich des Ahlener Programms der CDU) eine weitgehende Verstaatlichung großer Unternehmen und Schlüsselindustrien an.26 Mitbestimmung war aus Arbeitnehmersicht unter diesen Bedingungen eher ein Kompromiss auf niedrigem Niveau. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 22 von 1946 wurden die Betriebsräte, die ebenso wie die Gewerkschaften während der NS-Zeit abgeschafft waren, wieder eingeführt.27 Es folgten dann 1951 das Montanmitbestimmungsgesetz, 1952 das Betriebsverfassungsgesetz (mit Novellen 1972 und 2001) sowie das Mitbestimmungsgesetz von 1976 (mit einer Novelle 2004) zur Mitbestimmung in Kapitalgesellschaften.28 Zusammengefasst gilt, dass die Mitbestimmung in Deutschland bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Stufen und Auseinandersetzungen etabliert wurde. Sie ist inzwischen eine wesentliche soziale Institution in Wirtschaft und Gesellschaft. Im Folgenden wird die betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung durch Betriebsräte erläutert, die Unternehmensmitbestimmung

25https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_%C3%BCber_den_vaterl%C3%A4ndischen_Hilfs-

dienst 26Vgl.

Milert und Tschirbs (2012); https://de.wikipedia.org/wiki/Mitbestimmung; https:// de.wikipedia.org/wiki/Ahlener_Programm. 27Vgl. http://www.verfassungen.de/de/de45-49/kr-gesetz22.htm. 28Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Betriebsverfassung; https://de.wikipedia.org/wiki/Mitbestimmungsgesetz.

114

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

in Aufsichtsräten kann nur sehr kurz erwähnt werden. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz kann in Betrieben der Privatwirtschaft (für den Öffentlichen Dienst gilt das Personalvertretungsgesetz; für Tendenzbetriebe gelten besondere Bestimmungen) ab fünf regelmäßig Beschäftigten ein Betriebsrat (BR) gewählt werden.29 Alle zum Wahlzeitpunkt regelmäßig im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, sind wahlberechtigt; dies gilt (seit der Novelle 2001) auch für Leiharbeitnehmer, wenn sie länger als drei Monate im Betrieb eingesetzt werden. Der BR besteht bei bis zu 20 Wahlberechtigten aus einer Person, bei 21 bis 50 (51 bis 100) Wahlberechtigten aus 3 (5) Personen und wächst disproportional weiter an, in einem Betrieb von 1001 bis 1500 Wahlberechtigten besteht er z. B. aus 15 Personen. Betriebsratswahlen finden alle vier Jahre im Frühjahr statt. Als Betrieb im Sinne der Betriebsverfassung gilt jede eigenständige, räumlichsachlich abgetrennte Leistungseinheit. In Betrieben, die einem größeren ­Unternehmen oder gar Konzern angehören, können neben den BR auch Gesamtbetriebsräte und Konzernbetriebsräte gebildet werden. Gerade für die Interessenvertretung in großen und komplexen Unternehmen sind erst dadurch die Möglichkeiten geschaffen, eine den tatsächlichen Unternehmensstrukturen adäquate Interessenvertretung aufzubauen. Auf der europäischen Ebene besteht schließlich die Möglichkeit der Einrichtung von Euro-Betriebsräten, die sich allerdings nach europäischem und nach jeweiligem Landesrecht gestalten (vgl. Abschn. 8.2). BR verfügen über ein abgestuftes System verschiedener Typen von Rechten. Das schwächste ist das Informationsrecht, welchem ermöglicht, bestimmte Informationen z. B. über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens oder die Personaldaten einzelner Beschäftigter notfalls zu erzwingen. Etwas stärker ist das sogenannte Beratungsrecht, dem Recht des BR, z. B. bei Veränderungen von Betriebsteilen, der Einführung neuer Technologien oder der Planung der Arbeitsplätze diese mit dem Arbeitgeber zu beraten und zu erörtern. Ein Widerspruchsrecht besitzt der BR bei einer beabsichtigten Kündigung; wird der BR vor Ausspruch einer Kündigung nicht angehört, ist diese rechtsunwirksam; widerspricht der BR einer angekündigten Kündigung form- und fristgerecht und legt der betroffene Arbeitnehmer Klage gegen die Kündigung ein, so ist hat er bis zum Abschluss des Kündigungsschutzprozesses vor dem Arbeitsgericht einen Weiterbeschäftigungsanspruch.

29Vgl.

https://www.gesetze-im-internet.de/betrvg/; https://de.wikipedia.org/wiki/Personalvertretungsgesetz; https://de.wikipedia.org/wiki/Tendenzbetrieb.

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

115

Während dieses Widerspruchsrecht vorwiegend auf individuelle personelle Maßnahmen ausgerichtet ist, besteht ein Zustimmungsverweigerungsrecht bei einem breiteren Kanon von Entscheidungen (Beschäftigungsarten und -dauern, Einsatz von Leiharbeitnehmern, Gestaltung von Lage und Dauer der Arbeitszeit, Eingruppierungen etc.); der BR kann in diesen Fällen keine aktive Mitgestaltung erzwingen, sondern hat ein Vetorecht: der Arbeitgeber kann bestimmte Maßnahmen nicht durchführen, wenn der BR von seinem Zustimmungsverweigerungsrecht Gebrauch macht. Das weitreichendste Recht des BR ist schließlich die echte Mitbestimmung als Möglichkeit, betriebliche Angelegenheiten direkt und gleichberechtigt mitzugestalten; Mitbestimmung heißt hier, dass der BR eigene Initiativen und Vorschläge einbringen kann, die der Arbeitgeber nicht einfach ignorieren oder ablehnen kann, sondern in Bezug auf die es einen Einigungszwang gibt. Mitbestimmungsrechte bestehen bei der Festlegung der allgemeinen Verhaltensordnung eines Betriebes, häufig Betriebsordnung genannt, bei der Festlegung der täglichen Arbeitszeiten und Pausen sowie der Arbeitszeittypen (Gleitzeit, Schichtarbeit, Telearbeit etc.), bei der Anordnung von Überstunden oder Kurzarbeit, bei der Festlegung der Urlaubsgestaltung oder bei der „Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen.“30 Seit der Novelle von 2001 hat der BR auch das Recht, externe Experten in seine Arbeit einzubinden und einen Teil seiner Rechte an Arbeitsgruppen zu delegieren. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und rechtlichen Grundlagen ist die wichtigste Frage die nach der tatsächlichen Verbreitung von BR in Deutschland und nach der realen Ausgestaltung ihrer Arbeit. Die Tab. 5.2 veranschaulicht die Entwicklung der Betriebe mit BR in Deutschland von 1998 bis 2014. Der Anteil von Betrieben mit BR ist von 12 auf 9 % aller Betriebe der Privatwirtschaft zurückgegangen. Der Anteil von Beschäftigten, die in einem Betrieb mit BR arbeiten, sank im gleichen Zeitraum von 50 auf 41 %. Es zeigt sich ein etwa zehnprozentiger Niveauunterschied zwischen Ost- und Westdeutschland sowie ein deutlicher Größeneffekt der Schrumpfungstendenzen. Diese konzentrieren sich in mittleren Betrieben zwischen 50 und 500 Beschäftigten. In einer sehr umfangreichen, in dieser Form erstmalig in Deutschland durchgeführten repräsentativen und umfangreichen Befragung von Personalverantwortlichen (n = 3254) und Betriebsräten sowie Vertretern anderer Vertretungsorgane (AVO BR und AVO zusammen n = 1 410) ergab sich ein Anteil von 20 % der

30§ 87, Absatz

(1) 6.; https://www.gesetze-im-internet.de/betrvg/.

116

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Tab. 5.2   Anteil von Betrieben und Beschäftigten mit BR 1996, 1998, 2014. Quelle: Ellguth und Trinczek 2016, S. 177

befragten Betriebe mit BR, ein Prozent mit kirchlichen Mitarbeitervertretungen (MAV) und 19 % mit AVO (BISS-Studie; Hauser-Ditz et al., S. 109 f.).31 Wie auch in anderen Untersuchungen zeigt sich die enorme Abhängigkeit des Vorkommens der BR von der Betriebsgröße (vgl. Tab. 5.2 und 5.3): Fast alle Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten haben einen BR, während dieser in kleineren Betrieben bis 50 Beschäftigten eher die Ausnahme ist. Bei den AVO verhält es sich genau umgekehrt, sie haben lediglich in kleineren Betrieben bis unter 100 Beschäftigten etwas Bedeutung. Aufgrund der Größenabhängigkeit haben zwar nur etwa ein Fünftel aller Betriebe einen BR, es sind in diesen (größeren) Betrieben aber etwa 57 % aller abhängig Beschäftigten tätig. Das Vorkommen von BR hängt auch sehr stark von der Branche ab. In den klassischen industriellen Produktionssektoren (Bergbau und Energie, Verbrauchs-, Investitionsund Produktionsgüterherstellung, aber auch in den Bereichen Versicherungs-/

31Unter

AVO wurden verschiedene, rechtlich nicht abgesicherte Formen der Beschäftigtenbeteiligung zusammengefasst wie Mitarbeiter-Ausschüsse, nicht gewerkschaftliche ‚Vertrauensleute‘ und Runde Tische; zu den kirchlichen MAV vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Mitarbeitervertretung; zur Abgrenzung der verschiedenen Interessenvertretungsformen vgl. Hauser-Ditz et al. (2008, S. 75 ff.).

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

117

Tab. 5.3   Anteil Betriebe mit BR, AVO und ohne kollektiver Interessenvertretung 2005 Interessenvertretungsform

Betriebsgrößenklassena 10–19

20–49

50–99

100–199

200–499

500+

Gesamt

Prozent Betriebe Keine kollek- 73 tive Vertretung

56

41

26

14

3

60

20 Andere Vertretungsorgane (AVO)

21

15

8

7

3

19

Gesetzliche Vertretung (BR, MAV)

7

23

44

66

79

94

22

Gesamt

100

100

100

100

100

100

100

Basis: Privatwirtschaft ab zehn Beschäftigte aohne geringfügig Beschäftigte, Auskünfte von 3254 Managementvertretern, Betriebsgewichtung, Rundungsfehler möglich Quelle: Hauser-Ditz et al., S. 111

Wohnungswirtschaft, Erziehung und Gesundheits-/Sozialwesen existieren BR in mindestens zwei Dritteln der Betriebe (ebd., S. 112 f.). Neben der Betriebsgröße und der Branche hängt das Vorkommen von BR auch von der Betriebskultur, dem Anteil an Facharbeiter (je höher, desto wahrscheinlicher ein BR), dem Durchschnittsalter der Belegschaft (je älter, desto wahrscheinlicher ein BR), dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad (je höher, desto wahrscheinlicher ein BR) und dem Alter des Betriebes (je älter, desto wahrscheinlicher ein BR) ab (ebd., S. 117, 123 und 129). Insgesamt gibt es in Betrieben mit BR eine signifikant niedrigere Arbeitszeit und mehr Arbeitszeitmodelle: „Deutlich nachweisbar war hingegen ein arbeitszeitsenkender Einfluss gesetzlicher Vertretungen: Auch wenn hier Branchen-, Betriebsgrößen- und Tarifbindungseffekte größer sind, in Betriebsratsbetrieben ist die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit im Durchschnitt etwa 0,4 Stunden kürzer als in vergleichbaren Betrieben ohne Betriebsrat. In Bezug auf den Einsatz flexibler Arbeitszeitmodelle zeigte sich, dass der ‚Preis‘ für die kürzere Arbeitszeit die stärkere Flexibilisierung der betrieblichen Arbeitszeitregimes in den Betriebsratsbetrieben sein könnte. Zwar fallen Betriebsratsbetriebe nicht durch einen erhöhten Einsatz von Überstunden auf – sowohl gemessen am Anteil der Betriebe, in denen im Jahr vor der Befragung Überstunden geleistet wurden als auch am Anteil der hiervon jeweils betroffenen Beschäftigten.

118

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Zu beobachten ist allerdings eine höhere Quote beim Einsatz von flexiblen Arbeitszeitformen wie der Teilzeitarbeit, der Gleitzeitarbeit oder der Einrichtung von Arbeitszeitkonten, die sich auch in multivariaten Kontrollrechnungen bestätigte. Dabei wirkte sich insbesondere die Kombination von gesetzlicher Vertretung und Tarifbindung flexibilitätsfördernd aus“ (ebd., S. 266 f.).

Die BISS-Studie fand in den 2000er Jahren im Zusammenhang zum Teil scharfer Kritik von Arbeitgeberseite an der verfassten Mitbestimmung, vor allem aber an der in den Aufsichtsräten ausgeübten Unternehmensmitbestimmung statt (BDA und BDI 2004). Vielfach wurde argumentiert, die Mitbestimmung verlangsame betriebliche Entscheidungsprozesse, fördere Strukturkonservativismus, koste den Betrieben bzw. Unternehmen viel Geld und erhöhe das Konfliktniveau in den Organisationen. Als Ergebnis konnte dagegen festgehalten werden: „Die verfasste betriebliche Mitbestimmung ist ein fester Bestandteil industriell geprägter Betriebsstrukturen. In kleineren Betrieben und in vielen Dienstleistungsbranchen hat sie aber (nach wie vor) eine geringe Bedeutung. (…) Sofern ein Betriebsrat existiert, ist er überwiegend von der Geschäftsleitung akzeptiert. Die Zusammenarbeit zwischen Interessenvertretung und Geschäftsleitung wird hier zu über 70 Prozent als gut oder sehr gut eingeschätzt. (…) Gewerkschaften spielen für die Existenz und die Arbeit der Betriebsräte eine entscheidende Rolle. Etwa 60 Prozent der Betriebsratsmitglieder sind gewerkschaftlich organisiert; nur 15 Prozent der Gremien arbeiten völlig ohne gewerkschaftliche Einbindung. Zudem sind die Betriebsräte über Schulungen und Beratungen in hohem Maße mit der für sie zuständigen Gewerkschaft verbunden“ (ebd., S. 270 f.).

Zwar zeigte die BISS-Studie, dass AVO quantitativ eine größere Rolle spielen, als häufig angenommen wurde (vor allem, weil sie nicht systematisch erhoben worden waren). Allerdings agieren sie insofern im „Schatten der Betriebsverfassung“ (ebd., S. 277), als ihnen ihr ja rechtlich nicht abgesichertes Verhandlungspotenzial vonseiten der Arbeitgeber eingeräumt wird unter auch, um eventuell die Bildung eines BR zu verhindern. „Möglicherweise führen die weitreichenden Beteiligungsrechte des Betriebsrats aber auch dazu, dass den AVOs zumindest auf einigen Themenfeldern ähnliche Mitsprachemöglichkeiten eingeräumt werden beziehungsweise dass die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ein Niveau bieten, das ohne den ‚Schatten der Betriebsverfassung‘ nicht realisiert worden wäre. Generell zeigen die Befunde, dass die Wirkungen der Betriebsverfassung sehr viel weiter reichen als nur in die Betriebe mit Betriebsräten“ (ebd.).

In vielen empirischen Untersuchungen wurden, vor allem auf Fallstudien basierend, verschiedene Typen von BR konstruiert (Kotthoff 1981, 1994; Bosch et al. 1999). Je nach Konflikt- oder Kooperationsniveau, starker oder schwacher

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

119

Interessenwirksamkeit, aktiver oder eher passiver Arbeit lassen sich in der einschlägigen Literatur die Typen ignorierter Betriebsrat, isolierter Betriebsrat, Betriebsrat als Organ der Geschäftsleitung, respektierter zwiespältiger Betriebsrat, respektierter standfester Betriebsrat, Betriebsrat als kooperative Gegenmacht, klassenkämpferischer Betriebsrat oder Betriebsrat als Co-Manager finden (Bosch et al. 1999; Ellguth und Ahlers 2003; Kotthoff 1981, 1994; Müller-Jentsch et al. 1998; Niedenhoff 1999; Schäfer 2005; Trinczek 1989, 2010). Die meisten dieser Studien haben nur eine begrenzte Aussagereichweite und können nicht für ganz Deutschland verallgemeinert werden. Generell lässt sich aber sagen, „dass die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland ein fester und akzeptierter Bestandteil der betrieblichen Wirklichkeit ist“ (Hauser-Ditz et al. 2008, S. 280; vgl. auch Kommission Mitbestimmung 1998). In der betrieblichen Wirklichkeit werden die durch das Betriebsverfassungsgesetz eingeräumten Möglichkeiten sehr unterschiedlich genutzt, sie werden teilweise nicht voll ausgeschöpft und teilweise auch weiterentwickelt. In der Regel herrscht ein pragmatischer Umgang zwischen Betriebsleitung und BR vor. Partizipative Elemente waren in der BR-Tätigkeit selbst (wie die Delegation bestimmter Aufgaben an dezentrale Arbeitsgruppen) lange Zeit nicht weit entwickelt. Generell lassen sich zumindest sieben Funktionen des Systems der Mitbestimmung in Deutschland identifizieren. Zunächst eröffnet die Mitbestimmung eine demokratische Beteiligung der Beschäftigten und ihrer gewählten Vertretungen in der Wirtschaft. Der Anspruch auf demokratische Teilhabe in der Gesellschaft bleibt unvollständig, solange diese sich nicht auch auf den Bereich des gesellschaftlichen Lebens erstreckt, in dem die meisten Menschen den Großteil ihres wachen Erwachsenenlebens verbringen. Zweitens fördert Mitbestimmung die gesellschaftliche Integration der Arbeitnehmer, weil sie deren Identifikation nicht nur mit dem Betrieb, sondern auch mit dem Gesellschaftssystem insgesamt erhöht. Systemintegration und Sozialintegration (Lockwood 1970) sind hier eng miteinander verschränkt. Drittens hat betriebliche Mitbestimmung eine ausgeprägte Konfliktregulierungs- und Konfliktkanalisierungsfunktion. Sie wirkt gleichsam wie ein Frühwarnsystem und kann Interessenkonflikte in einem frühen Stadium erkennen und bearbeiten. Die weiter oben erwähnten dauerhaft vergleichsweise niedrigen Raten von wegen Arbeitskonflikten ausgefallenen Arbeitstagen in Deutschland lassen sich nicht nur durch gewerkschaftliche Politiken, sondern auch durch das System der Betriebsverfassung erklären. Viertens hat Mitbestimmung eine Stabilisierungsfunktion für betriebliche Abläufe, indem arbeits-, aber auch produktions- und qualifikationsbezogene Aspekte des Betriebsgeschehens integral betrachtet werden. Statt z. B. starker Schwankungen bei der Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen (externe Flexibilisierung)

120

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

führt das ­System betrieblicher Interessenregulierung eher zu einer Verstetigung von Beschäftigung und interner Flexibilisierung (etwa über interne Mobilität oder Arbeitszeitkonten). Fünftens kann Mitbestimmung eine Innovationsfunktion für die Organisations- und Unternehmensentwicklung erfüllen. BR sind strukturell an dauerhaften und berechenbaren Erwerbsverhältnissen für ihre Wählerschaft interessiert. Gerade in großen Unternehmen wechseln Manager häufig Funktionen, Positionen, Betriebe und Unternehmen. Es sind dann nicht selten die BR, von denen fundierte, auf langfristigen Erfahrungen und Kenntnissen basierende Innovation und sogar Investitionen angestoßen werden (Baum-Ceisig et al. 2014). Sechsten hat Mitbestimmung eine Funktion für die konkrete betriebliche Motivation und Identifikation der Beschäftigten in ihrem Arbeitshandeln. Indem durch Mitbestimmung eine Anerkennung als ‚Wirtschaftsbürger‘ signalisiert wird, sind gute Voraussetzungen für ein stärkeres Commitment der Beschäftigten gegeben. Schließlich bietet Mitbestimmung auch – jenseits der Vertretung durch gewerkschaftliche Großorganisationen – eine betrieblich jeweils angepasste Form der effizienten Interessenvertretung der Beschäftigten. Diese Interessenagglomerationsfunktion ist bedeutsam nicht nur innerhalb des Betriebes und des Unternehmens, sie strahlt auch – wie in der nächsten Sektion zu zeigen sein wird – in die gewerkschaftliche Politikdefinition hinein. Von zwei Säulen zu kommunizierenden Röhren In den beiden vorhergehenden Sektionen wurden die Systeme der autonomen Tarifverhandlungen und der Betriebsverfassung und Mitbestimmung vorgestellt. Da in vielen anderen Ländern kein vergleichbares System von Mitbestimmung existiert, spricht man im Falle Deutschlands von einem dualen System der Erwerbsregulierung im Gegensatz zu den monistischen Systemen, in denen in der Regel nur gewerkschaftliche Vertretungen auf der betrieblichen oder überbetrieblichen Ebene agieren. Tatsächlich stellt sich in vielen Ländern ähnlich wie in Deutschland die reale Situation komplexer dar, als es die Begriffe monistisches und duales System vermuten lassen.32 Statt als duales System ließe sich das Regime der Erwerbsregulierung in Deutschland eigentlich besser als Netzwerk kommunizierender Röhren charakterisieren. Denn erstens beschränken sich die für Erwerbsregulierung relevanten Akteure, Gegenstände, Arenen, Konfliktformen etc. nicht auf die beiden skizzierten ‚Säulen‘ und zweitens sind die beiden ‚Säulen‘ viel enger miteinander verschränkt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.33 Diese beiden Gedanken

32Dies

zeigt sich schon bei einem kurzen Blick auf die Länder der EU, vgl. http://www. workerparticipation.eu/National-Industrial-Relations. 33Vgl. zu letzterem Aspekt Ellguth und Trinzcek (2016, S. 181).

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

121

werden im Folgenden ausgeführt, um anschließend nach Stabilität und Wandel der Erwerbsregulierung in Deutschland zu fragen. Für das Verständnis des deutschen Systems der Erwerbsregulierung sind – neben Tarifautonomie und Betriebsverfassung – zumindest vier weitere Elemente unverzichtbar. Da ist zunächst die Tatsache, dass Mitbestimmung sich in Deutschland nicht auf die betriebliche Partizipation durch Betriebsräte beschränkt, sondern auch als Unternehmens-Mitbestimmung verankert ist. Seit der Weimarer Republik war die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung der Beschäftigten an den strategischen Entscheidungen auf Unternehmensebene (oder als Wirtschaftsräte auf der kommunalen bzw. regionalen Ebene) virulent. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde angesichts der engen und freiwilligen Kollaboration fast aller großen deutschen Unternehmen mit dem NS-Regime die Verstaatlichung zumindest von Schlüsselindustrien gefordert. Im Jahre 1951 wurde dann das „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie“ (Montan-Mitbestimmungsgesetz) verabschiedet. In der Montan-­ Mitbestimmung wurde eine volle paritätische Besetzung des Aufsichtsrates von Unternehmen (Aktiengesellschaften und GmbH) der Montanindustrie festgelegt. Gleichzeitig wird geregelt, dass der für Personal- und Sozialfraggen zuständige Arbeitsdirektor nicht gegen die Mehrheit der Arbeitnehmervertreter bestimmt werden kann.34 Seit den 1950er Jahren ist die Bedeutung der Wirtschaftssektoren der Montanindustrie hinsichtlich Produktion und Beschäftigung stark zurückgegangen. Gleichwohl ging der Einfluss der Montan-Mitbestimmung auch über diese Branchen hinaus. Dies betrifft vor allem die gesetzlich 1976 eingeführte Unternehmensmitbestimmung. Diese regelt die Partizipation der Arbeitnehmervertreter in Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Arbeitnehmern. Für Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 und bis 2000 Arbeitnehmern gilt das Drittelbeteiligungsgesetz von 2004.35 In beiden Fällen ist keine Parität zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat gegeben, da auch nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 ein Vertreter der Leitenden Angestellten

34Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_über_die_Mitbestimmung_der_Arbeitnehmer_in_ den_Aufsichtsräten_und_Vorständen_der_Unternehmen_des_Bergbaus_und_der_Eisen_und_ Stahl_erzeugenden_Industrie; https://www.gesetze-im-internet.de/montanmitbestg/; https:// www.betriebsrat.de/portal/betriebsratslexikon/M/montan-mitbestimmung.html; zur Personalarbeit in montan mitbestimmten Unternehmen vgl. Otto (2014). 35Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Unternehmensmitbestimmung; https://de.wikipedia. org/wiki/Drittelbeteiligungsgesetz.

122

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

auf der Arbeitnehmerbank sitzt und der Aufsichtsratsvorsitzende, der von der Kapitalseite gestellt wird, ein Doppelstimmrecht hat. Für die Besetzung der Arbeitnehmerseite sind sowohl unternehmensinterne Vertreter, die in der Regel vom Betriebsrat gestellt werden, als auch Gewerkschaftsvertreter vorgesehen. Dadurch können sowohl der Betriebsrat als auch die Gewerkschaft Einblick in und Einfluss auf die langfristige Unternehmensstrategie nehmen. Die Unternehmensmitbestimmung wurde in den 2000er Jahren von Arbeitgeberseite und konservativen bzw. liberalen Parteien in Deutschland stark infrage gestellt (BDI und BDA 2004; Höpner 2004; Kommission Mitbestimmung 1998; Pries 2006). Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/2008 wurden ihre Vorteile wieder stärker beachtet. Wie schon die wenigen Hinweise auf die Unternehmensmitbestimmung zeigen, ist sie eng sowohl mit den Betriebsräten als auch mit den Gewerkschaften verwoben: Gewerkschaften sind in Deutschland wesentlich mehr als nur ‚Tarifverhandlungsmaschinen‘, ihre Bedeutung beschränkt sich keineswegs auf die Säule der Tarifautonomie. Über die Mitbestimmung üben sie auf verschiedene Weise auch einen gestalterischen Einfluss auf Wirtschaft und Unternehmen aus. Neben der Unternehmensmitbestimmung ist ein zweites wichtiges Element zum Verständnis der Erwerbsregulierung in Deutschland die duale Struktur der Unternehmensverfassung selbst. In vielen Ländern, z. B. den USA oder Großbritannien gibt es ein Board of Directors als das einheitliche Leitungsgremium eines Unternehmens. In diesem monistischen System der Unternehmensverfassung sind die meisten Aufgaben, die im dualen deutschen System zwischen Vorstand und Aufsichtsrat aufgeteilt sind, zusammengeführt.36 Die Unternehmensmitbestimmung hat in Deutschland ja nur ihre spezifische Ausgestaltung gefunden, insofern die Unternehmensverfassung selbst die Zweiteilung zwischen Vorständen als höchsten operativen Exekutivorganen von Unternehmen und Aufsichtsräten als deren Kontrollorganen kennt. Die duale Unternehmensverfassung schafft eine weitgehend andere Akteurskonstellation zwischen Shareholdern und Stakeholdern, als dies im vor allem angelsächsisch monistischen System der Fall ist. Ein drittes Element des komplexen Systems kommunizierender Röhren ist die unabhängige Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Alle auf die individualrechtlichen Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsfragen bezogenen Streitigkeiten werden in Deutschland nicht durch die normalen Zivilgerichte, sondern durch die örtlichen, Landes- und das Bundesarbeitsgericht bearbeitet.37 Auf der

36Vgl. 37Vgl.

https://de.wikipedia.org/wiki/Board_of_Directors. https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsgerichtsbarkeit_(Deutschland).

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

123

örtlichen Ebene sind in die Spruchkörper der Arbeitsgerichte neben dem (vorsitzenden) Berufsrichter immer auch jeweils ehrenamtliche Richter aus der Gruppe der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber einbezogen. Hierdurch sind eine große fachliche und lebensweltliche Nähe der Entscheidungen zum Arbeitsleben sowie eine Stärkung des korporatistischen Gesamtarrangements zwischen Staat, Kapital und Arbeit sowie einer sozialpartnerschaftlichen Ideologie gegeben. Ein viertes und in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzendes Element der Erwerbsregulierung in Deutschland sind die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich als Unterstützungs- oder Beobachtungsgruppe oder als professionelle Beratungseinrichtungen mit Aspekten der Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation befassen. Auf eine lange historische Tradition kann hier zunächst die aus der katholischen Soziallehre (Marx 2008) stammende kirchliche Betriebsseelsorge zurückblicken.38 In den lokalen lebensweltlichen Bezügen der Menschen müssen sich Arbeitgeber, Betriebsräte, Gewerkschaften und andere direkte Akteure der Erwerbsregulierung in ihrem Handeln legitimieren. Bei massiveren Arbeitskonflikten oder schwerwiegenden Verstößen gegen Grundsätze menschenwürdiger Arbeit werden kirchlich-religiös motivierte Gruppen in vielen Regionen Deutschlands aktiv. Dies gilt auch für neuere NGO wie z. B. ATTAC, Greenpeace, Anonymous oder Global Compact, die in Kampagnen oder zu bestimmten Themen mit Gewerkschaften oder Arbeitgebern und ihren Vereinigungen kooperieren. Mindestens ebenso wichtig ist das dichte Netz von Beratungs- und Qualifizierungseinrichtungen, die für Betriebsräte, Gewerkschaften, Unternehmen und Arbeitgeberverbände Dienstleistungen anbieten. Während in vielen Ländern der Welt die Arbeitgeberseite über ausdifferenzierte Serviceangebote verfügt, die Arbeitnehmerseite aber auf praktisch keine unabhängige Expertise zurückgreifen kann, haben z. B. die laut Betriebsverfassungsgesetz durch die Arbeitgeberseite zu bezahlenden Qualifizierungskurse für Betriebsräte eine dauerhafte und differenzierte zahlungskräftige Nachfrage entstehen lassen. Der Deutsche Betriebsrätetag hat sich inzwischen zu einer festen Institution entwickelt.39 Zusammengefasst zeigt sich: das deutsche Regime der Erwerbsregulierung ist weitaus komplexer als es das Stichwort der zwei Säulen von Tarifautonomie

38Vgl. http://www.kommende-dortmund.de/kommende_dortmund/5-Fachbereiche.html; http:// betriebsseelsorge.drs.de/index.php?id=25568; für die evangelische Kirche vgl. http://www. kda-ekd.de/. 39Vgl. http://www.betriebsraetetag.de/; eine Web-Suche nach „betriebsräte beratung“ fördert einen Teil dieser dichten Beratungsstruktur für BR zutage.

124

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

und Betriebsverfassung erwarten lässt. Die einzelnen Bereiche sind auch nicht voneinander isolierte Arenen, sondern Teil eines komplexen Systems kommunizierender Röhren von Akteuren, Themen, Interaktionsverflechtungen und wechselseitigen Legitimationserwartungen. Im Kap.  3 wurden theoretische Konzepte skizziert, mit deren Hilfe die Komplexität dieser Netzwerktextur analysiert werden kann. Gerade der in Abschn. 3.4 vorgestellte Neo-Institutionalismus ist geeignet, mit der Perspektive auf die wechselseitigen Beobachtungen und Legitimitätsstrategien in organisationalen Feldern eine ‚säulenfixierte‘ Perspektive zu überwinden. Eine in den folgenden Absätzen zu behandelnde Frage ist nun, wie das Regime der Erwerbsregulierung in Deutschland grundlegende Herausforderungen und Veränderungstendenzen der jüngeren Zeit verarbeitet hat. Dies erlaubt Rückschlüsse auf seine Stabilität und Wandlungsfähigkeit. Die Globalisierung und Europäisierung der Wirtschaft Deutschlands ist ein längerfristiger Trend. Im Zuge der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Internationalisierung geraten nicht nur Unternehmen in einen verschärften internationalen Wettbewerb. Kommunen als Standorte und ganze Länder als Institutionensysteme geraten unter Druck. In diesem Regimewettbewerb (Streeck 1997; Marginson und Arrowsmith 2006) geriet auch die betriebliche Mitbestimmung in neue Legitimationszwänge. Auch für die Beschäftigten, die Betriebsräte und die Gewerkschaften stellt sich Frage, welche Wirkungsmacht das tradierte System betrieblicher Mitbestimmung unter diesen Bedingungen noch haben kann. Die vorliegenden Forschungen zeigen, dass die Globalisierung das von Konfliktpartnerschaft und kooperativer Konfliktbewältigung geprägte deutsche Regime der Erwerbsregulierung nicht grundsätzlich infrage gestellt hat (Müller-Jentsch 2004; Pries 2002). Die Nähe zu Märkten und wichtigen Kunden sowie Kosteneinsparungen spielen eine entscheidendere Rolle bei Investitionsentscheidungen, Mitbestimmung kann höchstens ein sehr nachgelagerter Aspekt für Verlagerungsentscheidungen sein (Vitols 2004). Eine zweite wichtige Veränderungstendenz ist die Verbetrieblichung und Dezentralisierung der Erwerbsregulierung. Seit den 1980er Jahren hat sich eine nachhaltige Öffnung und Flexibilisierung der Tarifverhandlungen ‚nach unten‘ in Richtung der Betriebe vollzogen. In Bezug auf die Flächentarifverträge als dem bisher wichtigsten verbandlichen Handlungs- und Gestaltungsinstrument wurden vor allem im Bereich der Arbeitszeit durch Öffnungsklauseln immer mehr Gestaltungsmöglichkeiten auf die Ebene betrieblicher Aushandlungen von Betriebsvereinbarungen verlagert. Seit den 1990er Jahren hat sich dann das Themenspektrum betrieblicher Aushandlungen nochmals erweitert, etwa um die Fragen von Standortsicherungsabkommen und von Qualifizierungsmaßnahmen. Hierdurch hat sich das thematische Aufgabenfeld der Betriebsratsarbeit

5.1  Erwerbsregulierung in Deutschland

125

e­rheblich ausgeweitet. Standen früher soziale und personelle Angelegenheiten und in größeren Unternehmen die Gestaltung technischer Veränderungen im Mittelpunkt von BR-Arbeit, so muss ein BR im 21. Jahrhundert auch in mittleren Betrieben eine enorme Sachkenntnis beispielsweise in Bezug auf Arbeitszeitformen und Arbeitszeitkontensysteme oder hinsichtlich von Qualifizierungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen aufweisen. Aufgrund der Ausdifferenzierung von Beschäftigtengruppen wird das Spannungsfeld der unterschiedlichen Interessen, die dabei zu berücksichtigen sind, vielfältiger. Nicht selten müssen auch im Rahmen von wirtschaftlichen Krisensituationen betriebliche Abkommen zur Standort- und Beschäftigungssicherung ausgehandelt werden. In verschiedenen Tarifverträgen ist auch die Nutzung von betrieblichen Öffnungsklauseln an das Vorhandensein von und die Aushandlung mit einem BR gebunden. Ein dritter Trend ist die Entwicklung neuer Produktionssysteme und Personal-strategien. In den letzten Jahrzehnten sind in sehr vielen Branchen Einzelarbeitsplätze der Organisation in Arbeitsgruppen und Fertigungsteams gewichen. Diese Gruppenarbeit bringt innerhalb der Betriebe eine Dezentralisierung von Regulierungsgegenständen und -mechanismen mit sich. Während früher Pausenregelungen oder Abwesenheits- und Ferienregelungen zentral durch den Betriebsrat mit der Geschäftsleitung verhandelt wurden, existieren heute in vielen Betrieben bestimmte Rahmensetzungen, innerhalb derer dann aber viele Entscheidungen auf der Abteilungs- oder gar der Gruppenebene getroffen werden. In die Aufgaben der Arbeitsgruppen wurden unter Stichworten wie Lean Production auch Funktionen integriert, die früher in spezialisierten Abteilungen angesiedelt waren. Dies betrifft etwa in der industriellen Fertigung die Qualitätskontrolle, die einfache Maschineninstandhaltung und Teile der Arbeitsplanung. Vielfach sollen sich die Arbeitsgruppen auch stärker direkt untereinander koordinieren und nicht auf zentrale Anweisungen von oben warten. All diese Veränderungen der betrieblichen Aufbau- und Ablaufstrukturen stellen die betriebliche Interessenregulierung vor neue Aufgaben. Nicht mehr zentralistische und einheitliche materiale Regelungen für alle sind gefragt, sondern auch im Bereich der Beschäftigteninteressen halten Elemente einer ‚rekursiven Selbststeuerung‘ Einzug (Minssen 1999). BR standen dem oft ähnlich misstrauisch gegenüber wie neuen Formen der Personalpolitik (z. B. Motivations- und Commitment-Strategien); sie bedeuten in jedem Fall neue Herausforderungen an die Sachkompetenz von BR. Eine vierte für das Regime der Erwerbsregulierung relevante Wandlungstendenz ist der Übergang zur Wissensgesellschaft und der Wertewandel. Mit der Informations- und Kommunikationstechnologie, der Softwareindustrie, der expandierenden Forschung und Entwicklung in Unternehmen und Hochschulen sowie mit der sich ausweitenden Produktion von Inhalten für die alte und neue Medienindustrie entstehen zunehmend

126

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Arbeitsfelder, in denen nicht die Umwandlung und Formung materieller Stoffe im Mittelpunkt stehen, sondern die Verarbeitung und Generierung von Wissen. Traditionell schon waren die Bereiche von hochqualifizierter und Wissensarbeit weitaus weniger als beispielsweise die industrielle Fertigung von kollektiver Interessenregulierung geprägt. Dies zeigt sich etwa an den Anteilen von Betriebsräten und Gewerkschaftsmitgliedern in diesen Sektoren (Abel et al. 2005). Es ist kaum zu erwarten, dass sich die von hochqualifizierter Wissensarbeit bestimmten Betriebe in Bezug auf ihre Interessenvertretungsmuster tendenziell den Strukturen der ‚alten Wirtschaft‘ angleichen werden (Boes und Baukrowitz 2000). Qualitative Fallstudien deuten vielmehr darauf hin, dass hier einerseits die klassisch-kollektive Form von Betriebsräten deutlich andere Inhalte und Arbeitsweisen aufweist und dass andererseits alternative kollektive und individuelle Formen der betrieblichen Beschäftigtenvertretung eine verhältnismäßig größere Rolle spielen (Hauser-Ditz et al. 2008). Ein fünfter Trend schließlich, der das dargestellte Regime der Erwerbsregulierung infrage stellen könnte, ist die Expansion eines Niedriglohnsektors und von atypischer Beschäftigung. Seit den 1990er Jahren wachsen Tätigkeitsbereiche ‚einfacher‘, niedrig entlohnter Dienstleistungen, wie sie sich beispielsweise im Reinigungsgewerbe, bei den Wachdiensten, in Call Centern, in den Pflegeberufen oder auch im expandierenden Markt der Postdienstleister finden. ‚Atypische‘, vom Normalarbeitsverhältnis abweichende Erwerbsbedingungen sind nicht automatisch mit prekärer Beschäftigung gleichzusetzen (Keller und Seifert 2006, S. 238). Das klassische System der Erwerbsregulierung in Deutschland, vor allem die Akteure BR und Gewerkschaften, stehen durch diese Entwicklungen aber vor neuen Herausforderungen. Zusammengefasst zeigt sich: Das Regime der Erwerbsregulierung, wie es sich in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert entwickelte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts institutionell festigte, hat mit den Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft der letzten Jahrzehnte mehr oder weniger Schritt gehalten. Die quantitative Repräsentationsbreite von BR und Gewerkschaften ist seit den 1990er Jahren geschrumpft. Gleichwohl wurde das duale System von Tarifautonomie und Betriebsverfassung nicht grundlegend ausgehöhlt. Wie die Gesetzgebung zum Mindestlohn oder Tarifverträge zu Zeitarbeit und Werkvertragsarbeitnehmern zeigen, wurden auf politischer Ebene – und nach jahrzehntelangem massiven Druck von Arbeitnehmerseite – auch bestimmte neue institutionelle Regulierungsformen entwickelt. Es ist eine weitgehend offene Frage, wie sich das erweiterte System kommunizierender Röhren der Erwerbsregulierung in Deutschland weiterentwickelt. Vieles spricht dafür, dass es auch in Zukunft durch Anpassungen und Innovationen weiterhin eine tragende Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft spielen wird.

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

127

5.2 Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China Ähnlich wie die ex-sozialistischen Länder Osteuropas befindet sich auch die Volksrepublik China seit den 1990er Jahren in einem tief greifenden und rasanten Wandlungsprozess. Das Regime der Erwerbsregulierung Chinas lässt sich kaum verstehen ohne Rückgriff auf die traditionellen Strukturen des planwirtschaftlichen Systems, wie es bis in die 1980er Jahre hinein existierte. Während dieser Periode der geschlossenen Planwirtschaft gab es kein ausdifferenziertes System der Regulierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen. Da alle größeren Wirtschaftsbetriebe dem Staat gehörten, gab es – jenseits kleiner, eher subsistenzwirtschaftlicher oder kollektiver Kleinbetriebe – kein selbstständiges Unternehmertum und keinerlei Formen von Arbeitgeberorganisationen. Entsprechend der allgemeinen kommunistischen Ideologie, die sich als korporatistisch im hier verstandenen Sinne der Dimension ‚gemeinsame politische Ideologie‘ bezeichnen lässt, wurden die Arbeiter in den Betrieben nicht als ‚abhängig Beschäftigte‘, sondern in der Theorie vielmehr als die eigentlichen Souveräne der Wirtschaft angesehen. Sie wurden als ‚Meister‘ des sozialistischen Produktionsprozesses bezeichnet. Die Kommunistische Partei Chinas verstand sich per Definitionem als die genuine Interessenvertretung der Arbeiterklasse, eine nationale Gewerkschaftskonföderation war ihr organisch eingegliedert. Die Festsetzung von Erwerbsbedingungen erfolgte durch den Staat und seine entsprechenden Wirtschafts- und Personalplanungsstellen. Da sich die chinesische Wirtschaft bis in die 1980er Jahre gegenüber der Weltwirtschaft abgrenzte, erlebte das Land eine lange Phase autarken binnenwirtschaftlichen Wachstums. Betriebsschließungen oder Personalentlassungen in größerem Umfang fanden nicht statt. Die Rolle der Gewerkschaften bestand weitgehend darin, als ‚Transmissionsriemen‘ für die Mobilisierung und soziale Integration der Beschäftigten zu sorgen und das wirtschaftliche Wachstum und die Entwicklung des Landes zu unterstützen. Dementsprechend beteiligten sich die Gewerkschaften an der Mobilisierung der Arbeiter für die Partei und ihre Aktivitäten, propagierten die wirtschaftlichen Unternehmensziele, organisierten Sport- und Freizeitveranstaltungen, beteiligten sich an Kampagnen für Produkte und Produktionsverbesserungen und engagierten sich in gewissem Umfang an Maßnahmen der Bildung und Qualifizierung der Beschäftigten. Wenn in Betrieben individuelle oder Gruppenkonflikte auftraten, so wurden diese in der Regel durch die Intervention der betrieblichen KP-Verantwortlichen gelöst.

128

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Nationale Wirtschaftsplanung wurde über Branchen, Provinzen und D ­ istrikte konkretisiert und betrieblich umgesetzt. Entsprechend waren die dominanten Regulierungsarenen staatliche Planvorgaben und betrieblich zwischen Unternehmens- und Parteiführung ausgehandelte Produktions- und Arbeitsvorgaben. Die in diesem Planungssystem vor allem berücksichtigten Regulierungsgegenstände von Erwerbsarbeit waren Lohnhöhen, Arbeits- und Überstundenzeiten, staatliche Versicherungen und Sozialfürsorge (Shen 2006, S. 362). Zweifelsohne waren auch dieses staatssozialistische System und die eher zwangskorporatistische Struktur der Erwerbsregulierung nicht ohne Spannungen und vielerlei latente Konflikte. Solche Widersprüche äußerten sich vor allem in den Linienkämpfen innerhalb der Partei auf allen Ebenen, etwa der ‚Gegen Rechts-­ Kampagne‘ im Jahre 1957 (Xiaoyang und Chan 2005, S. 8). Umbruch des chinesischen Wirtschafts- und Erwerbsmodells Dieses traditionelle Regime der Erwerbsregulierung änderte sich seit den 1980er Jahren, vor allem dann aber in den 1990er Jahren. Das wohlfahrtsstaatliche System der ‚eisernen Reisschale‘, welches jedem chinesischen Beschäftigten ein Mindestauskommen garantierte, wurde in den 1980er Jahren zunehmend aufgeweicht (Ding et al. 2002). Kontrollrechte über die Wirtschaft wurden zunehmend von den staatlichen Behörden auf die Unternehmen selbst übertragen, was zu einer Stärkung des betrieblichen Managements führte, ohne dass gleichzeitig die Beschäftigtenseite einen ähnlichen Kompetenzzuwachs erfahren hätte. Zudem waren die größtenteils aus ländlichen Verhältnissen rekrutierten und oft unzureichend ausgebildeten Arbeitskräfte in eine betriebliche Arbeitskultur sozialisiert worden, in der sie als (unmündige) Glieder eines großen ‚Volkskörpers‘ und nicht als unabhängige und souveräne Vertragspartner betrachtet wurden. Wichtige Reformen im Hinblick auf die Erwerbsregulierung stellen das Arbeitsgesetz von 1994 und das Gewerkschaftsgesetz von 2001 dar. Beide Gesetze sollten den umfassenden Prozess der Privatisierung der Wirtschaft und der Öffnung für ausländisches Kapital flankieren. In den 20 Jahren von 1983 bis 2003 ging der Anteil staatlicher Betriebe an der Industrieproduktion insgesamt von 73 auf 11 % zurück (vgl. Tab. 5.4).40

40Generell

muss die Validität und Reliabilität offizieller chinesischer statistischer Daten durchaus kritisch eingeschätzt werden; die in diesem Abschnitt gemachten Angaben müssen also mit aller Vorsicht als Annäherungen behandelt werden; Steinfeld (1998, S. 16 ff.) betont z. B., dass vor allem die kleineren städtischen Betriebe in staatlichem Besitz hinsichtlich Produktionsvolumen und Beschäftigung an Bedeutung verloren, die großen städtischen Staatsbetriebe aber z. B. 1995 noch fast zwei Drittel der urbanen Beschäftigung stellten; vgl. auch Szamosszegi und Cole (2011, S. 13).

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China Tab. 5.4  Anteil der Industrieproduktion staatlicher Betriebe (VR China 1983–2003)

129

Jahr

Anteil

Jahr

Anteil

Jahr

Anteil

1983

73,4

1990

54,6

1997

40,1

1984

69,1

1991

56,2

1998

35,9

1985

64,9

1992

51,5

1999

28,6

1986

62,3

1993

46,9

2000

22,7

1987

59,7

1994

41,8

2001

18,1

1988

56,8

1995

44,7

2002

14,6

1989

56,1

1996

42,1

2003

11,1

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Shen (2006, S. 352)

Da gleichzeitig die Wirtschaft insgesamt enorm stark wuchs, reduzierte sich die Anzahl der Unternehmen in Staatsbesitz zwischen 1991 und 2001 ‚nur‘ um knapp die Hälfte, während die Anzahl der Unternehmen in privatem Besitz und in ausländischem Besitz sowie die Zahl der Aktiengesellschaften extrem stark wuchsen (vgl. Tab. 5.5). Das Statistische Jahrbuch 2015 weist für 2014 – allerdings bezogen nur auf die urbanen Wirtschaftseinheiten und die formal-­ registrierten Arbeitnehmer – 63,12 Mio. (oder 34,5 %) Beschäftigte in staatlichen Unternehmen, 5,37 Mio. (2,9 %) in städtischen Betrieben in Kollektivbesitz und 114,29 Mio. (62,5 %) in Betrieben mit anderem Eigentümertypus aus.41 Das Arbeitsgesetz von 1994 fasste Bestimmungen zu den Arbeits-, Beschäftigungsund Partizipationsbedingungen als materiale Normen und auch einige prozedurale Normen zusammen. So regelte es etwa die Normalität des 8-Stunden-Tages bei einer normalen wöchentlichen Arbeitszeit von 44 h. Es verbot auch die Anstellung von Beschäftigten unter 16 Jahren. In zwei wichtigen Punkten, der Anwendung von Zwangsarbeit und der Koalitionsfreiheit, verstieß das Arbeitsgesetz eindeutig gegen die von der ILO gesetzten Mindeststandards (Athreya 2004, S. 22). Das Arbeitsgesetz legte auch die prozeduralen Regeln für die Aushandlung betrieblicher Vereinbarungen zwischen dem jeweiligen Gewerkschaftskomitee und der Betriebsleitung bzw. zwischen einer Beschäftigtenvertretung und dem Management fest (Xiaoyang und Chan 2005, Fußnote 33).

41Vgl. http://www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2015/indexeh.htm; Tab. 4–4 „Number of Employed Persons in Urban Units at Year-end by Status of Registration and Sector in Details (2014)“.

130

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Tab. 5.5   Beschäftigte nach Unternehmenstyp in der VR China (in Millionen) Eigentümertypus

1991

1996

2001 (absolut und Anteil)

Unternehmen in Staatsbesitz

403,5

312,53

214,2

41,1 %

Unternehmen in Kollektivbesitz

101,4

76,9

40,6

7,8 %

Unternehmen in Privatbesitz

3,3

47,1

161,1

31,0 %

Aktiengesellschaften

N/A

N/A

44,2

8,5 %

Unternehmen mit Auslandsanteil

4,8

N/A

60,2

11,6 %

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Shen (2006, S. 357)

Die Umwälzungen des chinesischen Wirtschaftssystems haben zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen geführt: Etwa 70 % der ländlichen und 15 % der städtischen abhängig Beschäftigten haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine formalisierten Arbeitsverträge. Sie können nicht einmal die öffentlich garantierten Mindeststandards für sich reklamieren. In der Bauindustrie haben ca. 40 % keinen Arbeitsvertrag. Etwa 60 % aller Arbeitsverträge haben eine befristete Dauer von maximal drei Jahren. Einige Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einem neuen ‚desorganisierten Despotismus‘ in China (Lee 2002; Lüthje 2007). Danach habe die chinesische Regierung zwar verschiedene Initiativen ergriffen, um ein Mindestmaß menschlicher Erwerbsbedingungen sicherzustellen. Diese eingeleiteten Reformen wie z. B. das Arbeitsgesetz von 1994 und das Gewerkschaftsgesetz von 2001 seien aber nicht ausreichend, um angemessene Antworten auf die Liberalisierungstendenzen zu geben, durch die sich seit den 1990er ­Jahren die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sehr schnell geändert hätten. Eine deutliche Erhöhung der Reallöhne seit 2003 wollen Zhang et al. 2011 auf der Grundlage eigener Erhebungen identifiziert haben, die sie vor allem auf Arbeitskräfteknappheit zurückführen. Verschiedene Autoren haben diese zunehmend deutlicher werdenden Grenzen des traditionellen Erwerbsregulierungssystems herausgearbeitet (Chan 2010). So hat Cheng (2004) die Verachtfachung der Anzahl kollektiver Arbeitskonflikte zwischen 1994 und 2002 aufgezeigt. Danach gab es im Hinblick auf das Verhältnis von individuellen und kollektiven Arbeitskonflikten zwar jahresbezogen Schwankungen; das Gesamtniveau von zwei Dritteln der in kollektive Arbeitskonflikte involvierten Beschäftigten im Verhältnis zu einem Drittel individueller Arbeitskonflikte blieb aber weitgehend konstant (vgl. Tab. 5.6). Für die jüngere Zeit hat sich das Ausmaß von Arbeitskonflikten offensichtlich noch wesentlich erhöht. Die Anzahl ‚inoffizieller Massenereignisse‘, wie Demonstrationen,

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

131

Tab. 5.6   Arbeitskonflikte und involvierte Beschäftigte (VR China 1994–2009) Jahr

Anzahl Beschäftigte in allen ­Arbeitskonflikten

Kollektive ­Arbeitskonflikte

Anzahl Beschäftigte in kollektiven ­Arbeitskonflikten

Anteil Beschäftigte kollektiv zu allen Arbeitskonflikten

1995

122 512

2588

77 340

63.13

1996

189 120

3150

92 203

48.75

1997

221 115

4109

132 647

59.99

1998

358 531

6767

251 268

70.08

1999

473 957

9043

319 241

67.36

2000

422 617

8257

259 445

61.39

2001

556 230

9847

286 680

51.54

2002

608 396

11 024

374 956

61.63

2003

801 042

10 823

514 573

64.24

2004

764 981

19 241

477 992

62.48

2005

744 195

19 387

409 819

55.07

350 000

51.47

2006

680 000

14 000

2007

653 472

12 784

2008

1 214 328

21 888

2009

1 016 922

13 779

Quelle: Chan (2014)

gewaltsame Proteste oder Konflikte am Arbeitsplatz in der amtlichen Regierungssprache genannt werden, ist dramatisch gestiegen: Während im Jahr 1996 noch etwa 10 000 solcher Ereignisse verzeichnet wurden, hat sich die Zahl bis zum Jahr 2008 auf 127 000 Vorfälle knapp verdreizehnfacht. Alleine von 2007 auf 2008 verdoppelte sich die Anzahl der in Arbeitskonflikten involvierten Beschäftigten (vgl. ten Brink 2013, S. 281 f.). Insgesamt sprechen von der Pütten und Göbel (2013) von vier signifikanten Streikwellen seit dem neue Jahrhundert.42 Die erste resultierte aus den zu Beginn der 2000er Jahre umfangreichen Privatisierungen von Unternehmen in

42Eine

signifikante Streikwelle gab es vorher bereits 1993 und 1994 in ausländischen Unternehmen (foreign owned enterprises FOE); vgl. Chan (2014, S. 690).

132

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Staatsbesitz (state owned enterprises SOEs), die vor allem schlechtere Arbeitsbedingungen, eine steigende Arbeitslosigkeit und fehlende Nachsorge mit sich trugen. In den Jahren 2005 und 2006 folgte eine zweite Streikwelle im chinesischen Industriesektor als eine Reihe spontaner Arbeitsniederlegungen, bei denen die Arbeiter bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne einforderten. Zwei Jahre später formierte sich die dritte Streikwelle vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise im Kontext eines deregulierten Arbeitsmarktes. Im Jahr 2010 erreichte dann eine vierte Streikwelle ihren Höhepunkt. Zu den wichtigen Arbeitsniederlegungen zählte in diesem Zusammenhang der Honda-Streik 2010, bei dem rund 1800 Arbeiter für 17 Tage die Arbeit niederlegten, um gegen niedrige Löhne, miserable Unterkünfte und für eine demokratische Reform der Gewerkschaften zu protestieren. Dieser Streik, der als „collective bargaining by riot“ einen Wendepunkt in der chinesischen Streikkultur hervorbrachte, führte zumindest dazu, dass das Unternehmensmanagement veranlasst wurde, in ernsthafte Verhandlungen mit den Arbeitern einzusteigen (Chan und Hui 2014, S. 229). Besondere Aufregung galt in dieser Streikwelle auch den Suiziden innerhalb des Foxconn-Konzerns, der sehr viele der multinationalen Elektronik-Unternehmen wie Apple, Dell oder Hewlett Packard beliefert. 2012 organisierten sich dort etwa drei bis viertausend Arbeiter zu Protestaktionen und forderten bessere Arbeitsbedingungen. Das Bemerkenswerte dieser vierten Welle von Arbeitskonflikten ist, dass die Beschäftigten sich dafür hauptsächlich über soziale Netzwerke und Mobilfunk organisierten (von der Pütten und Göbel 2013, S. 16; Chan und Nadvi 2014, S. 695). Die Tab. 5.6 verdeutlicht das enorme Wachstum der absoluten Anzahl an Arbeitskonflikten sowie den weitgehend konstanten Anteil kollektiver Konflikte. Daraus ergibt sich insgesamt ein beachtliches Wachstum kollektiver Arbeitskonflikte und der Anzahl der darin involvierten Beschäftigten. Letztere steigerte sich von etwa 53 000 im Jahre 1994 auf 374 000 im Jahre 2002 um mehr als 700 %. Neben dieser ersten Haupttendenz des „increase in the number of collective dispute cases“ (Cheng 2004, S. 288) arbeitet Cheng (2004, S. 288 f.) noch zwei weitere grundlegende Veränderungen heraus: das Anwachsen nicht durch einfache Mediation einvernehmlich zu lösender Konflikte und die Zunahme von antagonistischen Konflikten widerstreitender Interessenorientierungen. Die Tab. 5.7 zeigt, dass immer mehr – vorwiegend individuelle – Arbeitskonflikte, die bis vor die ‚Nationalen Schlichtungskomitees für Arbeitskonflikte‘ kamen, nicht mehr durch das vereinfachte Mediatisierungsverfahren gelöst werden konnten, sondern der intervenierenden staatlichen Schlichtung bedurften.

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

133

Tab. 5.7   Arbeitskonflikte vor Nationalem Schlichtungskomitee China 1994–2001 Jahr

Zahl verForm der Verhandlung handelte Fälle Mediation

Schlichtung

Andere

Fallzahl

Anteil

Fallzahl

Anteil

Fallzahl

Anteil

1994

17 962

9362

52

3465

19

5135

29

1995

31 415

17.99

57

7269

23

6156

20

1996

46 543

24 223

52

12 789

27

9531

20

1997

70 792

32 793

46

15.06

21

22 939

32

1998

92 288

31 483

34

25 389

28

35 155

38

1999

121 289

39.55

33

34 712

29

47 027

39

2000

130 688

41 877

32

54 142

41

34 699

27

2001

150 279

42 933

29

72.25

48

35 096

23

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Cheng (2004, S. 285)

Chan und Hu (2014) sprechen in diesem Zusammenhang von einem Übergang von (formellen) Kollektivverhandlungen über basisinitiierte und ‚wilde‘ Kollektivverhandlungen zu Kollektivverhandlungen, die durch die Staatspartei kontrolliert sind. Die Wahrscheinlichkeit sei aber gering, dass daraus ‚echte‘ Kollektivverhandlungen unter Beteiligung der Beschäftigten erwüchsen. Für den betrachteten Zeitraum ab 1994 bis 2001 bzw. 2002 lässt sich also deutlich belegen, dass der Anteil von Konflikten, die (nur) in die unterste Lösungsstufe der Mediation eingebracht wurden, sehr stark rückläufig ist, dafür aber der Anteil der in die höhere Stufe der Schlichtung unter Einbezug eines unternehmensexternen Arbeitsbeamten gelangten Fälle um weit mehr als das Doppelte (von 19 % auf 48 %) zugenommen hat; die Absolutzahl der vor den Schlichtungskomitees verhandelten Fälle nahm von rund 18 000 auf über 150 000 um mehr als das Achtfache zu (vgl. Tab. 5.7). Während die Konflikthäufigkeit in der Zeit bis zu Beginn der 1990er Jahre eher verhalten anwuchs, explodierte sie geradezu in den 1990er Jahren, vor allem ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, sowohl im Hinblick auf die absolute Zahl der von Schlichtungskomitees angenommenen individuellen und kollektiven Arbeitskonflikte, als auch bezüglich der Anzahl involvierter Beschäftigter (vgl. Tab. 5.6 und Athreya 2004, S. 22). Die bereits erwähnte Zunahme von Arbeitskonflikten seit dem 21. Jahrhundert spiegelt sich auch in der Anzahl der vor den Labour Dispute Arbitration Committees (LDACs) verhandelten Fälle wider. Von 2001 bis 2014 hat sich das Volumen

134

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

sowohl der durch Mediation als auch der durch Schlichtung gelösten Arbeitskonflikte jeweils von unter 100 000 auf über 300 000 erhöht.43 Die zunehmende Häufigkeit registrierter individueller und kollektiver Arbeitskonflikte und auch das Wachstum von vor den staatlichen Arbeitsgerichten verhandelten Streitigkeiten gibt noch keine Auskunft über die wesentlichen Inhalte dieser Konflikte und über deren Ausgang. Bezüglich der Wirksamkeit der Konfliktregulierungsverfahren für die betroffenen Beschäftigten ist Skepsis angebracht. Viele Autoren stimmen darin überein, dass die Volksrepublik China den Arbeitnehmern zwar durchaus weitreichende formale Rechte einräumt, die Kontroll- und Erzwingungsmechanismen dieser Rechte aber extrem schwach ausgebildet sind. Angesichts überlasteter Arbeitsgerichte und fehlender professioneller Infrastrukturen von gewerkschaftlichen Rechtsberatern und Anwälten zieht sich der Ausgang der angenommenen Verfahren extrem lange hin und ist häufig unberechenbar. „In the absence of trained experts who can represent workers in labor disputes, workers have turned to informal advocates or have acted as their own advocates before the courts. Not surprisingly, in most cases workers have been unsuccessful in winning settlements in their favor“ (Athreya 2004, S. 23). Im Hinblick auf die am häufigsten genannten Regulierungsgegenstände werden generell Entgelte, Überstunden, Einhaltung von Mindestlöhnen, Versicherungsleistungen für Gesundheit sowie soziale Sicherungsleistungen bezeichnet (Shen 2006, S. 362). Eine Liste der Gegenstände von Arbeitsgerichtsverfahren im Jahre 2000 veranschaulicht diese Rangfolge der Themen (vgl. Abb. 5.4). Konflikte um Löhne und um Arbeitsvertragsaspekte machen mehr als die Hälfte aller untersuchten Fälle aus. Mit einem Viertel sind die Auseinandersetzungen um Sozialund Versicherungsleistungen ebenfalls von durchaus großer Bedeutung. Immerhin fast ein Zehntel der verhandelten Konfliktthemen bezieht sich auf Kompensationsleistungen für Arbeitsunfälle und für (in der Regel: nicht gewährte oder nicht honorierte) Qualifizierungsmaßnahmen. Diese Themenstruktur hat sich seitdem nicht grundlegend verändert. Die Zusammensetzung aller bei den LDACs im Jahre 2010 registrierten Arbeitskonflikte zeigt die Abb. 5.4. Der Großteil der verhandelten Konflikte bezog sich auf Entlohnung, Sozialverssicherung und (ausstehende) Zahlungen bei Vertragsbeendigung. Für 2012 waren 35 % der formal bei den LDACs angenommenen Arbeitskonflikte auf Löhne, 25 % auf Leistungen

43Vgl.

die erste Abbildung unter http://www.clb.org.hk/content/china%E2%80%99s-labourdispute-resolution-system.

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

135

Abb. 5.4   Anteil Arbeitskonflikte nach Typ 2010 (n = 600 863). (Quelle: China Labor Bulletin 2011, S. 47, zitiert nach von der Pütten et al. 2013, S. 22)

der Sozialen Sicherung, 20 % auf Arbeitsvertragsbeendigungen bzw. Kündigungen, 14 % auf Arbeitsunfälle und 6 % auf andere Fragen bezogen.44 Da für Cheng (2004) die Entwicklung der Häufigkeit von Arbeitskonflikten als Ausdruck tiefgreifender Strukturprobleme zu werten ist, schlägt er als Lösung eine ganze Reihe von Maßnahmen vor: „First, actors should be encouraged to resolve disputes of their own free will, which is the best way to settle labour disputes correctly. One disadvantage of the present system is that the parties in industrial relations do not appear to have the ability and the will to negotiate and settle their disputes. Second, we should redefine the functions of labour dispute mediation committees on the basis of union reforms. Third, we should consider the reform of the labour dispute arbitration system on the basis of mediating collective labour relations. Fourth, we should establish and perfect the labour court (employment tribunal) system“ (ebd., S. 295).

Den Gesamtzusammenhang der wirtschaftlichen Reformen in China, vor allem der Privatisierungen und der globalen Öffnung, unterstreicht auch Shen (2006, S. 352) auf der Grundlage einer Revision der vorhandenen Forschungsliteratur: „­Economic reform in China has resulted in dramatic changes in industrial relations. The old ‚workers as masters‘ concept has been replaced by a management-­ employees

44Vgl.

die Abbildung „Types of dispute accepted by LDACs 2012“ unter http://www.clb. org.hk/content/china%E2%80%99s-labour-dispute-resolution-system.

136

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

relationship. The old labour relations harmony has been replaced by tensions between employers and employees, labour disputes and increasing inequality in employment relation. […] In corporatized SOEs [Staatsbetrieben, L. P.] and POEs [Privatbetrieben, L. P.], ‚management enjoys extraordinary power over employment relations issues, without being concerned about workers’ rights‘.“ Vor dem Hintergrund dieser Spannungen und Probleme wird verständlich, dass die chinesische Regierung seit den 1990er Jahren um eine aktive Modernisierung und Anpassung des Regimes der Erwerbsregulierung bemüht war. Ein wesentlicher Meilenstein hierbei ist ein neues Gewerkschaftsgesetz, welches auch viele über die Gewerkschaften hinausweisenden Rechte für die Arbeitnehmer regelt. Im Jahre 2001 wurde dieses „Gewerkschaftsgesetz“ verabschiedet (vgl. hierzu Heuer 2005). Dies geschah vor dem Hintergrund massiv zunehmender Arbeitskonflikte und der Dysfunktionalität des traditionellen Regimes der Erwerbsregulierung. Denn die tief greifende Privatisierung und die Internationalisierung der chinesischen Wirtschaft machten ein Arbeits- und Gewerkschaftsmodell weitgehend obsolet, welches in und für die Periode einer national abgeschotteten Staatswirtschaft entwickelt worden war. Dieses Gesetz sollte auch mit den inzwischen von einer überwältigenden Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten ratifizierten UN-Mindeststandards für Arbeit vereinbar sein. Entsprechend garantiert es in Artikel 7 das Recht von Arbeitnehmern, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten; Gewerkschaften wird die Funktion zugeschrieben, die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer zu schützen. Die Arbeitnehmer sollen über Versammlungen aller Beschäftigten, über ihre Kongresse oder andere Vertretungsformen am demokratischen Management teilnehmen (Art. 8). Im Hinblick auf die betrieblichen prozeduralen Rechte bestimmt das Gewerkschaftsgesetz von 2001, dass die Gewerkschaften oder alle Arbeitnehmer über betriebsbedingte Personalkürzungen informiert werden müssen (Art. 27) und dass die jeweilige Gewerkschaft zu Kündigungen Stellung nehmen, bei Verstößen des Unternehmens gegen Gesetze bzw. Vorschriften eine Prüfung beantragen und die Arbeitnehmer bei rechtlichen Angelegenheiten unterstützen kann (Art. 30). Der Artikel 33 räumt die Möglichkeit von Betriebsvereinbarungen (zu den Themen Lohn, Arbeitszeit, Pausen, Urlaub, Arbeitssicherheit und -gesundheit, Versicherung und Wohlfahrt) ein. Verhandlungspartner des Betriebsmanagements soll hierfür die Gewerkschaft mit Unterstützung von mindestens der Hälfte aller Beschäftigten sein. Für den Fall, dass es keine Gewerkschaft im Unternehmen gibt oder diese nicht die Mehrheit der Arbeitnehmer vertritt, können Vereinbarungen mit gewählten Beschäftigtenvertretern abgeschlossen werden. Bei

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

137

betrieblicher Notwendigkeit kann nach Konsultation mit der Gewerkschaft die Arbeitszeit ausgeweitet werden, aber nicht mehr als 3 h pro Tag zusätzlich bzw. 36 Überstunden pro Woche, wobei die Aufrechterhaltung der Gesundheit der Arbeitnehmer gesichert sein muss (Art. 41). Das Gesetz räumt die Möglichkeit ein, im Falle von Streitigkeiten ein betriebliches Mediationskomitee zu gründen (Art. 80). In diesem Komitee sollen Vertreter der Beschäftigten, des Betriebsmanagements sowie der Gewerkschaften mitarbeiten, wobei einer der Gewerkschaftsvertreter den Vorsitz führen soll. Bei der Umsetzung von Entscheidungen sollen alle Parteien beteiligt werden. Sollte das Mediationskomitee zu keiner Lösung führen oder handelt es sich um zugespitzte kollektive Arbeitsstreitigkeiten, so kann laut Artikel 81 ein Schlichtungskomitee einbezogen werden. Dieses soll aus Vertretern der (in der Regel lokalen) staatlichen Arbeitsverwaltung, der Gewerkschaft auf der entsprechenden Ebene sowie des Betriebsmanagements bestehen. Den Gewerkschaften wird in Artikel 88 noch einmal die generelle Aufgabe zugewiesen, auf den verschiedenen Ebenen die Rechte der Arbeitnehmer zu schützen und die Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen zu überwachen (vgl. Shen 2006). Sowohl das Arbeitsgesetz von 1996 als auch das Gewerkschaftsgesetz von 2001 enthalten durchaus sehr weitgehende Rechte für die Beschäftigten und für die Gewerkschaften. Letztere sind allerdings im chinesischen System trotz vielfältiger Konflikte und Spannungen auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene sehr stark in die Strukturen der politischen Einparteienherrschaft der Kommunistischen Partei eingebunden. Das große Dilemma des chinesischen Regimes der Erwerbsregulierung besteht darin, in die folgenden drei strukturellen Widersprüche eingebunden zu sein und zwischen diesen vermitteln zu müssen: 1. Einerseits ist die Privatisierung der Wirtschaft auf der betrieblichen Ebene extrem stark vorangeschrittenen, andererseits findet die Definition der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die politische Lenkung aller Wirtschaftsaktivitäten nach wie vor zentralstaatlich auf der nationalen und auf der regionalen bzw. Provinz-Ebene statt. 2. Einerseits wird der einzelne Arbeitnehmer als der eigentliche Souverän und ‚Meister‘ der Wirtschaft konzipiert, dessen Wohlergehen alles Wirtschaften und der Staat dienen sollen, andererseits haben sich fast explosionsartig marktwirtschaftlich-konkurrenzielle Prinzipien verbreitet, die sich sowohl vorindustrieller bäuerlicher Arbeitskulturen als auch ultramoderner globalisierter Wirtschaftskulturen bedienen.

138

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

3. Einerseits besteht die Arbeiterschaft nach wie mehrheitlich aus nur sehr gering qualifizierten und aus bäuerlichen Erwerbsverhältnissen kommenden Beschäftigten, die in millionenfacher Zahl in die neuen Industriezentren strömen, andererseits wird für das Entscheidungshandeln in den Betrieben eine kleine Schicht von hochqualifizierten, häufig im Ausland ausgebildeten und durchaus sehr differenziert argumentierenden politischen Funktionären und privaten wie öffentlichen Wirtschaftsmanagern immer bedeutsamer. Die folgende Abb. 5.5 verdeutlicht die komplexe Struktur des formellen Regimes der Erwerbsregulierung in der VR China auf der nationalen, der betrieblichen und der Arbeitsplatzebene in öffentlichen bzw. stark unter direktem staatlichem Einfluss stehenden Unternehmen. Danach bestimmen in diesem – freilich in seiner Bedeutung tendenziell zurückgehenden – Typus von Unternehmen drei verschiedene Säulen die Dynamik der Erwerbsregulierung: der staatliche Verwaltungsapparat, die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften. Zwischen diesen drei Säulen bestehen nach Einschätzung der Autoren durchaus sehr widersprüchliche und ambivalente Beziehungen.

Abb. 5.5   Beziehungen zwischen Staat, Partei und Gewerkschaften in China. (Quelle: Eigene Ausarbeitung nach Ding et al. 2002, S. 435)

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

139

Für diese strukturellen Spannungen und Widersprüche wurden bisher offensichtlich keine angemessenen Lösungen in der Weiterentwicklung des Regimes der Erwerbsregulierung entwickelt, wie etwa die Entwicklung der Arbeitskonflikte erkennen lässt.45 Nach den Arbeits- und Gewerkschaftsgesetzen von 1994 und 2001 wurde z. B. im April 2006 der Entwurf eines neuen Arbeitsvertrags-Gesetzes veröffentlicht Das Gesetz wurde (nach vier Beratungen) im Juni 2007 vom Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses verabschiedet und trat am 1. Januar 2008 in Kraft.46 Obwohl die dort festgeschriebenen Schutzklauseln für die Arbeitnehmer minimal sind (auch in diesem Gesetz werden die von der ILO angemahnten Garantien der Koalitionsfreiheit und des Streikrecht nicht verwirklicht), hatten vor allem die in China tätigen multinationalen Konzerne zunächst massive Proteste gegen den Gesetzentwurf angemeldet, ihn dann aber nach dessen Verabschiedung ‚begrüßt‘ (Smith et al. 2006; Zheng 2012, S. 557). Auch wenn positive Auswirkungen des AVG mittlerweile empirisch belegt werden konnten, wird den Unternehmen dennoch weiterhin großer Handlungsspielraum zugestanden. Die tatsächliche Implementierung des Gesetzes erweist sich darüber hinaus aufgrund der in den chinesischen Unternehmen vorherrschenden mangelnden Rechtsbefolgungskultur als schwierig (ebd., S. 559 f.). Neben dem AVG wurde auf Ebene der Regulierung von Arbeitsbedingungen im Jahr 2007 noch das sogenannten Dispute Mediation and Arbitration Law (DMAL)verabschiedet, durch welches der rechtliche Prozess der Mediation und Schlichtung vereinfacht werden sollte. Das AVG und das DMAL zielen auch ­darauf ab, die Zahl der Arbeitskonflikte zu reduzieren und diese gleichsam zu

45Zur widersprüchlichen Situation der Gewerkschaften vgl. z. B. auch die Ergebnisse der Studie von Ding et al. (2002). Die Autoren führten Fallstudien in insgesamt 62 geografisch gestreuten Privatunternehmen und Joint Ventures aus fünf Sektoren durch. Als Branchen wurden angegeben: engineering, electrical equipment, electronics, chemicals and pharmaceuticals. „The research team for this study conducted in-depth interviews with factory directors, trade union representatives, personnel directors, technicians and workers in each sample firm. A semi-structured interview guideline and a questionnaire were both used to collect both quantitative and qualitative data, covering wide areas of industrial relations, human resource management, as well as information about company’s products, technology and performance. Interviews were also conducted with government officials and local trade union representatives“ (ebd., S. 438). Die Studie gibt empirische Hinweise auf die äußerst ambivalente Position der Gewerkschaften auf der betrieblichen Ebene, vgl. z. B. die Zusammenfassung der Hypothesenüberprüfung ebd., S. 443. 46Vgl. Zheng (2012, S. 550); http://www.eu-china.net/upload/pdf/materialien/kleinert_2008_ verrechtlichung_der_arbeitsbeziehungen_in_china_08-08-14.pdf; http://www.upf.edu/gredtiss/_pdf/2013-LLRNConf_QianEtAl.pdf.

140

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

institutionalisieren (Chan und Nadvi 2014, S. 522). Diesem Ziel diente auch das sogenannte Rainbow Project, welches zuerst 2008 auf der Nationalen Arbeitsbeziehungs-Konferenz vorgestellt wurde und kollektive Verhandlungen und Verträge zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern fördern sollte (Shengzu 2012, S. 122 f.). Allerdings hat ironischerweise eine Studie im Auftrag der OECD (Cai und Wang 2012, S. 18 f.) auf der Basis der amtlichen Statistiken gezeigt, dass seit dem Inkrafttreten des AVG und des DMAL im Jahre 2008 die Anzahl der Arbeitskonflikte signifikant zugenommen hat. Es ist Aufgabe weiterer wissenschaftlicher Analysen zu prüfen, in welche Richtung die generellen strukturellen Spannungen in Zukunft gelöst werden oder sich weiter entfalten. Eine wichtige Bedeutung werden dabei die Innovationen in der Dimension der Konfliktregulierungsmuster und die hierfür vorherrschenden prozeduralen Normen haben. Ausdifferenzierung der Konfliktregulierung Im Hinblick auf die Konfliktlösungsmechanismen hat sich das chinesische System inzwischen normativ und in der Praxis zu einem dreigestuften Modell entwickelt. Auf der betrieblichen Ebene können Mediatisierungskomitees aus Vertretern der Betriebsleitung und der Beschäftigten (entweder des Gewerkschaftskomitees oder des Angestellten- und Arbeitervertretungsrates) eingerichtet werden und anfallende individuelle oder kollektive Arbeitskonflikte zu schlichten versuchen. Gelingt dies nicht, so wird aus Vertretern der Beschäftigten (meistens Gewerkschaftsvertreter), der Betriebsleitung und der lokalen öffentlichen Arbeitsverwaltung (‚Arbeitsbüro‘) eine tripartistische Schlichtungskommission eingerichtet. Für die Metropolregion Shanghai hatten im Jahre 2001 fast 30 000 Unternehmen in 26 Branchen solche „equal industrial relations negotiation systems“ (Shen 2006, S. 360) eingerichtet. Die dritte Ebene der Konfliktregulierung schließlich sind die Arbeitsgerichte, deren tatsächliche Anrufung sehr stark zugenommen hat: „The official government statistics show that the labour court has become the major mechanism for resolving labour disputes“ (Shen 2006, S. 361). Neben diesen drei Stufen der Konfliktregulierung, von denen selbst die beiden zuerst genannten in kleineren und fernab größerer städtischer Ballungszentren gelegenen Betrieben nur unzureichend funktionieren dürften, existiert in der Metropolregion Shanghai noch eine vierte Ebene zwischen den tripartistischen betrieblichen Schlichtungskommissionen und den Arbeitsgerichten, die sogenannten Labour Disputes Arbitration Advisory Committees (LDAAC). Diese auf der Verwaltungsdistriktebene angesiedelten Schlichtungsorganisationen sind als eine regionalspezifische Antwort auf die offensichtlichen Defizite des traditionellen vorherrschenden Erwerbsregulierungssystems zu interpretieren (Shen 2006, S. 361). Tab. 5.8 gibt zunächst einen Überblick über die gewerkschaftliche

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

141

Tab. 5.8   Gewerkschaften in neu gegründeten Betrieben (Shanghai, Ende 2001) Betriebe Beschäftigte Betriebe mit Anteil aller Gewerk- Anteil aller Beschäf­ Betriebe schaftsGewerkmitglieder tigten schaften Unternehmen 5164 mit Auslandsanteil

674 522

4244

82,2

585 035

86,7

Privatunternehmen

560 635

664 072

94,3

516 044

92,1

Kollektiv3707 unternehmen

272 341

3517

94,9

255 229

93,7

Andere

273

1 594

273

100

1590

99,8

Gesamt

79 580

1 509 092

74 441

93,5

1 359 898 90,0

70 436

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Shen (2006, S. 357)

Präsenz in der Metropoloregion von Shanghai in allen neu etablierten Unternehmen. Dabei zeigt sich, dass sowohl in den Unternehmen mit ausländischem Investitionsanteil (FIE: Foreign Invested Enterprises inklusive Joint Venutres), als auch in den privaten Unternehmen (POE: Private Owned Enterprises) und in den Kooperativbetrieben (COE: Collective Owned Enterprises) sowie in den ‚anderen‘ (vor allem Staats-)Betrieben der Anteil der Betriebe mit Gewerkschaftspräsenz und auch der Anteil gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter extrem hoch ist. Selbst in den Betrieben mit Auslandskapitalbeteiligung liegen diese Anteilswerte noch bei über acht Zehntel. Die Privatisierung und Öffnung der Unternehmen für ausländische Kapitalbeteiligungen hat also auf den ersten Blick an der überragenden Stellung der – offiziellen – Gewerkschaften wenig oder gar nichts geändert. Die Tab. 5.9 gibt einen recht guten Eindruck von den – nur auf die Metropolregion Shanghai bezogenen! – sehr ausdifferenzierten Formen der Konfliktregulierung, wobei die betriebsübergreifenden Mechanismen bei der insgesamt dominierenden Anzahl der privaten Betriebe (POEs) eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Als betriebsübergreifende Konfliktregulierungsmechanismen werden hier aufgeführt 1) die für die Metropolregion von Shanghai spezifischen ‚tripartistischen Verhandlungssysteme‘ (in denen neben dem jeweils betroffenen Betriebsmanagement die lokale Arbeitsbehörde und die Betroffenen Arbeiter,

142

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Tab. 5.9   Konfliktregulierungsmechanismen in Betrieben (Shanghai 2001) Betriebe mit Betriebe mit Gewerkschaften tripartistischem Verhandlungssystem

Unterzeichnete Eingerichtete Kollektivverein- Arbeitskonfliktschlichtungsbarungen beratungskomitees (LDAACs)

Unternehmen mit 4244 Auslandsanteil

2470

2434

1898

Privatunternehmen

664 072

10 003

18 059

1551

Kollektivunternehmen

3517

1641

2380

1439

Gesamt

671 633

14 114

22 873

4888

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Shen (2006, S. 362)

u. U. vertreten durch die entsprechende Gewerkschaft zusammengefasst sind), 2) die regionalen ­Tarifverträge, 3) die Arbeitsschlichtungskomitees (Labour Dispute Arbitration Advisory Committee, LDAAC) und 4) die nationalen Arbeitsgerichte, deren Arbeit seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre durch die lokalen sogenannten Arbeitsrechtsüberwachungskomitees (Labour Law Surveillance Committee, LLSC) ergänzt wird (vgl. Shen 2006, S. 361 f. und Heuser 2005, S. 19 f.). Während schon diese ausdifferenzierte Struktur von Konfliktregulierungsmechanismen keineswegs für das ganze Land, sondern eher für die hochindustrialisierten Ballungszentren typisch ist, sei ein weiterer Regulierungsmechanismus noch erwähnt, der eine sehr lange Tradition aufweist, welche in der Praxis aber offensichtlich eher sporadisch genutzt wird. Es handelt sich um die sogenannten Angestellten- und Arbeitervertretungsräte (Staff and Workers Representative Councils, SWRC).47 Vorläufer dieser SWRC existieren seit der chinesischen Revolution von 1949, sie wurden aber 1978 vor allem angesichts der Arbeiterunruhen in Polen und in Anlehnung an das jugoslawische Modell im Rahmen der Wirt schaftsreformen Deng Xiaopings

47Die SWRC werden teilweise auch als Staff and Workers Representative Congress übersetzt (z. B. Estlund 2013: Fußnote 1); da es sich um betriebliche Interessenvertretungen aller Beschäftigten (Arbeiter, Angestellte, Management) handelt, der Begriff „Kongress“ für diesen betrieblichen Zusammenhang im Deutschen eher irritiert und eine Ähnlichkeit zu Betriebsräten durchaus vorhanden ist, werden die SWRCs hier als Räte bezeichnet; eine Google-Suche ergibt, dass im Englischen die Begriffe Committee und Council ähnlich häufig verwendet werden.

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

143

­ eiterentwickelt und mit dem Unternehmensgesetz von 1988 rechtlich eingefasst. w Kap. 5, Artikel 51 dieses Unternehmensgesetzes definiert ein SWRC als „die Organisation, durch die Angestellte und Arbeiter ihr Recht zur demokratischen Verwaltung in einem Unternehmen ausüben können“ (Xiaoyang und Chan 2005, S. 10). In Artikel 52 werden diesen SWRCs fünf spezifische Rechte und Verantwortungen zugewiesen: „1. to be informed and to examine major strategic policies such as long term plans, annual plans, basic investments, reinvestment plans, plans for leasing and subcontracting, and so on; 2. to examine, agree to, or veto policies related to wages, bonus and industrial safety issues, and regulations pertaining to penalties and merits; 3. to examine and decide on policies related to the staff and workers’ welfare, distribution of housing, and other important welfare matters24; 4. to monitor and assess the performance of responsible cadres at each level and to make suggestions on how to reward, penalize, and dismiss them; and 5. to elect the factory manager according to the arrangement of the supervisory government bureaucracy, and to report the election results to the said bureaucracy for approval.“ (Xiaoyang und Chan 2005, S. 10)

Offensichtlich spielten die SWRCs sehr lange eine untergeordnete bzw. wenig beachtete Rolle. Die jugoslawische Form des Sozialismus war für die große und selbstbewusste VR China sicherlich nur ein eher marginaler Orientierungspunkt. Angestellten- und Arbeitervertretungsräte befanden sich aber von Anfang an in der Position zwischen dem Alleinvertretungsanspruch der Kommunistischen Partei und der hierin inkorporierten offiziellen Gewerkschaften einerseits und dem betrieblichen Leitungsanspruch zunächst der kommunistischen Kader und später auch der markwirtschaftlich ausgerichteten neuen Betriebsleiter andererseits. Während diese Ausgangsbedingungen also der praktischen Verbreitung von SWRCs recht enge Grenzen zu setzen scheinen, gerieten sie offensichtlich seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre doch in den Aufmerksamkeitsfokus verschiedener Akteursgruppen. In dem systematischen Suchprozess nach innovativen, der spezifischen Situation des Landes angepassten Formen der flexiblen, möglichst betrieblich ausgerichteten Interessenregulierung, gewannen die SWRCs ein neues Gewicht. Einer Erhebung aus dem Jahre 1981 zufolge gaben etwa 90 % der mittleren und großen damals alle in staatlichem Besitz befindlichen Betriebe in Großstädten an, SWRCs eingerichtet zu haben – es ist anzunehmen, dass SWRCs vor allem in industriellen Ballungszentren verbreitet sind. Bei einer offiziellen staatlichen Studie beurteilte ein Viertel der (in Staatsbetrieben) Befragten die Arbeit der SWRCs als gut, 60 % äußerten sich mehr oder weniger zufrieden (Xiaoyang und Chan 2005, S. 9). In einer neueren Studie werden diese Ergebnisse eher ­skeptisch beurteilt: „If the SWRCs in China were indeed able to exercise their

144

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

rights as defined by law, the rights enjoyed by Chinese workers of state and collective enterprises would far exceed those of workers under any capitalist system. In reality, the SWRCs and, for that matter, the workplace unions have great difficulties realizing their rights. Most SWRCs only exist as formal institutions. The SWRC system was not able to sustain itself in the state and collective sectors as the enterprise reforms deepened and as the power of managers expanded, and as more enterprises were plunged into the red and had to downsize the workforce“ (ebd., S. 11). Eine sehr wichtige und gegenwärtig kontrovers diskutierte Frage ist, welche Entwicklung die SWRCs nach ihrer Entstehung im traditionellen staatssozialistischen Kontext mit der wirtschaftlichen Öffnung und Privatisierung nahmen. Denn seit den 1990er Jahren ist die vordem enge Verbindung von Parteiführung, Betriebsleitungen und Gewerkschaftsfunktionären zunehmend aufgelöst und ausdifferenziert worden. Die Betriebsleitungen agieren immer stärker als vorrangig an Markterfordernissen ausgerichtete Unternehmer, und die Partei- und Staatsführung konzentriert sich auf Rahmensetzung und -steuerung. Die Gewerkschaften schließlich geraten in eine komplizierte Spannungssituation zwischen den (partei-)politischen Zielen der nationalen gesellschaftlichen Entwicklung, den zunehmend rein marktwirtschaftlich agierenden Betriebsleitungen und den Arbeitnehmern, die eine effiziente Vertretung ihrer Interessen erwarten. Die komplexe Handlungssituation zwischen SWRC und betrieblicher Gewerkschaftsorganisation schildern Xiaoyang und Chan (2005, S. 11): „In theory the workplace union committee is accountable to the SWRC. In reality, though, the trade union committee is the organ that takes charge of organizing the SWRC. Whether the SWRC system functions properly – for example, in discussing and giving feedback to company announcements and policies, ensuring special-issue committees meet and carry out their responsibilities, electing staff and worker representatives, collecting and encouraging workers to hand in their ‚rational suggestions‘ (helihua jianyi, that is, innovative suggestions to improve the work process), preparing motions before the SWRC convenes, and so on – relies greatly on the union’s initiative and capability. The workplace union theoretically has two superiors, the SWRC and the upper-level trade union. In practice, the trade union committee regards the SWRC as within its charge, as seen in the many discussions within the trade union circle about how the trade union should ensure that the SWRC functions properly. In this organizational structure the SWRC is the Chinese trade unions’ power base.“

Xiaoyang und Chan (2005) haben die Daten einer von der „Allchinesischen Gewerkschaftsföderation“ im Jahre 1997 durchgeführten Befragung von insgesamt 2180 Unternehmen ausgewertet und kommen zu dem Schluss: „We have uncovered some unexpected pointers, based on analyzing the data of a large survey of enterprises and workers‘ attitudes conducted in 1997 by the All-China Federation

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

145

Tab. 5.10   SWRC in der Verarbeitenden Industrie nach Unternehmenstyp 1997 Unternehmenstyp

bestehende SWRC in Unternehmen Anteil nicht Absolutzahl SWRC (%) ­Gründung (%) ohne SWRC (%) bekannt (%) Betriebe

Staatsunternehmen

92

1

2

5

1037

Kollektiv71 unternehmen

6

5

18

554

Privatunternehmen

42

4

25

29

48

Joint ­Venture-UN

94



3

3

70

Aktiengesell- 93 schaft

2

1

4

187

Mit Auslands- 63 anteil

1

13

23

152

Im Besitz v. Übersee­Chinesen

25

3

53

19

89

Gesamt

80

3

6

10

2137a

Quelle: eigene Übersetzung und Anpassung aus: Xiaoyang und Chan (2005, S. 14) awegen fehlender Daten ergibt Gesamtzahl nicht die untersuchten 2180 Fälle

of Trade Unions (ACFTU). The analyses indicate that the SWRC has unexpected levels of approval among workers“ (ebd., S. 6). Im Hinblick auf die Verbreitung von SWRCs konstatieren die Autoren eine fast vollständige Abdeckung mit diesem Arbeitnehmervertretungsorgan in staatlichen, in als Kollektiven betriebenen, in Joint Venture-Unternehmen und in Aktienunternehmen. In fast sechs Zehnteln der von Auslandschinesen betriebenen Unternehmen, in etwa drei Zehnteln der privaten Unternehmen und in 14 % der reinen Auslandsbetriebe existieren demzufolge keine SWRCs (vgl. Tab. 5.10).48

48Neben

der generellen Skepsis gegenüber dieser Art von – in diesem Falle sogar von einem Interessenverband erhobenen – Statistiken muss hier auf den hohen Anteil fehlender Angaben und auf die gerade in der zuletzt genannten Gruppe von Betrieben recht geringen Fallzahlen verwiesen werden; die Übersichten sollten also nur als erste und noch zu verifizierende Annäherung verstanden werden; vgl. auch die Fallstudienergebnisse von Chan (2006, S. 94 ff.); zum unkommentierten Mischen verschiedener Datenquellen in einer Abbildung vgl. Qi (2010, S. 19); als unkommentierte Zitierung findet sich diese Tabelle z. B. in von der Pütten und Göbel (2013, S. 10).

146

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

In ihrer Sekundärauswertung haben die Autoren versucht, das Vorkommen von SWRCs mit wichtigen Aspekten der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen der Arbeitnehmer zu korrelieren. Dabei kommen sie zu dem Schluss (vgl. auch Tab. 5.11): „The results show that all variables that we thought might be correlated to the existence of an SWRC are positively correlated, except for question 11 – the possibility of the enterprise either going bankrupt or being amalgamated with another enterprise – which is not significantly correlated. As pointed out earlier, this could be due to the fact that bankruptcy is caused by external factors and/or corruption and mismanagement beyond the ability of the SWRC to affect. What can be concluded with some confidence is that, where there was an SWRC, workers’ evaluation of the performance of the trade union tended to be high“ (ebd., S. 17).

Ähnlich wie für andere Länder üblich (vgl. z. B. Hauser-Ditz et al. 2008 für Deutschland) haben die Autoren mithilfe einer Faktorenanalyse versucht, spezifische betriebliche Kontextbedingungen für das Vorkommen eines SWRCs zu identifizieren. Dabei fanden sie zwei signifikante und stabile Faktorenbündel: SWRCs existieren demzufolge einerseits in Betrieben mit einer starken Transparenz- und Rechenschaftslegungskultur, in denen diese Organe vor allem die Funktion haben, die Macht des betrieblichen Managements zu kontrollieren. Zum anderen korreliert die Existenz eines SWRCs mit einer starken wohlfahrtsstaatlichen und Verteilungskultur in den Betrieben (vgl. auch Tab. 5.12): „A crucial finding is that reduction of the seven variables measured against the SWRC-assigned roles to two factors yields two distinctive properties: 1) an accountability orientation that was related to the SWRC’s ability to check the power of management (questions 4, 5, 6, and 7 were loaded on this factor); and 2) a welfare orientation that was related to welfare and redistribution of resources (questions 1, 2, and 3 were loaded on this factor)“ (­Xiaoyang und Chan 2005, S. 19). Jedoch ist für die nächsten Jahre durchaus eine stärkere Ausweitung der SWRCs denkbar: Estlund (2013) bewertet SWRCs als eine effiziente Lösung und als wichtiges Instrument für ein demokratisches Unternehmensmanagement, insbesondere unter der Voraussetzung, dass Gewerkschaften zunehmend zu demokratischen Organen der Interessenvertretung werden. Sofern die Arbeitsweise der SWRCs ausgebaut und perfektioniert würde, könnten diese den Informationsfluss zwischen Unternehmensmanagement und Arbeiterschaft verbessern und somit zu gesteigerter Motivation und höherer Produktivität beitragen (Estlund 2013). Auch die ACFTU spricht sich im Jahr 2012 in der „Provisions on the Democratic Management of Enterprises“ für eine landesweite Etablierung von SWRCs auch in privaten Firmen aus.

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

147

Tab. 5.11   Arbeitsbedingungen in Unternehmen mit und ohne SWRC 1997 Kategorie

Variablen

Gründung von SWRC Ja

Andere Formen

Anz. Fälle

1. Die Gewerkschaft kann effektiv dabei helfen, 50 persönliche finanzielle Probleme von Arbeitern zu lösen

26

977

2. Die Gewerkschaft kann effektiv helfen, Arbeitskonflikte zu schlichten

44

24

823

3. Die Gewerkschaft kann Ihre Interessen ­verteidigen

62

39

1219

4. Die Arbeitseinheit berät sich mit Ihnen vor dem Abschluss des Arbeitsvertrages

81

67

1577

5. Arbeitsverträge werden in Arbeitseinheit eingehalten

50

32

992

6. Für die Arbeitseinheit gilt ein ­Kollektivvertrag

50

29

952

Kategorie 3

7. Die Arbeitseinheit besitzt einen gut ­integrierten OSH

40

26

808

Kategorie 4

8. Das Gesundheitssystem ist tragbar

75

61

1436

9. Die Arbeitseinheit ist an Pensionsplan beteiligt

84

50

1648

10. Es gibt keine Möglichkeit entlassen zu werden

25

20

519

11. Es gibt keine Möglichkeit von Bankrott oder 34 Joint Ventures

30

708

Kategorie 1

Kategorie 2

12. Monatsgehalt, Durchschnittsgehalt im Jahr

604

13. Gehälter waren nicht im Zahlungsrückstand 79

550

2072

71

1627

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Xiaoyang und Chan (2005, S. 18)

Die hier erwähnten Studien verdeutlichen, dass die seit den 1990er J­ahren in der Volksrepublik China vollzogenen Veränderungen in der generellen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu tief greifenden Veränderungen auch in der Arbeitswelt führten. Die beachtliche Zunahme individueller und kollektiver Arbeitskonflikte signalisieren dabei die strukturellen Probleme und Herausforderungen, auf der überbetrieblichen und vor allem auch auf der betrieblichen Ebene neue Formen der Konfliktregulierung zu entwickeln, die der neuen Situation von stärker marktwirtschaftlich operierenden Betrieben angemessen sind.

148

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Tab. 5.12   SWRC-Vorkommen und betriebliche Arbeitspolitik (VR China, 1997) Variablen

Faktor 1

Faktor 2

1. Informiert sich über Managementberichte und bewertet diese

0.29

0.86

2. Überprüft Arbeitslohn und Prämienverteilung

0.47

0.79

3. Entscheidet über Nutzung der Wohlfahrtsfonds und Unterkunftsverteilung

0.51

0.70

4. Überwacht Führungskräfte auf allen Ebenen

0.075

0.49

5. Management berichtet an SWRC über Kulturausgaben.

0.83

0.34

6. Wählt Verwaltungspersonal oder schlägt dieses vor

0.86

0.33

7. SWRC überwacht die Durchsetzung von Entscheidungen

0.75

0.47

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Xiaoyang und Chan (2005, S. 21)

In diesem Zusammenhang spielen die bereits vor den 1990er Jahren existierenden Kanäle der Konfliktregulierung eine wichtige Rolle. Ihre tatsächliche Wirksamkeit steht und fällt aber sehr stark mit handlungsfähigen kollektiven und korporativen Akteursgruppen und Interessenregulierungsorganen. Neben den Gewerkschaften, deren Modernisierung und Loslösung von einer engen Parteibindung sich sehr schwierig gestaltet, könnten die SWRCs als mögliche betriebliche Interessenregulierungsorgane – ähnlich z. B. den Betriebsräten und der Idee von Eurobetriebsräten in europäischen Ländern – eine wesentliche Rolle spielen. Chinesische Politiker, Arbeitsrechtler und Sozialwissenschaftler studieren in diesem Zusammenhang sehr genau die Erfahrungen, die in anderen Ländern mit solchen Modellen betrieblicher Arbeitnehmervertretungen gemacht wurden. Weitere Forschungen müssen hier Aufschluss über ihre tatsächliche betriebliche Funktion und ihre Entwicklungsperspektiven geben. Das chinesische System der Erwerbsregulierung im Umbruch Das traditionelle Regime der Erwerbsregulierung in China unterlag in den letzten zwanzig Jahren einem extremen Veränderungsdruck, den es in einem ähnlichen Ausmaß nur in den postsozialistischen Ländern gab. Nach wie vor besteht eine enorme Kluft zwischen der rein formalrechtlichen Situation und der Rechtswirklichkeit bzw. der Praxis der Erwerbsregulierung. Die Beschäftigten besitzen durchaus sehr weitgehende formelle materiale und prozedurale Beteiligungsrechte, die sich als kollektive Rechte auf der betrieblichen Ebene sowohl in der Stellung und den Befugnissen der Gewerkschaft als auch in den Rechten der Angestellten- und Arbeitervertretungsräte (SWRC) niederschlagen. Diese relativ weitgehenden Gesetzesnormen wurden durch den ehemals und auch heute noch

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

149

dominanten Akteur des Staates und der Staatspartei gesetzt. Ganz offensichtlich aber fehlt es an funktionierenden Mechanismen und durchsetzungsbereiten und -fähigen kollektiven und individuellen Akteuren, um die Kluft zwischen Rechtsnormen und betrieblicher Wirklichkeit zu schließen. Dies gilt besonders für den Bereich von Betrieben, die vorwiegend unqualifizierte Wanderarbeiter beschäftigen, die aus dem ländlichen Raum und ihren entsprechend dort registrierten Haushalten (hukou) irregulär in die Städte migriert sind.49 Von den für 2011 geschätzten etwa 250 Mio. internen Arbeitsmigranten waren knapp 160 Mio. außerhalb ihrer Herkunftsprovinz erwerbstätig.50 Wer nicht bereits mit einem spezifischen Beschäftigungsverhältnis bzw. -angebot seinen Ortswechsel vornimmt und damit auch seinen hukou ohne staatliche Umschreibung in einen andere hukou verlässt, ist als Arbeitnehmer ohne jegliche Rechte. Solche Wanderarbeiter sind unter prekärsten Erwerbsbedingungen beschäftigt und durch die Unterbringung in Wohnheimen auf dem Fabrikgelände oft einer allumfassenden Kontrolle durch den Arbeitgeber ausgesetzt (Pun und Smith 2007). Wie auch in vielen anderen postsozialistischen Ländern ist das System der mit der kommunistischen Partei eng liierten Monopolgewerkschaften und ihres Dachverbandes ACFTU in starken Misskredit geraten, und zwar sowohl bei Beschäftigten als auch bei auch Unternehmen. Zwar verweist eine Studie von Ding et al. (2002) auf einen positiven Einfluss der Gewerkschaften auf den Ausgang von Arbeitskonflikten und auf den Schutz der Arbeitnehmerrechte. Angesichts immer mächtigerer Betriebsleiter in öffentlichen Unternehmen und eher gewerkschaftsfeindlich eingestellten Privatunternehmen sind aber die realen Durchsetzungsmöglichkeiten der Gewerkschaften nicht zuletzt aufgrund fehlender Qualifizierung und beratender Infrastrukturen begrenzt (Lüthje 2013, S. 17; Traub-Merz 2011, S. 5 und 8 f.). Dong-One (2006, S. 164) spricht von einer weiterhin „stalinistischen Arbeitspolitik in einer zunehmend pluralistischen Ökonomie“. Die Zukunft des Regimes der Erwerbsregulierung in China ist gegenwärtig offen. Einige Autoren betonen, dass seit den 2000er Jahren die betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen – als grassroots unions – an Zahl und Bedeutung gewachsen sind und sich in einigen Regionen und Unternehmen in die Richtung einer Demokratisierung und stärkeren Unabhängigkeit von den betrieblichen

49Zum

chinesischen hukou-System, an dem sich alle wesentlichen bürgerschaftlichen Rechte (auf Erziehung, Gesundheitsversorgung, Wohnung etc.) orientieren und derer alle irregulären Wanderarbeiter verlustig werden, vgl. http://www.cfr.org/china/chinas-internalmigrants/p12943. 50Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Migration_in_China; Jijiao (2013).

150

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Staats- und Parteikadern entwickelt hätten.51 So konstatieren Fan und Gahan (2012, S. 37) auf der Grundlage von Fallstudien zu Arbeitskonflikten in RetailCo (einem Walmart-Tochterunternehmen) und im Honda-Werk in Foshan: „The establishment and/or reform of these grassroots unions were associated with significant member involvement and therefore, an enhanced level of internal union democracy could be observed in the cases. This was particularly reflected in the facts that rank-and-file worker members within those workplaces were mobilized and consulted in the major union decision-making processes, particularly in the process of collective negotiation.“ Chan (2009) analysierte die Strategie des Unternehmens Reebok, bei seinen (Sportschuh-)Zulieferern in China (in diesem Fall KTS und Shunda) auf demokratische Gewerkschaftswahlen zu drängen. Diese konnten zwar erfolgreich durchgeführt werden, allerdings ohne die Einbeziehung des Gewerkschaftsdachverbandes ACFTU. Mangelnde Qualifikationen und Spannungen mit dem offiziellen Gewerkschaftsverband verhinderten einen nachhaltigen Erfolg. Gleichwohl ist das Thema direkter (und demokratischer) betrieblicher Gewerkschaftswahlen inzwischen auch im Dachverband ACFTU angekommen. Chan (2009, S. 313) resümiert zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten: „The best scenario is that the ACFTU and the international trade union movement can come to some sort of an agreement in helping foreign unions to go into supplier factories of their own countries‘ companies to help those workplace unions to negotiate with employers. Already some German and Danish trade unions have succeeded in doing this.“ In dem einleitenden Beitrag zu einem Schwerpunktheft der Zeitschrift International Labour Review (ILO) zu den Arbeitsstandards und der Erwerbsregulierung in China unterstreichen Chan und Navdi (2014) die große Bedeutung, die das Lernen von den Erfahrungen der Guangdong-Region in China für die weitere Entwicklung der Erwerbsregulierung und speziell der Demokratisierung der Gewerkschaften in ganz China, vor allem auch für die in das Landesinnere sich bewegende Industrialisierung, hat: „In Guangdong, pilots of direct trade union elections and collective bargaining have been carried out in the core cities of the Pearl River Delta such as Guangzhou, Shenzhen, Foshan and Dongguan (…).

51Zur tatsächlichen Entwicklung der Anzahl betrieblicher Gewerkschaften (neuerdings sogar im offiziellen Statistischen Jahrbuch Chinas als „Grassroot Trade Unions“ bezeichnet), vgl. http://www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2015/indexeh.htm, Tab. 24–27 „Basic Statistics on Trade Unions“; danach hat sich die Zahl betrieblicher Gewerkschaften – allerdings mit einigen, z. B. für die Jahre 2000 bis 2004 nicht nachvollziehbaren Volten – seit den 2000er Jahren um mehrere Hundert Prozent erhöht.

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

151

Further evaluation of such projects within the Pearl River Delta will be helpful to inform both theoretical and policy on industrial relations more widely, across other regions in China“ (ebd., S. 529). Die Frage der weiteren Entwicklung und möglichen Demokratisierung der chinesischen Gewerkschaften wird auch darüber entscheiden, ob das chinesische System der Arbeitsbeziehungen tatsächlich als „tripartistisches System mit vier Parteien (Lüthje et al. 2013, S. 18; ten Brink 2013, S. 289) beschrieben werden muss oder sollte. Neben den drei traditionellen Hauptakteuren (Staat und Staatspartei, offizielle Gewerkschaften, Unternehmen) bilden die Beschäftigten selbst und ihre spontanen Aktionen demnach aufgrund ihrer mangelnden Vertretung durch die chinesischen Gewerkschaften (Lüthje 2010, S. 474) eine eigene vierte Kraft. Die durch diese „vierte Partei“ entstehenden Arbeitskonflikte, wie sie vor allem im Jahre 2010 etwa am Beispiel des Honda-Streiks als „Collective Bargaining by Riot“ (Shan und Hui 2014) deutlich wurden, sind im Normalfall gegen das Dreiersystem aus Staat, offiziellen Gewerkschaften und unternehmen gerichtet und erhalten durch neue Medien wie Internet und andere Kommunikationskanäle ein schnelles und breites Forum.52 Das Jahr 2010 markierte für diese Art der kollektiven und selbstorganisierten Arbeitskonflikte einen Wendepunkt in der Streikkultur Chinas (Chan und Hui 2014, S. 228 f.). Der Honda-Streik hatte große Auswirkungen auf die Arbeitskämpfe in China insgesamt, in vier Automobil-­ Zulieferfabriken fanden kurz darauf ähnliche Streiks statt. Im Anschluss an diese Streikwelle kam es in China zu einer Gewerkschaftsreform mit dem Ziel einer verbesserten „collective consultation“, das als Top-Priorität auf die Agenden des ACFTU und der Regierung gesetzt wurde (Chan und Hui 2014, S. 232). Zusammengefasst haben sich durch die Arbeitskonflikte der 2010er Jahre die verkrusteten Verhältnisse der Erwerbsregulierung dynamisiert. Wie schon seit dem Beginn der 2000er Jahre bleibt dabei offen, ob sich das Regime der Erwerbsregulierung in China entweder in die Richtung eines an westeuropäischen Ländern wie z. B. Deutschland orientierten sozialpartnerschaftlichen Modells politischer Konzertierung und tarifvertraglicher Regulierung, in die Richtung eines eher antagonistischen oder utilitaristisch orientierten liberal individualistischen Systems (Lüthje 2006, S. 73 f.; Chan 2006, S. 96 f.) entwickeln wird, oder ob China aufbauend auf seiner bisherigen historischen Entwicklung und Erfahrung und durch selektives institutionelles Lernen von anderen einen eigenen ‚dritten Weg‘ geht.

52Vgl.

https://en.wikipedia.org/wiki/2010_Chinese_labour_unrest.

152

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Dabei ist die Frage offen, durch welche anderen Machtressourcen die ehemals dominante Machtquelle des Staates ersetzt oder ergänzt wird. Als dominante Akteure werden die Gewerkschaften so lange in ihren realen Bargaining-Funktionen eingeschränkt bleiben, wie es keine unabhängigen Unternehmerverbände gibt. Die tendenzielle Stärkung betrieblicher Vertretungsorgane lässt sich bereits heute erkennen. Ob die dominante Regulierungsarena gesetzlich-rechtlicher Normensetzung entweder durch die Arena betrieblicher Vereinbarungen oder durch die Arena von Tarifverträgen oder aber durch beide ersetzt wird, lässt sich gegenwärtig nicht eindeutig erkennen. Hinsichtlich der Regulierungsgegenstände lässt sich eine Erweiterung der Fokussierung nur auf die Beschäftigungsbedingungen hin zur Aushandlung von Partizipationsbedingungen erkennen. Die Volksrepublik China entwickelt und modernisiert ihr Regime der Erwerbsregulierung unter vollständig anderen Bedingungen, als dies viele der frühindustrialisierten Länder taten. Einerseits steht das Land unter dem starken Beobachtungs- und Erwartungsdruck internationaler Organisationen und der kritischen globalen öffentlichen Meinung. Andererseits hat das Land die Chance eines bewussten behutsamen Lernens von Erfahrungen anderer Länder. Es ist dieser doppelte Beeinflussungsmechanismus, der auch für ein so großes, selbstbewusstes und in sich ruhendes Land wie die Volksrepublik China die Bedeutung der Internationalisierung der Erwerbsregulierung auf die Tagesordnung setzt. Der Faktor der internationalen Beobachtung und Beeinflussung zeigte sich sehr deutlich bei den Verhandlungen um den Beitritt der Volksrepublik China zur WTO im Jahre 2001 sowie bei ihrer Mitarbeit in der ILO: „The International Labour Organization (ILO) has been monitoring the implementation of its labour standards in China and the Chinese government has been required to report to ILO about the improvement of labour standards in China. External pressure seems to be more effective than internal pressure in persuading the Chinese government to comply with international conventions“ (Shen 2006, S. 348 f.; vgl. auch Heuer 2005, S. 22). So wird der Druck auf die Volksrepublik China in den kommenden Jahren enorm wachsen, die ILO Kernkonventionen 87 und 98 zu ratifizieren und einzuhalten, die die Freiheit gewerkschaftlicher Organisation und Tarifverhandlungen beinhalten (Heuer 2005, S. 11). Umgekehrt ist beachtlich, welche enormen Anstrengungen China unternimmt, differenziert und selbstbewusst von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen, ohne die eigenen historischen und institutionellen Voraussetzungen zu missachten. Basierend auf elf Fallstudien international tätiger chinesischer Unternehmen zu den Veränderungen der Muster von Erwerbsregulierung resümiert Shen (2007), dass weder eine isoliert chinesische Veränderungsstrategie noch ein blindes Kopieren ausländischer Erfahrungen zu beobachten sei: In der Studie fand Shen

5.2  Erwerbsregulierung in einem postkommunistischen Land: VR China

153

(ebd., S. 423) nicht die Strategie „to adopt wholly homebased nor host-based IR systems […]. Instead, they are likely to adopt an integrative approach that combines both the home and host IR systems.“ Einen ähnlich differenzierten Lern- und Veränderungsprozess halten Ding et al. (2002, S. 447) im Hinblick auf die chinesischen Gewerkschaften für grundsätzlich möglich, auch wenn sie deren nach wie vor dominante Funktionen als loyale Unterstützer der Staatsmacht und der betrieblichen Managerherrschaft unterstreichen: „While critics […] have argued that existing Chinese unions have a state-controlled monopoly, cannot bargain freely and do not have the right to strike, the evidence we have presented allows us to conclude that, despite these obvious limitations, Chinese unions are sometimes able to influence the outcomes of labour disputes positively and to protect workers’ interests. Overall, however, we would have to conclude that Chinese unions function more as an offshoot of the HR department, and are primarily concerned with supporting managerial interests“ (Ding et al. 2002, S. 447).

Schließlich haben Xiaoyang und Chan (2005) in ihrer Studie über die SWRCs das grundsätzliche Reform- und Demokratiepotential dieser betrieblichen Arbeitnehmerorgane zur Interessenregulierung betont: „At normal times […] in a small number of cases the SWRC has emerged in some workplaces as an institution that can foster consensual industrial relationship. The ACFTU is trying in a top-down fashion to promote and regularize the functions of the SWRC. At the same time management of a more enlightened bent may also use the SWRC to induce a more cooperative workforce. […] At a time of deteriorating conditions in the state enterprise, especially when it approaches the moment of life-and-death struggle, the SWRC can become the arena of a struggle for survival. The SWRC will become a platform where workers fight for their interests and their rights. They might end in failure but, if the workers succeed, then the SWRC has the potential to continue and to become a real workers’ democratic participatory system“ (ebd., S. 29 f.).

Wang (2008, S. 201 ff., 210) betont die zunehmende Bedeutung von NGOs, der chinesischen Zivilgesellschaft und neuen Formen der kollektiven Organisierung von Arbeitnehmern. Berücksichtigt man die strukturellen Spannungen und die skizzierten Veränderungspotenziale, so erscheint die Zukunft der Erwerbsregulierung in der Volksrepublik China alles andere als bereits festgelegt zu sein. Das in Kap. 4 vorgestellte Analyseraster kann dabei helfen, die verschiedenen Aspekte dieses Regimes in seinen ‚wahlverwandtschaftlichen‘ Beziehungen zu beleuchten sowie

154

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

deren Veränderungen zu analysieren. Dabei ist es insgesamt äußerst interessant zu beobachten, ob bzw. wie die Wandlungsmuster der divergenten Konvergenz und der konvergenten Divergenz (vgl. dazu Kap. 6) tatsächlich die Weiterentwicklung des chinesischen Regimes der Erwerbsregulierung bestimmen.

5.3 Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien Außer der Zugehörigkeit zum gleichen Kontinent hat Indien mit der Volksrepublik China einige Gemeinsamkeiten, unterscheidet sich in vielen Aspekten aber auch ganz erheblich. Beide Länder sind ähnlich groß – über eine Milliarde Einwohner – und nach sprachlich-kulturellen, wirtschaftlichen, religiösen und anderen Faktoren regional äußerst heterogen. Wesentlich schwächer als in China bestimmte eine sozialistische Ideologie und Politik seit etwa der gleichen Zeit (Ende der 1940er Jahre) die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Indien. Mit Beginn der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien im Jahre 1947 versteht sich das Land als souveräne, säkulare, sozialistische und demokratische Republik. Über vier Jahrzehnte lang herrschte eine Ideologie der nachholenden, staatlich gelenkten Industrialisierung und wirtschaftlichen Entwicklung, die Ähnlichkeiten mit den vorherrschenden Entwicklungsvorstellungen in China, aber auch in sehr vielen anderen spät industrialisierten Ländern des Südens aufweist. Eine weitere Gemeinsamkeit mit China ist ein ähnlicher grundlegender Umschwung der politisch-wirtschaftlichen Orientierung seit den 1990er Jahren. Bereits 1995 trat Indien der WTO bei, also sechs Jahre früher als China. Ähnlich wie China begann Indien seit den 1990er Jahren, seine Wirtschaft international zu öffnen. Allerdings verlief diese Öffnungspolitik wesentlich langsamer als im Falle Chinas oder anderer asiatischer Länder wie Malaysia oder Thailand (vgl. Deutsche Bank 2005). Gleichsam wie in China wurden auch in Indien viele ehemals öffentliche Unternehmen privatisiert bzw. Branchen systematisch stärker der privaten und internationalen Konkurrenz geöffnet. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es auch grundlegende Unterschiede zwischen China und Indien. Seit seiner Unabhängigkeit herrscht in Indien ein parlamentarisches System mit Parteienkonkurrenz und regelmäßigen demokratischen Wahlen. Dabei legte das Land seit 1947 generell großen Wert auf dezentrale Strategien und liberal-basisdemokratische Lösungen. Sogenannte Community Based Organisations sollten von Anfang an eine große Rolle in der Entwicklung des Landes spielen und den jeweiligen regionalen und lokalen Besonderheiten angepasste Lösungen ermöglichen. Indien unterscheidet sich von China auch

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

155

durch eine weniger rigide Geburtenkontrollpolitik, was sich in der zweithöchsten Rate des Bevölkerungswachstums weltweit niederschlägt. Während die chinesische Bevölkerung also in ihrem Wachstum in absehbarer Zeit an Dynamik verliert, lässt sich dies für Indien nicht voraussagen, nicht zuletzt auch eine wesentlich jüngere Alterspyramide sorgt hier für eine noch längerfristig größere Wachstumsdynamik (vgl. Wilson und Purushothaman 2003, S. 8). Struktur und Wandel des indischen Entwicklungsmodells Im Unterschied zu China setzt Indien seit den 1990er Jahren relativ erfolgreich auf eine Strategie, von der agrarischen direkt zur Dienstleistungsgesellschaft zu ‚springen‘: Während für China die für Industriegesellschaften typische manuelle Massenarbeit und Industrieproduktion vor allem von Verbrauchsgütern im Zentrum der Entwicklungsanstrengungen steht, fokussiert die indische Regierung wesentlich stärker auf dienstleistungs- und wissensbezogene Wachstumsstrategien. Für Dienstleistungsbereiche stellt das indische Bildungssystem in millionenfacher Zahl hochqualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung: „Indien ist stattdessen einem Wachstumspfad gefolgt, der durch Kapital- und Qualifikationsintensitäten charakterisiert ist, die weit über dem Niveau anderer Länder mit ähnlichen Pro-Kopf-Einkommensniveaus liegen […]. Der Dienstleistungssektor in Indien hat viel Aufmerksamkeit erhalten als eine der Antriebskräfte des gegenwärtigen Wachstums des Landes“ (Singh 2008, S. 9 f.). Demnach gab es in den Bereichen des Handels, der Hotellerie und Gastronomie, sowie den Transportund Kommunikationssektoren einen signifikanten Beschäftigungsanstieg (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 114). Über die Angemessenheit und die Erfolge des indischen Entwicklungsweges gibt es durchaus sehr unterschiedliche wissenschaftliche Beurteilungen (ebd., S. 14 f.), aber weitgehende Übereinstimmung dürfte das Resümee von Singh (2008, S. 18) finden: „Die Entwicklung starker demokratischer Institutionen muss als größter Erfolg der Entwicklungsstrategie Indiens angesehen werden.“ Grundsätzlich garantiert die indische Verfassung allen Bürgen bestimmte individuelle und kollektive Mindestrechte, die auch alle relevanten ILO-­Konventionen einschließen. Dies betrifft etwa gleiche Beschäftigungschancen in der Arbeit, Koalitionsfreiheit, Schutz gefährdeter Gruppen oder die Abschaffung von Zwangs- und Kinderarbeit. Auch existiert mit der Indian Labour Conference (ILC) ein zentrales tripartistisches Organ aus staatlichen Behörden, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, welches sich jährlich trifft, um Arbeitspolitiken und Programme zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten zu diskutieren. Allerdings besteht – ähnlich wie in China – zwischen den formal garantierten Rechten und Bestimmungen hinsichtlich der Arbeits-, Beschäftigungs- und

156

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Partizipationsbedingungen einerseits und der Arbeits- und Lebenswirklichkeit eines großen Teils der Menschen andererseits eine tiefe Kluft. Auch wenn die staatlichen Strategien über Jahrzehnte auf die Entwicklung des öffentlichen Sektors und auf eine starke Infrastruktur gerichtet waren, macht die Beschäftigung in diesem öffentlichen Sektor und im formellen Sektor der Wirtschaft insgesamt nur einen kleinen Teil der gesamten abhängigen Beschäftigung aus. Verschiedene Schätzungen sprechen von über 90 % der abhängig Beschäftigten, die im so genannten informellen Sektor arbeiten. Dieser umfasst die private und häufig kleinstbetriebliche Landwirtschaft und auch die Beschäftigungen in den Städten, die nicht auf formellen Arbeitsverträgen basieren, mit keinerlei Sozialversicherung verbunden sind oder in Betrieben ohne jegliche offizielle Registrierung ausgeübt werden. Zählt man als ‚formelle‘ bzw. ‚organisierte‘ Beschäftigungsverhältnisse diejenigen, die von Betrieben und Verwaltungen überhaupt an staatliche Stellen gemeldet werden, so ergibt sich ein Anteilswert von etwa sechs bis sieben Prozent aller geschätzten Arbeitskräfte.53 Besonders interessant ist hierbei, dass sich dieser Anteil über die letzten vier Jahrzehnte fast nicht erhöht hat, für den Bereich der urbanen Beschäftigung sogar gesunken ist – die Dualität zwischen formellen und informellen Erwerbsverhältnissen hat sich also weiter verschärft, obwohl eines der Entwicklungsziele Indiens gerade deren Reduzierung war (ebd., S. 5; vgl. Tab. 5.13). Die Tab. 5.13 verdeutlicht, dass weder die Arbeitsgesetzgebung noch die staatlichen arbeitsbezogenen Verwaltungs- und Gerichtsorgane für die überwältigende Mehrheit der indischen Beschäftigten wirksame Instanzen sind, um deren legitimen Ansprüche und Mindestrechte erfolgreich einzufordern. So wurde z. B. bereits 1948 ein Mindestlohngesetz verabschiedet, gleichwohl liegt die Bezahlung der informell Beschäftigten weit unter dem gültigen staatlichen geregelten Mindestlohn: „Die Bestimmungen der über 200 oder mehr Arbeitsgesetze, die durch die Zentrale und Einzelstaatsregierungen verabschiedet wurden, sind für diese Arbeiter nur papierene Verpflichtungen“ (Sinha 2004, S. 129). Die in der Tab. 5.13 dargestellten Strukturen haben sich bis in die 2010er Jahr erhalten. So wird für 2011/2012 der Anteil der formell Erwerbstätigen in Indien mit weiterhin nur 8,1 % angegeben (Srija und Shirke 2014, S. 41).

53Vgl.

Tendulkar (2003, S. 4 f.); nimmt man als Bezugsgröße nicht die (geschätzte) Gesamtzahl der Erwerbspersonen, sondern die (geschätzte) Gesamtzahl von Arbeitsverhältnissen, so gibt Tendulkar (2003, S. 18) einen Anteilswert von 14 % an: „If we define organised labour as contractual, regular and hired employment, it is confined to hardly 14 per cent oft he total of Indian labour force of 407 Mio. It is mainly urban and non-agricultural in composition.“

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

157

Tab. 5.13   Formeller und informeller Erwerb in Indien nach Sektoren (1961–2000) 1961

1983

1993–94

1999–2000

(a) Alle formell ET in % der 1. gesamten ET

6,41

7,93

7,32

6,98

2. gesamten nicht-agrarwirtschaftlichen ET

26,63

25,43

20,32

17,61

3. gesamten urbanen ET

45,74

40,84

33,61

29,69

4. gesamten nicht-agrarwirtschaftlichen, urbanen 53,10 ET

48,83

38,33

32,50

(b) ET des öffentlichen Sektors in % der 5. gesamten ET

3,74

5,44

5,20

4,80

6. gesamten nicht-agrarwirtschaftlichen ET

15,53

17,43

14,43

12,13

7. gesamten urbanen ET

26,67

28,00

23,87

20,45

8. gesamten nicht-agrarwirtschaftlichen, urbanen 30,96 ET

33,47

27,22

22,39

(c) Alle formell ET der verarbeitenden ­Industrie in % der 9. gesamten ET

18,93

18,85

14,88

13,80

10. urbanen ET der verarbeitenden Industrie

45,02

38,52

30,09

28,02

(d) ET des öffentl. Sektors der verarb. ­Industrie in % der 11. gesamten ET der verarb. Industrie

2,06

4,90

4,14

3,19

12. urbanen ET der verarb. Industrie

4,90

10,01

8,37

8,48

13. gesamten formell ET der verarb. Industrie

10,89

25,98

27,81

23,14

Anmerkung: 1. ET: Erwerbstätige setzten sich aus der geschätzten Anzahl der Beschäftigten mit voll- und teil-ökonomischen Status zusammen. Datenquellen: 1. Zähler basiert auf Angaben des ‚Directorate General of Employment and Training‘ des ind. Arbeitsministeriums. 2. Nenner basiert auf der Volkszählung von 1961 und der alle fünf Jahre stattfindenden nationalen Stichprobenerhebung Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Tendulkar (2003, S. 27)

Weil sich das indische Regime der Erwerbsregulierung durch eine ausgeprägte Dualität von formeller und informeller Beschäftigung auszeichnet, ist es sinnvoll, für beide Bereiche gesondert die jeweiligen relevanten Strukturen zu beschreiben. Bhattacherjee und Ackers (2010, S. 107) schlagen sogar eine Dreigliederung der indischen Wirtschaft vor: die informelle Wirtschaft, die ‚alte‘ formale Wirtschaft und die neue Wirtschaft vor allem der IT- und Dienstleistungsbranche. „Sogar diese

158

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Unterteilung vereinfacht sehr stark eine hochkomplexe Gesellschaft, die nach sehr vielen verschiedenen Beschäftigungsregimen funktioniert“ (ebd.). Unabhängig davon, ob man eine duale oder eine triadische Sichtweise der Wirtschafts- und Beschäftigungssektoren wählt, ist im Hinblick auf die formellen Beschäftigungsverhältnisse und die formell geltenden rechtlichen Bestimmungen insgesamt sehr wichtig, dass nicht zuletzt aufgrund der britischen Kolonialherrschaft in Indien eine Rechtstradition des Common Law vorherrscht. Hauptorientierungsrahmen der Rechtsprechung sind nicht die formalen Gesetze und daraus abgeleiteten Rechtsnormen, Rahmenregelungen oder Verordnungen, sondern ist die kasuistische Rechtsprechung, die als Referenz für (weitere) auftretende Rechtsstreitigkeiten dient. Im Vergleich zur Volksrepublik China wurde in Indien eine sehr große Anzahl von arbeits-, beschäftigungs- und partizipationsbezogenen Gesetzen verabschiedet, so etwa das Gesetz zu industriellen Konflikten 1947, das Unternehmensgesetz 1948, das Sozialversicherungsgesetz für öffentliche Angestellte von 1948, das Sonderzahlungsgesetz von 1965, das Kontraktarbeitsgesetz von 1970. Neben diesen bundeseinheitlichen Gesetzen wurden in den 28 Unionsstaaten und sieben Territorien darüber hinaus viele weitere erwerbsbezogene Gesetze verabschiedet. Neben dem bereits erwähnten Mindestlohngesetz von 1948, welches auf der Ebene der Unionsstaaten regelmäßig zur Anpassung der Mindestlohnhöhe – allerdings immer nur für den formellen Sektor der Beschäftigung – führt, sind auch die Arbeitszeiten rahmenrechtlich vorgegeben: Es herrscht gesetzlich generell eine Sechstagewoche von 48 h, für Büroangestellte beträgt die gesetzliche wöchentliche Arbeitszeit 35–40 h.54 Für die Wirklichkeit von Erwerbsarbeit ist wie bereits angedeutet wesentlich, dass für Indien in einem noch stärkeren Maße als für China die formalrechtlichen Vorgaben für abhängige Erwerbsarbeit nur für einen kleinen Teil aller Beschäftigten, nämlich diejenigen mit einem formalen Arbeitsverhältnis, gelten. Darüber hinaus ist damit selbst für dieses formalrechtlich privilegierte Zehntel aller Arbeitnehmer nur wenig über die tatsächliche Durchsetzungs- und Anwendungswirklichkeit dieser formellen Normen ausgesagt. Denn in der Praxis haben selbst die Beschäftigten des formellen Sektors große Schwierigkeiten zu überwinden, um formalrechtliche Ansprüche gerichtlich einzuklagen. Die ordentlichen indischen

54Vgl.

Factories Act von 1948, http://www.ilo.org/dyn/natlex/docs/WEBTEXT/32063/64873/ E87IND01.htm, hier Chapter VI; auch Sinha (2004) und allgemein für alle die Arbeitszeiten betreffenden Gesetzehttp://www.ilo.org/global/standards/subjects-covered-by-international-labour-standards/working-time/lang--en/index.htm.

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

159

Zivilgerichte sind – ähnlich wie die entsprechenden Stellen in China – völlig überlastet und unterbesetzt. Etwa zehn Richter sind im Durchschnitt für eine Million Einwohner zuständig (in Deutschland sind es etwa 250.55 Gerichtsverfahren können mitunter bis zu zehn Jahren dauern und Korruption spielt in Indien auch im Vergleich zu anderen asiatischen Ländern noch eine sehr große Rolle (Deutsche Bank 2005, S. 8 ff.). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Gesetz zu industriellen Konflikten von 1947 auch die Einrichtung von Arbeitskomitees (works committees) vorsah, die in Betrieben mit mehr als einhundert Beschäftigten auf Initiative des Managements eingerichtet werden können. Diese Arbeitskomitees sollen jeweils zur Hälfte aus Beschäftigten- und Managementvertretern bestehen und die direkte Kommunikation verbessern. Daneben haben sie auch die formelle Kompetenz, Vereinbarungen auf der Arbeitsbereichsebene abzuschließen (z. B. zu Fragen der Produktivitätsvorgaben, von Schicht- und Mehrarbeit oder Qualifizierung, vgl. Badigannavar 2006, S. 205). Ganz offensichtlich haben diese Arbeitskomitees in der Wirklichkeit der indischen Erwerbsregulierung nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung – sie spielen in den vorhandenen Analysen zur Entwicklung in Indien keine Rolle. Schon diese wenigen Hinweise unterstreichen, dass die Wirklichkeit der Beschäftigungs-, Arbeits- und Partizipationsbeziehungen in Indien – ähnlich wie in China – nicht mit den traditionellen Begriffen und Konzepten der Industrial-Relations-Forschung angemessen untersucht werden können. Deshalb wurden im vorhergehenden Kapitel sowohl ein erweiterter Rahmen von fünf Institutionen der Erwerbsstrukturierung als auch ein differenziertes Raster von neun Dimensionen der Erwerbsregulierung vorgeschlagen. Soziale Netzwerkbeziehungen haben für die Erwerbsarbeit und Erwerbsregulierung in Indien eine herausragende Bedeutung, sowohl für die Entwicklung von Lebensstrategien der Beschäftigten als auch für die Verwirklichung formaler Anspruchsrechte. Im Hinblick auf die Regulierungsarenen spielen die für Deutschland als dominant angesehenen Felder der tarifvertraglichen und der betrieblich-mitbestimmten Regulierung in Indien nur für einen sehr kleinen Teil aller Beschäftigten eine wichtige Rolle. Dagegen sind die individuellen Anspruchsrechte und ihre netzwerkförmige oder durch die Mobilisierung diskursiver Öffentlichkeit gestützte Durchsetzung von weitaus größerer Bedeutung.

55Vgl

Breyer (2006, S. 210) und http://lawcommissionofindia.nic.in/101-169/Report120.pdf.

160

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Tarifverhandlungen und Gewerkschaften Während also das öffentliche System der Arbeitsgerichtsbarkeit vorwiegend mit der Regulierung von individuellen Arbeitskonflikten befasst ist, verbleibt das Hauptgewicht der wirksamen Regulierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen bei den Gewerkschaften und ihren Verhandlungen mit den Unternehmen. Die indischen Gewerkschaften sind zum allergrößten Teil Betriebsgewerkschaften. Für 1979 wurden insgesamt 33 000 registrierte Betriebsgewerkschaften gezählt (Samuel und Wahsner 1987, S. 611). Für die Anerkennung und Registrierung dieser Betriebsgewerkschaften existieren keine klaren und transparenten Normen und Mechanismen. Solche Richtlinien bestehen in Ansätzen nur für die Registrierung der großen nationalen Gewerkschaftszusammenschlüsse. Diese werden ab einer Mitgliederzahl von 500 000 durch ein von der jeweiligen Regierung festgelegtes Verifikationsverfahren geprüft und gegebenenfalls als legitime Dachverbände registriert (Botterweck 1997, S. 509). Den auf diesem offiziellen Registrierungsmechanismus beruhenden Angaben zufolge waren im Jahre 1994 zehn nationale Dachverbände registriert (von denen allerdings nicht alle das Kriterium von mindestens 500 000 Mitgliedern in mindestens vier verschiedenen Wirtschaftszweigen erfüllten). Insgesamt wird die Rate gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter im formellen Sektor auf etwa 30 bis 40 % geschätzt (Botterweck 1997, S. 509 ff.; Samuel und Wahsner 1987, S. 611). Diese Rate ist jedoch großen regionalen und sektoralen Unterschieden unterlegen: Während in kommunistisch regierten Bundesstaaten fast 100 % der Mitarbeiter des verarbeitenden Gewerbes gewerkschaftlich organisiert sind, trifft dies in anderen Bundesstaaten nur auf nur einen sehr geringen Teil der Beschäftigten zu (vgl. Holtbrügge 2011, S. 212). Es ist jedoch anzumerken, dass der Organisationsgrad aufgrund mangelnder Offenlegung der Mitgliederzahlen seitens der Gewerkschaften nur sehr schwer zu bestimmen ist (vgl. DGB Bildungswerk 2008, S. 41). Die großen nationalen Dachverbände, die im Übrigen kaum in multinationalen Konzernen vertreten sind (DGB Bildungswerk 2008, S. 42), sind in der Regel mit jeweils einer politischen Partei oder parteipolitischen Richtung liiert. So stehen der All Indian Unit Congress der kommunistischen Partei, der Indian National Trade Union Congress dem rechten Flügel der Kongresspartei und der Hind Mazdoor Sabah dem sozialistischen Flügel der Kongresspartei nahe. Neben der erheblichen (partei-)politischen Zersplitterung der nationalen Gewerkschaften kommt für die betriebliche Interessenregulierung erschwerend hinzu, dass in einem Betrieb oder Unternehmen häufig mehrere Betriebsgewerkschaften existieren und miteinander konkurrieren. Dies gilt vor allem für die größeren Industrieunternehmen im städtischen Umfeld. Die Vertreter der einzelnen

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

161

Betriebsgewerkschaften sind in der Regel von außen bestellte Spezialisten, Gewerkschaftsfunktionäre oder Rechtsanwälte. Dies wird vor allem damit erklärt, dass in vielen Betrieben keine für die Interessenregulierung entsprechend qualifizierten und motivierten Beschäftigten zu finden sind, die sich ausreichend in den komplizierten Strukturen des öffentlichen Arbeitsgerichtsbarkeitssystems bewegen könnten; nicht selten fehlte noch vor zwei Jahrzehnten vielen Betriebsbeschäftigten sogar die Kenntnis der englischen Sprache (Samuel und Wahsner 1987, S. 611). Sinha (2004, S. 131 f.) gab für 1994 die Zahl von insgesamt 60 000 Betriebsgewerkschaften an. Dagegen meldete das Labour Bureau des nationalen Arbeitsministeriums für 2012 ‚nur‘ etwas mehr als 16 000 registrierte Gewerkschaften mit knapp 9,2 Mio. Mitgliedern an. Generell gilt für Indien ebenso wie für China, dass auch offizielle Zahlenangaben mit großer Vorsicht zu interpretieren sind.56 Insgesamt zieht Sinha (ebd., S. 132) eine eher kritische Bilanz zur Wirkungsfähigkeit der indischen Gewerkschaften: „Die Gewerkschaftsbewegung in Indien kann beschrieben werden als nur eine enge Mitgliedschaft repräsentierend, zersplittert nach politischen Richtungen und charakterisiert durch eine alternde Führung, zentralisierte Entscheidungsprozesse, ad hoc-Management, einen unprofessionellen Ansatz, obsolete Strategien, konfrontative Haltungen und eine fehlende Führungsriege der zweiten Reihe.“ Kollektivvereinbarungen werden entweder gemeinsam zwischen allen Betriebsgewerkschaften und dem Unternehmen oder für bestimmte Beschäftigtengruppen durch die Intervention der externen Experten abgeschlossen. Auch die Einhaltung der Abkommen wird von den externen Gewerkschaftsrepräsentanten gegen Geldleistungen überwacht. In vielen Unternehmen existieren überhaupt keinerlei Kollektivvereinbarungen, da weder das Gewerkschaftsgesetz von 1926, noch das Gesetz zur Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten von 1947 eine solche Pflicht zur Aushandlung und Definition der Erwerbsbedingungen enthalten (ebd., S. 612). Insgesamt sind laut Bhattacherjee und Ackers (2010, S. 114) nur rund zwei Prozent der Arbeitnehmer im formellen und informellen Sektor in Indien durch tarifvertragliche Regelungen abgesichert.

56Vgl.

zu den Zahlen für 2012 Labourbureau (2015), Tab. 1.1 (mit 4785 Gewerkschaften, die einen Jahresbericht abgegeben hatten) und Tab. 2.1, aus der hervorgeht, dass seit 2009 nur noch die Zahl derjenigen Gewerkschaften ausgewiesen wird, die über die entsprechenden Berichte der Bundesstaaten gemeldet worden waren, dies erklärt zumindest zum größten Teil den starken ‚Schwund‘ von 60 000 (bzw. in 2007 sogar knapp 96 000) auf 16 000 Gewerkschaften. Gerade bei betrieblichen Gewerkschaften dürfte die (jährliche) Berichtspflicht nicht eingehalten werden, sodass die Zahl von 16 000 wahrscheinlich zu gering ist.

162

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Für einzelne hochorganisierte Bereiche der Großindustrie (Großplantagen, Lebensversicherungsgesellschaften, Banken, petrochemische Industrie und Raffinerien, Hafenarbeiter) existieren brancheneinheitliche und landesweit gültige Tarifverträge. „Diesen Tarifverträgen fehlt aber die rechtliche Anerkennung und dementsprechend die Verbindlichkeit für die einzelnen Arbeitsverhältnisse. Ihre Wirksamkeit beruht allein auf dem Machtpotenzial der Gewerkschaft“ (ebd.). Hier ist anzumerken, dass die Rolle der Gewerkschaften als handlungsfähige Tarifpartner der Unternehmen im organisierten Sektor durch die stark regulative Rolle des Staates geschwächt wird (DGB Bildungswerk 2008, S. 46). Für den öffentlichen Dienst existieren staatliche Verordnungen, die die Regelung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durch Gesetze und Verordnungen dem Staat zuschreiben – in diesem Sektor haben Gewerkschaften also keine Verhandlungsfunktion (Botterweck 1997, S. 507 ff.). Schließlich existieren für einige der bereits genannten hochorganisierten Industriebereiche sogenannte All India Agreements, also für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge, die für alle öffentlichen und privaten Arbeitgeber in den betreffenden Branchen Gültigkeit haben (ebd.). Angesichts der skizzierten Verhältnisse nimmt es nicht Wunder, dass die Anzahl von Arbeitskämpfen in Indien durchaus hoch ist. Für 1992 gibt Botterweck (1997, S. 508) die Zahl von 1034 Streiks und 703 registrierte Aussperrungen an. Bei einem genaueren Blick auf die Entwicklung des indischen Regimes der Erwerbsregulierung werden allgemein vier Phasen unterschieden, die sich stark an den Fünfjahresplänen der jeweiligen indischen Regierungen orientieren (­Bhattacherjee 1999, 2001; Bhattacherjee und Ackers 2010). Die erste Phase reicht nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1947 vom ersten bis zum dritten Fünfjahresplan (1951–1966). Während dieser stark von einer nachholenden und staatlich gelenkten Importsubstitutionspolitik bestimmten Periode entstanden große beschäftigungsintensive Unternehmen, vor allem im Grundstoffe- und Investitionsgüterbereich. Neben wichtigen öffentlichen Unternehmen konnten sich auf dem vor ausländischer Konkurrenz geschützten Binnenmarkt auch große private Konzerne im Produktions-, Dienstleistungs-, Transport- und Erziehungsbereich entwickeln (z. B. die Tata-Gruppe, vgl. Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 107 f.). Neben dem bereits vor der Unabhängigkeit Indiens aktiven und kommunistisch orientierten All India Trade Union Congress (AITUC) entwickelte sich während dieser ersten Phase vor allem der Indian National Trade Union Congress (INTUC) sehr stark – nicht zuletzt, weil er der regierenden Kongress-Partei nahesteht (vgl. Botterweck 1997, S. 508 f.). Da wie bereits erwähnt die arbeitsrechtlichen Bestimmungen (vor allem des Gesetzes zu industriellen Konflikten von 1947) keine Mechanismen vorsahen, um die

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

163

für einen Betrieb bzw. eine arbeitsrechtliche Unternehmenseinheit zuständige Gewerkschaft zu bestimmen, blockierten sich in vielen Bereichen die großen Gewerkschaftsverbände AITUC und INTUC gegenseitig. „[…] da Arbeitgeber gesetzlich nicht verpflichtet waren, mit Gewerkschaften Verträge auszuhandeln, gab es keine eingebauten Anreize für eine der beteiligten Seiten, sich für die Aushandlung von Tarifverträgen zu engagieren“ (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 108; vgl. Bhattacherjee 2001, S. 249 f.). Die zweite Phase in der Entwicklung der indischen Erwerbsregulierung wird durch die beiden Fünfjahrespläne 1969–1974 und 1974–1979 gekennzeichnet. In dieses Jahrzehnt fallen die beiden weltweit bedeutsamen Erdölkrisen von 1973 und 1978, die auch in Indien ihre Spuren hinterließen, und eine allgemeine Stagnation des wirtschaftlichen Wachstums. Entlassungen, wachsende Arbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne führten zu einer Intensivierung von Arbeitskonflikten. Dies zeigt sich sowohl an der Gesamtzahl an Streiks und Aussperrungen (Tab. 5.15), als auch an den durch Arbeitskonflikte verlorenen Arbeitstagen (Tab. 5.14 und 5.15).57 Während in der ersten Entwicklungsphase eine Politik der tripartistischen Koordination unter staatlicher Regie bei einer vergleichsweise pluralistischen (an den wichtigen politischen parteipolitischen Strömungen orientierten) Gewerkschaftslandschaft bestimmend war, versuchte der indische Staat in der zweiten Periode, eher bi-partistische Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden anzuregen (so z. B. mit dem National Apex Body, der aus zwölf Gewerkschaftsföderationen und elf Arbeitgeberrepräsentanten bestand, vgl. Bhattacherjee 1999, S. 10). Als Ergebnis der – durchaus staatlich geförderten – Pluralisierung der Gewerkschaftsverbände vertiefte sich unter den Krisenbedingungen und wegen fehlender Koordinierungsmechanismen die Fraktionierung zwischen den verschiedenen Gewerkschaften. Während einige eher staatsnahe Gewerkschaften die Krisenanpassungsmaßnahmen mittrugen, orientierten andere auf militantere Aktionen vor allem auf der betrieblichen Ebene. Insgesamt wuchs die Anzahl der registrierten Gewerkschaften und der Gewerkschaften, die Angaben über ihre Mitgliedschaftsstärke gemacht hatten, bis zum Ende der zweiten Entwicklungsphase im Jahre 1979 relativ stetig an (vgl. Bhattacherjee 1999, S. 22 und Tab. 5.16). Gleichzeitig wuchs aber die

57Leider

liegen die Angaben zu den durch Arbeitskonflikte verlorenen Arbeitstagen nur in der Form gruppierter Jahreszeiträume vor, die nicht mit den hier unterschiedenen Zeitschnitten der vier Perioden der Entwicklung des indischen Erwerbsregulierungsregimes übereinstimmen. Insofern müssen die Daten der Tab. 5.12 und 5.13 zusammengenommen interpretiert werden. Ausführlichere Sekundäranalysen der amtlichen Statistiken und anderer Daten wären hier hilfreich.

164 Tab. 5.14  Durch Streik und Aussperrung verlorene Arbeitstage/100 000 Beschäftigte

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern Jahr

Streik

Aussperrung

1961–65

3.0

12.8

1966–70

5.1

17.2

1971–75

7.2

16.7

1975–80

7.1

28.0

1981–85

16.1

44.5

1986–90

9.5

44.2

1990

7.3

36.6

1991

9.7

26.8

1992

15.0

22.9

1993

6.1

30.7

1994

8.2

36.5

1995

7.8

31.6

1996

10.2

30.9

1997

7.9

20.8

1998

14.1

29.4

1999

19.7

41.8

2000

23.3

48.6

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: ­Tendulkar (2003, S. 27); die Tabelle beruht auf freiwilligen Angaben der Betriebe und betrifft Arbeitsniederlegungen, in die mindestens 10 Beschäftigte direkt und/oder indirekt involviert waren und die politische oder Sympathiestreiks o. ä. waren; für 1961 bis 1990 wurden jeweils die Durchschnittswerte für die angegebenen Zeiträume berechnet; für 2000 Schätzungen

durchschnittliche Mitgliederzahl der Gewerkschaften nicht in ähnlichem Ausmaß: Die Vielfalt und Zersplitterung des indischen Gewerkschaftswesens wird als ein Kennzeichen dieser Etappe herausgestellt, die es fast unmöglich machte, kollektive Verhandlungsmacht in einer Krisensituation aufzubauen. Eine wichtige Ausnahme ist hier der öffentliche Sektor, in dem es den wenigen beherrschenden Gewerkschaften gelang, substanzielle Lohnzusatzleistungen auszuhandeln (Bhattacherjee 1999, S. 11). Die dritte Entwicklungsphase der Erwerbsregulierung in Indien (1980–1991) lässt sich als Periode der Herausforderung und partiellen Erosion traditioneller

Phase 1 (1950 bis 1960er) 772 840 1166 1203 1630 1524 1531 1583 1357

1240

1396

1364

1981

1697

1953

1954

1955

1956

1957

1958

1959

1960

1961

1962

1963

1964

1965

138

170

107 1835

2151

1471

1491

963

1952

95

1071

117

814

1951

889

876

491

575

432

102

127

72

130

80

991

1003

563

705

512

986

694

929

889

715

528

477

467

809

691

720

Aussperrungen Gesamt

Streiks

Streiks

Aussperrungen Gesamt

Anzahl in Arbeitskonflikte involvierter Beschäftigter

Anzahl Arbeitskonflikte

1950

Jahr

Tab. 5.15  Entwicklung von Arbeitskonflikten (Indien 1950–1996)

4617

5724

2229

5059

2969

Streiks

1853

2001

1040

1062

1950

(Fortsetzung)

6470

7725

3269

6121

4 919

6537

5633

7798

6429

6992

5698

3373

3383

3337

3819

12 807

Aussperrungen Gesamt

Anzahl durch Arbeitskonflikte ­verlorener Arbeitstage (in Tsd.)

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien 165

Phase 2 (Mitte 1960er bis 1979)

2433

2451

2344

2598

2478

2857

2958

2501

1644

1241

2691

2762

2709

1967

1968

1969

1970

1971

1972

1973

1974

1975

1976

1977

1978

1979

339

425

426

218

299

428

421

386

274

291

283

325

382

3048

3187

3117

1459

1943

2929

3370

3243

2752

2889

2627

2776

2815

2556

2714

1690

1912

550

1033

2710

2358

1475

1476

1552

1687

1465

1340

1262

159

226

281

186

111

145

187

262

139

276

140

204

151

148

2873

1916

2193

737

1144

2855

2546

1737

1615

1828

1827

1669

1491

1410

Aussperrungen Gesamt

Streiks

203

Aussperrungen Gesamt

Streiks

2353

Anzahl in Arbeitskonflikte involvierter Beschäftigter

Anzahl Arbeitskonflikte

1966

Jahr

Tab. 5.15   (Fortsetzung)

35 804

15 423

13 410

2799

16 706

33 643

13 862

13 748

11 803

14 749

15 477

11 078

10 565

10 377

Streiks

8050

12 917

11 910

9947

5195

6619

6764

6796

4743

5814

3571

6166

6583

3469

(Fortsetzung)

43 854

28 340

25 320

12 746

21 901

40 262

20 626

20 544

16 546

20 563

19 048

17 244

17 148

13 846

Aussperrungen Gesamt

Anzahl durch Arbeitskonflikte ­verlorener Arbeitstage (in Tsd.)

166 5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Phase 3 (1980 bis 1991)

2501

2245

2029

1993

1689

1355

1458

1348

1304

1397

1459

1278

1981

1982

1983

1984

1985

1986

1987

1988

1989

1990

1991

532

366

389

441

451

434

400

405

495

454

344

355

1810

1825

1786

1745

1799

1892

1755

2094

2488

2483

2589

2856

872

1162

1158

937

1495

1444

878

1261

1661

470

146

206

254

275

200

201

327

239

1342

1308

1364

1191

1770

1644

1079

1949

1461

1469

1588

1900

Aussperrungen Gesamt

Streiks

Streiks

Aussperrungen Gesamt

Anzahl in Arbeitskonflikte involvierter Beschäftigter

Anzahl Arbeitskonflikte

1980

Jahr

Tab. 5.15   (Fortsetzung)

12 428

10 640

10 695

12 530

14 026

18 824

11 487

21 208

12 018

Streiks

14 000

13 446

21 968

21 417

21 332

13 925

17 753

15 375

9907

(Fortsetzung)

26 428

24 086

32 663

33 947

35 358

32 749

29 240

56 025

46 858

74 615

36 583

21 925

Aussperrungen Gesamt

Anzahl durch Arbeitskonflikte ­verlorener Arbeitstage (in Tsd.)

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien 167

334

1066

1201

1305

732

1995

393

1393

1714

1997

808

1994

479

703

1166

914

1993

1996

1011

1992

683

626

672

767

307

220

282

485

17 033

16 290

20 983

20 301

31 259

981

10 570

14 332

14 686

16 127

Aussperrungen Gesamt

20 285

5720

6651

5615

15 132

Streiks

Anzahl durch Arbeitskonflikte ­verlorener Arbeitstage (in Tsd.)

939

990

846

954

1252

Aussperrungen Gesamt

Streiks

Streiks

Aussperrungen Gesamt

Anzahl in Arbeitskonflikte involvierter Beschäftigter

Anzahl Arbeitskonflikte

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Bhattacherjee (1999, S. 44)

Phase 4 (1992 bis 2000)

Jahr

Tab. 5.15   (Fortsetzung)

168 5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

11 614

11 827

11 984

13 023

1961–62

1962–63

1963–64

1964–95

10 811

11 312

1959–60

1960–61

10 045

10 228

1957–58

8554

1956–57

1958–59

6658

8095

1954–55

1955–56

4934

6029

1952–53

1953–54

3766

4623

1950–51

1951–52

3522

1949–50

Phase 1 (1950 bis 1965)

Anzahl registrierter Gewerkschaften

Jahr

Phasen der gewerkschaftl. Organisation

7543

7250

7251

7087

6813

6588

6040

5 520

4399

4007

3545

3295

2718

2556

2002

1919

Anzahl Gewerkschaften, die Mitgliedsbeiträge deklarieren

57.9

60.5

61.3

61.0

60.2

60.9

59.1

55.0

51.4

49.5

53.2

54.7

55.1

55.3

53.2

54.5

Anteil Gewerkschaften, die Mitgl.- beiträge deklarieren

Tab. 5.16   Entwicklung registrierter Gewerkschaften und Mitglieder 1949–1993

4113

3628

3335

3607

3618

3532

3255

2682

2097

2034

1940

1925

1936

1847

1649

1689

353

349

347

370

395

391

392

332

280

240

229

176

157

136

106

120

4446

3977

3682

3977

4013

3923

3647

3015

2377

2275

2170

2113

2099

1996

1757

1809

Männer Frauen Gesamt

Anzahl Gewerkschaftsmitglieder in Gewerkschaften, die Mitgliedsbeiträge deklarieren (in Tausend)

594

548

508

561

589

596

604

546

540

568

612

641

772

781

577

949

(Fortsetzung)

Durchschnittsmitgl.zahl für Gew. mit dekl. Mitgl. beiträgen

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien 169

29 438

29 350

30 810

32 361

1975

1976

1977

1978

26 788

28 648

1973

1974

22 484

24 436

1971

20 879

1970

1972

16 716

18 837

1968

1969

14 686

15 314

1966

1967

13 248

1965

Phase 2 (1965 bis 1979)

Anzahl registrierter Gewerkschaften

Jahr

Phasen der gewerkschaftl. Organisation

Tab. 5.16   (Fortsetzung)

8727

9003

9778

10 324

9800

9853

9074

9029

8537

8423

8851

7523

7244

6932

Anzahl Gewerkschaften, die Mitgliedsbeiträge deklarieren

27.0

29.2

33.3

35.1

34.2

36.8

37.1

40.2

40.9

44.7

52.9

49.1

49.3

52.3

Anteil Gewerkschaften, die Mitgl.- beiträge deklarieren

5771

5548

6090

6063

5715

6103

4889

5 083

4699

4546

4700

4 197

4078

3 565

433

486

422

488

475

477

451

387

421

355

421

329

314

223

6203

6034

6512

6550

6190

6580

5340

5470

5120

4900

5121

4525

4392

3788

Männer Frauen Gesamt

Anzahl Gewerkschaftsmitglieder in Gewerkschaften, die Mitgliedsbeiträge deklarieren (in Tausend)

711

670

666

634

632

668

589

606

600

582

579

602

606

546

(Fortsetzung)

Durchschnittsmitgl.zahl für Gew. mit dekl. Mitgl. beiträgen

170 5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

55 680

55 784

1992

1993

52 016

53 535

1990

1991 6806

9165

8418

8828

9758

8730

11 063

11 365

7815

6451

6844

5044

6682

4432

10 021

Anzahl Gewerkschaften, die Mitgliedsbeiträge deklarieren

12.2

16.5

15.7

16.97

18.7

17.4

22.4

24.8

17.3

15.1

17.6

13.2

17.8

12.1

29.1

Anteil Gewerkschaften, die Mitgl.- beiträge deklarieren



5148

5507

6181

8207

6334

7211

7368

5831

4707

5011

2822

5012

3509

6915



598

594

838

1088

739

748

819

602

443

406

177

385

218

559

Männer Frauen Gesamt

3134

5746

6100

7019

9295

7073

7959

8187

6433

5150

5417

2999

5397

3727

7474

Anzahl Gewerkschaftsmitglieder in Gewerkschaften, die Mitgliedsbeiträge deklarieren (in Tausend)

460

627

725

795

953

810

719

720

823

798

792

595

808

841

746

Durchschnittsmitgl.zahl für Gew. mit dekl. Mitgl. beiträgen

Quelle: Eigene Übersetzung und Anpassung aus: Bhattacherjee (1999, S. 43); die Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder stimmt nicht immer mit den für Männer und Frauen angegeben Zahlen überein

Phase 4 (1992 bis 2000)

50 048

52 210

1988

1989

45 830

49 329

1986

1987

42 609

45 067

1984

38 935

1983

1985

37 539

38 313

1981

1982

34 430

36 507

1979

Phase 3 (1980 bis 1991)

Anzahl registrierter Gewerkschaften

1980

Jahr

Phasen der gewerkschaftl. Organisation

Tab. 5.16   (Fortsetzung)

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien 171

172

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

Machtarrangements angesichts fortwährender Wirtschaftskrise und beginnendem Abrücken vom traditionellen Modell der Importsubstitution charakterisieren. Zwei national relevante Arbeitskonflikte sind symptomatisch für diese Veränderungen. Ein Arbeitskampf 1980/1981 in den großen Unternehmen des öffentlichen Sektors in Bangalore, in dem es vordergründig auch um Fragen der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ging, thematisierte letztlich die Gültigkeit des alten Systems von kollektiv regulierten und relativ privilegierten Erwerbsbedingungen in einem von Wettbewerb weitgehend abgeschotteten Wirtschaftsbereich. Bezüglich des Bombay-Textilstreiks von 1982 betonen: „Was als Lohn- und Bonuszahlungs-Thema in einigen Textilfabriken Ende 1981 begann, entwickelte sich bald zu einem industrieweiten Streik, der letztlich der längste in der Arbeitsgeschichte seit der Unabhängigkeit wurde“ (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 110). Der zweite relevante Arbeitskonflikt begann im Jahre 1981 in der Textilindustrie Mumbais als eine Auseinandersetzung über Lohnhöhe und Bonuszahlungen. Er entwickelte sich dann zu einem Konflikt um die Gültigkeit eines entsprechenden Arbeitsgesetzes von 1947 (Bombay Industrial Relations Act), durch das eine vergleichsweise unbedeutende, dem INTUC angehörende Gewerkschaft die exklusiven Kollektivverhandlungsrechte für die gesamte Textilindustrie Bombays erhalten hatte (Bhattacherjee 1999, S. 12). Gegen diese durch politische Verhandlungen und staatliche Regulierungen gesetzten Verhandlungsmonopole organisierte sich der Widerstand der Beschäftigten an der Basis. Eine wichtige im Verlauf dieser Streikbewegung entwickelte Forderung, nämlich die nach Gründung neuer unabhängiger Gewerkschaften, kann ebenso wie der Konflikt im öffentlichen Sektor Bangalores als ein Ausdruck der Krise der vorherrschenden Spielregeln der Erwerbsregulierung selbst angesehen werden. Dieser längste Arbeitskonflikt in der indischen Geschichte seit der Unabhängigkeit endete 1983 mit einer Niederlage für die Beschäftigten. Insgesamt zeichnet sich diese dritte Phase durch „wachsende inter-­ regionale, inter-staatliche und inter-städtische Unterschiede im System der Arbeit-ManagementBeziehungen aus“ (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 110). Angesichts einer weiter zunehmenden Differenzierung der Produktivitäts-, Technologie- und Wettbewerbsniveaus zwischen verschiedenen Branchen, Regionen und Unternehmenstypen wurde der Druck auf eine stärkere Aufsplitterung auch der Mechanismen der Erwerbsregulierung immer größer. Während für Beschäftigungen mit geringen Qualifikationsanforderungen ein fast unendlicher Arbeitsmarkt bestand, wiesen Beschäftigungssegmente für Hochqualifizierte Probleme auf, überhaupt stabile und qualifizierte Belegschaften aufzubauen (Kuruvilla und Ranganathan 2008, S. 53 f.). Der Trend zu neuen, von den großen, jeweils mit politischen Parteien liierten Gewerkschaftsföderationen unabhängigen Gewerkschaften war besonders stark in

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

173

den sich herausbildenden Zonen hochkompetitiver moderner Unternehmen, in denen die Beschäftigten höhere ‚Effizienzlöhne‘ einforderten (Bhattacherjee 1999, S. 16). Das seit der Unabhängigkeit in Indien verfolgte Modell der Erwerbsregulierung zeigte zunehmend seinen strukturellen Widerspruch: Einerseits wollte der Staat traditionell eine führende Rolle im Entwicklungsprozess und auch in der Erwerbsregulierung einnehmen, andererseits sollte ein Gewerkschaftspluralismus und ein unabhängiges System bilateraler Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern installiert werden. Angesichts der internen (Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit, zunehmende soziale Disparitäten etc.) und externen (Globalisierung, internationaler Druck auf Öffnung der Märkte etc.) Herausforderungen drängten verschiedene Kräfte auf grundlegende Richtungsentscheidungen. Ein entscheidender Einschnitt nicht nur in der Entwicklung der Erwerbsregulierung, sondern der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Indiens insgesamt ist die Annahme eines von der Weltbank und dem Weltwährungsfonds verordneten Stabilisierungs- und strukturellen Anpassungsprogramms durch die Minderheitenregierung im Jahre 1991. Wie auch in anderen sich spät industrialisierenden Ländern war hiermit eine drastische Abwertung der indischen Während, eine Reduktion der staatlichen Ausgaben sowie eine Öffnung der indischen Märkte für ausländische Waren verbunden. Der Beginn der vierten Phase in der Entwicklung des Regimes der Erwerbsregulierung wird entsprechend auf das Inkrafttreten des achten Fünfjahresplans 1992 datiert. Der wirtschaftliche Fortschritt nahm eine sehr ungleiche Entwicklung: In einigen Entwicklungspolen wie Bangalore boomten international ausgerichtete Dienstleistungsindustrien, wurden in hochqualifizierten Wissenssektoren für kleine Minderheiten von Angestellten vergleichsweise hohe Gehälter gezahlt; in den gleichen städtischen Agglomerationen und in den ländlicheren Regionen lebte und lebt die Mehrheit der Erwerbstätigen in informeller und vorwiegend prekärer Arbeit. Insgesamt erlebt Indien in dieser letzten Entwicklungsperiode eine starke Differenzierung und Relativierung der wichtigsten Regelungsarenen, kollektiven Akteure und Niveaus der kollektiven Erwerbsregulierung. Der in Indien seit seiner Unabhängigkeit verfolgte Versuch, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verbesserung für alle durch eine Mischung aus koordinierendem Entwicklungsstaat und mehr oder weniger liberal-autonomen Kollektivverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern mit einer zwischen populistisch-korporatistisch und sozialpartnerschaftlich schwankenden Ideologie zu erreichen, scheiterte in dieser vierten Phase für alle beteiligten Akteursgruppen. Die traditionellen zentralisierten Gewerkschaftsverbände erwiesen sich als unfähig, auf die Erwartungen ihrer zunehmend differenzierteren Klientelgruppen einzugehen. Es entstanden vielfältige neue dezentralisierte unabhängige Gewerkschaften, deren Ausprägung

174

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

von arbeitgebernahen ‚gelben‘ Verbänden bis hin zu basisdemokratischen und konfliktbereiten Gruppen reicht. Daneben übernahmen nicht gewerkschaftlich orientierte zivilgesellschaftliche Gruppen zunehmend Interessenvertretungsfunktionen gerade für die Marginalisierten. Gleichzeitig konnte der Staat nicht mehr seine starke und koordinierende Rolle bei der Garantie von Mindestbedingungen in den Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen behaupten (Budhwar 2003, S. 135 f.). Er sah sich unter dem dreifachen Druck erstens internationaler Konzerne und Organisationen wie dem Weltwährungsfond, die eine stärkere Öffnung des Landes und eine Rücknahme der Staatsinterventionen forderten, zweitens der nationalen Unternehmerund Eigentümergruppen, deren Existenz durch die Globalisierung stark infrage gestellt wurde, und drittens der divergierenden Arbeitnehmergruppen, die je nach Arbeitsmarktlage und politischer Orientierung entweder zurück zum geschützten öffentlichen Sektor und der nationalen Wirtschaft oder weiter zum völlig liberalisierten ‚Dschungelkapitalismus‘ strebten. Angesichts dieser komplizierten (Blockade-)Situation kam es zu keinen wirklichen Veränderungen im Regime der Erwerbsregulierung: „Differenzen innerhalb der zentralisierten Gewerkschaften, politischen Parteien und staatlichen Regierungen haben die Durchführung von Reformen der Industriellen Beziehungen unendlich verzögert. Das Fehlen eines Konsenses und die politische Instabilität seit 1992 […] verweisen auf einen Mangel an politischem Willen zu dieser Reform. Eine beunruhigende Konsequenz […] ist der zukünftige Effekt auf die regionalen Arbeitsmärkte und Arbeitsbeziehungen insgesamt angesichts verschärfter inter-staatlicher Konkurrenz um lokales und ausländisches Kapital. Ohne nationale Reformen könnten verschiedene Staaten versuchen, ihre Arbeitsmarktinstitutionen durch angebotene Investitionsanreize nach unten zu drücken“ (Bhattacherjee 1999, S. 19).

Im Jahre 1999 wurde eine Nationale Arbeitskommission eingesetzt, deren Aufgabe es war, eine „Rationalisierung der bestehenden Gesetze im Hinblick auf Arbeit im organisierten Sektor und zweitens eine Rahmengesetzgebung vorzuschlagen‚ durch die Mindestarbeitsstandards für die Arbeiter des unorganisierten Sektors gesichert werden sollten“ (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 115). In ihrem Bericht empfahl die Kommission im Jahre 2002 unter anderem, das Anerkennungsverfahren für Gewerkschaften in Richtung jeweils nur einer für Kollektivverhandlungen zuständigen Gewerkschaft zu verändern und ‚illegale‘ Streikaktionen stärker zu sanktionieren (ebd.). Welche tatsächlichen Veränderungen sich aus diesen Vorschlägen entwickeln, muss Gegenstand intensiver weiterer Forschungen sein; dabei wird immer wieder auch auf die mögliche Rolle neuer zivilgesellschaftlicher Akteure hingewiesen.

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

175

Neue, zivilgesellschaftliche Formen der Erwerbsregulierung? Neben den beschriebenen Verhältnissen im informellen und formellen Sektor der Wirtschaft und den hierbei relevanten Hauptakteursgruppen müssen auch einige alternative Mechanismen der Erwerbsregulierung erwähnt werden. Vor allem für den Bereich der informellen Beschäftigten haben sich in Indien eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen entwickelt, die vor allem in Themenbereichen wie Nichtbezahlung von Löhnen, Abschaffung der Kinderarbeit, Migration, Zwangsumsiedlung, HIV/Aids, städtische Entwicklung oder Arbeitsrechtsreformen aktiv sind (Sinha 2004, S. 132 f.). Wichtige dieser NGOs sind etwa die Self Employed Women Association (SEWA) und die Sustainable Environment and Ecological Developments Society (SEEDS). Viele dieser Organisationen arbeiten mit dem National Center for Labour (NCL) zusammen, welches am 1. Mai 1995 gegründet wurde, um die erwerbsbezogenen Aktivitäten von Gewerkschaften und NGOs zu unterstützen (Sinha 2004, S. 133 f.). Eine andere interessante Entwicklung ist die Gründung der aus verschiedenen unabhängigen Verbänden bestehenden New Trade Union Initiative (NTUI) im Jahr 2001. NTUI versucht, sowohl im formellen als auch im informellen Sektor Beschäftigte zu organisieren und konnte im Jahr 2006 auf einer nationalen Konferenz 200 Verbände mit insgesamt rund 500 000 Arbeiternehmern repräsentieren. NTUI verhandelt mit Arbeitgebern und dem Staat über Themen wie Tarifverhandlungen, aber auch andere Aspekte der Erwerbsregulierung (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 115). So werden z. B. auch Kampagnen und Arbeitskämpfe für die Einführung bzw. Änderung von Arbeitsrechtsgesetzen organisiert. Anfang der 2010er Jahre waren Themenschwerpunkte auf lokaler und nationaler Ebene verschiedene Kampagnen, vor allem für die Einführung einer allgemeinen Sozialversicherung (Universal Social Security), für das Vereinigungsrecht (Right to Association), für Arbeits- und Gesundheitsschutz (Occupation Health and Safety) und für einen Mindestlohn (Minimum Wage).58 Diese Organisationen werden häufig durch ehemalige Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Sozialarbeiter und andere ‚professionals‘ begründet. Vor allem durch ihre auf persönliche Netzwerke basierende Arbeitsweise weisen sie eine effiziente Ressourcennutzung und dezentral an die jeweiligen Problemschwerpunkte angepasste Aktivitäten auf. Diese NGOs genießen aber bisher auf der Ebene politischer Entscheidungsprozesse keine formelle Anerkennung. Auch die offiziellen Gewerkschaften stehen ihnen eher skeptisch gegenüber, da diese

58Vgl.

http://ntui.org.in/ntui.

176

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

einen Verlust der Kontrolle über bestimmte Themenbereiche befürchten. Ob Initiativen wie die Gründung des NCL oder NTUI hier eine nachhaltige Veränderung bewirken können, bleibt abzuwarten. Während diese neuen Formen erwerbsbezogener Organisierung und Aktivitäten vor allem auf den unteren Bereich der Beschäftigtenpyramide im Hinblick auf Qualifizierungs- und Bezahlungsniveaus abzielen, stellt sich die Frage kollektiver Erwerbsregulierung theoretisch auch für den immer größer werdende Bereich der ICT-Services, also der Informations- und Kommunikationstechnologie.59 Allerdings ist in Indien – ähnlich wie in allen anderen Ländern – die Bereitschaft der Beschäftigten dieses Sektors, sich gewerkschaftlich zu organisieren und/ oder auf rechtliche bzw. kollektive Regulierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu drängen, im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren gering (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 114). Dies hängt auch in Indien mit der von den Beschäftigten wahrgenommenen oder unterstellten eigenen Verhandlungsstärke im Sinne von Primärmacht in den Erwerbsbeziehungen zusammen (vgl. die Abschn. 2.2 und 4.4). Ähnlich wie im Falle der Volksrepublik China bringt auch für Indien die Globalisierung gewaltige Herausforderungen mit sich. Zwar erfüllt Indien in stärkerem Maße als China die formal-rechtlichen Auflagen und Bestimmungen etwa der ILO-Mindeststandards und die erwerbsbezogenen Kriterien anderer internationaler Verträge. Gleichwohl ist in Indien die Wirklichkeit der Erwerbsarbeit extrem weit von diesen Bestimmungen entfernt. Die Vereinigungen der indischen Arbeitgeber spielen eine nur untergeordnete Rolle, sodass für ein funktionierendes System kollektivvertraglicher Regulierung auf der überbetrieblichen Ebene wichtige Voraussetzungen nicht gegeben sind. Die extreme Dezentralisierung und Zersplitterung des Gewerkschaftswesens und die starken Unterschiede zwischen einigen hochregulierten Bereichen und der großen Mehrheit der (informellen) Erwerbsverhältnisse werden in keiner Weise durch ein auch nur einigermaßen funktionstüchtiges System unabhängiger Arbeitsgerichtsbarkeit kompensiert. Zusammengefasst lässt sich Indien durch eine polarisierte Struktur der Erwerbsregulierung kennzeichnen: Große Bereiche von Erwerbsarbeit – die informelle Arbeit und die Arbeit in kleineren privaten Betrieben – sind durch fast anarchische Zustände im Hinblick auf die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen gekennzeichnet;

59Vgl.

zum Wachstum des ICT-Sektor in Indien allgemein OECD (2010, S. 9 ff.) und zum Beschäftigungswachstum, das sich für den Sektor z. B. von 2004 bis 2007 auf 1,63 Mio. fast verdoppelte (ebd., S. 25 ff.).

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

177

gleichzeitig gelten für die öffentliche Verwaltung und für großbetriebliche industrielle Kernsektoren Kollektivvereinbarungen mit – im Verhältnis zum Rest der Beschäftigten – durchaus erheblichen kollektiven Anspruchsrechten und starken Gewerkschaften, die über Dachverbände in das nationale System der politischen Einflussnahme eingebunden sind. Entwicklungsperspektiven der Erwerbsregulierung in Indien Durch die Politik der Privatisierung und wirtschaftlichen Öffnung gerät nun diese polarisierte Erwerbsstruktur weiter unter Veränderungsdruck. Im Bereich der ehemals privilegierten industriellen Kernsektoren und öffentlichen Verwaltung sehen sich die Beschäftigten in zunehmendem Ausmaß der Konkurrenz durch internationale und private Anbieter ausgesetzt. Im großen Bereich der informellen Beschäftigung sind für breite Teile der Beschäftigten keinerlei Perspektiven auf dauerhafte menschliche Erwerbsverhältnisse, auf decent work, erkennbar. In einer Bilanzierung des indischen Entwicklungsweges und auf Basis einer Auswertung der World Development Indicators kommen Müller und Rauch 2008 zu einer sehr ambivalenten Bewertung. Viele makroökonomische Entwicklungsindikatoren wie etwa das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung, die BIP-Wachstumsraten oder die Lebenserwartung haben sich in den letzten 45 Jahren durchaus sehr positiv entwickelt (Tab. 5.17). Gleichzeitig aber haben sich wichtige Sozialindikatoren negativ entwickelt, was darauf schließen lässt, dass die wirtschaftliche Dynamik Indiens an einem sehr großen Teil der Bevölkerung bisher vorbeigegangen ist. So ist der Anteil der Bevölkerung mit weniger als 1 US$ pro Tag von 46 % im Jahre 1987 zwar auf 34 % im Jahre 2004 zurückgegangen. Gleichzeitig blieb aber der Anteil der Bevölkerung mit weniger als 2 US$ pro Tag mit 87 % (1987) bzw. 80 % (2004) Tab. 5.17   Sozio-ökonomische Entwicklungskennziffern 1960–2005 1960–1969

1970–1979

1980–1989

1990–1999

2000–2005

BIP (in Mrd. US$) 47,86

97,53

231,05

343,90

591,60

BIP (in Mrd. US$, keine Daten kaufkraftbereinigt)

318,97

709,18

1 631,54

2 980,00

BIP-Wachstumsrate 3,99 %

2,93 %

5,89 %

5,70 %

6,49 %

BIP pro Kopf (in keine Daten US$, kaufkraftber.)

494,86

923,56

1 749,90

2 812,83

Lebenserwartung

50,83 Jahre

55,85 Jahre

60,73 Jahre

63,27 Jahre

45,94 Jahre

Quelle: Müller und Rauch (2008, S. 10)

178

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

während der Zeit wirtschaftlicher Öffnung und beschleunigten Wachstum auf fast gleichem und erschreckend hohem Niveau (Müller und Rauch 2008, S. 10). „Trotz aller Erfolge muss konstatiert werden, dass das Land in den sechs Jahrzehnten nicht fähig war, sich aus seiner Armut zu befreien“ (Imhasly 2008, S. 15). Das historisch gewachsene ‚offizielle‘ System der Erwerbsregulierung hat bisher weder auf die Herausforderungen der Privilegienverteidigung noch auf den Umstand der weitgehenden Unwirksamkeit der bestehenden Regulierungsmechanismen für die Mehrheit der Erwerbstätigen reagiert. Die Basisinitiativen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten mit ihren stark an diskursiven Einflusslogiken orientierten Regulierungsstrategien sind bisher zu schwach, um stilbildend auf das nationale Regime der Erwerbsregulierung einzuwirken. In einem Sonderheft der Zeitschrift Industrial Relations Journal betonen dessen Herausgeber, aufgrund der Komplexität und Variation der Beschäftigungsbeziehungen nach Sektoren und Regionen in Indien sei eine allumfassende Makro-Charakterisierung des indischen Systems der Industriellen Beziehungen sehr schwer: „sub-nationale Diversität – dieses Mal auf Ebene der Regionalstaaten – verhindert jede einfache Charakterisierung der ‚indischen IR‘ (industriellen Beziehungen, L. P.)“ (Bhattacherjee und Ackers 2010, S. 114). Sie schlagen deshalb die Untersuchung verschiedener Aspekte mit jeweils interdisziplinärer Herangehensweise vor. Insofern müssen die hier getroffenen Aussagen sicherlich als sehr vorläufige und grobe Annäherungen betrachtet werden. Gerade im Vergleich zu den früh industrialisierten Ländern Europas oder Nordamerikas steckt die Forschung zur Erwerbsregulierung in Indien – ähnlich wie in der VR China – noch in ihren Anfängen. China und Indienim Vergleich Während in der VR China im vergleichsweise zentralistischen politischen System s­ystematische Anstrengungen der Weiterentwicklung des eigenen Erwerbsregulierungsregimes unter Einschluss eines systematischen Lernens von ausländischen Erfahrungen gemacht werden, scheint der Wandel in Indien eher einem muddling through ohne systematische nationale interne Reforminitiativen und ohne systematisches transnationales institutionelles Lernen zu folgen. Während Indien im Hinblick auf die Erwerbsregulierung lange Zeit vonseiten der ILO und anderer internationaler und transnationaler Organisationen eher als ‚Musterknabe‘ angesehen wurde, könnte das Land mittelfristig wegen der dauerhaft prekären Erwerbslage eines so großen Bevölkerungsanteils wesentlich stärker in den kritischen Aufmerksamkeitsfokus der internationalen Völkergemeinschaft und Aktivistengruppen gelangen. Kuruvilla et al. (2002) haben die Entwicklung von gewerkschaftlichen Organisationsraten (gemessen als Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen lohnabhängig Beschäftigten) und gewerkschaftlichen Einflussraten (gemessen

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

179

als Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen und der tariflichen Deckungsrate als des Anteils der durch Tarifverträge erfassten lohnabhängig Beschäftigten an allen lohnabhängig Beschäftigten) von insgesamt sieben asiatischen L ­ ändern (Japan, Singapur, Süd-Korea, Taiwan, Indien, VR China, Philippinen) systematisch verglichen. Sie kommen zu dem Schluss, dass es bis zum Beginn der 1990er Jahre durchaus zwischen den Ländern unterschiedliche Konstellationen und Entwicklungen gab, dass aber seit den 1990er Jahren in allen betrachteten Ländern eine ähnliche Entwicklungstendenz der Abnahme gewerkschaftlicher Organisationsraten zu beobachten ist. Der gewerkschaftliche Einfluss wiederum ist nicht notwendigerweise an die gewerkschaftliche Organisationsrate gebunden. Ähnlich wie in Europa gibt es auch in Asien Länder, in denen eine niedrige gewerkschaftliche Organisationsrate durchaus mit einer hohen tariflichen Deckungsrate einhergeht, während umgekehrt in vielen Ländern beide Anteilswerte positiv miteinander korrelieren.60 Für Indien konstatieren die Autoren eine zunehmende Spaltung zwischen den politischen Parteien und den (früher vergleichsweise eng mit diesen jeweils liierten) Gewerkschaften im Hinblick auf die Politik wirtschaftlicher Liberalisierung: Während die Parteien diese durchweg – so die Autoren – befürworten, wird sie von den Gewerkschaften abgelehnt (ebd., S. 444). Obwohl in der VR China der formale gewerkschaftliche Organisationsgrad sehr hoch ist, ist nach Meinung der Autoren der tatsächliche Einfluss der Gewerkschaften im Vergleich zur Macht der kommunistischen Partei doch eher gering (ebd., S. 447). Gleichzeitig ist in beiden – wie auch in den anderen untersuchten – Ländern ein generelles Anwachsen der ‚Logik des Wettbewerbs‘ zu verzeichnen (ebd., S. 449). Die Möglichkeiten einer ‚Revitalisierung‘ der Gewerkschaften werden eher pessimistisch eingeschätzt (ebd., S. 456). Die Beispiele Indiens und Chinas konnten hier nur skizziert werden. Neben einer ersten allgemeinen Kenntnis dieser beiden so wichtigen Länder sollte dadurch zumindest auch angedeutet werden, dass die im Kap. 4 vorgestellten Dimensionen es ermöglichen, die jeweils landesspezifischen Besonderheiten und die systematische Konfiguration des jeweiligen Regimes der Erwerbsregulierung zu erfassen. In beiden Ländern sind die Regelungsgegenstände sehr stark auf Lohn- und Arbeitszeitfragen konzentriert. Die formellen Regelungsarenen sind vorwiegend kollektive Tarifverträge im formellen Sektor der Wirtschaft und individuelle Vertragsregulierungen und ineffiziente Arbeitsgerichtsbarkeiten für die

60Vgl. auch Frenkel und Kuruvilla (2002); die Ausführungen bei Kuruvilla et al. (2002) zur Lage in Europa sind nur begrenzt zutreffend, sie differenzieren zu wenig zwischen den auch in Europa sehr unterschiedlichen Regimen der Erwerbsregulierung.

180

5  Regime der Erwerbsregulierung in ausgewählten Ländern

übergroße Mehrheit der nicht organisierten Wirtschaft in Indien und für einen großen Teil der agrarischen und kleinbetrieblichen Wirtschaft in China. In beiden Ländern existieren allerdings auch – jedoch aus jeweils anderen Traditionen und mit unterschiedlichen institutionellen Einbindungen – betriebliche Organe der Arbeitnehmerpartizipation, die in Indien offensichtlich eine marginale und in China eine umstrittene Bedeutung für die Erwerbsregulierung haben. Insofern ist die tatsächliche räumliche Reichweite kollektiver Formen der Erwerbsregulierung und der möglichen Einklage individueller Ansprüche weitgehend auf bestimmte Bereiche der städtischen Ballungsräume begrenzt. Während in den alten, öffentlich kontrollierten Sektoren in Indien und in den über den Partei-Regierungsapparat kontrollierten Sektoren in China nach wie vor ein stark formeller und vor allem materialer Regulierungsmodus vorherrscht, sind die meisten Wirtschaftsbereiche in beiden Ländern von informeller Regulierung und damit angesichts der geringen Primärmachtausstattung der meisten Arbeitnehmer von sehr starken Unternehmensprärogativen bestimmt. Die dominanten Akteure unterscheiden sich entsprechend der variierenden politischen Systeme zwischen beiden Ländern recht deutlich: Ein recht stabiles formal-demokratisches Mehrparteiensystem mit starker Tendenz zu wirtschaftsliberalen Positionen in Indien steht einem nach wie vor von einer kommunistischen Einparteienherrschaft kontrollierten China gegenüber. Entsprechend finden sich in Indien eine Vielzahl parteipolitisch ausgerichteter Gewerkschaftsföderationen und in China eine in die Kommunistische Partei Chinas eingebundene Einheitsgewerkschaft. Auch die vorherrschenden Ideologien unterscheiden sich sehr stark: Einem traditionell populistisch bis sozialpartnerschaftlichen Wertesystem in Indien mit Tendenzen zur Marktliberalisierung und wirtschaftlichen Öffnung steht in der VR China das nach wie vor gültige Paradigma einer sozialistischen Gesellschaft mit dem Anspruch nach ‚eingebetteten‘ und kontrollierten marktwirtschaftlichen Kräften in China gegenüber. Beide Länder stimmen im Hinblick auf die zukünftigen Entwicklungschancen eines Regimes der Erwerbsregulierung, welches allen Beschäftigten ein Mindestmaß an menschenwürdigen Erwerbsbedingungen sichert, zunächst eher pessimistisch. Für Indien und China ergaben sich sehr viele Anhaltspunkte für eine Erosion der traditionellen Systeme der Erwerbsregulierung und für eine immer größere Dualisierung der Erwerbsbedingungen in einen kleinen, mehr oder weniger geschützten und teilweise sogar privilegierten Pol und eine große Masse prekär Beschäftigter, denen häufig sogar die Gewährung der ILO-Mindestarbeitsnormen verwehrt sind. Ob eine solche pessimistische Sichtweise auf die nationalen Systeme der Erwerbsregulierung relativiert oder gar in eine eher optimistische Prognose umgekehrt werden kann, hängt ganz entscheidend nicht nur von den internen Entwicklungen in den

5.3  Erwerbsregulierung in einem postsozialistischen Land: Indien

181

beiden Ländern selbst ab. Vielmehr ist eine sehr wichtige Frage, welche Einflusspotentiale grenzüberschreitende Mechanismen der Erwerbsregulierung auf den Entwicklungsprozess der Erwerbsregulierung in China und Indien nehmen können. Die grundlegenden Formen und Chancen solcher grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung sollten durchaus nicht unterschätzt werden. Sie stehen – allerdings in eher allgemeiner und nicht spezifisch auf die beiden hier besprochenen Länder fixierter Form – im Mittelpunkt des Kapitels 6. Um die Bedeutung grenzüberschreitender Formen der Erwerbsregulierung angemessen bestimmen zu können, ist im Folgenden zunächst eine Beschäftigung mit den verschiedenen Facetten und Typen der Internationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft angebracht. Außerdem wirft die Betrachtung der beiden Länder Indien und China unmittelbar eine Frage auf, die auch in anderen Kontexten – etwa der europäischen Einigung – intensiv diskutiert wird: Werden sich angesichts der Globalisierung von Wertschöpfungsketten und Informationsflüssen die nationalen Regime der Erwerbsregulierung mittelfristig angleichen oder werden sie eher dauerhaft unterschiedliche Entwicklungsmuster aufweisen?

6

Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Die im vorangegangenen Kapitel dargestellten Regimes von Erwerbsregulierung in der VR China und in Indien haben deutlich gemacht, dass für solche international vergleichenden Betrachtungen tatsächlich ein ausdifferenziertes Beobachtungsinstrument notwendig ist, wie es hier in den Kap. 3 und 4 vorgestellt wurde. Trotz der langen britischen Kolonialzeit hat das indische Regime der Erwerbsregulierung nur wenig mit dem angelsächsischen Modell von ‚industriellen Beziehungen‘ zu tun, wie sie einen Teil der klassischen Forschung zur Erwerbsregulierung bestimmt haben. Beide Länderskizzen konnten auch die Notwendigkeit verdeutlichen, zwischen den formalisierten Strukturen und Normen einerseits und den tatsächlichen Prozessen der Aushandlung, Festlegung und Kontrolle von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen andererseits zu unterscheiden und nicht die formalen Normenstruktur mit der sozialen Wirklichkeit zu verwechseln. Offensichtlich wurde auch die Notwendigkeit, in die Betrachtung der Regulierungsarenen die Form der diskursiven Legitimation aufzunehmen und bei den dominanten Akteursgruppen über das traditionelle Set von Gewerkschaftsund Unternehmerverbänden hinaus z. B. die Nicht-Regierungsorganisationen und andere soziale Bewegungsformen zu berücksichtigen. Im 21. Jahrhundert bestimmen – zumal in den sich später industrialisierenden Ländern – die traditionellen Organisationen der Beschäftigten (Gewerkschaften) und der Beschäftiger (Unternehmerverbände) sowie des Staates immer weniger alleine die Dynamik der Erwerbsregulierung. Der für Indien deutlich gewordene Stellenwert des informellen Sektors lässt sich in ähnlicher Weise in fast allen Ländern außerhalb der hochindustrialisierten nordwestlichen Welt nachweisen. Die aus der Perspektive der früh industrialisierten Länder als normal erachteten Verhältnisse von Erwerbsarbeit erscheinen in einer globalen P ­ erspektive als die

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_6

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6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

absolute marginalisierte Ausnahme. ‚Normalarbeit‘ im Sinne von abhängiger Vollzeiterwerbsarbeit mit formalisierten Arbeitsverträgen und sozialer Sicherung sowie Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die durch staatliche Rahmensetzung und Kollektivverträge geregelt und auch durchgesetzt sind, war bisher nur für eine kleine Minderheit aller Erwerbstätigen ‚normal‘ (Pries 1997). Sowohl in China als auch in Indien sind mehr Menschen jenseits dieser ‚Normalarbeit‘ dauerhaft erwerbstätig, als in allen genannten Ländern der alten ersten Welt zusammengenommen. All dies lässt es ratsam erscheinen, die Regime der Erwerbsregulierung mit großer Vorsicht und Behutsamkeit und ohne einen ‚dominanten Blick der dominanten Länder‘ zu analysieren.

6.1 Konvergenz oder Divergenz der Erwerbsregulierung? Es hat sich gezeigt, dass die Regime der Erwerbsregulierung von Land zu Land sehr stark variieren und dass es keinen einheitlichen Pfad von Entwicklung bzw. Modernisierung gibt. Deshalb muss auch die Idee einer möglichen Vorreiterrolle der früh industrialisierten Länder kritisch überprüft werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte sowohl in den früh als auch in den spät industrialisierten Ländern weitgehend die Idee einer nachholenden Entwicklung vor. Danach geben die früh industrialisierten Länder den Weg vor, den alle Länder mehr oder weniger irgendwann zu gehen haben: von der Agrar- über die Industrie zur Dienstleistungsgesellschaft; von traditioneller, auf Familien als Wirtschaftseinheiten basierter hin zu marktlicher, auf rationale Leistungsorganisationen basierter Leistungserstellung; von ganzheitlichen zu differenzierten Arbeits- und Organisationsformen etc. Diese Sichtweise hat sich als sehr enge und ‚zentristische‘ Perspektive aus der (partiellen) Erfahrung verschiedener früh industrialisierter Länder erwiesen: Nationalgesellschaften können sich von der Dominanz agrarischen Wirtschaftens ziemlich direkt zur Vorherrschaft einer Dienstleistungswirtschaft wandeln; die in einigen früh industrialisierten Ländern beobachteten ‚Prosperitätsspiralen‘ (Lutz 1984) ergeben sich nicht unbedingt in allen sich spät industrialisierenden Ländern; Staat und Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und die Zivilgesellschaft, lokale, nationale und internationale Akteursgruppen können für das jeweilige Regime der Erwerbsregulierung eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben; die Muster regionaler Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung können auf eine Entkoppelung prosperierender Wachstumszonen vom Rest einer dauerhaft marginalisierten Peripherie hinauslaufen (z. B. Indien oder China) oder auf ein

6.1  Konvergenz oder Divergenz der Erwerbsregulierung?

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sukzessives Nachholen wirtschaftlicher Entwicklung mit vergleichsweise homogenen Produktivitäts- und Reichtumsverteilungen (z. B. Costa Rica oder Israel). Diese unterschiedlichen Entwicklungsmuster gehen einher mit variierenden Rollen der Hauptakteursgruppen im Regime der Erwerbsregulierung. Diese Erkenntnisse rücken die Frage nach der Konvergenz und Divergenz von nationalen Regimen der Erwerbsregulierung unter den gegenwärtigen Bedingungen von Internationalisierung in den Vordergrund: Ist die Situation in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern Nordwesteuropas und Nordamerikas – wie die einfache Modernisierungstheorie unterstellte (Schulz 1997) – das Vorbild der zukünftigen Entwicklung auch der restlichen Länder? Kann ­aufgrund der fortschreitenden Internationalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Erwerbsarbeit vermutet werden, dass die nationalen Regime von Erwerbsregulierung konvergieren? Oder werden die strukturellen Unterschiede in den national-gesellschaftlichen Institutionensystemen sowie den nationalen Regimen der Erwerbsregulierung auch auf Dauer Bestand haben? Im Hinblick auf diese Konvergenz-Divergenz-Diskussion wird heute in der Wissenschaft generell eher eine Zwischenposition bezogen. Die Annahme einer universellen Entwicklungslogik menschlicher Gesellschaften und konkret von Wirtschaft und Erwerbsarbeit (etwa in der Form einer universellen ‚Modernisierung‘ oder in die Richtung der Generalisierung von ‚Normalarbeit‘), eine solche universalistische Position der Konvergenz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme wird kaum noch ernsthaft vertreten. Umgekehrt ist auch angesichts des Grades der wirtschaftlichen, informationstechnischen und kulturell-normativen Verflechtung der Welt die partikularistische Kulturthese in arge Bedrängnis geraten, der zufolge die Eigenheiten der historisch gewachsenen nationalgesellschaftlichen Institutionensysteme nicht oder kaum durch die Wandlungsimpulse der Internationalisierung verändert würden. Zwischen diesen beiden Extrempolen wird von vielen Wissenschaftlern eine Position der ‚konvergenten Adaption‘ oder einer ‚konvergenten Divergenz‘ vertreten. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive diagnostizieren z. B. Cowles et al. (2001, S. 1) „weder vollständige Konvergenz noch fortdauernde Divergenz nationaler Politikstrukturen, Institutionen und anderer Verhaltensmuster, [sondern eher, L. P.] nationale Anpassung internationaler Muster, wodurch nationale Besonderheiten weiterhin eine Rolle für die Ergebnisproduktion spielen.“ Eine ähnliche Perspektive wird auch unter dem Stichwort der Pfadabhängigkeit ­entwickelt. Danach sind Veränderungen in (nationalen) Institutionensystemen – auch wenn sie von gleichsam globalen oder überall wirksamen Wandlungsimpulsen angestoßen wurden – in ihren konkreten Formen von den jeweiligen vorhergehenden historischen Verlaufskurven oder ‚Pfaden‘ der Entwicklung des

186

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

jeweiligen institutionellen Arrangements abhängig. Der gleiche Veränderungsanstoß (z. B. die zunehmende Globalisierung der Finanzkapitalmärkte) wird je nach den historischen Erfahrungen, den zurückgelegten sedimentierten Entwicklungswegen und den aktuellen Interessenkoalitionen etwa in einem Land durch weitgehende Liberalisierung und in einem anderen Land durch selektive neue Kontrollen beantwortet bzw. ‚verarbeitet‘. Konvergenztriebkräfte werden also nicht einfach überall in der gleichen Weise umgesetzt, sondern national adaptiert. Dieses Argumentationsmuster findet sich sehr stark in der Europäisierungsforschung, speziell auch in der auf Erwerbsregulierung zielenden europäischen Forschung (z. B. Lecher et al. 2002; Müller und Platzer 2003). Entsprechend der Thesen der ‚konvergenten Adaption‘ und der Pfadabhängigkeit lernen nationale Institutionensysteme von erfolgreichen anderen lokalen, nationalen oder internationalen Lösungen und adaptieren diese. Die Erfahrungen japanischer Produktionsüberlegenheit etwa in der Automobilindustrie haben dazu geführt, dass die sogenannte Lean Production weltweit zu einem Best Practice-­ Modell wurde und in der einen oder anderen Form in der Regel selektiv in den unterschiedlichsten nationalen Kontexten von (nationalen und international tätigen) Unternehmen adaptiert wurde. Aufgrund von unterschiedlichen Länder- und Unternehmensentwicklungspfaden und -biografien haben aber selbst die gleichen, als universell stilisierten Best Practice-Modelle unterschiedliche Wirkungen und Folgen. Die sogenannte ‚Pfadabhängigkeit‘ von Entwicklungen äußert sich in der immer nur selektiven und sehr spezifischen Anpassung, Einpassung und Veränderung generalisierter Modelle und Handlungsprogramme. Die These der ‚konvergenten Divergenz‘ wurde explizit und systematisch von Katz und Darbishire (2000) in Bezug auf die Wandlungstendenzen der Beschäftigungssysteme in insgesamt sieben hoch industrialisierten Ländern (Australien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Japan, Schweden und USA) vorgetragen. Dabei bezieht sich allerdings die Divergenz auf die in den jeweiligen Ländern beobachtete zunehmende Varianz bzw. Ungleichheit zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen hinsichtlich zentraler Aspekte ihrer Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. Während einerseits in allen untersuchten Ländern bestimmte Muster von gleichen oder ähnlichen Arbeitsformen (z. B. Gruppenarbeit, Japanisierung der Arbeitsorganisation) immer mehr Verbreitung fanden, nahm in allen Ländern auch die landesinterne Variation der Entlohnung, Beschäftigungsstabilität etc. zu. Die von Katz/Darbishire vorgetragene These ‚konvergenter Divergenz‘ lässt sich auch charakterisieren als Behauptung einer Konvergenz aller Länder hin zu ähnlichen bzw. gleichen Arbeits- und Beschäftigungsmustern zunehmender landesinterner Divergenz. Letztlich handelt es sich um eine eher pessimistische Annahme einer einheitlichen Tendenz zu

6.1  Konvergenz oder Divergenz der Erwerbsregulierung?

187

immer stärker lokal-regionaler und sektoraler Fragmentierung und Differenzierung der Erwerbsbedingungen. Eine differenzierte Antwort auf die Konvergenz-Divergenz-Frage geben Gilman und Marginson (2002). In einer Analyse von 344 EUR-Betriebsrats-Vereinbarungen fragen sie nach möglichen gemeinsamen oder unterschiedlichen Entwicklungsmustern auf der europäischen Ebene bei der Ausgestaltung der Rahmenabkommen, die in jedem Konzern jeweils zwischen Management und Arbeitnehmervertretungen ausgehandelt werden müssen. Diese Rahmenabkommen legen et al. fest, wie sich der Euro-Betriebsrat zusammensetzt und welche Kompetenzen ihm zugeschrieben werden. Die Autoren identifizieren vier Einflussfaktoren, welche die Varianz hinsichtlich der Vertragsbestimmungen begründen. Neben den Einflüssen durch die Branche (als einer nicht landesspezifischen Variable) und durch den Stammsitz (als einer entweder mit den nationalspezifischen Institutionensystemen oder mit dem unternehmensbezogenen Entwicklungspfad variierenden Variable) eines internationalen Unternehmens werden die Bedeutung des Modell-EBR, wie er im Anhang der Richtlinie entweder nach dem Artikel 6 oder dem Artikel 13 entworfen wird („statutory model effect“), und der Vorbildcharakter bzw. Lerneffekt („learning effect“) bereits früher in anderen Unternehmen abgeschlossener EBR-Vereinbarungen herausgestellt. Auch wenn eine solche Analyse der schriftlichen Vereinbarungen nur vorsichtige Rückschlüsse auf die tatsächlichen Arbeitsweisen von EBR erlaubt,1 ist sie für die Konvergenz-Divergenz-Debatte noch sehr hilfreich. Denn sie ist letztlich als Warnung vor allzu einfachen Tendenzbehauptungen in die eine oder die andere Richtung zu interpretieren: In den unternehmensbezogenen Vereinbarungen zu Euro-Betriebsräten finden sich sowohl Einflusselemente von einer allgemeinen Wirtschaftssektorenebene (Brancheneffekt), von der europäischen Ebene (RichtlinienArtikel-6-13-Effekt), von dem nationalen Institutionensetting (Stammsitzeffekt) und von dem spezifischen Entwicklungspfad jedes Unternehmens (Lernoder Zeit-­ Effekt). Ob Konvergenz oder Divergenz vorherrschen, so muss man diese Ergebnisse von Gilman und Marginson (2002) interpretieren, lässt sich pauschal nicht beantworten. Es gibt empirische Hinweise sowohl für europaweit konvergierende als auch für national- und unternehmensspezifisch divergierende Entwicklungstendenzen. Ähnlich argumentieren Marginson und Sisson (2002, S. 686 f.), dass

1So

wurde insbesondere in empirischen Fallstudien über die EBR-Arbeit gezeigt, „dass die eigentliche Praxis häufig über die formalen Inhalte von EBR-Vereinbarungen hinausgeht“ (Müller und Hoffmann 2002, S. 108).

188

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

viele Veränderungstendenzen der Erwerbsbedingungen und -regulierung sektorspezifisch und gleichzeitig länderübergreifend, während andere wiederum nationaloder unternehmensspezifisch seien.2 In ähnlicher Weise plädieren Rubery und Grimshaw (2003, S. 231 ff.) in ihrer international vergleichenden Untersuchung von Beschäftigungsstrukturen und Erwerbsregulierung im Zeichen der Globalisierung. Sie identifizieren fünf hauptsächliche Faktoren, welche Konvergenz- und Divergenztendenzen beeinflussen. Ein erstes Element sind die Bestrebungen im Bereich neuer Produktionsmodelle und Arbeitspolitiken. Hier finden sich einerseits Bestrebungen, einem weltweiten best practice-Modell der japanisierten lean production zu folgen, andererseits findet die Verbreitung solcher Einheitsmodelle aber immer in einem komplizierten Prozess der Selektion nur bestimmter Bestandteile und deren Anpassung an die jeweiligen lokalen und nationalen Bedingungen statt. Ein zweiter Faktor bezieht sich auf die Stabilität und die Erfolge der jeweiligen institutionalisierten nationalen Beschäftigungsregimes. Diese können unter Veränderungsdruck geraten, ohne dass ein explizites Unbehagen bezüglich ihrer Wirksamkeit besteht (z. B. das Prinzip der lebenslangen Beschäftigung in Japan), und umgekehrt können solche Beschäftigungsregimes auch stabil bleiben, aber veränderte soziale und wirtschaftliche Ergebnisse erbringen (z. B. das deutsche duale Berufsausbildungssystem). Als einen dritten Einflussfaktor von Konvergenz und Divergenz benennen die Autoren die Veränderungen in der internationalen und supranationalen Governance (z. B. der EU oder von NAFTA); in beiden Fällen lassen sich – so die Autoren – Argumente sowohl für eine stärkere Homogenisierung als auch für eine vertiefte Divergenz finden. Eine vierte mögliche homogenisierende Kraft könne in gemeinsamen weltweiten Ideologien liegen wie z. B. in der seit den 1990er Jahren prominenten Orientierung auf einen „Kult des Individuellen“ (ebd., S. 237); eine solche ideologische Konvergenz gehe aber einher mit einer zunehmenden realen Fragmentierung von Familien und lokalen Gemeinschaften. Schließlich machen Rubery und Grimshaw (2003) vielfältige Formen lokaler und divergenter Protestkräfte gegen eine homogenisierende Globalisierung aus; so gewännen etwa im Zuge der Globalisierung Regionen geradezu an Bedeutung, und es entstünden die unterschiedlichen Formen z. B. des Konsumentenprotestes, der Umweltgruppen oder von Arbeiter-Unterstützungsgruppen als Gegenbewegung zur Globalisierung.

2Für

eine ähnlich komplexe und auf breiten empirische Analysen beruhende Argumentation zum allgemeinen Zusammenhang von Globalisierung, Arbeitsmarktunsicherheit und Wohlfahrtsregimen vgl. den Versuch von Blossfeld (2006).

6.1  Konvergenz oder Divergenz der Erwerbsregulierung?

189

In einigen der zuvor skizzierten Beiträge zur Konvergenz-Divergenz-Diskussion wurde vorwiegend nach der Persistenz oder dem Wandel nationalspezifischer Institutionensysteme und Regime gefragt. Eine solche Betrachtungsweise bleibt dem ‚methodologischen Nationalismus‘ (Wimmer und Glick Schiller 2002) verhaftet, weil die Nationalstaaten und Nationalgesellschaften als die gleichsam natürlich gegebenen Einheiten und ‚Container‘ angesehen werden, die sich entweder angleichen oder weiterhin divergente Strukturen aufweisen. Eine grundsätzliche Erweiterung ergibt sich erst dann, wenn die sich real herausbildenden Verflechtungsstrukturen und Formen von Governance jenseits bzw. über die Grenzen von Nationalgesellschaften hinweg Berücksichtigung finden (Pries 2008a). Gerade am Beispiel der Europäischen Union lässt sich die Entwicklung supranationaler dauerhafter und auf die Nationalstaaten zurückwirkender suprastaatlicher Strukturen aufzeigen. Die reale Ausweitung von internationalem Kapital-, Waren- und Dienstleistungshandel sowie der ausländischen Direktinvestitionen vor allem seit der Mitte der 1980er Jahre (vgl. INSM 2007, S. 16 ff.) sowie die Bedeutungszunahme internationaler Rahmenabkommen wie z. B. des WTO-Abkommens oder der OECD-Richtlinien zur Arbeit multinationaler Unternehmen oder auch der weltweiten Initiativen wie z. B. der UNO-Initiative des Global Compact verweisen auf immer dichter werdende, dauerhafte, wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Beziehungsgeflechte und Governance-Strukturen. Nimmt man diese Entwicklungen ernst, so stellt sich nicht nur die Frage der Konvergenz oder Divergenz nationalgesellschaftlicher Systeme, sondern auch die des zukünftigen Verhältnisses dieser nationalgesellschaftlichen Systeme zu supranationalen, transnationalen und globalen Verflechtungszusammenhängen und Regulierungsweisen. Nationale Institutionensysteme und Regime von Erwerbsregulierung verändern sich nicht nur und vielleicht nicht in erster Linie durch das Lernen von anderen nationalen Modellen, sondern ebenso durch die real wirksame Internationalisierung von Vergesellschaftung, die sehr unterschiedliche Formen annimmt und im folgenden Abschn. 6.2 ausführlicher dargestellt wird.3 Vor diesem Hintergrund wird hier die These einer konvergenten Divergenz und einer divergenten Konvergenz im Internationalisierungsprozess vertreten. Mit konvergenter Divergenz ist die Entwicklungstendenz gemeint, dass alle nationalgesellschaftlichen Systeme immer stärker von externen Impulsen verändert

3Vgl.

Spicer (2006), der die Konvergenz-Divergenz-Problematik für Profit-Organisationen durch die Unterscheidung multipler räumlicher Ebenen und einer Ebene politischer Diskurse und Konflikte diskutiert.

190

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

und durch externe Impulse lernen werden, seien diese Impulse solche anderer Nationalmodelle oder solche neuer Formen grenzüberschreitender Akteursgebilde. Nationale Institutionensysteme werden ‚poröser‘ und ‚bunter‘, insofern sie zunehmend institutionell-kollektiv Gelerntes ‚von außen‘ in sich aufnehmen. Nationale Institutionensysteme sind also immer weniger durch ausschließlich autochthone, aus der eigenen Entwicklungsgeschichte hervorgegangene Elemente zusammengesetzt, sie weisen vielmehr zunehmend im Vergleich zu anderen nationalen Institutionensystemen Divergenzen auf, insofern und weil sie externe Muster sehr selektiv importieren und einbauen. In diesem Sinne konvergieren alle nationalen Systeme und auch Regime von Erwerbsregulierung dahin, divergenter im Vergleich zu ihrer (häufig nur unterstellten und konstruierten) vorherigen national-institutionellen Homogenität zu werden. Indem dieser Prozess des wechselseitigen Beobachtens und Lernens, aber auch der internationalen Beobachtung, Kontrolle und Kritik für alle Länder dieser Welt wichtiger werden, finden sich auch zunehmend ‚universelle‘ oder aus anderen nationalen, supranationalen oder internationalen Regimen übernommene Elemente. Insofern lässt sich in Bezug auf die Nationalgesellschaften feststellen, dass sich zunehmend bestimmte Regulierungsmuster in vielen oder gar allen Ländern finden. Divergente Konvergenz meint genau diesen Prozess der Inkorporation und zunehmenden Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit von Elementen in immer stärker in ihrer spezifischen nationalen Kombination und Konfiguration dieser Komponenten ausdifferenzierten, weiterhin divergenten nationalgesellschaftlichen Muster.4 Ein gutes Beispiel für diesen doppelten Prozess ist der sogenannte Bologna-­ Prozess der europaweiten Angleichung der Studienstrukturen- und Studienabschlüsse (B. A. und M. A.). Indem alle Länder die Grundidee eines dreijährigen B. A.-Studiums und eines zweijährigen M. A.-Studiums aufnehmen, lassen sich bestimmte Konvergenztendenzen zwischen allen beteiligten Ländern durchaus nachweisen. Da aber diese neuen Strukturen nicht nur in jeweils spezifische, über Jahrhunderte gewachsene Ausbildungs- und Bildungsstrukturen sowie berufliche Systeme eingebaut werden, sondern weil auch das B. A./M. A.-Modell in

4Im

Hinblick auf das Verhältnis von Europäisierung und nationalem Wandel ähnlich z. B. Cowls et al. (2001, S. 1): „neither wholesale convergence nor continuing divergence of national policy structures, institutions, and other patterned relationships, (rather) … domestic adaption with national colours in which national features continue to play a role in shaping outcomes“. Zum Prozess institutionellen internationalisierten Lernens für die Gewerkschaften vgl. z. B. Greven und Schwetz (2008).

6.2  Generelle Internationalisierungstypen

191

jedem Land abgewandelt, umgebaut und nur in Teilelementen angewendet wird, bestehen die nationalspezifischen Bildungssysteme nicht nur fort, sie können sogar – bei gleichzeitiger Homogenisierungstendenz einzelner ihrer Komponenten! – ihre Besonderheiten und divergenten Strukturen ausbauen. Die nationalen Institutionensysteme konvergieren alle zum Gebrauch ähnlicher Muster und Standards als Teilinnovationen, die aber durch ihren je spezifischen ‚Einbau‘ in die nationalen Systeme die Divergenzen zwischen den Nationalsystemen eher akzentuieren als auflösen. Für den Prozess der Einführung von Euro-Betriebsräten lässt sich diese konvergente Divergenz und divergente Konvergenz deutlich aufzeigen (vgl. Abschn. 8.2). Während das Argument der Dialektik von konvergenter Divergenz und divergenter Konvergenz bisher nur auf das Verhältnis der landesspezifischen Institutionensysteme zueinander bezogen wurde, gilt es im Weiteren, auch die über die nationalstaatlich verfassten Institutionensysteme hinausgehenden Formen grenzüberschreitender Verflechtungsbeziehungen mit zu berücksichtigen. Im 21. Jahrhundert lässt sich das Verhältnis von Konvergenz und Divergenz nicht mehr angemessen diskutieren, indem nur nationalgesellschaftliche Institutionensysteme verglichen werden. Vielmehr ist die Ebene der Etablierung dauerhafter und dichter Beziehungen, Sozialräume und Governance-Strukturen mit einzubeziehen, die die Ebene der Nationalgesellschaften überschreiten. Die Internationalisierung von wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Beziehungen nimmt insgesamt sehr vielfältige Formen an, die zu berücksichtigen sind. Erst dann lässt sich ein angemessenes Verständnis der Dynamiken von konvergenter Divergenz und divergenter Konvergenz gewinnen.

6.2 Generelle Internationalisierungstypen Die wirtschaftliche Globalisierung ist – auch wenn sie häufig im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion steht – keineswegs die einzige Form der Internationalisierung. Letztere hat vielmehr auch eine politische, eine soziale und eine kulturelle Dimension. Gerade für die Frage nach der Internationalisierung der Erwerbsregulierung müssen diese verschiedenen Dimensionen berücksichtigt werden. Die Internationalisierung vollzieht sich keineswegs in der Form, dass alle sonst national eingebundenen Phänomene plötzlich überall auf dem gesamten Globus präsent oder von Bedeutung sind. Dies entspräche einem Bild, als würden internationale Unternehmen, Wertschöpfungsketten, Weltbilder und Glaubensorientierungen nun zunehmend ‚de-territorialisiert‘, als würden lokale, mikroregionale, nationale und makroregionale Raumbezüge kaum noch eine

192

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Rolle spielen. Tatsächlich aber differenzieren sich die Raumbezüge im Internationalisierungsprozess eher weiter aus, als dass sie in einem ‚space of flows‘ (Urry 2001) verschwinden. Denn trotz der wachsenden grenzüberschreitenden Beziehungen und Austauschprozesse sind die konkreten alltäglichen Lebenswelten der Menschen doch immer an konkrete Orte und Regionen gebunden – sie sind nicht ‚de-lokalisiert‘, wie einige Globalisierungstheoretiker glauben machen wollen. Für viele Aspekte von Internationalisierung (z. B. die rechtliche Rahmenordnung und die wohlfahrtsstaatlichen Teilhaberechte der Menschen) hat der ‚Containerraum‘ des Nationalstaates noch immer eine erhebliche und zum Teil sogar noch wachsende Bedeutung (Sassen 2006). Jenseits der Nationalstaaten bilden sich mehr oder weniger verbindliche supranationale Kooperationsstrukturen heraus, die aber meistens nur eine der erwähnten Dimensionen von Internationalisierung betreffen. Hierzu zählen etwa die Organisation Amerikanischer Staaten und die Organisation Afrikanischer Einheit (OAS und OAU, vorwiegend politische Dimension), der Nordamerikanische Freihandelspakt (NAFTA, vorwiegend ökonomische Dimension) und die Europäische Union (EU, alle vier Dimensionen).5 Der umfassendste Raumbezug schließlich betrifft den gesamten Globus. Phänomene wie die Erderwärmung oder die Menschenrechte können sinnvoll nur auf dieser Ebene betrachtet werden. Diesen hier nur skizzierten (vgl. ausführlicher Pries 2008a) Raumbezügen der Vergesellschaftung und der Internationalisierung (lokal, regional, national, supranational und global) entspricht ein Modell absoluter Containerräume, in dem – ähnlich wie bei Zwiebelringen oder Russischen Puppen – kleinere Einheiten in größeren Einheiten eingefasst und aufgehoben sind: Lokales in Regionales, Regionales in Nationales, Nationales in Supranationales und Supranationales bzw. Makroregionales in Globales. In der Internationalisierungsforschung werden aber auch noch drei weitere Idealtypen von Raumbezügen diskutiert, die – beruhend auf relationalen Raumvorstellungen – gleichsam quer zu den absoluten Containerräumen der ineinander verschachtelten Russischen Puppen gedacht werden (vgl. Tab. 6.1). Zunächst werden unter dem Stichwort der Glokalisierung Phänomene betrachtet, die einen direkten Bezug von spezifischen Orten oder Regionen zu globalen Prozessen betreffen – etwa die Auswirkung der globalen Erderwärmung

5Vgl.

http://www.oas.org/ für OAS, http://www.au.int/ für die OAU, zum NAFTA-Sekretariat für den NAALC http://www.nafta-sec-alena.org/ und http://europa.eu/ für die EU.

(Wieder-)Erstarken nationaler Container-Staaten bzw. -Gesellschaften; Stärkung bestehender Territorialgrenzen oder Aufteilung ehemals homogener bzw. homogen wahrgenommener Flächen-Sozialräume in neue kleinere ‚Container- Staaten‘ bzw. ‚Container-Gesellschaften‘ Ausdehnung des Konzepts und Gebildes souveräner ContainerStaaten und -Gesellschaften über die Flächenraumebene der Nation hinaus auf die supranationale Ebene Stärkung der (Wahrnehmung von) weltweiten gesellschaftlichen Verflechtungsbeziehungen, Kommunikationen, sozialen Praktiken, Symbole, Ereignisse, Risiken, Rechte

2. Re-Nationalisierung

3. Supra-Nationalisierung

4. Globalisierung

Wechselseitige Inklusion und Exklusion von Flächen- und Sozialraum: jeder Flächenraum entspricht genau einem Sozialraum und umgekehrt

Beispiele

(Fortsetzung)

Finanzströme; Erderwärmung; globale Diffusion von Informationen (CNN) und Technologien (Internet); ‚McDonaldization‘

Europäische Kommission; Europäischer Gerichtshof; Europäische Soziologische Vereinigung (ESA)

Auflösung der UdSSR oder Jugoslawiens; wirtschaftlicher Protektionismus (Agrarzölle EU und USA) und politische Abschottung (Migration)

Europäische Gemeinschaft (wahrgenommene) Dominanz der Aufrechterhaltung/Stärkung für Kohle und Stahl (EGKS); NATO; NAFTA; WTO der Beziehungen zwischen souveränen Nationalstaaten und Nationalgesellschaften

1. Inter-Nationalisierung

Charakterisierung

Absolutistisches Raumkonzept:

Konfigurationstyp

Tab. 6.1   Idealtypen der Internationalisierung

6.2  Generelle Internationalisierungstypen 193

Konfigurationstyp

Relativistisches Raumkonzept: 5. Glokalisierung Sozialräume als dauerhafte und dichte Interaktionsbeziehungen in unterschiedlichen Raumfigurationen. Ein Sozialraum kann unterschiedliche Flächen- 6. Diasporaräume über-/umspannen, ­Internationalisierung umgekehrt können sich in einem Flächenraum unterschiedliche Sozialräume ‚aufstapeln‘ 7. Transnationalisierung

Tab. 6.1   (Fortsetzung)

Jüdische und andere Diasporas; diplomatische Korps; globale oder fokale Unternehmen oder NGOs

Produktion oder Stärkung pluri-lokaler Sozialräume mit klar fixiertem/wahrgenommenem Zentrum bzw. Heimat

Transnationale Familien; multiStarke und dauerhafte gesellschaftliche Verflechtungen, nationale oder transnationale die in mehreren Flächenräumen Unternehmen oder NGOs verankert sind und kein klares Zentrum-Peripherie-Verhältnis aufweisen

Lokale Ursachen oder Folgen globaler Erwärmung, des globalen Internets oder globaler Symbolpräsenz (Hollywood)

Beispiele

Produktion oder Stärkung des (wahrgenommenen) Zusammenhangs zwischen globalen und lokalen Phänomenen, Ereignissen, sozialen Praktiken etc.

Charakterisierung

194 6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

6.2  Generelle Internationalisierungstypen

195

auf die Lebensbedingungen im Ganges-Flussdelta. Als Diaspora-Internationalisierung wird die Ausbreitung und Intensivierung der Bezüge zwischen einem ‚Mutterland‘ und seinen räumlich weit verteilten lokalen ‚Dependancen‘ bezeichnet. Religiöse Organisationen, diplomatische Korps oder die Beziehungen politischer Flüchtlinge zu ihrem Herkunftsland entsprechen in der Regel solchen Diaspora-Beziehungen. Schließlich beschreibt Transnationalisierung eine idealtypische Internationalisierungsform, bei der sich ein relativ stabiler und verdichteter Sozialraum über mehrere Flächenräume (z. B. nationalstaatliche Territorien) hinweg erstreckt, ohne – wie im Falle der Diaspora – ein steuerndes und klares Zentrum aufzuweisen. Transnationale Sozialräume können im Rahmen internationaler Migrationsprozesse, aber auch aus anderen Formen internationaler Profit- oder Non-Profit-Organisationen entstehen (Pries 2008a, b). Diese Beispiele zeigen: Sozialräume können sich – wie im Falle transnationaler Familien – über mehrere geografische Räume hinweg aufspannen. Sie können aber auch – wie im Falle von Nationalgesellschaften in Nationalstaaten – den Russischen Puppen gleich passgenau ineinander verschachtelt sein. Letzterem entspricht ein absolutes Raumdenken, welches im 19. und 20. Jahrhundert vorherrschte. Danach sind geografisch-physische Flächenräume (z. B. als geschlossene lokale oder nationalstaatliche Territorien) und Sozialräume menschlicher Verflechtungsbeziehungen (z. B. als korrespondierende Gemeinden oder Nationalgesellschaften) doppelt exklusiv ineinander verschachtelt: In einem Flächenraum kann es nur einen und genau einen Sozialraum geben. Umgekehrt benötigen dieser Anschauung zufolge dauerhafte Sozialräume (z. B. ethnische Gruppen oder Gesellschaften) immer genau einen kohärenten Flächenraum, den sie erfolgreich für sich monopolisieren können (z. B. Region oder Nationalstaat). Wenn sich die Beziehungen zwischen solchen nationalgesellschaftlichen Containerräumen intensivieren (ohne dass sich die Grenzen der nationalen Container auflösen), so kann man vom Idealtypus einer Inter-Nationalisierung sprechen (z. B. die NATO, WTO oder die OECD). Dehnt sich der geografische und sozialräumliche Bezugshorizont einfach nur aus (ohne dass es zu einer ‚Entbettung‘ von Sozialraum und Flächenraum käme), so kann man idealtypisch von der Internationalisierungsebene der Supranationalisierung sprechen (wie z. B. im Falle der EU). Bezieht sich diese flächen- und sozialräumliche Ausdehnung auf die gesamte Welt, so kann man dies den Idealtypus Globalisierung nennen. Reklamieren regionalistische Bewegungen innerhalb bestehender Containerstaaten den nationalstaatlich-nationalgesellschaftlichen Raumbezug für sich, so entspricht dies dem Idealtypus einer Re-Nationalisierung. Solche Tendenzen einer Re-Nationalisierung sind auch im 21. Jahrhundert und bei gleichzeitigen

196

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Globalisierungsprozessen zu beobachten, wie die Beispiele des Baskenlandes oder die Spannungen zwischen der VR China und Taiwan zeigen. In der Perspektive eines relationalen Raumkonzeptes müssen Flächenräume und Sozialräume nicht unbedingt in einer doppelten Ausschließlichkeit ineinander verschachtelt sein. Vielmehr kann sich ein Sozialraum über mehrere Flächenräume hinweg erstrecken oder es können in einem Flächenraum mehrere Sozialräume ‚aufgeschichtet‘ sein. Als Idealtypen der Internationalisierung lassen sich die bereits erwähnten Formen der Glokalisierung, Diaspora-Internationalisierung und Transnationalisierung nennen. Betrachtet man Internationalisierung tatsächlich als mehrdimensionales und Mehrebenenmodell, so zeigen sich vielfältige und häufig auch widersprüchliche Muster grenzüberschreitender Verflechtungsbeziehungen. Supranationale, globale, internationale, re-nationalisierte, glokale, diasporische und transnationale Beziehungen bestehen nebeneinander und sind ineinander verwoben. Nimmt man dieses pluridimensionale Mehrebenensystem ernst, so wird die weitere Internationalisierung wahrscheinlich weder einfach und schnell zu einer Art Weltregierung nach nationalstaatlichem Muster führen noch zu einem Auseinanderdriften von Nationalstaaten und Konzernen in einen gesetzeslosen Dschungelkapitalismus.6 Angesichts der verschiedenen Typen von Internationalisierung muss auch die Frage nach der Konvergenz und Divergenz der Muster von Erwerbsregulierung reformuliert werden. Auch wenn sich Regime der Erwerbsregulierung weiterhin sehr stark auf einer nationalgesellschaftlichen Ebene institutionell aus differenzieren, werden die grenzüberschreitenden Regeln und Mechanismen der Erwerbsregulierung ein stärkeres Gewicht erhalten. Die Frage nach der Konvergenz oder Divergenz isoliert gedachter nationaler Regime ist deshalb der tatsächlichen Entwicklung nicht angemessen. Viel wichtiger ist es zu untersuchen, welchen Stellenwert und welche Reichweite die jeweiligen Formen der Erwerbsregulierung auf lokaler, regionaler, nationaler supranationaler und globaler Ebene aufweisen und wie diese Muster miteinander verwoben sind und zusammenwirken. Hierbei kommt der bestehenden und sich dynamisch weiterentwickelnden Textur der Akteure internationaler Erwerbsregulierung eine besondere Bedeutung zu.

6Eine

solche Alternative scheint bei Schumann und Grefe 2008 (z. B. S. 392 ff.) durch. Dagegen wird hier in Einklang mit neueren Forschungen von der Emergenz komplexer mehrdimensionaler und Mehrebenenstrukturen ausgegangen wie z. B. von Risse (2002, S. 268) hervorgehoben: „The picture emerging from the literature reveals instead complex interactions between transnational actors, on the one hand, and corporate actors on all levels of supranational, international, national, regional and local governance, on the other.“

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

197

6.3 Akteure internationaler Erwerbsregulierung Die verschiedenen Formen von Internationalisierung hängen eng zusammen mit den jeweils dominanten kollektiven und korporativen Akteursgruppen (Gumbrell-­ McCormick 2008). So etwa spielen für die Inter-Nationalisierung, die Re-Nationalisierung und die Supra-Nationalisierung der Erwerbsregulierung die souveränen Nationalstaaten die entscheidende Rolle. Umgekehrt haben für die Transnationalisierung der Erwerbsregulierung sowohl Profit- als auch Nonprofit-Organisationen eine herausragende Bedeutung. Im Folgenden sollen deshalb die für Erwerbsregulierung besonders relevanten internationalen Organisationen als kollektive oder korporative Akteure kurz vorgestellt werden. Die ILO als Teil der Vereinen Nationen Als Erstes sind die Vereinten Nationen und hier vor allem die Internationale Arbeitsorganisation ILO zu nennen. Die ILO ist – wie die Vereinten Nationen selbst – von ihrer Entstehungsgeschichte her ein Ergebnis von Prozessen der Inter-Nationalisierung. Als eine der – neben z. B. der Organisationen für Nahrung und Landwirtschaft (FAO), der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) – wichtigen themenfeldbezogenen Unterorganisationen der Vereinten Nationen beruht sie letztlich auf völkerrechtlich bindenden Vereinbarungen zwischen souveränen Nationalstaaten. Die ILO entstand schon 1919 als Teil des Versailler Friedensvertrages und den Erkenntnissen und Zielsetzungen der Politiker nach dem ersten Weltkrieg zusammen mit der damals noch ‚Liga der Nationen‘ genannten Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen. Im Versailler Vertrag war als vereinigendes Ziel formuliert worden, „die internationale Kooperation zu fördern und Frieden und Sicherheit zu erreichen“ (UN 2004, S. 3). In der Präambel der ILO-Konstitution wird ausgeführt, dass der „[…] Weltfriede auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden kann.“7 Seit 1920 hat die ILO ihren Sitz in Genf. Die ILO war von Anfang an als affiliierte Agentur des Völkerbundes gegründet worden. Sie führte ihre Arbeit aber auch während des 2. Weltkrieges fort, als der Völkerbund bereits wegen seiner Unfähigkeit, den 2. Weltkrieg verhindert zu haben, wieder aufgelöst worden

7Vgl.

die ILO-Verfassung 1919: http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:62:0:: NO:62:P62_LIST_ENTRIE_ID:2453907:NO.

198

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

war. Mit der Gründung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 durch 50 Staaten wurde die ILO zu einer sogenannten Specialist Agency. Hierbei handelt es sich um „autonome Organisationen, die mit der UN und den anderen [spezialisierten Agenturen, L. P.] durch den Koordinationsmechanismus von ECOSOC auf der intergouvernamentalen Ebene zusammenarbeiten“ (UN 2004, S. 22). ECOSOC (Economic and Social Council) ist als Wirtschafts- und Sozialrat eines der sechs Hauptorgane der Vereinten Nationen (vgl. Gareis und Varwick 2006, S. 39 ff.; UN 2004, S. 20 ff.). Die ILO hat sich ihre relative Unabhängigkeit innerhalb der Vereinten Nationen – nicht zuletzt aufgrund ihrer langen Geschichte und Größe – weitgehend erhalten können. Sie bestand während des 2. Weltkrieges fort, ihr Hauptsitz wurde vorübergehend nach Montreal/Kanada verlegt. Nach dem 2. Weltkrieg erfuhr die ILO eine rasche und nachhaltige Bedeutungszunahme. Die Anzahl der Mitgliedsstaaten, die ihr beitraten, verdoppelte sich. Das zur Verfügung stehende Budget verfünffachte sich und die Zahl der Beschäftigten vervierfachte sich bis 1970. Nachdem die ILO vor allem als eine Vereinigung von industrialisierten Ländern entstanden war, änderte sich nach dem 2. Weltkrieg ihr Charakter hin zu einer universellen Organisation (fast) aller Nationalstaaten der Welt. Zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen im Jahre 1969 wurde der ILO der Friedensnobelpreis zuerkannt.8 Die Grundidee, die die Ziele und Aufgaben der ILO leitet, besteht in der Annahme, dass Fortschritt, Friede und Sicherheit nur auf sozialem Ausgleich aufgebaut werden können. Entsprechend bietet die ILO Beratung für Regierungen und staatliche Verwaltungen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften; sie beschäftigt und beauftragt weltweit Experten für Arbeit und Beschäftigung und speziell für die entscheidende Bedeutung, die diese Themen für die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Fortschritt haben (vgl. ILO-Verfassung 1955: Anlage I–V). Die ILO setzt sich konkret vier strategische Ziele zur Förderung von Arbeitnehmerrechten in der Welt: 1) die Förderung und Realisierung fundamentaler Arbeitsnormen und -rechte, 2) die Förderung und Sicherstellung von Mitbestimmungsmöglichkeiten von Arbeitnehmern zur Sicherstellung angemessener Beschäftigung und Einkommen, 3) die Förderung der Reichweite und Effizienz sozialer Sicherheit für alle und 4) die Stärkung des Tripartismus und sozialen Dialogs. Mit Letzterem ist vor allem die Herausbildung

8Vgl.

org.

zur Geschichte allgemein und den folgenden Ausführungen UN (2004) und www.ilo.

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

199

von ­ eigenständigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie deren Anerkennung und Dialog mit den jeweiligen staatlichen Organen gemeint. Die Arbeitsweise der ILO wird durch die alljährlichen Mitgliedervollversammlungen (International Labour Conference) und durch die Arbeit des Direktoriums und Verwaltungsrates strukturiert. Jeweils zur Mitte des Jahres findet in Genf die Mitgliedervollversammlung statt, wobei alle Mitgliedsstaaten durch jeweils zwei Regierungsdelegierte und einen Arbeitnehmer- und einen Arbeitgeberdelegierten vertreten sind. In der Versammlung finden Abstimmungen dann nach Diskussion entsprechend der Weisungen der Organisationen statt. Dies kann dazu führen, dass die vier Vertreter eines Landes bei konkreten Vorhaben sehr unterschiedlich abstimmen (z. B. eine konservative Regierung zusammen mit den Arbeitgebervertretern und gegen den Gewerkschaftsvertreter oder eine eher arbeitnehmerfreundliche Regierung zusammen mit den Arbeitnehmervertretern gegen den jeweiligen Arbeitgebervertreter). Eine Hauptaufgabe dieser jährlichen Vollversammlungen besteht in der Verabschiedung und dem Monitoring von internationalen Arbeitsstandards sowie in den Entscheidungen über die Organisationsprogrammatik und die Haushaltsstruktur. Internationale Arbeitsstandards werden in der Form von Konventionen mehrheitlich verabschiedet; sie bedürfen anschließend noch der Ratifizierung durch die Einzelstaaten. Inzwischen wurden durch die ILO 189) internationale Arbeitsstandards (und 201 Empfehlungen) ausgehandelt (Stübig 2015, S. 105), die aber in einem äußerst breit variierenden Ausmaß von den ILO-Mitgliedsstaaten ratifiziert oder auch (noch) nicht ratifiziert wurden.9 Die ILO hat mittlerweile auch im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen wie z. B. dem Weltwährungsfond (IMF) und der Welthandelsorganisation (WTO) eine vergleichsweise große kritische Masse eigenständiger Organisationsressourcen ausgebildet. Mit ca. 2700 Beschäftigten in der Zentrale in Genf und in den mehr als 40 verschiedenen Regionalbüros aus insgesamt 150 Ländern, mit etwa extern weltweit im Einsatz befindlichen 900 Experten im Bereich der Qualifizierung und Ausbildung und mit einem regulären Jahresetat von etwa 400 Mio. US-Dollar für die Jahre 2016/2017 besitzt die ILO nach rund 100 Jahren seit ihrer Gründung nicht zuletzt auch aufgrund der inzwischen verabschiedeten Normenwerke und Mindeststandards ein so starkes eigenes ­

92015

waren es genau 189 Konventionen, die von der ILO verabschiedet worden waren, vgl. http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:12000:342782702898781::::P12000_ INSTRUMENT_SORT:4, Stand Jul, 2015; siehe im Einzelnen weiter unten Abschn. 6.1 und Tab. 6.2 zu den Kernarbeitsnormen der ILO.

200

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

‚Trägheitsmoment‘, dass sie – obwohl Produkt völkerrechtlicher inter-nationaler Verträge – von der Politik und dem Verhalten einzelner Nationalstaaten nur in Grenzen beeinflusst oder gar infrage gestellt werden könnte.10 Eine in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Besonderheit der ILO im Vergleich zu den anderen UN-Unterorganisationen ist ihre bereits angedeutete tripartistische Struktur: In die jährliche Mitgliederversammlung als dem wichtigsten Organ der ILO werden von allen Mitgliedsländern jeweils zwei Regierungsvertreter, ein Vertreter von Arbeitgeberverbandsseite und ein Vertreter von Gewerkschaftsseite entsandt. Alle drei Jahre wird das Exekutivkomitee der ILO neu gewählt. Es besteht aus insgesamt 56 Delegierten (28 Regierungsdelegierte und jeweils 14 Arbeitnehmer- und Arbeitgeberdelegierte). Dieses Exekutivkomitee tagt in der Regel drei Mal pro Jahr in Genf. Neben der Verabschiedung von Mindestnormen besteht eine zweite wichtige Aufgabe der ILO in deren Überprüfung bzw. einem systematischen Monitoring dieser Konventionen vor allem für diejenigen, die von einer großen Zahl von Mitgliedsstaaten ratifiziert wurden. Ein drittes großes Aufgabengeld betrifft das Training und die Qualifizierung von entsprechenden Expertenstäben in den Nationalstaaten. Hierzu wurde bereits 1965 in Turin das internationale Trainingszentrum der ILO gegründet. Zweifellos ist die ILO die wichtigste UN-Unterorganisation für das Themenfeld der Erwerbsregulierung. Sie ist über den ECOSOC in die Strukturen der Vereinten Nationen als spezialisierte Agentur eingebunden. Der ECOSOC wurde 1945 zusammen mit der UN gegründet und dient der Koordinierung der ökonomischen und sozialen Tätigkeitsfelder von insgesamt 15 ‚spezialisierten Agenturen‘. Über den ECOSOC kann die ILO in die UN-Organe hineinwirken. Neben den Konventionen, die von einer Zweidrittelmehrheit der jährlichen internationalen Arbeitskonferenz verabschiedet werden müssen, kann die ILO auch Empfehlungen mit einfacher Mehrheit aussprechen.11 Inzwischen ist das Monitoring- bzw. Normenkontrollsystem der ILO durchaus weit entwickelt. Es besteht im Wesentlichen aus drei Elementen. Zunächst entfaltet die ILO weitreichende Publikationsaktivitäten über Bücher, Zeitschriften und das Internet. Hierzu gehören die über das ‚Bureau of Library and Information Services‘

10Vgl.

http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/who-we-are/international-labour-office/langen/index.htm; http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/who-we-are/international-labour-office/ lang--en/index.htm; http://www.ilo.org/public/english/bureau/program/download/pdf/16-17/ pb-2016-17-en.pdf. 11Es existieren aktuell etwa 215 solcher Empfehlungen; vgl. http://www.ilo.org/ilolex/english/subjectE.htm.

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

201

herausgegebenen Schlüsselpublikationen wie das Yearbook of Labour Statistics, der World Employment Report, die Key Indicators of the Labour Market (KILM) sowie die Datenbanken ASISTDOC und LABORDOC, weitere themenspezifische Berichte und vor allem die Webseite.12 Zum Zweiten müssen die Mitgliedsländer regelmäßig Berichte über den Fortschritt bei der Umsetzung bzw. Einhaltung der ILO-Konventionen für die jährlichen Vollversammlungen erarbeiten. Diese Berichte werden von einem Expertenkomitee für die Anwendung von Empfehlungen und Konventionen (CEARE), welches aus 20 unabhängigen Juristen besteht, ausgewertet. Gegebenenfalls können Stellungnahmen der Mitgliedsländer vom CEARE eingeholt werden. Dieses Expertenkomitee berichtet dann an das sogenannte Konferenzkomitee zur Anwendung der Empfehlungen und Konventionen (CCARC), welches wiederum für die jährlichen nationalen Arbeitskonferenzen die zu besprechenden Konferenzinhalte strukturiert. Als drittes Monitoring-Instrument kann die ILO Länderberichte von denjenigen Länderstaaten anfordern, welche nicht alle Kernarbeitsnormen ratifiziert haben. Hier können Aktionspläne und technische Assistenz und Qualifizierung für diese Länder angeboten werden. Weltbank und Weltwährungsfonds Zweifelsohne ist die ILO die für Fragen der Erwerbsregulierung relevanteste internationale Organisation. Gleichwohl sind auch die anderen spezialisierten Agenturen der UN in der einen oder anderen Weise mit Fragen der Regulierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen befasst. Beispielhaft lässt sich dies an zwei der sogenannten spezialisierten Agenturen, nämlich an der Weltbank und dem Weltwährungsfond zeigen. Beide Organisationen, Weltbank und IMF, wurden 1944, also noch vor der UN, auf der Bretton Woods Konferenz in den USA gegründet. Von Anfang an war die Arbeitsteilung zwischen den beiden Organisationen dergestalt festgelegt, das der IMF vor allem der Stabilisierung des internationalen Währungssystems dienen sollte und die Weltbank die Entwicklungsländer durch die Finanzierung spezifischer Projekte in ihrer Industrialisierung und sozialen Entwicklung unterstützten sollte. Beide Organisationen sind specialized agencies im Sinne „autonomer Organisationen, die mit den UN und untereinander durch die Koordinationsmechanismen des ECOSOC auf der intergouvernementalen Ebene und durch den Koordinierungsrat der Leiter auf der Inter-Sekretariatsebene zusammen arbeiten“ (UN 2004, S. 22).

12Vgl.

http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/how-the-ilo-works/lang--en/index.htm.

202

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Der Weltbank gehören, nachdem sie 1946 ihre Arbeit mit 36 Mitgliedsstaaten aufgenommen hatte, inzwischen 188 Mitgliedsstaaten an. An ihrem Hauptsitz in Washington D. C. beschäftigt sie etwa 7000 Arbeitnehmer, weltweit sind es ca. 10 000 in insgesamt über 120 Büros weltweit.13 Als Hauptziel hat die Weltbank die Reduzierung der Weltarmut formuliert und sich damit direkt an das von den UN im Jahre 2000 beschlossene Millenniumsziel (Halbierung der Weltarmut von 2000 bis 2015) angelehnt.14 Die dabei anvisierten Einzelziele haben einen mehr oder weniger direkten Bezug zu Fragen von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation. Zu diesen Einzelzielen gehören: die Beseitigung von Hunger und Armut (was ohne Beschäftigungsmöglichkeiten kaum zu realisieren ist), die Gleichberechtigung der Frauen (die sich gerade auch in der Arbeit realisieren muss), die Gesundheitsförderung und die Verbesserung der Lage schwangerer Frauen und Mütter (die ebenfalls ohne nachhaltige Verbesserung von Arbeitsbedingungen nicht zu realisieren ist), die Reduzierung der Kindersterberate, die Bekämpfung von Krankheiten, der Schutz der Umwelt und natürlicher Ressourcen sowie die Verbesserung der internationalen Kooperation für Entwicklung.15 Hinsichtlich ihrer grundlegenden Verwaltungsstruktur sind Weltbank und IWF sehr ähnlich. Beide Organisationen haben jeweils einen Gouverneursrat als höchstes Entscheidungsorgan, der sich einmal jährlich versammelt. Jedes der 188 Mitgliedsländer entsendet einen Gouverneur und einen Stellvertreter, in der Regel sind dies der jeweilige Wirtschaftsminister und/oder der Leiter der jeweiligen Zentralbank. Die im Herbst stattfindenden Meetings der Gouverneursräte werden für Weltbank und IWF in der Regel zeitlich koordiniert, ähnlich auch die Frühjahrstreffen der Arbeitsgremien beider Organisationen.16 Das wichtigste operative Führungsgremium beider Organisationen ist jeweils das Exekutivdirektorium, welches aus 24 durch den Gouverneursrat gewählten Direktoren besteht. Die drei

13Vgl.

http://www.worldbank.org/en/about/what-we-do. Ziel wurde laut UN Bericht der Millenniums Entwicklungsziele aus dem Jahr 2013 bereits fünf Jahre eher als geplant erreicht: http://www.un.org/depts/german/millennium/MDG%20Report%202013_german.pdf. 15Vgl. hierzu http://www.worldbank.org/ und zu den Unterorganisationen http://www. worldbankgroup.org/. 16Vgl. allgemein www.worldbank.org und www.imf.org, zur Organisationsstruktur und ­Versammlungsrhythmen http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTABOUTUS/0 ,,contentMDK:20040580~menuPK:1696997~pagePK:51123644~piPK:329829~theSitePK:29708,00.html und http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTABOUTUS/ 0,,contentMDK:20042540~menuPK:58865~pagePK:34542~piPK:36600~theSitePK:29708,00.html. 14Dieses

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

203

wichtigsten Unterorganisationen sind der Internationale Währungs- und Finanzausschuss, der Entwicklungsausschuss und das Unabhängige Evaluierungsbüro. Der IMF kooperiert zwar eng mit der Weltbank, ist aber eine unabhängige spezialisierte Agentur des ECOSOC. Er hat 188 Mitgliedsländer und im Vergleich zur Weltbank wesentlich weniger, nämlich ‚nur‘ ca. 2600 Beschäftigte an seinem Stammsitz in New York.17 Die Hauptaufgabe des IMF besteht in der Vergabe von Krediten. Der IMF finanziert die zu vergebenden Kredite aus den Einlagen der Mitgliedsstaaten. Je nach ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft richten sich die Einzahlungsverpflichtungen und auch die ‚Ziehungsrechte‘ (d. h. die Möglichkeiten der Kreditinanspruchnahme) sowie auch das Stimmrecht eines Landes im IMF nach der jeweiligen Einlagenquote. Im Bedarfsfall kann jedes Land Kreditanträge an den IMF stellen, die bis zur Höhe der eigenen Einlagen ohne Prüfung gewährt werden. Darüber hinaus gehende Kredite sind an Bedingungen geknüpft, die jeweils in einem Rahmenpapier von IWF und Weltbank definiert und vom kreditnehmenden Land anerkannt werden müssen. Für Entwicklungsländer existieren sogenannte Sonderfazilitäten (Kredite für Strukturanpassungsmaßnahmen), die ebenfalls auf der Grundlage eines verabschiedeten und anerkannten Policy Framework Paper vergeben werden können und mit denen strukturpolitische Ziele für die nächsten drei Jahre verbunden sind, die in einem Strukturanpassungsprogramm konkretisiert werden. Dabei werden besondere Auflagen und Forderungen an das kreditnehmende Land im Hinblick auf dessen Finanz- und Währungspolitik formuliert.18 Außerdem soll der IMF die Kooperation der Mitgliedsstaaten in der Währungspolitik sowie die Ausweitung des Handels fördern. Er soll sich dem Ziel der Stabilisierung von Wechselkursen und der Überwachung der nationalen Geldpolitiken widmen, hat hier allerdings fast nur auf die Kredite nehmenden Länder tatsächlichen Einfluss. Neben der Kreditvergabe bietet der IMF seinen Mitgliedsländern seit 1969 auch die Möglichkeit an, Devisen anderer Länder zu besseren als den Marktkonditionen (Sonderziehungsrechte) einzukaufen.

17Vgl.

http://www.imf.org/external/np/exr/facts/glance.htm und http://www.weltpolitik.net/ Sachgebiete/Weltwirtschaft%20und%20Globalisierung/Institutionen%20und%20Akteure/ IWF%20und%20Weltbank/. 18Diese Auflagen richteten sich während der 1990er nach den Prinzipien des sogenannten Washington Consensus (http://en.wikipedia.org/wiki/Washington_Consensus), der von den kreditnehmenden Ländern vor allem fiskalische Disziplin, Handelsliberalisierung, Beseitigung von Marktzugangsbarrieren, die Liberalisierung ausländischer Direktinvestitionen sowie die Privatisierung und Deregulierung der heimischen Wirtschaft ­forderte.

204

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Über einen sehr langen Zeitraum galten die Weltbank und noch stärker der IMF als die ‚Erfüllungsgehilfen‘ und Interessenvertreter der wirtschaftlich mächtigen Länder, vor allem der USA. Tatsächlich haben sich beide Organisationen über die letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich an neoklassischen und neoliberalen Politikorientierungen ausgerichtet und dementsprechend ihre Programme zur wirtschaftlichen Entwicklung und ihre Kreditvergabe umgesetzt (Dreher 2003). Dies hat sich seit der Jahrtausendwende zunächst für die Weltbank und dann auch für den IMF zumindest teilweise geändert (vgl. Abschn. 7.2). Nicht zuletzt durch die Generalisierung der Kernarbeitsnormen der ILO haben auch arbeits- und beschäftigungsrelevante Aspekte etwa bei der Kreditvergabe oder der Definition von ökonomischer Entwicklung immer stärker Eingang gefunden. WTO und OECD Für Fragen der internationalen Erwerbsregulierung nicht unwesentlich sind schließlich zwei weitere internationale Organisationen, die Welthandelsorganisation (WTO) sowie die Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung (OECD). Die WTO wurde 1995 als Nachfolgeorganisation des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade, gegründet 1948) gebildet, ihr traten durch Vertragsunterzeichnung insgesamt 161 Länder bei.19 Während das GATT vorwiegend der Förderung des internationalen Warenhandels durch Zollund Handelsabkommen diente, wurde die Idee der Internationalisierung mit der WTO auch auf die Bereiche des Handels mit Dienstleistungen, auf die Fragen der geistigen Eigentumsrechte (TRITS), auf die handelsbezogenen Investitionsmaßnahmen (TRIMS) sowie auf die Fragen landwirtschaftlicher Produkte (AoA) ausgedehnt. Die wichtigsten Prinzipien der WTO sind dabei, dass der Handel zwischen den Ländern ohne Diskriminierung (etwa durch Schutzzölle oder Privilegien) weiter ausgebaut werden solle, dass die Transparenz zwischen den einzelnen Ländern bestehende Absprachen sowie länderinterne Subventionsmaßnahmen für bestimmte Branchen oder Produkte sein sollten, sowie der Wettbewerb insgesamt gefördert werden solle, vor allem zum Vorteil der weniger entwickelten Länder. Die WTO organisiert mindestens jedes zweite Jahr eine Konferenz ihrer jeweiligen Wirtschafts- und Handelsminister, in der die Interpretationen und Veränderungen von entsprechenden Abkommen beraten werden. An ihrem Hauptsitz in Genf beschäftigt sie eine im Vergleich zu der ILO und der zuvor

19Vgl.

https://www.wto.org/english/thewto_e/whatis_e/tif_e/org6_e.htm.

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

205

genannten Weltbank und dem IMF vergleichsweise kleine Anzahl von etwa 630 Beschäftigten.20 Über verschiedene Beratungs- und Verhandlungsrunden hat die WTO versucht, ein neues generelles Handelsrahmenabkommen zu verabschieden, was allerdings bisher mit der sogenannten DOHA-Runde und deren Stagnieren nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Unterhalb der Ministerkonferenz tagt der Allgemeine Rat (General Council) als höchster Entscheidungsträger der WTO zwischen den Ministerkonferenzen. Dieser Allgemeine Rat dient auch als Streitschlichtungsorgan und als Gremium für die Überprüfung der Handelspolitik sowie als operatives Sekretariat. Dem allgemeinen Rat unterstehen Komitees und Räte für die verschiedenen Unteraspekte des Warenhandels, des Dienstleistungshandels sowie des Schutzes geistigen Eigentums.21 Ein wichtiges Prinzip, welches in der WTO-Arbeit eine tragende Rolle spielt, ist die sogenannte Meistbegünstigungsklausel (most-favoured-nation, MFN). Danach darf bzw. soll kein WTO-Mitgliedsstaat im bilateralen Handel schlechter gestellt oder diskriminiert werden. Umgekehrt müssen alle einem bestimmten WTO-Mitgliedsland gewährten Handelsbedingungen auch allen anderen WTO-Mitgliedern gewährt werden. Ausnahmen von dieser Meistbegünstigungsklausel sind allerdings festgehalten für bestimmte Fälle und Regionen (z. B. vergünstigte Handelsbeziehungen innerhalb der Commonwealth-Staaten nach dem sogenannten grandfather rights-Prinzip, die Handelsregelungen für den EG-Binnenmarkt, die Abkommen zwischen der EU und den sogenannten AKP-Staaten und ausdrücklich nur bilateral abgeschlossene Handelsabkommen).22 Während die Weltbank und der IMF nach der Verkündigung der Millenniumsziele durch die UN in den letzten Jahren erwerbsregulierungsrelevante Aspekte zunehmend in das eigene Arbeitsprogramm aufgenommen haben, lässt sich dies für die WTO nicht in gleichem Ausmaß sagen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Interessendivergenzen zwischen den WTO-Mitgliedsländern selbst bei Ausblendung von erwerbsrelevanten Fragestellungen extrem groß sind und eine grundlegende Einigung bisher unmöglich machten. So treffen regelmäßig die exportorientierten und die binnenmarktschützenden Interessen von Län-

20Vgl.

http://www.wto.org/english/thewto_e/secre_e/intro_e.htm. http://www.wto.org/english/thewto_e/whatis_e/tif_e/org2_e.htm und Sinti (2000, S. 116). 22Vgl. z. B. die Bestimmungen unter http://www.zoll.de/DE/Home/home_node.html; sehr umstritten ist die Anwendung der von der WTO gesetzten Prinzipien, vgl. Hauser (2001, z. B. S. 23); Dolzer (2004, z. B. S. 499). 21Vgl.

206

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

dern aufeinander, die sich z. B. nach ihren vorherrschenden Industriezweigen, der Bedeutung ihrer landwirtschaftlichen Produktion oder nach dem Stellenwert ihrer Dienstleistungsaktivitäten stark unterscheiden. Gleichwohl sind auch in die Agenda der WTO inzwischen erwerbsrelevante Regulierungsaspekte eingeflossen (vgl. Abschn. 7.2). Im Hinblick auf Erwerbsregulierung über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus hat die OECD im Gegensatz zur WTO in dem letzten Jahrzehnt sehr stark an Bedeutung gewonnen. Die OECD ist 1961 durch die Umbenennung der ‚Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit‘ (OEEC), einer zur Koordination des Marshallplanes nach dem 2. Weltkrieg ins Leben gerufenen Organisation, hervorgegangen. Die OECD umfasst inzwischen 34 Mitgliedsländer und steht mit etwa 70 weiteren Ländern in einem intensiven Beratungs- und Wissensaustausch.23 An ihrem Hauptsitz in Paris sind ca. 2500 Arbeitnehmer beschäftigt. Es werden etwa 250 Studien pro Jahr im Auftrag der OECD erstellt, für die Öffentlichkeitsarbeit sind das eigene Magazin OECD Observer und eine eigene Radio- und TV-Station relevant. Die OECD unterhält weitere Zentren in Berlin, Mexiko, Tokio und Washington und strebt eine verstärkte Zusammenarbeit mit Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika an. Im Rat der OECD als dem Führungsgremium sind Vertreter der Mitgliedsländer und der europäischen Kommission präsent. Hier werden Entscheidungen im Konsens getroffen. Das Sekretariat sowie Ausschüsse sind für die administrative und funktionale operative Arbeit zuständig. Entsprechend Artikel 1 der OECD-Konvention sind die Aufgaben der Organisation die Förderung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, die Erhöhung des Lebensstandards in den Mitgliedsländern, die Stabilisierung der öffentlichen Finanzen, die Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung von Drittstaaten sowie Hilfen zur Ausweitung des Welthandels. Hierzu führt die OECD vor allem Konferenzen und Studien durch und unterhält eine ausdifferenzierte und weitreichende Öffentlichkeitsarbeit. Aus der Aufgabenstellung wird ersichtlich, dass Fragen der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialpolitik zu den genuinen Themenfeldern der OECD gehören. Ein einschneidender Prozess der stärkeren Befassung mit Fragen der internationalen Erwerbsregulierung vollzog sich in der OECD im Zusammenhang der Verabschiedung von Verhaltensrichtlinien für multinationale Unternehmen. Nachdem die OECD diese Multinational Guidelines zunächst ohne jede öffentliche Diskussion und stark auf die einseitigen Interessen der internationalen Konzerne

23Vgl.

http://www.oecd.org/about.

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

207

verabschieden wollte, führte eine breite Protestbewegung zur Verabschiedung eines ausdifferenzierten Regelwerks zur Verhaltensnormierung und Beobachtung von multinationalen Konzernen (vgl. Abschn. 11.2). Internationale Gewerkschaftsverbände Neben der ILO sind für die Internationalisierung der Erwerbsregulierung zweifelsohne die internationalen Verbände der Gewerkschaften von hervorragender Bedeutung. Sehr lange Zeit existierten weltanschaulich unterschiedliche Dachverbände, die sich nach dem 2. Weltkrieg über ein halbes Jahrhundert lang stabilisiert und teilweise auch gegenseitig blockiert hatten. Die Idee eines Zusammenschlusses der nationalen Gewerkschaftsverbände entstand bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts und führte 1901 zu einer ersten internationalen Konferenz in Kopenhagen. Zwei Jahre später wurde unter dem Vorsitz von Carl Legien ein internationales Sekretariat eingerichtet und im Jahre 1913 in Zürich die International Federation of Trade Unions (IFTU, in Deutsch: Internationaler Gewerkschaftsbund, IGB) gegründet. Dessen Sekretariat war bis 1930 in Amsterdam angesiedelt und wurde dann nach Berlin verlegt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde es zunächst nach Paris und dann 1940 nach London verlegt. Seit 1945 wurde der Großteil des IGB unter starker Einflussnahme der Sowjetunion als Weltgewerkschaftsbund (WGB, World Federation of Trade Unions WFTU) weitergeführt. 1949 spaltete sich der eher sozialdemokratisch orientierte Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG, International Confederation of Free Trade Unions ICFTU) vom WGB ab. Somit standen sich – neben einer internationalen christlichen Gewerkschaftsföderation, dem Weltverband der Arbeit (World Confederation of Labour WCL), mit allerdings vergleichsweise geringem Einfluss – seit der Zeit des Kalten Krieges der kommunistisch und an der Sowjetunion orientierte Weltgewerkschaftsbund (WGB) einerseits und der westlich-marktwirtschaftlich orientierte Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) andererseits gegenüber.24 Trotz aller Bemühungen von verschiedenen Seiten und zu verschiedenen Zeiten blockierte diese West-Ost-Konfrontation nachhaltige Entwicklungen der grenzüberschreitenden Kooperation der Weltgewerkschaftsverbände. Viele Beschlüsse wurden unter den taktischen Kalte-Kriegs-Erwägungen gefasst. Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa Spanien, wo ein an der kommunistischen Partei orientierter Gewerkschaftsverband (Comisiones Obreras) und eine sozialdemokratische

24Zur

Geschichte der internationalen Gewerkschaften vgl. Platzer und Müller (2009); ICTUR (2005).

208

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Gewerkschaftsföderation (UGT) existieren. Selbst im Widerstand gegen das autoritäre Franco-Regime war die Kooperation zwischen den beiden Verbänden (und anderen wie z. B. anarcho-syndikalistisch ausgerichteten Vereinigungen) extrem schwierig. Selbst nach dem Beitritt Spaniens zur EU blockierte die globale Ost-West-Konfrontation die Kooperation auf der betrieblichen, nationalen und internationalen Ebene. So war es etwa deutschen Gewerkschaftern, die in einer DGB-Branchengewerkschaft (z. B. IG Metall oder früher IG Bergbau und Energie) tätig waren, nicht erlaubt, mit Gewerkschaftern der Comisiones Obreras in Spanien zu kooperieren, auch wenn diese einen erheblichen Anteil der Arbeitnehmer in Zweigwerken deutscher Konzerne in Spanien repräsentierten. Bei SEAT in Katalonien etwa waren die UGT sowie die Comisiones Obreras in dem Fabrikkomitee lange Zeit etwa gleich stark. Zu Arbeitstreffen und Koordinationsaktivitäten auf europäischer Ebene konnten aber die Comisiones Obreras formell nicht einbezogen werden, weil der internationale Dachverband IBFG entsprechende Kooperationen mit Mitgliedsgewerkschaften des WGB nicht erlaubten. Nach der ‚Implosion des realen Sozialismus‘ in der ehemaligen Sowjetunion und mit der Integration vieler ehemaliger Ostblockländer in die EU verlor der kommunistisch ausgerichtete WGB sehr stark an Bedeutung. Im Jahre 2006 schlossen sich dann der IBFG, der Weltverband der Arbeit sowie acht andere bis dahin keinem Dachverband angehörigen Gewerkschaften zur internationalen Gewerkschaftskonföderation (International Trade Union Confederation, ITUC) zusammen. Gemeinsam mit dem Gewerkschaftlichen Beratungskomitee der OECD (Trade Union Advisory Committee TUAC) und den internationalen Branchengewerkschaften ist er in dem Verband Global Unions organisiert, der 2007 gegründet wurde, um die Gewerkschaftsarbeit auf internationaler Ebene zu koordinieren.25 Die ITUC vertritt im Jahre 2016 eigenen Angaben zufolge 180 Mio. Beschäftigte in 333 nationalen Mitgliedsorganisationen in 162 Ländern und Hoheitsgebieten.26 Neben ihren Regionalorganisationen (in Europa, Amerika, Asien/Pazifik, Afrika) unterhält sie auch Büros in verschiedenen Städten (in Amman, Genf, Moskau, New York, Sarajevo, Vilnius und Washington DC). Alle vier Jahre findet ein internationaler Kongress der ITUC statt, auf dem grundlegende Politikorientierungen beraten sowie der Vorstandsund Lenkungsausschuss des ITUC gewählt werden.27

25Vgl.

http://www.global-unions.org/-about-us-.html; BDA (2011, S. 6). http://www.ituc-csi.org/about-us?lang=en. 27Vgl. http://www.ituc-csi.org/und http://www.ituc-csi.org/spip.php?rubrique58, als kritische Diskussion dieses Zusammenschlusses aus lateinamerikanischer Sicht vgl. Wachendorfer 2006 und allgemein die Beiträge in Gordon und Turner (2000). 26Vgl.

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

209

Ausdrücklich formuliert die ITUC die Förderung und Verteidigung von Arbeitnehmerrechten und Arbeitnehmerinteressen durch internationale Zusammenarbeit der Gewerkschaften, durch globale Kampagnen und durch Lobbyarbeit bei den großen internationalen Organisationen als Schwerpunkte der eigenen Arbeit. Besondere Bedeutung hat dabei die Kooperation mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund (European Trade Union Confederation, ETUC), den globalen Gewerkschaftsföderationen (GUF) als den Nachfolgeorganisationen der internationalen Berufssekretariate sowie mit dem gewerkschaftlichen Beratungsausschuss der OECD (TUAC), einer für die Umsetzung der OECD-Multinational Guidelines sehr wichtigen Einrichtung.28 Der EGB unterscheidet sich von den anderen drei Regionalorganisationen (in Amerika, Asien/Pazifik, Afrika) im ITUC durch eine wesentlich stärkere eigenständige Führung sowie durch seine Einbettung in eine extrem differenzierte und regelungsmächtige europäische Politikebene.29 Da die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen weltweit nach Branchen sehr stark variieren, haben die GUFs eine große Bedeutung für die konkrete branchenbezogene internationale Erwerbsregulierung. Die Tab. 6.2 vermittelt einen Eindruck von der stark variierenden Größe nach nationalen Mitgliedsorganisationen, erfassten Ländern und vertreten Gewerkschaftsmitgliedern der GUFs. So repräsentieren etwa die Internationale Journalistenföderation IFJ und die Internationale Kunst- und Unterhaltungs-Allianz IAEA jeweils weniger als eine Million Mitglieder weltweit, während die im Jahre 2012 aus einer Fusion von ICEM, IMF und ITGLWF hervorgegangene GUS IndustriALL über 50 Mio. Mitglieder angibt. IndustriALL ist nach Wirtschaftssektoren gegliedert, und auch die anderen GUFs tragen der Tatsache Rechnung, dass etwa für Seefahrer völlig andere Problem- und Themenstellungen auf der Tagesordnung stehen als für Textilarbeiterinnen, Chemie- oder Automobilarbeiter, die Beschäftigten im Landtransportwesen oder im Einzelhandel. Der ITUC fallen deshalb besonders Aufgaben im Bereich der generellen Gewerkschafts- und Menschenrechte, der Leitprinzipien für die Gestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitsplatz, im Bereich der Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung sowie der Förderung internationaler Solidarität zu. Hier bieten sich die internationalen Organisationen,

28Vgl.

zu den GUFs http://www.global-unions.org/ und Carley (2000/2001); zur Arbeitsweise von TUAC vgl. auch Abschn. 6.7.2. 29Vgl. zur europäischen Ebene ausführlicher Kap. 8; zum ETUC vgl. http://www.etuc. org/und zur jüngsten Entwicklung der internationalen Gewerkschaftsstrukturen insgesamt die umfassende Studie von Platzer und Müller (2009).

Education International (EI)

635 900 300

Public Service International (PSI)

Global Union for skills and services (UNI)

International Arts and Entertainment Alliance (IAEA)

180 Mio.

162

International Trade Union Confederation (ITUC) 2016

0,8 Mio.

20 Mio.

20 Mio.

154 Mio.

70

140

11 Mio.

10 Mio.

4,5 Mio.

25 Mio.

0,6 Mio.

20 Mio.

30 Mio.

12 Mio.

Summe 333

120

330

International Union of Food, Agricultural, Hotel, Restaurant, Catering, Tobacco & Allied Workers‘ Associations (IUF)

156

110

217

International Textile, Garment and Leather Workers Federation (ITGWLF)a

148

100

660

200

International Transport Workers’ Federation (ITF)

International Metalworkers’ Federation

117

161

International Federation of Journalists (IFJ) (IMF)a

172 112

401

International Federation of Chemical, Energy, Mine & 400 General Workers’ Unions (ICEM)a

130

328

Building and Woodworkers International (BWI)

Anzahl vertretene Beschäftigte

Quelle: Eigene Ausarbeitung auf Basis von www.global-unions.org; http://www.boeckler.de/36202_36388. htm; http://www.ituc-csi. org/about-us?lang=en adie drei GUFs ICEM, IMF und ITGLWF schlossen sich 2012 zur neuen GUF IndustriALL zusammen, vgl. http://www.industriall-union.org/

Globale Gewerkschaftsföderationen (Global Union Federations GUFs, ehemals Internationale Berufssekretariate)

Anzahl nationale Anzahl der verGewerkschaften tretenen Länder

Organisation

Tab. 6.2   Internationale Gewerkschaftsverbände GUFs 2010 und ITUC 2016

210 6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

211

allen voran die ILO, als natürlicher Adressat der internationalen Gewerkschaftsaktivitäten an. Während die Aktivitäten der ITUC seit ihrer Gründung weitgehend als internationale Koordination von starken, selbstbewussten und nicht selten auch national denkenden Landeskonföderationen geprägt sind, lässt sich seit den 2000er Jahren neben dieser (weiteren) Inter-Nationalisierung der Beschäftigtenseite der Erwerbsregulierung auch eine stärkere Differenzierung der grenzüberschreitenden Gewerkschaftsstrukturen in Richtung Globalisierung und Transnationalisierung und generell eines Mehrebenensystems registrieren. So wurde bereits in 2007 der Rat der Globalen Gewerkschaften (Council of Global Unions CGU) gegründet. Auf dem Treffen der Generalsekretäre der CGU im Juni 2014 wurde eine Vereinbarung zwischen den GUFs (BWI, EI, ICEM, IFJ, IMF, ITGLWF, ITF, IUF, PSI, UNI), dem ITUC und der TUAAC abgeschlossen, um „das Wachstum der Gewerkschaftsmitgliedschaft und das gemeinsame Interesse der Gewerkschaftsmitglieder weltweit zu stärken. Es soll auch die Kooperation zwischen den selbstständigen globalen Organisationen gefördert werden, um die generellen Ziele zu erreichen und so alle zu stärken.“30 Für den Europäischen Gewerkschaftsbund (ETUC) lässt sich eine Supranationalisierungstendenz beobachten. Nicht zuletzt aufgrund der Einbindung in die supranationalen Strukturen des europäischen Sozialen Dialogs (vgl. Kap. 8) operiert der Europäische Gewerkschaftsbund vornehmlich als eigenständige und gewichtige europäische Organisation (und nicht nur als Clearing-Stelle der nationalen Gewerkschaftskonföderationen, auch wenn durch die EU-Osterweiterung beachtliche neue Integrationsherausforderungen auf den ETUC zukamen). Der im Jahre 2007 gegründete PAN-Europäische-Regionalrat kann hier zu einer intensiveren Kooperation der Gewerkschaftsverbände in Europa führen. Im Vergleich dazu haben die Regionalorganisationen in Asien/Pazifik, Afrika und Amerika bisher keine über das Niveau von inter-nationalen Koordinationsgremien hinausgehende Bedeutung gewinnen können und sind wesentlich stärker in die ITUC-Strukturen eingebunden.31

30http://www.global-unions.org/cgu-general-secretaries-meeting,420.html,

document 02; vgl. auch http://www.global-unions.org/council-of-global-unions.html. 31Traub-Merz und Eckl (2007) geben einen Überblick über die organisationspolitischen Probleme der internationalen Gewerkschaften, besonders die zwischen der ITUC-, der GUF- und der ETUC-Struktur. Zur Frage des transnationalen Lernens und der grenzüberschreitenden Verbreitung gewerkschaftlicher Strategien vgl. Block et al. (2001); Brandl und Stelzl (2005) und Greven und Schwetz (2008).

212

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Die grenzüberschreitende Vertretungswirksamkeit der Gewerkschaften auf der makroregionalen und der globalen Ebene hängt grundsätzlich von den institutionellen Strukturen und Verhandlungspartnern ab, die sie auf der jeweiligen Ebene vorfinden. Sowohl die Arbeitgeberverbände als auch die Staatenverbünde (wie OAS, Mercosur, NAFTA oder ASEAN) sind auf der makroregionalen Ebene insgesamt relativ schwach – die Ausnahme der EU wird im Kap. 8 ausführlicher zu behandeln sein. Sie eignen sich auch nur eingeschränkt als Adressaten von Forderungen, weil sie sich nur am Rande mit Fragen der Erwerbsregulierung beschäftigen. Aber selbst wenn die Voraussetzungen eines angemessenen ‚Verhandlungsgegenübers‘ wesentlich besser wären: Ein Strukturproblem all dieser grenzüberschreitenden Gewerkschaftsverbände ist die enorme Heterogenität von landesspezifischen Bedingungen, die sie unter einem Dach integrieren. Die Organisationsgrade und die Legitimationsstrategien gegenüber den eigenen Mitgliedern, den Unternehmen, staatlichen Einrichtungen und der Zivilgesellschaft unterscheiden sich dabei ebenso wie politisch-institutionelle Traditionen etwa von parteipolitischen bzw. Richtungsgewerkschaften oder Einheitsgewerkschaften. Sehr stark variieren auch die Hauptorientierungen der Gewerkschaftsverbände nach entweder der internen Mitgliederlogik oder der nach außen gerichteten Einflusslogik. Die institutionellen Einbindungen der Gewerkschaften auf lokaler, nationaler und übernationaler Ebene, ihre spezifischen historischen Entwicklungen und Erfahrungen, ihre Organisationsressourcen, ihre Verankerung in Unternehmen und Regionen, ihre politisch-ideologischen Orientierungen hinsichtlich Konflikt und Kooperation sowie ihre Verbindung zu möglichen betrieblichen oder unternehmensbezogenen Interessenvertretungsorganen, die zumindest formal unabhängig von der gewerkschaftlichen Organisation bestehen (wie z. B. Betriebsräte in Deutschland oder Fabrikkomitees in Indien) – alle diese Faktoren beeinflussen die Bereitschaft und Fähigkeit zur grenzüberschreitenden Kooperation. Internationale Arbeitgeberverbände und Unternehmen Neben den grenzüberschreitenden Formen der Kooperation auf Arbeitnehmerbzw. Gewerkschaftsseite sind auch die Arbeitgeberverbände von erheblicher Bedeutung. Ohne einen starken Verhandlungspartner, der auch die Autorität gegenüber den eigenen Mitgliedsverbänden besitzt, Beschlüsse und Kompromisse durchzusetzen, ist auch die Bedeutung der Gewerkschaftsseite strukturell eingeschränkt. Dies zeigt sich bereits auf europäischer, noch stärker aber auf der Weltebene. Eine strategische Rolle bei der Gestaltung der Arbeitgeber-­ Arbeitnehmerbeziehungen auf globaler Ebene kommt dem internationalen

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

213

­ rbeitgeberverband (IOE) zu. Durch die Globalisierung organisieren sich nicht A nur die internationalen Gewerkschaftsverbände immer umfassender, sondern auch die Interessenvertretungen der Arbeitgeber, um die Unternehmen in den globalen industriellen Beziehungen zu stärken (vgl. Abschn. 6.3).32 In Europa sind die Zusammenschlüsse der Arbeitgeberverbände im Vergleich zu der relativ engen Kooperation auf Gewerkschaftsseite eher schwach und locker koordiniert. Insgesamt gibt es z. B. bei dem Europäischen Arbeitgeberverband UNICE (seit Januar 2007 umbenannt in BusinessEurope) nur etwa 45 Beschäftigte in dessen Zentrale in Brüssel.33 Auf der Weltebene gestalten sich die internationalen Verbände der Arbeitgeber noch schwächer.34 Die Schwäche der Arbeitgeberverbände geht einher mit einer enormen Stärke vieler international agierender Konzerne. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Ausweitung und Vertiefung der Aktivitäten grenzüberschreitender Unternehmen gemessen an den ausländischen Direktinvestitionen ergeben (Abb. 6.1). Die Abbildung gibt die jährlichen ausländischen Direktinvestitionen für die gesamte Welt wider und differenziert diese nach den drei Zielregionen „entwickelte Länder“, „sich entwickelnde Länder“ und „Transitionsländer“ (ehemalige sozialistische Länder Osteuropas). Es werden die beiden Höhepunkte zur Krise um die Jahrhundertwende und zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 deutlich. Während die Bedeutung der Transitionsländer gering blieb und seit 2013 schrumpft, hat der Anteil der sich entwickelnden Länder seit dem 21. Jahrhundert kontinuierlich auf fast die Hälfte aller FDIs zugenommen. Ausländische Direktinvestitionen machten im Jahre 1990 etwa 2,2 Billionen US-Dollar ausmachten, diese Zahl hat sich bis 2014 auf 26 Billionen US-Dollar fast verzwölffacht. (UNCTAD 2015, S. 240, Anhangstabelle 2).

32Vgl.

www.ioe-emp.org/; http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/DE_BDA_ International. 33Auf europäischer Ebene gibt BusinessEurope 40 Mitgliederorganisationen aus 34 Ländern und 60 Arbeitsgruppen mit ca. 1200 Experten an, welche von den einzelnen Komitees im Bedarfsfall eingesetzt und koordiniert werden, vgl. https://www.businesseurope.eu/historyorganisation. 34Vgl. zur International Organisation of Employers http://www.ioe-emp.org/und zur International Chamber of Commerce http://www.iccwbo.org/; neben diesen allgemeinen Arbeitgeberverbänden vgl. z. B. den World Business Council for Sustainable Development (WBCSD, http://www.wbcsd.org) und die dort aufgeführten internationalen Verbände. Zu den Arbeitgeberverbänden in den EU-Ländern und ihrer relativen Schwäche vgl. EU (2006, 32 ff.).

214

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Abb. 6.1   Jährlicher Zufluss ausländischer Direktinvestitionen nach Zielregionen. (Quelle: Eigene Darstellung nach http://unctadstat.unctad.org/wds/ReportFolders/reportFolders.aspx)

Für 2014 stieg im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl der internationalen Zusammenschlüsse und Aufkäufe von Unternehmen mit einem Wert von jeweils über einer Milliarde US-Dollar von 168 auf 223 registrierten mergers&acquisitions (ebd., S. ix). Umsatz und investiertes Kapital der Multinationalen Unternehmen (MNE) wuchs in deren Auslandsstandorten schneller als im Stammsitzland; die Auslandsstandorte beschäftigen insgesamt ca. 75 Mio. Menschen (ebd., S. ix). Seit 2010 wuchsen die Auslandsdirektinvestitionen sowie die für die Jahre 2015 und 2016 prognostizierten Auslandsdirektinvestitionen jeweils (bis auf die Jahre 2012 und 2014) wesentlich schneller als das globale Bruttoinlandsprodukt (ebd., S. 2). Internationale Unternehmen sind also insgesamt quantitativ bedeutsamer geworden und auch im Hinblick auf ihre relative Bedeutung für die Nationalstaaten, den Welthandel und die Weltproduktion. Gerade auch für die Erwerbsbedingungen und die Beschäftigten sind grenzüberschreitende Austauschbeziehungen – selbst wenn der konkrete Arbeitgeber nur in einem Land aktiv ist – von kaum zu überschätzender Bedeutung. Denn auch die nur in einem Land wirtschaftlich tätigen Unternehmen sind über Zulieferer-, Kunden- und Dienstleistungsbeziehungen sowie Preis- und Währungswechselwirkungen auf mannigfache Weise in die globalisierte Wirtschaft eingewoben. Sie haben darüber hinaus auch vielfach ihre grenzüberschreitenden Kooperationen auf der Konzernebene intensiviert. Hierzu haben z. B. die Autoren Bartlett und

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

215

­ hoshal 1989 interessante Studien vorgelegt. Große internationale Konzerne relativ G kleiner Länder (wie etwa Philipps für die Niederlande oder Sandoz für die Schweiz) waren schon sehr lange vergleichsweise international aktiv. Mit der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft haben sich aber auch viele Konzerne internationalisiert, die noch bis in die 1970er oder 1990er Jahre hinein weitgehend national produzierten (z. B. die japanischen Automobilkonzerne, die neue sogenannte transplant-Werke in den USA und später auch in Europa und Asien aufbauten, oder BMW und Daimler als ehemals national produzierende Unternehmen (vgl. Pries 1999, 2005b). Im Hinblick auf die Internationalisierung der Unternehmen sind branchenbezogene und andere Besonderheiten zu beachten. Während z. B. viele Endhersteller von Markenprodukten bestrebt sind, in allen wichtigen Großregionen und Absatzmärkten mit eigenen Fertigungsstätten, aber häufig auch Forschungs- und Entwicklungskompetenzen präsent zu sein, verteilen Zulieferunternehmen ihre weltweiten Aktivitäten sehr stark nach den Prinzipien der jeweiligen komparativen Kostenvorteile. Textil- und Bekleidungshersteller lassen ihre meistens lohnintensiven Endprodukte in der Regel in Ländern mit sehr niedrigem Lohnniveau vorfertigen und herstellen und verkaufen sie dann weltweit unter Markennamen wie GAP, H&M, Adidas oder Nike. Dagegen produzieren kleine Sport- bzw. Luxuswagenhersteller wie Porsche oder Bentley in nur einem Land (Deutschland bzw. England), um von diesen Hochlohnländern aus ihre exklusiven Produkte in die ganze Welt zu exportieren. Alle größeren Automobilkonzerne der Welt (ob japanischen, koreanischen, US-amerikanischen oder europäischen Ursprungs) fertigen inzwischen ihre neuesten komplexen Modelle in allen wichtigen Weltregionen. Während die Produktion vieler landwirtschaftlicher Güter an spezifische Boden- und Klimabedingungen gebunden ist, werden die Standorte für die Produktion großer Aufträge von nationaler Bedeutung – wie etwa großer Ziviloder Militärflugzeuge im Falle der Konkurrenz zwischen EADS/Airbus und Boeing um die Produktion von 179 Militärtankflugzeugen – zuweilen von politisch-öffentlichkeitsrelevanten Opportunitäten bestimmt. So hatte z. B. Airbus die Schaffung von etwa 1000 neuen Arbeitsplätzen in den USA für den Fall eines Auftragserhalts für die Militärtankflugzeuge zugesagt, auch wenn die Produktion an den europäischen Airbus-Standorten unter Umständen preisgünstiger gewesen wä re.35 Insgesamt zeigt sich, dass die Wertschöpfungsketten innerhalb und zwischen den Unternehmen immer komplexer und immer internationaler werden.

35Vgl. zu diesem sogenannten Power-8-Programm http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ 967/435714/text/ und http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/ 2007/0227/wirtschaft/0031/index.html.

216

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Für den Beginn des neuen Jahrhunderts wurde geschätzt, dass ein Drittel des weltweiten Handels intra-organisationaler Handel innerhalb großer grenzüberschreitender Konzerne ist.36 Gleichzeitig zu einer zunehmend internationalisierten Verteilungsstruktur dieser Konzerne wachsen auch die Mechanismen einer starken internationalen Koordinierung der Aktivitäten in allen wichtigen Funktionsbereichen. Hierzu zählt etwa die dezentrale Forschung und Entwicklung sowie die in völlig andere Weltgegenden verlagerte Ausgliederung bestimmter Dienstleistungsaktivitäten (wie etwa produktbezogener Callcenter). Zu diesen intensivierten internationalen Koordinationsmechanismen innerhalb großer Konzerne gehört auch die wachsende grenzüberschreitende Mobilität von Fach- und Führungskräften. Nicht nur Topmanager werden als sogenannte Expatriates für zwei bis vier Jahre in ausländische Standorte delegiert, auch die Praxis von sehr kurzfristigen, einige Monate dauernden Fachkräfteeinsätzen etwa für Produktionsanläufe oder Schulungsmaßnahmen wird immer mehr zur Regel. Für viele Führungskräfte sind längere Auslandsaufenthalte inzwischen ein unverzichtbarer Baustein in der Karriereleiter. Sehr direkte Bedeutung gewinnen die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Konzernen für lokale ­ Belegschaften immer dann, wenn sich die Frage nach zusätzlichen Investitionen und Arbeitsplätzen oder umgekehrt nach der Reduktion von Belegschaften an bestimmten oder gar der Schließung von ganzen Standorten stellt. Hier operieren die internationalen Unternehmen mit vielfältigen Instrumenten der Vergleiche und Rankings von Standorten nach Produktivität, Flexibilität, Qualität oder Innovationsfähigkeit. Bei Entscheidungen, wo welche Produkte in welcher Stückzahl produziert werden, organisieren die Konzernleitungen nicht selten einen Bieterwettbewerb zwischen interessierten Standorten, in den auch ein concession bargaining auf der Arbeitnehmerseite einbezogen wird, also ein Verhandeln von Zugeständnissen bei den Arbeits- Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen. Auf der Arbeitnehmerseite entsteht so nicht selten eine Spannung zwischen der Solidarität mit den Beschäftigten der anderen Standorte einerseits und der Konkurrenz um Arbeitsplätze und Investitionen andererseits. Häufig sind hierbei transnationale Kommunikations- und Vertrauensstrukturen auf der Arbeitnehmerseite eine notwendige Vorbedingung für die – und gleichzeitig ein Ergebnis von der – Formulierung gemeinsamer Interessen gegenüber dem Management. Nicht selten sind die gemeinsamen Interessen von Beschäftigten und Management eines Standortes oder Landes im grenzüberschreitenden intra-organisationalen Wettbewerb

36Vgl.

http://unctad.org/en/Docs/td393_en.pdf.

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

217

(z. B. an dem ‚Zuschlag‘ für die Produktion eines zukunftsträchtigen P ­ roduktes) stärker ausgeprägt als die gemeinsamen Interessen der Beschäftigten aller Standorte gegenüber den gemeinsamen Interessen des Managements (z. B. an der Einhaltung von Mindeststandards bei der Arbeitszeitflexibilität). Schließlich kompliziert sich diese grenzüberschreitende Kooperation auf Arbeitnehmerseite noch dadurch, dass die entsprechenden internationalen Gewerkschaftsstrukturen äußerst heterogen sind und die internationalen Gewerkschafsverbände starke eigene Organisationsinteressen verfolgen (z. B. an der Ausweitung ihres Einflusses in einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region oder an der globalen Durchsetzung bestimmter arbeitspolitischer Ziele), die nicht immer mit den Interessen der Arbeitnehmer eines großen Konzerns übereinstimmen oder kompatibel gemacht werden können (z. B. an der Verteidigung relativer Privilegien gegenüber kleineren Unternehmen und lokalen Erwerbsbedingungen). All diese Tendenzen der Ausweitung und Intensivierung grenzüberschreitender Unternehmensaktivitäten haben mehr oder weniger direkten Einfluss auf Fragen der Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation. Wie werden Unternehmensbeschäftigte im Ausland entlohnt, welche Vertragsbedingungen gelten für die Zeit ihrer Entsendung und nach ihrer Rückkehr? Wie sind die Arbeitnehmervertretungen an Entscheidungen über Investitionen an vorhandenen oder neu geplanten Standorten beteiligt? Wie reagieren nationale bzw. lokale Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaftsverbände auf internationale Richtlinien für Personaleinsatz oder auf Leitlinien für ‚Human Ressource-Management‘? Wie ist mit den Spannungen umzugehen, die daraus erwachsen können, dass bei gleicher Arbeit und gleicher Produktivität an zwei Standorten in unterschiedlichen Ländern völlig verschiedene Löhne für die Beschäftigten bezahlt werden?37 All diese Fragen zeigen, dass die internationale Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation durchaus nicht nur im Interesse der Arbeitnehmer und ihrer Interessenvertretungen ist, sondern auch für die Unternehmensleitungen wichtige Funktionen einer Harmonisierung und Verbesserung eigener Geschäftstätigkeiten hat. Internationale Nicht-Regierungsorganisationen Neben den bisher angesprochenen Internationalen Gouvernementalen Organisationen (IGOs) und den Unternehmen als For-Profit-Organisationen (FPOs) haben vor allem in den letzten zwanzig Jahren die Internationalen Nicht-Gouvernementalen

37Regelmäßig

gibt es in großen Konzernen hierzu Diskussionen auch auf der Arbeitnehmerseite, z. B. für VW- und Skoda-Arbeitnehmer in Wolfsburg und Tschechien oder für Airbus-Arbeitnehmer in Frankreich und Deutschland.

218

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

Abb. 6.2   Internationale Organisationen: INGOs und IGOs (1950–2005). (Quelle: UIA 2008, S. 37)

Organisationen (INGOs) bzw. allgemein die Nicht-Gouvernementalen Organisationen (NGOs) für die grenzüberschreitende Erwerbsregulierung eine beachtliche Bedeutung gewonnen. Das Jahrbuch für Internationale Organisationen registriert für das Jahr 1980 etwa 10 000 INGOs. Für das Jahr 2005 dagegen werden ca. 30 000 Organisationen aufgeführt (UIA 2008, S. 36). Hierbei zeigt sich eine besonders deutliche Zunahme bei den INGOs, deren Anzahl sich seit Ende der 1970er Jahre bis 2005 fast versechsfacht hat (vgl. Abb. 6.2). Aus diesem enormen Wachstum der Anzahl vor allem an INGOs lassen sich noch keine direkten Rückschlüsse auf diejenigen Organisationen ziehen, die sich direkt oder indirekt auch mit Themen der Arbeits-, Beschäftigungsund Partizipationsbedingungen befassen. Wie in dem nächsten Kap. 7 an verschiedenen Beispielen deutlich wird, gibt es aber bei sehr vielen INGOs solche Bezüge zu Fragen der Erwerbsregulierung. Selbst solche INGOs, die sich formal primär oder ausschließlich dem Verbraucherschutz, dem internationalen fairen Handel oder bestimmten ökologischen Themen verschreiben, haben nicht selten in ihren praktischen Aktivitäten enorme Relevanz für die Regulierung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbeziehungen. Eine genauere Analyse zeigt, dass Europa nicht nur den absolut größten Anteil aller in ­internationalen Organisationen vertretenen Länder repräsentiert, sondern dass auch die Wachstumsdynamik in Europa besonders ausgeprägt war (vgl. Abb. 6.3).

6.3  Akteure internationaler Erwerbsregulierung

219

Abb. 6.3   Mitgliederzahlen in Internationalen Organisationen (1956–2004). (Quelle: UIA 2008, S. 131)

Über das Verhältnis der INGOs und der häufig mit ihnen verbundenen sozialen und zivilgesellschaftlichen Bewegungen zu den formalen staatlichen Strukturen der Interessenregulierung und der Normensetzung gibt es durchaus kontroverse Äußerungen. So vergleicht etwa einer der großen internationalen Forscher sozialer Bewegungen und INGOs das Verhältnis von gouvernementalen Organisationen einerseits und sozialen Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen andererseits mit einem Korallenriff. Hierbei repräsentieren die sozialen Bewegungen und INGOs die wellenförmigen Bewegungen des Meeres und die Korallenriffe die vergleichsweise starren Strukturen staatlicher Organisationen, Verträge und Organe. Symbiotisch ist diese Beziehung insofern, als das Korallenriff Sediment und Ausdruck des ständigen Wirkens der wellenförmigen Bewegungen ist und umgekehrt die Wellen keinen Widerstand hätten, an dem sie sich brechen und dem sie ihre Nährstoffe zuführen könnten (Tarrow 2005). Während Wissenschaftler, die den INGOs und sozialen Bewegungen nahe stehen, deren Bedeutung hervorkehren und besonders betonen, dass sie die eigentlichen Triebkräfte für Innovation und auch die Veränderung der gouvernementalen Organisationen seien, argumentieren umgekehrt die eher den gouvernementalen Einrichtungen nahestehenden Forscher, das letztlich die Umsetzungsfähigkeit von Politiken und ihre Breitenwirkung nur durch die f­ormalisierten Strukturen der IGOS möglich und auf Dauer gestellt würden. Wie bereits im Kap. 1 hervorgehoben wurde, erscheint eine solche schematische Gegenüberstellung

220

6  Divergenz, Konvergenz und/oder Internationalisierung

wenig hilfreich (Walk 2004). IGOS und INGOS müssen als Bestandteile emergierender Netzwerktexturen der grenzüberschreitenden ­ Regulierung aufgefasst werden. In diesem komplexen Flechtwerk wirken s­taatliche und nicht-staatliche Akteure, Profit- und Nonprofit-Organisationen sowie soziale Bewegungen und formale Organisationen zusammen. Eine zentrale These dieses Buches ist: Die Bedeutung, Funktionen, Grenzen und Ambivalenzen jedes einzelnen dieser Elemente emergierender transnationaler Netzwerktexturen können nicht nur isolierte Untersuchungen, sondern nur in einer kontextualisierten Analyse ermittelt werden. Eine Fahrradkette ist zur Fortbewegung ebenso untauglich wie ein oder zwei einzelne Reifen oder ein Rohrgestänge. Zusammen können diese Elemente aber ein erstaunliches Zusammenspiel entwickeln. Ähnliches gilt für alle komplexen Funktionssysteme. Entscheidend erscheint in diesem Zusammenhang, dass – vielleicht nicht zuletzt wegen der starken Tradition des ‚methodologischen Nationalismus‘ – grenzüberschreitende Formen der Erwerbsregulierung bisher vorwiegend als einzelne Elemente, nicht aber als Teile eines zusammenwachsenden transnationalen Gewebes analysiert und diskutiert wurden. Wie diese verschiedenen Elemente der internationalen Erwerbsregulierung zusammenwirken bzw. zusammenwirken können, ist Gegenstand der nächsten Kapitel.

7

Globale und internationale Erwerbsregulierung

In den vorangegangenen Kapiteln wurde gezeigt, dass Erwerbsarbeit in ihren spezifischen Formen nach Ländern jeweils sehr unterschiedlich gestaltet ist und reguliert wird. Die besondere Ausgestaltung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen wird also offensichtlich weder von der Wirtschaft, noch von der Technologie oder der Unternehmensorganisation einseitig festgelegt. Diese Ausformung der Erwerbsarbeit kann nicht durch ökonomischen, technischen oder organisatorischen Determinismus erklärt werden. Vielmehr erhält Erwerbsarbeit vor allem im Rahmen von gesamtgesellschaftlichen Institutionen ihre spezifische Ausprägung. Hierbei lassen sich idealtypisch die sozialen Institutionen Netzwerk, Markt, Beruf, Organisation und öffentliches Regime unterscheiden (Kap. 2). Dabei sind mehrere Dimensionen der jeweiligen Festlegung und Kontrolle der Bedingungen, unter denen Erwerbsarbeit stattfindet, zu beachten. Die Regelungsgegenstände, die Regulierungsarenen, die Regelungsreichweite, der Regulierungsmodus, die Formen der Konfliktregulierung, die jeweiligen dominanten Akteure, die wichtigsten Machtressourcen, die charakteristischen Akteurskonstellationen und die die Erwerbsregulierung tragende gemeinsame Weltdeutung bzw. Ideologie der beteiligten Akteure sind als die wichtigsten Aspekte der Regulierung von abhängiger Erwerbsarbeit vorgestellt worden (Kap. 4). Als zwei äußerst wichtige, aber in der Literatur zur Erwerbsregulierung bisher nur wenig beachtete Länder wurden Indien und die Volksrepublik China im Hinblick auf ihre historisch gewachsenen Systeme der Erwerbsregulierung vorgestellt (Kap. 5). Aus diesen zwei Beispielländern ergab sich die generelle Frage, ob sich unter den Bedingungen zunehmender Internationalisierung die Formen der Erwerbsregulierung tendenziell angleichen oder ob sie eventuell sogar weiter auseinanderdriften. Die Frage – so wurde argumentiert – kann man nicht angemessen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_7

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7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

im Rahmen eines ‚methodologischen Nationalismus‘ beantworten: Es müssen die real bestehenden, Ländergrenzen übergreifenden Strukturen und Prozesse der Erwerbsregulierung mitberücksichtigt werden. Um ein besseres Verständnis für diese Internationalisierung der Erwerbsregulierung zu gewinnen, wurden verschiedene Idealtypen der Internationalisierung von Vergesellschaftung im Allgemeinen unterschieden und die wichtigsten Akteure im Feld der internationalen Erwerbsregulierung vorgestellt (Kap. 6). In diesem Kapitel sollen nun verschiedene typische Formen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung behandelt werden. Sehr häufig wird – gerade von globalisierungskritischen Akteursgruppen und Wissenschaftlern – das Bild einer immer stärkeren wirtschaftlichen und Unternehmensglobalisierung gezeichnet, der gegenüber die Erwerbsregulierung hilflos national verhaftet bleibt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass es erstaunlich viele Formen und Mechanismen der grenzüberschreitenden Beeinflussung bei der Festlegung, Kontrolle und Aushandlung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen gibt. Diese internationalen Regulierungen sind nicht immer auf den ersten Blick als solche zu erkennen, da sie manchmal im Rahmen internationaler Handelsabkommen ‚versteckt‘ sind. So gibt es z. B. entsprechende erwerbsrelevante Bestimmungen in vielen Verträgen der Welthandelsorganisation WTO und der Weltbank. Aber es gibt auch direkt auf die Festlegung von weltweit gültigen Mindestarbeitsnormen ausgerichtete Initiativen, hier vor allem die der ILO und der UN insgesamt. Als Global Compact wird eine UN-Initiative bezeichnet, große internationale Konzerne zu freiwilligen Erklärungen über angemessene soziale und ökologische Verhaltensweisen zu bewegen. In der Europäischen Union existieren grenzüberschreitende Interessenvertretungen in großen Unternehmen als Euro-Betriebsräte. In vielen Unternehmen gibt es inzwischen auch Weltarbeitnehmervertretungen. Für eine wachsende Anzahl von Konzernen und sogar für einige Wirtschaftsbranchen wurden inzwischen internationale tarifliche Rahmenabkommen vertraglich ausgehandelt. Produktbezogene Labels wie etwa Fair Trade oder öffentliche Kampagnen von Nicht-Regierungsorganisationen wie z. B. zu den Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Textilindustrie (Clean Cloth Campaign) sind ebenfalls auf die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen ausgerichtet. Diese vielfältigen Einzelformen der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung lassen sich nach ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten ordnen und systematisieren. Im Folgenden sollen insgesamt sieben Typen der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung unterschieden werden. Diese differieren jeweils nach den Gesichtspunkten ihrer Entstehungsgeschichte, der Gegenstände und Breite der

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

223

Regulierungsthemen, der räumlichen und zeitlichen Reichweite der Regulierungen, der spezifischen Umsetzungsmechanismen und Einfluss-Stärken der Regelungen, den hauptsächlich beteiligten Akteursgruppen sowie ihrem internationalen Verbreitungsgrad. Es ließen sich sicherlich noch weitere Aspekte aufführen wie z. B. die möglichen Lerneffekte und Verbreitungschancen der jeweiligen Regulierungstypen oder die Präferenzen der verschiedenen Akteursgruppen für bestimmte Regulierungstypen.1 Um die Dinge jedoch übersichtlich zu halten, sollen im Folgenden nur die in der Tab. 6.1 aufgeführten Aspekte der sieben idealtypischen Regulierungsmuster behandelt werden. Ein erster Typus der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung betrifft alle Versuche, zumindest dem Anspruch nach globale, also auf alle Länder bezogene und direkt die Erwerbsarbeit betreffende Mindeststandards für Arbeit, Beschäftigung und Partizipation zu formulieren. Ein prominentes Beispiel hierfür sind die Kernarbeitsnormen der ILO (Abschn. 7.1). Darüber hinaus gibt es aber auch in vielen internationalen völkerrechtlich bindenden Verträgen, die nicht explizit zu Themen der Erwerbsarbeit abgeschlossen werden, nicht selten erwerbsrelevante Bestimmungen. Dies betrifft etwa internationale Handelsabkommen im Rahmen der WTO und die Arbeit internationaler Kreditinstitute wie Weltbank und IWF (Abschn. 7.2). So, wie die zuletzt genannten Institutionen keine globale Deckung erreichen, gilt dies grundsätzlich auch für die Europäische Union. Letztere soll dennoch gesondert besprochen werden, weil hier verbindliche grenzüberschreitende erwerbsbezogene Regelungen in einer Breite und Tiefe entwickelt sind, wie sie weltweit sonst nirgendwo zu finden sind (Kap. 8). Die bisher genannten drei Typen zeichnen sich alle dadurch aus, dass völkerrechtliche Normen und staatliche Akteure im Zentrum der Erwerbsregulierung stehen und eine supranationale bis globale Reichweite angestrebt wird. Beim vierten Typus grenzüberschreitender Erwerbsregulierung bestimmen dagegen international agierende Unternehmen den Regelungsgegenstand, die raum-zeitliche Reichweite und die hauptsächlich involvierten Akteure (Kap. 9). Unter dem fünften Idealtypus wiederum sind im Wesentlichen alle Umsetzungsmechanismen und Kontrollressourcen zusammengefasst, welche durch produkt- oder prozessbezogene Normen und Verfahren die Einhaltung von bereits – im Rahmen anderer idealtypischer Regulierungen – gesetzten Normen und Standards erwirken sollen (Abschn. 10.1). Ein sechster Idealtyp grenzüberschreitender Erwerbsregulierung betrifft die jeweils auf

1Für

andere Klassifizierungsvorschläge vgl. Scherrer und Greven (2001); Brandl (2006a, S. 184); Seidmann (2007, S. 38 ff.).

224

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

ganz bestimmte Inhalte oder Vorfälle (‚issues‘) bezogene Mobilisierung öffentlicher Aufmerksamkeit und öffentlichen Drucks, wie dies z. B. bei den Kampagnen um ökologisch und von den Erwerbsbedingungen her ‚sauberen‘ Kleidern (clean cloth campaign) der Fall war (Abschn. 10.2). Schließlich bezieht sich ein letzter Idealtypus der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung auf komplexe, verschiedene Regulierungsmechanismen und Akteursgruppen verbindende Normen und Verfahrensprozeduren, die so stark institutionalisiert sind, dass sie als eigene erwerbsbezogene grenzüberschreitende Governancestrukturen bezeichnet werden können (Kap. 11). Dies lässt sich am Beispiel der Euro-Betriebsräte und des Systems der Überwachung der OECD-Leitsätze zur Arbeit von Multinationalen Unternehmen (Multinational Guidelines) zeigen.

7.1 Die ILO und globale Mindestarbeitsstandards Welche grenzüberschreitenden Strukturen und Mechanismen sind in Zeiten der Globalisierung besonders geeignet, die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen von Arbeitnehmern zu beeinflussen? Nach der Vorstellung der verschiedenen internationalen Einrichtungen in Kap. 6 denkt man bei dieser Frage sicherlich zunächst an die Internationale Arbeitsorganisation ILO.2 Denn die ILO wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg speziell zu dem Zweck eingerichtet, die Erwerbsbedingungen der Menschen weltweit zu verbessern. Für dieses Ziel hat die ILO seitdem durch jährliche Hauptversammlungen der beteiligten Staaten, durch thematische Kampagnen, durch Trainingsprogramme für nationale und internationale Experten, durch vielfältige Veröffentlichungen und inzwischen mithilfe von fast 190 verabschiedeten Konventionen von ihrem Hauptsitz in Genf und von verschiedenen Regionalbüros aus gearbeitet.3 Dabei hat sie sich darauf konzentriert, bestimmte allgemeine Mindeststandards für Arbeit und Beschäftigung zu formulieren, die möglichst von vielen oder allen ihrer Mitgliedsländer trotz ihrer unterschiedlichen Bedingungen akzeptiert werden können. Durch ein regelmäßiges Berichtssystem sowie Print- und Internet-Veröffentlichungen weist sie auf Missstände und Erfolge einzelner Länder

2Auch

andere UN-Unterorganisationen sind – wenn auch indirekter – mit dem Thema Arbeit, Beschäftigung und Partizipation befasst, vgl. z. B. UN 2004: Kap. 1, 3 und 4. 3Als einführenden Überblick zu Internationalen Arbeitsstandards vgl. ILO (2009); zum Verfahren der Ausarbeitung und Verabschiedung von ILO-Arbeitsnormen vgl. ebd., S. 17 f.

7.1  Die ILO und globale Mindestarbeitsstandards

225

hin und versucht so, die Einhaltung von Mindestbestimmungen für Erwerbsarbeit zu erwirken. Bei den meisten der von der ILO verabschiedeten Konventionen zu Teilaspekten der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen sträuben sich viele Einzelstaaten, diese Konventionen durch Ratifizierung auch für das eigene Land anzuerkennen. Deshalb wird es als ein besonderer Erfolg angesehen, dass 1998 sogenannte Kernarbeitsnormen verabschiedet werden konnten, die für alle Länder und Wirtschaftsbereiche weltweit Gültigkeit beanspruchen können. Im Jahre 1998 verabschiedete die 86. Internationale Arbeitskonferenz der ILO eine „Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work“4In dieser Erklärung wurden vier Themen als fundamentale internationale Arbeitsstandards definiert: 1) Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen für alle Arbeitnehmer, 2) Verbot und Abschaffung aller Formen von Zwangsarbeit, 3) Verbot und Abschaffung von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf wegen Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, religiöser oder politischer Orientierung oder sozialer Herkunft und 4) Eindämmung von Kinderarbeit (als regelmäßige Arbeit vor Beendigung der Pflichtschulzeit) und Abschaffung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit (sexuelle und Zwangsarbeit). Zu diesen Themengebieten hatte die ILO bereits seit 1930 verschiedene Konventionen verabschiedet, die von einer jeweils variierenden Anzahl von Staaten ratifiziert worden waren. Besonders in sich spät industrialisierenden Ländern waren die Bestimmungen zur Kinderarbeit aber umstritten, weil hier viele noch Schulpflichtige bereits regelmäßig in der Landwirtschaft oder anderen Arbeitsbereichen tätig waren. Deshalb gab es im Bereich der Regulierung von Kinderarbeit trotz des allgemeinen Beschlusses von 1998, Mindestnormen zu verabschieden, zunächst weiterhin Verhandlungsbedarf. Nachdem aber mit der Konvention Nr. 182 im Jahre 1999 eine Konzentration auf das Verbot der schlimmsten Formen von Kinderarbeit vorgenommen wurde, erreichten die insgesamt maßgebenden acht Konventionen einen sehr hohen Grad an Ratifizierungen durch die ILO-Mitgliedsstaaten. Der Beschluss von 1998, dass die als grundlegende Prinzipien und Rechte verabschiedeten acht Konventionen in den vier Themenfeldern eigentlich von allen ILO-Mitgliedsländern ratifiziert werden sollten, erhöhte nicht nur den entsprechenden Unterzeichnungsdruck, sondern gab diesen Konventionen auch den Status von quasi global gültigen

4Vgl. International Labour Office (2002a, S. 2); Senghaas-Knobloch et al. (2003, S. 46); „In October 2003 75 percent of the 175 ILO member nations had ratified seven or more of these eight con ventions“ (Committee on Monitoring International Labor Standards 2004, S. 17); zum aktuellen Diskussions- und Ratifizierungsstand vgl. UN (2004, S. 240 f.) und http://www.ilo.org/declaration/lang--en/index.htm.

226

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

Tab. 7.1   Die acht Kernarbeitsnormen der ILO (Stand April 2016) Konvention Nr. 29

Ratifizierungen gesamt Verbot von Zwangsarbeit (1930)

178

Nr. 87

Vereinigungsfreiheit/Organisationsfreiheit (1948)

153

Nr. 98

Organisationsfreiheit und Tarifvertragsfreiheit (1949)

164

Nr. 100

Verbot der Lohndiskriminierung (1951)

171

Nr. 105

Abschaffung von Zwangsarbeit (1957)

175

Nr. 111

Diskriminierungsverbot in der Arbeit (1958)

172

Nr. 138

Mindestalter für Arbeit (1973)

168

Nr. 182

Abschaffung der schlimmsten Formen von ­Kinderarbeit (1999)

180

Gesamt

1361

Quelle: http://www.ilo.org/ilolex/english/docs/declworld.htm

Kernarbeitsnormen und weltweit geltenden Mindeststandards für Erwerbsarbeit (vgl. Tab. 7.1). In der Verabschiedung der acht Konventionen als Kernarbeitsnormen schlägt sich die grundlegende Arbeitsweise der ILO und ihr inter-nationaler bis globaler Charakter nieder: Für verschiedene erwerbsbezogene Themenbereiche werden durch ILO-Arbeitsgruppen Mindeststandards definiert, die von einer möglichst großen Anzahl der inzwischen 187 Mitgliedsstaaten der ILO5 mitgetragen und dann auch sukzessive ratifiziert werden. Grundsätzlich gewinnen solche ILO-Konventionen erst dann den Status von völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen, wenn sie von zwei Dritteln der Stimmen in der jährlich stattfindenden Internationalen Arbeitskonferenz unterstützt und danach von den Nationalstaaten ratifiziert werden. Neben den erwähnten acht Konventionen zu den Kernarbeitsnormen beschäftigen sich die anderen inzwischen etwa 180 Konventionen der ILO mit einem sehr breiten arbeitsbezogenen Themenspektrum (z. B. Arbeitssicherheit, Beschäftigungssicherung, Kompetenzen und Qualifizierung, soziale Sicherheit).6 5Vgl.

http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/country.htm. aktuelle und komplette Verzeichnis aller ILO-Konventionen und der Staaten, welche die jeweiligen Konventionen wann ratifiziert haben, findet sich unter http://www.ilo.org/ dyn/normlex/en/f?p=1000:12001:0::NO.

6Das

7.1  Die ILO und globale Mindestarbeitsstandards

227

Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte weist der hier vorgestellte Regulierungstypus internationaler und globaler Mindeststandards die im Verhältnis zu den im Weiteren noch zu behandelnden Regulierungstypen längste zeitliche Entwicklung auf. Die erste von der ILO verabschiedete Konvention stammt aus dem Jahre 1919 und legt den 8-Stundentag und die 48-Stundenwoche als maximale Referenzgrößen fest. Im Vergleich zu den recht jungen grenzüberschreitenden Regulierungen etwa zu den Euro-Betriebsräten (siehe Abschn. 8.2) oder durch die Internationalen Rahmenabkommen (siehe Abschn. 9.3) haben die ILO-Konventionen eine fast hundertjährige Geschichte. Auch in Bezug auf die Regelungsgegenstände gibt es kaum einen anderen Regulierungstypus (außer dem in Abschn. 10.3 zu behandelnden Mechanismus öffentlicher Kampagnen und sozialer Bewegungen), den eine ähnliche Breite an behandelten Themen auszeichnet. Schließlich ist auch die raum-zeitliche Reichweite der Regulierung durch ILO-Konventionen als äußerst weitgehend zu beurteilen. Für die Kernarbeitsnormen wurde bereits der globale Geltungsanspruch erwähnt. Bei vielen anderen Konventionen liegt die Anzahl der unterzeichnenden Länder bei etwa einhundert oder weniger, und vielfach verweigern auch große und wirtschaftlich einflussreiche Länder die Ratifizierung wichtiger Konventionen (wie z. B. die USA hinsichtlich der Konvention Nr. 87 zur Vereinigungsfreiheit oder die USA und Deutschland bezüglich der Konvention Nr. 131 zur Bestimmung von Mindestlöhnen). Gleichwohl sind die raum-zeitliche Reichweite und der Verbreitungsgrad dieses Regulierungstyps wesentlich größer als bei allen anderen zu behandelnden Modellen. Die ILO-Konventionen als inter-nationale und globale Mindeststandards beanspruchen in der Regel Gültigkeit für hunderte Millionen Erwerbstätiger.7 Sie haben – auch wenn sie häufig im Verlaufe der Jahrzehnte überarbeitet werden – unbegrenzte zeitliche Gültigkeit. Im Hinblick auf die Hauptakteursgruppen, die in diesem Regulierungstypus von Bedeutung sind, zeigt sich eine weitere Besonderheit. Denn nur hier findet sich die klassische Triade der Erwerbsregulierung aus Staat (bzw. öffentlichem Regime), Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften als das Herzstück der Aushandlungs- und Überwachungsdynamiken. Wie bereits erwähnt (vgl. Abschn. 7.1)

7Eine

erhebliche quantitative Einschränkung in der Reichweite der ILO-Konventionen findet sich bei den branchenbezogenen Abkommen z. B. über Sicherheit und Gesundheit in Bergwerken (Konvention Nr. 176) oder zu den Arbeitsbedingungen in der internationalen Schiffffahrt (Konventionen Nr. 178 und 179 sowie die Maritime Labour Convention von 2006).

228

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

zeichnet sich die ILO gegenüber allen anderen UN-Unterorganisationen durch eine ausgeprägte tripartistische Struktur und gegenüber anderen internationalen Organisationen wie der WTO oder dem IMF durch eine weitaus differenziertere und umfangreichere Struktur an Fachpersonal aus (Pries 2008b). Letzteres ermöglicht, dass die ILO als Organisation auch gegenüber der internen Differenzierung ihrer drei Trägergruppen (Vertretern der Nationalstaaten, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) einen vergleichsweise großen eigenen Aktionsradius als internationale Expertenorganisation besitzt. Dies zeigt sich vor allem bei der Vorbereitung von neu zu beratenden Konventionen, bei der technischen Unterstützung der Länder bei der Umsetzung der von ihnen ratifizierten Konventionen und bei der Ausarbeitung der regelmäßigen Monitoringberichte über die Verstöße gegen bestehende Richtlinien, die Gegenstand der jährlichen Internationalen Arbeitskonferenzen sind. Die meisten skeptischen Beurteilungen des Regulierungstyps der internationalen und globalen Mindeststandards beziehen sich auf den Aspekt der Umsetzungs- und Kontrollmechanismen für die ILO-Konventionen. Ein erster kritischer Punkt betrifft den Prozess der Ratifizierung der ILO-Konventionen. Denn selbst wenn diese mit den notwendigen Mehrheiten auf den Jahreskonferenzen verabschiedet wurden, müssen sie nicht notwendig auch von den nationalen Regierungen ratifiziert werden. Zudem dauert der Prozess der Ratifizierung bei vielen Staaten oft viele Jahre oder gar Jahrzehnte. Von allen 189 Konventionen, die von der Internationalen Arbeitskonferenz bisher verabschiedeten worden waren, war im Jahre 2016 nur ein kleiner Teil auch tatsächlich von der Mehrheit aller ILO-Mitgliedsstaaten ratifiziert. Hier bilden die Kernarbeitsnormen eine Ausnahme. Im April 2016 hatten 139 Staaten alle acht Kernarbeitsnormen ratifiziert, und 161 Staaten hatten mindestens sieben der Kernarbeitsnormen ratifiziert, wodurch zumindest alle vier Kernbereiche Zwangsarbeit, Kinderarbeit, Diskriminierung und Vereinigungsfreiheit mit mindestens einer Konvention abgedeckt war.8 Unabhängig vom Stand der Industrialisierung und Entwicklung sperren sich einzelne Staaten und deren Hauptakteursgruppen häufig gegen die Ratifizierung solcher Konventionen, die erhebliche Veränderungen der Beschäftigungspraxis oder gar der nationalen Gesetzgebung mit sich brächten. So haben sich einige wichtige Länder des Südens wie Bangladesch, Indien und Iran, aber auch

8Vgl.

http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:10011:0::NO::P10011_DISPLAY_BY:2 und http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:10011:0::NO:: P10011_DISPLAY_BY,P10011_CONVENTION_TYPE_CODE:1,F.

7.1  Die ILO und globale Mindestarbeitsstandards

229

wichtige angelsächsische Länder wie Australien, Canada und die USA gegen eine enge Auslegung des Verbots von Kinderarbeit ausgesprochen und die entsprechende ILO-Konvention Nr. 138 nicht ratifiziert.9 Umgekehrt leisten viele Länder, in denen die Freiheit von Beschäftigten, sich in Gewerkschaften zu organisieren, auf verschiedene Weisen eingeschränkt ist, Widerstand gegen die Ratifizierung der Normen zur positiven und negativen Koalitionsfreiheit (z. B. China, Mexiko, USA bzgl. Konvention Nr. 98). Ähnlich wie in den USA existiert auch in Mexiko das sogenannte closed shopPrinzip. Mexikanische Gewerkschaften haben das Recht, die Beschäftigung aller Arbeitnehmer in einem bestimmten Betrieb, für den sie als autorisierte Interessenvertretung im entsprechenden Bundes- oder Landesarbeitsministerium registriert sind, an die Gewerkschaftsmitgliedschaft zu binden. Wer nicht in die jeweilige Gewerkschaft eintreten will, kann keinen Arbeitsvertrag in dem Betrieb erhalten (cláusula de admisión); wer aus der jeweiligen Gewerkschaft austritt oder ausgeschlossen wird, muss auch den Betrieb verlassen (cláusula de exclusión).10 Die Koalitionsfreiheit ist auch in autoritären (Thailand, Myanmar) und post-kommunistischen Ländern (Vietnam, Volksrepublik China) sehr stark eingeschränkt. In den USA beschränkt der National Labor Relations Act die kollektive Vertretung von Beschäftigten durch eine Gewerkschaft auf Betriebe oder Abteilungen, in denen die Mehrheit der Beschäftigten sich in einer Abstimmung dafür entschieden hat. Häufig ratifizieren die ILO-Mitgliedsstaaten gerade diejenigen und nur diejenigen Resolutionen vergleichsweise zügig, die wenig oder keinerlei Auswirkungen auf die Erwerbsregulierung in dem entsprechenden Land haben. Neben dieser Kritik an der Ratifizierungspraxis der ILO-Mitgliedsländer gibt es erhebliche Bedenken in Bezug auf ihre Möglichkeiten, die Einhaltung der einmal verabschiedeten Arbeitsstandards auch zu kontrollieren und gegebenenfalls zu erzwingen (vgl. z. B. Senghaas-Knobloch et al. 2003; Senghaas-Knobloch 2004; Sengenberger 2005). Zwar werden auf den jährlichen Vollversammlungstreffen der ILO jeweils wichtige Einzelthemen sowie die Einhaltung der vereinbarten

9Vgl. http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:11300:0::NO:11300:P11300_ INSTRUMENT_ID:312283:NO und http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:10011:0::NO::P10011_DISPLAY_BY,P10011_CONVENTION_TYPE_CODE:1,F. 10Inzwischen wurde die cláusula de exclusión vom Obersten Gerichtshof in Mexiko im Jahre 2001 für rechtswidrig erklärt. Eine entsprechende Angleichung der Arbeitsgesetzgebung fand bisher aber noch nicht statt. Vgl. http://sjf.scjn.gob.mx/sjfsist/Documentos/ Tesis/189/189779.pdf und zur dieser Klausel allgemein https://es.wikipedia.org/wiki/ Cl%C3%A1usula_de_exclusi%C3%B3n; ich danke Siglinde Hessler für erste Hinweise hierzu.

230

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

Arbeitsnormen durch die ratifizierenden Staaten diskutiert. Grundsätzlich handelt es sich dabei aber im Wesentlichen um den ‚weichen‘ Sanktionsmechanismus des Monitorings, d. h. der öffentlichen Überprüfung und Thematisierung von Normeneinhaltung oder -verletzung durch die Mitgliedsstaaten der ILO. Als letztes Erzwingungsmittel sehen die ILO-Statuten zwar auch die Verhängung von Geldstrafen gegen Mitgliedsstaaten vor. Eine solche Maßnahme wurde aber bisher nur einmal in der langen Geschichte der ILO verhängt (zum Umsetzungsmechanismus der ILO-Normen vgl. Abb. 7.1).11 Die generelle Kritik an dem Mechanismus der freiwilligen und selektiven Ratifizierung von ILO-Arbeitsnormen durch die Nationalstaaten und die dann regelmäßige Berichterstattung im Rahmen dieser ILO-Mitgliedsstaaten ist so alt wie dieses Verfahren selbst. Schon 1933 formulierte Francis Wilson (1933, S. 99), der die Arbeit der ILO über mehrere Jahre wissenschaftlich untersucht hatte: „But under the present situation a state which has ratified a convention is subject to supervision and criticism by the experts and the Conference, while a state which has ratified no or few conventions is often exempt from open criticism. So long as a state has submitted the decisions of the Conference to the competent national authority, the letter of the Treaty has been observed. Perhaps one reason the Conference has accepted the reports of the Committee with little discussion is that the nonratifying states do not want to suggest that they are passing judgment on those states which have deposited their ratifications.“

Während also nach Wilson von den Staaten, die bestimmte Konventionen gar nicht ratifiziert haben, kaum massive Kritik zu erwarten ist, identifiziert er vor allem das tripartistische Modell der Anwesenheit von Staats-, Unternehmens- und Gewerkschaftsvertretern in den Jahresversammlungen der ILO, auf denen über die Lage der Arbeitsstandards in allen Mitgliedsländern verhandelt wird, als einen möglichen Mechanismus des Druckausübens. Nach Wilson (ebd., S. 100 f.) sind es vor allem die Gewerkschaftsvertreter, die jenseits der Frage der formalrechtlichen Erfüllung der Normen immer wieder konkrete Fälle des Normenverstoßes 11Es

handelte sich hierbei um finanzielle Sanktionen gegen Burma bzw. Myanmar, die in der ILO-Jahresversammlung 2005 wegen andauernder Verstöße gegen das Zwangsarbeitsverbot verhängt wurden, vgl. Elliott und Freeman (2003, S. 104 ff.); diese Sanktionen wurden allerdings im Juni 2012 seitens der ILO wieder aufgehoben, vgl. http://www.ilo.org/ global/about-theilo/newsroom/news/WCMS_183287/lang--en/index.htm. Vgl. allgemein zur ILO-Politik der Ausmerzung von Zwangsarbeit Plant und O’Reilly (2003), zum Fall Myanmar z. B. http://proquest.umi.com/pqdweb?did=1064242661&Fmt=3&clientId=8424&RQT=309&VName=PQD; zum Stellenwert der Kernarbeitsnormen vgl. Kellerson (1998); ILO (2002a, b); Weiss (2001).

7.1  Die ILO und globale Mindestarbeitsstandards

231

Abb. 7.1   Umsetzungsmechanismus der ILO-Normen. (Quelle: http://www.ilo.org/wcmsp5/ groups/public/—ed_norm/—normes/documents/image/wcms_088439.pdf)

in den Jahresversammlungen einbringen. Wilson (ebd., S. 101) glaubt aber, dass nur ein ausgebautes System von Fabrikinspektoren auf längere Sicht die Normenimplementierung verbessern könne: „The present machinery of enforcement has no doubt been pushed to its constitutional limit. The next step is probably the adoption of a strong convention on factory inspection which will enable the Office to secure complete information on the administration of national labor laws. Such a convention would supplement, of course, the present recommendations on factory inspection. The meetings of factory inspectors which have been held for some years during the Labor Conference must be developed and stabilized, but before national factory inspection can become a regular part of the machinery for supervising the enforcement of conventions, the states must become thoroughly accustomed to having their voluntarily assumed international social obligations examined each year in the Conference.“

232

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

Die Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen der Implementierung der Internationalen Arbeitsstandards hält bis heute an. Dabei wird vor allem betont, dass – wie schon Wilson angemerkt hatte – die Legitimität von nationalen und internationalen Fabrikinspektoren durch die ratifizierenden Staaten anerkannt sein muss, dass diese Inspektoren eine umfassende Qualifizierung benötigen und die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen müssen. Ein ausführlicher ILO-Report (ILO 2006a, S. 14) schlägt eine gründliche Evaluation der Effektivität der ILO-Arbeitsinspektionen vor. Dabei wäre sicherlich sinnvoll, auch die Arbeit der verschiedenen Organe und Komitees gründlich zu analysieren, vor allem das für die Vorbereitung der Jahresversammlungen arbeitende Conference Committee on the Application of Standards of the International Labour Conference (CAS), das unabhängige Expertengremium Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations (CEACR) und das für die Kontrolle der Umsetzung der Konventionen 87 und 98 zur Koalitionsfreiheit schon 1951 eingerichtete Committee on Freedom of Association (CFA).12 Trotz aller kritischen Einwände im Hinblick auf die Umsetzungsmechanismen und die tatsächliche Einflussstärke der ILO-Konventionen bleibt festzuhalten, dass sich diese Konventionen inzwischen für einen sehr breiten Themenbereich der Erwerbsregulierung zu einem wichtigen Instrument der Definition internationaler Mindeststandards entwickelt haben. Speziell die erwähnten acht ILO-Kernarbeitsnormen (core conventions) besitzen einen quasi globalen, alle Länder und Menschen der Welt betreffenden menschenrechtsähnlichen Status.13 Dies zeigt sich auch daran, dass sie inzwischen Eingang in viele inter-nationale, supranationale und transnationale Abkommen gefunden haben. Sie werden etwa in den meisten Internationalen Rahmenabkommen (vgl. Abschn. 9.3) ebenso erwähnt wie in den freiwilligen Erklärungen großer Konzerne zu ihrer korporativen sozialen Verantwortung. Die ILO-Kernarbeitsnormen haben inzwischen

12Vgl.

zum CAS http://www.ilo.org/global/standards/applying-and-promoting-internationallabour-standards/conference-committee-on-the-application-of-standards/lang--en/index. htm; zum CEACR http://www.ilo.org/global/standards/applying-and-promoting-international-labour-standards/committee-of-experts-on-the-application-of-conventions-and-recommendations/lang--en/index.htm; zum CFA http://www.ilo.org/global/standards/ applying-and-promoting-international-labour-standards/committee-on-freedom-of-association/lang--en/index.htm. 13Vgl. kritisch hierzu die juristische Debatte um die Ausweitung oder Einschränkung von Mindesterwerbsbedingungen als Menschenrechten durch die Kernarbeitsnormen und andere juristische Strategien der Stärkung von Arbeitnehmerrechten, z. B. Alston (2004, 2005); Hepple (2005); Langille (2005); Maupain (2005).

7.1  Die ILO und globale Mindestarbeitsstandards

233

immer mehr das Gewicht globalisierter Mindestrechte der Arbeit, vergleichbar den Allgemeinen Menschenrechten der Vereinten Nationen, erhalten und sind zu einem quasi ubiquitären legitimen Mindestanspruch für alle Erwerbstätigen geworden. Der globale Charakter dieses durch die ILO organisierten Prozesses der Erwerbsregulierung besteht darin, dass ein überschaubarer Bereich von Kernarbeitsnormen inzwischen von jeweils durchschnittlich 163 Ländern ratifiziert wurde. Diese Mindestnormen gelten damit formal für den allergrößten Teil der Weltbevölkerung und haben somit gleichsam globale Wirksamkeit. Kein anderer Regulierungsmechanismus im Bereich von Arbeit, Beschäftigung und Erwerb hat eine ähnliche geografische Reichweite. Dieser große Vorteil der fast weltumspannenden formalen Gültigkeit der Kernarbeitsnormen geht allerdings einher mit vergleichsweise eingeschränkten Sanktionsmöglichkeiten. Nur über die systematische Kontrolle der Einhaltung dieser Mindestnormen (monitoring), die entsprechende Öffentlichmachung von Regelverstößen (blaming) und andere Mechanismen kann ihnen global auch reales Gewicht zukommen. Harte Sanktionsmechanismen wie die Auferlegung von Geldstrafen werden (bis auf den Fall Myanmar) nicht eingesetzt. Entsprechend kommen Bakvis und McCoy (2008: 11) vom Internationalen Gewerkschaftsbund ITUC zu dem Schluss, dass es vor allem an effizienten Durchsetzungs- und Erzwingungsmechanismen ­mangele: „Effective enforcement of the CLS policies remains the major challenge for trade unions. Some development banks that were quick to adopt policies favourable to CLS compliance took no measures to implement them, whereas others that proceeded more slowly have built up some capacity to monitor and enforce CLS compliance. The international trade union movement can play an indispensable role in applying pressure to improve CLS enforcement in agencies and institutions that have adopted CLS policies. By alerting them about risks of potential violation, providing the kinds of information that only trade unions possess, and calling attention to cases of actual non-compliance, trade unions can demonstrate the need for stronger enforcement mechanisms.“

Die Funktionen von Reporting und Monitoring im Hinblick auf die Internationalen Arbeitsstandards sind inzwischen weit entwickelt, was z. B. an den umfangreichen und öffentlichen zugänglichen Jahresberichten (z. B. ILO 2016) und den Berichten des bereits erwähnten Komitees für die Anwendung von Standards (ILO 2011) oder den Berichten des Expertenkomitees, z. B. im Jahre 2016 zu fairer Arbeitsmigration (ILO 2016a), deutlich wird. Für die Abschätzung der globalen Wirksamkeit der ILO-Mindeststandards und der Internationalen

234

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

Arbeitsstandards insgesamt gilt das Gleiche wie für die anderen in diesem und den folgenden Kapiteln zu behandelnden Mechanismen transnationaler Erwerbsregulierung: Sie entfalten ihre Wirksamkeit vor allem im Zusammenhang mit anderen Regulierungstypen, indem sie z. B. zum Referenzpunkt für abgeleitete internationale Bestimmungen (vgl. Abschn. 7.2) oder für freiwillige Verhaltensrichtlinien und Rahmenabkommen von internationalen Konzernen (vgl. Compa/Hinchliffe-Darricarere 1995 und Kap. 9) werden.

7.2 Internationale Bestimmungen und Organisationen Normen und Mechanismen, die über nationalstaatliche Grenzen hinweg die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen von Arbeitnehmern betreffen, gibt es selbstverständlich nicht nur im Bereich der ILO. Zum einen wurden und werden nicht wenige Bestimmungen, die im Rahmen der ILO bearbeitet wurden, auch von anderen UN-Organen und von anderen internationalen Organisationen übernommen. Zum anderen finden sich auch in internationalen Abkommen, z. B. makroregionalen Handelsverträgen wie NAFTA (Abschn. 7.3) und in dem komplexen Vertragswerk der Europäischen Union (vgl. Kap. 8) sehr viele erwerbsrelevante Regularien. Dabei haben sich einerseits die ILO-Kernarbeitsnormen und andererseits die Europäische Union als Wirtschaftsund Sozialraum zu den wichtigsten Referenzpunkten entwickelt. Sie sollen deshalb auch in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt stehen. Wie bereits erwähnt wird das Thema der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen in den Vereinten Nationen nicht nur durch die ILO bearbeitet. Vor allem in den Arbeitsbereichen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie der Menschenrechte spielen erwerbsbezogene Themen ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch der Wirtschafts- und Sozialrat der UN beschäftigt sich mit verwandten Fragestellungen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass gerade die Verabschiedung der Kernarbeitsnormen in den Jahren 1998 und 1999 ein wichtiger Anstoß war, erwerbsbezogene Themen in der UN insgesamt stärker in den Aufmerksamkeitsfokus der Gremien und Akteure zu bringen. Die ILO selbst machte die Durchsetzung der Kernarbeitsnormen im Jahre 1999 zu einer der vier tragenden Säulen in ihrer internationalen Kampagne für menschenwürdige Arbeit (die anderen drei Säulen fokussieren auf die Förderung von Beschäftigung und Unternehmensentwicklung, auf die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme und auf den sozialen Dialog zwischen Staat und Sozialpartnern).

7.2  Internationale Bestimmungen und Organisationen

235

Ihre Agenda für menschenwürdige Arbeit konnte die ILO im Jahre 2005 zum Gegenstand einer UN-Vollversammlung machen, auf der dieses Programm für menschenwürdige Arbeit (Decent Work) ausdrücklich unterstützt wurde. Ein Jahr später verabschiedete der Wirtschafts- und Sozialrat der UN einen Maßnahmenkatalog zur Förderung menschenwürdiger Arbeit. Im April 2007 nahm dann das Generalsekretariat der UN dieses Instrumentarium offiziell an.14 Während der UN-Versammlung im September 2015 wurde menschenwürdige Arbeit (verstanden als Arbeitsgelegenheiten mit fairem Einkommen, Sicherheit am Arbeitsplatz, sozialer Schutz für Familienmitglieder, Chancen für persönliche Entwicklung und soziale Integration, Freiheit zur Meinungsäußerung, zur Organisierung und zur Teilnahme an das eigene Leben betreffenden Entscheidungen sowie Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen) seitens der Vereinten Nationen als wesentliches Elemente in die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung aufgenommen.15 Das gesamte Beurteilungsinstrument ist darauf ausgerichtet, die erwerbsbezogenen Aktivitäten und Programme öffentlicher und privater Wirtschaftsakteure auf ihre Vereinbarkeit mit den Kernarbeitsnormen hin zu überprüfen.16 Die ILO bemüht sich, durch Schulungsmaßnahmen das Bewusstsein und die Kenntnisse über die Kernarbeitsnormen innerhalb aller UN-Organisationen zu fördern. Insgesamt sind die Kernarbeitsnormen der ILO ein sehr gutes Beispiel für ein erfolgreiches Agenda-Setting im Bereich der Regulierung von Erwerbsbedingungen auf Weltebene. Auch wenn viele UN-Unterorganisationen und die in der UN vertretenen Einzelstaaten die Kernarbeitsnormen mit jeweils unterschiedlichen Rhythmen zur Kenntnis nehmen – diese haben doch inzwischen zumindest als Normen- und Anspruchssystem einen ganz herausragenden Stellenwert erhalten. Am Beispiel der Kernarbeitsnormen lässt sich gut zeigen, wie erwerbsbezogene Mindeststandards auch in andere internationale Organisationen diffundieren und dort zu einem festen Referenzpunkt werden. Schon auf ihrer ersten Ministerkonferenz im Dezember 1996 in Singapur verabschiedete die WTO eine Erklärung zu grundlegenden Arbeitnehmerrechten:

14Vgl.

zu den drei Schritten http://www.ilo.org/public/english/decent.htm; http://www. un.org/en/ecosoc/docs/2007/resolution%202007-2.pdf; http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/ public/---ed_emp/---emp_elm/documents/publication/wcms_208796.pdf, S. 1. 15Vgl. http://www.ilo.org/global/topics/decent-work/lang--en/index.htm. 16Inzwischen wurde ein ausführlicher Katalog für die Messung von menschenwürdiger Arbeit entwickelt (http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---integration/ documents/meetingdocument/wcms_098027.pdf.

236

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

„Wir erneuern unsere Verpflichtung zur Einhaltung international anerkannter Kernarbeitsnormen. Die internationale Arbeitsorganisation (ILO) ist das kompetente Organ, um solche Standards zu definieren und umzusetzen, und wir unterstreichen unsere Unterstützung ihrer Arbeit durch deren Verbreitung. Wir glauben, dass wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung durch wachsenden Handel und weitere Handelsliberalisierung zur Verbreiterung dieser Standards beitragen. Wir weisen die Benutzung von Arbeitsstandards für protektionistische Zwecke zurück und stimmen darin überein, dass der komparative Vorteil von Ländern, speziell der Niedriglohn-Entwicklungsländer in keiner Weise in Frage gestellt werden muss.“17

Schon diese Stellungnahme der WTO zeigt das äußerst schwierige und widersprüchliche Verhältnis von Mindestarbeitsnormen und Handelsliberalisierung. Die grundlegende Zielsetzung der WTO ist es, auf die Reduktion aller Barrieren für freien Handel hinzuwirken. Kernarbeitsnormen als intervenierende und regulierende Bezugsgröße werden gerade von sehr liberal denkenden WTO-Vertretern als eine unzulässige Beschränkung freier Marktmechanismen interpretiert. Die Gewerkschaften kritisieren deshalb die nur sehr halbherzige Umsetzung der Verpflichtungen hinsichtlich der Kernarbeitsnormen durch die WTO (z. B. IFL-CIO 2003, S. 75). Doch bereits der in dem Zitat erwähnte Hinweis auf die Nutzung von Mindestarbeitsstandards für protektionistische Zwecke verweist auf das große Dilemma, in dem sich die WTO befindet. Sie wird vonseiten der großen internationalen Arbeitnehmerorganisationen wegen ihres starken Liberalisierungsprogramms kritisiert. Die Entwicklungsländer wiederum bemängeln die nach wie vor enormen Handelsbeschränkungen und protektionistischen Maßnahmen vieler früh industrialisierter Länder des Nordens wie etwa der EU und der USA vor allem im Bereich der Landwirtschaft. Umgekehrt werfen hochindustrialisierte Länder vielen Entwicklungsländern deren tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse sowie grundlegende Verstöße gegen verschiedenste sicherheitstechnische, ökologische und auch soziale Mindeststandards vor. Tatsächlich wird nicht selten von den jeweils involvierten Interessengruppen (Gewerkschaften, Unternehmen, nationale Regierungen hochindustrialisierter Länder) die Einhaltung technischer, ökologischer und sozialer Normen eingefordert. Die Akteursgruppen aus dem Norden entdecken ihr Herz für bestehende Mindestbedingungen allerdings häufig weniger, um z. B. die Arbeitssicherheit oder die Einkommenslage der Beschäftigten in den Ländern des Südens tatsächlich substanziell zu verbessern. Sie benutzen die entsprechenden Argumente oft, um einen Vorwand für zusätzliche Importhürden zu haben. So ist

17http://www.wto.org/english/theWTO_e/minist_e/min96_e/wtodec_e.htm

7.2  Internationale Bestimmungen und Organisationen

237

es nicht unproblematisch, den Import von zentralamerikanischen Bananen oder indischen Gewürzen mit dem Hinweis auf Kinderarbeit zu verbieten, wenn man für die betroffenen Länder die gleichen Standards und Bestimmungen hochindustrialisierter Länder zur Definition von Kinderarbeit zugrunde legen würde. Denn in vielen hoch industrialisierten Ländern ist regelmäßige Erwerbsarbeit von Jugendlichen erst ab dem 16. Lebensjahr erlaubt – diese Altersgrenze lag aber vor einigen Jahrzehnten auch in diesen Ländern noch beim 14. Lebensjahr. Entsprechend haben sehr viele Länder die Altersbestimmungen hinsichtlich allgemeiner Schulpflicht und Erwerbsfähigkeit im Laufe ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung angehoben. Es ist deshalb problematisch, von allen sich spät industrialisierenden Ländern heute die Einhaltung der gleichen Altersbestimmungen zu verlangen, die erst seit einigen Jahrzehnten in den heute hoch industrialisierten Ländern gelten. Die Gratwanderung zwischen unbedingtem Bestehen auf Einhaltung bestimmter universeller Mindestnormen wie etwa den ILO-Kernarbeitsnormen und dem eigennützigen Starkmachen von nationalspezifischen Vorstellungen über Arbeit, Beschäftigung und Partizipation ist schwierig. Alle beteiligten Akteursgruppen – Arbeitnehmer und Gewerkschaften, Unternehmen, Wissenschaftler, NGOs oder staatlichen Stellen – müssen sehr genau für den Einzelfall prüfen, wie der Umgang mit erwerbsrelevanten internationalen Bestimmungen jeweils aus der eigenen Perspektive und Zielsetzung zu gestalten ist. Gerade mit der Verabschiedung der Kernarbeitsnormen durch die ILO liegt ein weitgehend von der ‚Weltgemeinschaft‘ anerkannter Mindestkanon von Prinzipien menschenwürdiger Arbeit vor, der auch für die WTO und andere internationale Organisationen akzeptabel ist. So kam es z. B. im Jahre 2007 zu einer ersten gemeinsamen Veröffentlichung von WTO und ILO zum Themengebiet Handel und Beschäftigung.18 Hier zeigen sich wieder einmal die emergierenden Netzwerkstrukturen im Bereich internationaler Erwerbsregulierung, die inzwischen auch traditionell diesem Thema gegenüber eher reserviert eingestellte Organisationen wie die WTO integrieren. Die ‚Berührungsängste‘ der WTO gegenüber dem Thema der Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation hängen sicherlich damit zusammen, dass sie in einem sehr komplexen Feld widerstreitender Interessen operiert. Die WTO muss sich gegenüber sehr vielen Anspruchsgruppen legitimieren. Vor allem die internationalen Gewerkschaftsverbände und Nicht-Regierungsorganisationen

18Vgl.

http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---webdev/documents/ publication/wcms_081742.pdf.

238

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

setzen die Beachtung der Mindestnormen menschwürdiger Arbeit immer wieder auf die Agenda der WTO. So veröffentlicht etwa der internationale Gewerkschaftsbund seit 1997 regelmäßig einen Bericht zur Umsetzung der Kernarbeitsnormen in den Mitgliedsstaaten der WTO und bringt diese Berichte anlässlich der Veröffentlichung der von der WTO herausgegebenen regelmäßigen Trade Policy Reviews zur Diskussion.19 Generell ist zu sagen, dass für die WTO die Befassung mit den Kernarbeitsnormen nicht im Zentrum ihrer Aktivitäten steht und sie – aus ihrer Sicht – weitaus größere Probleme und Herausforderungen zu bewältigen hat, namentlich den Abschluss der DOHA-Runde, um überhaupt Fortschritte im Sinne der Handelsliberalisierung zu machen. Obwohl die DOHA-Runde bis zum Jahr 2005 abgeschlossen sein sollte, zog sich der Beschluss alleine des ersten Themensets bis zur neunten WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2013 hin. Auf der zehnten Ministerkonferenz in Nairobi im Dezember 2015 wurden Fortschritte in der Handelsliberalisierung gemacht, aber decent work wird weiterhin auf der Ebene von „Gedanken“ behandelt, wie der internationale Handel und die WTO-Regeln zur Nach-2015-Entwicklungsagenda beitragen könnten.20 Die Behandlung der Kernarbeitsnormen im Rahmen der WTO steht und fällt aus deren Sicht mit der Lösung dieser vordringlichen Probleme. Andere Akteursgruppen versuchen, die Kernarbeitsnormen über die verschiedensten Mechanismen zu einem regulären Bestandteil der WTO-Arbeit zu machen. Neben der WTO haben auch internationale Finanzorganisationen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IMF) durchaus beachtliche Bedeutung bei der Berücksichtigung von erwerbsbezogenen Mindeststandards. Ebenso wie die WTO standen sowohl die Weltbank als auch der IMF den Fragen der Regulierung von Erwerbsbedingungen und auch den Kernarbeitsnormen der ILO lange Zeit sehr kritisch gegenüber. „Als sich Anfang 1999, ungefähr ein halbes Jahr nach Verabschiedung der ILO-Erklärung, eine internationale Gewerkschaftsdelegation mit Vertretern der Weltbank traf, wurde ihnen mitgeteilt, dass die Weltbank mit einigen, aber nicht allen Kernarbeitsnormen einverstanden sei und dass sie keine Maßnahmen ergreifen werde, um zumindest die von ihr unterstützten Normen in den von der Bank finanzierten Projekten durchzusetzen“ (Bakvis und McCoy 2008, S. 5).

19Zu

den Trade Policy Reviews als Politikinstrument der WTO vgl. http://www.wto.org/ english/tratop_e/tpr_e/tpr_e.htm; zu den WTO-kritischen Aktivitäten der Gewerkschaften vgl. Bakvis und McCoy (2008, S. 3). 20Vgl. http://ec.europa.eu/trade/policy/eu-and-wto/doha-development-agenda/; https:// www.wto.org/english/res_e/reser_e/ersd201407_e.htm.

7.2  Internationale Bestimmungen und Organisationen

239

Speziell dem Recht auf Kollektivverhandlungen und Vereinigungsfreiheit stand die Weltbank lange Zeit sehr kritisch gegenüber. Vor allem während der 1980er und 1990er Jahre folgte die Weltbank – ebenso wie viele andere internationale Organisationen – einem stark neoliberalen Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung. Seit Beginn des neuen Jahrhunderts änderte sich diese gesamtparadigmatische Orientierung der Weltbank. So haben etwa Aidt und Tzannatos 2002 in einer empirischen Untersuchung, die für die Weltbank durchgeführt und anschließend auch in deren Namen veröffentlicht wurde, nachgewiesen, dass gewerkschaftliche Organisierung und Kollektivverhandlungen grundsätzlich nicht wirtschaftliches Wachstum und soziales Wohlergehen behindern, sondern mit einer ausgewogeneren Einkommensverteilung einhergehen. Schließlich akzeptierte die Weltbank die Kernarbeitsnormen und integrierte sie in ihre Programmaktivitäten, vor allem in die Prüflisten bei der Vergabe von Krediten: „Im Februar 2006 übernahm der Exekutivrat der Weltbank dann die neuen Standards als IFC Policy and Performance Standards on Social and Environmental Sustainability und wendete sie ab Mai 2006 auf alle neuen IFC-Kredite und Investitionen an.“ (Bakvis und McCoy 2008, S. 6).21 Mit dieser grundsätzlichen Anerkennung, die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen zu einem notwendigen Vergabekriterium für Kredite und Investitionen durch die Weltbank zu machen, kann theoretisch eine enorme Hebelwirkung internationaler Erwerbsregulierung erreicht werden. Denn auf diese Weise werden die Unternehmen als Kreditantragssteller unabhängig von den jeweiligen nationalen Interessengruppen und Kräfteverhältnissen auf die Einhaltung der Kernarbeitsnormen verpflichtet. Dies zeigt sich sehr gut an einem Beispiel, in dem bereits vor der endgültigen Verabschiedung der IFC-Politik- und Leistungsstandards im Jahre 2006 die Einhaltung der Kernarbeitsnormen zum Gegenstand der Kreditvergabe gemacht wurde: „Im Januar 2004 zeigte sich die IFC bereit, die Vereinigungsfreiheit zur Vorbedingungen für einen Kredit an einen Bekleidungshersteller namens Grupo M aus der Dominikanischen Republik zu machen, nachdem der IBFG und die Internationale Textil-, Bekleidungs- und Lederarbeitervereinigung (ITBLAV) sie informiert hatten, dass das Unternehmen in Aktionen – Kündigung und Verprügelung – gegen Beschäftigte verwickelt war, die eine Gewerkschaft zu gründen versuchten. Wichtig war diese Kreditbedingung auch für den Schutz der Beschäftigten in einem neuen Werk der Grupo M in einer haitianischen Exportproduktionszone (EPZ). Dort wurden Mitte

21Die

International Finance Corporation (IFC) ist eine Tochtergesellschaft der Weltbank und für die Vergabe privatwirtschaftlicher Kredite verantwortlich.

240

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

2004 Hunderte wegen ihrer Proteste gegen die Geschäftsführung entlassen, welche die Anerkennung von und Verhandlungen mit einer Gewerkschaft verweigert hatte, der die Mehrheit der Belegschaft beigetreten war. Nach einigen Monaten weiteren Drängens und von Versuchen zur Schlichtung wurden die Entlassenen 2005 wieder eingestellt. Bis Dezember desselben Jahres wurde der erste Tarifvertrag in der EBZ Haitis zwischen der Grupo M und der haitianischen Gewerkschaft ausgehandelt, um die sehr niedrigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen zu verbessern“ (ebd., S. 6 f.).

Im Gegensatz zur Weltbank sind die Kriterien und Normen der Kreditvergabe und der Länder- sowie Projektevaluationen des Internationalen Währungsfonds (IMF) weiterhin sehr eng finanztechnisch ausgerichtet und enthalten (noch) keinerlei erwerbsbezogene Aspekte. So orientieren sich etwa die Berichte über die Einhaltung von Standards und Policies (ROSCS) an der Beurteilung von insgesamt 12 Bereichen: Rechnungslegung, Rechnungsprüfung, Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, Bankenaufsicht, Unternehmensführung, Datenweitergabe, Transparenz im Bereich der öffentlichen Haushalte, Insolvenzund Gläubigerrechte, Versicherungsaufsicht, Transparenz der Geld- und Finanzpolitik, Zahlungssysteme und Wertpapierregulierung (vgl. IMF 2007, S. 25 f.). Seit Beginn des 21. Jahrhunderts mehren sich die Fälle, in denen Gewerkschaften und NGOs erfolgreich auf konkrete Projektvorhaben von IMF und Weltbank Einfluss nehmen konnten. Hierbei ging es wesentlich um die Rechte der Beschäftigten und Konsumenten bei beabsichtigten Privatisierungen der Transport-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung (vgl. z. B. ICFTU 2006). Obwohl die Weltbank und der IMF systematisch ihre Arbeit optimieren und programm- wie länderbezogen kooperieren, zeigt sich im Hinblick auf die Berücksichtigung von Kernarbeitsnormen durchaus eine sehr unterschiedliche Akzentsetzung. Dies unterstreicht die prinzipielle Möglichkeit, aber nicht automatische Notwendigkeit, dass auf der globalen Ebene der UN vereinbarte erwerbsbezogene Normen und Mechanismen Eingang in die Aktionsprogramme anderer internationaler Organisationen finden können. Regionale Entwicklungsfinanzinstitutionen wie z. B. die Asiatische Entwicklungsbank, die Inter-amerikanische Entwicklungsbank, die Afrikanische Entwicklungsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung tendieren insgesamt eher zum Weltbank-Modell der Integration von Kernarbeitsnormen in ihren Kriterienkatalog der Kreditvergabe.22

22Vgl.

Baksis und Maccoy (2008, S. 9 f.); für eine kritische Diskussion aus gewerkschaftlicher Sicht vgl. AFL-CIO (2003), Kap. 6.

7.3  NAALC und das nordamerikanische Freihandelsabkommen

241

7.3 NAALC und das nordamerikanische Freihandelsabkommen Neben der Arbeit der ILO sowie der anderen UN-Organisationen und der oben behandelten internationalen und regionalen Handels- und Finanzorganisationen finden sich erwerbsrelevante internationale Bestimmungen auch noch in weiteren grenzüberschreitenden Kooperationszusammenhängen. Von besonderem Interesse für den Kontext der Erwerbsregulierung sind hier die Bestimmungen der Europäischen Union (vgl. Kap. 8) und das Nordamerikanische Abkommen über Arbeitskooperation (NAALC). Letzteres wurde als Nebenabkommen zum 1994 vereinbarten Nordamerikanischen Abkommen über Freien Handel (NAFTA) abgeschlossen. Nach der Europäischen Union ist NAALC das wohl wichtigste Projekt eines internationalen Vertrages zur grenzüberschreitenden Regulierung von ausgewählten Aspekten der Erwerbsarbeit. Dies hängt damit zusammen, dass die anderen makroregionalen Handelsabkommen wie z. B. der Pakt der Association of Southeast Asian Nations ASEAN23 oder der Gemeinsame Markt Südamerikas Mercosur24 eher vergleichsweise unverbindliche Rahmenabkommen darstellen. Das Freihandelsabkommen NAFTA regelt den freien Warenverkehr zwischen Kanada, Mexiko und den USA und beinhaltet auch ein Nebenabkommen zur Frage der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in dieser NAFTA-Region. Dieses Nordamerikanische Abkommen über Arbeitskooperation (NAALC) ist neben den vielen anderen Instrumenten transnationaler Erwerbsregulierung ein interessantes Beispiel für die theoretischen Möglichkeiten, in Zeiten der Globalisierung auch jenseits und oberhalb von Nationalstaaten formalisierte Regelungen zur Überwachung bestimmter Mindeststandards von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer zu etablieren. Die Aushandlung des NAALC gestaltete sich enorm schwierig, nicht zuletzt, weil die drei beteiligten Länder Mexiko, Kanada und USA sehr unterschiedliche Arbeitsbeziehungen und Modelle der Erwerbsregulierung aufweisen. Zudem variieren die allgemeine historische Entwicklung, die wirtschaftliche Stärke und Entwicklungsdynamik sowie die politisch-institutionelle Kultur zwischen den drei Ländern sehr stark. Da das beabsichtigte Freihandelsabkommen NAFTA in

23Ihm

gehören die folgenden Länder an: Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam, vgl. http://www.aseansec.org/. 24Ihm gehören Argentinien, Uruguay, Paraguay, Brasilien und Venezuela an, vgl. http:// www.mercosur.int.

242

7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

allen drei Ländern von verschiedenen Gruppen (vor allem den Gewerkschaften und vielen NGOs, aber auch einzelnen Unternehmerverbänden und staatlichen Einrichtungen) durchaus sehr kritisch bewertet wurde, sollte durch das NAALC die allgemeine Legitimation für das Vorhaben, eine große nordamerikanische Freihandelszone zu schaffen, erhöht werden. Gleichzeitig wollten alle drei Länder unter keinen Umständen ihre nationale Souveränität in Bezug auf die Erwerbsregulierung aufgeben. Entsprechend spiegelt NAALC eher die Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner prozeduraler Regelungen wider und nicht etwa das Bemühen, einen gemeinsamen supraregionalen Sozialraum mit ähnlichen Erwerbschancen und -bedingungen zu schaffen (wie dies bei der Europäischen Union der Fall ist, vgl. Kap. 8). Die Grundidee des NAALC ist es, dass gemeinsame länderübergreifende Mechanismen verabredet wurden, die Einhaltung der in jedem der drei beteiligen Länder jeweils geltenden Bestimmungen zu kontrollieren. Keines der drei Vertragspartner-Länder musste also substanzielle Normen der Erwerbsregulierung akzeptieren, die über den gegebenen Rahmen der eigenen nationalen Rechtsprechung hinausgingen. Vielmehr sollten die Interessenverbände und Regierungsstellen aller drei Länder die Möglichkeit haben, die Einhaltung dieser jeweils gültigen nationalen Gesetze auch für alle drei Länder einzufordern. Hierzu können jeweils im Falle des Verdachtes auf Verstöße gegen die jeweils geltenden Bestimmungen Verfahren gegen ein Land von einem oder den beiden anderen der vertragsschließenden Länder angestrengt werden. In einem empirischen Forschungsvorhaben (Dombois et al. 2004) wurden diese Beschwerden und ihre jeweilige Behandlung im Rahmen von NAALC analysiert. Dabei zeigten sich sehr unterschiedliche Konstellationen der wichtigsten gesellschaftlichen Akteursgruppen, die in diese Beschwerdeverfahren involviert waren (z. B. oppositionelle Gewerkschaftsgruppen in Mexiko, offizielle Gewerkschaften und NGOs in den USA). Trotz aller Unterschiede der institutionellen Gepflogenheiten in den drei Ländern stach immer wieder das gemeinsame Interesse heraus, die konkreten Beschwerdeverfahren nicht zu zwischenstaatlichen Konflikten eskalieren zu ­lassen. Generell wird dem NAALC nur eine äußerst begrenzte Wirkung im Hinblick auf die transnationale Erwerbsregulierung attestiert. Hochgespannte und dann enttäuschte Erwartungen der gesellschaftlichen Akteursgruppen haben sich mit der intergouvernementalen Handlungsmaxime der Konfliktvermeidung dergestalt gepaart, dass von allen beteiligten Seiten nach etwa einem Jahrzehnt eine eher nüchterne bis enttäuschte Gesamtbilanz gezogen wird. Hier zeigt sich ein Strukturproblem grenzüberschreitender Erwerbsregulierung schlechthin: Die Arbeitsbeziehungen und Muster der Erwerbsregulierung sind in sehr starkem

7.3  NAALC und das nordamerikanische Freihandelsabkommen

243

Maße in die jeweiligen nationalen Institutionen-Settings eingebunden (in einigen Ländern spielt der Staat eine eher aktive, in anderen eine eher passive Rolle; in einigen Ländern gibt es Brancheneinheitsgewerkschaften, in anderen stark politisch, nach Branchen oder Regionen zersplitterte Gewerkschaften; in einigen Ländern gibt es negative und positive Koalitionsfreiheit, in anderen weder das eine noch das andere oder nur eines). Deshalb gibt es immer zumindest einige nationale Akteursgruppen, die sich grenzüberschreitenden Regulierungen bzw. ‚Einmischungen‘ widersetzen. Während also sehr viele nationale Akteure einerseits für globale oder transnationale Regulierungen eintreten, haben sie in der Regel mit der Beschneidung eigener Autonomie- und Souveränitätsrechte durch supranationale Bestimmungen Probleme. Gerade bei so stark akzentuierten Machtungleichgewichten wie zwischen den USA, Kanada und Mexiko belasten die Dominanz- und Misstrauensbeziehungen, die zwischen staatlichen und verbandlichen Vertretern der drei Länder fast unweigerlich auftreten, die grenzüberschreitende Kooperation. Schließlich weist das NAALC eine strukturelle Asymmetrie zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren auf: „Im NAALC haben nicht-staatliche Akteure eine paradoxe Rolle: Gewerkschaften und Advocacy-Organisationen sind einerseits von vitaler Bedeutung für das Regime, weil ihre Beschwerden erst die Prozeduren in Gang bringen und die Legitimität des Regimes (und von NAFTA insgesamt) einer kritischen US-Öffentlichkeit gegenüber absichern; andererseits sind sie aus den Entscheidungsverfahren ausgeschlossen, haben auf laufende Verfahren und ihren Ausgang kaum mehr Einfluss, sofern sie nicht andere als Regimekanäle, wie etwa politische oder Öffentlichkeitskampagnen nutzen“ (Dombois et al. 2004, S. 291).

In Bezug auf die Kriterien der Tab. 7.2 zu den Typen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung lässt sich zusammenfassen, dass erwerbsrelevante internationale Bestimmungen jenseits der im Abschn. 7.1 behandelten ILO-Normen zwar im Rahmen der UN schon seit deren Entstehung eine gewisse Rolle gespielt haben, dass sie aber erst seit etwa einem Jahrzehnt auch systematischer in die Arbeit anderer UN-Organisationen und internationaler Organisationen wie der WTO oder Weltbank Eingang finden. Während die Themenbreite weitgehend auf die ILO-Kernarbeitsnormen relativ eng begrenzt ist, ist die raum-zeitliche Wirkung umso weitreichender. Denn die entsprechenden Bestimmungen und Mechanismen der WTO oder der Weltbank wirken in fast alle großen Staaten der Welt hinein. Neben den großen Industrieländern kooperieren z. B. mehr als einhundert Entwicklungsländer mit der Weltbank.

Breit

Zertifizierungen, Labels Etwa seit 1990er und Monitoring

Breit

Seit 21. Jahrhundert

Mittel

Etwa seit 1990er

Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen, Abkommen

Supra- und transnationale Governance

Breit

Etwa seit 1980er

Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

Etwa seit 1960er, Breit dann 1990er

Eng

Etwa seit 1990er Andere erwerbsrelevante internationale Bestimmungen

Öffentliche Kampagnen, soziale Bewegungen

Breit

Etwa seit 1910er

Globale Mindestarbeitsstandards

Regelungsgegenstand/ Themenbreite

Entstehungsgeschichte

Wichtige Aspekte Regulierungstypus

Tab. 7.2   Typen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung

Stark

Schwach

Schwach

Global bis makroregional

Stark

Global bis lokal Mittel

Global bis lokal Stark

Internationale Rahmenabkommen

Euro-Betriebsrat

Weltbank-Bestimmungen

ILO-Kernarbeitsnormen

Beispiele

Staaten, Sozialpartner, NGOs, Öffentlichkeit

Öffentlichkeit, NGOs, Medien

OECD-Multinationals-Guideline

Clean Cloth Campaign

Experten, Organi- Fair Trade sationen, NGOs

Unternehmen, Gewerkschaften

Staaten, Sozialpartner, NGOs

Staaten

Staaten, Sozialpartner

Umsetzungs- Hauptakteursmechanismen/ gruppen Kontrollressourcen

Global-konzern- Mittel bezogen

Makroregional

Global bis makroregional

Global

Raum-zeitliche Reichweite

244 7  Globale und internationale Erwerbsregulierung

7.3  NAALC und das nordamerikanische Freihandelsabkommen

245

Die Hauptkritik an der Arbeit der in diesem Kapitel angesprochenen internationalen Organisationen im Hinblick auf erwerbsrelevante Bestimmungen richtet sich auf die entsprechenden Umsetzungs- und Kontrollmechanismen sowie die Hauptakteursgruppen. Während etwa bei der Prüfung von Kreditvergaben vielfältigste Instrumente zur Evaluation der Kreditfähigkeit und Wirtschaftspolitiken einzelner Länder existieren, sind die Instrumente für eine angemessene Erhebung des Umsetzungsstandes der ILO-Kernarbeitsnormen lange Zeit kaum entwickelt gewesen. Häufig erfolgten die entsprechenden Kreditvergaben auch eher nur unter politisch-strategischen und ökonomischen Gesichtspunkten, kaum aber unter Berücksichtigung sozialer und erwerbsrelevanter Kriterien. Entsprechend spielten Aspekte guter Arbeit und Erwerbsregulierung auch lange Zeit keine große Rolle.25 Hier lassen sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts wichtige Veränderungen feststellen. Darüber hinaus haben sich auch – wie weiter unten in Kap. 10 gezeigt wird – die Instrumente von Zertifizierungen, Monitoring und Labeling erheblich weiterentwickelt (vgl. etwa ILO 2007), sodass durchaus begründete Hoffnung besteht, eine Verbesserung und stärkere Verflechtung verschiedener grenzüberschreitender Mechanismen der Erwerbsregulierung für möglich zu halten.

25Vgl.

Dreher (2003, z. B. 44 ff. und 177 ff.); zur allgemeinen Kritik an IMF und Weltbank vgl. z. B. Chossudovsky (2003); Perkins (2004); Stieglitz (2002).

8

Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

Das im Hinblick auf grenzüberschreitende Kooperation – und auch auf grenzüberschreitende Erwerbsregulierung – anspruchsvollste und weitreichendste Projekt ist ohne Zweifel die Europäische Union (vgl. http://europa.eu). Seit den 1970er Jahren hat sich das Verständnis der Europäischen Union trotz aller politisch-konjunkturellen Schwankungen im Einzelnen immer stärker von einer reinen Wirtschafts- und Währungsunion hin zu einem integrierten wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Gesamtkonzept gewandelt. Hierzu gehörte schon recht früh die Idee der Freizügigkeit nicht nur von Waren und Kapital, sondern auch von Menschen innerhalb der Grenzen der EU. Außerdem wurde eine Politik des regionalen Ausgleichs zwischen den eher strukturschwachen und den dynamischen Gebieten innerhalb der EU im Sinne einer sozialen und wirtschaftlichen Annäherung und Solidarität verfolgt. Die Europäische Union hat als Ziel nie eine vollständige Angleichung, wohl aber eine Harmonisierung der Lebens- und Erwerbsbedingungen zwischen allen Mitgliedsländern formuliert. Hierzu wurden gezielte Politiken der Unterstützung schwächerer sozialer Gruppen und Regionen durch spezifische Förderprogramme entwickelt. Außerdem wurden durch die Europäische Kommission selbst oder durch den Sozialen Dialog zwischen den Sozialpartnern der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vielfältige Initiativen eingeleitet, um die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen in allen Mitgliedsländern an einheitlichen Mindeststandards auszurichten.1

1Vgl. als Einführungen Keller und Platzer (2003); Waddington und Hoffmann (2001); das von der Generaldirektion Employment, Social Affairs and Equal Opportunities herausgegebene Magazin Social Agenda informiert über die diesbezügliche EU-Politik und -Perspektive, z. B. No. 18, Oktober 2008, S. 12 ff.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_8

247

248

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

8.1 Europäische Sozialpolitik und der Soziale Dialog Der Europäische Sozialfonds wurde bereits 1957 ins Leben gerufen: „Seit dieser Zeit schafft er Arbeitsplätze, unterstützt die Menschen durch Ausbildung und Qualifizierung und trägt zum Abbau von Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt bei. Ziel der Europäischen Union ist es, dass alle Menschen eine berufliche Perspektive erhalten. Jeder Mitgliedstaat und jede Region entwickelt dabei im Rahmen eines Operationellen Programms eine eigene Strategie. Damit kann den Erfordernissen vor Ort am besten Rechnung getragen werden.“2 Neben diesem, in seiner Durchführung von den jeweiligen Länderregierungen verantworteten Sozialfonds, der auf die Beschäftigungsfähigkeit der schwächeren Sozialgruppen in den einzelnen Ländern ausgerichtet ist, wurden vor allem mit dem Erweiterungsprozess seit den 1970er Jahren (Beitritt Großbritanniens und Irlands 1973; Griechenlands 1981; Portugals und Spaniens 1986) auch die Instrumente für eine gezielte Förderung schwacher Regionen innerhalb der EU ausgebaut. Nach der Einrichtung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) im Jahre 1975 wurden immer wieder längerfristige Programme zur Verwirklichung seiner wichtigsten Ziele verabschiedet. Diese sind: die Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in den Regionen sowie die grenzüberschreitende, die transnationale und die interregionale Zusammenarbeit. Nach den schweren Überschwemmungen in Mitteleuropa wurde 2002 schließlich der sogenannte Solidaritätsfonds eingerichtet, der von Katastrophen besonders betroffenen Ländern bzw. Regionen gezielt helfen soll. Im Zuge der Flutkatastrophen in Rumänien, Bulgarien und Italien wurden durch den Solidaritätsfond Hilfsgelder in Höhe von 66,5 Mio. EUR genehmigt.3 Mit dem siebten Sozialfonds (Förderperiode 2007–2013) vergab der ESF zu diesem Zwecke rund 75 Mio. EUR an die Mitgliedstaaten, wovon mehr als 80 % auf das Ziel der Konvergenz fielen, um vor allem den Herausforderungen der EU-Erweiterung, der Globalisierung und der alternden Gesellschaft gerecht zu werden.4

2http://www.esf.de/;

vgl. auch http://ec.europa.eu/employment_social/esf/index_de.htm. zum EFREhttp://www.esf.de/portal/DE/Infothek/Glossar/Functions/glossar.html?cms_ lv2=47296&cms_lv3=44662, zum Kohäsionsfond http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=uriserv:g24231 und zum Solidaritätsfond- http://ec.europa.eu/regional_policy/de/ funding/solidarity-fund/; zur übergeordneten Regional- und Strukturpolitik der EU vgl. http:// ec.europa.eu/regional_policy/index_en.htm. 4Vgl. http://www.esf.de/portal/DE/Ueber-den-E F/Geschichte-des-E F/Foerderperiode-2007– S S 2013/inhalt.html. 3Vgl.

8.1  Europäische Sozialpolitik und der Soziale Dialog

249

Für das Verständnis der Funktionsweise und auch der im Gegensatz zu grenzüberschreitenden Kooperationsprojekten und Verträgen in anderen Weltregionen qualitativ weiter gehenden inter-nationalen, supranationalen und transnationalen. Zusammenarbeit der EU ist entscheidend, dass die in der EU versammelten Nationalstaaten in verschiedenen Bereichen spezifische nationale Souveränitätsrechte (z. B. das der Geld- oder Handelspolitik) in einem jeweils genau definierten Ausmaß auf die EU übertragen haben. So entstand ein supranationaler Rechtsraum, der in bestimmten Bereichen ähnliche Souveränitätsrechte für sich reklamieren kann, wie dies ansonsten früher ausschließlich den Nationalstaaten zukam (Beck und Grande 2004; Münch 2001). Bevor beispielhaft einige Bereiche der emergierenden europäischen Struktur von Erwerbsregulierung vorgestellt werden, seien zur Einordnung der entsprechenden rechtlichen Grundlagen kurz die je nach ihrem Gültigkeitsanspruch unterschiedenen fünf Ebenen des europäischen Rechts skizziert. Die erste und stärkste Ebene ist die der völkerrechtlichen EU-Verträge (Treaties) als primärem Recht; hierzu zählen z. B. die Verträge zur gemeinsamen europäischen Kohle- und Stahlpolitik EGKS, der Euratom-Vertrag und natürlich die direkten EU-Verträge wie der Vertrag von Nizza 2001 (Treaty on the European Union and Treaty establishing the European Community Treaty of Nice 2002/C 325/01) und der Vertrag von Lissabon 2007 (Treaty of Lisbon amending the Treaty on European Union and the Treaty establishing the European Community). Auf einer darunter liegenden zweiten Ebene sind die EU-Verordnungen (Regulations) als wichtigste Form des abgeleiteten oder sekundären EU-Rechts angesiedelt. Diese Verordnungen sind in allen Mitgliedsstaaten direkt bindend und anzuwenden wie etwa die Verordnung zur Freiheit der Arbeitssuche in der EU (Council Reg 1612/68) und die EU-Verordnung zur Einrichtung der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (Council Regulation EEC 1365/75). Auf einer dritten Ebene befinden sich die EU-Richtlinien (Directives) als sekundäres Recht. Sie sind direkt bindend (nur) für die jeweils unterzeichnenden Staaten und nicht für die über ein opting-out ausgescherten EU-Mitgliedsstaaten. Beispiele hierfür sind die Euro-Betriebsrats-Richtlinie (Dir 94/45/EC, vgl. Abschn. 8.2), die Entsende-Richtlinie (Dir 96/71/EC) und die Richtlinien zur Gleichbehandlung (Dir 75/117/EC und Dir 76/207/EC). Auf einer weiteren, vierten Ebene befinden sich die EU-Entscheidungen (Decisions), die sich fallbezogen an natürliche oder juristische Personen richten. Hierzu zählt z. B. die Rats-Entscheidung für ein Aktionsprogramm zur Bekämpfung der Diskriminierung (Council Decision 2000/750/EC). Auf einer fünften Ebene schließlich sind die noch weniger rechtlich bindenden Instrumente der EU-­ Empfehlungen und -Stellungnahmen (Recommendations and Opinions)

250

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

angesiedelt. Hierzu zählen die Instrumente der Communications (z. B. COM(98) 322 zur operationellen Ausfüllung des Sozialen Dialogs), die Green Papers als Diskussionspapiere (z. B. COM/2007/0627 zur ‚Modernisierung‘ des Arbeitsrechts), die White Papers als eine Art von Implementationsreports (z. B. Com (1997) 334 über die von der Arbeitszeit-Richtlinie ausgenommenen Sektoren und Aktivitäten) und die Action Programmes als vereinbarte Maßnahmenprogramme (z. B. das bereits erwähnte Aktionsprogramm zur Bekämpfung der Diskriminierung Council Decision 2000/750/EC). An zwei für die Erwerbsregulierung zentralen Beispielen, dem Sozialen Dialog und den Euro-Betriebsräten, sollen im Folgenden die Besonderheiten dieser verschiedenen europäischen Regulierungsebenen erläutert werden. Das Thema der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen der Arbeitnehmer wurde vor allem seit den 1980er Jahren zu einem integralen Bestandteil der europäischen Integration und Harmonisierung. Dabei sollten die Sozialpartner, also die europäischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände, gezielt einbezogen werden. Im Jahre 1985 wurde der sogenannte Soziale Dialog als ein neues Instrument in seiner sogenannten Val-Duchesse-Phase initiiert.5 Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände erhielten damit auf der europäischen Ebene vor allem zwei wichtige Befugnisse: Erstens wurde ihnen explizit die Kompetenz zuerkannt, bestimmte Rahmenabsprachen im Hinblick auf Teilaspekte der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen in bilateralen Aushandlungen branchenbezogen oder branchenübergreifend auszuhandeln und vertraglich zu fixieren. Zweitens erhielten sie die Möglichkeit, im trilateralen Gespräch mit den EU-Gremien bestimmte erwerbsbezogene europäische Initiativen und sogar Gesetzesvorhaben zu initiieren und voranzutreiben. Die beiden Arbeitsvertragsparteien müssen seitdem nicht nur bei allen sozialen Angelegenheiten und besonders bei den Arbeit und Beschäftigung betreffenden Fragen von den europäischen Organen gehört werden. Sie können auch gemeinsame Initiativen zur Verabschiedung von europäischen Verordnungen und Richtlinien ausarbeiten, die dann von der Europäischen Kommission und den anderen europäischen Organen bearbeitet werden müssen. Der Soziale Dialog kann als eines der wichtigsten Instrumente angesehen werden, um gemeinsame europäische Sozialstandards zu definieren und umzusetzen. Bereits im Jahr 1991 vereinbarten UNICE, ETUC und CEEP ein Abkommen,

5Vgl.

http://ec.europa.eu/employment_social/social_dialogue/index_en.htm; vgl. Schmidt (2002); Zheng (2007); allerdings wurde der Soziale Dialog erst 1991 zu einem Instrument verbindlicher Erklärungen ausgebaut.

8.1  Europäische Sozialpolitik und der Soziale Dialog

251

das eine obligatorische Anhörung der Sozialpartner zu Kommissionsvorschlägen im Bereich soziale Angelegenheiten vorsah; die Sozialpartner können auch initiieren, dass zwischen ihnen abgeschlossene Rahmenabkommen in europäische Richtlinien überführt werden. 1995 wurde ein europäisches Rahmenabkommen zum Elternurlaub von den europäischen Arbeitgeberverbänden UNICE und CEEP und dem Europäischen Gewerkschaftsbund ETUC unterzeichnet, welches ein Jahr später als Richtlinie des Europäischen Rates (Council Directive 96/34/EC) verabschiedet wurde.6 Seit seinem Bestehen wurde die Einrichtung des Sozialen Dialogs sehr kritisch beobachtet und bewertet. So wurde bemängelt, dass gerade bei den Arbeitgeberverbänden nur wenig Interesse und auch nur unzureichende Verbandsstrukturen auf europäischer Ebene existierten, um in Kernfragen tatsächlich zu europäischen Regulierungen zu gelangen. Auch stellte sich der Sektorale Soziale Dialog zwischen den entsprechenden Branchenverbänden als effizienter heraus als der Versuch, durch den generellen Sozialen Dialog allgemeine branchenübergreifende Vereinbarungen zu verabschieden. Ohne hier eine annähernd angemessene Evaluation des Sozialen Dialogs anzustreben, soll betont werden, dass diese europäische Form der Erwerbsregulierung durchaus substanzielle Ergebnisse aufweisen kann. So wurden auf Initiative des Sozialen Dialogs von der Europäischen Kommission 1997 eine Richtlinie zur Teilzeitarbeit und 1999 eine Richtlinie zu zeitlich befristeten Arbeitsverträgen verabschiedet. Auf der sektoralen Ebene handelte der Soziale Dialog Vereinbarungen über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten (1998), über die Arbeitsorganisation für das fliegende Personal der Zivilluftfahrt (2000) und zu einer Vereinbarung über bestimmte Aspekte der Arbeitsbedingungen mobiler Eisenbahnarbeiter (2004), die in grenzübergreifenden Diensten eingesetzt sind, aus. Beide durch den Sektoralen Sozialen Dialog erreichten Vereinbarungen wurden später in gültige, vom Europarat verabschiedete Richtlinien überführt. Neben solchen Vereinbarungen, die nach Aushandlung durch die Sozialpartner und anschließendem Beschluss des Europäischen Rates entstanden sind, führte der Soziale Dialog auch zu freiwilligen Vereinbarungen, für deren Durchführung und Überwachung die Sozialpartner allein selbst verantwortlich sind und die nicht bzw. noch nicht in europäische Richtlinien überführt worden sind. Zu ihnen zählen etwa die Rahmenvereinbarung über Telearbeit (2002), die Rahmenvereinbarung über arbeitsbedingten Stress (2004) und die Vereinbarung über eine

6Vgl.

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:31996L0034:en:NOT; vgl. zum Thema auch allgemein http://ec.europa.eu/index_de.htm#law.

252

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

europäische Fahrerlaubnis für Zugführer in grenzüberschreitenden interoperablen Verkehrsdiensten (2004).7 Von unmittelbarer Bedeutung für die Erwerbsregulierung auf EU-Ebene ist neben dem Sozialen Dialog die Einrichtung von Euro-Betriebsräten, aber seit den 2000er Jahre auch die Möglichkeit der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft, einer sogenannten societas europeae. Hiermit sind einerseits die Möglichkeiten einer ‚Mitbestimmungsflucht‘ aus Deutschland gegeben, indem eine societas europeae gegründet wird und dann nicht deutsche, sondern europäische Mitbestimmungsregeln bzw. diejenigen eines anderen gewählten Stammsitzlandes gelten. Andererseits könnte sich durch die societas europeae die Idee einer Partizipation der Arbeitnehmerseite auf der europäischen Unternehmensebene, zumindest in der Form regulierter Informations- und Konsultationsrechte, verbreiten. In einer ausführlichen Studie konnte Rosenbohm (2015) zeigen, dass durch die Einführung der neuen Europäischen Aktiengesellschaft die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer nicht grundsätzlich unterlaufen werden, wie es in der jahrzehntelangen Debatte um die societas europeae von vielen befürchtet worden war. Aspekte einer ‚vorauseilenden Mitbestimmungsflucht‘ fanden sich in kleineren Eigentümergeführten Unternehmen, die in eine Europäische Aktiengesellschaft umgewandelt wurden. In einer erstaunlich großen Anzahl der untersuchten Unternehmen wurde mit der Gründung der societas europeae erstmalig ein europäisches Vertretungsorgan zur Unterrichtung und Anhörung neu eingeführt. Wesentlich bedeutsamer für die Europäisierung von Erwerbsregulierung ist allerdings die Einführung der Euro-Betriebsräte. Nach etwa zehn Jahre andauernden Diskussionen und Anläufen wurde am 22. September 1994 eine Rats-Richtlinie (Council Directive 94/45/EC) verabschiedet. Diese sieht vor, dass in allen Unternehmen, die in mindestens zwei Mitgliedsstaaten jeweils einen Standort mit mindestens 150 Arbeitnehmern und in allen EU-Vertragsstaaten insgesamt mindestens 1000 Arbeitnehmer beschäftigen, ein Europäischer Betriebsrat (EBR) eingerichtet werden kann. Die nationalen Regierungen, die diese EBR-Richtlinie mitgetragen hatten, verpflichteten sich, innerhalb von zwei Jahren durch nationale Gesetzgebung entsprechende Durchführungsbestimmungen zu erlassen. Diese nationalen Durchführungsgesetze regeln z. B., auf welche Art und Weise die jeweils nationalen Arbeitnehmervertretungen für den EBR gewählt werden. So wurde sichergestellt, dass eine einheitliche europäische Richtlinie als supranationales Recht mit den

7Vgl. http://ec.europa.eu/employment_social/social_dialogue/typology_en.htm zu den unterschiedlichen Typen und Implementationsmechanismen von Vereinbarungen des Sozialen Dialogs.

8.2  Das Beispiel der Euro-Betriebsräte

253

jeweiligen Traditionen und institutionellen Bedingungen der unterzeichnenden Länder verbunden werden konnte. Für Deutschland wurde das entsprechende Gesetz (EBRG) am 28. Oktober 1996 vom Parlament verabschiedet (Keller 2002). Durch die europäischen Verträge von Maastricht 1991 (in Kraft getreten 1993) und Amsterdam 1997 (in Kraft getreten 1999) wurde das Prinzip der Einstimmigkeit innerhalb der EU durch das der Mehrheitsentscheidungen in bestimmten Bereichen ersetzt. Durch den Vertrag von Maastricht im Jahre 1991 waren entscheidende Hindernisse auch für die Verabschiedung der EBR-Richtlinie 1994 beseitigt. Denn Großbritannien hatte sich unter der konservativen Regierung von M. Thatcher geweigert, eine solche Richtlinie mitzutragen. Entsprechend votierte Großbritannien für die sogenannte opting out-Lösung und beteiligte sich nicht an der Verabschiedung der EBR-Richtlinie. Nach dem Sieg der Labour-­ Regierung im Jahre 1997 traten Großbritannien und Nordirland dann dem EBR-­ Vorhaben durch die Verabschiedung einer neuen Rats-Richtlinie bei (Council Directive 97/74/EC). Angesichts der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in die EU wurde eine weitere Rats-Richtlinie für diese zwei Länder verabschiedet (­Council Directive 2006/109/EC). Es ist nicht ohne Ironie, dass nach der anfänglichen britischen Weigerung, die EBR-Richtlinie überhaupt zu akzeptieren, nach deren Annahme im Jahre 1997 überdurchschnittlich viele EBR in Unternehmen mit Stammsitz in Großbritannien gebildet wurden (vgl. http://www.ewcdb.eu/ und Hertwig et al. 2009).

8.2 Das Beispiel der Euro-Betriebsräte8 Formal haben die Euro-Betriebsräte vor allem Informations- und Konsultationsrechte: Das europäische Management hat den jeweiligen EBR mindestens einmal jährlich ausführlich über die wirtschaftliche Lage und weitere Entwicklung des Unternehmens zu informieren. Im Vergleich zum deutschen System der Arbeitnehmermitbestimmung im Aufsichtsrat und durch Betriebsräte sind die rechtlichen Grundlagen und Befugnisse der EBR-Arbeit wesentlich eingeschränkter.

8Das

Beispiel der Euro-Betriebsräte wurde hier ausgewählt, weil es sich hierbei um eine schon vergleichsweise ‚alte‘ europäische Einrichtung handelt, zu der sowohl vielfältige praktische Erfahrungen wie auch wissenschaftliche Forschungen vorliegen. Ebenso interessant ließe sich über die Entstehung und Verbreitung der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europeae) berichten, vgl. und aus Gewerkschaftssicht http://de.worker-participation.eu/Eurobetriebsraete.

254

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

Deshalb ist es auch verständlich, dass dieses Instrument der Erwerbsregulierung auf europäischer Ebene von den Akteursgruppen je nach nationaler Zugehörigkeit und nach dem Stammsitzland der Unternehmen sehr unterschiedlich genutzt und geschätzt wird. EBR als gemeinsame Gremien nach dem französischen Modell sind für das europäische Management vieler Unternehmen ein durchaus effizientes Mittel der Unternehmenskommunikation. Für die Arbeitnehmervertretungen schwankt die Beurteilung nach ihren jeweiligen nationalen Arbeitsmöglichkeiten. Aus der Sicht von Arbeitnehmervertretern, die im deutschen System von Betriebsräten, Konzern-Betriebsräten und Gesamtkonzern-Betriebsräten tätig sind, bieten die EBR nur sehr eingeschränkte Einflussmöglichkeiten, sie haben z. B. keine Veto- oder Mitbestimmungsrechte. Die EBR-Richtlinie der EU ist kein abstraktes, kaum beachtetes bürokratisches Dekret geblieben. Vielmehr legte sie den Grundstein für einen wichtigen Teil der heutigen supranationalen und transnationalen Erwerbsregulierung in Europa. Bis zum Jahre 2016 waren insgesamt 1412 EUR-Betriebsräte gegründet worden, von denen 1092 noch aktiv arbeiteten (der größte Teil der Differenz zwischen den jemals gegründeten und den noch existierenden EBR ergab sich daraus, dass 255 MNEs, die einen EBR gehabt hatten, mit anderen Unternehmen fusioniert waren.9 In insgesamt 1025 multinationalen Unternehmen waren EBR eingerichtet, die Differenz zu den 1092 aktiven EBR ergibt sich daraus, dass in einigen der MNEs mehrere EBR für Teilbereiche der Unternehmen eingerichtet waren. Die Gesamtzahl eingerichteter EBR stieg bis 2015 kontinuierlich an (vgl. Abb. 8.1). Bei einer Gesamtzahl EBR-fähiger Unternehmen in Europa von 2100 bis 2300 (aufgrund von Fusionen, Auflösungen etc. schwankt die Zahl kontinuierlich) kann festgehalten werden, dass in etwa der Hälfte aller infrage kommenden MNEs auch tatsächlich ein EBR eingerichtet ist.10 Dabei wird grob zwischen zwei unterschiedlichen Modellen von EBR unterschieden: Sie können entweder nur aus Arbeitnehmervertretern (‚deutsches Modell‘) oder aus Management- und Arbeitnehmervertretern (‚französisches Modell‘) bestehen (Platzer/Weiner 1998). Insgesamt arbeiten etwa zwei Drittel aller EBR als gemeinsame Gremien nach dem französischen Modell. Im Einzelnen variieren die Anteile der nach dem deutschen (37 %) bzw. dem französischen (63 %) Modell arbeitenden EBR extrem stark nach den Stammsitzländern der Konzerne (Kerckhofs 2003, S. 50).

9Vgl.

http://www.ewcdb.eu/stats-and-graphs. http://www.euro-betriebsrat.de/ebr/114.php; http://www.boeckler.de/3925.htm.

10Vgl.

8.2  Das Beispiel der Euro-Betriebsräte

255

Abb. 8.1   Entwicklung Anzahl neuer, existenter und aufgelöster EBR 1985–2015. (Quelle: Eigene Darstellung nach http://www.ewcdb.eu/stats-and-graphs)

Es lassen sich generell drei Phasen in der Entwicklung und Verbreitung von EBR in der EU unterscheiden. Die erste Phase betrifft den Zeitraum von Mitte der 1980er Jahre bis zur Verabschiedung der EBR-Richtlinie im Jahre 1994. In dieser Periode wurden in knapp fünfzig grenzüberschreitend in Europa tätigen Unternehmen durch freiwillige Vereinbarungen Gremien der Arbeitnehmerinformation und -konsultation geschaffen. Bereits 1985 wurde im französischen Unternehmen Thomson Consumer Electronics auf Initiative des Managements ein europäisches Informations- und Konsultationsorgan als gemeinsames Gremium von Management und Arbeitnehmerrepräsentanten gebildet. Als zweite Phase kann man den Zeitraum von der Verabschiedung der EBR-Richtlinie im September 1994 bis zur vorgeschriebenen Umsetzung der Ausführungsbestimmungen in nationales Recht im September 1996 identifizieren. Während dieser Phase wurden auf Basis des Art. 13 der EBR-Richtlinie eine Reihe sogenannter ‚freiwilliger Vereinbarungen‘ abgeschlossen, die nicht zwingend dem in der EBR-Richtlinie vorgesehen Verfahren zur Einrichtung eines EBR entsprechen mussten. In dieser zweiten Phase stieg die Zahl der eingerichteten EBR rapide an: Knapp 400 sogenannte Art.-13-Vereinbarungen wurden in europaweit tätigen Unternehmen abgeschlossen

256

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

(vgl. Kerckhofs 2003). Die dritte, sogenannte Art.-6-Phase bezeichnet die Zeit nach der Implementierung der EBR-Richtlinie in das jeweilige nationale Recht und damit die Einrichtung von EBR nach dem „gesetzlichen Normalverfahren“ (Lecher et al. 2001, S. 11). Wie die Abb. 8.1 zeigt, stieg die Anzahl eingerichteter EBR bis etwa 2001 noch recht stark an, verlangsamt sich dann aber. Einen Sonderfall bilden Änderungen an bereits bestehenden EBR-­Vereinbarung oder die erstmalige Bildung eines EBR in der Zeit zwischen dem 05.06.2009 und dem 05.06.2011. Die entsprechenden Vereinbarungen unterlagen nicht der alten EBR-Richtlinie, weil in diesem Zeitraum nach Verabschiedung der überarbeiteten EBR-Richtlinie von 2009 (Directive 2009/38/EC) eine zweijährige Frist zur Umsetzung in nationales Recht bestand. Erstmalige oder veränderte Vereinbarungen aus diesem Zeitraum werden wie freiwillige Vereinbarungen behandelt.11 Darüber hinaus ist ab 2002 ein tendenzieller Rückgang von Neugründungen pro Jahr zu verzeichnen. Diese Neugründungen haben sich von durchschnittlich 70 pro Jahr (zwischen 1997 und 2000) auf ca. 35 halbiert. Diese weitere Stagnation der Neugründungszahlen deutet auf eine gewisse und ‚normale‘ Sättigung hin: EBR gehören inzwischen zur institutionellen Rahmenordnung der Erwerbsregulierung in Europa. Da sie auf freiwilliger Basis und in der Regel auf Initiative der Arbeitnehmerseite des Stammsitzlandes des MNE eingerichtet werden, ist keine vollständige Abdeckung aller EBR-fähigen Unternehmen zu erwarten.12 Insgesamt kann die Einführung der EBR als Erfolgsmodell charakterisiert werden, vor allem, nachdem jahrzehntelang über das Für und Wider gestritten worden war. Hervorzuheben ist, dass bereits seit den 1970er Jahren in Europa über die Verabschiedung einer EBR-Richtlinie diskutiert wurde. Bis zur Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips gab es immer wieder Widerstand vonseiten der Arbeitgeberverbände und nationaler Regierungen, wodurch die Einführung von EBR verhindert wurde. Die frühen freiwilligen EBR-Vereinbarungen waren dann wichtige praktische Vorbilder für die gesetzliche Normbildung, die durch das optingout von Großbritannien und Nordirland möglich wurde: „Ohne Pionierprojekte wäre es kaum möglich gewesen, den nötigen gewerkschaftlichen und politischen Druck aufzubauen. (…) Die Praxis fand Eingang in die rechtliche Normierung, die rechtliche Normierung beeinflußte wiederum die Praxis“ (Nagel 1999, S. 352 f.). Die inzwischen vorliegende recht umfangreiche Forschungsliteratur zu EBR beschäftigt sich vor allem mit der Ausgestaltung der EBR-Arbeit und deren

11Vgl.

http://www.euro-betriebsrat.de/ebr/911.php. Frage, warum Versuche der Einrichtung eines EBR scheitern, vgl. Whittall et al. (2009). 12Zur

8.2  Das Beispiel der Euro-Betriebsräte

257

realen Funktionen in der Erwerbsregulierung (Hertwig et al. 2009). Die Institutionalisierung des EBR in der europäischen Erwerbsregulierung zeigt sich nicht nur an seiner zahlenmäßigen Verbreitung, sondern auch an der inhaltlichen Stabilisierung der Arbeit. So hat sich von 2002 bis 2015 der Anteil von EBR mit einem (die Arbeit organisierenden) Führungskomitee von 62 auf 86 % erhöht; der Anteil von EBR, die pro Jahr mehr als eine Sitzung durchführen, wuchs von 14 auf 26 %, und der Anteil von EBR, die Qualifizierungsmaßnahmen für ihre Mitglieder durchführten bzw. an solchen Aktivitäten teilnahmen, stieg von 28 auf 66 % (ETUI 2016, S. 62). In Bezug auf die reale Wirksamkeit der EBR als Instrument einer supranationalen Erwerbsregulierung gibt es durchaus unterschiedliche Beurteilungen. Einige frühe, aus einer sehr engen Perspektive und ohne breitere empirische Fundierung gefällte Urteile bemängelten einerseits die mangelnde Regulierungskraft von EBR, die stark hinter den Möglichkeiten des deutschen Modells betrieblicher Mitbestimmung zurückbliebe, und kritisierten andererseits den defizitären Europabezug der Institution EBR. Die EBR seien vor allem Verlängerungen der Interessenvertretungen des jeweiligen Stammsitzlandes. In der in Kap. 6 vorgestellten Typologie würde es sich also um eine Diaspora-Internationalisierung handeln. EBR werden als „neither European nor works councils“ (Streeck 1997, S. 328) abqualifiziert. Angesichts der Gefahr eines ‚Social-Dumping‘ sei der EBR weder im konzerninternen noch im Länder-Wettbewerb ein angemessenes Instrument (Keller 2001). Der Standortwettbewerb habe seit 1996 sogar noch zugenommen, und „EWCs have failed to become a pan-European vehicle for trade union coordination“ (Hancké 2000, S. 55). Neuere und auf breiteren empirischen Untersuchungen basierende Einschätzungen argumentieren wesentlich differenzierter. So finden z. B. Hoffmann et al. (2002) bei ihrer Untersuchung von acht Konzernen, deren Stammsitze sich in den USA und in Großbritannien befinden, große Unterschiede im Einfluss der EBR auf die nationalen Arbeitsbeziehungen und auf die konzernweiten Interessenregulierungsstrukturen. Insgesamt haben sich in allen untersuchten Fällen der Informationsfluss und die Transparenz der Unternehmensaktivitäten für die Arbeitnehmerseite verbessert (Hoffmann et al. 2002, S. 21). Für die Wirkungsweise und Wirksamkeit der EBR ist von Bedeutung, ob sie auf stabile betriebliche Interessenregulierungsstrukturen auf nationaler Ebene zurückgreifen können. Umgekehrt können EBR aber auch der Stärkung von Interessenvertretungsstrukturen in Ländern dienen, deren institutionelle Rahmenbedingungen vergleichsweise schwach sind. Letzteres betrifft z. B. die EBR-Aktivitäten in Konzernen, deren Stammsitz sich in angelsächsischen Ländern befindet. Erstaunlicherweise (oder: verständlicherweise) ist die Quote von Unternehmen mit einem EBR im Verhältnis zu allen Unternehmen, in denen theoretisch

258

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

ein EBR gebildet werden könnte, in diesen Konzernen höher als z. B. in Konzernen mit Stammsitz in Deutschland. Für das Management und die Beschäftigten in Konzernen mit angelsächsischer Tradition hat der EBR offensichtlich einen höheren ‚Grenznutzen‘ als für Konzerne, in denen bereits auf der nationalen Ebene der Stammsitzländer eine ausgeprägte Beteiligungskultur besteht (Lecher et al. 1998). Inzwischen liegen auch viele branchenbezogene Studien und Fallanalysen zur Arbeitsweise und Wirksamkeit der EBR vor. Da die europäischen Automobilhersteller Vorreiter bei der Etablierung von EBR waren, seien hierzu einige Befunde erwähnt.13 Volkswagen war der erste Automobilkonzern, in dem ein EBR eingerichtet wurde. Die Erklärung der Arbeitnehmervertreter zur Konstitution des Europäischen Volkswagen Konzernbetriebsrat wurde 1990 verabschiedet. Dessen formelle Anerkennung durch die Konzernleitung und die Unterzeichnung eines entsprechenden Gründungsdokumentes erfolgten aber erst im Februar 1992. In einer Studie wurde Ende der 1990er Jahre dem VW-EBR eine positive Wirkung im Hinblick auf die Arbeitnehmerinteressenvertretung bescheinigt, da seine Kompetenzen über die in der Richtlinie kodifizierten Rechte hinausgehen, der konzerninterne Standortwettbewerb eingedämmt werden konnte und darüber hinaus ein „Hochniveautransfer“ (Helbig 1999, S. 258) deutscher Arbeitsregulierung in die außerdeutschen VW-Standorte stattgefunden habe. Die Einrichtung des VWEBR war zudem ein wichtiger Schritt zur Herausbildung einer ‚globalen Mehrebenenstruktur‘14, die mit der Gründung eines Weltkonzernbetriebsrats für den Volkswagenkonzern im Jahre 1999 vervollständigt wurde. Obwohl die formalen Mitentscheidungsbefugnisse des VW-EBR im Vergleich zu deutschen Betriebsräten gering sind, tangiert er doch in hohem Maße die „Handlungskontexte für Entscheidungen, die in anderen Gremien“ des Konzerns getroffen werden (Helbig 1999, S. 259). Der EBR bei Volkswagen dient als eine Art Clearingstelle zwischen dem deutschen Konzernbetriebsrat und dem Weltkonzernbetriebsrat. Interessant ist auch der Fall des deutschen BMW-Konzerns. Zunächst stand die Arbeitnehmervertretung im Stammsitzland Deutschland der Einrichtung des EBR durchaus skeptisch gegenüber. Die Wertschätzung eines EBR wuchs erst

13Zur Entwicklung der drei deutschen Autokonzerne BMW, Volkswagen sowie Daimler-­ Chrysler insgesamt vgl. Pries (1999); zu europäischen Autoherstellern und den dortigen EuroBetriebsräten Hertwig et al. (2009), zu EBRs in der Automobilzuliefererindustrie Hauser-Ditz et al. (2015). Zum Zusammenhang von EBR und Gewerkschaften in dem europäischen Konzern Airbus vgl. Engler (2016). 14Vgl. für Erwerbsregulierung Müller et al. (2004, S. 14) und zum europäischen Mehrebenensystem generell Kohler-Koch (1998, 2004) sowie Eising und Kohler-Koch (2005).

8.2  Das Beispiel der Euro-Betriebsräte

259

auf Arbeitnehmerseite während des Kaufs der britischen Rover Group durch BMW im Januar 1994. Grund waren Befürchtungen, dass die Eingliederung angelsächsischer Standorte eine Gefahr für die relativ guten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der deutschen BMW-Betriebe darstellen könnte. Die anfänglich ablehnende Haltung des Managements gegenüber einem EBR wandelte sich unter dem Einfluss der EBR-Richtlinie, nachdem man die Vorteile eines freiwilligen Arrangements nach Artikel 13 realisiert hatte (Whittall 2000, S. 67 f.). Die Studie bestätigt die in der Literatur häufig vertretene These der Dominanz des Stammsitzes für die Ausformung der EBR-Charakteristika. Bei der Abwendung der ‚Longbridge-Krisen‘ 1998 und 1999 waren insbesondere die institutionell bedingten Ressourcen des deutschen GBR von hoher Bedeutung. Dagegen spielte der EBR als Verhandlungsorgan eine nur begrenzte Rolle. Sein ‚Verdienst‘ bestand in diesem konkreten Fall vielmehr darin, eine „basis for bilateral trade union cooperation“ zu schaffen (Whittall 2000, S. 78). Den Wiederverkauf der meisten Teile der Rover Group durch BMW im Jahre 2000 konnte weder der deutsche noch der europäische Betriebsrat verhindern (Whittall 2003). Noch vor Ablauf der Art.-13-Phase der EBR-Direktive im Jahre 1996 verfügten bereits alle in der Europäischen Union produzierenden Pkw-Hersteller über entsprechende Gremien (Hancké 2000, S. 55). Mittlerweile existieren solche auch in fast allen großen Auto-Zulieferkonzernen.15 Für den Fall General Motors Europa zeigen Eller-Braatz und Klebe (1998), wie es dem EBR auch gegen den Widerstand des Managements gelang, eine länderübergreifende Position zu einer 1997 geplanten Benchmarking-Studie zu entwickeln. Diese Studie sollte die Leistungsfähigkeit europäischer GM-Standorte miteinander vergleichen. Es gelang dem EBR, das Recht auf Information und Konsultation und schließlich sogar die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter an der Studie durchzusetzen. Die Konkurrenz zwischen verschiedenen Standorten innerhalb des GM-Konzerns konnte durch die „phantasiereiche und zeitnahe Kombination nationaler Informations- und Mitbestimmungsrechte“ (ebd., S. 449) zumindest eingedämmt werden. Der Konflikt hat im Endeffekt zur Stärkung sowohl der nationalen Interessenvertretungen als auch des EBR geführt. Auch in den Konflikten um Produktions- und Personalabbau in einigen europäischen GM-Standorten in den Jahren 2004 und 2005 konnte der GM-EBR über die in der Richtlinie kodifizierten Rechte hinaus aktiv werden (Pries 2004).

15Vgl. http://www.ebr-news.de/ und http://www.eurofound.europa.eu/eiro/, z. B. http://www. eurofound.europa.eu/eiro/2004/11/study/tn0411101s.htm.

260

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

Die Beispiele der Einrichtung von EBR zeigen, dass die Meinungen über dieses relativ neue Organ grenzüberschreitender Erwerbsregulierung sowohl in der Wissenschaft als auch bei Arbeitnehmer- und Managementvertretern durchaus auseinandergehen. Generell werden aber die evolutionäre Dynamik und die Ausbaupotentiale der EBR hervorgehoben: EBR sind nicht an und für sich gut oder schlecht. Es kommt vielmehr darauf an, in welchem institutionellen Umfeld die betrieblichen Akteure welche Strategien entwickeln und umsetzen und was sie aus den Möglichkeiten grenzüberschreitender Kooperation in der Praxis machen. In Untersuchungen wurden sowohl sehr schwache und eher ‚symbolische‘ EBR als auch sehr aktive vertretungswirksame EBR identifiziert. Bei Letzteren weist ihre praktische Rolle deutlich über die in der Richtlinie vorgesehenen Informations- und Anhörungsrechte hinaus und bewegt sich in Richtung aktiver Mitbestimmungsrechte. Selbst in sehr verhandlungsstarken EBR können entweder alle involvierten Standorte und Arbeitnehmergruppen gleichmäßig berücksichtigt werden oder aber einzelne Standorte und Länder ökonomisch und kulturell dominieren.16 Die Zukunft der EBR hängt in starkem Maße von den beteiligten Akteursgruppen selbst ab. Schon heute trägt die praktische Arbeit der Euro-Betriebsräte zur Inter-­ Nationalisierung, Supranationalisierung und Transnationalisierung von Erwerbsregulierung bei. Denn es handelt sich hierbei um eine gefestigte EU-weite supranationale rechtliche Rahmenordnung, die durch die nationalen Gesetzgebungsverfahren ergänzt und ausdifferenziert wurde. Innerhalb dieser entwickeln sich grenzüberschreitende, nicht-staatlich dominierte und dauerhafte Formen von Austauschbeziehungen zwischen Einheiten, die über mehrere Länder verteilt sind und die (im Gegensatz etwa zu den diplomatischen Korps von Nationalstaaten oder der internationalen Struktur der Katholischen Kirche) über keine eindeutige formalrechtliche Zentrum-Peripherie-Struktur verfügen. In der Praxis zeigen sich sehr häufig Formen der Diaspora-Internationalisierung in dem Sinne, dass die Muster der Erwerbsregulierung in den Stammsitzländern und speziell am Konzernstammsitz eine eindeutige Dominanz besitzen. Diese verschiedenen Formen der Internationalisierung (Supranationalisierung, Re-Nationalisierung, Transnationalisierung, Diaspora-Internationalisierung) schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie sind vielmehr in einem komplexen Mehrebenensystem integriert, welches auch die lokale, die nationale und die Weltebene mit einschließt. Die Beispiele des Sozialen Dialogs und der Euro-Betriebsräte als wichtige Bestandteile einer Europäisierung der Erwerbsregulierung konnten hier nur kurz

16Zur

Rolle kultureller Faktoren für die Arbeit von EBRs vgl. Klemm et al. (2011).

8.2  Das Beispiel der Euro-Betriebsräte

261

vorgestellt werden. Sie sollte dennoch verdeutlichen, dass und warum Europa gegenwärtig im Prozess der Internationalisierung der Erwerbsregulierung eine Schlüsselrolle spielt. Wie weit ausdifferenziert und entwickelt inzwischen die Aktivitäten der EU im Bereich der Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation sind, lässt sich an der Struktur und den Arbeitsbereichen der Direktion für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit ablesen.17 Die explizite Mission dieser Generaldirektion liest sich im Vergleich zu allen Bestimmungen, die sich in internationalen Handels- und Kooperationsverträgen finden, geradezu weitreichend und revolutionär. Ein erstes Ziel ist die „Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie (die zu einer Annäherung der nationalen Strategien in diesem Bereich beiträgt) und des Europäischen Sozialfonds (Bereitstellung von jährlich 9 Mrd. EUR, die zusammen mit den Mitgliedstaaten verwaltet werden)“ (http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=23&langId=de). Eine zweite Zielsetzung bezieht sich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen: „Wir fördern die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards am Arbeitsplatz, bauen den sozialen Dialog auf EU-Ebene aus, modernisieren die Arbeitsbeziehungen und unterstützen die Mobilität von Arbeitnehmern“ (ebd.). Als dritter Aufgabenbereich wird die soziale Integration und Nichtdiskriminierung genannt, wozu „Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, zur Modernisierung der Sozialschutzsysteme, zur Erforschung neuer demografischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, zur Bekämpfung von Diskriminierung sowie zur Förderung der Grundrechte und der Integration von Menschen mit Behinderungen“ (ebd.) ergriffen werden sollen. Schließlich ist als viertes Ziel angegeben, die „Gleichstellung der Geschlechter durch entsprechende Rechtsvorschriften und Programme sowie durch die Berücksichtigung der Geschlechterthematik in allen Bereichen der Gemeinschaftsaktionen“ (ebd.) zu fördern. Bemerkenswert ist für unseren Zusammenhang, dass diese Ziele nicht in irgendwelchen folgenlosen internationalen Resolutionen erwähnt sind, sondern dass sie als Leitschnur für die Strukturierung eines sehr großen europäischen Tätigkeitsfeldes dienen, in dem im internationalen Vergleich durchaus e­ rhebliche

17Vgl. allgemein http://ec.europa.eu/social/home.jsp?langId=en; zum Arbeitsrecht http:// ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=157&langId=de; zu den europäischen Corporate-Social-Responsibility-Aktivitäten http://ec.europa.eu/employment_social/soc-dial/csr/; zu wissenschaftlichen Studien und Dokumentationen bezüglich Erwerbsregulierung und http://www. eurofound.europa.eu/eiro/index.htm.

262

8  Erwerbsregulierung in der Europäischen Union

finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Dieses breite Feld der europäischen Erwerbsregulierung ist in eine fast nicht mehr überschaubare Vielzahl an Rechtsvorschriften und Programmen ausdifferenziert und bezieht lokale, nationale, internationale und supranationale Akteursgruppen aus dem Bereich der Sozialpartner, der nationalen Regierungen, der Wissenschaft und der NGOs mit ein. Im Jahr 2016 wurde eine weitere Runde der Verbreiterung dieses Regulierungsfeldes eingeläutet, als über die Implementation der im Jahre 2009 erweiterten EBR-­Direktive Bericht erstattet wurde, um weiter gehende Beratungen daraus abzuleiten.18 Vergleicht man diesen Typus europäischer Erwerbsregulierung mit den anderen sechs in diesem Kapitel behandelten Formen, so handelt es sich wahrscheinlich im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte, die thematische Breite und Regelungstiefe, auf die Umsetzungsmechanismen und Kontrollressourcen sowie die involvierten Akteursgruppen um die am weitesten gefestigte, differenzierte und wirkungsmächtige Governance grenzüberschreitender Erwerbsregulierung – allerdings mit der klaren geografischen Begrenzung auf den EU-Raum. Im Hinblick auf die Beurteilungskriterien der Tab. 7.1 zu den Typen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung gilt für die hier behandelte Ebene der EU, dass die Grundgedanken einer Verbesserung und Harmonisierung auch der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 im europäischen Einigungsprozess angelegt waren – auch wenn es in der Geschichte der EU immer wieder Konjunkturen gab, in denen erwerbsbezogene Regulierungsaspekte eine untergeordnete Rolle spielten.19 Bezüglich der Themenbreite findet sich kaum ein anderer Regulierungstypus, in dem so viele wichtige und verschiedene Aspekte der Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation

18Als ersten Bericht zur Umsetzung der erweiterten Richtlinie von 2009 vgl. EC (2010), zum Fahrplan der weiteren Beratungen http://ec.europa.eu/smart-regulation/roadmaps/ docs/2016_empl_011_evaluation_european_works_council_en.pdf; zur Stellungnahme des Europäischen Gewerkschaftsinstituts ETUI vgl. ETUI (2016, S. 65) und http://www.etui. org/Publications2/Books/Variations-on-a-theme-The-implementation-of-the-EWC-Recast-Directive?utm_content=buffere2202&utm_medium=social&utm_source=twitter. com&utm_campaign=buffer. 19Für die letzte Dekade zieht das Forschungsinstitut des Europäischen Gewerkschaftsbundes eine durchaus kritische Bilanz und moniert eine falsche Fixierung auf eine Liberalisierungs- und vorwiegend ökonomische Wachstumspolitik, vgl. http://www.etui.org/ Publications2/Books/Benchmarking-Working-Europe-2009; in ähnlicher Richtung eher kritisch auch die Ausgabe März 2009 der Zeitschrift Mitbestimmung: www.magazin-mitbestimmung.de.

8.2  Das Beispiel der Euro-Betriebsräte

263

einbezogen sind. Die raum-zeitliche Reichweite der einzelnen Bestimmungen und Regelungsformen kann – etwa nach dem jeweiligen Typus von Rechtsgrundlage (vgl. Abschn. 8.2) – variieren, aber generell wird die Europäische Union als ein homogener bzw. zu harmonisierender Gestaltungsraum behandelt. Für die Umsetzung und Kontrolle der verschiedenen Normen und Programme existieren recht ausdifferenzierte Formen der Evaluation, Berichterstattung und Sanktionierung.20 In diesem Kapitel dürfte auch deutlich geworden sein, dass die europäische Erwerbsregulierung vor allem von den europäischen und nationalen staatlichen Akteuren und den Sozialpartnern getragen wird. Weiter unten (Abschn. 11.1) wird gezeigt, dass diese europäische Netzwerktextur der Erwerbsregulierung allerdings auch in wachsendem Maße mit anderen Akteursgruppen und Regulierungstypen verwoben ist.

20Zur

europäischen Rechtsprechung (etwa zum Thema Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit für Arbeitnehmer) vgl. http://curia.europa.eu/jcms/jcms/j_6/ und http://eur-lex. europa.eu/de/index.htm.

9

Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

In den zwei vorhergehenden Kap. 7 und 8 wurden Regulierungstypen vorgestellt, die auf der globalen, auf der internationalen und auf der supranationalen Ebene vor allem auf der Basis und mithilfe völkerrechtlich bindender Verträge und Bestimmungen operieren. Dabei zeigte sich, dass die von der ILO entwickelten Kernarbeitsnormen einen quasi weltweit gültigen, menschenrechtsähnlichen Mindeststandard für Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen definieren. Auch wenn formalrechtlich noch nicht von allen Nationalstaaten der Welt ratifiziert, ist die Legitimitätsgeltung dieser Mindeststandards doch global. Bei der Betrachtung vieler internationaler Verträge und der entsprechenden Arbeit internationaler Organisationen wie der WTO, der Weltbank oder des IMF wurde deutlich, dass diese Kernarbeitsnormen (und andere erwerbsbezogene Bestimmungen) inzwischen Eingang in vielfältige völkerrechtlich bindende Verträge gefunden haben, die für eine sehr große Anzahl von Staaten der Welt gültig sind. In diesem Abschnitt geht es nun nicht um die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen souveränen Nationalstaaten und die entsprechenden erwerbsrelevanten Bestimmungen. Vielmehr ist die Referenzebene hier die der grenzüberschreitenden, international tätigen Konzerne. Sie haben für die Ausprägung von Erwerbsarbeit eine ganz besondere Bedeutung. Diese ergibt sich zunächst daraus, dass Millionen von Menschen direkt in solchen internationalen Konzernen beschäftigt sind. Sie rührt aber auch aus der Tatsache, dass viele weitere Millionen Arbeitnehmer in lokalen oder nationalen Unternehmen tätig sind, die als Zulieferer oder Kunden solcher internationalen Konzerne fungieren. Internationale Konzerne haben schließlich auch eine nicht zu unterschätzende Beispiel- und Vorbildfunktion auch für lokale und nationale Unternehmen. Während grenzüberschreitende Unternehmen einerseits einer der bedeutendsten Impulsgeber für wirtschaftliche Globalisierung sind, gestalten sie selbst auch die spezifischen erwerbsbezogenen Formen und Wirkungen dieser Internationalisierung. Grob können in Bezug auf © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_9

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9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

internationale Konzerne drei verschiedene Ebenen erwerbsrelevanter Regulierung unterschieden werden. Eine erste Ebene ist die der unilateralen Aktivitäten von Unternehmens- oder Arbeitnehmerseite. Dies betrifft für die Seite der Konzernleitungen vor allem freiwillige Erklärungen zu ihrem allgemeinen Verhalten und ihrer allgemeinen Politik der Unternehmensführung, die häufig mit den Stichworten Codes of Conduct und Corporate Responsibility belegt werden. Diese Art freiwilliger Erklärungen betreffen in der Regel auch die Normen der (Gleich-)Behandlung der Arbeitnehmer, die Beachtung der jeweiligen nationalen Bestimmungen zur Erwerbsregulierung sowie der ILO-Kernarbeitsnormen. Sie werden als unilaterale Aktivitäten bezeichnet, wenn und insofern sie ausschließlich durch die jeweilige Unternehmensführung entwickelt und verabschiedet werden, ohne die Interessenvertretung(en) der eigenen Beschäftigten einzubeziehen. Auch aufseiten der Arbeitnehmer internationaler Konzerne gibt es vielfältige unilaterale Bestrebungen, den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Betrieben und Werken und vor allem auf gewerkschaftlicher Ebene die Netzwerkbildung von Arbeitnehmervertretern zu fördern (Abschn. 9.1). Neben diesen unilateralen Mechanismen gibt es in einer durchaus beachtlichen Anzahl internationaler Konzerne auch feste bilaterale Strukturen der Information, Anhörung und Verhandlungen über erwerbsrelevante Themen zwischen Konzernleitung und einer Arbeitnehmervertretung (Abschn. 9.2). Schließlich existieren in einer wachsenden Anzahl großer internationaler Konzerne inzwischen auch sogenannte Internationale Rahmenabkommen (International Framework Agreements IFA), die zwischen Unternehmensleitung, einer konzernweiten Arbeitnehmervertretung und/oder einer internationalen Branchengewerkschaft ausgehandelt und vertraglich fixiert wurden und für das Unternehmen mehr oder weniger bindende Wirkung haben (Abschn. 9.3).

9.1 Gewerkschaftsaktivitäten und freiwillige Unternehmenserklärungen In den 1950er und 1960er Jahren wurden große grenzüberschreitende K ­ onzerne, meistens mit Stammsitz in den USA, Großbritannien, Frankreich, ­ Holland und Deutschland, von wachsender Bedeutung für nationale Wirtschaften und die Erwerbsbedingungen der Beschäftigten. Die lokalen und nationalen Arbeitnehmervertretungen in diesen großen Konzernen standen diesem Internationalisierungsschub zunächst ebenso ratlos und ohne einheitliche Handlungskonzepte gegenüber wie die meisten nationalen Gewerkschaften und die (meistens sehr unverbindlich

9.1  Gewerkschaftsaktivitäten und freiwillige Unternehmenserklärungen

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koordinierten) internationalen Gewerkschaftsverbände (vgl. Abschn. 6.3). Es entstanden viele dezentrale Initiativen. Auf der Ebene unilateraler Beziehungen innerhalb internationaler Konzerne gab es in einer ersten Welle in den 1960er und 1970er Jahren intensivierte Bestrebungen der internationalen Gewerkschaften, die Netzwerkbildung der lokalen und nationalen Arbeitnehmervertretungen für große internationale Konzerne zu entwickeln (vgl. Müller et al. 2004, S. 79 ff.; Platzer und Müller 2009). So fand im Jahre 1973 auf Einladung des Zentrums für Friedensforschung der katholischen Universität in Nijmegen/Niederlande ein Symposium zum Thema Multinational Corporations and Labour Unions statt (Tudyka 1974). Die Möglichkeiten und Grenzen einer konzernbezogenen internationalen Gewerkschaftsarbeit wurden auch in zahlreichen Studien während dieser Zeit analysiert (vergleiche etwa Piehl 1973). Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den internationalen Aktivitäten deutscher Konzerne erfuhr seit den 1970er Jahren einen enormen Aufschwung1. Im Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) und seinen Internationalen Berufssekretariaten sowie in vielen nationalen Gewerkschaften wurden Möglichkeiten diskutiert und entwickelt, für konkrete internationale Konzerne gewerkschaftliche Komitees einzurichten, die als Informationsplattform dienen sollten (vergleiche Piehl 1973, S. 261 f.). Der IBFG verabschiedete auf seinem 12. Weltkongress in Madrid 1979 ein Dokument „Die Gewerkschaften und die Transnationalen. Ein Leitfaden für Verhandlungen“ (IBFG 1979). Im Volkswagen-Konzern wurde am Stammsitz in Wolfsburg bereits 1982 eine gewerkschaftliche Arbeitsgruppe zur Solidarität mit den VW-Beschäftigten in lateinamerikanischen Unternehmensteilen gegründet.2 Fester etablierten sich dann in den 1980er Jahren regelmäßige und auf spezifische Branchen bezogene internationale Konferenzen. Für die Automobilbranche etwa wurden auf der Ebene internationaler Unternehmen und des Internationalen Metallarbeiterbundes (IMB) sogenannte Weltautoräte (World Auto Councils) eingerichtet, die in unregelmäßigen Abständen die Arbeitnehmervertretungen aller bzw. der wichtigsten Standorte eines Automobilkonzerns bzw. die wichtigsten Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertreter aller internationalen Automobilunternehmen zusammenführen. Das inzwischen

1Vgl. Olle (1978); Olle (1986); Fröbel et al. (1977); populärwissenschaftlich spiegelt z. B. Breidenstein (1977) die seinerzeitige global-kritische Haltung gegenüber ‚den Multis‘ wider; differenziert aus heutiger Sicht z. B. Hirsch-Kreinsen (1997). 2Vgl. zu solchen von gewerkschaftlichen Aktivisten selbst initiierten und organisierten transnationalen Basisnetzwerken in einzelnen Konzernen Müller et al. (2004, S. 241).

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9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

zwölfte Treffen des IMB-Weltautorates fand im Juni 2008 mit über 200 Delegierten aus 27 Ländern in Sao Paulo/Brasilien statt.3 In verschiedenen Global Union Federations (GUF) wurden für wichtige internationale Konzerne Vernetzungsstrukturen von gewerkschaftlichen und betrieblichen Arbeitnehmervertretern auf internationaler Ebene gebildet (Müller et al. 2004, S. 233). Bezogen auf die Metallindustrie und die entsprechenden Unterbranchen etwa der Automobilindustrie versucht z. B. das – allerdings sehr kleine – Büro des IMB in Genf, die Aktivitäten der einzelnen nationalen Gewerkschaften zu koordinieren. Wie erfolgreich solche internationalen konzernbezogenen Arbeitnehmernetzwerke zukünftig sein werden, bleibt abzuwarten. Vieles spricht dafür, dass eine solche konzernbezogene Koordination der Aktivitäten lokaler und nationaler Arbeitnehmervertretungsorgane und Gewerkschaften als regelmäßige und ernst zu nehmende Aktivität nur in denjenigen internationalen Unternehmen möglich ist, in denen auch direkte interne internationale Vertretungsstrukturen bestehen (vgl. den nächsten Abschn. 9.2). Gleichwohl haben sich für viele internationale Konzerne seit den 1990er Jahren aufgrund neuer Kommunikationsmöglichkeiten, vor allem auf Basis des Internets, und gezielter gewerkschaftlicher Anstrengungen verschiedenste Arbeitsgruppen und Diskussionsplattformen herausgebildet. Platzer und Müller 2009 (Abschn. 23.2) schätzen die Zahl der Weltkonzernausschüsse im Organisationsbereich des IMB auf etwa 35, für die UNI-Gewerkschaftsföderation auf etwa 15 und für die ICEM auf etwa 10. Für alle anderen GUFs schätzen sie die Anzahl der konzernbezogenen Netzwerke jeweils auf unter 10 ein. Neben diesen konzernbezogenen Netzwerken existieren auch sektorale (z. B. für die Energie- oder Gummiindustrie), regionale (z. B. für Afrika, Asien oder Lateinamerika) oder themenbezogene (z. B. Arbeitsschutz) Netzwerke in den Aktivitätsfeldern der GUFs. Etwas pessimistischer schätzen Croucher und Cotton (2009, S. 71) die Anzahl der bei den GUFs jeweils aktiven Netzwerke auf etwa zehn. Neben den mehr oder weniger direkt von den GUFs organisierten und moderierten Netzwerken gibt es auch sehr viele grenzüberschreitende Aktivitäten, die nicht immer mit der Arbeit der etablierten Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungsorgane koordiniert, manchmal sogar in Opposition gegen diese entstanden sind oder arbeiten.4 Entsprechend werden sie teilweise von

3Vgl.

http://www.industriall-union.org/archive/imf/12th-imf-world-auto-council-meets-insaopaulo. 4Als nicht von nationalen oder internationalen Gewerkschaftsverbänden mit organisierte Seiten vgl. etwa http://www.gpn.org/, http://www.fairlabor.org/, http://www.labourstart.org/, http://www.globallabour.info/en/, http://globallaborblog.org/, http://www.labournet.de/.

9.1  Gewerkschaftsaktivitäten und freiwillige Unternehmenserklärungen

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den offiziellen Interessenvertretungen und auch von den Unternehmensleitungen kritisch beurteilt oder gar abgelehnt. Generell bieten die neuen Kommunikationsformen qualitativ neue und erweiterte Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für die Arbeitnehmerseite und die Gewerkschaften. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade in den letzten Jahren eine fast nicht mehr zu überblickende Anzahl entsprechender Webseiten entstanden ist.5 Hier zeigt sich, dass die neuen Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Kommunikation (z. B. durch Email, Websites, Chat-Plattformen, Blogs) allein noch keinerlei Garantie für grenzüberschreitende Kooperation auf der Arbeitnehmerseite (und dies gilt ähnlich auch für die Managementseite) bedeutet. Vielmehr können hierdurch auch neue Konkurrenzen und Konfliktlinien entstehen, die nachhaltige Kooperationsbeziehungen sogar erschweren können. Nicht zuletzt aufgrund vielfältiger Kritiken von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsorganisationen sowie von nationalen Regierungen und NGOs haben viele internationale Konzerne ihre unilateralen Aktivitäten im Rahmen von Freiwilligen Erklärungen und Allgemeinen Verhaltensrichtlinien (Codes of Conduct) verstärkt. Hierdurch sollen klare Grundsätze der Unternehmensführung nach innen und außen kommuniziert und umgesetzt werden, wobei häufig den Themen Umwelt, Geschäftspraktiken/Transparenz und kommunalen Aktivitäten besonderes Gewicht beigemessen, aber auch die Fragen der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen der eigenen Arbeitnehmer sowie derjenigen der Geschäftspartner thematisiert werden. Sehr häufig wird in diesen Freiwilligen Erklärungen auch auf die ILO-Mindeststandards Bezug genommen (vgl. als Überblick Haufler 2001; Pearson und Seyfang 2008). Maßgebenden Einfluss auf die Förderung unilateraler Unternehmenserklärungen hatte auch die Initiative des UN-Generalsekretärs Kofi Annan, der auf dem Weltwirtschaftstreffen 1999 in Davos die internationalen Wirtschaftsführer aufgerufen hatte, mit den UN einen Globalen Vertrag (United Nations Global Compact) für eine soziale und nachhaltige Gestaltung der Globalisierung abzuschließen.6 Hier zeigen sich die spezifische Vernetzung unterschiedlicher Formen der Internationalisierung von Erwerbsregulierung und das ‚Überspringen‘ der Impulse von einer Ebene internationaler Erwerbsregulierung auf eine andere: Die Vereinten Nationen haben – trotz einiger anderslautender Hoffnungen (­Schumann und Grefe 5Als

offizielle, von Gewerkschaften organisierte Webseiten vgl. z. B. http://www.ituc-csi. org/spip.php?rubrique1&lang=en, http://www.global-unions.org/, http://www.turi-network. eu/, für den GM-Konzern http://www.gmworkersblog.com/). 6Vgl. https://www.unglobalcompact.org/what-is-gc/mission/principles zu den zehn Prinzipien des UN-Global Compact.

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9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

2008, S. 392 ff.) – weder gegenwärtig noch in der absehbaren Zukunft die Kompetenz, den Nationalstaaten vergleichbare bindende Gesetze zu verabschieden. Ihre Chancen im Tätigkeitsfeld internationaler Erwerbsregulierung liegen 1) in dem Mechanismus völkerrechtlicher Verträge, die von den nationalen Staaten ratifiziert werden, 2) in der Entwicklung von Mechanismen der Implementation und des Monitoring vereinbarter Normen, 3) in der Überzeugungsarbeit gegenüber anderen internationalen Akteuren wie zum Beispiel den Konzernen, internationalen Finanzinstitutionen oder Gewerkschaften und 4) in der systematischen Mitarbeit an der Stärkung der internationalen Netzwerktexturen der Erwerbsregulierung, die die verschiedensten Ebenen und Formen der Regulierung einbeziehen. Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen integrativen und dynamischen Perspektive wird durch verschiedene Studien unterstützt. So unterstreicht Brigitte Hamm (2002, S. 37; vgl. auch Tsogas 2009) die nur in einem größeren Kontext zu beurteilenden Möglichkeiten der Global Compact-Initiative: „Der Global Compact ist kein Verhaltenskodex, denn er kennt keine Regeln und sollte deshalb auch nicht dem soft law zugerechnet werden. Es ist wesentlich, darauf zu achten, dass der Pakt nur als Ergänzung, aber nicht als Alternative zu Kodizes verstanden wird.“ In ihrer Untersuchung zur Umsetzung der ‚Konvention zur Eliminierung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen‘ (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women, CEDAW) diskutiert Sally Engle Merry (2003) die beiden als Gegensätze erscheinenden Strategien, entweder auf ‚harte‘ Sanktionsmechanismen oder auf die Veränderung ‚weicher‘ kultureller Normen zu orientieren. Sie löst diesen scheinbaren Widerspruch – zumindest auf einer allgemeinen Ebene – auf, indem sie unterstreicht, dass kulturelle Normen nur dadurch gesellschaftliche Wirkungskraft entfalten, dass sie immer wieder neu bestimmt und in der Praxis umgesetzt werden müssen, dann aber auch durch einen konsensuellen Prozess Legitimität und eventuell ‚harte‘ Wirksamkeit erlangen können.7 Nach anfänglichem Zögern vieler Unternehmen8 konnte die UN-Global CompactInitiative nicht nur nachhaltigen Einfluss als eigenständiges emergierendes Regime der Erwerbsregulierung gewinnen (http://www.unglobalcompact.org/index.html). Sie förderte auch die Politik vieler internationaler Konzerne, neben der Absichtserklärung gegenüber der UN zum Global Compact spezifische freiwillige Erklärung zu den allgemeinen Unternehmenszielen und Verhaltensrichtlinien zu veröffentlichen. Diese durch Global Compact mitinitiierten Entwicklungstendenzen wurden verstärkt durch 7Merry

(2003, S. 974) versteht Kultur „as contested, historically produced, and continually defined and redefined in a variety of settings“ und verweist in Bezug auf die CEDAW-­ Konvention auf die „generation of documents by large body of sovereign states through a consensual process that confers international legitimacy to the documents.“ 8So stand z. B. über längere Zeit nur die Internationale Handelskammer ICC als der einzige Ansprechpartner aus der Wirtschaft zur Verfügung (vgl. zu den entsprechenden internationalen Arbeitgeberverbänden Abschn. 5.3.5).

9.1  Gewerkschaftsaktivitäten und freiwillige Unternehmenserklärungen

271

die seit den 1990er Jahren einsetzende Bewegung vieler großer Unternehmen, den Zielekatalog der eigenen Unternehmung von der Fixierung auf Gewinnmaximierung für die shareholder um Aspekte der Unternehmensverantwortung gegenüber anderen Anspruchsgruppen (stakeholders) zu erweitern. Die Entwicklung hin zu einer expliziten Corporate (Social) Responsibility (CR oder CSR) förderte die Tendenzen, auch erwerbsrelevante Aspekte in die öffentliche Darstellung der Unternehmensverantwortung zu integrieren (Tab. 9.1). Tab. 9.1   Die zehn Prinzipien des Global Compact. (Quelle: UN 2005, S. 6; vgl. auch https://www.globalcompact.de/publikationen/die-zehn-prinzipien-desglobal-compact) Die zehn Prinzipien Die Prinzipien des Global Compact beruhen auf einem weltweiten Konsens, der sich ­herleitet aus • der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte • der Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit • der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung und • dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption Der Global Compact verlangt von den Unternehmen, innerhalb ihres Einflussbereichs einen Katalog von Grundwerten auf dem Gebiet der Menschenrechte, der Arbeitsnormen, des Umweltschutzes und der Korruptionsbekämpfung anzuerkennen, zu unterstützen und in die Praxis umzusetzen: Menschenrechte Prinzip 1 | Unternehmen sollen den Schutz der internationalen Menschenrechte innerhalb ihres Einflussbereichs unterstützen und achten und Prinzip 2 | sicherstellen, dass sie sich nicht an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig machen Arbeitsnormen Prinzip 3 | Unternehmen sollen die Vereinigungsfreiheit und die wirksame Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen wahren sowie ferner für Prinzip 4 | die Beseitigung aller Formen der Zwangsarbeit, Prinzip 5 | die Abschaffung der Kinderarbeit und Prinzip 6 | die Beseitigung von Diskriminierung bei Anstellung und Beschäftigung ­eintreten Umweltschutz Prinzip 7 | Unternehmen sollen im Umgang mit Umweltproblemen einen vorsorgenden Ansatz unterstützen, Prinzip 8 | Initiativen ergreifen, um ein größeres Verantwortungsbewusstsein für die Umwelt zu erzeugen, und Prinzip 9 | die Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicher Technologien fördern Korruptionsbekämpfung Prinzip 10 | Unternehmen sollen gegen alle Arten der Korruption eintreten, einschließlich Erpressung und Bestechung

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9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Von Anfang an war die Global Compact-Initiative nicht unumstritten. Zunächst wurde von fast allen Seiten begrüßt, dass die ehemalige Konfrontationshaltung zwischen Wirtschaft und internationalen Organisationen damit aufgegeben wurde. „Die Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen und der privaten Wirtschaft haben in den vergangenen Jahren einen radikalen Wandel erlebt. Stand bis in die frühen 90er  Jahre die konfrontative Auseinandersetzung mit Transnationalen Unternehmen (TNUs) im Vordergrund, so dominierte in den letzten fünf Jahren zunehmend der Versuch, TNUs und ihre Interessenvertreter aktiv in die Arbeit der Vereinten Nationen zu integrieren“ (Martens 2003, S. 91).

Gleichwohl bestand und besteht die generelle Kritik gegenüber dem Global Compact und auch gegenüber allen Formen freiwilliger Unternehmenserklärungen, dass meistens keinerlei Berichts- oder Controllingsysteme etabliert werden, mit deren Hilfe die Einhaltung der Erklärungen auch substanziell und systematisch überprüft werden kann (vgl. Schorlemer 2003; Hamm 2002; Pries 2008a, S. 318 ff.). Unternehmen wurden eingeladen, freiwillige Erklärungen abzugeben, ohne dass sie über deren Beachtung Rechenschaft ablegen mussten. Ein Gewerkschaftsverantwortlicher der IG Metall fragt kritisch: „Bei alldem wirft sich natürlich die Frage auf, warum der Global Compact Unternehmen, die bestehende internationale Normen und Vereinbarungen auf dem Gebiet von Wirtschaft, s­ozialen Rechten und Umwelt bisher missachtet haben, dazu bewegen sollte, sich jetzt anders zu verhalten? Grund zur Skepsis ist auch angesichts der Tatsache geboten, dass bis zum Jahr 2002 die Anwerbung von 100 multinationalen Großunternehmen und 1000 weiteren Unternehmen aus allen Regionen der Erde intendiert ist. Wie aber verhalten sich dann die anderen 49 900 multinationalen Unternehmen?“ (Priegnitz 2003, S. 67). Die Global Compact-Initiative und der Mechanismus einseitiger Unternehmenserklärungen sind gute Beispiele für die Bedeutung eines der Hauptgedanken, die dieses Buch durchziehen: Die tatsächlichen Wirkungen, die einzelne Formen und Typen der internationalen Erwerbsregulierung entfalten und entfalten können, lassen sich angemessen nur abschätzen, wenn diese einzelnen Mechanismen in ihren spezifischen Verknüpfungen mit anderen Ebenen und Logiken internationaler Erwerbsregulierung analysiert werden. Je nach den konkreten Umständen und Kontexten können die Stärken eines Regulierungstyps die Schwächen eines anderen ausgleichen oder können die Schwächen verschiedener Regulierungstypen sich wechselseitig soweit aufschaukeln, dass jede beeinflussende Wirkung ausbleibt oder gar ‚nicht-intendierte Folgen absichtsvollen Handelns‘ (Merton 1936) im

9.1  Gewerkschaftsaktivitäten und freiwillige Unternehmenserklärungen

273

Vordergrund stehen. Grundsätzlich können freiwillige Unternehmenserklärungen für die Akteure in den Unternehmen selbst eine explizite Reflexion über die und Systematisierung der bestehenden eigenen Verhaltensrichtlinien bewirken. In aller Regel erhöhen sie den Legitimationsdruck, dem sich ein internationaler Konzern mit der Verabschiedung solcher Codes of Conduct aussetzt und ausgesetzt sieht. Solche von Managementseite geförderten Verhaltensrichtlinien finden sich z. B. in den Unternehmen GAP, ITT, The Body Shop, Levis oder Nike. Solche Codes of Conduct wurden teilweise auch für ganze Branchen wie die Bekleidungsindustrie abgeschlossen oder von großen Gewerkschaftsföderationen z. B. durch die Ausarbeitung von allgemeinen Mustervereinbarungen vorangetrieben.9 Der Regulierungsmechanismus freiwilliger Unternehmenserklärungen hat inzwischen auch nachhaltig Eingang in die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit gefunden. So organisierte z. B. das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Oktober 2008 eine internationale Tagung zum Thema „Shaping Globalisation – Scaling up Voluntary Standards“, um die Möglichkeiten und Grenzen freiwilliger Standards zu erörtern.10 Bei aller Kritik an freiwilligen Unternehmenserklärungen ist doch festzuhalten: Unternehmen erhöhen durch solche Codes of Conduct oder öffentlich kommunizierten Politiken einer korporativen Unternehmensverantwortung die Legitimationserfordernisse ihres Verhaltens gegenüber der interessierten Öffentlichkeit. Unternehmen, die sich den diesbezüglichen Erwartungen ihrer Umwelt dauerhaft entziehen oder offensichtlich gegen die selbst gesetzten Prinzipien verstoßen, können in schwere Krisen geraten. Die Macht der Kunden und die Sensibilität der öffentlichen Meinung für gesamtgesellschaftlich (un)verantwortliches Handeln haben Unternehmen wie Shell (Ölplattform Brent Spar), Benetton (provokative Werbefotos), Chiquita (Ausbeutung von Bananenarbeitern) und Nike (Kinderarbeit

9Vgl.

als einführenden Überblick http://www.itcilo.it/english/actrav/telearn/global/ilo/guide/ main.htm; zu verschiedenen unternehmen-, gewerkschafts- und branchenbezogenen Codes of Conduct vgl. 10Vgl. die ausführliche Konferenzdokumentation unter http://www.gtz.de/en/themen/uebergreifende-themen/sozial-oekostandards/18309.htm. Fichter und Sydow (2002) haben die Möglichkeiten der Implementierung globaler Verhaltensrichtlinien und Arbeitsstandards in internationalen Wertschöpfungsnetzwerken der Bekleidungsindustrie untersucht und einige fördernde Bedingungen identifiziert (ebd., S. 376). Wald (2009) untersuchte den Zusammenhang zwischen Corporate Governance und Unternehmenserfolg (und konnte keinen signifikanten Zusammenhang zwischen beiden Größen feststellen).

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9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

in der Schuh- und Sweatshirt-Produktion) sehr direkt erfahren (vgl. z. B. Scherrer und Greven 2001; Haufler 2001, S. 174 ff.). Viele dieser Unternehmen haben aus den gegen sie geführten Boykott- oder public-blaming-Kampagnen gelernt und rangieren heute nicht zufällig in den oberen Segmenten internationaler Ratings für Corporate Social Responsibility und Social Accountability.11 Ein interessanter Fall der jüngeren Zeit in Deutschland ist die Schließung eines Produktionswerkes von NOKIA in Bochum. Durch die Annahme von Subventionen ging NOKIA Legitimationsverpflichtungen ein, die weit über die Anspruchsgruppe der Shareholder und die Aspekte der reinen kurzfristigen Profitabilität hinausgehen. Das Gleiche gilt für die Legitimation gegenüber den Beschäftigten, deren Rahmen das Unternehmen z. B. durch die eigene freiwillige Erklärung zur Unternehmensverantwortung vorgegeben hatte: „Unternehmerische Verantwortung heißt für Nokia, die Einflüsse ihrer Arbeit auf Gesellschaft und Umwelt zu erkennen und entsprechend zu agieren. […] wir möchten zum Wohl der Gesellschaft, in der wir tätig sind, beitragen. Jeder Nokia Mitarbeiter entscheidet mit über Leistung und Reputation von Nokia in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Mitarbeiterbeziehungen, Corporate Community Involvement und Menschenrechte. Aus diesem Grund ist jeder Mitarbeiter für den Erfolg von Nokia wichtig, denn er hat Anteil an der Verantwortung für das soziale Engagement“ (zitiert nach Lehtonen 2012, S. 273). Obwohl Nokia geltende nationale sowie europäische rechtliche Bestimmungen (z. B. zur Information und Anhörung von Betriebsräten und Euro-­Betriebsräten) nicht berücksichtigte, erwuchs daraus kein direkter großer wirtschaftlicher Schaden (nicht zuletzt, weil die diesbezüglichen Sanktionsbestimmungen relativ weich sind). Gleichwohl erlitt das Unternehmen einen beachtlichen Imageschaden, für dessen Ausmaß es auch wissenschaftliche Anhaltspunkte gibt.12 Das Image eines Unternehmens oder einer Marke ist zwar nur sehr schwer eindeutig messbar, gleichwohl ist es häufig das Kostbarste und Sensibelste Gut einer Organisation. Dies gilt gerade in solchen Marktsegmenten wie etwa Handys oder hochwertige Kleidung, in denen die ‚Semiotisierung der Waren‘ voranschreitet, wo also der

11Vgl. www.sustainability-indexes.com; http://www.accountability.org/about-us/index.html; www.storebrand.com; www.manager-magazin.de; siehe ausführlicher Abschn. 6.5; zur Problematik solcher Rankings vgl. Schäfer et al. (2006); eine kritische Diskussion des CSR-­ Ansatzes z. B. in Doane (2005). 12Vgl. z. B. http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,530373,00.html.

9.2  Bilaterale Regulierungsmechanismen in internationalen Konzernen

275

Symbolwert einer Ware gegenüber deren Gebrauchswert an Bedeutung gewinnt. Berücksichtigt man diese Aspekte, so liegt die Vermutung nahe, dass sich der Nokia-Vorstand weder gesellschaftlich verantwortlich noch sensibel oder intelligent verhalten hat.13 Freiwillige Unternehmenserklärungen entfalten selbst dann noch legitimationserheischende Wirkungen, wenn das Unternehmen gegen sie verstößt. Vor allem im Zusammenhang der weiteren unternehmensbezogenen Formen der Erwerbsregulierung sollte ihre Wirkung nicht unterschätzt werden.

9.2 Bilaterale Regulierungsmechanismen in internationalen Konzernen Während die vorher beschriebenen Formen der Erwerbsregulierung bzw. der Beeinflussung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen in internationalen Konzernen jeweils nur von einer Seite – entweder der Unternehmensleitung oder der Arbeitnehmervertretung – bestimmt sind, existieren inzwischen auch bilaterale Regulierungsstrukturen und -verfahren, die für beide Seiten im Hinblick auf definierte Fragen verbindliche Formen der Kooperation beinhalten. Solche Gremien werden teilweise Weltarbeitnehmerforum, Weltarbeitnehmerkomitee oder Weltkonzernbetriebsräte genannt. Der letzte Ausdruck erinnert allerdings zu stark an das deutsche System der Mitbestimmung. Mit diesem haben die allermeisten Formen einer vereinbarten weltweiten Erwerbsregulierung auf Konzernebene allerdings wenig gemein. Nur bei einigen Konzernen mit Stammsitz in Deutschland, wie z. B. Volkswagen, ist das Weltarbeitnehmergremium bzw. Weltgremium der Erwerbsregulierung mit ähnlichen Möglichkeiten ausgestattet wie die Betriebsräte in Deutschland. ­Müller et al. (2004, S. 248) bezeichnen solche Organe allgemein als „ein auf Basis einer bilateralen Vereinbarung zustande gekommenes globales Informations- und Dialoggremium von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern auf der einen, Vertretern des Konzernmanagements auf der anderen Seite.“ Damit ist eine recht weite Definition solcher Gremien gegeben,

13Nicht

zuletzt wurde durch den Konflikt um die Werksschließung in Bochum die öffentliche Aufmerksamkeit umso stärker auf das Verhalten von Nokia an dem neuen (alternativen) Werksstandort in Rumänien gerichtet. Schon bei den ersten Entlassungen bzw. Nichteinstellungen aufgrund der Folgen der internationalen Finanzkrise im Jahre 2008 war der ansonsten recht bedeutungslose Nokia-Standort Gegenstand der internationalen Berichterstattung.

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9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

denn die konkreten Formen, Strukturen und auch Bezeichnungen variieren je nach Konzern sehr stark.14 Vielleicht ließen sie sich am besten als ‚Plattformen der Erwerbsregulierung auf Weltkonzernebene‘ (PEWs) beschreiben. Der Begriff Weltkonzernbetriebsrat (oder englisch World Works Council) verweist viel zu eng auf die deutsche Tradition der Erwerbsregulierung – ein Blick in die Entstehungsgeschichte der PEWs zeigt, dass US-amerikanische Konzerne und Arbeitnehmervertretungen aber viel früher als z. B. deutsche solche PEWs aufbauten. Bereits im November 1964 wurde auf der 5. Automobilkonferenz des Internationalen Metallarbeiterbundes (IMB, heute Internationaler Metallgewerkschaftsbund genannt) beschlossen, für die Konzerne General Motors und Ford sogenannte Weltkonzernräte (World Company Councils, WCC) einzurichten. Dieser Beschluss spiegelte recht gut die damalige Weltsituation wider. US-amerikanische Konzerne expandierten stark nach Westeuropa, Lateinamerika und Asien. Für die Arbeitnehmer und Gewerkschaften in den USA wurde dieser Internationalisierungsprozess häufig als Beschäftigungsabbau und als (Re-)Import von Waren, die preiswert in anderen Ländern hergestellt worden waren, wahrgenommen. Das Engagement der US-amerikanischen Gewerkschaften in den (damaligen) Internationalen Berufssekretariaten wie dem IMB zielte auf den Schutz der eigenen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durch die längerfristige Angleichung der Erwerbsbedingungen in den Tochterunternehmen. Diese – noch in den 1960er Jahren durchaus übliche, modernisierungstheoretisch inspirierte – Erwartung einer schnellen nachholenden Entwicklung der sich spät industrialisierenden Länder des Südens hat sich nicht erfüllt. Da die Internationalisierung großer Konzerne keineswegs auf die USA beschränkt war und blieb, entwickelten sich Bestrebungen einer konzernbezogenen Internationalisierung der Interessenvertretungsarbeit auch in Europa und Japan. Vor allem in den 1970er Jahren entstanden dann weitere WCCs in der Metallindustrie, aber auch in anderen Bereichen wie z. B. der Chemie- und der Lebensmittelindustrie (Nestle, Oetker, Unilever etc.). Die Ende des 20. Jahrhunderts bestehenden WCCs

14Dies

liegt nicht nur an der fehlenden rechtlichen Rahmenregelung für diese Art von Weltkonzerngremien – selbst für die ja auf Basis klarer rechtlicher Bestimmungen operierenden Euro-Betriebsräte haben sich je nach Konzern sehr unterschiedliche Namen eingebürgert, vgl. für die Automobilindustrie Hertwig et al. (2009).

9.2  Bilaterale Regulierungsmechanismen in internationalen Konzernen

277

sowie deren Entstehungs- und Sitzungsdaten sind in Abb. 9.1 zusammengefasst (­Steiert 2009, S. 20 f.; vgl. auch für die Zeit bis 1999: Rüb 2002). Es zeigt sich deutlich die sehr unterschiedliche Aktivitätsdynamik.15 Robert Steiert, der viele Jahre der für die Koordination der Arbeit der WCCs beim IMB verantwortliche Sekretär war, diskutiert die Vertretungswirksamkeit von Weltbetriebsräten (WWC) und von ­Weltkonzernkomitees (WCC). Während für die Organisierung der Arbeit (und auch eines Großteils der Ressourcen) bei den WCCs die jeweilige GUF zuständig ist, organisieren sich WWCs im Wesentlichen durch die Arbeit (und die Ressourcenmobilisierung) der in dem jeweiligen Konzern gewählten lokalen, nationalen oder auch supranationalen (z. B. EBR-bezogen) Interessenvertretungen, welcher Art diese auch immer sein mögen (z. B. reine Gewerkschaftskomitees, reine Betriebsratsgremien, gemischte Komitees etc.). Aufgrund einer Untersuchung der vier WWCs von Daimler, Rolls Royce, SKF und Volkswagen kommt Steiert (ebd., S. 19) zu dem Schluss: Steiert (ebd.) unterstreicht auch die enge Verbindung zwischen WCCs, den daraus möglicherweise erwachsenden WWCs sowie den EBR als möglichen ‚Startrampen‘ für die Entwicklung oder Stärkung von WCCs und WWCs, aber auch für die Initiierung von Internationalen Rahmenabkommen (vgl. dazu nächsten Abschn. 9.3): „The concept of the World Works Councils shows definite advantages over the World Company Councils, especially as regards the volume and availability of human and financial resources from the Global Union Federations and many of their member organizations, especially when the accompanying networks through which the unions represented in the company can be involved in the exchange of information, and can be made to function without having to organize regular meetings which may involve substantial cost and a substantial input of time and effort.“ „World Company Councils will remain useful, at least for some time to come. At least for some companies they can serve as a „first step“ with which a negotiating process can be started with the company aimed at concluding an agreement on a World Works Council. Consideration should be given to how existing European Works Councils can be involved as an institution through which in many instances negotiations on a World Works Council or the conclusion of an International Framework Agreement (IFA) can be advanced.“

15Für aktuellere Entwicklungen vgl. http://www.industriall-union.org/search?q=world+works+council&page=1&lang=en.

Abb. 9.1   WWCs und WCCs im Organisationsbereich des IMF 1980–1992. (Quelle: Steiert 2009, S. 20 f.)

278 9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

9.2  Bilaterale Regulierungsmechanismen in internationalen Konzernen

279

Mit der Einrichtung dieser ‚Plattformen der Erwerbsregulierung auf Weltkonzernebene‘ (PEWs) verfolgten die Gewerkschaften das Ziel, der zunehmenden Macht der internationalen Konzerne durch regelmäßigen Informationsaustausch, durch Lobbyarbeit und durch konzernbezogene Protest- und Solidaritätsaktionen etwas entgegenzusetzen.16 Insgesamt erfüllten sich die mit den WCCs verbundenen Hoffnungen nicht. Nur in wenigen Konzernen kam es zu einer regelmäßigen und stabilen konzernweiten Zusammenarbeit. Dies hing und hängt wesentlich mit der extremen Heterogenität der institutionellen Voraussetzungen und Traditionen der Erwerbsregulierung in den einzelnen Ländern zusammen (vgl. Kap. 2 bis 5). Häufig wurden auch die erwerbsbezogenen Interessen einzelner Standorte oder Länder durch die Arbeitnehmervertretungen als durchaus gegensätzlich wahrgenommen, sodass an die Stelle einer intensiven grenzüberschreitenden Kooperation und Solidarität aufseiten der Arbeitnehmer eher standortbezogene Interessenkoalitionen mit dem Management traten. Dazu kamen sprachlich-kulturelle Kommunikationsprobleme. In fast keinem internationalen Konzern sprechen die Arbeitnehmervertretungen eine gemeinsame Sprache, internationale Treffen sind also immer auf aufwendige Übersetzungen angewiesen. Auf der Leitungsebene verfügen dagegen in der Regel viele Manager über hinreichende Sprachkenntnisse für eine direkte Kommunikation. Insgesamt trugen die WCCs seit den 1970er Jahren vorübergehend zu einem Bedeutungszuwachs der Internationalen Berufssekretariate bei. Diese gerieten aber in den 1980er Jahren angesichts enttäuschter Entwicklungserwartungen für die Länder des Südens sowie tief greifender Probleme (wirtschaftliche Krisen, Arbeitslosigkeit, technische Rationalisierungen etc.) in den Ländern des Nordens immer stärker in eine politische und auch finanziell-organisatorische Krise. Den Internationalen Berufssekretariaten und auch den Arbeitnehmervertretungen in den Konzernen waren die externen und internen Hindernisse bewusst geworden: Die Konzernleitungen waren in der Regel nicht an einer starken Arbeitnehmervertretung auf Weltkonzernebene interessiert. Die nationalen Erwerbsregulierungssysteme waren und blieben

16Der

vielleicht etwas sperrige Begriff ‚Plattformen der Erwerbsregulierung auf Weltkonzernebene‘ (PEW) wird hier verwendet, weil – ähnlich wie bei den euro-Betriebsräten – teilweise gemischte Gremien aus Management und Arbeitnehmervertretern und teilweise reine Arbeitnehmergremien bestehen, der Begriff Weltarbeitnehmervertretung also nicht angemessen wäre. Im Unterschied zu den Euro-Betriebsräten handelt es sich bei den PEWs aber um ‚Plattformen‘ ohne formale und auf globaler Ebene einklagbare Rechtsgrundlage. Einige der PEWs ähneln eher unverbindlichen regelmäßigen Kommunikationsveranstaltungen, andere PEWs sind dagegen festere Organe bzw. Gremien. Diese Breite und fehlende Rechtsrahmung soll durch den Begriff PEW angedeutet werden.

280

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

für eine Angleichung oder gar Homogenisierung der Erwerbsbedingungen auf Weltkonzernebene viel zu heterogen. Die nationalen Gewerkschaften fürchteten um ihre Macht und Kontrolle. Das Ziel einer konzernweiten Homogenisierung der Arbeitsbedingungen z. B. durch eine internationale Koordinierung der nationalen Tarifverhandlungen erwies sich als völlig unrealistisch. Insgesamt blieb die „Praxis der Weltkonzernräte […] jedoch größtenteils hinter den ehrgeizigsten Zielvorstellungen der Internationalen Berufssekretariate zurück“ (Müller et al. 2004, S. 84). Erst seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts haben sich die Internationalen Berufssekretariate reorganisiert und als Global Union Federations (GUF) auf die neuen Herausforderungen der Globalisierung eingestellt. Dabei steht die branchen- und die konzernbezogene grenzüberschreitende Arbeit im Mittelpunkt. Von den ehrgeizigen Zielen der früheren Word Company Councils sind die GUFs und die Arbeitnehmervertretungen in den internationalen Konzernen heute eher auf flexible Konzepte für jeweils spezifische PEWs umgeschwenkt. Entsprechend variieren diese Plattformen der Erwerbsregulierung auf Weltkonzernebene als bilaterale Verhandlungsmechanismen sehr stark im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit und Bedeutung für die Erwerbsregulierung in dem betreffenden Konzern. Eine Form solcher Weltkonzernplattformen besteht im Wesentlichen aus jeweils recht unverbindlichen Verabredungen von internationaler Konzernleitung und Arbeitnehmervertretern über die regelmäßige Information (vgl. Müller et al. 2004, S. 168 f. und 257). Eine zweite Form ist etwa die direkte Beteiligung von ausländischen Arbeitnehmervertretern in den jeweiligen nationalen Aufsichtsoder Verwaltungsräten in den Stammsitzländern. So verzichtete z. B. die IG Metall nach der Fusion von Daimler mit Chrysler im Jahre 1998 auf einen ihrer Aufsichtsratssitze im Konzern und überlies diesen Stephan P. Yokich, dem Vorsitzenden der US-amerikanischen UAW-Gewerkschaft. Eine dritte und wesentlich verbindlicher arbeitende Plattform der Erwerbsregulierung auf Weltkonzernebene sind die sogenannten Weltkonzernbetriebsräte, die als arbeitnehmerseitige Interessenvertretung auf internationaler Konzernebene anerkannt sind und Informations-, Konsultations- und manchmal auch sogar Mitbestimmungs- bzw. Vertragsverhandlungsfunktionen übernehmen. Die sehr unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken und Formen solcher PEWs haben Müller et al. (2004) ausführlich untersucht. Dabei haben sie vor allem Konzerne mit Stammsitz in Deutschland analysiert.17 Die PEWs von Volkswagen und DaimlerChrysler (bis 2007) sind besonders illustrativ (vgl. Tab. 9.2).18 Im

17Analysiert wurden: die Deutsche Bank, Bayer, Kraft Foods, BA F, Nestlé, DaimlerS Chrysler und Volkswagen. 18Für einen Vergleich deutscher, U -amerikanischer und französischer Euro-Betriebsräte S und der jeweiligen Bedeutung der Stammsitzländer vgl. Hertwig et al. (2009).

9.2  Bilaterale Regulierungsmechanismen in internationalen Konzernen

281

Tab. 9.2   Vergleich der Weltarbeitnehmervertretungen bei VW und DaimlerChrysler. (Quelle: Müller et al. 2004, S. 257 f.) WKBR Volkswagen

WEC Daimler AG

Ressourcenlage (Geld, Zeit, Infrastruktur)

Vertraglich zugesicherte Übernahme sämtlicher im Rahmen der WKBR-­Arbeit entstehenden Kosten durch Volkswagen; zudem Rückgriffmöglichkeit auf ­Ressourcen der deutschen Betriebsratsspitze

Vertraglich zugesicherte Übernahme sämtlicher im Rahmen der WEC-Arbeit entstehenden Kosten durch Daimler; zudem Rückgriffmöglichkeit auf Ressourcen der deutschen Betriebsratsspitze

Institutionelle Absicherung

Vertraglich festgelegte Sitzungsfrequenz (mind. Einmal jährlich) und Beteiligungsmöglichkeiten gegenüber dem Konzernmanagement

Vertraglich festgelegte Sitzungsfrequenz (einmal jährlich); Beteiligungsmöglichkeiten gegenüber dem Konzernmanagement; Schutz der WEC-­Delegierten vor Benachteiligung aufgrund der Ausübung ihres Mandats

Rahmenbedingungen

Beteiligungsmöglichkeiten Vertraglich gesicherter Zugang des WEC als Gesamtgremium sowie über den privilegierten Zugang der am WEC beteiligten deutschen Betriebsratsspitze

Zugang zur Konzernspitze

Vertraglich gesicherter Zugang des WKBR als Gesamtgremium; häufigere Kontaktmöglichkeiten über WKBR-Präsidium sowie über den privilegierten Zugang der am WKBR beteiligten deutschen Betriebsratsspitze

Grad an Beteiligung

Vertraglich zugesichertes Vertraglich zugesichertes Recht aus (rechtzeitige) Information und Recht auf Information und Meinungsaustausch Konsultation (Stellungnahme)

Druckmittel gegenüber Konzernspitze

Rechte aus Vereinbarung; Druck- Rechte aus Vereinbarung; mittel der deutschen Betriebsrats- Druckmittel der deutschen Betriebsratsspitze spitze

Netzwerkeigenschaften Handlungsformen

Abstimmung gemeinsamer Positionen zur Vermeidung von Konfliktsituationen, gegenseitige Unterstützung bei Konflikten mit dem Management, Durchführung gemeinsamer Seminare und Solidaritätsaktionen

Informations- und Erfahrungsaustausch sowie gegenseitige Unterstützung bei Konflikten mit dem Management

(Fortsetzung)

282

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Tab. 9.2   (Fortsetzung) WKBR Volkswagen

WEC Daimler AG

Derzeit noch gering Interne Strukturen, Ver- Gut entwickelte informelle entwickelte informelle fahren und Beziehungen Beziehungen, gegenseitiger Beziehungen Austausch von Arbeitnehmervertretern aus unterschiedlichen Regionen, häufige Besuche deutscher Betriebsratsspitzenvertreter in ausländischen Standorten Netzwerkbeteiligte (Soziale Schließung)

Delegierte für alle Länder (wenngleich nicht für jeden Standort) im WKBR; Delegierte für jede Marke und Region im WKBR-Präsidium; vertraglich zugesichertes Teilnahmerecht eines Beraters, das für IMB reserviert ist

Delegierte aus ausgewählten Ländern (hoch angesetzte Beschäftigtenzahl, Existenz verlässlicher Arbeitnehmervertretungsstrukturen), dadurch Länder wie Mexiko, die Türkei, Argentinien oder Indonesien nicht im WEC vertreten

Binnenbeziehung

Zentrale Rolle der deutschen Betriebsratsspitze

Zentrale Rolle der deutschen Betriebsratsspitze

Basisanbindung

Punktuelle Zusammenarbeit Enge Zusammenarbeit mit dem mit dem Internationalen Arbeitskreis Internationale Solidarität am Standort Wolfsburg Daimler Netzwerk

Gewerkschaftsanbindung

Enge Kontakte der deutschen Betriebsratsspitze zu IG Metall und insbesondere IMB. Existenz eines vom IMB-Betreuer organisierten globalen gewerkschaftlichen Betreuungsnetzwerks

Enge Kontakte der deutschen Betriebsratsspitze zur IG Metall, geringe Involvierung des IMB

­ aimler-Konzern dominierte z. B. der deutsche Konzern-Betriebsrat auf der Seite D der Arbeitnehmer den Aufbau und die Entwicklung globaler Erwerbsregulierungsstrukturen. Die Führung des deutschen Konzern-Betriebsrats hatte das Monopol der Verhandlungsführung mit der Konzernleitung auch für die Weltebene. Beide Gremien haben ihren Arbeitssitz in Stuttgart. Als innovativ muss dann die Einbeziehung eines Vertreters der US-amerikanischen Auto-Gewerkschaft UAW in die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat des Konzerns nach dessen Fusion mit Chrysler angesehen werden. Allerdings nahm der UAW-Vorsitzende Yokich die damit verbundenen Möglichkeiten der Netzwerkbildung und Einflussnahme nach dem Eindruck deutscher Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertreter nur begrenzt

9.2  Bilaterale Regulierungsmechanismen in internationalen Konzernen

283

wahr. Nach dem Ausscheiden von Yokich aus dem Aufsichtsrat wurden stellvertretende UAW-Vorsitzende entsandt. Die Wertschätzung des Aufsichtsratsmandats durch die UAW änderte sich später offensichtlich: „US-amerikanische Automobilarbeiter-Gewerkschaft UAW schickt ihren Präsidenten Ron Gettelfinger in den Aufsichtsrat von DaimlerChrysler. Das kommt unerwartet, wurde das Amt bislang doch von einem rangniedrigeren Gewerkschafter besetzt. ‚Die UAW schätzt den Posten offensichtlich so hoch ein, dass der Präsident selbst Aufsichtsrat werden will‘, sagte eine Sprecherin des Gesamtbetriebsrats des Stuttgarter Autokonzerns am Montag und bestätigte damit einen Bericht der ‚Stuttgarter Zeitung‘, die die Personalie am Samstag verkündet hatte“ (Handelsblatt vom 03.07.2006).

Nach dem Scheitern der Kooperation DaimlerChrysler endete vorerst auch das Experiment der Aufsichtsratsbeteiligung aus einem anderen Land im Daimler-­ Konzern.19 Nicht zuletzt die enttäuschten Erwartungen im Hinblick auf diese Form der Kooperation führten dann zu einer Strategie auf Arbeitnehmerseite, selektiv vor allem die Arbeitnehmervertretungen aus vertretungsstarken Konzernteilen einzubinden. Entsprechend sind nicht alle Standorte weltweit in die Entscheidungsfindungen einbezogen, was gerade zulasten der vertretungsschwachen Standorte und Länder geht, die von einer Einbindung in die internationalen Strukturen sehr viel profitieren könnten. Bei Volkswagen wurde die Internationalisierung der Arbeitnehmervertretungsarbeit schon sehr frühzeitig vom Stammsitz Wolfsburg aus in der Regie des Konzern-Gesamtbetriebsrats vorangetrieben. Nach der Gründung der gewerkschaftlichen ‚Intersoli-Gruppen‘ 1982 und der Etablierung des Euro-Betriebsrats von 1990 bis 1992 wurde im Mai 1998 auf einer ‚Weltarbeitnehmerkonferenz‘ für den VW-Konzern der erste Weltkonzernbetriebsrat in der Automobilindustrie gegründet. Ein Jahr später wurde in Barcelona die Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der Volkswagen-Konzernleitung und dem Volkswagen-Weltkonzernbetriebsrat unterzeichnet. Als wichtigstes Ziel wurde angegeben, die Risiken und Chancen für die Arbeitnehmer im Konzern gleichmäßig zu verteilen. Die Liste der durch den Weltkonzernbetriebsrat zu erörternden Themen ist mit der Aufzählung aus der entsprechenden Vereinbarung zum Euro-Betriebsrat fast identisch, sie wurde um das

19Die

Grundidee einer freiwilligen Überlassung von Arbeitnehmeraufsichtsratssitzen für ausländische Arbeitnehmervertreter wird weiter verfolgt; so wurde Cal Rapson, Vizepräsident der amerikanischen Automobilarbeitergewerkschaft (UAW), im Mai 2008 auf einen Platz der IG Metall in den Aufsichtsrat von Opel und Powertrain gewählt, vgl. http:// media.gm.com/de/opel/de/company/c_people/c_ppl_supervise/index.html.

284

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Thema der Globalisierung erweitert. Der Volkswagen-Weltkonzernbetriebsrat besteht aus 27 Mitgliedern, wobei aus den nicht europäischen Ländern Mexiko, Argentinien und Südafrika je ein Mitglied und Brasilien vier Mitglieder entsenden.20 Der Weltkonzernbetriebsrat versammelt sich mindestens einmal jährlich. Die Treffen des Euro-Betriebsrats und des Welt-Betriebsrats finden häufig direkt aufeinanderfolgend statt, wodurch Zeit und Kosten der grenzüberschreitenden Kooperation reduziert werden. Eine solche Arbeitsform ist möglich, weil in dem Euro- und in dem Weltkonzernbetriebsrat jeweils in vielen Fällen die gleichen Personen vertreten sind. So ist bei Volkswagen z. B. der Betriebsratsvorsitzende des Werkes Wolfsburg auch der Vorsitzende des Volkswagen-Gesamtbetriebsrats und des Konzern-Gesamtbetriebsrats und des Euro-Betriebsrats und des Weltkonzernbetriebsrats. Der starke Einfluss des Stammsitzlandes auf die Ausprägung der Interessenvertretungsstruktur auf der internationalen Ebene schlägt sich bei Volkswagen auch darin nieder, dass für die Weltkonzernbetriebsratsarbeit weitgehend das in Deutschland entwickelte Konzept des solidarischen Interessenausgleichs und der kooperativen Konfliktbewältigung zur Richtschnur gemacht wird.21 Ziel ist die gleichmäßige und solidarische Verteilung von Chancen und Risiken zwischen den verschiedenen Standorten des Konzerns. An konkreten Beispielen zeigt sich, dass eine Übertragung der in Deutschland entwickelten und erfolgreichen Konzeption von Erwerbsregulierung auf andere Länder mit großen Problemen verbunden sein kann. So traten große Spannung bei dem Versuch auf, die in Deutschland entwickelten Konzepte solidarischer Beschäftigungssicherung durch (vorübergehende) Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit aller Beschäftigten eines Standortes auf Volkswagen-Produktionsstandorte in Brasilien zu übertragen (Widuckel 2004, S. 89). Die brasilianischen Gewerkschaften und Beschäftigten standen diesem Konzept zunächst sehr kritisch gegenüber. Ähnlich weigerten sich die Arbeitnehmer und Gewerkschafter des Standortes Puebla in Mexiko, Arbeitszeitkonten einzuführen. Wie verschiedene Untersuchungen zeigen, sind sowohl die Entstehungsbedingungen als auch die konkreten Arbeitsweisen und Wirkungen solcher 20Vertreter

der chinesischen Produktionsstandorte sind im Weltkonzernbetriebsrat bisher nicht vertreten. Dies hängt mit der starken staatlichen Kontrolle auch der Arbeitnehmervertretungen in China zusammen und dem Umstand, dass nur Minderheitsbeteiligungen an gemeinsamen Automobilunternehmen halten durfte. Allerdings sollen mittelfristig auch Arbeitnehmerinteressenvertreter aus der VR China in die internationale Erwerbsregulierung bei Volkswagen integriert werden. 21Vgl. hierzu auch die 2002 verabschiedete VW-Sozialcharta, in Auszügen abgedruckt in der Zeitschrift Mitbestimmung 7 + 8/2008: 39, als download unter http://www.volkswagenag.com/vwag/vwcorp/content/de/sustainability_and_responsibility/Strategie_und_ Management/Konzernstandards.html.

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

285

weltweiten Konzernarbeitnehmervertretungen sehr unterschiedlich. Fast immer aber nehmen sie von einem klaren Entwicklungspol aus ihren Verlauf und sind auf die Verbreitung und Umsetzung bestimmter Mindeststandards in allen peripheren Standorten und Werksteilen ausgerichtet (Müller et al. 2004). Es zeigt sich also eine deutliche Form der Diaspora-Internationalisierung, also einer Zunahme der grenzüberschreitenden Verflechtungen von einem klaren organisierenden Zentrum aus. Die überragende Rolle des Konzernstammsitzes und der dortigen Muster der Erwerbsregulierung für deren Internationalisierung auf der Konzernebene wird besonders am Beispiel der deutschen Automobilkonzerne Daimler und Volkswagen deutlich: Alle wesentlichen Initiativen zur Einrichtung des Weltkonzernbetriebsrates (Volkswagen 1998) bzw. des World Employee Committee (DaimlerChrysler 2002) gingen von den deutschen Konzernbetriebsratsvorsitzenden in den Stammsitzen Wolfsburg und Stuttgart aus. Selbst bei dem als ‚gleichberechtigter Zusammenschluss‘ deklarierten Zusammengehen von Daimler-Benz und Chrysler wurden die Regeln der Arbeitnehmervertretung auf der internationalen Konzernebene weitgehend in Stuttgart definiert. Auch für internationale Unternehmen mit Stammsitz z. B. in Schweden, Frankreich oder Holland lassen sich ähnliche Muster einer Internationalisierung der Erwerbsregulierung von einem klaren Zentrum aus in die peripheren Standorte aufzeigen.22 Ein solches Modell liegt auch den im Folgenden zu behandelnden Internationalen Rahmenabkommen zugrunde.

9.3 Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs) Neben den unilateralen Aktivitäten des Managements und der Arbeitnehmervertretungen in international operierenden Konzernen (Abschn. 9.1) und den bilateralen Strukturen regelmäßiger Gespräche oder verbindlicherer ‚Plattformen der Erwerbsregulierung auf Weltkonzernebene‘ (Abschn. 9.2) hat vor allem seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ein neues Instrument der grenzüberschreitendes Erwerbsregulierung Verbreitung gefunden: Internationale Rahmenabkommen (International Framework Agreements, IFA). Solche IFAs wurden wesentlich von den internationalen Gewerkschaftsverbänden gefördert und vorangetrieben: „Internationale Rahmenvereinbarungen werden zwischen ­multinationalen Unternehmen

22Vgl. für Deutschland z. B. Mertens (1994); Uhl und Lavon (1997); Töpfer (1998); ­Müller et al. (2004); für das Muster diasporischer Internationalisierung durch Euro-Betriebsräte vgl. Gilman und Marginson (2002).

286

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

und den Arbeitnehmervertretungen/Gewerkschaften ausgehandelt und vereinbart. Sie sind ein von den Gewerkschaften entwickeltes Instrument, um grundlegende Arbeitnehmerrechte an allen Standorten des Unternehmens weltweit zu sichern. Die Unternehmen sollen mit dem Abschluss einer internationalen Rahmenvereinbarung ihre soziale Verantwortung für die Arbeitnehmer über die gesamte Produktions- und Wertschöpfungskette anerkennen. Nach Möglichkeit sollen deshalb auch die Standorte der Zulieferunternehmen einbezogen werden“ (Rüb 2004, S. 5; vgl. auch Hessler 2012; Dehnen 2014). In einem noch erweiterten Verständnis heißt es bei Platzer und Rüb (2013, S. 15): „Internationale Rahmenvereinbarungen (International Framework Agreements) sind ein […] Instrument einer transnationalen unternehmensbezogenen Normierung von sozialen und arbeitspolitischen Standards. […] Internationale oder globale Rahmenvereinbarungen sind ein von sektoral agierenden globalen Gewerkschaftsverbänden (GUFs) entwickelter Handlungsansatz, um durch Verhandlungen und Vereinbarungen mit dem zentralen Management transnationaler Konzerne (TNK) eine unternehmensbezogene, grenzübergreifende Komponente der Arbeitsbeziehungen einzuführen“ (Platzer und Rüb 2013, S. 3).23 Internationale Rahmenabkommen können zunächst als eine Art weltweiter Basistarifvertrag zwischen der Leitung eines internationalen Unternehmens und einer internationalen Gewerkschaftsföderation (Global Union Federation, GUF) verstanden werden.24 Es handelt sich bei den IFAs aber aus zumindest

23Müller et al. (2004) gehen sogar soweit, festere ‚IFA-Dialogstrukturen‘ schon als Weltkonzernräte zu verstehen; danach können auch „IFA-Dialogstrukturen, wenn sie über die Funktion der Überwachung der Vereinbarung hinaus gehen“ als Weltkonzernräte verstanden werden (Müller 2004, S. 249). Gegenüber einer solchen vorschnellen Gleichsetzung von IFA Dialogstrukturen und Weltkonzernräten sollten beide Instrumente zunächst getrennt behandelt werden. Denn einerseits bestanden und bestehen viele Weltkonzernräte, die keine IFAs abgeschlossen haben, und andererseits impliziert der Abschluss von IFAs und auch die Verabredung von verbindlichen IFA-Dialogstrukturen nicht unbedingt das Vorhandensein oder die Einrichtung eines Weltkonzernrates, der – wie im vorhergehenden Abschn. 6.4.2 gezeigt – zunächst als unilaterales Arbeitnehmerkoordinationsgremium geschaffen wird. 24So heißt es bei der Global Union Federation: „Global Union Federations (GUFs) seek to build international co-operation, joint action, and global solidarity among trade unions in different countries that share common employers. There is a growing global trade union recognition by multinational enterprises of GUFs at the headquarter levels, and beyond, and of the work that they do, as well as an important increase in social dialogue. In some cases, this interaction has resulted in the negotiation of International Framework Agreements (IFAs), also known as Global Framework Agreements (GFAs)“ (http://www.global-unions.org/+framework-agreements-+.html?lang=en).

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

287

drei Gründen nur ‚um eine Art Tarifvertrag‘. Erstens sind auf der Arbeitnehmerseite sehr häufig sowohl die konzernbezogene Arbeitnehmervertretung (z. B. Weltkonzernbetriebsrat oder allgemein PEW) als auch die für das jeweilige Unternehmen zuständige GUF als Akteure und Unterzeichner in den Abschluss eines IFAs einbezogen. Dagegen werden Tarifverträge grundsätzlich zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, als Firmentarifverträge auch zwischen einer Gewerkschaft und einem einzelnen Unternehmen abgeschlossen – in Deutschland haben aber die Betriebsräte keinerlei Befugnis, am Abschluss von Tarifverträgen mitzuwirken. Die zweite Einschränkung bezieht sich auf die formalrechtliche Basis und die damit gegebenen Möglichkeiten einer juristischen Einklage der Bestimmungen von IFAs. Tarifverträge unterliegen jeweils nationalen Gesetzgebungen, in der EU auch europäischen Rechtsbestimmungen. Für die IFAs sind aber keine völkerrechtlichen oder grenzüberschreitenden Rechtsnormen vorhanden, auf die sich eine der vertragszeichnenden Seiten im Streitfall beziehen könnte. Drittens schließlich sind die Übergänge zwischen 1) einseitigen Unternehmenserklärungen (zu Codes of Conduct oder Corporate Responsibility), an deren Formulierung die entsprechenden Arbeitnehmervertretungen in irgendeiner Form (z. B. Anhörung) beteiligt waren, 2) unternehmensbezogenen Vereinbarungen zwischen Konzernleitung und Arbeitnehmervertretung (die eher der Vertragsform einer Betriebsvereinbarung ähneln und zu deren Unterzeichnung eine GUF hinzugezogen wird) und schließlich 3) Rahmenvereinbarungen zwischen einer GUF und einer Konzernleitung weitgehend fließend. Diese Einschränkungen machen nun aber IFAs offensichtlich keineswegs zu einem weitgehend unwirksamen Instrument der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung. Sonst ließe sich ihre Verbreitung in den letzten fünfzehn Jahren kaum erklären (vgl. Tab. 9.3). Das erste Internationale Rahmenabkommen wurde bereits 1988 in dem französischen Nahrungsmittelkonzern Danone abgeschlossen. Danone war sehr lange Zeit ein Pionierunternehmen im Hinblick auf innovative Arbeits- und Sozialpolitik. So wurde schon 1986 – und damit lange vor der EBR-Richtlinie der EU (vgl. Abschn. 8.2) – in diesem Unternehmen ein europaweites Gremium aus Arbeitnehmervertretern und Management für die Arbeitsbeziehungen gebildet. Der Abschluss eines IFAs war dann ein erstes Ergebnis dieser neuen grenzüberschreitenden Plattform der Erwerbsregulierung.25

25Danone verließ seinen innovativen arbeitspolitischen Kurs sehr stark, als das Unternehmen 2001 in eine wirtschaftliche Krise geriet. Danone kündigte einen Umstrukturierungsplan und mehr als 1800 Entlassungen an, wobei die Beschäftigten und die Arbeitnehmervertretung erst sehr spät über diese Pläne informiert wurden.

20 000

325 000

11 000

Endesa

Eni

Fonterra

7 800

DaimlerChrysler

South Africa

20 000

Sweden Spain

79 000

161 500

Skanska

Telefonica

13 600

USA Greece

26 000

18 500

Chiquita

OTE Telecom

AngloGold

Germany France

37 000

383 000

Hochtief

Carrefour

Ballast Nedam

Germany

6000

27 500

Faber-Castell

Freudenberg

Norway

New Zealand

Italy

Spain

Germany

Netherlands

Germany

Sweden

84 000

16 000

Statoil

France

France

Stammsitz

IKEA

100 000

147 000

Danone

Accor

Beschäftigtea

Unternehmen

Dairy Industry

Energy

Power Industry

Auto Industry

Construction

Mining

Telecommunication

Construction

Telecommunication

Agriculture

Retail Industry

Construction

Chemical Industry

Office Material

Furniture

Oil Industry

Hotels

Food Processing

Branche

IFBWW

IFBWW

IFBWW

IFBWW

IFBWW

ICEM/PSI

ICEM

ICEM

ICEM

ICEM

ICEM

ICEM

ICEM

ICEM

ICEM

BWI/ICEM

BWI

BWI

GUFb

(Fortsetzung)

2002

2002

2002

2002

2002

2002

2001

2001

2001

2001

2001

2000

2000

1999

1998

1998

1995

1988

Jahr

Tab. 9.3   Abgeschlossene IFAs nach Unternehmen (bis Anfang 2008). (Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Angaben der GUFs. Vgl. vor allem http://www.global-unions.org/spip.php?rubrique70 und http://www.industriall-union.org/archive/imf/all-framework-agreements)

288 9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Sweden

Germany Netherlands

167 000

20 000

5000

106 000

Arcelor

BMW

EADS

EDF (Electr.Fr.)

France

France

Luxembourg

Sweden

130 700

13 000

Renault

Germany

Russia

Italy

SCA

46 000

150 000

Lukoil

Prym

225 900

4000

Sweden Germany

25 950

40 000

SKF

Bosch

H&M

Germany Germany

14 000

39 000

Leoni

Rheinmetall

Impregilo

Danmark

280 000

ISS

Germany Germany

70 000

18 000

Volkswagen

Norway

Italy

Stammsitz

GEA

64 900

372 500

Indesit (Merloni)

Norske Skog

Beschäftigtea

Unternehmen

Tab. 9.3   (Fortsetzung)

Energy Sector

Aerospace

Auto Industry

Steel Industry

Paper Industry

Auto Industry

Metal Manufacturing

Energy/Oil

Construction

Retail

Automotive/Electronics

Ball Bearing

Defence/Auto/Electron.

Electrical/Automotive

Cleaning & Maintenance

Engineering

Auto Industry

Paper

Metal Industry

Branche

IMF

IMF

IMF

IMF

IMF

IMF

IMF

IMF

IFBWW

IMF

IMF

IMF

IMF

IMF

IMF

IMF

IFBWW

IFBWW

IFBWW

GUFb

(Fortsetzung)

2005

2004

2004

2004

2004

2004

2004

2004

2004

2004

2003

2003

2003

2003

2003

2003

2002

2002

2002

Jahr

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs) 289

Germany

Netherlands

17 000

3000

Volker Wessels

Staedtler

France

18 000

22 850

Belgium Netherlands

14 000

79 517

Umicore

Volker Wessels

Vallourec

Netherlands Spain

17 000

5300

Brunel

Inditex

Italcementi

Sweden

600

200 000

Royal BAM Group

Securitas

Portugal

Germany

Netherlands

Italy

Netherlands

France

32 000

217 000

Portugal Telecom

France

PSA Peug. Citr.

207 000

27 000

Euradius

France Telecom

Norway

95 000

Veidekke

Germany

3000

77 000

Röchling

Schwan-Stabilo

France France

77 000

8000

Lafarge Group

Rhodia

Stammsitz

Beschäftigtea

Unternehmen

Tab. 9.3   (Fortsetzung)

Writing instruments

Construction etc.

Agriculture, Farming etc.

Metal Industry

Construction

Metal Industry

Wholesaler

Engineering/ICT

Security Industry

Construction

Auto Industry

Telecommunication

Telecommunications

Printing

Construction

Writing material

Auto industry, plastics

Chemical Industry

Building materials

Branche

BWI

BWI

BWI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

IUF

IUF

IUF, IFBWW

IUF, IFBWW

ITGLWF

IMF/ICEM

2006

2006

2006

2006

2006

2006

2006

2006

2005

2005

2005

2005

2005

2005

2005

2005

2005

2005

2005

Jahr

(Fortsetzung)

ICEM, WFBW

GUFb

290 9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Netherlands Germany Norway

28 000

42 000

Royal BAM

RAG-Evonik

Denmark

17 000

34 000

18 000

17 570

Nampak

Nordea

Olympia Flex

Randstad

281 500

39 729

Metro

NAG

700 000

30 000

Kelly Services

Manpower

11 797

2200

Falck

ICOMON

Denmark

147 000

23 620

Barclays Africa

Danske bank

USA

Netherlands

Netherlands

Sweden

Africa

Australia

Germany

USA

USA

Brazil

Africa/London

Germany

34 000

182 860

Brasil

Adecco

2600

Ability

Allianz

23 360

18 000

Aker

Club Med

France

Stammsitz

Unternehmen

Beschäftigtea

Tab. 9.3   (Fortsetzung)

Human Resources Services

Human Resources Services

Financial Services

Packaging

Banking

Retail Industry

Human Resources Services

Human Resources Services

Communication Technologies

Healthcare, Assistance etc.

Banking

Banking

Financial Services

Human Resources Services

Construction

Tourism and Travel

Engineering etc.

Chemicals/Mining

Construction etc.

Branche

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

IUF

IMF

ICEM/IGBCE

BWI

GUFb

(Fortsetzung)

2008

2008

2008

2008

2008

2008

2008

2007

2007

2007

2007

2007

2007

2007

2007

2007

2006

2006

2006

Jahr

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs) 291

Netherlands England France Sweden

8700

5700

18 000

USG People

G4S

Vallourec

Sweden

?

391 000

Banco do Brasil

Sodexo

Japan

5700

80 500

Sweden Germany

60 000

16 000

Electrolux

Mann + Hummel

Mizuno

Frankreich Norway

219 000

13 000

GDF Suez

Norsk Hydro

Petrobras

Indonesia

600

200

Wilkhahn

Antara

Frankreich

Brazil

Brazil

Germany

South Africa

3600

130 000

Elanders

Shoprite checkers

Switzerland

7500

5 000 000

Skandia

UPUc

Japan

Canada

43 000

9844

Quebecor

Stammsitz

Beschäftigtea

Takashimaya

Unternehmen

Tab. 9.3   (Fortsetzung)

Food Processing

Financial

Power Company

Clothing

Automotive Engineering

Home Electronics

Metal Industry

Power Company

News Agency

Office furniture

Retail Industry

Commerce Solutions

Metal Industry

Security Industry

Recruitment

Postal Service

Insurance

Retail Industry

Commercial Printing

Branche

IUF

UNI

ICEM

ITGLWF

IMF

IMF

IMF/ICEM

BWI/PSI

UNI

BWI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

UNI

GUFb

(Fortsetzung)

2011

2011

2011

2011

2011

2010

2010

2010

2010

2010

2009

2009

2008

2008

2008

2008

2008

2008

2008

Jahr

292 9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Stammsitz Malaysia Germany USA

100 000

71 500

Systema

ZF Group

Sweden

Germany

Spain

Spain

Metal

Energy

Oil Industry

Construction Industry

Construction Industry

Retail Industry

Construction Industry

Power Company

Telecommunication

Chemical Industry

Car Manufacturer

Technology

Truck Manufacturer

Car Manufacturer

Engine Technology

Entertainment

Branche

Industriall

Industriall

Industriall

BWI

BWI

UNI

BWI

Industriall/PSI

UNI

Industriall

IFM

Industriall

IMF

IMF

Industriall

UNI

GUFb

2015

2015

2015

2014

2014

2014

2014

2013

2013

2013

2012

2012

2012

2012

2011

2011

Jahr

Beschäftigtenzahlen sind z. T. Unternehmensveröffentlichungen entnommen und haben nicht immer die gleichen Bezugsjahre, sie können nur als Annäherungswerte interpretiert werden, bteilweise reklamieren verschiedene GUFs bestimmte IFAs in unterschiedlichen Quellen jeweils für sich, cUPU (Weltpostverein) ist eine Unterorganisation der UN, der Staaten und keine Unternehmen angehören, gleichwohl führt die internationale Gewerkschaftsföderation UNI das entsprechende Abkommen als IFA

adie

150 000

13 107 648

ThyssenKrupp

Summe

France

100 000

6431

Total

Gamesa

Spain

9000

20 662

Dragados

Sacyr

Spain Japan

12 268

420 000

Acciona

Italy

Norway

Belgium

Aeon

33 000

74 000

Telenor

Enel

13 000

29 000

Saab

Solvay

Germany

343 000

Siemens

Germany

187 000

52 500

Ford

MAN

Unternehmen

Beschäftigtea

Tab. 9.3   (Fortsetzung)

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs) 293

294

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Die Tab. 9.3 beruht auf den Angaben, die die GUFs selbst auf ihren Websites machen. Sie ist aber bei genauerer Recherche nicht vollständig. Andere Quellen weisen noch weitere Konzerne mit Internationalen Rahmenabkommen aus (bei Pichot 2006 z. B. 22 in der obigen Liste nicht aufgeführte Unternehmen). Da die IFAs an keiner zentralen Stelle weltweit registriert werden und es sich um ein sehr dynamisches Feld handelt, müssen bestimmte Datenrestriktionen hier in Kauf genommen werden. Gleichwohl bietet die Tab. 9.3 einen recht interessanten Überblick zu wichtigen Strukturmerkmalen. Sie zeigt zunächst, dass nach dem ersten IFA bei Danone über einen sehr langen Zeitraum keine weiteren Internationalen Rahmenabkommen abgeschlossen wurden. Seit 1995 und vor allem dann seit dem 21. Jahrhundert nahm die Zahl der unterzeichneten Abkommen sehr schnell zu. In der Aufstellung wird auch deutlich, dass in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle die Stammsitze der Konzerne in Europa liegen – nur sieben IFAs wurden mit Unternehmen abgeschlossen, deren Stammsitz in Neuseeland (Fonterra), Russland (Lukoil), Südafrika (AngloGold) und den USA (Adecco, Chiquita, Kelly Services, Manpower) liegen.26 Aus der Tab. 9.3 sind auch die Branchenschwerpunkte der IFAs und der beteiligten GUFs ersichtlich. So wurden sieben IFAs im Bereich der Metallindustrie und elf IFAs im Organisationsbereich der Bauwirtschaft sowie jeweils acht IFAs im Branchenfeld der Automobil- sowie Energie- und Chemiewirtschaft abgeschlossen. Nach 2008 hat sich – trotz der deutlichen Unterzahl außereuropäischer Unternehmen mit IFAs – bis 2015 die Anzahl der MNEs mit einem abgeschlossenen IFA verdreifacht.27 Bis 2015 wurden über 20 aller IFAs in Konzernen mit Stammsitz in Deutschland abgeschlossen. Platzer und Rüb (2013, S. 7) schlussfolgern, „dass der Erfolg dieses voluntaristischen Politikansatzes nicht allein bzw. nur zu einem geringen Teil auf einer transnationalen Mobilisierungs- und Kampagnenfähigkeit der globalen Gewerkschaften basiert, sondern vor allem auf unternehmensspezifischen Bedingungskonstellationen, in denen, mit je unterschiedlichem Gewicht, die folgenden Faktoren zum Tragen kommen (können/müssen): • Die Bereitschaft und Fähigkeit nationaler Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen zur Verhandlungsführung; • Managementinteressen, die entsprechende Abkommen als Teil ihrer CRS Strategien begreifen und diese entweder defensiv akzeptieren oder proaktiv nutzen;

26Die

Bedeutung der institutionellen und politischen Regelungsstrukturen in den Stammsitzländern vergleichen Christopherson und Lillie (2005) anhand der beiden Unternehmen IKEA und Wal-Mart. 27Vgl. http://www.global-unions.org/+-framework-agreements-+.html.

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

295

• Nationale Mitbestimmungsmechanismen, die IFAs als Teil von Auseinandersetzungen, Tauschprozessen und Kompromissgleichgewichten hervorbringen; • und schließlich Unternehmenskulturen und nationale Arbeitsbeziehungsstrategien, die auf kooperativen und konsensorientierten Prinzipien basieren.“

Angesichts der Gesamtzahl internationaler Unternehmen von mehr als 50 000 macht sich die Aufstellung der Konzerne mit IFAs recht bescheiden aus. Allerdings zeigt die Auflistung in der Tab. 9.3 auch, dass sehr viele der größten Weltkonzerne ein IFA unterzeichnet haben. Insgesamt sind immerhin über 13 Mio. Arbeitnehmer in internationalen Konzernen beschäftigt, für die IFAs eigentlich Geltung haben.28 Zudem ist die Anzahl tatsächlich existierender Vereinbarungen auf der Ebene internationaler Konzerne weitaus größer, weil die Abgrenzung der IFAs von anderen Formen unternehmensbezogener Vereinbarungen wie bereits erläutert nicht immer einfach ist. In internationalen Konzernen können durchaus sehr relevante formale Abkommen existieren, die nicht in den von den GUFs geführten IFA-Listen auftauchen. Dies zeigt sich sehr deutlich bei einem Vergleich der Tab. 9.3, die die IFAs entsprechend den Angaben der GUFs und weiterer Recherchen aufführt, mit der folgenden Tab. 9.4, die für einige ausgewählte internationale Unternehmen die verschiedenen grenzüberschreitenden Abkommen angibt. Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die Verbreitung von IFAs sagen, dass diese vor allem seit den 2000er Jahren von wachsender Bedeutung in vielen großen internationalen Konzernen, vor allem in solchen mit Stammsitz in Europa, sind. Die Inhalte von IFAs variieren durchaus, aber einige Standardelemente, die sich in sehr vielen Rahmenregelungen finden, lassen sich identifizieren.29 Hierzu gehört in aller Regel die Bezugnahme auf die ILO-Kernarbeitsnormen und die Verpflichtung, sie im Konzern weltweit zu achten. In vielen IFAs finden sich darüber hinaus Bestimmungen zu einer angemessenen Entlohnung, zur Förderung der Qualifizierung und Berufsausbildung, zum Thema Arbeitssicherheit und

28Diese

vorsichtige Formulierung wird gewählt, weil fast die Hälfte der genannten ca. 11 Mio. Beschäftigten im Bereich der Unternehmen des Weltpostvereins UPU arbeiten – die entsprechende, von der UNI ausgehandelte branchenbezogene IFA ist nach eigenen Recherchen aber nicht einmal allen nationalen Arbeitnehmervertretungen großer Länder bekannt. 29Beispiele für IFAs finden sich unter http://www.global-unions.org/spip.php?rubrique70 und bei Rüb (2004), wo auch eine vom IMB entwickelte IFA-Mustervereinbarung abgedruckt ist. Für eine differenzierte Diskussion vgl. auch Brandl (2006b).

296

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Tab. 9.4   Weiterentwicklung von IFAs in ausgewählten Konzernen bis 2004. (Quelle: Pichot 2006, S. 5 [Ausschnitt]) Unternehmen

Datum

Form

Bereich

Danone

1988

Gemeinsame Meinung

Prinzipien und gängige Leistungsprogramme

1989

Projekt

Wirtschaftliche und soziale ­Information

Accor Eni Vivendi

1989

Aktionsprogramm

Gleichstellung von Mann und Frau

1992

Rahmenabkommen

Training

1994

Gemeinsame Erklärung

Gewerkschaftsrechte

1997

Gemeinsame Meinung

Aktivitätsbezogenes Change-Management (Training, Umgruppierung von Arbeitskräften, Gewerkschaftsrechte)

2001

Abkommen

Soziale Maßnahmen bei Restrukturierungsfällen

1995

Abkommen

Fundamentale Sozialrechte

1996

Abkommen

Gesundheit & Sicherheit

2002

Abkommen

CSR, sozialer Dialog

1996

Gemeinsame Erklärung

Fundamentale Sozialrechte

1999

Charta

Sicherheit am Arbeitsplatz

Ikea

1998

Verhaltenskodex

Fundamentale Sozialrechte

Suez

1998

Internationale Sozialcharta

Fundamentale Grundrechte, Prinzipien des Personalmanagement

2002

Charta

Gesundheit & Sicherheit

Kraft, Jacobs,

1998

Verhaltenskodex

Raucher/Nicht-Raucher

Philip Morris

1999

Verhaltenskodex Grundsätze

Einführung des EURO

2001

Abkommen

Datenschutz

Deutsche Bank

1999

Gemeinsame Position

Neue Strukturen, B ­ eschäftigungsund ­Arbeitsplatzsicherheit

Ford

2000

Abkommen

Verkauf von Visteon: Angestelltensatzung, Vertretung und Visteon Verträge (Fortsetzung)

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

297

Tab. 9.4   (Fortsetzung) Unternehmen

General Motors

Faber Castell

Datum

Form

Bereich

2000

Abkommen

Jointventure CFT: Verwaltung von Ford Verträgen, Investments

2003

Rahmenabkommen

Soziale Rechte und Corporate Social Responsibility

2004

Abkommen

IOS Restrukturierung: Verwaltung von Ford Verträgen, Investments

2000

Rahmenabkommen

Konsequenz der Fusion von GM/ Fiat auf den Status der Arbeitnehmer und -vertretungen

2001

Rahmenabkommen

Gegenwärtige Restrukturierung

2001

Rahmenabkommen

Restrukturierung von Opel

2002

Abkommen

Corporate Social Responsibility

2004

Rahmenwerk

Europäische Restrukturierung

2000

Air France

2001

Rahmenabkommen

Fundamentale Sozialrechte

Gemeinsame Meinung

Mobilität

Gemeinsame Meinung

Position der Angestellten des ­Vertriebs und Marketing

Sozialcharta

Fundamentale Rechte, Personalrichtlinien

Gesundheitsschutz sowie Mindestbestimmungen zu den Arbeitszeiten. Dennoch beschränken sich IFAs weitgehend auf soziale Mindeststandards, die mehr oder minder weit unterhalb der Standards bleiben, die üblicherweise in Ländern mit ohnehin schon etablierten Institutionen der Arbeitsbeziehungen und gefestigten gewerkschaftlichen Traditionen gelten (Platzer und Rüb 2013, S. 11). Um die spezifischen Kontextbedingungen der Entstehung und vor allem die Wirkungen von IFAs wissenschaftlich analysieren zu können, müssen die komplexen Akteursstrukturen berücksichtigt werden. In ihren ausführlichen Fallstudien zeigt Dehnen die Rolle der verschiedenen lokalen und nationalen Gewerkschaften, aber gerade auch anderer Interessenvertretungsorgane, besonders der EBR, auf. Sie kommt zu dem Schluss, „dass die unterschiedlichen Gremien der Beschäftigtenvertretung in der Forschung bisher als ein monolithischer Arbeitnehmer-Block verstanden worden sind. Die Beteiligung von Europäischen Betriebsräten wurde dabei lediglich als ein die GUFs

298

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

unterstützendes Organ beim Führen von IRV-Verhandlungen analysiert und interpretiert. Durch die hier vorgenommene empirische Analyse konnte diese Forschungslücke nun zum Teil geschlossen werden. Vor allem die Unternehmensfallstudien konnten erhellen, dass Europäische Betriebsräte teilweise eigene Interessen und Ziele mit der Aushandlung von IRVs – aber auch bei eigenen transnationalen Rahmenabkommen – verfolgen. Außerdem offenbarte sich durch die Analyse der GRV-Inhalte (in Kombination mit den Strukturmerkmalen von Grenzüberschreitendens Rahmenvereinbarungen), dass IRVs und auch transnationale Rahmenabkommen als gemeinsame Elemente einer transnationalen Erwerbsregulierung verstanden werden müssen“ (ebd., S. 260; in ihrer differenzierten Analyse unterscheidet Dehnen IFAs bzw. GRVs von transnationalen Rahmenabkommen, die sich z. B. als durch EBR verhandelte auf einen nur eingeschränkten Geltungskreis beziehen können).

IFAs können also besonders die Funktion haben, den Legitimationsdruck innerhalb und von außerhalb der MNEs zu erhöhen, soziale und Arbeitsmindeststandards auch in den Werken und Niederlassungen der Länder mit weniger ausgebildeten Regimen der Erwerbsregulierung umzusetzen. Auch dadurch, dass in IFAs meistens Ausführungen zu den Zulieferern und eventuell weiteren Geschäftspartnern enthalten sind, die ebenfalls zur Einhaltung der ILO-­ Kernarbeitsnormen und eventuell weiterer Mindeststandards ermutigt werden sollen, können sie theoretisch eine weit über die abschließenden Unternehmen hinausgehende Hebelwirkung entfalten. Entscheidend für die tatsächlichen Wirkungen von IFAs sind die Mechanismen, mit denen die Einhaltung der festgelegten Standards und Verfahren überprüft und im ‚organisationalen Feld‘ der Legitimationserwartungen der MNEs beachtet werden. Viele, vor allem in jüngerer Zeit abgeschlossene IFAs enthalten entsprechend Bestimmungen zu den Mechanismen und Organen, mithilfe derer die Einhaltung der Normen überprüft werden soll (vgl. nächstes Kap. 10).30 Als ein konkretes Beispiel für ein IFA sei hier die „Erklärung zu den sozialen Rechten und den industriellen Beziehungen“ genannt, die für den Volkswagenkonzern mit weltweiter Gültigkeit zwischen dem Weltkonzernbetriebsrat, der Unternehmensleitung und dem Internationalen Metallarbeiterbund im Juni 2002 in Bratislava/Slowakei abgeschlossen wurde. Hierin bekennt sich der

30„The

growing density of compliance monitoring regulations is evident from the fact that many of the more recent international framework agreements provide for integrating compliance monitoring in the corporate auditing process and, by the same token, in the system of annual reports. Beyond that, a growing number of the more recent agreements provide for the creation of so-called „joint monitoring groups“ whose task it is to define criteria for monitoring compliance and serve as contacts in case the agreement is not observed“ (­Müller et al. 2008, S. 7).

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

299

Konzern zur Einhaltung der „einschlägigen Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation“, insbesondere hinsichtlich des Vereinigungsrechtes, der Nicht-­Diskriminierung, der Zwangs-, Pflicht- und Kinderarbeit, der Vergütung, der Arbeitszeiten sowie des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Das Unternehmen verpflichtet sich, alle Beschäftigten über die Erklärung zu unterrichten und bekennt sich zu einer Politik, die Verhaltensgrundsätze auch bei den Zulieferern zu verbreiten: „Volkswagen unterstützt und ermutigt ausdrücklich ihre Geschäftspartner, diese Erklärung in ihrer jeweils eigenen Unternehmenspolitik zu berücksichtigen. Sie sieht hierin eine vorteilhafte Basis für die gegenseitigen Beziehungen.“31 Formal handelt es sich bei dieser Vereinbarung um ein International Framework Agreement. Real ist es im Wesentlichen ein zwischen dem Weltkonzernbetriebsrat und der Unternehmensleitung ausgehandeltes Abkommen, bei dem der Internationale Metallarbeiterbund eher die Rolle eines ‚Vertragsnotars‘ spielte. Dies wird an der folgenden Bestimmung 2.3 deutlich: „Auf Vorschlag des Vorstandes der Volkswagen AG oder des Volkswagen-Weltkonzernbetriebsrates wird über diese Erklärung und deren Umsetzung im Rahmen der Weltkonzernbetriebsratssitzung zusammen mit Vertretern des Managements der Volkswagen AG diskutiert und beraten werden. Bei Bedarf werden angemessene Maßnahmen vereinbart.“ (ebd., S. 3). Das Beispiel zeigt, dass IFAs immer in die jeweilige Unternehmenstradition und -kultur, aber auch in bestehende grenzüberschreitende Regelungen, Abkommen und Aushandlungsmechanismen der Erwerbsregulierung eingebunden sind. Entsprechend haben unterschiedliche Akteursgruppen ihr besonderes Gewicht. Dies kann neben dem Management ein bestehendes Weltgremium der Arbeitnehmervertretung sein oder auch die entsprechende GUF bzw. ihr diesbezüglicher Weltkonzernausschuss – im Falle Volkswagen ist dies vor allem der vergleichsweise starke Weltkonzernbetriebsrat. Wichtige Akteure sind außerdem nationale und europäische Arbeitnehmervertretungen. Aber auch zivilgesellschaftliche Gruppen, die öffentliche Meinung in Form der Presse und Internetöffentlichkeit (Websites, Blogs etc.) sowie andere Akteursgruppen (Politiker, Vertreter nationaler und internationaler gouvernementaler Organisationen etc.) sind häufig von Bedeutung. Nur in einem solchen erweiterten Zusammenhang lässt sich auch die Wirksamkeit der IFAs analysieren. Dies soll im Folgenden an dem recht gut dokumentierten Beispiel des Chiquita-Konzerns erläutert werden.

31Vgl.

die Vereinbarung, die auf der Unternehmens-Website ebenso wie der entsprechende Nachhaltigkeitsreport abrufbar ist: http://www.volkswagen-karriere.de/de/tools/navigation/ meta/downloadcenter.html.

300

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Riisgaard (2002, 2005) untersuchte die Möglichkeiten und Grenzen von IFAs zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten am Beispiel von Chiquita, also eines Konzerns, der zumindest in Bezug auf das Stammsitzland (USA) und die Branche (Nahrungsmittel und Tourismus, für die die International Union of Food, Agricultural, Hotel, Restaurant, Catering, Tobacco and Allied Workers’ Associations IUF als GUF zuständig ist) nicht die Mehrheit der Konzerne mit IFA widerspiegelt, aber dennoch lehrreich im Hinblick auf die mögliche Bedeutung von IFAs ist. Außerdem ist Chiquita mit etwa einem Viertel der Weltbananen-­Exporte etwa gleichauf mit Dole einer der zwei größten Bananenproduzenten. Das entsprechende Internationale Rahmenabkommen zwischen der IUF, der Lateinamerikanischen Koordination der Bananenarbeitergewerkschaften (Latin-American Coordination of Banana Workers Unions, COLSIBA) und dem Konzern Chiquita wurde im Jahre 2001 abgeschlossen. Ihm waren mehrere Jahre öffentlicher Kampagnen und ­Verhandlungen vorausgegangen. Bereits im Frühjahr 1998 waren in verschiedenen Medien der Hauptabsatzländer von Chiquita-Bananen (z. B. der Zeitung Cincinnati Enquirer in den USA) Berichte erschienen, die den Konzern wegen Korruption von Politikern, wegen des verdeckten Besitzes von Unternehmen, wegen gesundheitsgefährdender Arbeitsbedingungen der Bananenarbeiter und wegen Einschränkung gewerkschaftlicher Betätigung scharf kritisierten. Der Konzern Chiquita selbst nahm aber diese Kritiken und das öffentliche blaming zunächst nicht sehr ernst. Dies änderte sich nachhaltig, als mehrere der großen, vor allem europäischen Abnehmer kritische Nachfragen bei Chiquita hinsichtlich der Arbeitspolitik stellten und ihren weiteren Bezug von Chiquita-Bananen infrage stellten. In Dänemark z. B. ließ die Supermarktkette FDB als der Alleinvertreiber von Chiquita-Bananen durch mehrere unabhängige Berichte die gegen Chiquita erhobenen Vorwürfe überprüfen. Wie der damalige Präsident von Chiquita Steve Warshaw erklärte, war es vor allem diese internationale Kampagne, die den Konzern tatsächlich zu einer Revision seiner Arbeitspolitik bewog: „In the wake of particularly damaging media coverage, we embarked on a disciplined path toward corporate responsibility.“32

32Zit. nach Riisgaard (2002, S. 10); in einem Konzernreport von 2002 erklärt das Unternehmen: „In 1999, we compiled a list of European customers (mostly retailers) who had either inspected our farms or asked us to respond to questions about our social and environmental performance. We concluded the volume sold to these customers was „at risk,“ because they may have changed suppliers if we were unable to demonstrate our achievement of high social and environmental standards … these same customers represented 54 per cent of the total volume we sold into key European markets in 2001.“ (zit. nach ­Riisgaard 2002, S. 7).

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

301

Die besondere Sensibilität europäischer Bananenimporteure und später von Chiquita, die dann zur Unterzeichnung des IFAs führten, hängt auch mit spezifischen politischen Rahmenbedingungen zusammen. Die Europäische Gemeinschaft schloss mit ehemaligen Kolonien europäischer Länder in Afrika, der Karibik und im Pazifik (den sogenannten AKP-Staaten) im Rahmen des Lomé-Handelsabkommens im Jahre 1993 auch Bestimmungen über Importerleichterungen für ‚AKP-Bananen‘ ab. Die Einfuhr von aus den AKP-Staaten kommenden Bananen wird durch niedrigere Zölle erleichtert, um die Wettbewerbsnachteile dieser in der Regel sehr armen Länder gegenüber Lateinamerika, wo etwa drei Viertel aller Bananen produziert werden, auszugleichen. Gegen diese Lomé-AKP-Bananenregelung hatten sowohl lateinamerikanische Produzenten als auch die US-amerikanische Regierung auf Druck von Chiquita und anderen US-amerikanischen Bananenvertriebskonzernen protestiert, weil dadurch der freie Wettbewerb eingeschränkt werde. Nachdem das AKP-Bananenabkommen im Jahre 2001 im Sinne von weniger Handelsvorteilen für die AKP-Staaten – und damit auch zugunsten von Chiquita – geändert worden war, konnte sich Chiquita keine weiteren bzw. neuen Vorwürfe und Kritiken z. B. wegen Nichteinhaltung der Kernarbeitsnormen der ILO leisten. Umgekehrt bestand gerade in Europa (in den politischen Parteien und Regierungen sowie bei den Bananenabnehmern) vor dem Hintergrund der AKP-Staatenregelungen eine große Bereitschaft, sehr genau auf die Einhaltung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in lateinamerikanischen Bananenplantagen zu achten. Das IFA enthält die ausdrückliche Verpflichtung des Konzerns, die ILOKern-Übereinkommen und das ILO-Abkommen Nr. 135 (Arbeitsmöglichkeiten und Schutz von Arbeitnehmervertretern) zu respektieren und deren Einhaltung auch bei den Zulieferern, Vertragsplantagen und Joint-Venture-Partnern einzufordern. Das Abkommen ist überall breit bekannt zu machen und seine Einhaltung von einem gemeinsam besetzten Komitee zu überwachen. Die Evaluierung der Wirksamkeit dieses IFA zeigt, dass es durchaus spürbare Verbesserungen der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf den Chiquita-eigenen Plantagen gegeben hat. Nach den Recherchen von (Riisgaard 2002, 2005) scheinen aber große Probleme nach wie vor bei den Zulieferern und auf den Vertragsplantagen von Chiquita zu bestehen. Dort hat sich die Situation nach Auskunft interviewter Arbeiter im Jahr nach der IFA-Unterzeichnung teilweise sogar verschlechtert. Denn traditionell verschlechtern sich die Erwerbsbedingungen der Beschäftigten, je weiter man in der Zulieferkette von den Endabnehmern – wie in diesem Falle Chiquita – entfernt ist. Die Endabnehmer setzen die Zulieferer unter den doppelten Druck von harter ökonomischer Konkurrenz und der Einhaltung der in den IFAs niedergelegten Mindeststandards.

302

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

Für die beteiligten Einzelgewerkschaften der Plantagenarbeiter, die in der COLSIBA zusammengeschlossen sind, bestand in diesem Falle ein großes Problem darin, dass ein massives und schnelles Durchsetzen der ILO-­Mindeststandards die Existenz vieler kleinerer Zulieferplantagen infrage gestellt und damit auch zu massiven Arbeitsplatzverlusten für die dort Arbeitenden geführt hätte. Nach den Untersuchungen von Riisgaard (2002) geraten die Gewerkschaften, die auch im Bereich der Zulieferunternehmen Mitglieder organisiert haben, in einen strukturellen Widerspruch zwischen den konkreten Interessen der prekär Beschäftigten von Zulieferern und Vertragsplantagen einerseits und den allgemeinen Interessen an einer nachhaltigen Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen aller Plantagenarbeiter andererseits. Dieses Problem besteht immer dann, wenn die Endnachfrager – in diesem Falle Chiquita – mit der Verlagerung von Produktionsoder Zulieferverlagerungen drohen, anstatt eine längerfristige und nachhaltige Entwicklungskooperation mit den Zulieferunternehmen einzugehen, die diesen die Einhaltung der IFA-Bestimmungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ermöglicht. Neben dem in der Literatur immer wieder diskutierten Problem, dass für die Überwachung der Einhaltung von IFA-Bestimmungen zu wenig praktikable Instrumente, wirksame Akteursgruppen und legale Erzwingungsmöglichkeiten gegeben sind, zeigt sich an diesem Beispiel auch ein weiteres grundlegendes Dilemma. Wenn IFAs nicht nur den Charakter von arbeitspolitischen Status-quo Beschreibungen für die großen internationalen Konzerne selbst als ‚Inseln guter Arbeitspraxis‘ haben, sondern international tatsächlich zu wirksamen Verbesserungen der Erwerbsbedingungen führen sollen, dann müssen sie auch die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen in den gesamten Wertschöpfungsketten ins Auge nehmen. Die IFAs als Regulierungsmechanismus gehen von einem mehr oder weniger klar lokalisierbaren Zentrum – den großen internationalen Konzernzentralen – aus und sollen von dort Wirkungen bis hinein in die peripheren Unterorganisationen, Einzelunternehmen und die gesamte Zulieferkette entfalten. Diese Standards gerade in den ‚peripheren‘ Bereichen wirklich durchzusetzen, ist jedoch nach allen vorliegenden Erkenntnissen ein schwieriges Unterfangen, weil die IFAs teilweise gar nicht verbindlich an die Zulieferer kommuniziert werden und folglich dort auch nicht umgesetzt werden: „Wie in der vorliegenden Arbeit am Beispiel Mexikos deutlich geworden ist, bieten gerade spät industrialisierte Länder mit einer gering ausgeprägten Tradition formaler Erwerbsregulierung und einer mangelnden Einklagbarkeit nationaler und internationaler Rechtsnormen wenig Möglichkeiten einer institutionellen Verankerung von Instrumenten wie den IRV auf nationaler Ebene. Deshalb muss die Umsetzung

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

303

derartiger Vereinbarungen vor Ort mit einer internationalen Vernetzung und Aufwertung von internationalen Mindestarbeitsstandards insgesamt einhergehen“ (Hessler 2012, S. 300 f.; IRV steht als Abkürzung für Internationale Rahmenvereinbarungen).

In einigen Fällen sehen sich Zulieferer auch in dem Konflikt, die IFAs mehrerer Kundenunternehmen mit unter Umständen disparaten Normierungen ‚bedienen‘ zu müssen (Platzer und Rüb 2013, S. 15). Solange die Ressourcen-, Informations-, Macht- und Interessenstrukturen weitgehend von diesem Zentrum-Peripherie-Verhältnis geprägt bleiben, wird diese Form der Diaspora-Internationalisierung der Erwerbsregulierung keine nachhaltigen Erfolge zeitigen können. Diaspora-Internationalisierung, die nicht mit anderen Formen der Internationalisierung wie z. B. der Glokalisierung oder Transnationalisierung verknüpft ist, hat mittelfristig nur wenige Chancen. Genau in dieser dynamischen Perspektive einer Erweiterung der Diaspora-­Internationalisierung von Erwerbsregulierung sieht auch der ILO-Evaluationsreport des Chiquita-IFA eine Zukunft.33 Ein Vorschlag des Überprüfungskomitees bestand dar in, das IFA in alle neuen Zulieferverträge mit Chiquita aufzunehmen. In Bezug auf die notwendige Stärkung der Peripherien fasst der Evaluationsreport zusammen: „In summary, the case shows an agreement with potential in relation to supporting local organizing.“ (Riisgaard 2002, S. 17). Während die ausschließlich zwischen Management und Arbeitnehmervertretungen auf der Ebene internationaler Unternehmen ausgehandelten Verträge und freiwilligen Erklärungen von einem mehr oder weniger deutlichen Kraftund Machtzentrum ausgehen und hierum gruppiert sind, besteht bei den Internationalen Rahmenabkommen durch die Einbeziehung der entsprechenden GUFs eine neue, zumindest vom Prinzip her multi-polare Aushandlungskonstellation. Die Möglichkeiten der ‚sozialen Schließung‘ auf Unternehmensebene und der Verfolgung eines ‚Betriebssyndikalismus‘, bei dem nur die Interessen der jeweils

33Es

war genau die mehrere Ebenen und Akteursgruppen integrierende und von der Peripherie initiierte Kampagne, die zu grundlegenden Veränderungen der Politik von Chiquita führte: „To achieve the agreement the banana unions employed innovative tactics of regional coordination and of alliances with solidarity groups in the major consumer markets, using public campaigns against Chiquita targeting supermarket chains and consumers. This paper argues that such international agreements show a promising way to defend and ad vance workers rights within MNEs, allowing trade unions to develop a sophisticated multilevel response to the challenges of MNEs geographically dispersed production systems and outsourcing strategies. More broadly the strategies show innovative possibilities for unions to work with non-governmental organizations (NGOs) to secure respect for basic workers rights within MNEs“ (Riisgaard 2002, S. 10).

304

9  Konzernbezogene Erklärungen, Vertretungen und Abkommen

in dem entsprechenden Unternehmen Beschäftigten berücksichtigt werden, sind hier wesentlich eingeschränkter. Gerade weil solche IFAs in der Regel bei einer deutlichen Diaspora-Konstellation der internationalen Erwerbsregulierung ihren Anfang nehmen, hängen die Chancen der weltweiten Umsetzung sehr stark von der relativen Unabhängigkeit und Durchsetzungsfähigkeit der jeweiligen lokalen Arbeitnehmervertretungs- und Gewerkschaftsorganisationen ab. Entsprechend resümiert Riisgaard (2005, S. 731) die Grenzen und Möglichkeiten von IFAs: „The study further shows an important alternative to NGO and business defined voluntary regulation initiatives that exclude workers. IFAs, although not without problems, allow worker representation at the corporate level as well as provide unions with a place in monitoring agreement-compliance. IFAs thereby constitute a sophisticated multilevel response to the challenges of MNE’s geographically dispersed production systems and outsourcing strategies, creating space for union organizing and social dialogue.“

In eine ähnliche Richtung argumentieren Müller et al. (2008, S. 10) im Hinblick auf die mögliche Ausbreitung von IFAs und auf ihre Bedeutung für die Internationalisierung der Erwerbsregulierung. Sie schätzen die geografische und zahlenmäßige Ausbreitung der IFAs als eher auf Europa und eine vergleichsweise kleine Anzahl aller internationalen Konzerne beschränkt ein. Gleichwohl hätten die Gewerkschaften mit den IFAs ein innovatives Instrument für die grenzüberschreitende Erwerbsregulierung und auch für die Stärkung ihrer internationalen Konföderationen entwickelt. Wie schwierig sich die Umsetzung von IFAs, die von deutschen Konzernen abgeschlossen wurden, in einem Land wie Mexiko gestaltet, haben Hessler et al. 2007 anhand von Fallstudien aufgezeigt. In ihrer kritischen Zwischenbilanz resümieren Platzer und Rüb (2013, S. 16 f.), dass IFAs grundsätzlich ein geeignetes und flexibles Instrument der Erwerbsregulierung seien und dass deren Potenziale zur Mindeststandardsicherung jedoch nicht ausgeschöpft seien. Als Probleme identifizieren die Autoren, dass die Überwachung von IFAs sehr schwierig sei und gerade in den peripheren Standorten von MNEs dadurch bisher kaum eine Stärkung der dortigen Interessenvertretungen erreicht werde (was dann wiederum die Überwachung erschwert). Sie meinen, der gesamte IFA-Ansatz sei europalastig und werde von europäischen Arbeitsbeziehungstraditionen geprägt; entsprechend sei dieses Instrument nicht immer mit den örtlichen Arbeitsbeziehungskulturen kompatibel. Der zuletzt genannte Aspekt trifft sicherlich auf viele der in diesem Buch behandelten Mechanismen der Erwerbsregulierung zu. Ob es Gewerkschaften selbst und das Instrument von Tarifverträgen sind, Betriebsräte oder Eurobetriebsräte – die meisten dieser Ansätze zur Erwerbsregulierung wurden in Europa, besser: in den

9.3  Internationale (Tarif-)Rahmenabkommen (IFAs)

305

früh industrialisierten Ländern entwickelt. Allerdings sind hier durchaus – wie in den Kap. 2 bis 4 expliziert – sehr unterschiedliche, teils liberal-marktliche, teils etatistische, teils organisations- oder professionsgebundene Traditionen eingeflossen. Wie bereits mehrfach betont, ist eine angemessene Beurteilung der Chancen und Probleme einer grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung durch die IFAs nur in der Perspektive der sich entwickelnden internationalen Netzwerktextur als Ganzes möglich. So hängt die Zukunft der IFAs auch davon ab, inwieweit sich in den jeweils betroffenen Ländern gewerkschaftliche, aber auch zivilgesellschaftliche und Unternehmensstrukturen zur nachhaltigen Implementation der entsprechenden Bestimmungen entwickeln können. Die im nächsten Kap. 10 zu behandelnden Typen internationaler Erwerbsregulierung sind dabei ebenso im Hinblick auf ihre möglichen Synergieeffekte mit den IFAs zu berücksichtigen.

Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

10

In den bisherigen Kapiteln wurden verschiedenste Formen der Erwerbsregulierung behandelt, die über die Grenzen nationalstaatlicher Bestimmungen und Mechanismen hinausweisen. Dabei spielten die Konventionen der ILO und speziell die Kernarbeitsnormen als normativer und globaler Referenzpunkt eine besondere Rolle. Sie haben inzwischen Eingang in vielfältige internationale Verträge, in freiwillige Absichtserklärung von Unternehmen und auch in die zuvor behandelten IFAs gefunden. Das Kap. 8 über den europäischen Sozialen Dialog und die Euro-Betriebsräte hat gezeigt, dass erwerbsrelevante europäische Gesetze in einem komplexen Verfahren durch das europäische Parlament, die Europäische Kommission und die Vertreter der souveränen Mitgliedsländer verabschiedet und dadurch Kompetenzen zur Normenaushandlung und Festlegung im Hinblick auf spezifische Gegenstandsbereiche wiederum an definierte Akteursgruppen subsidiär delegiert werden. In diesem Sinne sind durch die Richtlinien zum sozialen Dialog die europäischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände autorisiert, autonom Vereinbarungen zu treffen oder Vereinbarungsvorschläge in die europäischen Normensetzungsprozeduren einzuspeisen. Im vorangehenden Kap. 9 schließlich wurden die auf internationale Konzerne bezogenen Möglichkeiten der Erwerbsregulierung behandelt. Neben den unilateralen Aktivitäten der Unternehmensleitungen und der entsprechenden Gewerkschaften erwiesen sich die wiederum prozedural angelegten festen bilateralen Strukturen der Information, Konsultation und Mitentscheidung etwa durch Weltkonzernbetriebsräte als neues Regulierungsinstrument. Die im letzten Jahrzehnt immer bedeutsamer gewordenen Internationalen Rahmenabkommen wiederum sind feste verbindliche Verträge zwischen Unternehmensleitungen, internationalen Arbeitnehmervertretungsorganen und der entsprechenden internationalen Branchengewerkschaft (GUF). Alle bisher beschriebenen Strukturen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_10

307

308

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

und Mechanismen der internationalen Erwerbsregulierung beschäftigten sich vorrangig mit Verfahren der Aushandlung und Definition bestimmter Mindestnormen und mit der Festlegung bi- oder trilateraler Strukturen mit besonderer Betonung der prozeduralen Aspekte von Normensetzung und Aushandlungsprozessen.

10.1 Erwerbsbezogene Zertifizierungen An vielen Stellen wurde bereits auf ein entscheidendes Defizit der bisher besprochenen Strukturen und Mechanismen der Erwerbsregulierung verwiesen: Zwischen der vergleichsweise generellen Definition materialer Normen (etwa der Kernarbeitsnormen der ILO oder weiterer Bestimmungen in IFAs) und der Festlegung eher prozeduraler Normen für deren Aushandlung und Überprüfung klafft eine große Lücke: die Spezifizierung von Verfahren der Evaluation und Überwachung der getroffenen Vereinbarungen. Hiermit ist ein wichtiger Aspekt des weiten Bereiches von Zertifizierungen, Labels und Monitoring angesprochen. Unter Zertifizierung kann ganz allgemein ein formalisiertes Verfahren verstanden werden, durch welches die Einhaltung bestimmter Standards für Produkte und Prozesse durch dafür autorisierte Organe gemessen und gleichsam ‚amtlich‘ festgestellt sowie in der Regel durch ein Zeugnis oder Zertifikat bestätigt wird. Historisch geht die Grundidee der Zertifizierungen Jahrhunderte zurück. Die mittelalterliche Münzprägung und Festlegung bestimmter Längen- und Gewichtsmaße war eine geradezu notwendige Voraussetzung für die Belebung des Handels, vor allem des Fernhandels. Mit der Industrialisierung verbreiteten sich dann vor allem die Bemühungen um eine Standardisierung technischer Normen. Die Geschichte der Internationalen Organisation für Standardisierung (ISO) ist ein beredtes Beispiel für die enorme Produktivität, die der Gedanke der Standardisierung entfaltete. Noch heute zeugen metrische und Zoll-Gewindemaße von den Schwierigkeiten, so einfache Dinge wie Schrauben für ein Fahrrad oder Bücherregal vergleichbar und international austauschbar zu definieren und dann zu produzieren. Die ISO legte und legt, ähnlich wie in Deutschland z. B. auch der Verein Deutscher Ingenieure VDI, nicht nur Schraubenmaße, sondern auch die Standardabmessungen von Papier (Letter-Format in den USA und anderen Ländern, DIN A-Format in Deutschland) fest, sondern auch in immer ausdifferenzierterer Weise Standards für die Produktion, Sicherheit und Entsorgung von Gütern. Dabei lassen sich seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verschiedene, auch für das hier interessierende Thema der Erwerbsregulierung relevante Veränderungen feststellen. So lässt sich ein Wandel von produktbezogenen

10.1  Erwerbsbezogene Zertifizierungen

309

zu prozessbezogenen Definitionen und Verfahren beobachten.1 Gleichzeitig fand die Grundidee der Normierung und Standardisierung von Produkten und Verfahren auch massiv Eingang in Themenbereiche, die eher ‚weiche‘ Gegenstände wie z. B. umweltgerechtes oder soziales Unternehmensverhalten oder Aspekte von Nachhaltigkeit von Produkten und Prozessen beinhalten. Inzwischen ist eine kaum noch zu überblickende Dienstleistungsbranche lokaler, nationaler und internationaler Organisationen entstanden, die Aufgaben im Bereich von Zertifizierungen und Labeling übernehmen. Hierfür sollen im Folgenden einige Beispiele gegeben werden. Dabei wird der Begriff Zertifizierungen auf (Unternehmen-) Organisationen und entsprechende Produktionsverfahren und -prozesse bezogen und der Begriff Labeling vor allem für produktbezogene Standardisierungstätigkeiten benutzt. In der wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Verwendung werden die Begriffe Zertifizierung und Labeling oft synonym verwendet. Hier wird die Unterscheidung gemacht, dass Zertifizierungen auf Organisationen und Verfahren bezogen sind und die Vergabe von Labels auf Produkte orientiert ist. Ein recht einfaches Beispiel für erwerbsbezogene Zertifizierungen sind in Deutschland ‚Arbeit Plus‘ und der DGB-Index ‚Gute Arbeit‘.2 Arbeit Plus entstand als eine Initiative der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auf dem Kirchentag des Jahres 1997 in Leipzig sagte der damalige Kirchentagspräsident Rainer Meusel in seinem Schlussgottesdienst: „Wer neue Arbeitsplätze schafft, sollte ein Gütesiegel erhalten.“ Seit 1999 wird nun ein solches bundesweites Gütesiegel durch die EKG verliehen. Sie zielt darauf ab, Unternehmen zu identifizieren, die sich im Hinblick auf gesellschaftliche Verantwortung und Zukunftsfähigkeit besonders verdient gemacht haben. Dazu werden eingehende Bewerbungen von Unternehmen um die Arbeit Plus-Auszeichnung nach vier thematischen Bereichen (Lebenschancen, Beteiligungschancen, Entfaltungschancen, Sozialkultur) mit insgesamt 20 Einzelbewertungen durch ein unabhängiges Vergabegremium beurteilt. Es sollen Unternehmen aus möglichst vielen Wirtschaftsbranchen mit diesem Instrument angesprochen werden. Normalerweise werden einmal pro Jahr die Unternehmen, die jeweils das Siegel Arbeit Plus verliehen bekommen, öffentlich in einer feierlichen und pressewirksamen Veranstaltung vorgestellt. Auf dem Kirchentag 2007 in Köln wurde dieses Siegel bereits

1Vgl.

http://www.iso.org/iso/home.htm, http://www.vdi.de/ und http://www.balanced-scorecard.de/. 2Vgl. http://www.arbeit-plus.de/ und http://www.dgb-index-gute-arbeit.de/.

310

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

zum achten Mal an sozial nachhaltig wirtschaftende Unternehmen vergeben. Dabei erhielten acht Unternehmen diese Auszeichnung für zukunftsweisende Beschäftigungsmodelle. Insgesamt wurden 51 Unternehmen bis zum Jahr 2015 ausgezeichnet, einige davon mehrfach. Etwas später als die Evangelische Kirche in Deutschland begann auch der Deutsche Gewerkschaftsbund selbst, ein Zertifikat für gute Arbeit zu entwickeln. Der DGB-Index Gute Arbeit beruht auf einer für Deutschland repräsentativen Befragung von über 6000 Arbeitnehmern und erhebt im Wesentlichen die Beurteilungen der Befragten im Hinblick auf die drei Teilaspekte Ressourcen, Belastungen und Einkommen/Sicherheit. Als Ergebnis der Auswertungen eines relativ ausführlichen Fragenkatalogs wird ein Index gebildet, der die mittlere Zufriedenheit der Befragten mit ihren Erwerbsbedingungen angibt. Grundsätzlich ermöglicht dieser Index eine vergleichende Perspektive im Zeitverlauf (etwa die Entwicklung der subjektiv wahrgenommenen Erwerbsbedingungen von Jahr zu Jahr) und auch einen Querschnittsvergleich etwa nach Branchen oder Berufsgruppen. Er liefert somit eine Kennzahl für die Qualität der Arbeit aus der Sicht der Beschäftigten. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Vorarbeit wurde dieser Index im Jahre 2007 zum ersten Mal erhoben. Inzwischen wird im Rahmen dieses Index auch eine Fortbildung und Zertifizierung zum ‚Gute Arbeit-Berater‘ angeboten.3 Beide hier beschriebenen Zertifizierungsverfahren sind auf die Bundesrepublik Deutschland begrenzt. Sie liefern vor allem Beispiele aus jüngerer Zeit, wie sich die Logik von standardisierten Bewertungen und Zertifizierungen aus dem unmittelbaren Produkt- und Produktionsbezug hin zu zentralen Aspekten der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen ausgebreitet hat. Auf internationaler Ebene haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten sehr viele Zertifizierungsmechanismen fest etabliert, die in aller Regel erwerbsrelevante Kriterien mit Aspekten der Nachhaltigkeit kombinieren. Eine solche internationale Zertifizierung ist z. B. mit den Dow Jones Sustainability Indexes (DJSI) gegeben. Über den DJSI werden Unternehmen nach den Gesichtspunkten nachhaltigen Wirtschaftens systematisch untersucht und nach Branchen gegliedert. Die jeweils am besten bewerteten Unternehmen werden für die Weltebene, für bestimmte Weltregionen und für Länder in entsprechende Indizes aufgenommen.4 So enthält

3Zu

den Ergebnissen für 2008 vgl. http://www.dgb-index-gute-arbeit.de/dgb-index_2008, zur Fortbildung vgl. http://www.dgb-index-gute-arbeit.de/fortbildung. 4Vgl. http://www.sustainability-indices.com/images/Measuring_Intangibles_CSA_methodology.pdf und http://de.wikipedia.org/wiki/Dow_Jones_Sustainability_Index; vgl. als frühe kritische Diskussion hierzu Cerin und Dobers (2000).

10.1  Erwerbsbezogene Zertifizierungen

311

Abb. 10.1   Übersicht verschiedener Zertifizierungsinstrumente. (Quelle: http://www2.wiwi. hu-berlin.de/institute/im/csr/en_service_standards.html)

der Index DJSI World die Ergebnisse einer Befragung (Selbstauskunft zu 80 bis 120 Fragen) und weiterer eigener Analysen der 2500 weltweit größten, öffentlich gehandelten Unternehmen (vgl. Abb. 10.1). Das Zehntel der hiervon am nachhaltigsten wirtschaftenden Konzerne wird in den DJSI World aufgenommen.5 In die DJSIndices gehen neben wirtschaftlichen und umweltbezogenen relativ viele erwerbsbezogene Kriterien ein (vgl. Tab. 10.1). Im Rahmen des DJSI-Systems wurden inzwischen recht ausdifferenzierte Methoden der Datenerhebung, des Monitoring und der Verifikation entwickelt. Allerdings sind auch einige generelle Zweifel angebracht, da die Ratingagentur Standard & Poor’s mit den zu bewertenden Konzernen über vielfältige Beziehungen verbunden ist. Die Messungen und vor allem die Bewertungen sind nicht unumstritten, wie das Beispiel BP zeigt: „In die Kritik geriet der DJSI Weltindex im Jahr 2010, weil er den Ölkonzern BP als Branchenbesten notiert hatte. Der hat jedoch in jenem Jahr im Golf von Mexico eine riesige Ölpest mit

5Zur

Methode vgl. http://www.sustainability-indices.com/images/Measuring_Intangibles_ CSA_methodology.pdf; vgl. allgemein als Überblick auch Schäfer et al. (2006) und https:// www.nachhaltigkeit.info/artikel/finanzen_boersenindizes_1481.htm.

312

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

Tab. 10.1   DJSI-Kriterien für Unternehmensnachhaltigkeit für drei Branchen. (Quelle: http://www.sustainability-indices.com/images/Measuring_Intangibles_CSA_methodology. pdf, Seite 6)

10.1  Erwerbsbezogene Zertifizierungen

313

v­ erursacht, die bis dato größte Umweltkatastrophe der USA. Ausschlag war eine Explosion der Bohrplattform Deepwater Horizon gewesen. Nach dem Absturz der BP-Aktie zog der DJSI im Juli 2010 die Notbremse und entfernte BP aus dem Index – nach Ansicht von Finanzprofis viel zu spät. Doch war dies das erste Mal, dass deutlich vor der üblichen Neuzusammenstellung im September überraschend ein Unternehmen gestrichen wurde. Allerdings wurde der Konzern durch Halliburton ersetzt, ein Unternehmen, das im Zusammenhang mit derselben Ölkatastrophe steht.“6 Trotz aller Kritik ist der DJSI keineswegs nur als eine Spielwiese für philanthrope Betrachtungen oder als willkommenes Feigenblatt für große Konzerne einzuschätzen. Er hat sich vielmehr – und dies wurde nach den Erfahrungen der Finanzkrise von 2008 noch bedeutsamer – zu einem wichtigen Investitionskriterium für Anleger und zu einem Beurteilungsmaßstab für die Solidität von Unternehmen entwickelt. Große institutionelle Anleger wie z. B. Rentenfonds sind im Sinne des Risikomanagements darauf angewiesen, einen erheblichen Teil ihrer Investitionen in langfristig berechenbare Fonds und Aktienpakete von Unternehmen zu steuern. Hierbei haben Indices wie der DJSI eine wichtige Signalfunktion. Je differenzierter solche Indizes nicht nur aus der Perspektive von Anlagesicherheit und nachhaltiger Bonität von Unternehmen, sondern auch unter dem Gesichtspunkt menschenwürdiger und guter Arbeit, der Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen sowie der Partizipation der Beschäftigten ausgestaltet werden, desto wirksamer können sie eine wichtige Rolle in der emergierenden Textur internationaler Erwerbsregulierung spielen. Ein letztes hier zu erwähnendes Beispiel ist der Social Accountability International Standard SA8000. Dieser zielt wesentlich direkter als der DJSI auf die Erwerbsbedingungen: „Our mission is to promote human rights for workers around the world as a standards organization, ethical supply chain resource, and programs developer.“7 Das Hauptinstrument von SA8000 ist die Zertifizierung von Unternehmen nach einem Kriterienkatalog, der sich aus insgesamt 16 ILO-Konventionen und weiteren erwerbsrelevanten Bestimmungen ergibt.8 Dabei wird durch vielfältige Beratungs- und Trainingsangebote eine Politik der

6https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/dow_jones_sustainability_index_djsi_1598.htm; zu den Methoden des DJSI vgl. z. B. http://eu.spindices.com/documents/methodologies/ methodology-dj-sustainability-indices.pdf?force_download=true; http://djindexes.com/sustainability/?go=literature. 7http://www.sa-intl.org/index.cfm?fuseaction=Page.viewPage&pageId=472 8Vgl. http://www.sa-intl.org/_data/n_0001/resources/live/2008StdEnglishFinal.pdf.

314

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

­ nterstützung von Unternehmen verfolgt, die eine Zertifizierung anstreben. InsU gesamt sind inzwischen mehr als 3000 Unternehmen in fast 70 Ländern und ebenso vielen Branchen nach dem SA8000-Standard zertifiziert; diese Unternehmen beschäftigen insgesamt fast eine Millionen Arbeitnehmer.9 Schon hieran lässt sich erkennen, dass mit einem Instrument wie der SA8000-Zertifizierung durchaus sehr viele internationale Unternehmen für eine nachhaltige erwerbsbezogene Entwicklungsstrategie gewonnen werden können. Die tatsächlichen Wirkungen bedürfen sicherlich ähnlich wie in den anderen Fällen vielfältiger empirischer Erforschung.10 Bereits diese wenigen Beispiele zeigen die enorme Vielfalt an möglichen Vorgehensweisen der Zertifizierung. Ein erster Aspekt, nach dem sich die dargestellten Zertifizierungen unterscheiden, betrifft das Ziel der Zertifizierung. Im Falle des Arbeit Plus-Zertifikats geht es um die Verleihung eines bestimmten Siegels an wenige ausgewählte Unternehmen, die dieses dann für einen bestimmten Zeitraum als Ausweis ihrer sozialen Verantwortung führen können. Letztlich können Zertifizierungsverfahren hier nur zu zwei Ergebnissen (ja oder nein) führen. Anders verhält es sich bei dem Index Gute Arbeit, der einen Durchschnittswert für subjektiv wahrgenommene Erwerbsbedingungen angibt und für den die Datenerhebung auf der Ebene von zufällig ausgewählten Arbeitnehmern, nicht aber Unternehmen organisiert ist. Beim DJSI handelt es sich um ein zusammengesetztes Verfahren. Denn zum einen geht es um die (dichotome) Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zum Index der 40 oder 80 am nachhaltigsten wirtschaftenden Unternehmen; zum anderen geht es auch um die (ordinale) Positionierung aller einzelnen Unternehmen entsprechend eines Rankings. Beim SA8000-Index geht es wiederum um die international gültige Verleihung eines Zertifikats, welches zwar dichotom ausgestaltet ist (Ja/Nein-Entscheidung), gleichwohl die Erreichung der Zertifizierung als einen längerfristigen und systematischen Prozess von Organisationsentwicklung auffasst. Eine zweite wichtige Frage, nach deren Beantwortung sich die Zertifizierungen zum Teil sehr stark unterscheiden, betrifft den gesamten Zertifizierungsprozess. In einigen Fällen führen die Organisationen, welche den Zertifizierungstitel letztlich aussprechen (Dow Jones), Evangelische Kirche in Deutschland, SA

9Vgl.

http://www.saasaccreditation.org/?q=node/65. Kritiken am SA8000-Index vgl. und Leipziger (2009). Für weitere Indices vgl. z. B. FTSE4-Good unter http://www.ftse.com, ESI unter http://www.ethibel.org/, CSR-Tests der Stiftung Warentest unter http://www.test.de/, Domini 400 unter http://www.domini.com/ und SRI unter http://www.siricompany.com/.

10Zu

10.1  Erwerbsbezogene Zertifizierungen

315

8000) selbst in Eigenverantwortung und mit eigenen Mitarbeiterstäben bzw. eingeladenen Experten die notwendigen Prüfungen durch. In anderen Fällen (Gute Arbeit) beauftragt die nach außen zertifizierende Organisation (der DGB) ein ‚Subunternehmen‘ mit den entsprechenden Datenerhebungen und Messungen (DGB-Index Gute Arbeit GmbH). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die zertifizierende Einrichtung selbst Verfahren der Zertifizierung von Zertifizierern einrichtet und somit einen festgelegten Kreis von Organisationen schafft, die autorisiert sind, bestimmte Zertifizierungen durchzuführen (z. B. SA8000 Auditoren). Ein dritter wichtiger Aspekt der Zertifizierungen betrifft die wesentlichen Themenbereiche, die hierdurch erfasst werden. Hierbei können grob Umweltaspekte, verbraucherbezogene Kriterien, unmittelbar arbeitsbezogene Themen sowie gesamtgesellschaftliche Aspekte unterschieden werden. Ein letzter wichtiger Gesichtspunkt von Zertifizierungsverfahren schließlich ist die Frage der Dauer und möglichen Prozesshaftigkeit der Zertifizierung. Zertifikate werden normalerweise mit einer einmaligen Entscheidung für begrenzte Zeit erteilt. In aller Regel sind Zertifikate also zeitlich befristet und müssen regelmäßig neu erworben werden. Manchmal sehen Zertifikate auch verschiedene Stufen im Zertifizierungsprozess vor. So wird z. B. landwirtschaftlichen Betrieben, die von konventioneller auf ökologische Produktion umstellen wollen, für einige Jahre der Status ‚Umstellungsbetriebe‘ gegeben. Erst danach und nach einer weiteren Überprüfung kann ein bestimmtes Zertifikat (z. B. Neuland, Bio oder Demeter) verliehen werden. Die Abb. 10.1 fasst wesentliche Aspekte der sich immer weiter ausdifferenzierenden Zertifizierungslandschaft zusammen. Es wird deutlich, dass es keinen One-Best-Way gibt, sondern nur spezifische Lösungen, die den jeweiligen Umständen und Anforderungen der Organisationen und der von ihnen verfolgten Ziele sowie der organisationalen Umwelten, in denen sie agieren, angemessen sind. Es wird aber auch ersichtlich, dass eine geradezu explosionsartige Entwicklung ganz spezifischer Instrumente für die explizite und überprüfbare Standardisierung erwerbsbezogener Normen und für entsprechende Messungen eingesetzt hat. Denn der größte Teil der in Abb. 10.1 dargestellten Mechanismen ist in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden.11 Alle großen in den vorangegangenen Kapiteln bereits erwähnten Organisationen wie z. B. die ILO, die Weltbank, der IMF, die OECD, die internationalen Gewerkschaften und viele

11Als

Übersicht zu fast schon nicht mehr überschaubaren Fülle an Initiativen und Konzepten im Bereich von CSR- und Sozialstandards vgl. http://www.social-standards.info/inhalte/t_links_E.htm.

316

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

internationale Konzerne haben inzwischen sehr detaillierte Kriterienkataloge für ihre Zertifizierungsmaßnahmen und Methodenbeschreibungen für deren Überprüfung entwickelt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das von der ILO im Jahre 2007 herausgegebene „Toolkit for Mainstreaming Employment and Decent Work“ (ILO 2007). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der sehr ausführliche Kriterienkatalog, der vom ITUC im Jahre 2008 zur Arbeit mit den Zertifizierungskriterien der Global Reporting Initiative (GRI) veröffentlicht wurde (ITUC 2008), sowie das vom National Research Council der National Academies in Washington herausgegebene umfassende Werk Monitoring International Labor Standards (National Academy of Sciences 2004). Eine wichtige akademische Studie zur Entwicklung eines Indikatorensystems für die Messung der Qualität von Industriellen Beziehungen hat Weiler (2003) vorgelegt.

10.2 Erwerbsbezogenes Labeling und Monitoring Viele der bisher unter dem Stichwort Zertifizierungen behandelten Probleme treffen auch für die Prinzipien des Labeling zu. Beim Labeling geht es nicht darum, eine Organisation, ein Wirtschaftsunternehmen oder auch eine komplexe Wertschöpfungskette auf die Einhaltung bestimmter explizierter Normen hin zu überprüfen. Es geht beim Labeling vielmehr in der hier verstandenen Definition um die Zuweisung eines bestimmten Siegels zu Produkten. Die Anzahl produktbezogener Labels ist kaum noch überschaubar, ihr Schwerpunkt liegt in Bereichen wie technische Sicherheit, Umweltverträglichkeit, Energieverbrauch/Sparsamkeit und Gesundheitsverträglichkeit. Einige dieser Labels sind aber auch explizit und sogar teilweise in erster Linie auf die Einhaltung von erwerbsrelevanten Normen ausgerichtet. Hierzu gehören etwa die Labels Fair Trade und Rugmark12 sowie Flower Label Program.13 Für die Vergabe von Labels werden in aller Regel komplexe Dienstleistungen entsprechender Prüforganisationen in Anspruch genommen. Unter Monitoring schließlich kann der umfassende Prozess des Beobachtens, Messens, Evaluierens bestimmter korporativer und kollektiver Akteure (Unternehmen, Verbände etc.) verstanden werden, wobei spezifische Kriterien hierfür

12Im

Jahr 2010 stellte RugMark das neue Good-Wave-Siegel vor und ersetzte damit das bisherige RugMark-Siegel, an dessen Kernelementen sich nichts änderte; es wurden zusätzliche Sozial- und Umweltstandards als Zertifizierungskriterien aufgenommen; vgl. http:// www.goodweave.de/87/. 13Vgl. http://www.transfair.org/, http://www.goodweave.de/ und http://www.fairflowers.de/.

10.2  Erwerbsbezogenes Labeling und Monitoring

317

definiert und Formen der Berichterstattung verabredet werden. Monitoring kann durch professionelle korporative Organisationen wie z. B. gewinnorientierte oder gemeinnützige Agenturen oder auch als unabhängiges Monitoring durch Basisinitiativen oder zivilgesellschaftliche NGOs als kollektive Akteure erfolgen. In aller Regel ist das Monitoring ein wichtiger Bestandteil von Zertifizierungs- und Labelingprozessen. So findet z. B. Monitoring als der mittlere operative Teil zwischen einer ersten Evaluation, dort erfolgenden Auflagen, dem Verfolgen von Veränderungen eben durch Monitoring und der dann später erfolgenden Zertifizierung statt (etwa im Rahmen der prozessorientierten Zertifizierungen für den DJSI). Monitoring kann aber auch nach der Verleihung von Zertifikaten und Labels, nach Freiwilligen Unternehmenserklärungen, der Verabschiedung von IFAs oder aufgrund von massiven Kritiken am Verhalten internationaler Konzerne als unabhängige kritische Beobachtung durchgeführt werden, deren Adressat vornehmlich die öffentliche Meinung ist. Ein Monitoring kann allerdings auch breiter und fallbezogen eingesetzt werden, etwa um für bestimmte Länder die Einhaltung von Konventionen zu überprüfen. Ein systematisches Monitoring kann auch ein großer internationaler Konzern selbst fallbezogen in Auftrag geben, etwa um in bestimmten Abständen die Umsetzung von freiwilligen Verhaltensrichtlinien zu überprüfen und hieraus organisationsbezogene Konsequenzen zu ziehen (ohne dass mit diesem Monitoring unbedingt Zertifizierungen oder Labels verbunden sein müssen). Ein gutes Beispiel für die Bestrebungen im Bereich des Monitorings ist die sogenannte Global Reporting Initiative GRI. GRI ist aus einem gemeinsamen Projekt von CERES, einer US-amerikanischen Umweltschutzorganisation, und UNEP, dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen, seit 1997 entstanden und wurde 2002 als unabhängige Non-Profit-Organisation gegründet. GRI beschäftigte im Jahr 2015 in seiner Zentrale in Amsterdam knapp 90 Angestellte und erhielt finanzielle Unterstützung durch die EU, die australische, britische, niederländische, norwegische und schwedische Regierung sowie andere governementelle Organisationen.14 Das Hauptziel von GRI ist, dass „die Veröffentlichung der wirtschaftlichen, umweltbezogenen und sozialen Leistung genauso selbstverständlich ist wie die von Finanzreports, und dass sie wichtig ist für

14Vgl.

zur Geschichte https://www.globalreporting.org/information/about-gri/gri-history/ Pages/GRI’s%20history.aspx sowie http://www.ceres.org/ und http://www.unep.org/.

318

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

Organisationserfolg.“15 Hierzu will GRI vor allem transparente und verlässliche Daten und entsprechende Berichtswesen als Netzwerk über die Grenzen einzelner Organisationen hinaus entwickeln. Diese Zielsetzung wurde in enger Beziehung zu der Global Compact-Initiative der UN (vgl. Abschn. 9.1) ausgearbeitet. Unternehmen, die der Global Compact-Initiative beitreten, wird nahegelegt, ihre Berichte nach den GRI-Kriterien auszurichten (ITUC 2008, S. 13 f.). In den Jahren 2000, 2002, 2006, 2011 und 2013 wurden jeweils weiterentwickelte Sustainability Reporting Guidelines vorgestellt, die genaue Vorschläge enthalten im Hinblick auf die Inhalte, die Qualität und die Grenzen von Nachhaltigkeitsberichten, die von Organisationen angefertigt werden. Die in 2006 vorgestellte dritte Version dieser Richtlinien ist inzwischen als G3 Guidelines zu einem festen Begriff und Standard für die Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten geworden. Diese G3 Guidelines enthalten neben wirtschaftlichen auch umweltbezogene und soziale Indikatoren, wobei die ‚soziale Leistungsfähigkeit‘ nach den vier Aspekten Arbeitspraktiken/Gute Arbeit, Menschenrechte, Gesellschaft und Produktverantwortung sehr stark ausdifferenziert ist. Eine weitere Version der Guidelines wurde im März 2013 mit den G4 Guidelines herausgegeben, in der die Indikatoren weiter ausdifferenziert wurden. Allein die Kriterien des Unterpunktes Arbeitspraktiken/Gute Arbeit enthalten insgesamt 16 verschiedene Indikatoren, die jeweils im Einzelnen definiert und deren Messung genau beschrieben ist (vgl. Tab. 10.2). Diese 16 Indikatoren sind zudem in Kernindikatoren (core) und Zusatzindikatoren (additional) unterteilt. Während diese Indikatoren bis zu den G3 Guidelines noch in Kernindikatoren (core) und Zusatzindikatoren (additional) unterteilt waren, wurde diese Differenzierung in den G4 Guidelines nicht weiter aufrecht gehalten, sodass nun alle Indikatoren als gleichwertig angesehen werden.16 Obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Global Compact-Initiative der Vereinten Nationen bei gewerkschaftlichen und links-kritischen Akteursgruppen durchaus auf starke Kritik stieß, befasste sich der neugebildete Internationale Gewerkschaftsbund ITUC (vgl. Abschn. 6.3) sehr ausführlich mit den G3 Guidelines der GRI und verfasste die sehr ausführliche Stellungnahme „Ein Gewerkschaftsleitfaden zu den GRI-Richtlinien für Nachhaltigkeitsberichte“ (ITUC 2008).

15Vgl.

https://www.globalreporting.org/resourcelibrary/GRIs%20Combined%20Report%20 2014–2015.pdf und https://www.globalreporting.org/information/about-gri/Pages/default. aspx; zu Methodology und Indikatoren von GRI vgl. https://www.globalreporting.org/ resourcelibrary/G3.1-Quick-Reference-Sheet.pdf. 16Vgl. dazu https://www.globalreporting.org/resourcelibrary/G4-FAQ.pdf.

10.2  Erwerbsbezogenes Labeling und Monitoring

319

Tab. 10.2   GRI-Indikatoren für Arbeitspraktiken/Gute Arbeit. (Quelle: https://g4.globalreporting.org/Pages/default.aspx) Employment LA1

Total number and rates of new employee hires and employee turnover by age group, gender and region

LA2

Benefits provides to full-time employees that are not provided to temporary or part-time employees, by significant locations of operation

LA3 Return to work and retention rates after parental leave, by gender Labor/Management Relations LA4

Minimum notice period(s) regarding significant operational changes, including whether it is specified in collective agreements Occupational Health and Safety LA5

Percentage of total workforce represented in formal joint management-worker health and safety committees that help monitor and advise on occupational health and safety programs. (Additional)

LA6

Type of injury and rates of injury, occupational diseases, lost days, and absenteeism, and total number of work-related fatalities, by region and gender

LA7

Work with high incidence or high risk of diseases related to their occupation

LA8 Health and safety topics covered in formal agreements with trade unions Training and Education LA9

Average hours of training per year per employee by employee category

LA10

Programs for skills management and lifelong learning that support the continued employability of employees and assist them in managing career endings

LA11

Percentage of employees receiving regular performance and career development reviews Diversity and Equal Opportunity LA12

Composition of governance bodies and breakdown of employees per category according to gender, age group, minority group membership, and other indicators of diversity Equal Remuneration for Women and Men LA13

Ratio of basic salary and Remuneration of women and men by employee category, by significant locations of operation Supplier Asessment for Labour Practices LA14

Percentage of new suppliers that were screened using practices criteria

LA15

Significant actual and potential negative impacts for labor practices in the supply chain and actions taken Labor Practices Grievance Mechanisms LA16

Number of grievances about labor practices field, addressed, and resolved through formal grievance mechanisms

320

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

Hierin werden nicht nur die gewerkschaftlichen Positionen zu den einzelnen Grundsätzen der GRI-Richtlinien formuliert (vgl. Tab. 10.3), sondern es werden auch sehr konkrete Vorschläge zur Operationalisierung und Messung der erwerbsrelevanten Indikatoren gemacht (vgl. ebd., S. 46 ff.). In einem größeren Zusammenhang betrachtet eröffnen sich damit weit reichende neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung. Denn globale Berichterstattung zu bestimmten thematischen Schwerpunktbereichen von Unternehmensaktivitäten findet bereits seit mehr als einem Jahrhundert statt. Dies betrifft etwa die Jahresberichte und -bilanzen großer börsennotierter Unternehmen. Seit etwa zwanzig Jahren haben nun aber viele internationale Konzerne begonnen, regelmäßig auch Umweltberichte, Sozialberichte, CSR-Berichte oder allgemein Nachhaltigkeitsberichte zu veröffentlichen. Hiermit sind neue Diskursfelder für das gesellschaftliche Verhalten von Unternehmen entstanden, und die großen internationalen Konzerne müssen sich in diesen neuen Terrains dauerhaft legitimieren. Indem Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Gruppen die damit verbundenen Zertifizierungs-, Monitoring- und Labelingprozesse genauer unter die Lupe nehmen, erweitern sich die erwerbsbezogenen Regelungsgegenstände und -arenen ganz erheblich. Insgesamt bietet die gegenwärtige Entwicklungsdynamik von Zertifizierungen, Labels und Monitoring ein äußerst dynamisches und interessantes Feld sowohl für Praktiker wie für wissenschaftliche Untersuchungen. Die hier nur angedeuteten Werkzeuge und Mechanismen sind in gewisser Hinsicht als ein Bindeglied zwischen den formalen Normendefinitionen einerseits und den praktischen Interessenvertretungsstrukturen in den Organisationen andererseits zu verstehen. Die Entwicklung dieser Instrumente folgt dabei sehr komplexen Push- und Pull-Dynamiken. Einerseits entwickeln große internationale Unternehmen von sich aus die Instrumente eines systematischen ‚Sozialcontrolling‘ weiter, weil sie diese Mittel in einer immer komplexer und unübersichtlicher werdenden Welt für ihre Außenlegitimation und zunehmend auch für die Steuerung und das Management der eigenen Organisation benötigen. Andererseits beklagen gerade Gewerkschaften, andere kritische Nichtregierungsorganisationen und auch staatliche Stellen nicht selten die Unverbindlichkeit einseitiger unilateraler Erklärungen und fordern zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit den Ausweis bestimmter präziser und neutraler Zertifizierungen und entsprechender transparenter Instrumente ein. Schließlich entwickeln kleine Beratungsbüros und große internationale Consultingfirmen ihre Geschäftsfelder systematisch in die Richtung von Zertifizierungen, Labels und Monitoring weiter. Öffentliche Auftraggeber wie z. B. Entwicklungshilfeagenturen oder Organisationen der humanitären Hilfe sind

10.2  Erwerbsbezogenes Labeling und Monitoring

321

Tab. 10.3   Gegenüberstellung GRI-Richtlinien und gewerkschaftliche Vorschläge. (Quelle: ITUC 2008, S. 45) G3 Guidelines Requirements

Key points for Trade Unions:

Goals

Goals

Organisation goals relevant to labour aspects and linkage to universal standards

Trade Unions should ask companies to commit to respecting the ILO MNE Declaration concerning Multinational Enterprises and Social Policy and the OECD Guidelines for Multinational Enterprises

Policy

Policy

Brief policy describing commitment to Policy should include references to the ILO MNE labour or human rights aspects Declaration and the OECD Guidelines and ILO Core Conventions (87, 98, 111, 100, 105, 29, 138, and 182) Clear statement of the policies scope, in particular the extent to which it applies to the supply chain or other business relationships such as joint ventures, licensees and others Organisational Responsibility

Organisational Responsibility

• most senior position with operational Name and contact information of person a trade responsibility for labour aspects, or union can go to solve a problem, where they are not getting anywhere with local management • Explanation of how operational responsibility is divided Training and Awareness

Training and Awareness

Procedures related to training and raising awareness in relation to the labour aspects

Description of how trade unions are involved in the procedures related to awareness raising and training. If this is occurring, a trade union should normally already be aware of it

Monitoring and Follow up

Monitoring and Follow up

Procedures related to monitoring those Description of how and which trade unions are corrective and preventive actions inclu- involved in monitoring, corrective and preventive activities including at the supply chain ding related to the supply chain level. Do you want trade unions involved in this ­„monitoring“? Additional Contextual Information

Additional Contextual Information

• successes and shortcomings Trade unions should use this category to request • organisational risks and opportunities extensive reporting on the management approach to certain labour and human rights indicators • major changes in reporting period discussed in appendix 2 and appendix 3 • strategies for achieving goals

322

10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

zwingend auf bestimmte Monitoring-Systeme verpflichtet, um die sachgerechte Ausgabe öffentlicher Mittel nachzuweisen. Bezogen auf die historischen Entwicklungsbedingungen handelt es sich bei diesen Formen der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung um vergleichsweise junge Erscheinungen der letzten zwei Jahrzehnte. Im Vergleich zu vielen anderen Typen der Erwerbsregulierung, die in den vorangegangen Kapiteln behandelt wurden, geht es hier meistens um sehr spezifische, auf bestimmte Themen fokussierte Instrumente. Allerdings finden sich auch einige Zertifizierungsansätze, die versuchen, alle für Arbeit, Beschäftigung und Partizipation relevanten Aspekte mit einem komplexen Werkzeug zu erfassen und zu messen. Im Gegensatz zur weitgehenden Unverbindlichkeit freiwilliger Erklärungen, der Unterzeichnung von allgemeinen UN-Konventionen etc. weisen die hier behandelten Zertifizierungsinstrumente eine potenziell erhebliche Erzwingungskraft und generell gegebene weitreichende Kontrollmöglichkeiten auf. Für große Organisationen und auch für bestimmte Produkte ist es keineswegs belanglos, ob ihnen bestimmte Zertifikate oder Labels zu- oder aberkannt werden. Der Imageschaden, auf einer schwarzen Liste von nicht zertifizierten Organisationen zu erscheinen, kann enorm groß sein. Im Hinblick auf die raum-zeitliche Reichweite gibt es durchaus Unterschiede zu den bisher besprochenen Instrumenten. Während die in den Abschn. 7.1 und 7.2 vorgestellten internationalen Abkommen und Regelungen einen sehr weiten raum-zeitlichen Wirkungsrahmen umfassen, sind ihre Durchsetzungs- und Umsetzungspotenziale als vergleichsweise beschränkt zu beurteilen. Umgekehrt haben die für einzelne internationale Konzerne getroffenen Internationalen Rahmenabkommen eine relativ enge räumliche Wirkungsweise, dafür sind aber die Möglichkeiten einer effizienten Kontrolle und auch die Strukturen kollektiver Akteure mit Interventionspotenzialen vergleichsweise groß. Bei den in diesem Kapitel besprochenen Zertifizierungs-, Monitoring- und Labeling-Mechanismen ist nun die raum-zeitliche Ausdehnung sehr spezifisch in dem Sinne, dass sie immer nur für begrenzte Zeiträume auf begrenzte Organisationen und Produkte bezogen ist. Da diese Organisationen und Produkte aber mit der ökonomischen Globalisierung immer stärker um den ganzen Erdball aktiv sind bzw. verbreitet werden und weil diese Entwicklung kaum mehr rückgängig gemacht werden kann, ergeben sich mittelfristig ganz erhebliche Breiten- und Tiefenwirkungspotenziale der hier skizzierten Mechanismen. Dies ergibt sich auch aus den Betrachtungen der involvierten Akteursgruppen, die durch alle gesellschaftlichen Bereiche und Kräfte verstreut sind: von den korporativen

10.3  Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen

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­ nternehmensorganisationen selbst über staatliche Stellen bis hin zu den zivilU gesellschaftlichen Organisationen und Gruppen. Letztere spielen auch für die im nächsten Abschnitt zu behandelnden Kampagnen eine große Rolle.

10.3 Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen In den bisherigen Abschnitten wurden relativ dauerhafte und größtenteils formalisierte Normen und Mechanismen der internationalen Erwerbsregulierung behandelt. Die UN-Kernarbeitsnormen sind in entsprechenden Vertragsdokumenten in den verschiedensten Sprachen präzise festgehalten und völkerrechtlich durch unzählige staatliche Stellen geprüft und ratifiziert worden. Auch die Internationalen Rahmenabkommen sind formalisierte Vertragswerke, selbst wenn die Möglichkeiten einer rechtlichen Prüfung und Klage hier weder völkerrechtlich noch nationalstaatlich eindeutig geklärt sind. Ebenso erhalten Zertifikate und Labels ihre Wirksamkeit gerade durch formalisierte Prozesse und Definitionen, die mit festen Gültigkeitsdauern verbunden sind. Für die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen sind neben diesen zeitlich unbefristeten oder langfristigen und zwischen spezifischen Akteursgruppen relativ stark formalisierten Beziehungen auch noch andere Mechanismen von Bedeutung, die durch einen geringeren Formalisierungsgrad und eine zeitlich befristete Aktivität gekennzeichnet sind. In öffentlichen Kampagnen werden bestimmte Themen für einen befristeten Zeitraum in das öffentliche Bewusstsein gerückt, wodurch Einfluss auf bestimmte kollektive oder korporative Akteure genommen werden kann. Gegen die von dem Erdölkonzern Shell geplante Versenkung einer Ölbohrplattform in der Nordsee entwickelte sich im Jahre 1995 eine breite Protestbewegung. Durch ein Netzwerk vieler Personen und Organisationen (vor allem Greenpeace) wurde eine öffentliche Kampagne geführt, die schließlich in der Rücknahme der Entsorgungsentscheidung gipfelte. Shell ließ die Ölbohrplattform 1998 nach Norwegen transportieren, dort wurde sie zerlegt und entsorgt. Wie sich später herausstellte und von Greenpeace eingeräumt wurde, war das Ausmaß giftiger Ölrückstände auf der Plattform wesentlich geringer als während der öffentlichen Kampagne behauptet.17 Während das Beispiel der Ölplattform Brent Spar in der breiten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit fand und auf Umweltfragen konzentriert war,

17Vgl. als ersten Überblick Czégé und Kruse (2008) und http://de.wikipedia.org/wiki/ Brent_Spar.

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10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

gab es viele andere öffentliche Kampagnen, die vorwiegend auf erwerbsbezogene Fragen ausgerichtet waren. Hiervon sollen einige im Folgenden vorgestellt werden.18 Generell spielen in solchen Kampagnen Nicht-Regierungsorganisationen eine erhebliche Rolle.19 Die Clean Clothes Campaign und Aldi Die internationale Clean Clothes Campaign CCC (im deutschsprachigen Raum als Kampagne für saubere Kleidung bekannt) entstand aus einem Konflikt um die Bezahlung von Mindestlöhnen in einem Zulieferunternehmen der Warenhauskette C&A im Jahre 1989.20 Seit 1990 arbeitet CCC als Bündnis aus Gewerkschaften und anderen NGOs in inzwischen über zehn europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz, Spanien). Das Ziel von CCC ist, die Arbeitsbedingungen in der globalen Bekleidungs- und Sportindustrie zu verbessern und die Beschäftigten hierbei zu stärken.21 CCC arbeitet in einem Netzwerk von insgesamt 200 Organisationen in den entsprechenden produzierenden Ländern. Das internationale Sekretariat befindet sich seit 1990 in Amsterdam. Die Forderungen von CCC basieren wesentlich auf den ILO-Kernarbeitsnormen und richten sich auf die Einhaltung der von den Unternehmen jeweils deklarierten Grundsätze (vgl. Abschn. 7.1 und 9.1). Die wesentliche Arbeitsmethode von CCC sind Kampagnen, durch die öffentlicher Druck auf die entsprechenden internationalen Konzerne ausgeübt werden soll. Schwerpunktthemen der Kampagnen und Aktionen zur Information der Öffentlichkeit liegen in den Bereichen Sport, Discounter, Öffentliche Beschaffung sowie Welttextillabkommen. Ein interessantes Beispiel ist eine Kampagne gegen bestimmte Arbeitsbedingungen bei der Textilherstellung für den Discounter Aldi. Hierbei arbeiteten das Südwind Institut für Ökonomie und Ökumene, die Gewerkschaft Ver. di, die Evangelische Kirche im Rheinland sowie weitere lokale Akteursgruppen zusammen. Aldi ist mit Aktivitäten in 18 Ländern und fast 7000 Filialen allein in

18Vgl.

für weitere Kampagnen http://old.global-unions.org/pdf/ohsewpA_EventsProjectLong.EN.pdf; ich danke Beate Czakon, Conny Meyer und Katherina Westerholt für hilfreiche Materialrecherchen. 19Vgl. zur Rolle von NGOs aus Unternehmersicht vgl. Zentes et al. (2012); aus Gewerkschaftssicht vgl. https://www.nord-sued-netz.de/gute-arbeit/instrumente/gewerkschaften-und-ngos. 20Vgl. http://www.sauberekleidung.de/; http://somo.nl/; allgemein zu den Anfängen Scherrer und Greven (2001). 21Vgl. http://www.cleanclothes.org/about und http://www.sauberekleidung.de/.

10.3  Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen

325

Europa eine der weltweit erfolgreichsten Discounterketten und zugleich eines der am wenigsten transparenten Unternehmen. Da nicht aktienberichtspflichtig, finden sich nicht einmal Kennzahlen zu den wichtigsten finanziellen Beständen und Strömen der beiden Konzernteile Aldi-Nord und Aldi-Süd.22 Es fehlen ebenso Angaben über die sozialen und Nachhaltigkeitsaspekte der Erwerbsbedingungen in den Aldi-Filialen sowie Informationen über die Bezugsquellen vieler Aldi-Produkte. Dies gilt auch für die Herstellungsbedingungen der über Aldi vertriebenen Textil- und Bekleidungsgüter: „Über die Herkunft der bei ihnen offerierten Textilien und die Bedingungen unter denen sie produziert werden, hüllt sich das Unternehmen der beiden Albrecht-Brüder seit Jahr und Tag in Schweigen.“ (Wick 2006, S. 4). Deshalb bestand eine erste Aufgabe der entsprechenden ICC-Kampagne darin, die Bedingungen zu erfassen, unter denen die Aldi-Textilprodukte hergestellt werden. Der Netzwerkpartner SÜDWIND übernahm diese Aufgabe. Da Aldi selbst auf der Ebene der Geschäftsleitungen zu keinerlei Auskunft bereit war, mussten die Recherchen auf vielfältige andere Weise durchgeführt werden.23 Sie beruhten auf der Auswertung öffentlich zugänglicher allgemeiner Fachliteratur, eigenen Testkäufen von bei Aldi angebotenen Textilien sowie auf „Gesprächen mit ExpertInnen aus Wissenschaft, Medien, Gewerkschaften und Einzelhandel […], Kontakten mit Partnerorganisationen in Entwicklungsländern sowie Befragung von Aldi, seinen deutschen Lieferanten und Zwischenhändlern seit Ende 2005“ (Wick 2006, S. 14). Die Ergebnisse wurden unter dem Titel „All die Textilschnäppchen – nur recht und billig?“ publiziert (SÜDWIND 2007).24 Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichung stehen zwei Fallstudien über die Arbeitsbedingungen bei Aldi-Zulieferern in Indonesien und der VR China. In beiden Fallstudien konnten vielfältige Verstöße gegen gesetzliche Bestimmungen der jeweiligen Länder und gegen ILO-Konventionen verzeichnet werden. Die Geschäftsleitung von Aldi-Süd nutzte die Einladung zu einer Stellungnahme und kündigte eine Überprüfung der erhobenen Vorwürfe an (SÜDWIND 2007, S. 73 ff.). Nach Einschätzung von SÜDWIND begann damit zum ersten Mal eine grundlegende Veränderung der Aldi-Politik in Richtung Kooperation und Transparenz (SÜDWIND 2007, S. 75). Dies war nicht zuletzt auch möglich, weil Aldi mit Ergebnissen von Recherchen in den betroffenen Ländern und Standorten der

22Vgl.

http://www.aldi-essen.de/ und www.aldi-sued.de. konnten durch die Recherchen 15 Zulieferfabriken für Textilien unter anderem in Bangladesch, China und Indonesien identifiziert werden (Wick 2006, S. 14). 24Vgl. http://www.suedwind-institut.de/de/publikationen/2007/. 23Insgesamt

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10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

Zulieferunternehmen konfrontiert wurde. So wurde für die fünf Fabriken in der VR China, welche durch Mitarbeiter des Kampagnennetzwerks eindeutig als Zulieferer für Aldi identifiziert wurden, nachgewiesen, dass Beschäftigte dort daran gehindert wurden, sich ihren Arbeitsplatz frei zu wählen und über ihre Kündigung und einen Arbeitsplatzwechsel ohne Zwang selbst zu entscheiden. Um einen Wechsel der Beschäftigung – vor allem wegen der extrem langen Arbeitszeiten und schlechten Bezahlung – zu verhindern, verlangen beispielsweise die Zulieferunternehmen von neuen Arbeitnehmern eine Kaution. Diese geht dem Arbeitnehmer verloren, falls er seine Anstellung innerhalb einer festgelegten Probezeit aufkündigt. Auch nach dieser Art von erzwungener Arbeit während einer ‚Probezeit‘ hatten die chinesischen Arbeiter der untersuchten Fabriken kaum eine Möglichkeit, problemlos bzw. ohne den Verlust eines erheblichen Teiles des noch ausstehenden, oftmals über einen längeren Zeitraum eingehaltenen Arbeitslohnes zu kündigen. Um die Fluktuationsraten niedrig zu halten, verlangten nämlich die Firmen von den Beschäftigten, nur nach ausdrücklicher Erlaubnis des Unternehmens das Arbeitsverhältnis aufzulösen. Bei guter Auftragslage wurde eine solche Erlaubnis allerdings in aller Regel von den Betrieben verweigert. Beschäftigte, die dennoch kündigten, riskierten den Verlust eines Teils ihres noch nicht ausbezahlten Arbeitslohns (SÜDWIND 2007, S. 38). Diese Praktiken widersprechen eindeutig den ILO-Konventionen Nr. 29 und 105. Ein weiter Kritikpunkt betraf die Vorschriften, welche Fabriken denjenigen Arbeitnehmern machen, welche in den fabrikeigenen Schlafstätten übernachten. Für viele Arbeitnehmer waren diese – häufig auf dem Firmengelände gelegenen – Schlafräume die einzigen erschwinglichen, Unterkünfte in der näheren Umgebung. Angesichts der häufig angeordneten Überstunden arbeiteten die Beschäftigten oft bis 21 oder 22 Uhr. In einigen Betrieben mussten die Arbeiter allerdings bis 22 oder spätestens 23 Uhr bereits in den Schlafsälen sein, sodass ihre persönliche Freiheit – ähnlich wie in einem Gefängnis – völlig eingeschränkt war. Der SÜDWIND-Bericht kritisierte nicht nur diese Einschränkungen der persönlichen Freiheit, sondern auch die häufig damit verbundene Politik, Freizeitkontakte zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern möglichst zu unterbinden, um die Schwangerschaftsrate bei den weiblichen Beschäftigten gering zu halten. Denn weil viele Frauen nach einer Geburt nicht mehr in dem entsprechenden Betrieb weiter arbeiten wollten, verursachten Schwangerschaften aus Unternehmenssicht zusätzliche Kosten für Personalbeschaffung und Anlernung. Außerdem – so die Sichtweise der Betriebe – seien schwangere Arbeitnehmerinnen nicht in der körperlichen Verfassung, um das erwartete (und häufig gesetzeswidrig aufgezwungene) Ausmaß an Überstunden leisten zu können (SÜDWIND 2007,

10.3  Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen

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S. 42 ff.). Zusammengefasst ergaben die SÜDWIND-Recherchen ernste Verstöße gegen chinesische und internationale Normen in den Bereichen Arbeitszeiten, freie Wahl des Arbeitsplatzes, Arbeitslöhne, Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, Kinderarbeit sowie Verbot von Zwangsarbeit. Auf der Grundlage der SÜDWIND-Recherchen wurden konkrete Aktionsschritte organisiert mit dem Ziel, die öffentliche Meinung und vor allem die Kundschaft zu informieren und so Aldi zu einer grundlegenden Änderung seiner Einkaufspolitik im Hinblick auf erwerbsrelevante Kriterien zu bewegen. Es wurden ein Leitfaden für Konsumenten, eine an den damaligen Bundesminister für Verbraucherschutz gerichtete Postkarte sowie eine an die Beschäftigten der Aldi-Filialen zu überreichende KundInnenkarte gedruckt und verbreitet. Die CCC-Netzwerkpartner organisierten Schulungen und Veranstaltungen zum Thema und verteilten die Kampagnenmaterialien. Die Kampagne hatte insgesamt eine breite Wirkung. Fast 100 Bericht wurden hierzu in Printmedien, Hörfunk und Fernsehen verfasst; die Hauptpublikation (SÜDWIND 2007) war mit 2000 Exemplaren nach kurzer Zeit vergriffen, es wurden Tausende Einkaufsblöcke, Leitfäden, Kundenkarten, Postkarten und Flugblätter verteilt.25 Aufgrund der Presseberichte und Aktionen trat Aldi der europäischen Business Social Compliance Initiative BSCI bei. Auf der Website von Aldi-Süd findet sich inzwischen auch ein Hinweis auf ein erweitertes Qualitätsverständnis „Für Menschenrechte, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung“.26 Zusammenfassend wird die CCC-Kampagne gegen Aldi von den Verantwortlichen als erfolgreich eingeschätzt. Es wurde erstmalig in dieser Breite eine Aufmerksamkeit und ein Problembewusstsein für die Arbeitsbedingungen in Aldi-Zulieferunternehmen in Entwicklungsländern erzeugt. Das Unternehmen hat sich erstmalig zu seiner sozialen Verantwortung auch gegenüber den Erwerbsbedingungen in den Zulieferunternehmen bekannt. „Zwar handelt es sich bei der BSCI um keine unabhängige Einrichtung, die die Einhaltung der Verhaltenskodizes von Mitgliedsunternehmen in globalen Zulieferfabriken überprüft. Dennoch ist dieser Schritt ein Beweis dafür, dass öffentlicher Druck Wirkung zeigt. […] Ob Aldi jedoch nach einer ‚angemessenen‘ Vorbereitungszeit im globalen Wettbewerb eine öffentlich glaubwürdige ethische Beschaffungspolitik umsetzen wird, bleibt abzuwarten. Glaubwürdig und nachhaltig könnte diese Politik nicht sein, wenn sie sich auf eine interne Kontrolle beschränkt und nicht auf die gesamte Lieferkette bezieht sowie sich nicht in einen verbindlichen

25Vgl. 26Vgl.

http://www.suedwind-institut.de/de/publikationen/2007/. http://www.bsci-eu.com/ und http://qualitaet.aldi-sued.de/qualitaet/html/110.htm.

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10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

­ esetzesrahmen einbettet. Wenn die freiwillige CSR-Politik nicht mit einer gloG balen sozialen Rechenschaftspflicht verknüpft wird, verkommt sie tatsächlich zu einem Werbemanöver.“27 Internationale Kampagne gegen Kinderarbeit in Indien In einer neueren Studie hat sich Seidman (2007) ausführlich mit den Möglichkeiten beschäftigt, erwerbsbezogene Rechte in einer zunehmend globaleren Welt und angesichts von ‚ausgedünnten‘ Staaten zu verteidigen. An drei ausgewählten Fallbeispielen untersucht er den Zusammenhang von Arbeitsrechten als Menschenrechten, den jeweiligen nationalen Institutionensystemen und Kulturen sowie grenzüberschreitenden Kampagnen und Netzwerkaktivitäten: an dem Kampf um Arbeitsrechte im Südafrika der Apartheid, an den Auseinandersetzungen um Soziallabels und die Eindämmung von Kinderarbeit in der indischen Teppichindustrie und an dem Aufbau einer Kultur der Normeneinhaltung und -überwachung in Guatemala. Seidman will mit diesen drei Beispielfällen zeigen, dass es auch unter den Bedingungen globalisierten Wettbewerbs und hochmobiler Produktion möglich ist, die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen wirksam im Interesse der Beschäftigten zu regulieren. Solche Bestrebungen sind vor allem dann erfolgreich, wenn zivilgesellschaftliche Akteure und Menschenrechtsbewegungen Organisationen wie Universitäten, Kirchen und Interessenverbände von Aktienbesitzern mobilisieren können. Dies lässt sich an dem Beispiel der indischen Teppichindustrie und dem Problem der Kinderarbeit gut verdeutlichen. Der Wirtschaftszweig handgeknüpfter Teppiche aus Südasien war seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu einem Symbol für Kinderarbeit geworden. Nicht zuletzt, um das damit verbundene negative Image zu verändern, waren indische Teppichhersteller seit den 1990er Jahren zunehmend bereit, ihre Betriebsstätten einer öffentlichen Kontrolle zu unterziehen. Das internationale Label Rugmark, welches seit 2010 in Goodweave umbenannt wurde, entwickelte sich in den 1990er Jahren vor allem in den früh industrialisierten, reichen Ländern relativ schnell zu einem wichtigen Markenzeichen für die Eindämmung von Kinderarbeit.28 Allerdings war das Label in Indien selbst durchaus umstritten. So zog sich UNICEF

27SÜDWIND (2007, S. 17 f.) Als weitere Beispiele interessanter erwerbsbezogener Kampagnen vgl. die PlayFair-Aktivitäten im Rahmen der Olympischen Spiele in Peking (2008): http://www.playfair2008.org/ und des jährlichen Welttages der ILO gegen Kinderarbeit http://www.ilo.org/ipec/Campaignandadvocacy/WDACL/2008/lang--en/index.htm. 28Vgl. http://www.goodweave.de/.

10.3  Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen

329

aus einer Kooperation mit Rugmark nach einigen Jahren wieder zurück. Indische Politiker und auch NGO-Aktivisten standen dem Label kritisch gegenüber. Gleichwohl wurde Rugmark insgesamt als erfolgreiches Beispiel für ein neues Label mit unabhängigem Monitoringsystem angesehen. Es erschien als gelungene freiwillige Eigeninitiative der indischen Knüpfteppichindustrie, nachdem sich die staatlichen Institutionen als weitgehend unfähig erwiesen hatten, die gesetzlichen Bestimmungen zur Eindämmung von Kinderarbeit auch in die Praxis umzusetzen. Die indische Knüpfteppichindustrie konzentriert sich zu etwa drei Vierteln in der Region Mirzapur-Varanasi. Hier hat sich nach dem Niedergang der iranischen Teppichindustrie seit den 1970er Jahren eine auf Haushaltsarbeit und die Einbeziehung aller arbeitsfähigen Familienmitglieder gründende Teppichknüpferei etabliert. Das Wachstum der indischen Teppichindustrie war seit den 1980er Jahren weitaus größer als das entsprechende Wachstum auf Weltebene. Obwohl diese Industrie sehr stark exportorientiert war, blieb sie doch traditionell als familienwirtschaftliche Verlagsindustrie organisiert. Schätzungen für die frühen 1990er Jahre schwanken zwischen 11 und 100 Mio. Kindern unter 14 Jahren, die in diesem Wirtschaftszweig tätig waren; eine Studie für die Region Bhaddohi-Mirzapur kam zu dem Ergebnis, dass von den etwa 230 000 Teppichknüpfern fast ein Drittel Kinder zwischen 11 und 15 Jahren waren (ebd., S. 80). Gegen den Widerstand der Unternehmen und Exporteure der indischen Teppichindustrie, die wettbewerbsgefährdende Preiserhöhungen für den Fall befürchteten, dass keine billige Kinderarbeit mehr eingesetzt werden könne, bestand die indische Politik bis in die 1980er Jahre im Wesentlichen aus Verboten und Strafen. Erst ab Mitte der 1980er Jahre kam die wirtschaftliche Notsituation der Eltern stärker in den Blick internationaler Experten: Armut und begrenzte Arbeitsmöglichkeiten waren die Hauptursache, warum Kinder an den Knüpfstuhl und nicht in die Schule geschickt wurden. Eine Gesetzesnovelle von 1986 verschärfte aber nur die formalen Sanktionen, ohne dass staatliche Stellen an der tatsächlichen Lage der Kinderarbeit etwas änderten. Dies brachte vor allem internationale Experten und Aktivisten zu der Einsicht, dass nur durch die Mobilisierung internationalen Drucks und eine stärkere Einwirkung über die Konsumentenseite Unternehmen und Staat in Indien zur Einhaltung der gesetzten Normen bewegt werden könnten. Im Jahre 1989 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte der Kinder. Ein zentraler Gedanke darin ist, dass es ein Grundrecht auf eine Kindheit gibt, welches nicht durch nationale kulturellen oder Traditionen relativiert werden könne. Ein Jahrzehnt später wurde dann die ILO-Konvention gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit angenommen. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre entstand mit dem Rugmark-Label eine ernst zu ­ nehmende

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10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

Herausforderung für die allgegenwärtige Kinderarbeit in der indischen Knüpfteppichindustrie. Die deutsche Botschaft in Indien spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Labels (ebd., S. 89). An der Finanzierung des Labels und der damit verbundenen Monitoringaufgaben beteiligten sich die (indischen) Exporteure ebenso wie die jeweiligen Teppichimporteure. Bereits 1996 hatte Indien 300 000 mit dem Rugmark-Label versehene handgeknüpfte Teppiche exportiert, diese Zahl stieg bis 2003 auf 2,5 Mio. Stück an. Obwohl das Rugmark-Label theoretisch alle Elemente eines unabhängigen, durch qualifizierte Vollzeitexperten und durch nicht angekündigte Inspektionen überwachten Siegels hatte, gab es doch auch ernste Kritik an seiner Wirkung. So mussten die Exporteure nur die Betriebsstätten für Inspektionen melden, die für den Export in solche Länder produzierten, in denen das Label von den Importeuren auch ernst genommen wurde. Da das Rugmark-Siegel in vielen Ländern, auch den USA, keine große Aufmerksamkeit erhielt, blieb der Druck auf die Produzenten vergleichsweise schwach. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden zudem weitere Labels für handgeknüpfte Teppiche kreiert: das indische Kaleen-Label, das deutsche Care and Fair-Label und das schweizerische Step-Label (ebd., S. 94). Als Erfahrungen aus der indischen Teppichindustrie und dem Kampf gegen Kinderarbeit lässt sich nach Seidmann (ebd., S. 75 f.) verallgemeinern, dass das Prinzip des Labeling bei solchen Themenstellungen am wirksamsten ist, wo es um allgemein anerkannte Arbeitsrechte als Menschenrechte und nicht um eher umstrittene Ansprüche geht. Hinsichtlich der Produkte zeigte sich, dass Kampagnen leichter erfolgreich zu organisieren sind, wenn es sich um ein für alle Bürger und Kunden sichtbares und ‚handfestes‘ Produkt (wie einen Teppich) und nicht um indirekte oder nicht sichtbare Produktbestandteile handelt (wie z. B. Kugellager, die in Autos oder Waschmaschinen eingebaut werden). Weiterhin sind konsumentenorientierte Kampagnen dann Erfolg versprechender, wenn es sich um nachfrageelastische (Luxus-)Güter und nicht um Grundprodukte des täglichen Bedarfs handelt. Schließlich eignete sich das Thema des Verbotes von Kinderarbeit besonders gut, weil fast alle Menschen dieses Thema – stärker als viele andere erwerbsbezogene Fragen – in den Bereich grundlegender Menschenrechte einordnen. Im konkreten Fall des Rugmark-Labels haben sich einige Wirkungen in Richtung Eindämmung von Kinderarbeit gezeigt. Gleichwohl wurden diese vor allem durch die Defizite im Monitoring und bei der Entwicklung von Alternativen für die Familien (Einkommen) und Kinder (Schulausbildung) sowie durch die einsetzende Vielzahl konkurrierender Label nachhaltig beeinträchtigt.

10.3  Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen

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Möglichkeiten und Grenzen von erwerbsbezogenen Kampagnen An den dargestellten Beispielen lassen sich einige Gemeinsamkeiten von Kampagnen erkennen. Der Begriff Campagne kommt ursprünglich aus dem französischen Militärsprachgebrauch und gibt einen Zeitraum an, in dem ein Herr aus den festen Unterbringungen ins Feld zieht. Stehende Heere also organisierten Campagnen im Feld. Später wurde der Begriff auf politische Auseinandersetzungen übertragen. Grundsätzlich versteht man unter Kampagnen zielgerichtete und zeitlich befristete Handlungsstrategien, in denen verschiedene Aktionen zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit und eines gezielten politischen bzw. sozialen Drucks auf kollektive oder korporative Akteure mithilfe unterschiedlichster Formen kommunikativer Instrumente (Publikationen, Massenaktionen, besonders sichtbare Einzelaktionen etc.) durchgeführt werden. Häufig sind in solche Kampagnen, die zeitlich befristet auf spezifische Ziele hingeführt werden, auch Organisationen eingebunden, die längerfristigen Bestand haben und weitergehende Programmatiken verfolgen. Meistens spielen in öffentlichen Kampagnen allerdings auch individuelle und kollektive Akteure eine Rolle, die sich speziell für diese Kampagne zusammengefunden haben und engagieren. Insofern vereinen Kampagnen Elemente organisationalen Handelns und sozialer Bewegungen. Letztere zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie einen weitaus geringeren Grad der Formalisierung aufweisen als Organisationen. Soziale Bewegungen haben keine eindeutigen Mitgliedschaftsregeln, eher unspezifische generelle Zielsetzungen und Motivstrukturen und keine klare innere stabile Struktur (Rucht und Neidhardt 2007). Trotz ihres zeitlich befristeten Charakters und der nur schwachen Formalisierung sollte die Bedeutung von öffentlichen Kampagnen keineswegs unterschätzt werden. Selbst große Organisationen wie Greenpeace oder Attac sind aus Kampagnen hervorgegangen und arbeiten vorwiegend in der Form und im Rhythmus von Kampagnen. Diese ermöglichen die Fokussierung auf spezifische Aufgabenstellungen und die gezielte Verbindung mit anderen Kräften außerhalb der Organisation. Durch das zeitlich befristete Agenda-Setting in der öffentlichen Aufmerksamkeit können auch kollektive oder korporative Organisationen und Entscheidungsträger nachhaltig beeinflusst werden. Gerade in Bezug auf Erwerbsregulierung sind viele Organisationen und auch soziale Institutionen aus Kampagnen hervorgegangen. Dies gilt schon für die gesetzliche Verankerung etwa des Acht-Stundentages oder des 1. Mai als Tages der Arbeit und der Arbeitnehmer. Es trifft aber ebenso auf die Gewerkschaften als große Interessenorganisationen, die aus sozialen Bewegungen und Kampagnen hervorgegangen sind. Angesichts der zunehmenden Mediatisierung der Welt haben Kampagnen

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10  Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen

einen systematischen und zukünftig eher noch bedeutsamer werdenden Platz als Typus internationaler Erwerbsregulierung. Im Hinblick auf die Besonderheiten dieses Regulierungstypus im Vergleich zu den anderen bisher behandelten zeichnen sich Kampagnen also durchaus durch eine sehr lange Tradition aus. Nachdem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst die formalen Organisationen der Erwerbsparteien, wie z. B. die Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände ein Monopol auf alle Fragen der Erwerbsregulierung für sich reklamieren wollten, haben seit der Studentenbewegung und vor allem seit den globalisierungskritischen sozialen Bewegungen öffentliche Kampagnen gerade auch im Bereich der Erwerbsregulierung erheblich an Breite und Bedeutung gewonnen. Ein Grund hierfür ist sicherlich auch die Fixierung der Verbandsstrukturen im Bereich der Erwerbsregulierung (vor allem der Gewerkschaften) auf die nationalstaatlichen Containerräume. Im Hinblick auf die Regelungsgegenstände und Themenbereiche lässt sich sagen, dass öffentliche Kampagnen jeweils sehr spezifische Themen fokussieren und spezifische Probleme einer Lösung zuführen wollen. Nimmt man das Instrument der Kampagnen aber insgesamt, so zeigt sich eine große Vielfalt an Regelungsgegenständen: von Kinderarbeit und gewerkschaftlicher Organisationsfreiheit bis hin zu Mindestlöhnen und Begrenzungen der Arbeitszeiten. Die raumzeitliche Reichweite öffentlicher Kampagnen lässt sich nicht immer einfach abschätzen, sie kann sehr stark variieren. In aller Regel beziehen Kampagnen bestimmte Aufmerksamkeitskerne in einigen Ländern ein, wirken aber kaum global oder in einer solchen Breite, wie dies etwa für die in den Abschn. 7.1 bis 7.3 behandelten Typen der Erwerbsregulierung gilt. Auch die zeitliche Begrenzung der Kampagnen lässt ihre Reichweite als eher reduziert erscheinen. Sehr häufig allerdings führen Kampagnen auch zur Bildung neuer Organisationen oder institutionalisierter Verfahren. Dies konnte am Beispiel der Kampagne für saubere Kleider gezeigt werden, die inzwischen zu vielfältigen festen Handlungsprogrammen sogar der öffentlichen Entwicklungshilfeorganisationen geworden ist.29 Nicht selten auch werden die im Rahmen einer Kampagne gefundenen neuen Regelungen aus ihrer raumzeitlichen Begrenzung dadurch verallgemeinert, dass sie zum Regelungsinhalt weitergehender Verträge werden. Dies gilt etwa für die Kernarbeitsnormen in Bezug auf Kinderarbeit (vgl. Senghaas-Knobloch et al. 2003). Die Wirksamkeit öffentlicher Kampagnen hat eine Kurzfrist- und häufig auch eine Langfristperspektive. Kampagnen haben häufig

29Vgl.

http://www.gtz.de/de/themen/uebergreifende-themen/sozial-oekostandards/7193.htm.

10.3  Erwerbsbezogene öffentliche Kampagnen

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sehr spezifische kurzfristige Ziele, wie etwa die Verhinderung von Werksschließungen oder die Wiedereinstellung von Beschäftigten oder die schriftliche Zusage der Zahlung eines Mindestlohns. Je nach den konkreten Inhalten sind Kontrollund Monitoring-Prozesse wichtig für die Kontrolle der Einhaltung gegebener Zusagen. Allerdings zeigt sich hier, dass Kampagnen schnell zu ‚zahnlosen Tigern‘ werden, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit wieder zurückgegangen ist. Während Organisationen dauerhafte Mechanismen der Ressourcenmobilisierung besitzen, liegt eine Schwäche von öffentlichen Kampagnen sicherlich darin, dass ihre Einflussstärke punktuell sehr ansteigen kann, anschließend nach Verebben der öffentlichen Aufmerksamkeit allerdings auch wieder sehr schnell zurückgeht. Die Hauptakteursgruppen innerhalb von Kampagnen sind in aller Regel komplexe ‚Netzwerke von Netzwerken‘ aus Einzelpersonen, losen Aktionsnetzwerken und etablierten kleinen und größeren Organisationen. Je nach der spezifischen Zusammensetzung kommen öffentliche Kampagnen damit entweder sozialen Bewegungen oder formalen Organisationen näher. Entsprechend gestaltet sich ihre Verlaufs- und Wirkungsdynamik. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass der Regulierungstypus öffentlicher Kampagnen kaum angemessen beurteilt werden kann, wenn er nicht im spezifischen Gesamtzusammenhang der Textur internationaler Erwerbsregulierung betrachtet wird.

Entstehende supra- und transnationale Governance

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In den vorangegangenen Abschnitten wurden verschiedene Typen der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung vorgestellt. Dabei zeigte sich, dass Fragen der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen auf der Ebene der UN und der internationalen Organisationen gerade seit dem neuen Jahrhundert zunehmend Eingang gefunden haben. In der Europäischen Union besteht eine besonders engmaschige Textur von inter- und supranationalen formellen Normen und Einrichtungen sowie transnationalen Netzwerkbeziehungen und Organisationen wie z. B. den Euro-Betriebsräten. Im letzten Jahrzehnt sind mit der Global Compact-Initiative, unternehmensbezogenen Welt-Arbeitnehmervertretungen sowie den Internationalen Rahmenabkommen auch auf der Ebene grenzüberschreitend aktiver Konzerne neue Mechanismen der uni- und bilateralen Erwerbsregulierung entstanden. Schließlich haben sich aus den Initiativen von Profit- und Non-­ Profit-Organisationen heraus vielfältige Formen der organisations- und produktbezogenen Zertifizierungen und des Labeling entwickelt, auf die auch immer ausdifferenziertere Überprüfungs- und Monitoring-Instrumente angewandt werden können. Zudem konnten produkt-, ereignis- oder organisationsbezogene Kampagnen – wenn auch weniger dauerhaft und organisiert als andere Typen der Erwerbsregulierung – ihren Einfluss auf die Regulierung und Verbesserung von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsverhältnissen geltend machen und ausbauen. All diese verschiedenen Typen der internationalen Erwerbsregulierung sind zum Teil unabhängig voneinander entstanden und entfalten ihre unmittelbare Wirkung und Reichweite auch in jeweils sehr spezifischen Konfigurationen (vgl. Kap. 4, vor allem Tab. 4.2). Wie aber bereits bei der Darstellung aller bisherigen Typen der grenzüberschreitenden Erwerbsregulierung deutlich wurde, operieren diese nicht unabhängig voneinander. Vielmehr existieren vielfältige Bezüge und Wechselwirkungen etwa zwischen den ILO-Mindeststandards und den Internationalen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_11

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11  Entstehende supra- und transnationale Governance

Rahmenabkommen, Zertifizierungen oder erwerbsbezogenen Kampagnen. Es handelt sich hierbei ja um analytisch unterschiedene Idealtypen: In der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind die entsprechenden Normensysteme, die Akteursgruppen und Organisationen und auch die Regulierungsmechanismen eng ineinander verwoben. So nimmt etwa die gleiche internationale Gewerkschaftsgruppe oder GUF an der Aushandlung eines Internationalen Rahmenabkommens teil, die über die nationalen Gewerkschaftsdelegierten auch Einfluss auf die ILO und deren Verabschiedung von Arbeitskonventionen zu nehmen versucht und die an einer internationalen Kampagne gegen Kinderarbeit beteiligt ist. Ähnliches gilt für internationale Unternehmen, für Nationalstaaten, für IGOs und für INGOs. Die einzelnen Typen internationaler Erwerbsregulierung entwickeln sich als Teile eines dichter – und damit stärker, aber auch unübersichtlicher – werdenden Geflechtes grenzüberschreitender Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation. Eine komplexe internationale Governance-Textur als Netzwerk von Netzwerken entsteht, in der verschiedene Typen der Erwerbsregulierung (vgl. Kap. 4) und differente Typen der Internationalisierung (vgl. Abschn. 6.2) miteinander verwoben sind. Jede ernsthafte Erörterung der Stärken und Schwächen, der Entwicklungspotenziale und der Begrenzungen der einzelnen Regulierungstypen muss diese im Gesamtrahmen der emergierenden Governance-Textur internationaler Erwerbsregulierung analysieren. An zwei Beispielen, den bereits vorgestellten Euro-Betriebsräten und den OECD-Multinational-Guidelines soll dies im Folgenden verdeutlicht werden. Während in den vorhergehenden Abschnitten also die einzelnen Regulierungstypen in ihren jeweils spezifischen historischen Entstehungsbedingungen, raum-zeitlichen Reichweiten, den hauptsächlichen Akteursgruppen und Regelungsinhalten im Mittelpunkt standen, geht es im Folgenden vorwiegend um die Vernetzung und das Zusammenwirken ­verschiedener Typen.

11.1 Europäische Governance der Erwerbsregulierung Ein herausragendes Beispiel für die engmaschiger werdende Netzwerktextur internationaler Erwerbsregulierung ist die Europäische Union. Bereits im Kap. 8 wurde die enge Verzahnung der Europäischen Sozialpolitik mit einzelnen Einrichtungen wie dem Sozialen Dialog und den Euro-Betriebsräten angedeutet. Die komplexe Verzahnung der unterschiedlichen Elemente, die als inter-nationale, supranationale, transnationale, glokale und Diaspora-Beziehungen auf der europäischen Ebene die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen beeinflussen und regulieren, kann hier nicht annähernd erschöpfend

11.1  Europäische Governance der Erwerbsregulierung

337

behandelt werden.1 Das Entstehen einer europäischen Governance der Erwerbsregulierung als ein Mehrebenensystem speist sich generell aus intergouvernementalen Verhandlungen (z. B. des Ministerrates), der Schaffung supranationaler Einrichtungen (z. B. des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission), der inter-nationalen Interessenregulierung zwischen selbstständigen nationalen und europäischen Organisationen (z. B. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) sowie kampagnenförmiger und dauerhafter transnationaler Zusammenarbeit von NGO-Akteursgruppen. Ausgehend vom Organ des Euro-­ Betriebsrats (EBR) sollen einige dieser Verknüpfungen aufgezeigt werden. Die Entstehungsdynamik und die praktische Arbeit der EBR basiert auf einer überaus komplexen Verschränkung von Inter-Nationalisierung, Supra-­ Nationalisierung, (Re-)Nationalisierung und Transnationalisierung der Erwerbsregulierung. Die Entstehungsgeschichte der EBR-Richtlinie ist vor allem ein Beispiel für internationale Verhandlungen zwischen den Vertretern der europäischen Mitgliedsstaaten und den entsprechenden nationalen und internationalen Interessenverbänden. Verabschiedet wurde die EBR-Richtlinie 1994 durch den Europäischen Ministerrat als Organ der souveränen Nationalstaaten. Durch diese internationale Verabschiedung der EBR-Richtlinie wurden aber gleichzeitig eine supranationale europäische und eine nationale Regulierungsebene neu eröffnet und definiert. Die supranationale Ebene wurde konstituiert durch die Dynamik der Implementierung und Weiterentwicklung der EBR: Alle ratifizierenden Staaten verpflichteten sich zu Umsetzungsgesetzgebungen auf nationaler Ebene und delegierten an die EU die Kompetenz, die Einhaltung dieser nationalen Verpflichtungen zu kontrollieren sowie einen europäischen Prozess der Revision der EBR-Richtlinie (zwischen 2000 und 2004 bzw. 2009) zu organisieren.2 Auf europäischer Ebene entstand ein auf die EBR-Implementation

1Vgl.

als Überblick Keller (2001) und http://ec.europa.eu/social/home.jsp?langId=en, http://www.eurofound.europa.eu/eiro/index.htm sowie http://www.etui.org/research; zu rechtlichen Regelungen vgl. http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=157. 2So heißt es z. B. im Artikel 14 der EBR-Richtlinie: „(1) Die Mitgliedstaaten erlassen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie spätestens zum 22. September 1996 nachzukommen, oder vergewissern sich spätestens zu diesem Zeitpunkt, daß die Sozialpartner mittels Vereinbarungen die erforderlichen Bestimmungen einführen, wobei die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit sie jederzeit gewährleisten können, daß die in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Ziele erreicht werden. Sie setzen die Kommission hiervon unverzüglich in Kenntnis. (2) Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten.“

338

11  Entstehende supra- und transnationale Governance

bezogenes Verantwortlichkeits-, Berichts- und Rechtswesen, welches zu einer supranationalen ‚normativen Kraft des Faktischen‘ beiträgt. Die EBR stabilisieren sich im Hinblick auf ihre institutionelle Verankerung als supranationale europäische Organe der Erwerbsregulierung. Gleichzeitig fand mit der Umsetzung der EBR-Richtlinie von 1994 in jeweils nationales Recht bis zum Jahre 1996 eine (Re-)Nationalisierung eines Teiles der Umsetzungsbestimmungen statt. Dies bezog sich vor allem auf Fragen der Zusammensetzung und Entsendungsmechanismen von Vertretern in die ‚besonderen Verhandlungsgremien‘ (die jeweils in den Unternehmen die Einrichtung von EBR organisieren sollten), auf die Regeln bezüglich des Vorsitzes der jährlichen Sitzungen zur Unterrichtung und Anhörung des EBR, auf die Finanzierung der Arbeit des Europäischen Betriebsrats (z. B. Begrenzung der Übernahme der Kosten für externe Sachverständige) und auf die Mechanismen der Bestimmung der nationalen Arbeitnehmervertreter für den EBR. Diese (Re-) Nationalisierung der EBR-Umsetzungsbestimmungen führte z. B. dazu, dass in Ländern mit einer starken nationalen Betriebsrätetradition (wie in Deutschland) die nationalen Delegierten für die EBR von den nationalen Betriebsräten bestimmt werden können (und in vielen Fällen auch werden), während in Ländern mit einer ‚monistischen‘ Interessenregulierungsstruktur durch Gewerkschaften die jeweiligen Gewerkschaften die nationalen EBR-Delegierten bestimmen. In der Umsetzung der international verabschiedeten Richtlinie zu Einrichtung eines supranationalen EBR wurden die nationalen Besonderheiten der Erwerbsregulierung nicht nur berücksichtigt, sondern in aller Regel durch die je spezifischen landesbezogenen Regulierungen hinsichtlich z. B. der Entsendungsmechanismen in den EBR fortgeschrieben und akzentuiert. Schließlich eröffnet die Einrichtung der EBR auch die Möglichkeiten einer Transnationalisierung der Erwerbsregulierung. Denn die konkret in den einzelnen Unternehmen auf europäischer Ebene arbeitenden EBR-Gremien können die supranationalen und nationalen formalen Richtlinien auf sehr unterschiedliche Weise mit Leben und Inhalt füllen. Letztlich handelt es sich bei den EBR um europäische Non-Profit-Organisationen, die in und bezogen auf internationale bzw. europäische Profit-Organisationen als Organ der Erwerbsregulierung tätig werden. Als Organisationen können EBR idealtypisch den Charakter von fokalen, globalen, multinationalen oder transnationalen Gebilden annehmen. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse legen die Vermutung nahe, dass es sich sehr häufig um fokale oder globale Organisationsformen handelt, in denen im Sinne der Zentrum-Peripherie-Figur ein klares Macht- und Koordinationszentrum im Stammsitzland des jeweiligen Unternehmens auszumachen ist (vgl. Hertwig et al. 2009).

11.1  Europäische Governance der Erwerbsregulierung

339

Während (lokale und auch nationale Konzern-)Betriebsräte oder Fabrikkomitees einem einheitlichen nationalen Recht und institutionellen setting (z. B. in Deutschland oder Spanien) unterliegen, gestaltet sich dies bei den EBR wesentlich komplexer. Denn deren rechtliche Grundlage ist vor allem europäisches Recht (konkret: die EBR-Richtlinie 95/94/EC), welches jeweils durch nationale Gesetzesbestimmungen konkretisiert wurde.3 Die auf der europäischen Ebene operierenden Unternehmen als Wirtschaftsorganisationen selbst dagegen bleiben – anders als bei der societas europeae (vgl. Abschn. 8.1) – ausschließlich dem jeweiligen Recht und institutionellen setting des Landes unterworfen, in dem sie mit ihren jeweiligen Unternehmensteilen tätig sind. Unter formal-rechtlichen Gesichtspunkten ist der EBR also eine europäische Organisation im Sinne klarer Mitgliedschaftsregeln, einer gegebenen Struktur und der klaren Zielsetzung der Repräsentation der Arbeitnehmer und des Dialogs mit der ‚obersten Leitung‘ auf europäischer Unternehmensebene – es handelt sich bei dem EBR also um eine europäische Non-Profit-Organisation. Während EBR also einerseits auf supranationalem und auf nationalem (Arbeits-) Recht aufbauen, ist ihre Zusammensetzung sehr stark durch transnationale oder Diaspora-Strukturen bestimmt. Denn die einzelnen Länder, in denen Unternehmensteile operieren, entsenden in der Regel Delegierte in den EBR entsprechend ihres relativen Gewichts an Beschäftigten. Dies kann zu dezentralen transnationalen EBR-Strukturen führen, wenn z. B. die Unternehmenseinheiten in Europa relativ gleichmäßig verteilt sind und kein eindeutiges starkes Machtzentrum vorhanden ist (z. B. IKEA). Es kann aber auch zu ausgeprägten Zentrum-Peripherie-Strukturen im Sinne einer Diaspora-Internationalisierung führen, wenn ein großer Teil aller in Europa in dem entsprechenden Unternehmen Beschäftigten in einem Land konzentriert ist (z. B. Daimler). Je nach dem Internationalisierungstyp des EBR variiert auch seine institutionelle Vernetzung im Gesamtkontext der europäischen Erwerbsregulierung. Diese kann vorwiegend vom Stammland des Unternehmens und seinem Regime der Erwerbsregulierung bestimmt sein (z. B. im Falle Daimlers die Dominanz der deutschen Mitbestimmungssystems im EBR). Sie kann aber auch vom europäischen Regime der EBR-Regulierung bestimmt sein (z. B. in den Fällen vergleichsweise schwacher nationaler Beteiligungsrechte wie in Großbritannien). Die angedeutete Perspektive auf EBR als europäische Non-Profit-­Organisationen innerhalb europäischer Profit-Organisationen (vgl. ausführlicher Hertwig et al. 2009) ermöglicht es, die verschiedenen Ebenen der europäischen Governance

3Zur

bisherigen europäischen Rechtsprechung durch den EuGH bezüglich EBR vgl. http:// www.euro-betriebsrat.de/ebr/931.php.

340

11  Entstehende supra- und transnationale Governance

von Erwerbsregulierung in ihrem Zusammenwirken zu analysieren. So ist es auch möglich, EBR nicht nur hinsichtlich des Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Spannungsverhältnisses zu untersuchen, sondern auch in ihrer Bedeutung für lokale und nationale Differenzierungen im europäischen Vergesellschaftungsprozess. So kann der Charakter von EBR variieren zwischen a) mehr oder weniger folgenlosen multinationalen Versammlungen nationaler oder standortbezogener Partikularinteressen (z. B. wegen sehr schwachem Regulierungseinfluss oder fehlendem Management auf der europäischen Ebene), b) einer starken (globalen) oder schwachen (fokalen) Dominanz und Durchsetzung von Stammsitzinteressen in einem klaren Zentrum-Peripherie-Verhältnis und c) durchaus starken Koordinations- und Interessenregulierungsmechanismen auf der europäischen Ebene, ohne dass diese ein eindeutiges Zentrum von Ressourcen, Macht, Wissen und Kultur besäßen (transnationale europäische Konstellation). Schon die Betrachtung der komplexen Mehrebenenstruktur, die EBR selbst annehmen können und in die sie hinsichtlich ihrer rechtlichen Grundlagen und praktischen Akteursgruppen eingebunden sind, verdeutlicht die vielfältigen ‚Fäden‘, über die dieser spezifische Regulierungstyp der EBR in die europäische Governance der Erwerbsregulierung eingewoben ist. Weitere wichtige Elemente dieser europäischen Governance, die hier nur angedeutet seien, sind etwa die materialen europäischen Rechtsnormen zu Fragen wie Elternzeit, Teilzeitbeschäftigungen, Gesundheitsschutz, Informations- und Konsultationsrechten sowie dem Verbot der Diskriminierung in der Arbeit, die für die Arbeit der EBR relevante Bezugspunkte sein können. Das Gleiche gilt für die bereits angesprochenen Möglichkeiten europäischer Erwerbsregulierungen durch den Europäischen Dialog (vgl. Abschn. 8.1) und die Bestrebungen der Gewerkschaften, die Tarifpolitik unilateral stärker auf der europäischen Ebene zu koordinieren und als eigenständiges Aushandlungsfeld bilateral zu entwickeln. Solche Entwicklungen können durch aktive EBR selbst aktiv vorangetrieben werden, und umgekehrt können EBR durch die Verabschiedung europäischer Tarif(rahmen)regelungen neue Ankerpunkte für ihre eigene Arbeit gewinnen. Schließlich zeigen verschiedenste Kampagnen gerade im Zusammenhang von drohenden Werksschließungen, dass EBR eine wichtige Katalysatorfunktion für die Herstellung einer grenzüberschreitenden Öffentlichkeit und sozialer Aktionsbündnisse spielen können. Aus Managementsicht schließlich können die EBR in europaweit operierenden Unternehmen eine wichtige Kommunikations- und Abstimmungsfunktion für die Arbeitspolitiken der einzelnen Standorte übernehmen. Die Europäisierung des Managements und speziell der Personal- und Arbeitspolitik ist ein wichtiger und notwendiger Bestandteil der emergierenden europäischen Governance der Erwerbsregulierung. Im nächsten Abschnitt wird

11.2  OECD-Leitsätze zu multinationalen Unternehmen

341

mit den OECD-Multinational Guidelines eine Governance-Struktur vorgestellt, die in ihren rechtlichen Grundlagen zwar weniger ausdifferenziert ist als die europäische Governance, dafür aber regional nicht auf ein bestimmtes geografisches Gebiet begrenzt ist.

11.2 OECD-Leitsätze zu multinationalen Unternehmen Die Geschichte und gegenwärtige Funktionsweise der von der OECD verabschiedeten ‚Leitsätze für multinationale Unternehmen‘ (Guidelines for Multinational Enterprises) ist ein gutes Beispiel für das Zusammenwirken unterschiedlicher Typen der Erwerbsregulierung. Zunächst handelt es sich um ein von einer internationalen Organisation, der OECD, entwickeltes komplexes Verfahren zur Stärkung verantwortungsvollen Verhaltens multinationaler Unternehmen. Zweites bezieht es damit als wichtigen Adressaten und Akteur international operierende Unternehmen als Profit-Organisationen mit ein. Drittens sind nach der Novelle der Guidelines in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre neben den Gewerkschaften auch andere Non-Profit-Organisationen systematisch in den Umsetzungs- und Überwachungsmechanismus der Guidelines einbezogen. Und schließlich dienen nationalstaatliche Stellen in den OECD-Mitgliedsländern als Kontaktstellen bei der Verwirklichung der Leitsätze. Neben den unterschiedlichsten Akteursgruppen sind also die lokale, nationale, internationale und Unternehmensebene in diesen Typus von Erwerbsregulierung einbezogen. Ohne einen historischen Rückblick auf ihre Entstehungsgeschichte lässt sich die spezifische mehrdimensionale und Mehrebenen-Governance der OECD-Leitsätze kaum verstehen. Die ‚Organisation für Wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung‘ (OECD) ist ein Zusammenschluss der früh industrialisierten und wirtschaftlich führenden Länder. Ihre Gründungsvereinbarung wurde 1960 von 20 Ländern unterzeichnet, deren Parlamente dann die Mitgliedschaft in den zwei folgenden Jahren ratifizierten (vgl. Tab. 10.1). Die Ziele der OECD waren ursprünglich sehr stark auf den Abbau von Handelshemmnissen und Investitionsbarrieren orientiert. Sie haben sich inzwischen ausdifferenziert und betreffen: Die Unterstützung nachhaltigen Wirtschaftswachstums, die Förderung von Beschäftigung, Anhebung des Lebensstandards, die Aufrechterhaltung der Finanzstabilität und die Unterstützung von Drittländern bei der wirtschaftlichen Entwicklung und Förderung des Welthandels.4 Schon in ihrer ‚Erklärung zu Internationalem Handel und

4Vgl.

http://www.oecd.org/about/.

342

11  Entstehende supra- und transnationale Governance

Investitionen‘ von 1976 hat sie als eines der vier Hauptinstrumente zur Förderung von Welthandel und ausländischen Direktinvestitionen die sogenannten ‚Leitsätze für Multinationale Unternehmen‘ (Guidelines for Multinational Enterprises) erklärt. Diese Richtlinien sollten ein verantwortliches Unternehmenshandeln fördern und so die Widerstände und Bedenken gegen eine weitere wirtschaftliche Internationalisierung schwächen. In der Erklärung der Leitsätze für multinationale Unternehmen von 1976 waren keinerlei formale Überprüfungs- oder gar Erzwingungsmechanismen für die dort aufgestellten Normen vorgesehen. Es sollte aber nicht unterschätzt werden, dass damit eigentlich schon sehr früh ein Verhaltenskatalog für internationale Unternehmen vorlag, der zu verantwortlichem Verhalten in Fragen der Beschäftigungsformen, der Arbeitsbeziehungen, fairen Wettbewerbs, der Menschenrechte, des Steuerzahlens, des Umweltverhaltens, der Informationsweitergabe sowie der Forschungsaktivitäten aufforderte. Der Verhaltenskatalog hatte zudem eine fast globale Reichweite, da sich alle OECD-Mitgliedsländer und acht Nicht-OECD-Länder (Argentinien, Brasilien, Chile, Estland, Israel, Litauen und Slowenien) verpflichteten, in ihren Ländern die Beachtung der Leitsätze durch die dort operierenden Unternehmen zu fördern. Hierzu sollten die unterzeichnenden Länder unter anderem die Einrichtung ‚Nationaler Kontaktstellen‘ (National Contact Points, NCP) veranlassen, die als Anlaufstellen für konkrete Nachfragen bzw. Beschwerden bezüglich des Verhaltens konkreter Unternehmen vorgesehen waren (Tab. 11.1).5 Für fast zwanzig Jahre behielten die OECD-Leitsätze für Multinationale Unternehmen weitgehend den Charakter von international bzw. intergouvernemental ausgehandelten Verhaltensstandards, die auf die Beeinflussung des Verhaltens internationaler Unternehmen abzielten. Die Überwachung des tatsächlichen Unternehmensverhaltens war grundsätzlich passiv organisiert, denn es wurden keine Überprüfungen durch staatliche Behörden vorgenommen oder Berichte von den entsprechenden Unternehmen angefordert. Vielmehr fungierten die Nationalen Kontaktstellen als Empfangsadressen für Beschwerden. Diese National Contact Points (NCPs) konnten zwar theoretisch von den verschiedensten Betroffenengruppen angesprochen werden. Aber nicht selten bestanden solche NCPs nur aus einer beauftragten Person in einem bestimmten Ministerium oder Verwaltungsstab, und auch vonseiten der potenziellen Akteursgruppen (Gewerkschaften, NGOs etc.) wurden dem Kontaktieren der NCPs wenig Erfolgsaussichten eingeräumt.

5Vgl.

zur Geschichte und zur aktuellen Entwicklung der guidelines aus der Sicht der OECD deren Website http://www.oecd.org, vor allem http://www.oecd.org/corporate/mne/, wo auch die Richtlinien selbst sowie die Jahresberichte hinterlegt sind.

11.2  OECD-Leitsätze zu multinationalen Unternehmen

343

Tab. 11.1  OECD-Mitgliedsländer und Beitrittsdatum Australien

07.06.1971

Luxemburg

07.12.1961

Belgien

13.09.1961

Mexiko

18.05.1994

Chile

07.05.2010

Neuseeland

29.05.1973

Dänemark

30.05.1961

Niederlande

13.11.1961

Deutschland

27.09.1961

Norwegen

04.07.1961

Estland

09.12.2010

Österreich

29.09.1961

Finnland

28.01.1969

Polen

22.11.1996

Frankreich

07.08.1961

Portugal

04.08.1961

Griechenland

27.09.1961

Schweden

28.09.1961

Großbritannien

02.05.1961

Schweiz

28.09.1961

Irland

17.08.1961

Slowakei

14.12.2000

Island

05.06.1961

Slowenien

21.07.2010

Israel

07.09.2010

Spanien

03.08.1961

Italien

29.03.1962

Tschechien

21.12.1995

Japan

28.04.1964

Türkei

02.08.1961

Kanada

10.04.1961

Ungarn

07.05.1961

Korea (Süd)

12.12.1996

USA

12.04.1961

Quelle: http://www.oecd.org/about/membersandpartners/list-oecd-member-countries.htm

Eine grundlegende Veränderung dieser Situation ergab sich erst in den 1990er Jahren, als zunehmend transnational agierende NGO-Netzwerke als Akteursgruppen im Implementierungsprozess der Leitsätze auftraten. Der entscheidende Auslöser hierfür war der Versuch der OECD, ein ‚Multilaterales Abkommen über Investitionen‘ (Multilateral Agreement on Investment, MAI), welches die 1976er ‚Erklärung zu Internationalem Handel und Investitionen‘ weiterentwickeln und ersetzen sollte, ohne breite öffentliche Erörterung zu verabschieden. Die ersten Verhandlungen hierzu wurden auf einer OECD-Ministerrunde im Jahre 1995 aufgenommen. Es waren hierbei staatliche Stellen einiger OECD-Stellen und internationale Handelsorganisationen, aber fast keine privaten Interessengruppen einbezogen. Schon für das Frühjahr 1997 war die Verabschiedung der MAI durch die OECD-Staaten vorgesehen, weitere Länder sollten sich später anschließen (können). Ein wesentliches Prinzip dieses Vorschlags war, die Investitionen der jeweiligen MAI-Vertragspartner in allen Ländern nicht mehr als ‚ausländische‘ Investitionen, sondern wie Investitionen einheimischer Unternehmen zu behandeln.

344

11  Entstehende supra- und transnationale Governance

Dies hätte gerade kleineren Ländern wichtige Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten der eigenen Wirtschaft genommen. Anfang Februar 1997 wurde der Entwurfstext des MAI von einer kanadischen globalisierungskritischen NGO veröffentlicht. In kürzester Zeit verbreitete sich dieser Entwurf über die gesamte Welt und führte zu vielen kritischen Diskussionen. Eine breite transnationale Kampagne gegen die MAI-Verabschiedung wurde eingeleitet.6 Kritisiert wurde von dem breiten Spektrum von Ad-hoc-Aktivistengruppen und lokalen grass-root-Bewegungen bis hin zu großen transnationalen NGOs und internationalen Gewerkschaftsverbänden nicht nur der Versuch seitens der OECD-Mitgliedsstaaten, das MAI-Abkommen ohne breite öffentliche Erörterung zu verabschieden. Als problematisch wurde auch angesehen, dass die vorgesehene ‚Gleichbehandlung‘ von einheimischen und ausländischen Investitionen letztlich die Gleichbehandlung von Ungleichem sei und nur den Stärkeren unter den Investoren nutze. Vor allem internationale Konzerne würden davon auf Kosten lokaler Investoren und Gruppen profitieren. Drittens wurde auch die einseitige Fokussierung auf die Erleichterung von Investitionen ohne die Berücksichtigung von Umwelt- und Sozialaspekten bemängelt. Eine solche ‚unregulierte‘ Erleichterung von Investitionen fördere, so ein viertes Argument, die Angleichung von Arbeits- und Sozialstandards ‚nach unten‘ und gefährde daher auch die früh industrialisierten Länder, weil Unternehmen hierdurch bei geplanten Investitionen leichter verschiedene Standorte gegeneinander ausspielen und hierdurch einen ‚race to the bottom‘ auslösen könnten. Schließlich wurde vorgebracht, dass das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität dadurch ausgehöhlt würde, dass internationalen Unternehmen durch das MAI das Recht gegeben werde, Regierungen wegen Praktiken zu verklagen, die gegen das MAI verstoßen. Mit der Veröffentlichung des 147-seitigen MAI-Entwurfstextes durch oppositionelle Gruppen wurde eine breite Kritik an den Inhalten und am Verfahren des geplanten MAI entfacht, die innerhalb weniger Monate das gesamte MAI-Projekt zu Fall brachte. Dieser Sieg über den Goliath aller OECD-Mitgliedsstaaten war vor allem deshalb Zeit möglich, weil der gegen ihn angetretene David aus einem sehr weit gespannten Netzwerk von etablierten Organisationen bis zu spontanen AntiMAI-Aktionsgruppen bestand. Dieses breite, kampagnenorientierte ‚Netzwerk von Netzwerken und Organisationen‘ konnte seine Aktivitäten über die gerade bedeutsamer werdende Internettechnologie dezentral und über Ländergrenzen hinweg

6Zur Geschichte des MAI und der Gegenbewegung vgl. neben der offiziellen OECD-­Website z. B. die folgenden OECD-kritischen Websites: http://www.citizen.org/trade/issues/mai/ Opposition/articles.cfm?ID=5625; http://www.globalpolicy.org/socecon/bwi-wto/maingosm. htm; http://oecdwatch.org/.

11.2  OECD-Leitsätze zu multinationalen Unternehmen

345

relativ zeitnah intensiv koordinieren. Es hatte kein großes Organisationszentrum, sondern war eher transnational zusammengeschlossen: Sowohl in Bezug auf die Inhalte als auch auf die Aktionsformen war das Netzwerk recht stark koordiniert und bezog gleichzeitig äußerst viele dezentral organisierte Akteursgruppen ein. In kürzester Zeit wurde eine kritische Stellungnahme zum geplanten MAI an die OECD verfasst, die von 565 verschiedenen Organisationen (Umweltgruppen, Konsumentenvereinigungen, Gewerkschaften etc.) aus insgesamt 67 Ländern unterstützt wurde. Die Resolution forderte die Suspendierung der MAI-Verhandlungen, solange nicht ein breites Spektrum gesellschaftlicher Gruppen in die Verhandlungen einbezogen werde. In verschiedenen Ländern, vor allem in den OECD-Kernländern Europas und Nordamerikas, wurden Demonstrationen und in der ersten Februar-Hälfte 1997 Aktionswochen gegen das geplante MAI-Abkommen durchgeführt (z. B. mit kollektiven Anrufaktionen und Briefkampagnen). Aufgrund dieses massiven transnationalen Protestes wurden die MAI-­ Verhandlungen zunächst suspendiert. Im Jahre 1998 gab die OECD dann das MAI-Projekt formell auf und beschloss vor dem Hintergrund der massiven öffentlichen Kritik, die bereits 1976 verabschiedeten Leitsätze für Multinationale Unternehmen einer gründlichen Revision zu unterziehen. Dieser Prozess führte unter breiter Beteiligung von Unternehmens- und Gewerkschaftsvertretern, NGOs und Vertretern von Nicht-OECD-Staaten im Jahre 1999 zur Verabschiedung der ‚OECD-Grundsätze der Corporate Governance‘ (OECD 2004) und im Jahre 2000 zu einer Revision und Erweiterung der ‚Leitsätze für Multinationale Unternehmen‘ (OECD 2000).7 Von Anfang an wurde eine breite Transparenz des Beratungsprozesses auch durch die Veröffentlichung aller Entwurfsdokumente und Stellungnahmen im Internet angestrebt. Auf der entsprechenden Website der OECD wurde die Öffentlichkeit zu Diskussionen eingeladen. Mit der Verabschiedung der neuen ‚Grundsätze der Corporate Governance‘ und der Revision der ‚Leitsätze für Multinationale Unternehmen‘ wurde ein dynamisches und transparentes Verfahren regelmäßiger Überprüfungen und Berichte vor

7Zum Verhältnis der Principles zu den Guidelines erläutert die OECD (2004, S. 21): „Die Grundsätze müssen daher als Ergänzung zu einem allgemeineren Konzept von Kontrolle und Gegenkontrolle gesehen werden. Einige der anderen Faktoren, die für unternehmerische Entscheidungsprozesse von Belang sind, wie Umwelt-, Antikorruptions- oder ethische Erwägungen, werden in den Grundsätzen zwar berücksichtigt, jedoch ausführlicher in einer Reihe anderer OECD-Instrumente (namentlich OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr) sowie den Instrumenten anderer internationaler Organisationen behandelt.“

346

11  Entstehende supra- und transnationale Governance

allem auf den jährlichen Treffen der ‚Nationalen Kontaktstellen‘ (NCP) installiert, welches seinen Niederschlag unter anderem auf den entsprechenden, gut dokumentierten Webseiten der OECD findet.8 In den Multinational Guidelines wurden substanzielle Regeln bezüglich Kinder- und Zwangsarbeit, zum Umweltverhalten und zur Einhaltung der Menschenrechte aufgenommen. Gleichzeitig wurden eindeutigere prozedurale Regeln vor allem in Bezug auf die Arbeit der Nationalen Kontaktstellen formuliert. So wurden z. B. jährliche Treffen aller NCPs und jährliche Berichte der NCPs eingeführt, die an das ‚Committee on International Investment and Multinational Enterprises‘ (CIME) zu richten sind und dort zentral dokumentiert und ausgewertet werden. Mit dem CIME wurde also ein arbeitsfähiges wichtiges Gremium innerhalb der OECD geschaffen, welches für die Entwicklung und Implementierung der Guidelines operativ verantwortlich ist. Im Jahre 2009 hatten sich alle 30 OECD-Mitgliedsländer sowie elf weitere Länder (Ägypten, Argentinien, Brasilien, Chile, Estland, Israel, Lettland, Litauen, Peru, Rumänien und Slowenien) den Guidelines und ihrem Überprüfungsmechanismus unterworfen.9 Vor dem hier nur skizzierten spezifischen Entstehungshintergrund wird verständlich, dass die OECD-Guidelines weit über die in den vorhergehenden Kapiteln besprochenen (Einzel-)Typen der Erwerbsregulierung hinausgehen. Das Gesamtinstrumentarium der Leitsätze kann als Beispiel für eine entstehende transnationale Governance der Erwerbsregulierung angesehen werden. Drei internationale kollektive Akteursgruppen sind fest in das jährliche Berichts- und Beratungswesen über die Guidelines einbezogen: ein die Arbeitgeberseite repräsentierendes Komitee (Business and Industry Advisory Committee, BIAC), ein die Arbeitnehmerseite repräsentierendes Komitee (Trade Union Advisory Committee, TUAC) und die der OECD insgesamt eher kritisch gegenüberstehenden zivilgesellschaftlichen Gruppen und NGOs, die über das Netzwerk OECD-Watch repräsentiert sind. Das Netzwerk OECD-Watch wurde im Jahre 2003 offiziell als Zusammenschluss internationaler NGOs gegründet, die ihren Einfluss auf die OECD und vor allem die Umsetzung der Guidelines koordinieren wollten: „Um sich international besser auszutauschen und auf OECD-Ebene mehr Einfluss zu gewinnen, haben sich internationale NGOs im März 2003 zum Netzwerk ‚OECD-Watch‘ zusammengeschlossen. Neben dem Erfahrungsaustausch

8Vgl.

http://www.oecd.org/daf/ca/corporategovernanceprinciples/32159487.pdf. http://www.oecd.org/daf/inv/mne/consumerempowerment-2009annualreportontheoecdguidelinesformultinationalenterprises.htm.

9Vgl.

11.2  OECD-Leitsätze zu multinationalen Unternehmen

347

über Beschwerdefälle und das Funktionieren der einzelnen Kontaktpunkte geht es OECD-Watch um die Einbringung von NGO-Positionen in die Debatte der OECD – beispielsweise bei den jährlichen Treffen der Kontaktstellen in Paris“10.

Inzwischen sind über 100 Organisationen aus 50 Ländern formell im Netzwerk eingeschrieben.11 Hinsichtlich der Umsetzung der materialen Normen des Unternehmensverhaltens und der prozeduralen Mechanismen, namentlich der Arbeit der NCPs, die in den Guidelines festgelegt sind, gibt es eine rege und kontroverse Diskussion, die nicht zuletzt im Rahmen der jährlichen Treffen aller NCPs geführt wird. Vieles deutet auf noch enorme Verbesserungspotenziale hin (vgl. zum Folgenden etwa OECD-Watch 2004 und TUAC 2007). Denn die Struktur der NCPs variiert z. B. je nach Land ganz erheblich von einem nur einer Regierungsstelle zugeordneten Organ (21 Länder) über zwei (6 Länder), drei (9 Länder) oder gar vier (2 Länder) verschiedenen Regierungsstellen zugeordneten Organen.12 Italien erfüllt dem OECD-Watch-Bericht zufolge nur unzureichend und ‚opportunistisch‘ seine Verpflichtungen, indem es ein ‚temporäres Sekretariat‘ ohne feste organisatorische Einbindung angab. Im Hinblick auf die Berichtspflichten der NCPs wird beklagt, dass jeweils nur etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Länder einen entsprechenden NCP-Jahresbericht an das OECD-Komitee CIME liefern (21 von 33 im Jahre 2004). Selbst aus diesen vorgelegten NCP-Länderberichten ist nicht genau ersichtlich, gegen wie viele Unternehmen welche Arten von Beschwerden eingegangen sind und in welchem Bearbeitungsstatus sich diese befinden. In Großbritannien gaben von einhundert befragten Unternehmen Ende 2002 nur zwölf an, eine explizite Politik im Hinblick auf die OECD-Guidelines formuliert zu haben. Die NGOs vieler Länder gaben an, von den NCPs mit ihren Beschwerden gegen Guideline-Verstöße nicht richtig ernst genommen zu werden. Viele NCPs haben nur sehr schlecht gepflegte oder überhaupt keine Internet-Webseiten. Insgesamt kann also keineswegs von einem auch nur annähernd erfolgreichen oder abgeschlossenen Prozess der Implementierung der Guidelines in der Praxis der Erwerbsregulierung in den Unternehmen und der entsprechenden Überwachung durch die Nationalstaaten gesprochen werden.

10http://www.germanwatch.org/tw/kwdnr03.htm,

vgl. generell http://oecdwatch.org/. http://oecdwatch.org/about-us/members. 30.03.2009. 12Eine Diskussion der Vor- und Nachteile dieser verschiedenen Strukturen findet sich in dem OECD-Bericht über die NCPs auf dem Jahrestreffen 2008: http://mneguidelines.oecd. org/ncp-annual-meetings.htm. 11Vgl

348

11  Entstehende supra- und transnationale Governance

Gleichwohl hat sich mit den im Jahre 2000 neu verabschiedeten Guidelines die Transparenz über die Arbeitsweise der entsprechenden OECD-Stellen und über die gegen Unternehmen vorgebrachten Beschwerdeverfahren enorm verbessert. Die Tab. 10.2 listet die ältesten über OECD-Watch eingereichten Beschwerdefälle von NGOs gegen bestimmte Unternehmen auf und gibt den gegenwärtigen Status des Verfahrens an. In ähnlicher Weise sind die über die Gewerkschaften und TUAC eingereichten Beschwerdeverfahren dokumentiert.13 Es werden auch die jährlich eingehenden neuen Beschwerdefälle dokumentiert und deren fortlaufende Behandlung auf den Jahrestreffen dokumentiert.14 Über die offizielle Website der OECD-Guidelines sind auch die diesbezüglichen nationalen Internetdokumentationen zugänglich (Tab. 11.2).15 Hamm (2009, S. 133) resümiert zur Wirksamkeit der OECD-Leitsätze: „Positive Wirkungen der OECD-Leitsätze im Bereich von Impact und Outcome können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass insgesamt die Reichweite dieses freiwilligen Instruments beschränkt bleibt.“ Generell sind die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen, die Erfahrungen um deren Weiterentwicklung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und die inzwischen institutionalisierten Mechanismen ihrer Umsetzung und Überprüfung ein gutes Beispiel für die zunehmende Verflechtung und Integration unterschiedlicher Formen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung. Die auf der Grundlage internationaler Verträge zwischen den OECD-Mitgliedsstaaten entstandenen supranationalen OECD-Strukturen zur Verbreitung und Überwachung der Guidelines auf der nationalstaatlichen und auf der Unternehmensebene gewannen erst durch die Verknüpfung mit transnationalen Akteursnetzwerken ein reales Gewicht. So wurde z. B. die Rolle des entsprechenden OECD-Komitees CIME erst durch die seit 1998 gestärkten transnationalen NGOs sowie die später eingerichteten Beobachtungskomitees TUAC und OECD-Watch aufgewertet: Das CIME begann nun, eine mehr oder weniger unabhängige transnationale Maklerfunktion gegenüber den Einzelstaaten und deren NCPs sowie den anderen involvierten Akteursgruppen, namentlich dem BIAC und dem TUAC sowie OECD-Watch einzunehmen.

13Vgl.

http://www.tuac.org/en/public/e-docs/00/00/01/70/document_doc.phtml. 30.03.2009. http://www.bmwi.de/DE/Themen/Aussenwirtschaft/Internationale-Gremien/oecd-leitsaetze,did=429912.html. 15Vgl. http://www.oecd.org/daf/inv/mne/48808708.pdf. 14Vgl.

349

11.2  OECD-Leitsätze zu multinationalen Unternehmen Tab. 11.2   Stand der 2001–July 2003 von OECD-Watch eingebrachten Beschwerden Beteiligte

Konfliktthemen

Datum

Status

CBE vs. National Grid Transco

NGT’s mining practices in Zambia

25. Jul. 2003

Abgeschlossen

NiZA et al. vs. CPH

CPH & illegal resource exploitation in DRC

3. Jul. 2003

Abgewiesen

Greenpeace Germany vs. West LB

West LB financing of oil pipe- 15. Mai. 2003 line in Ecuador

Abgewiesen

FoE France vs. ­TotalFinaElf

BTC oil pipeline in Azerbaijan, Georgia & Turkey

29. Apr. 2003

Abgewiesen

FoE US vs Delta Hess

BTC oil pipeline in Azerbaijan, Georgia & Turkey

29. Apr. 2003

Bevorstehend

CRBM vs ENI

BTC oil pipeline in Azerbaijan, Georgia & Turkey

29. Apr. 2003

Bevorstehend

FoE US vs. Unocal

BTC oil pipeline in Azerbaijan, Georgia & Turkey

29. Apr. 2003

Bevorstehend

FoE US vs ConocoPhilips

BTC oil pipeline in Azerbaijan, Georgia & Turkey

29. Apr. 2003

Bevorstehend

Corner House et al. vs. BP

BTC oil pipeline in Azerbaijan, Georgia & Turkey

29. Apr. 2003

Bevorstehend

ATTAC & FoE vs. Sandvik

Gold mining, pollution, rights 18. Feb. 2003 violations in Ghana

Abgeschlossen

ATTAC & FoE vs. Atlas Gold mining, pollution, rights 18. Feb. 2003 Copco violations in Ghana

Abgeschlossen

TCDH vs. First ­Quantum

First Quantum & illegal 5. Dez. 2002 resource exploitation in DRC

Abgeschlossen

Unite et al. vs. Brylane Inc.

Brylane’s anti-trade union practices in the US

8. Okt. 2002

Abgewiesen

CCC vs. Nike

Labour rights violations in Indonesian supply chain

5. Sep. 2002

Abgewiesen

CCC vs. Adidas

Labour rights violations in Indonesian supply chain

5. Sep. 2002

Abgeschlossen

FoE vs. Nutreco

Nutreco/Marine Harvest’s salmon farming in Chile

22. Aug. 2002

Abgeschlossen

Germanwatch vs. ­Continental AG

Continental AG’s labour prac- 27. Mai. 2002 tices in Mexico

Bevorstehend

Greenpeace vs. ­TotalFinaElf

TotalFinaElf’s oil supply from 10. Apr. 2002 Russia

Abgewiesen (Fortsetzung)

350

11  Entstehende supra- und transnationale Governance

Tab. 11.2   (Fortsetzung) Beteiligte

Konfliktthemen

Datum

Status

RAID vs. Anglo ­American

Anglo American mining activities in Zambia

27. Feb. 2002

Bevorstehend

Oxfam vs. First ­Quantum Mining

First Quantum and forced evictions in Zambia

16. Jul. 2001

Abgeschlossen

ICN vs. Adidas ­Netherlands

Labour violations in Indian football production

20. Jun. 2001

Abgeschlossen

ICN vs. Kubbinga

Kubbinga’s labor practices in 20. Jun. 2001 Indian football industry

Abgewiesen

RAID vs. Binani

Binani’s corruption in mining 1. Mai. 2001 industry Zambia

Zurückgezogen

Quelle: http://oecdwatch.org/cases/all-cases/casesearchview?b_start:int=60&-C

Die Herausbildung dieser transnationalen und supranationalen Governance von Erwerbsregulierung ist eng mit der Einmischung transnationaler Akteursnetzwerke und der Zurückweisung der in den 1990er Jahren geplanten MAI-­Richtlinie verbunden. Die verschiedenen Ebenen der internationalen, supranationalen und transnationalen Erwerbsregulierung und die unterschiedlichen Akteursgruppen der IGOs, INGOs und der Unternehmen schließen sich also nicht aus, sie machen sogar erst die besondere Qualität dieser Governance-Textur aus. So wie im dualen deutschen System der Erwerbsregulierung die beiden Säulen Tarifautonomie und Betriebsverfassung sich über Jahrzehnte wechselseitig eher gestärkt als geschwächt haben, so dürfte auch eine nachhaltige internationale Governance der Erwerbsregulierung nur aus der Integration und netzwerkförmigen Verflechtung unterschiedlicher Typen internationaler Erwerbsregulierung erwachsen. Transnationalisierungsprozesse spielen in dieser ‚Texturbildung‘, das zeigt das Beispiel der OECD-Guidelines sehr deutlich, eine besondere Rolle. Für das GovernanceSystem der OECD-Guidelines gilt, was Risse (2002, S. 269) in Bezug auf die ­institutionelle Integration transnationaler Akteure in internationale GovernanceStukturen allgemein hervorgehoben haben: Transnationale Akteure – ob internationale Unternehmen oder INGOs – haben ihre ‚Unschuld‘ verloren und sind Betroffene und Akteure der emergierenden internationalen Governance-Strukturen geworden.

Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

12

Die vergangenen Jahrzehnte waren nicht nur von ökonomischer Globalisierung bestimmt, es lässt sich auch eine beachtliche soziale und politische Globalisierung nachzeichnen. Für den Bereich der Aushandlung, Festlegung und Kontrolle von Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen wurde in den vorangegangenen Kapiteln eine Vielzahl von grenzüberschreitenden Mechanismen der Erwerbsregulierung aufgezeigt. Diese Typen internationaler Erwerbsregulierung werden in der wissenschaftlichen Debatte und auch von den entsprechenden kollektiven und korporativen Akteuren, wie z. B. staatlichen Organen und Fachgremien, Gewerkschaften, Unternehmen und NGOs, häufig als einzelne betrachtet und bearbeitet. So kümmern sich die Fachbeamten der ‚Nationalen Kontaktpunkte für die OECD-Leitsätze‘ um die eingehenden Beschwerden, weil dies zu ihrem Aufgabenbereich gehört. Die internationalen Gewerkschaftsverbände wie die GUFs fokussieren ihre Aktivitäten vielfach auf den Abschluss Internationaler Rahmenabkommen, weil sie von der nationalen Ebene das Instrument des Tarifvertrags genauestens kennen und schätzen. Internationale Unternehmen konzentrieren sich meistens auf die Entwicklung von Richtlinien für verantwortungsvolles und nachhaltiges Management, sie versuchen manchmal auch, entsprechende Monitoring-, Verifizierungs- und Zertifizierungsverfahren zu implementieren. NGOs dagegen suchen meistens nach besonders schwerwiegenden Fällen von Fehlverhalten und nach spezifischen Themenstellungen, um durch gebündelte Aktivitäten Aufmerksamkeit und Erfolge zu erreichen. Diese jeweils selektive und partikulare Wahrnehmung von grenzüberschreitenden Aktivitäten der Erwerbsregulierung führt erstens zu einer tendenziellen Unterschätzung der sozialen und politischen Globalisierung insgesamt. Zweitens ergeben sich hieraus meistens verzerrte Urteile über die Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Typen von Erwerbsregulierung. In diesem Buch wurde deshalb der ­Versuch

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5_12

351

352

12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

unternommen, die verschiedenen Perspektiven zusammenzuführen und einen – wenn auch aufgrund der Komplexität des Gegenstandes nur sehr groben – Überblick über die Dimensionen und Typen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung zu geben. Hieraus ergeben sich einige Schlussfolgerungen bezüglich möglicher (positiver oder negativer) Entwicklungsmöglichkeiten der Erwerbsregulierung in der Zukunft (Abschn. 12.1). Diese wiederum hängt eng mit der gesellschaftlichen Verarbeitung der Erfahrungen aus der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise zusammen, speziell mit den Lehren für die gesellschaftlichen Institutionen, die Wirtschaft und Arbeit strukturieren (Abschn. 12.2).

12.1 Entwicklungsmöglichkeiten der Erwerbsregulierung Angesichts der Vielzahl von identifizierten Typen grenzüberschreitender Erwerbsregulierung drängt sich die Frage auf, welche hiervon in der Zukunft die größten Entwicklungspotenziale für unterschiedliche Interessensgruppen erwarten lassen. Der Hauptbefund aus den bisherigen Ausführungen hierzu lautet: Es gibt keine allgemein prognostizierbaren Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Formen der Erwerbsregulierung. Ihre Potenziale können nur in der Zusammenschau aller Typen und ihrer Wechselwirkungen beurteilt werden. Welche Entwicklungsrichtung dabei diese emergierende internationale Governance der Erwerbsregulierung nimmt, ist weitgehend offen. Sie hängt wesentlich von den involvierten Akteursgruppen selbst ab und lässt sich allenfalls in der Form von Möglichkeitskorridoren diskutieren. Der Verlauf der Ausgestaltung der OECD-Leitsätze zur Arbeit von Multinationalen Unternehmen zeigt die mögliche Variationsbreite und ist in mancherlei Hinsicht nicht ohne eine gewisse Ironie der Geschichte. Denn der anfängliche Versuch vor allem marktliberaler Kräfte, das MAI-Abkommen ohne eine breitere Diskussion schnell und einseitig im Interesse großer multinationaler Konzerne zu verabschieden, führte letztlich zu einem gegenteiligen Effekt: Nach dem massiven Protest nationaler und transnationaler NGO-Gruppen wurde eine neue GovernanceStruktur geschaffen, die auf den vier Säulen von staatlicher, Unternehmens-, Gewerkschafts- und NGO-Beteiligung beruht. Ähnliche, in der Soziologie als ‚nicht-intendierte Folgen absichtsvollen Handelns‘ bekannte Effekte lassen sich auch an anderen Beispielen aufzeigen. Unternehmen, die Freiwillige Erklärungen im Rahmen des Global Compact verfassten und damit vor allem eine Strategie der Außenwerbung und der Verhinderung verbindlicherer internationaler Erwerbsregulierungen verfolgten, sehen sich angesichts konkreter Maßnahmen wie einer

12.1  Entwicklungsmöglichkeiten der Erwerbsregulierung

353

beabsichtigten Standortschließung mit ihren eigenen erklärten Ansprüchen unternehmerischer Verantwortung konfrontiert und geraten unter nicht antizipierten Legitimationsdruck.1 Ein Unternehmen wie Chiquita, das sich um die Erwerbsbedingungen bei den eigenen Zulieferern nur wenig kümmert, wird mit seinen eigenen Ansprüchen verantwortungsvoller Unternehmensführung konfrontiert, wo es dies zunächst überhaupt nicht erwartet hätte: Auf einem entfernten Absatzmarkt (Dänemark) fordert ein wichtiger Bananen-Abnehmer wegen vielfältiger Aktionen seiner Kunden und vernetzten transnationalen Aktivitäten gewerkschaftlicher Gruppen Erklärungen zu den Arbeitsbedingungen bei Zulieferern (in Guatemala). Das Ergebnis des Zusammenwirkens dieser vieldimensionalen Aktionen von NGO- und Gewerkschafts-Gruppen, verantwortungsvoll handelnden Kunden und lernfähigen Unternehmen ist eine einschneidende Veränderung der Einkaufspolitik und der korporativen Verantwortung eines internationalen Konzerns und – zumindest vorübergehend – die Verbesserung von Erwerbsbedingungen der Plantagenarbeiter.2 Gerade weil in der Praxis die verschiedenen Typen internationaler Erwerbsregulierung meistens ineinander greifen, ist deren isolierte Betrachtungsweise eigentlich nicht angemessen. Gleichwohl haben die konkreten Akteursgruppen in der Regel durchaus verschiedene Schwerpunktsetzungen und Herangehensweisen in der internationalen Erwerbsregulierung. Dies kann zu einem interessengeleiteten ‚Tunnelblick‘ führen, durch den die eigenen Aktivitäten eher als positiv und die der anderen Akteursgruppen eher als problematisch wahrgenommen werden. Gewerkschaften und NGO-Gruppen kritisieren z. B. Unternehmensaktivitäten internationaler Erwerbsregulierung, weil diese nur auf öffentliche Legitimation und auf Risikomanagement, aber nicht auf wirklich nachhaltige

1Vgl.

als Beispiel hierzu die Werksschließung von Nokia in Bochum (Abschn. 8.1). die unterschiedlichen Internationalisierungsformen und Akteursgruppen nicht gegeneinander, sondern miteinander und integriert gedacht und entwickelt werden müssen, unterstreicht Riisgaard (2002, S. 17 f.) ausdrücklich: „Seen in relation with the internationalisation of capital and the need for alternative labour strategies IFAs represent a promising device. At the same time as many of labour’s traditional strategies have been undermined, the innovative tactics used by the banana unions illustrate how a new globalization context has brought new possibilities for workers to secure rights within MNEs. The increased demands of CSR together with the new possibilities for union cooperation across geographical and political boundaries have given labour new powerful tools in terms of publicly discrediting corporations in their outlet markets thereby combining their bargaining power with that of NGOs, consumers and investors. This new climate creates common interests between employer and workers and thereby space for cooperation through negotiated voluntary initiatives.“ 2Dass

354

12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

gesellschaftliche Unternehmensverantwortung ausgerichtet seien. Internationale Konzerne bemängeln umgekehrt, dass von ihren Kritikern z. B. die komplizierten Handlungsbedingungen und Interessenstrukturen in den Ländern, in denen sie Produktionsstandorte unterhalten, nicht in Rechnung gestellt würden. Diese gesellschaftlichen Bedingungen (z. B. von politischer Einflussnahme auf Unternehmen, von Korruption als Tradition und Normalität, von Umweltverschmutzung aus Unkenntnis) könnten sie als Unternehmen auch nur als Rahmenbedingungen zur Kenntnis nehmen und langsam zu verändern trachten. Betrachtet man die verschiedenen Typen internationaler Erwerbsregulierung nur für sich, so wird weder das ganze Ausmaß noch die innere Beeinflussungsdynamik zwischen diesen deutlich. Ob man neben der ökonomischen auch eine soziale und politische Globalisierung diagnostiziert, hängt also davon ab, ob man die verschiedenen Typen internationaler Erwerbsregulierung tatsächlich in ihrer ganzen Breite und in ihrer Verflechtung wahrnimmt. Entsprechend ist eine isolierte Diskussion ihrer jeweiligen Stärken und Grenzen problematisch. Dies gleicht dem Versuch, die Dynamik eines Fußballspiels durch Fixierung auf einen einzelnen Spieler verfolgen zu wollen. Eine isolierte Betrachtung der einzelnen Typen internationaler Erwerbsregulierung und der nationalen Strukturen von Erwerbsregulierung führt im Angesicht der realen und als wichtig wahrgenommenen wirtschaftlichen Globalisierung in aller Regel zu einer pessimistischen Beurteilung zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten, wie das folgende Zitat deutlich macht: „Die Aussichten, daß die Verpflichtungs- und Umverteilungsfähigkeit der dem Druck der erweiterten Märkte ausgesetzten nationalen Systeme industrieller Beziehungen durch kompensierende Institutionenbildung auf supranationaler Ebene wiederhergestellt werden könnte, sind ebenso schlecht wie die Aussichten für ein Aufgehen der nationalen Systeme in einem einheitlichen, sie ‚harmonisierenden‘ supranationalen System“ (Streeck 1998, S. 197).

Die in dem Zitat formulierte Entwicklungsalternative spiegelt die begrenzte Perspektive nur auf nationalstaatliche und/oder suprastaatliche (vor allem EU-weite) Regulierung wider: Die Alternative ‚entweder kompensierende supranationale Institutionen oder ein neues Institutionensystem auf supranationaler Ebene‘ erfasst nur einen Teil der im Kap. 4 allgemein vorgestellten (vgl. Tab. 4.2) und dann in den Kap. 6 bis 11 für die internationale Erwerbsregulierung behandelten Aspekte. Die zitierte Gegenüberstellung bleibt weitgehend dem methodologischen Nationalismus verhaftet, der während des 20. Jahrhunderts prägend war und alle gesellschaftlichen Phänomene vorwiegend in den engen Grenzen

12.1  Entwicklungsmöglichkeiten der Erwerbsregulierung

355

von nationalen Containergesellschaften analysiert.3 Eine solche Sichtweise muss sowohl im Hinblick auf das Verständnis von Erwerbsregulierung (statt ‚nur‘ industriellen Beziehungen, Kap. 3) als auch in Bezug auf die betrachteten Internationalisierungstypen (Kap. 6) erheblich erweitert werden. In einer solchen multidimensionalen und Mehrebenenperspektive lassen sich dann die einzelnen Elemente der entstehenden internationalen Netzwerktextur wahrnehmen und diskutieren.4 Ob und inwieweit sich eine solche internationale Netzwerktextur der Erwerbsregulierung verdichtet, wo sie ihre Schwachpunkte hat und wo sie Zerreißproben standhalten kann, hängt von der Konflikt- und Gestaltungsfähigkeit der beteiligten Akteursgruppen ab. Die soziale und politische Globalisierung ist kein Nullsummenspiel, in dem nationale Regelungen nur stark sein können, wenn internationale Regulierungen schwach bleiben und in dem umgekehrt grenzüberschreitende Regeln nur durch Schwächung nationaler Regeln an Stärke gewinnen können. Selbst die Erfahrungen in Europa und speziell die Euro-Betriebsrats-Richtlinie sind gute Beispiele dafür, dass eine zu enge Ebenenbetrachtung (nur nationale und supranationale Ebene) und eine isolierte Institutionenbetrachtung (ohne Bezug auf andere Elemente der Netzwerktextur) – wie im obigen Zitat – nicht ausreichen. Da die europäischen Erfahrungen der Internationalisierung von Erwerbsregulierung mit am weitesten gehen und vergleichsweise gut erforscht sind, sollen sie im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Die Chancen und Entwicklungspotenziale der EBR im Globalisierungsprozess lassen sich nicht abschätzen, ohne das Zusammenspiel von Akteuren auf der lokalen (z. B. Unternehmensleitungen, Betriebsräte), nationalen (z. B. Regierungen und ­Verbände), internationalen (z. B. EU-Ministerrat), supranationalen (z. B. Parlament und Kommission der EU) und transnationalen (z. B. Unternehmens-Management oder Unternehmens-Netzwerk der Arbeitnehmervertretungen in EU) Ebene zu analysieren. Als supranationale Regel wurde die EBR-Richtlinie z. B. in Großbritannien von kollektiven Akteuren (den Gewerkschaften) genutzt, um die eigenen nationalen und lokalen Verhandlungsspielräume zu erweitern. Umgekehrt erkannten korporative Akteure (britische Managementvertreter) nach anfänglichen Widerständen die Möglichkeiten, Euro-Betriebsräte auch als eine erweiterte europäische Kommunikationsplattform für ihre Ziele zu nutzen (Marginson et al. 2004; Weston und Martínez 1997).

3Vgl.

Wimmer und Glick Schiller (2002) und Pries (2008a); Callaghan (2008) kritisiert, dass der methodologische Nationalismus auch die Debatte um Konvergenz und Divergenz dominiere. 4Vgl. hierzu allgemein Mayntz (2005, S. 15 ff.); zu rechtlichen Aspekten eines stratifizierten Mehrebenensystems vgl. allgemein Zürn (2007).

356

12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

Neben der Betrachtung der dominanten Akteure sind aber auch die in diesem Buch behandelten anderen Dimensionen von Erwerbsregulierung von Bedeutung: Welche Regelungsgegenstände und Regulierungsarenen etablieren sich z. B. vor dem Hintergrund der legalen Rahmensetzung als die tatsächlich dominanten und als legitim erachteten? In einigen Fällen – wie z. B. bei den durch EBR und europäischem Management unterzeichneten europäischen Beschäftigungssicherungsabkommen – gehen die Regulierungsformen über den definierten formalen Rechtsrahmen der EBR-Direktive hinaus; in anderen Fällen – und dies ist nach der vorliegenden Forschung die Mehrheit der EBR – werden die bestehenden supranationalen und nationalen Rahmenregelungen nicht einmal ausgeschöpft. Auch die räumliche Reichweite von EBR-Regelungen ist eine empirisch zunächst offene Frage und unterliegt starken Veränderungen im Zeitverlauf: Nach einer Konzentration auf die alten EU-Kernländer in den 1990er Jahren lässt sich eine Möglichkeit zur Ausweitung und Nutzung des Instruments der EBR auch über den Rahmen der erweiterten EU hinaus beobachten (z. B. durch die Einräumung eines EBR-Beobachterstatus für Arbeitnehmervertretungen aus nichteuropäischen Ländern). Im Hinblick auf die mittel- und osteuropäischen Länder wurde z. B. festgestellt, dass die Potenziale starker Arbeitnehmervertretungen durchaus vorhanden sind und sich durch den EU-Beitritt grundsätzlich erweitert haben. Allerdings werden diese Möglichkeiten weder von den Staaten, noch den Unternehmen oder Gewerkschaften voll ausgeschöpft, denn „obwohl immer mehr Fakten aus dem Norden und Westen Europas belegen, dass eine gute funktionierende Arbeitnehmervertretung eine signifikante Rolle bei der Modernisierung und Leistungssteigerung spielen kann, bleibt das System der Arbeitnehmervertretung in mehreren Ländern nach wie vor schwach“ (EU 2006, S. 12; vgl. Wannöffel und Kramer 2007). Für die Länder, in denen bereits starke institutionalisierte Arbeitnehmervertretungen bestehen, wird dagegen die Herausforderung vor allem in der hier betonten grenzüberschreitenden Netzwerkbildung und darin gesehen, „die Vertretung an das zunehmend komplexe Umfeld der Globalisierung und der Netzwirtschaft anzupassen, um ihren Einfluss auch für die Zukunft sicherzustellen“ (ebd.).5 Dies verweist unmittelbar auf weitere Dimensionen der Erwerbsregulierung wie z. B. das Zusammenspiel verschiedener Regulierungsarenen (z. B. Hebelwirkungen zwischen diskursiver, gesetzlicher und tarifvertraglicher Regulierung) und die Kombination oder Blockade der verschiedenen Machtressourcen.

5Zu

ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte eine Untersuchung der kollektiven Konfliktschlichtungsmechanismen in der erweiterten EU (EIRO 2006).

12.1  Entwicklungsmöglichkeiten der Erwerbsregulierung

357

Auch die möglichen Redefinitionen und Entwicklungen der geteilten Ideologie als einer wichtigen Dimension der Erwerbsregulierung beeinflussen deren zukünftige Netzwerktextur in Europa: Wird es z. B. zu einer Stärkung solcher gemeinsamen Werteorientierungen kommen, nach denen die EU nicht in erster Linie als Wirtschaftsraum, sondern vorrangig als Sozial- und Kulturraum nachhaltiger gesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen ist? In einer neueren Untersuchung über die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Erwerbsregulierung unterscheidet Erne (2008, S. 4) idealtypisch vier strategische Orientierungen der wichtigsten Akteursgruppen: Sie können sich in Richtung einer Euro-Demokratisierung, einer Euro-Technokratisierung, einer demokratischen Renationalisierung oder einer technokratischen Renationalisierung entwickeln. Nach dem vorläufigen Scheitern der Verabschiedung der EU-Verfassung hängen die demokratischen Entwicklungsmöglichkeiten der EU sowohl von der Ausweitung von Grundrechten für alle Bürger als auch von der Politik und Stärke der europäischen Gewerkschaften ab (ebd., S. 200 f.).6 In Richtung einer Stärkung europäischen Rechts und der europäischen Rechtsprechung vor allem im Bereich des Arbeitsrechts argumentieren Moreau und Blas López (2007, S. 15 f.). Nach ihrer Meinung hängen die Chancen einer Europäisierung von Tarifverhandlungen gerade von einer solchen arbeitsrechtlichen Ausgestaltung eines europäischen Regimes der Erwerbsregulierung ab. Im Hinblick auf die entstehenden Unternehmen nach europäischem Recht (societas europaea) sehen Keller und Werner (2008, S. 168) grundsätzliche Chancen einer wechselseitigen Stärkung europäischer Erwerbsregulierung auf den zwei Ebenen, die für diese Unternehmen vorgesehen sind: einerseits der Ebene der Beteiligung von Arbeitnehmervertretern in den Leitungsgremien (Vorstand bzw. Aufsichtsrat) und andererseits der Ebene der sogenannten SE-Betriebsräte (Rosenbohm 2015). Die Erfahrungen der Ausgestaltung des europäischen Sozialraums zeigen auch die besondere Bedeutung prozeduraler und rekursiver Normen. Je komplexer Handlungssituationen sind, je mehr unterschiedliche Akteursgruppen involviert sind, je mehr Themenfelder sachlich-inhaltlich zusammenfließen und je mehr geografisch-räumliche Ebenen interagieren, desto schwieriger ist eine Verständigung auf materiale Normen. Das Beispiel der Einführung der EBR-­Richtlinie, deren Verabschiedung durch die europäischen Organe insgesamt etwa zwanzig Jahre in

6Als

Beispiel möglicher Entwicklungslinien einer geteilten europäischen Normenorientierung ließe sich auch die Diskussion um die sogenannte Flexicurity als Kombination aus Arbeitsmarktflexibilität und Beschäftigungssicherung anführen, vgl. hierzu etwa Klammer und ­Tillmann (2001) und Pfarr (2007).

358

12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

Anspruch nahm, macht dieses Problem deutlich: Der Versuch einer Verständigung auf materiale Normen kann bei sehr vielen Verhandlungsbeteiligten mit stark unterschiedlichen Interessen und Traditionen leicht zu einer Blockadesituation führen. Die Verständigung auf prozedurale und rekursive Normen dagegen kann in solchen Situationen als ‚Schmiermittel‘ dienen, um differierende Interessen und potenzielle Vetospieler zu integrieren. Für das 21. Jahrhundert dürfte eine Koppelung von materialer und prozeduraler Regulierung typisch werden: Die materiale Normierung beschränkt sich auf wenige konsens- oder zumindest mehrheitsfähige Grundprinzipien. Die prozedurale Normierung ermöglicht die flexible Berücksichtigung der Vielfalt unterschiedlicher Kontextbedingungen und des Subsidiaritätsprinzips. Als Grundprinzip rekursiver prozeduraler Regulierung kann dabei angesehen werden, dass weder fixe Werte oder Normen für bestimmte Fälle vorgegeben noch für bestimmte Kontexte die Regelungsprozeduren eindeutig festgelegt werden. Über Zielvorgaben und Indikatoren werden vielmehr die jeweiligen Akteure und Akteurskonstellationen stimuliert, selbstständig zur Erfüllung bestimmter Aufgaben beizutragen – wie immer sie dies im Einzelnen bewerkstelligen. Für Deutschland ist z. B. ein Großteil der betriebsverfassungsrechtlichen Arena und der damit zusammenhängenden Arbeit der Betriebsräte durch prozedurale und zielwertorientierte Koordinations- und Steuerungsmechanismen bestimmt. In vielen Unternehmen, in denen projektorientierte und Wissensarbeit vorherrschen, ist der prozedurale Regulierungsmodus als Antwort auf wachsende Anforderungen der Flexibilitäts- und Komplexitätsbewältigung von größter Bedeutung (­Minssen 1999). Auf der europäischen Ebene hat sich die Logik prozeduraler Regelung bereits als fester Bestandteil des Mehrebenenverhandlungssystems etabliert. Eine internationale Netzwerktextur von Erwerbsregulierung kann an den eingefahrenen Bahnen traditioneller abgeschotteter Einzelregulierungen genauso scheitern wie an den Einzelinteressen einflussreicher korporativer Akteursgruppen. Erfolgreich wird sie sich nur entwickeln können – dies zeigen die europäischen Erfahrungen – wenn die Prinzipien materialer und prozeduraler Regulierung eng ineinander verwoben sind. Alle hier nur exemplarisch aufgeführten Befunde im Hinblick auf die Entwicklungsperspektiven der Erwerbsregulierung in Europa zeigen, dass grundsätzlich durchaus die Möglichkeiten gegeben sind, die bereits bestehenden Elemente einer Governance-Struktur zu stärken und Europa als ein integriertes und nachhaltiges Gesellschaftsprojekt voranzubringen.7 Eine eher einseitig marktradikale

7Vgl.

Kluge und Schömann (2008) und die anderen Beiträge in dem Schwerpunktheft 1/2008 der Zeitschrift transfer.

12.2  Gesellschaftliche Institutionen und Regulierung

359

Strategie wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur auf der internationalen Ebene – etwa des Weltwährungsfonds und der Weltbank – verfolgt, sie war auch in der EU sehr stark. Eine solche Strategie ist aber nicht alternativlos. Moderne und wettbewerbsfähige Wirtschaften sind mit starken und differenzierten Regulierungen durchaus vereinbar. „Von allen Weltregionen ist die EU heute nicht nur der gemessen am Bruttosozialprodukt grösste Wirtschaftsraum und der grösste Handelsblock, sondern auch die Region, die sich am frühesten, stärksten und weitgehendsten an einem Sozialmodell orientiert hat. […] Der klarste und eindrucksvollste Hinweis auf die wechselseitige, positive Verstärkung sozialer Standards, wirtschaftlicher Leistungs- und Wettbewerbskraft und gesellschaftlicher Stabilität zeigt sich im Norden Europas“ (Sengenberger 2007, S. 2 f.).

Nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung erfordert nach allen vorliegenden Erfahrungen sogar eine Stärkung internationaler Governance von Erwerbsregulierung. Eine solche Entwicklung umfasst aber mehr als nur die Readjustierung des Verhältnisses von Markt und Staat auf nationaler und internationaler Ebene. Sie beinhaltet auch die Berücksichtigung der darüber hinausgehenden institutionellen Verflechtungen von Wirtschaft und Gesellschaft.

12.2 Gesellschaftliche Institutionen und Regulierung Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Jahre 2008 ist die Frage nach der institutionellen Einrahmung der Wirtschaft wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Dabei zeigte sich, dass Finanzmärkte noch weniger als andere Märkte gesellschaftlich reguliert wurden: „Global Governance ist im Bereich der internationalen Finanzbeziehungen weitaus weniger ausgebildet als in vielen anderen Bereichen“ (Enderlein 2009, S. 8). Seit der ‚Implosion des realen Sozialismus‘ war für fast zwei Jahrzehnte in der Wirtschaft und auch in der Politik die Annahme vorherrschend, dass die Wirtschaft und auch viele andere Dinge (für einige sogar der Staat und die Wissenschaft) am besten funktionieren, wenn eine bestimmte gesellschaftliche Institution, nämlich der Markt, möglichst viele Allokationsfunktionen übernähme. Auch die Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten, sollten – möglichst wenig von intervenierenden Regulierungen beeinflusst – den Marktkräften überlassen bleiben. Die Unternehmens-Mitbestimmung wurde vom Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie als ein ‚Irrtum der Geschichte‘ bezeichnet. Kündigungsschutzbestimmungen wurden wegen ihrer bremsenden Wirkung auf flexibel-marktliche Anpassungen von

360

12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

Beschäftigungsvolumina kritisiert. Die Anpassung der Erwerbsbedingungen durch den freien Wettbewerb von Standorten und Ländern um Investitionen und Arbeitsplätze wurde als der Königsweg für eine effiziente Wirtschaft angesehen. Die Entlohnung von Wirtschafts- und Finanzeliten stieg exorbitant an und wurde mit dem Hinweis auf deren wettbewerbliche Leistungseffizienz begründet. Tatsächlich handelte es sich um eine Selbsteinschätzung und Selbstbedienung mehr oder weniger geschlossener Führungsgruppen (Hartmann 2002), die zwar Leistungsanerkennung für sich reklamiert hatten, aber angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise kaum Leistungsversagen und Verantwortung anerkennen wollten. Die in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschende, radikale Überbetonung der Institution des Marktes wird angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise einer kritischen Revision unterzogen. Das Wirtschaften, die Erwerbsarbeit und sogar die Gesellschaft insgesamt wurden allzu verengt durch eine ökonomische bzw. durch eine spezifische ökonomische Brille wahrgenommen: Märkte seien die effizientesten Mechanismen der Allokation knapper Güter, so das Credo. Aber Knappheitsverhältnisse sind nicht naturgegeben, sondern immer gesellschaftlich erzeugte und sozial wahrgenommene Verhältnisse. Güter werden gesellschaftlich produziert und angeeignet. Ihre reale Verteilung spiegelt immer auch Machtverhältnisse wider. Wertorientierungen und Präferenzen bilden sich nicht im herrschaftsfreien Dialog heraus; sie sind Ergebnis sozialer Ungleichheitsstrukturen und reproduzieren diese. Eine solche kognitive und wissenschaftliche (Wieder-) Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft sollte aber nicht vom Extrem eines Marktradikalismus in das andere Extrem einer übertriebenen Staatsgläubigkeit führen. Sie sollte auch nicht in der Dichotomie von Markt versus Staat verweilen. Vielmehr ist ein differenzierter Blick auf alle relevanten gesellschaftlichen Institutionen angebracht, die die Wirtschaft und die Erwerbsarbeit strukturieren.8 Auf das Wirtschaften und die Erwerbsarbeit in einer Gesellschaft wirken – wie bereits in Kap. 2 ausgeführt – zumindest fünf verschiedene soziale Institutionen ein: soziale Netzwerke, Märkte, Berufe, Organisationen und das öffentlich-staatliche Regime. Wer wirklich längerfristige Lehren aus der gegenwärtigen Finanzund Wirtschaftskrise ziehen will, der sollte über strukturelle Konsequenzen für alle fünf Institutionen nachdenken. Hämische Schadenfreude über das Marktversagen und die Hoffnung auf eine Wiederkehr alter staatssozialistischer Ideen

8Am

Beispiel der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur freien Mobilität von Arbeit innerhalb der EU zeigen zwei US-amerikanische Sozialwissenschaftler (­Caporaso und Tarrow 2008, S. 10) gleichsam aus einer Außensicht die Einbettung von Märkten „­within a broader set of social and political rules and cultural understandings.“

12.2  Gesellschaftliche Institutionen und Regulierung

361

sind der Situation ebenso unangemessen wie ein nur hektisches Verändern von Details des bestehenden Regulierungssystems. Soziale Netzwerke, Markt, Beruf, Organisation und Staat unterscheiden sich als soziale Institutionen nach ihren jeweils vorherrschenden Handlungsnormen und Ressourcen. Nationale Gesellschaften zeichnen sich durch jeweils eigene Konfigurationen dieser Institutionen aus. Entsprechend haben diese sozialen Institutionen auch für das Entstehen und die Dynamik der Finanz- und Wirtschaftskrise je nach Land durchaus ein unterschiedliches Gewicht. Soziale Netzwerke funktionieren nach dem Prinzip unspezifischer Reziprozität entsprechend dem Motto ‚ich kenne den und helfe der, irgendwann wird mir auch geholfen werden‘. Ihre ‚Währung‘ ist das soziale Kapital als die sozial relevanten Beziehungen. Der Markt ist keineswegs der Urmechanismus menschlichen Zusammenlebens, sondern eine erst recht spät in der Evolution entstehende Institution. Die dominante Handlungsnorm ist dabei die individuelle Nutzenmaximierung durch Tausch, die Ressource ist ökonomisches Kapital. Berufe definieren und monopolisieren als Institutionen wirtschaftlicher Koordination Wissens- und Tätigkeitsbereiche; sie definieren die hierfür nötige Ausbildung und kontrollieren den Zugang zu Erwerbsbereichen. Ihre dominante Handlungsnorm ist Berufsethos: Dinge werden so gemacht, wie sie fachlich nach bestem Wissen und Gewissen gemacht werden müssen. Über Zertifikate, Titel und Berufserfahrung kann Bildungskapital als Ressource gebildet werden. Organisationen als arbeitsteilige Kooperationsgefüge, die sich durch Ziele, Strukturen und Mitgliederregeln von ihren Umwelten absetzen, entstanden erst mit der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Dominante Handlungsnormen werden durch Organisationsregeln gesetzt. Organisationales Kapital als wichtigste Ressource wird durch hierarchische und funktionale Positionen sowie durch die Kontrolle von Unsicherheitszonen gebildet. Durch das öffentliche Regime als soziale Institution schließlich werden allgemeine und erzwingbare Rahmenbedingungen für Wirtschaftshandeln gesetzt. Hierbei wirken staatliche (z. B. Gesetzgeber) und staatlich autorisierte Organe (z. B. Tarifparteien) sowie zivilgesellschaftliche Akteure (Medien, soziale Bewegungen etc.) durch Regelsetzung und Diskurse ein. Die Hauptwährung ist hier das politische Kapital. Soziale Institutionen sind dauerhafte und komplexe Gebilde von Routinen, Regeln, Normen und wechselseitigen Erwartungen. Sie strukturieren jeweils bestimmte Bereiche des Lebens und definieren die hierfür angemessenen Handlungsprogramme. Diese sozialen Institutionen stiften Identität, Integration, Stabilität und Berechenbarkeit. Nationale Gesellschaften zeichnen sich durch jeweils besondere Ausprägungen und Gewichtungen dieser Institutionen aus. Diese nationalen Institutionenarrangements weisen eine enorme ­Dauerhaftigkeit

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12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

über Generationen, politische und sonstige Konjunkturen hinweg auf. Sie verändern sich aber auch durch (nationalen) sozialen Wandel und werden durch verschiedene länderübergreifende Entwicklungen wie z. B. technische Innovationen oder die Globalisierung der Finanzmärkte stark beeinflusst. Obwohl in den gleichen globalen Gesamtzusammenhang eingebettet, muss die Finanzkrise in Deutschland deshalb anders diskutiert und bearbeitet werden als in den USA. Deutschland, die USA und andere Länder unterscheiden sich nicht nur nach dem jeweiligen Verhältnis von Markt und Staat. Auch die Beruflichkeit von Arbeit spielt eine sehr unterschiedliche Rolle – dies zeigt sich etwa an den general managers in England und den USA, an der Bedeutung von öffentlichen Elite-­ Verwaltungsuniversitäten für französische Führungskräfte und an der (zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts typischen) Dominanz von fachlich versierten Ingenieuren in den Vorständen deutscher Unternehmen. Die Variationen der Organisation äußern sich in den jeweiligen Unterschieden von Unternehmensstrukturen und -kulturen. Dass auch die sozialen Netzwerke in den Ländern ein unterschiedliches Gewicht und Gesicht haben, zeigt sich daran, dass Geschäftsabschlüsse in einigen Ländern in Golfclubs, in anderen in Dampfsaunen, Gourmet-Restaurants oder in der obersten Etage eines Bürogebäudes getätigt werden. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise lässt sich nicht verstehen und auch nicht nahhaltig kurieren, wenn nicht alle fünf Institutionen und ihre Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren in den Blick genommen werden. Vereinfacht lässt sich sagen: Ursache und Ausmaß dieser Krise hängen eng damit zusammen, dass dem Markt als sozialer Institution einseitig ein viel zu großes Gewicht eingeräumt und das Verhalten in den Finanzmärkten weitgehend durch informelle soziale Netzwerke strukturiert wurde. Die Investmentfondsmanager und Rating-Verantwortlichen waren ‚marktkonform‘ auf die Maximierung kurzfristiger korporativer Renditen und ihrer persönlichen Vorteile programmiert. Sie bewegten sich vom morgendlichen Fitnesstraining bis zur abendlichen AfterWork-Party in geschlossenen informellen Netzwerken von epistemic communities, die sich nur über ein marktlich-wettbewerblichen Normenmuster, aber nicht etwa über ein professionelles Ethos wie dem des ‚ehrlichen Kaufmanns‘ bzw. der ‚kaufmännischen Vorsicht‘ definierten.9 Wie stark letztlich informelle Netzwerke große Kapitaltransaktionen bestimmten, zeigt sich am Fall des inzwischen verhafteten Finanzjongleurs Bernard Madoff in den USA, der nach eigenen

9Vgl.

http://www.wirtschaftslexikon24.net/d/imparitaetsprinzip/imparitaetsprinzip.htm und http://bundesrecht.juris.de/hgb/__252.html.

12.2  Gesellschaftliche Institutionen und Regulierung

363

Geständnissen mithilfe eines Schneeballsystems Tausende von Anlegern, die ihm persönlich vertraut hatten, um insgesamt 170 Mrd. US$ betrogen hat. Die Akteure des internationalen Finanzmarktgeschehens waren zwar in Banken und anderen Finanzunternehmen angestellt. Auch existierten teilweise durchaus formale Kontrollbefugnisse der Shareholder bzw. Stakeholder gegenüber den Banken (etwa des deutschen Bundesfinanzministers Steinbrück im Aufsichtsrat der WestLB). Dennoch hatten die großen international operierenden Banken und Finanzorganisationen als Hauptakteure im Finanzkapitalgeschäft als soziale Institutionen nur eingeschränkte oder keine kontrollierenden oder gar steuernden Funktionen gegenüber ihren besonders ‚erfolgreichen‘ Investmentmanagern. Dies wurde nur allzu offenkundig bei den Zockereien einzelner Fondsmanager, die ganze Bankorganisationen in den Ruin trieben. Den Organisationen als Prinzipalen war die Kontrolle über ihre Investmentspezialisten als Agenten völlig entglitten. Da aber einige Organisationen durch das unkontrollierte Handeln einiger ihrer Organisationsmitglieder eine Zeit lang sehr viel Geld verdienten, ließen die Prinzipale ihre Agenten blind gewähren – in diesem Ausmaß ein Novum in der modernen Organisationsgeschichte. Da es für die jungen Investmentfondmanager keine institutionalisierte Berufskarriere und kein an die Gesellschaft als Ganzes zurückgebundenes Berufsethos gab und gibt, versagte hier nicht nur die Institution Organisation, sondern auch die der Beruflichkeit von Arbeit. Im öffentlichen Regime staatlichen Handelns und gesellschaftlicher Diskurse schließlich gelang es weder, operative Mindestregeln für Sicherheiten und Transparenz auf den Finanzmärkten zu etablieren, noch diese in eine langfristige Perspektive nachhaltiger gesellschaftlicher Entwicklung einzubinden. Die Finanz- und Wirtschaftskrise enthüllt also Defizite nicht nur im Hinblick auf den Markt und auf soziale Netzwerke, sondern auch bezüglich der sozialen Institutionen Organisation, Beruf und öffentliches Regime. Das Finanzmarktdebakel hätte nicht die jetzigen realwirtschaftlichen Ausmaße angenommen, wenn soziale Netzwerke, Märkte, Berufe, Organisationen und das öffentlich-staatliche Regime in anderer Weise zusammengewirkt hätten. Wenn diese Diagnose stimmt, dann sollte auch die Therapie entsprechend breit ansetzen. Hierzu gehören neue intergouvernemental abgestimmte Regeln und Mindestnormen für Finanzmärkte (Mindestabsicherungen für Fondsgeschäfte, Verbot bestimmter Finanzprodukte, Transparenz aller Finanzströme etc.). So wie es in vielen nationalen öffentlichen Regimes verankerte Aufsichtsbehörden für wirtschaftliche Machtkonzentration gibt (wie z. B. Monopolkommissionen), so müssen Experten auch neue Formen der Transparenz, Überwachung und Kontrolle für die internationalen Finanzmärkte entwickeln.

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12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

Für Banken und andere Finanz-Organisationen muss gelten, dass sie das Handeln ihrer Mitglieder, vor allem der Fach- und Expertengruppen in geeigneter Weise als Prinzipale regulieren und kontrollieren können. Durch klare Leitbilder und vor allem durch eine Kultur korporativer Verantwortung müssen alle Organisationsmitglieder auf Mindeststandards in ihrem Arbeitshandeln verpflichtet werden. Hätten die betroffenen Finanzinstitute eine klare Politik der Corporate Responsibility als Instrument moderner Organisationsentwicklung und Risikosteuerung tatsächlich umgesetzt, so hätte es die Finanzkrise in diesem Ausmaß kaum gegeben. Verbindliche und nachhaltige Legitimationsstrategien gegenüber den wichtigsten Stakeholder-Gruppen sind ein wichtiges Gegengewicht zu grenzenlosen Shareholder-Erwartungen. Damit eine verstärkte Führung von Finanz-­Organisationen nicht einfach zu Zentralisierung und Bürokratisierung führt, bedarf es auch erweiterter Legitimation der Führungen dieser Organisationen. Hierfür ist Partizipation ein bewährtes Instrument. Trotz einiger Beispiele für Fehlverhalten hat die Mitbestimmung von Beschäftigten auf betrieblicher und Unternehmensebene insgesamt dazu geführt, dass sich Organisationsleitungen vielfältiger gegenüber den Organisationsmitgliedern und ihren Vertretungen legitimieren müssen. Die meisten Beschäftigten von Finanzeinrichtungen haben ebenso wie diejenigen von Profit-­Organisationen insgesamt in der Regel ein Interesse an nachhaltiger und berechenbarer Entwicklung ‚ihrer‘ Organisation. Im Hinblick auf die Beruflichkeit von Wirtschaftshandeln erfordert eine ganzheitliche institutionelle Perspektive, stärker Aspekte korporativer Verantwortung in die Ausbildung von Finanzspezialisten, Ingenieuren, Sozialwissenschaftlern und auch Naturwissenschaftlern einzubauen. Ähnlich wie in der Medizinerausbildung Fragen der Ethik immer relevant waren (und sich z. B. im Hippokratischen Eid niederschlagen), sollten solche Themen wie Nachhaltigkeit gesellschaftlicher Entwicklung, Verantwortung gegenüber gesellschaftlichen Gruppen und zukünftigen Generationen sowie Legitimation und Demokratisierung von Entscheidungen im Arbeitsleben fest in den Ausbildungskanon der Schulen und Universitäten eingebaut werden. Ob sich epistemic communities als moral- und verantwortungslose ‚Abzockerclubs‘ oder als Verantwortungsgemeinschaften mit Professionsethos bilden, hängt ganz entscheidend von ihrer sozialen Verankerung und auch von Ausbildung und Bildung ab.10 In diesem Sinne ist auch die spezifische Ausgestaltung

10Am

Beispiel einer transnationalen Initiative zum kreativ-innovativen Umgang mit dem Urheberrecht in Zeiten des Internet untersuchen Dobusch und Quack (2008) die Entstehung einer epistemic community im Wechselspiel mit einer NGO und sozialen Bewegungen und zeigen die vielfältigen, zum Teil nicht intendierten Effekte dieser erfolgreichen Kooperation.

12.2  Gesellschaftliche Institutionen und Regulierung

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der sozialen Netzwerkbeziehungen kritisch zu hinterfragen. Wirtschaftsakteure, die jeden sozialen Bezug zu anderen Berufs- und Einkommensgruppen verloren haben, können sich nur schwer nachhaltig und gesellschaftlich verantwortlich verhalten. Durch Führungskräftepraktika bei Sozialhilfeeinrichtungen oder Hilfsprojekten können neue Netzwerkbeziehungen als soziales Kapital aufgebaut werden. Eine solche nachhaltige Investition in Corporate Responsibility wurde von einigen Unternehmen bereits als zielführend erkannt, sie hat aber bisher noch keinen Eingang z. B. in Bilanzierungssysteme gefunden. Die übertriebene Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens, wie sie in den letzten Jahrzehnten beobachtet werden konnte, entspricht nicht der historisch gewachsenen und sich wechselseitig befruchtenden Vielfalt gesellschaftlicher Institutionen in Deutschland und Europa. Ob eine solche Marktüberhöhung für die USA oder andere Länder langfristig vorteilhaft wäre, mögen die betroffenen Menschen selbst beurteilen. Der europäische Einigungsprozess hat in den letzten fünfzig Jahren viel Nutzen aus der institutionellen Vielfalt seiner Länder und Kulturen gezogen. In der Spannung von Konvergenz und Divergenz liegt hier auch weiterhin viel Potenzial für soziale Innovationen. Die emergierende Netzwerktextur internationaler Erwerbsregulierung wird sicherlich nicht einfach eine Kopie dieser europäischen Erfahrungen sein. Aber die Länder Europas können durch ihren eigenen Weg und ihre institutionellen Erfahrungen wichtige Knotenpunkte für die Regulierung der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen im Globalisierungsprozess bieten. Das Beispiel einer erweiterten institutionenbezogenen Analyse der im Jahre 2008 augenscheinlich gewordenen Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, dass das Thema der Erwerbsregulierung in einen erweiterten Rahmen von Regulierung und von institutioneller Strukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt eingebettet betrachtet werden sollte. Vieles spricht dafür, dass die Welt nach dieser Krise weder zur monopolaren Struktur einer USA-Hegemonie noch zur alten bipolaren Welt des 20. Jahrhunderts zurückkehren wird. Wenn die VR China und andere Schwellenländer ein zunehmendes Gewicht in der internationalen Ordnung des 21. Jahrhunderts einnehmen, dann bedeutet dies vor allem auch, dass die einfachen Gegenüberstellungen von Markt versus Staat immer obsoleter werden. Denn in vielen dieser Länder haben soziale Netzwerkbeziehungen ein traditionell starkes Gewicht, und große (Betriebs- oder Unternehmens-)Organisationen können im Hinblick auf Erwerbsregulierung eigene Mikrokosmen jenseits von Markt und Staat ausbilden. In vielen früh industrialisierten Ländern formt die Beruflichkeit von Arbeit auch weiterhin die Erwerbsbedingungen und Erwerbsbeziehungen.

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12  Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung

Die Zukunft der Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt ist weitgehend offen. Schon heute besteht ein immer enger werdendes Geflecht von grenzüberschreitenden Normen, Mechanismen, Akteursgruppen und Interaktionsstrukturen. Es speist sich aus dem Wirken vielfältiger sozialer Institutionen und kollektiver sowie korporativer Akteure. Im Hinblick auf generelle globale Regelungsstrukturen resümierte Mayntz (2005, S. 15 f.): „Es ergibt sich das Bild eines locker um die UN als staatszentrierte supranationale Organisation herum gruppierten, aber auch lateral (zum Beispiel zwischen öffentlichen und privaten Akteuren) verbundenen Netzwerks an internationalen und transnationalen Organisationen (IGO und INGO), wobei die Unterorganisationen der UN, die Bretton-Woods-­ Organisationen und die großen NGOs drei erkennbare Cluster darstellen.“ Für den Bereich der Erwerbsregulierung wurde in diesem Buch ein differenziertes und vielfältiges Bild gezeichnet, in das die Unternehmen und sozialen Bewegungen ebenso einbezogen sind wie starke supranationale Einrichtungen. Dabei zeigte sich, dass Europa die vergleichsweise wohl fortgeschrittensten Erfahrungen in der Internationalisierung der Regulierung von Erwerb, Wirtschaft und Gesellschaft aufzuweisen hat. In welchem Ausmaß demokratisch legitimierte Akteure die emergente Netzwerktextur internationaler Erwerbsregulierung aktiv und bewusst mitgestalten und wie stark diese das Ergebnis nicht intendierter, eher naturwüchsig ko-evolutionärer Prozesse sein wird, kann nur die zukünftige Forschung zeigen.

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Stichwortverzeichnis

A Abel, 7, 51, 94, 126 Abkommen, 125, 205, 232 Ackers, 155, 157, 161, 162, 172, 174, 175, 178 Action Programmes s. Maßnahmeprogramm Adidas, 5, 349 Afrika, 28, 78, 96, 208, 209, 211, 268, 301 Agenda-Setting, 235, 331 Ägypten, 346 Aidt/Tzannatos, 239 AKP-Staat, 301 Akteur, dominanter, 70, 80 Albrecht-Brüder, 325 Alcoa Aluminium, 5 Aldi, 324 All India Agreements, 162 Trade Union Congress (AITUC), 162 Amerika, 208, 211 Amman, 208 Arbeit s. Erwerbsarbeit Anerkennungsarbeit, 13 Beruflichkeit von, 15 bürgerschaftliche, 13 Entäußerungsarbeit, 13 gute, 309 Plus, 309 schöpferische, 13 Arbeitervertretungsrat, 140 Arbeitgeberverband europäischer, 307 internationaler, 212

Arbeitsbedingung, 324, 327 Arbeitsgericht, 81, 123 Arbeitskomitee, 159 Arbeitskonflikt, 86, 123, 130–134, 136, 140, 150, 151, 163, 165, 172 Arbeitskontrolle, Formen der, 70 Arbeitsmarktforschung, sozialwissenschaftliche, 11 Arbeitsmigration, 17, 18, 233 Arbeitspolitik, Studien zur, 11 Arbeitsrechtsüberwachungskomitee, 142 Arbix, 3 Argentinien, 91, 93, 284 Artus, 72, 78 ASEAN (Association of Southeast Asian Nations), 212 Asien, 96, 179, 208, 215, 268, 276 Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), 241 Athreya, 129, 133 Attac, 331 Aushandlung, kollektive s. Regulierungsarena Aussperrung, 81, 82, 162 B Bakvis, 233 Bananenarbeitergewerkschaft, 300 Bartlett, 214 Beck, 25, 26, 249 Behrens, 83

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26869-5

391

392 Belgien, 86, 87, 108 Bell, 22 Benetton, 273 Bentley, 215 Berichte über die Einhaltung von Standards und Policies (ROSCS), 240 Berlin, 206 Beruf s. Institution Beschäftigungsbedingung, 2, 241 Betriebsverfassungsgesetz, 74, 113 Bhattacherjee, 155, 157, 161, 162 Bispinck, 72 blaming, 233 Blas, 357 BMW, 23 Boeing, 215 Bologna-Prozess, 190 Bombay, 172 Industrial Relations Act, 172 Botterweck, 160 Bourdieu, Pierre, 22 Brancheneffekt, 187 Brandl, 94 Brasilien, 3, 73, 74, 77, 206, 268, 284, 342, 346 Brater, 26 Bretton Woods Konferenz, 201 Brossard, 64 Budhwar, 174 Burawoy, 50 Business Social Compliance Initiative (BSCI), 327 unionism, 92 BusinessEurope, 213

C Chan, 128, 129, 131, 143, 144, 146 Cheng, 130, 132 Chile, 342, 343 China, 2, 9, 12, 15, 17, 18, 25, 77, 78, 365 Chiquita, 273, 288, 294, 299, 301, 303 Clean Cloth Campaign, 8, 222, 324 closed-shop-Prinzip, 229 Codes of Conduct, 266, 269, 273 Coleman, James, 22

Stichwortverzeichnis collective, 70 bargaining, 37, 90 Comisiones Obreras, 207 Common Law, 158 Community Based Organisation, 154 Compa, 234 compadrazgo-System, 22 concession bargaining, 110 Containergesellschaft, 355 Continental AG, 5 core conventions, 232 Corporate Responsibility, 266, 287, 364 social responsibility (CSR), 10, 40 Costa Rica, 4, 185 Cotton, 268 Croucher, 268 custom and practice, 69, 73, 79

D Daimler, 215, 277 DaimlerChrysler, 280 Dänemark, 300, 343, 353 Darbishire, 7, 186 Decent Work s. Programm für menschenwürdige Arbeit Deeke, 23 Despotismus, desorganisierter, 130 Deutschland, 258, 266, 274, 275, 280, 284, 308, 310 Dialog, sozialer, 248, 296 Diaspora-Internationalisierung, 195, 339 Dienstleistungssektor, 155 Ding, 139, 149 Directives s. EU-Richtlinie Direktive 95/94/EC, 71 Diskussionspapiere, 250 Divergenz, 9, 154, 184–187, 189, 365 DOHA-Runde, 205 Dole, 4, 300 Dombois, 42 Dong-One, 149 Dow Jones Sustainability Index (DJSI), 61, 310 Dreher, 204

Stichwortverzeichnis E ECOSOC, 198 Edwards, 50 Eller-Braatz, 259 Employment Relations, 39 Encomendadosystem, 16 Enderlein, 359 England, 23, 25, 73, 362 epistemic communities, 362, 364 Erklärung kernbezogene, 265 konzernbezogene, 244 Erne, 357 Erwerbsarbeit, 1, 12 abhängige, 12, 15, 25 Institutionen der Strukturierung von, 57 Kontexte von, 12 selbstständige, 63 Erwerbsregulierung Definition, 64 im institutionellen Kräftefeld, 65 in vergleichender Perspektive, 63 internationale, 209, 354 Estland, 342, 343, 346 ETUI (European Trade Union Institute), 60, 61 EU-Empfehlung und -Stellungnahme, 249 EU-Richtlinie, 249 Euro-Betriebsrat, 250, 252, 253, 260, 274 Europäische Union, 95, 189, 234, 244 Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), 248 Gerichtshof, 31 Gewerkschaftsbund ETUC, 251 European Banana Action Network (EUROBAN), 4 Industrial Relations Observatory, 95 EU-Verordnung, 249 EU-Vertrag, 249

F Fair Trade, 40, 61, 222, 316 FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), 197

393 Fibres and Fabrics International (FFI), 5 Finanzkrise, 6, 313, 362 Finnland, 76, 78, 81, 86 Flower Label Program, 316 Ford, 23 Forenede Danske Brugsforeninger (FDB), 4 Frankreich, 17, 25, 28, 69, 71, 74, 77, 81, 84 Freihandelsabkommen, nordamerikanisches, 241 Fröbel, 267 Fürstenberg, 27, 41

G GAP, 215, 273 Gareis, 198 GATT (General Agreement on Tariffs and Trade), 204 Geburtenkontrollpolitik, 155 general managers, 362 General Motors, 75, 259, 276 Genf, 197, 199, 200, 204, 208 Gent-System, 86 Geschichtswissenschaft, V Gesetzgebung, suprastaatliche, 7 Gewerkschaftsfreiheit, 8 Gewerkschaftsgesetz, 128, 130, 136 Gewerkschaftsverband, internationaler, 207 Ghoshal, 215 Gilman, 187 Glick, 41, 189 Global player, 5 Reporting Initiative (GRI), 316 Union Federation (GUF), 61, 268 Global Compact, 60, 123, 189, 222, 269, 270, 272, 318, 335 globale Gewerkschaftsförderationen, 210 Globalisierung, 241, 248, 265, 269 Glokalisierung, 192, 194, 303 Goodman, 82 Governance europäische, 336 supranationale, 350 transnationale, 346

394 Grande, 249 grandfather-rights-Prinzip, 205 Green Papers Diskussionspapiere, 250 Greenpeace, 323, 331 Greven, 211, 223, 324 Grimshaw, 188 Großbritannien, 248, 253, 256, 266, 339, 343, 347 Guanxi, 22 Guatemala, 328 Guidelines for Multinational Enterprises, 341

H H&M, 215 Haciendas, 16 Hall, 43, 64 Halpern, 64 Hamm, 270 Hancké, 257 Hauser-Ditz, 45 Helbig, 258 Hepple, 94 Hertwig, 253, 257 Heuer, 136, 152 Heuser, 142 Hildebrandt, 49, 66 Hinchliffe-Darricarere, 234 hire and fire, 3 Hochniveautransfer, 258 Hoffmann, 257 homo faber, 13 ludens, 13 oeconomicus, 13 sociologicus, 13 Honduras, 4 Howe, 94 Huehmer, 83

I Idealtypen von Arbeit, 13 Ideologie

Stichwortverzeichnis antagonistisch-klassenkämpferische, 91 gemeinsame, 70, 91, 93 populistisch-korporatistisch, 92 sozialpartnerschaftliche, 92 utilitaristische, 92 IFC Policy and Performance Standards on Social and Environmental Sustainability, 239 IG Metall, 272, 280, 282 IKEA, 288, 339 ILO, 7, 8, 10, 16, 61, 74, 76, 139, 152, 178, 180, 197, 199, 200, 211, 226, 228, 230, 232, 233, 235, 238, 243, 295 Empfehlungen, 200 Konventionen, 155 ILO-Kernarbeitsnorm, 298 ILO-Mindeststandard, 31, 61, 176, 269, 302 Imhasly, 178 Indian Labour Conference (ILC), 155 National Trade Union Congress (INTUC), 160 Indien, VII, 15, 28, 90, 94, 96, 154, 155, 158, 161, 163, 164, 173, 176–180, 183, 221, 328, 329 Indonesien, 206, 282 Industrial Relations Journal, 178 Industrielle-Beziehungs-Forschung, 11 Institution Erwerbsarbeit, strukturierende, 32, 60 Institution, soziale s. Institution Beruf, 21, 25 Markt, 21, 23 Netzwerk, 20, 21 Organisation, 21, 28 Regime, öffentliches, 21, 30 International Bund Freier Gewerkschaften (IBFG), 207 Framework Agreement (IFA), 277, 285, 299 Gewerkschaftsföderation, 293 Rahmenabkommen, 7, 300 Trade Union Confederation (ITUC), 208, 210 International Organisation of Employers (IOE), 4

Stichwortverzeichnis Internationaler Metallgewerkschaftsbund, 276 Internationalisierung, 303, 339 Idealtypen der, 10, 193, 196 Israel, 342, 343, 346 Ittermann, 51

J Jürgens, 52, 54

K Kampagne, 224, 274, 324 öffentliche, 61, 222, 244, 323 Kapital, 27 kulturelles, 21, 60 ökonomisches, 60, 86 organisationales, 86 Organisations-positionales, 60 politisches, 60, 86 soziales, 60, 90 Katz, 186 Keller, 253, 257, 357 Kernarbeitsnormen, 201, 204, 223, 225–227, 232, 244 Kerr, 29 Key Indicators of the Labour Market (KILM), 201 Kieser, 66 Kinderarbeit, 75, 155, 175, 225, 228, 237, 299 in Indien, 328 Kittner, 80 Klebe, 259 Koalitionsfreiheit, 33, 76, 129, 139, 155 Kolonie, 301 Kommunikationswissenshcfat, V Konfiguration, kontingente, 64 Konfliktregulierung, 68, 70, 80, 119 Konvergenz, 154, 184, 185, 187 Konvergenzthese, 7 Kooperationsmodell, 28 Koordination der Bananenarbeitergewerkschaften in Honduras (COSIBAH), 4 Korporatismus, wohlfahrtsstaatlicher, 93 Kuruvilla, 172, 178

395 L Label, 222, 308 produktbezogenes, 40 Labeling, 245, 309, 316 Labour Disputes Arbitration Advisory ­Committees (LDAAC), 140 Law Surveillance Committee (LLSC) s. Arbeitsrechtsüberwachungskomitee Labour-Process-Debate, 66 Lateinamerika, 78, 268, 301 Lateinamerikanische Koordination der Bananenarbeitergewerkschaften (COLSIBA), 4 Lean Production, 125, 186, 188 learning by doing, 29 Lecher, 186, 256, 258 Lee, 130 Lehmbruch, 43, 91 Leonardi, 86 Lerneffekt, 187, 223 Lettland, 346 Levis, 273 Ließmann, 32 Litauen, 342 Longbridge-Krisen, 259 López, 357 Lüthje, 130, 149 Lutz, 11, 29, 97, 184

M Machtressource, 54, 70, 152, 221 MAI (Multilateral Agreement on ­Investment), 343 Marginson, 355 Markt s. Institution Marktgesellschaft koordinierte, 64 liberale, 64 Marktmodell, neoklassisches, 15 Marschall, 22 Martínez, 355 Maßnahmenprogramm, 250 Mattel, 2 Maurice, 29, 64

396 McCoy, 233, 238 Mediatisierungskomitee, 140 Meistbegünstigungsklausel, 205 Mercosur, 212 Mexiko, 229, 241, 243, 282, 284, 304, 343 Millenium Development Goals, 7 Mindestarbeitsstandard, globaler, 224 Mindeststandards der Menschenrechte, 7 Minssen, 66, 125, 358 Mittelalter, 26, 31, 64 Modell deutsches, 254 französisches, 254 Mondragón, 28 Monitoring, 85, 199, 200, 233 International Labor Standards, 316 Moreau, 357 Moskau, 208 Müller, 267, 268, 280, 285 Müller-Jentsch, 72 Multilateral Agreement on Investment (MAI), 5 Multinational Guidelines, 8, 206, 224 Mumbai, 172 Münch, 249

N NAFTA, 10, 188, 192, 193, 212 Nagel, 256 Naher Osten, 15 Naschold, 52, 89 National Apex Body, 163 Center for Labour (NCL), 175 Labor Relations Act, 229 Nationale Föderation der Freien Bauern- und Indigena-Organisationen (FENACLE), 4 Nationalisierung, 195 Nationalismus, methodologischer, 220, 222 Neidhardt, 331 Neoklassik, 89 Netzwerk s. Institution New York, 203, 208

Stichwortverzeichnis Nicht-Regierungsorganisation, internationale, 217 Nike, 273, 349 NOKIA, 274 Nordamerika, 10, 16, 178, 185, 345 Nordamerikanische Abkommen über Arbeitskooperation (NAALC), 241 Nordamerikanischer Freihandelspakt (NAFTA), 192 Normalarbeitsverhältnis, 16, 42 Norwegen, 78, 81, 324 Nutini, 22 O OAS (Organisation Afrikanische Einheit), 192 OECD, 195, 204, 206 Leitsätze, 224 Observer, 206 Richtlinie, 5 Öffentlichkeit, globale, 2, 5, 95 transnationale, 8 Ohno, 23 Ökonomie, neoklassische, 15 Olle, 267 Organisation s. Institution Österreich, 15, 18, 69, 71 P Panama, 4 Partizipationsbedingung, 7, 11, 35 Partridge, 82 Perkins, 245 Peru, 346 Pfadabhängigkeit, 185 Philipps, 215 Piehl, 267 Platzer, 268, 286, 294, 297, 303, 304 Policy Framework Paper, 203 political bargaining, 90 Porsche, 215 Priegnitz, 272 Pries, 22, 28, 29, 42, 64, 82, 91, 94, 122, 124, 184, 189, 192, 195, 215, 228, 259

Stichwortverzeichnis Prinzipal-Agent, 66, 85, 90 Prinzipal-Agenten-Verhältnis, 46 Programm für menschenwürdige Arbeit, 235 public-blaming, 274 Purushothaman, 155

R Radday, 32 Rahmenabkommen, internationales, 4, 7, 244, 266 Ranganathan, 172 Rauch, 177, 178 Recommendations and Opinions s. EU-Empfehlungen und -Stellungnahmen Regime,öffentliches s. Institution Regulations s. EU-Verordnung Regulierung, explizite, 34 Regulierungsarena, 70, 75, 76 diskursive Legitimation, 72 Gesetz, 152 Tarifvertrag, 73, 74 Vereinbarung, betriebliche, 73, 76 Vertrag, individuell, 85 Regulierungsbezug, 67, 68 Regulierungsergebnis, 67, 68 Regulierungsmodus, 69, 75, 78 Reichweite, räumliche, 180, 356 Richtlinien-Artikel-6-13-Effekt, 187 Riisgaard, 300–303 Risse, 350 Rodriguez, 3 Ross, 66 Rüb, 277 Rubery, 188 Rucht, 331 Rugmark, 316, 328 Rumänien, 17, 248, 346 Russland, 22, 79, 83, 294

S Samuel, 160 Sandoz, 215

397 São Bernardo, 2, 3 Sarajevo, 208 Sassen, 192 Scherrer, 274 Schiller, 41, 189 Schlichtungskomission, 132, 133 Schmidt, 52, 86 Schmitter, 91 Schorlemer, 272 Schroeder, 86 Schulten, 72 Schultz, 113 Schweden, 186, 285, 324, 343 Schwetz, 190 Scullion, 50 Seidman, 328 Self Employed Women Association (SEWA), 175 Seltz, 49 Sengenberger, 11, 229, 359 Senghaas-Knobloch, 94, 229 Senioritätsrecht, 3 Shareholder, 57, 75, 122 Shell, 273, 323 Shen, 128–130, 134, 135, 137, 140 shop stewards, 82 Singapur, 179, 235 Singh, 155 Sinha, 156, 161 Sisson, 187 Skandinavien, 71, 92, 93 Sklaverei, 16, 24 Slowenien, 78, 342 Smith, 139 Social Accountability, 274 8000, 85 International Standard, 313 societas europeae, 252 Solidarleistungsgesellschaft, 28 Soskice, 43 Sowjetunion, 96, 207 Sozialgeographie, V Sozialpartnerschaft, 37, 92 Sozialpolitik, europäische, 248 Sozialwissenschaft der Erwerbsregulierung, 11

398 Spanien, 71, 81, 83, 108 Specialist Agency, 198 Staff and Workers Representative Councils (SWRC), 142 stakeholder, 271 Stammsitzeffekt, 187 statutory model effect, 187 Streeck, 257 Streik, 104, 107, 132, 151 Süd-Korea, 179 SÜDWIND, 325 Sustainable Environment and Ecological Developments Society (SEEDS), 175 SWRC, 142, 143, 145, 146, 153

T Taiwan, 179, 196 Tarifvertragsgesetz, 74, 100, 103 Tarrow, 219 Tauschmodell, 14 Tauschvertrag, 14 Tendulkar, 164 Textur internationaler Erwerbsregulierung, 313 Thatcher, Margret, 38 The Body Shop, 273 Thomson Consumer Electronics, 255 Tokio, 206 Toyoda, 23 Toyota, 23 Trade Policy Reviews, 238 training on the job, 29 Transnationalisierung, 260, 303, 337 transplant-Werke, 215 Traxler, 54, 82, 83 Treaties, 249 Türk, 28

U UNCTAD, 197 UNESCO, 197 UNICE, 213 UNICEF, 328

Stichwortverzeichnis Universalismusthese, 7 UN-Mindeststandards für Arbeit, 136 UNO-Deklaration, 31 Unternehmenserklärung, freiwillige, 266 Urry, 192 USA, 193, 201, 215, 227, 229, 241, 276

V Varieties of Capitalism, 43, 64 Varwick, 198 Vereinbarung, betriebliche s. Regulierungsarena Vereinte Nationen, 198, 200, 234 Verpflichtungserklärung, freiwillige, 8 Vertrag, individueller s. Regulierungsarena Vertretung, 117, 119 Vilnius, 208 Volkswagen, 258, 267, 280, 283, 284

W Wahsner, 160 Warshaw, 300 Washington, 202 Weiler, 316 Weiner, 254 Weltautorat, 267 Weltbank, 201, 315 Weltgewerkschaftsbund, 207 Weltkonzernbetriebsrat, 258, 276 Weltkonzernrat, 276, 280 Weltverband der Arbeit, 207, 208 Weltwährungsfond, 174, 199, 201, 359 Werner, 357 Weßels, 86 Weston, 355 White Papers, 250 Whittall, 259 Whittingham, 82 Whyte, 28 Widuckel, 284 Wilson, 155 Wimmer, 41, 189 Wirtschaftskrise, 122, 132, 172, 359 work relations, 65

Stichwortverzeichnis World Company Councils (WCC) s. Weltkonzernrat Development Indicators, 177 Employment Report, 201 WTO, 204, 205, 235, 237, 238

X Xiaoyang, 129, 143, 144, 146, 148, 153

399 Y Yearbook of Labour Statistics, 201 Yeung, 22

Z Zertifizierung, 244, 245, 307 erwerbsbezogene, 308 zoon politikon, 13 Zwangsarbeit, 16, 75, 129, 225, 226, 228, 327