Erschriebene Erinnerung: Die Mehrdimensionalität literarischer Inszenierung 9783412218782, 9783412224875

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Erschriebene Erinnerung: Die Mehrdimensionalität literarischer Inszenierung
 9783412218782, 9783412224875

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Sanna Schulte (Hg.)

Erschriebene Erinnerung Die Mehrdimensionalität literarischer Inszenierung

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien · 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Axel Gellhaus: Schliere. Knokke Heist, 2012.

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22487-5

Inhalt Vorwort  .......................................................................................................... 

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Sanna Schulte und Heng Barone

Über das Erschreiben und Erfinden von Erinnerungen Einleitung  ................................................................................................. 

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  DIE MATERIALITÄT DER ERINNERUNG  .............................................................  19 Heng Barone

Musealer Gedächtnisraum und Erinnerungsinstallationen Erinnerung als räumliches Konzept in Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit  ............................................................................  21 Vera Heinen

Der Erinnerungsprozess in Friedrich Dürrenmatts Schreiblabyrinth  .....  49 Christina Ripeanu

Existenzielles Schreiben Der Erinnerungsprozess als Identitätskonstruktion in Franz Kafkas In der Strafkolonie und in den Gedichten Paul Celans  ........................  71   DIE HISTORISCHE DIMENSION DER ERINNERUNG  .. .........................................  93 Nikoletta Wassiliou

Grenzerfahrungen der Identität Dimensionen des Erinnerns im Dramenwerk Friedrich Schillers  .....  95 Till Hensen

Zum Zusammenhang von Erinnerung und jüdischer Identität in Günter Kunerts Erwachsenenspiele  .........................................................  119 Andrea Kuchenbuch

Tagebuch, Autobiografie, Sprachkritik Instrumentalisierung von Erinnerung am Beispiel von Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen  .............................  139

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Inhalt

  DIE DIALOGIZITÄT DER ERINNERUNG  ..............................................................  159 Barbara König

Unzuverlässige Erinnerung und Erinnerungskonstruktion in Vladimir Nabokovs Lolita  ........................................................................  161 Olga Blank

„Es ist ja keine Geschichte, es sind tatsächlich nur Erinnerungsfetzen“ Wolfgang Hildesheimers literarisches und bildkünstlerisches Werk in Relation  ................................................................................................  183 Hannah Bölling

Der Schreibprozess als Erinnerungskonzept Zum Motivzusammenhang in Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated  ........................................................................  207 Sascha Tuchardt

Erinnerung und Reproduktion von Gewalt in Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen und Die Ausgesperrten  .. ...............................................  230   DIE POLITISCHE DIMENSION DER ERINNERUNG  .............................................  249 Felix Kampel

„Mein Onkel Günther“ Deutsche NS-Erinnerungskultur nach 1945 und Probleme der Aufarbeitung am Beispiel von Olga Grjasnowas Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt  .. .......................................................  251 Hannah Tzschentke

Motive der Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit in Katja Petrowskajas Vielleicht Esther  . . .............................  270 Sanna Schulte

Nestbeschmutzung als Konstituierung einer Theorie des Gedächtnisses  . . ................................................................  287 Die Autorinnen und Autoren  .. .....................................................................  307

Vorwort Prof. Dr. Axel Gellhaus ist es zu verdanken, dass dieser Sammelband entstehen konnte; er hat uns mit viel Esprit das Thema Erinnerung nähergebracht und wertvolle Anregungen gegeben. Sein Engagement hat d ­ ieses Projekt mög­lich gemacht und mit seiner Unterstützung sollte es verwirk­licht werden. Durch seinen Tod am 30. September 2013, der für viele von uns vor allem ein ­großer persön­licher Verlust war, haben wir auch einen wichtigen Mitstreiter und ­Berater verloren. Es hat sich aber auch ein neuer Beweggrund ergeben, sich in die literaturwissenschaft­liche Arbeit zu vertiefen, dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart nachzuspüren und sich mit der Erinnerung zu beschäftigen: Dieses Buch soll dem Andenken an unseren passionierten Hochschullehrer und Mentor Axel Gellhaus gewidmet sein. Ein besonderer Dank gilt Martina Rester-Gellhaus, die uns ermutigt und mit den Fotografien ihres Mannes ein schönes und einzigartiges Geschenk gemacht hat. Die Bilder von Axel Gellhaus zeigen, dass er als Fotograf ebenso ein Interesse an den Motiven der Erinnerung hatte wie als Leser und Literaturwissenschaftler; die Arbeiten auf den verschiedenen Ebenen ergänzen einander. So ist in seiner Fotografie der Spiegelung der Kathedrale von Reims in einem Fenster auch der Erinnerungsprozess abgebildet: Als Gegenentwurf zu einem direkten Abruf zeigt die durch die Spiegelung vermittelte und gebrochene Perspektive, dass der Zugriff auf Erinnerungen nur indirekt mög­lich ist, und dass der Rückgriff auf Vergangenes – das Fenster lässt sich als Wahrnehmungsraster deuten – immer geprägt ist von der gegenwärtigen Perspektive. Als Titelbild d ­ ieses Bandes haben wir eine Fotografie von Axel G ­ ellhaus gewählt, die sich ebenfalls in Bezug auf den Erinnerungsprozess interpretieren lässt. Nicht nur der mäandernde Lauf des Priels, die Lichtreflexionen und die schillernden Schlieren auf der Wasseroberfläche können in ­diesem Kontext betrachtet ­werden. Das verbliebene Wasser im Priel und die Spuren im Sand verweisen auf das Meer und die Möwen, die da waren und nicht mehr da sind. Das Vergan­gene ist vergangen, bleibt aber gegenwärtig. Nicht zuletzt gilt ein herz­licher Dank auch dem Kanzler der RWTH ­Manfred Nettekoven, der unser Projekt großzügig gefördert hat, sowie der gesamten Studie­rendenschaft der RWTH Aachen, in deren Vertretung uns das Studieren­ den­parlament eine finanzielle Sicherheit gewähren konnte, die maßgeb­lich zur Realisierung ­dieses Buches beigetragen hat. Mit der Unterstützung von pro RWTH! und der Hilfe des Instituts für Germanistische und Allgemeine Litera­ turwissenschaft der RWTH Aachen konnte am 24. und 25. Oktober 2014 ein Workshop stattfinden, in dem die Thesen der in ­diesem Buch versammelten

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Vorwort

Axel Gellhaus: Kathedrale von Reims. 2006.

Beiträge vorgestellt und diskutiert wurden. Ein ebenso herz­licher Dank für den konstruktiven Gedankenaustausch gilt Prof. Dr. Marion Gymnich, Prof. Dr. Karin Herrmann und Prof. Dr. Hans-Joachim Hahn.

Sanna Schulte und Heng Barone

Über das Erschreiben und Erfinden von Erinnerungen

Einleitung Wir können nur mit dem Gedächtnis erfinden. Alphonse Karr

I

Die Erinnerung ist ein Phänomen von besonderem Interesse für Autorinnen und Autoren, weil sie unberechenbar und auch wenig steuerbar ist; sie ist darin der Fantasie nicht unähn­lich. Mnemosyne, die Mutter der Musen, verweist ebenso auf die enge Beziehung zwischen dem Gedächtnis und der Schöpfungskraft wie die berühmte Szene von Marcel Proust, in der der Geschmack einer Madeleine mit Lindenblütentee eine ganze Kaskade von Erinnerungen auslöst und dem Leser als direkte Folge den siebenbändigen Roman À la recherche du temps perdu präsentiert. Bei Proust heißt es: Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhn­liches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unserer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köst­lichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.1

Proust beschreibt hier eindring­lich das außerordent­liche Glücksempfinden, das eine wiedergefundene Erinnerung auslösen kann. Im Kontext der Erinner­ung meint Wiederfinden aber nicht bloße mimetische Wiedergabe

1 Proust, Marcel: In Swanns Welt. Frankfurt am Main 1997, S. 63.

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oder statische Reproduktion, vielmehr – so legt der Literatur- und Neurowissenschaftler Jonah Lehrer nahe – bedeute Erinnern auch immer Erfinden. Das Combray, das Proust in seinen Erinnerungen rekonstruiert, sei nicht wirk­lich das Combray seiner Vergangenheit; es sei viel schöner, gewissermaßen ein in historische Vergangenheit projizierter Sehnsuchtsort.2 Lehrer formuliert unmissverständ­lich: „Es ist sch­licht unmög­lich die Vergangenheit zu beschreiben, ohne zu lügen. Unsere Erinnerungen sind nicht wie Fiktion. Sie sind Fiktion.“3 Mit der Metapher von Original und Kopie versucht Lehrer, die Relation von realer Vergangenheit und Erinnerung zu illustrieren. Im Proustschen Sinne handele es sich bei Erinnerungen nicht um das faktisch Vergangene, sondern um „unvollkommene Kopien dessen, was sich tatsäch­ lich ereignet hat, die Kopie einer Kopie eines Abzugs des Originalfotos.“4 Jonah Lehrer schlussfolgert: „Wenn man die Erinnerung daran hindert, sich zu verändern, hört sie auf zu existieren. […] Wir müssen die Dinge fehlerhaft erinnern, um uns überhaupt an sie erinnern zu können.“5 Erinnern stellt eine anthropolo­gische Grundeigenschaft dar. In besonderem Maße wird dies auch bei Horst Bienek offenkundig. Für Bienek, der fünf Jahre seines Lebens im stalinistischen Lager ‚Workuta‘ inhaftiert war, fungiert das Gedächtnis nicht nur als Speicherort, um die in Gefangenschaft erdachten Gedichtzeilen zu konservieren, sondern nach der Amnestierung wird die Erinnerung an die Kindheit zum zentralen Movens für seine künftige schriftstellerische Tätigkeit und damit auch zu einem Modus, mit der ‚verlorenen Zeit‘ umzugehen. In seiner ersten Publikation, dem zwei Jahre nach seiner Entlassung veröffent­lichten Traumbuch eines Gefangenen 6, stellt er dem eigent­lichen Text ein Zitat von Proust voran: „La réalité n’existe que dans le rêve.“ Das Motto verweist nicht zuletzt auf die Fiktionalität der Erinnerungen, die den Gefangenen in seiner Zelle überfallen. Bienek vergleicht die Erinnerung mit einem Schatten, der uns immer folgt – und so, wie ein Mensch nicht ohne Schatten leben kann, kann er auch nicht ohne Erinnerung leben.7

2 Vgl. Lehrer, Jonah: Prousts Madeleine. Hirnforschung für Kreative. München, Zürich 2010, S. 133 f. 3 Ebd., S. 133. 4 Ebd., S. 134. 5 Ebd. 6 Bienek, Horst: Traumbuch eines Gefangenen. Prosa und Gedichte. München 1957. 7 Vgl. Bienek, Horst: Das allmäh­liche Ersticken von Schreien. Sprache und Exil heute. Münchener Poetik-Vorlesungen. München, Wien 1987, S. 90.

Einleitung

Dem Erinnern diametral gegenüber steht das Vergessen. In seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 8 akzentuiert Nietzsche die Dualität von Erinnern und Vergessen und betont damit einhergehend die Notwendigkeit des Vergessens für das mensch­liche Leben; ohne die Fähigkeit, etwas zu vergessen, würden wir unter der immensen Last der Vergangenheit zusammenbrechen: Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. […] Also: es ist mög­lich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glück­lich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmög­ lich, ohne Vergessen überhaupt zu leben.9

Ähn­lich wie Nietzsche beschäftigt sich auch Siegfried Lenz in seinen Reden und Aufsätzen Über das Gedächtnis 10 mit der „Gedächtnislast“11. Er aber sieht in der Literatur, die er als kollektives Gedächtnis versteht,12 und besonders im Schreiben „ein Handeln […] gegen das Vergessenwerden“13 und stellt der Last, die vom Gedächtnis ausgeht, die „Gedächtnisarbeit“14 gegenüber. Gedächtnisarbeit heißt für Lenz, dass die Gesellschaft eben nicht aus dem Schatten ihrer historischen Vergangenheit tritt, sondern die vergangene Wirk­lichkeit avanciert zum Maßstab, an dem die Errungenschaften oder das ‚Versagen‘ der Gegenwart gemessen werden können.15 II

Das langjährige Oberseminar Literatur und Erinnerung am Germanistischen Institut der RWTH Aachen hat sich zur Aufgabe gemacht, dem poetolo­gischen Stellenwert der Erinnerung nachzuspüren. Unter der Leitung von Prof. Dr. Axel Gellhaus wurde der Versuch, im Akt des Schreibens mentale Prozesse des Erinnerns anzustoßen und zugleich sprach­lich zu fixieren, als eine der großen Motivationen des Schreibens begriffen und an zahlreichen Beispielen untersucht.

8 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen II:Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: KSA I. Hrsg. v. Giorgio Colli und Montinari. 9. Auflage. München 2012, S. 243 – 334. 9 Ebd., S. 250. 10 Lenz, Siegfried: Über das Gedächtnis. Reden und Aufsätze. Hamburg 1992. 11 Ebd., S. 17. 12 Vgl. ebd., S. 7. 13 Ebd., S. 9. 14 Ebd., S. 18. 15 Vgl. ebd., S. 16.

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Angefangen bei Marcel Proust haben wir unter anderem Texte von W. G. Sebald, Christa Wolf, Thomas Bernhard, Cesare Pavese, Italo Calvino, Peter Handke und Herta Müller gelesen. Neben lyrischen Texten von Friedrich Hölderlin, Rainer Maria Rilke, Paul Celan und Ingeborg Bachmann standen auch theoretische Texte von Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin sowie Aleida und Jan Assmann zur Debatte. Die besondere Aufmerksamkeit der Studierenden genossen einerseits die Ausflüge des Seminars in den Bereich des Films mit beispielsweise Christopher Nolans Memento und Inception und andererseits die Diskussion der Texte von zeitgenös­sischen Autoren wie Elfriede Jelinek, Jonathan Safran Foer, Felicitas Hoppe und Frédéric Beigbeder. Auf die Initiative von Sanna Schulte ist aus ­diesem Seminar ein Team junger Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler mit dem Ziel, die erarbeiteten Erkenntnisse zu bündeln und die Thematik zu vertiefen, hervorgegangen. Besonders fasziniert hat uns der interdisziplinäre Charakter der Überlegungen zur Verknüpfung von Literatur und Erinnerung. Die in ­diesem Band versammelten Aufsätze zeigen deut­lich die Schnittstellen der Literaturwissenschaft zu anderen Wissenschaftsbereichen auf, darunter Pädagogik, Linguistik, Politikwissenschaft, Kunstgeschichte, Soziologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, Anglistik und Kognitionswissenschaft. III

Der Titel Erschriebene Erinnerung rekurriert sowohl auf die Bedeutung des Schreibens beim Festhalten von Erinnerungen als auch auf den kreativen Prozess, der diese Verschrift­lichung begleitet. Jede niedergeschriebene Erinne­ rung durchläuft einen Transformationsprozess; gemeint ist damit nicht nur die Übertragung gedank­licher Inhalte in die Materialität des Textes, sondern vor allem die Fiktionalität des Erinnerten. Die Komplexität des Phänomens ‚Erinnerung‘ lässt sich – will man es systematisieren – in mehrere Ebenen oder Dimensionen aufteilen: Materialität, Historizität, Dialogizität und die Dimension des Politischen. Zwar kann eine ­solche Kategorisierung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, dennoch erleichtert sie den Zugang zur Erinnerungsthematik und schafft differenzierte Reflexionsfelder. Zunächst wird die Materialität der Erinnerung beleuchtet. Dem Abschnitt kommt die wichtige Aufgabe zu, die Erinnerung als flüchtige Erscheinung einerseits und als feste Größe unseres Vorstellungsvermögens andererseits in den Blick zu nehmen. Erinnerung und Gedächtnisfunktion sind Phänomene, die für das mensch­liche Auge nicht sichtbar sind. Auf diese mangelnde Fassbarkeit und Sichtbarkeit reagieren manche Autoren mit dem Versuch,

Einleitung

diese Phänomene anhand von Metaphern, bild­lichen Entwürfen und Denkmodellen literarisch zu materialisieren. So wie Cicero das Gedächtnis als Schatzkammer begreift und Schopenhauer es als Sieb charakterisiert, entwerfen auch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des letzten Jahrhunderts das Gedächtnis anhand von Bildern und Vergleichen, die fast allegorischen Charak­ter haben können, und prägen damit das heutige Vorstellungsvermögen von Erinnerungsprozessen. Heng Barone interpretiert die Museumsfiktion in Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit als räum­liche Gedächtnismetapher, die einerseits den Erinne­rungsprozess der namenlosen Ich-Erzählerin für den Leser nachvollziehbar machen soll, andererseits aber auch Gedächtnis und Erinnerung als räum­ liches Konzept veranschau­licht. In seiner Lektüre übernimmt das Museum die Rolle eines körperexternen Gedächtnisraums, in dem der Akt des Erinnerns anhand der Konfrontation mit diversen Erinnerungsinstallationen repräsentiert wird. Nicht zuletzt zeigt er, wie Kaschnitz das Thema ‚Erinnerung‘ mit den Reflexionsfeldern ‚Identität‘ und ‚Schreiben‘ in Verbindung setzt, und fragt auch hier nach einer mög­lichen Räum­lichkeit. Zentrales Anliegen des Aufsatzes von Vera Heinen ist eine textnahe Analyse der Erinnerungs- und Vergessensstruktur in Dürrenmatts Labyrinthband. Die Verwobenheit von Erinnerungsreflexion und Schreibprozess in ihrer fragmentarischen Struktur, einhergehend mit der Verwendung des mytholo­gischen Labyrinthbildes, konstituiert eine Schnittstelle für die Stoffe. Christina Ripeanu beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Existenzialität des Schreibprozesses in Franz Kafkas In der Strafkolonie sowie in den Gedichten und der Poetologie Paul Celans. Diese kann als eine Zuspitzung der Materia­ lisierung von Erinnerung gelten. Während Kafka den mensch­lichen K ­ örper als Monument des Zerfalls inszeniert, der jedoch gleichsam Erinnerung generieren und stabilisieren soll, wird in den Gedichten Celans ein Ort des Gedenkens offenbar, der von der „Neigung zum Verstummen“16 existenziell bedroht zu sein scheint. Die historische Dimension der Erinnerung ist insofern von enormer Wichtigkeit nicht nur für kollektive, sondern auch individuelle Erinnerungsprozesse, als geschicht­liche Entwicklungen beziehungsweise Ereignisse zu den biografischen, subjektgeschicht­lichen Faktoren der Identitätsbildung hinzutreten.

16 Celan, Paul: Der Meridian. Rede anläß­lich der Verleihung des Georg-Büchner-­Preises. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Gedichte III. Prosa. Reden. Herausgegeben von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. S. 187 – 202, hier S. 197.

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In ­diesem Zusammenhang beleuchtet der Beitrag von Nikoletta Wassiliou die bereits in Friedrich Schillers früher Schaffensphase und in seinen Ästhetischen Briefen (1795) deut­lich werdende Erschwerung der Verwirk­lichung subjektiver Identität angesichts ihrer wachsenden Fremdbestimmung durch eine problematische Kultur. Auch die allgemeine Resignation gegenüber den ideellen Zielen der Franzö­sischen Revolution trägt zum Verlust eines teleolo­gischen Gangs der Weltgeschichte und zur Forderung nach einer Neubestimmung der Identität um 1800 bei.17 Diese Zerstörung der Subjektivität durch historisch-kulturelle Faktoren bewirkt aber eine schöpferische Aufwertung der Rolle der Kunst, die durch das Aufgreifen unterschied­licher Erinnerungsebenen in den Dramen diesen Verlust nicht nur verarbeitet und Identität wiederherstellt, sondern auch Ansätze zur Überwindung traditioneller Formen liefert, durch die sie sich den Weg in die Moderne ebnet. Günter Kunerts autobiografische Aufarbeitung seines Aufwachsens in der NS-Diktatur und der Repressionen in der Deutschen Demokratischen Republik zeigt den Versuch, eine eigene kohärente Identität aus der Wechselbeziehung von Zeit- und Subjektgeschichte zu gewinnen. Seine ambivalente Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft in Opposition zur kommunistischen Ideologie und zum Motiv der Dissidenz in der DDR verdeut­licht die Schwierigkeiten, die sich im unmittelbaren Nachraum des Holocaust für die Herstellung von Ich-Kontinuität ergeben. Der Beitrag von Till Hensen verfolgt diese Spur und geht den Verschiebungen in Kunerts jüdischem Selbstverständnis und seiner textuellen Aushandlung beim Übergang vom Nationalsozialismus zur DDR nach. Victor Klemperer verfolgt mit seinen Tagebüchern, vor allem mit denen aus den Jahren 1933 bis 1945, ­welche er in LTI . Notizbuch eines Philologen verarbeitet, ein ähn­liches Anliegen. Ergänzt um den speziellen Fokus auf die sprach­lichen Einflüsse der NS -Zeit bewegt auch er sich zwischen Zeit- und Subjektgeschichte. So handelt es sich bei seiner LTI um einen besonderen Fall von Erinnerungskonstruktion; in einer Mischung aus Tagebuch, Biografie und Sprachkritik schuf Klemperer eines der auch heute noch wichtigsten Werke über die sprach­liche Beeinflussung der NS-Zeit. Doch wie genau gelingt es ihm, seine persön­lichen Erinnerungen dafür zu instrumentalisieren? Der Aufsatz von Andrea Kuchenbuch befasst sich eingehend mit dieser Frage und untersucht die bewusste Montage, die Klemperer zur Verarbeitung seiner Erinnerungen einsetzt.

17 Feger, Hans: Vorwort. In: Die Realität der Idealisten. Friedrich Schiller. Wilhelm von Humboldt. Alexander von Humboldt. Hrsg. v. Hans Feger und Richard Brittnacher. Köln 2008. S. 7 – 11, hier S. 7.

Einleitung

Die Dialogizität der Erinnerung verweist zunächst auf ein V ­ erschmelzen mehrerer Zeitebenen während des Erinnerungsprozesses. In die Jetztzeit, den Zeitpunkt des Erinnerns, drängt eine vergangene Zeit, der Moment des ursprüng­lichen Erlebnisses: Die Zeitebenen beginnen einen komplexen Dialog. Darüber hinaus wird in Kommunikationssituationen Vergangenes in einem kommunikativen Austausch zwischen Individuen, die sich als Erinnerungsgemeinschaft erleben, vergegenwärtigt. Ferner ist zu beobachten, dass sich Erinnern, kollektiv wie individuell, mitunter anhand von Medien vollzieht, sogenannten Gedächtnisträgern wie Schrift, Bild und Ton. Dabei ist der Erinnerungsprozess vor dem Hintergrund dieser Erinnerungsmedien nicht genuin monolo­gisch zu erklären, sondern die Reaktivierung und Aktualisierung der Vergangenheit geschieht oftmals intermedial, profitiert also gleichsam von einer ‚Interaktion‘ der Medien. Und letzt­lich tritt der Autor, wenn er seine Erinnerungen niederschreiben will, in einen Dialog mit der eigenen Vergangenheit ein. Im Schreiben gilt es, diese Spannung zwischen dem ephemeren Charakter von Erinnerungen und erzählerisch-literarischer Form auszuhalten und umzusetzen. In Barbara Königs Beitrag wird die aktive Rolle des Rezipienten bei der Beurteilung einer erzählerischen Instanz und ihrer Erinnerungskonstruktion gezeigt: Resultiert unzuverlässige Erinnerung in unzuverlässigem Erzählen oder ist ein Erzähler gerade dann als besonders zuverlässig einzuordnen, wenn er die Unzuläng­lichkeit seiner Erinnerung offen kommuniziert? Eine Besonderheit in Vladimir Nabokovs Roman Lolita ist, dass diese Fragestellung im Dialog zwischen dem Leser und dem Erzähler verhandelt wird. Während bei Nabokov der Erinnerungsprozess genutzt wird, um eine kohärente Identität zu konstruieren, wird bei Wolfgang Hildesheimers Arbeiten das Fragmentarische der Erinnerung betont. Betrachtet man Hildesheimers Collagen, Federzeichnungen und Grafiken, so wird deut­lich, dass sein schriftstellerisches und sein bildkünstlerisches Schaffen in eine dialo­gische Beziehung treten. Die Wechselwirkung von Schreiben, Collagieren und Erinnern soll beleuchtet werden, um Hildesheimer nicht nur als Schriftsteller, sondern als Künstler gerecht zu werden. Ohne Frage steht das bildkünstlerische Werk Hildesheimers im Schatten des literarischen Œuvres, sodass der Beitrag von Olga Blank mit der Analyse der Bild-Text-Beziehungen eine außergewöhn­ liche Perspektive wählt. Eine dialo­gische Beziehung kann sich auch innerhalb der literarischen Formen ergeben: Jonathan Safran Foer gestaltet Everything is Illuminated als gegenseitige Beeinflussung im Austausch mehrerer fiktiver Autoren. Inwiefern der Dialog in einer Erinnerungsgemeinschaft für die Manifestierung und Verarbeitung von Erlebtem ausschlaggebend sein kann, zeigt der Aufsatz

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von Hannah Bölling. Die variierenden Erzählperspektiven in Everything is ­Illuminated ­werden in Hinsicht auf die unterschied­liche literarische Bearbeitung der gemeinsamen Suche nach familiärer und historischer Vergangenheit untersucht. So wird die ausschlaggebende Funktion des Schreibprozesses für die subjektive Erinnerung sowie die Relevanz des Austausches innerhalb eines Kollektivs zur Findung der eigenen Identität in der Gegenwart deut­lich. Welche Impulse Elfriede Jelineks Romane Die Liebhaberinnen und Die Ausgesperrten für die Betrachtung und (Neu-)Bewertung der kollektiven wie subjektiven Identität des Lesers bereithalten, stellt der Beitrag von Sascha Tuchardt dar. Über die für Jelinek typischen Generationen- und Geschlechterkonflikte hinaus wird die Bedeutung des Marxistischen Feminismus und vor allem die der ‚Schwarzen Pädagogik‘ erläutert. Zudem wird ihre Wirkung in den Texten auf den Leser untersucht. In der politischen Dimension der Erinnerung liegt der Schwerpunkt auf der Bewusstmachung von unreflektierten Denkstrukturen und der Auf­deckung von ideolo­gisch gefärbtem Sprachgebrauch. Erinnerungskultur erfüllt in ­diesem Zusammenhang den Zweck, ein unbewusstes Fortwirken faschistischen Gedankenguts zu verhindern und einen Rahmen für die kritische Reflexion des ­eigenen Verhältnisses zur Vergangenheit zu schaffen. Dabei geht es weniger um die Frage, wie die Vergangenheit einzuordnen ist, als um die Frage, ­welche Faktoren die gegenwärtige Einordnung der Vergangenheit bestimmen und wie man diese in den Reflexionsprozess einbinden kann. Aufgrund der verschiedenen Geschichts- und Identitätskonzepte, die die aktuelle Perspektive auf die Vergangenheit beeinflussen, ist eine differenzierte Betrachtung dieser Zusammenhänge – wie sie beispielsweise bei Olga Grjasnowa oder Katja Petrowskaja zu finden ist – unerläss­lich. Felix Kampel argumentiert in seinem Aufsatz zu Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt für die These, dass authentisches Erinnern an die NS-Zeit auch heute als ein gesellschaft­lich zwar angestrebtes, aber misslungenes Aufklärungsprojekt betrachtet werden kann. Am Beispiel seiner Romanlektüre geht er davon aus, dass Grjasnowa durch die Konstruktion ihrer Figuren effektiv paradigmatische Verhaltensmuster einer problematischen Enkelgeneration freilegt. In Katja Petrowskajas Text Vielleicht Esther, der im Mittelpunkt von H ­ annah Tzschentkes Aufsatz steht, geht es um die Geschichten der Vorfahren der Autorin, die auch im Zusammenhang mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stehen, und die Verbindung von individueller und kollektiver Geschichte. Petrowskaja verfügt über einen Blick, mit dem sie an den Orten der Gegenwart das Vergangene aufspürt. Sie hält die Geschichten ihrer Vorfahren, deren Recherche man mitliest, auf nicht-lineare und fragmentarische Weise fest – der Titel

Einleitung

Vielleicht Esther steht dabei programmatisch für die Ungenauigkeit der Erinnerung: Wie sicher kann man sich sein, dass sich etwas so und nicht ganz anders zugetragen hat? Der Aufsatz von Sanna Schulte analysiert den Vorwurf der Nestbeschmutzung vor dem Hintergrund des gesellschaft­lichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Die Dynamik von provokativen literarischen Texten und politischen Äußerungen von beispielsweise Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek einerseits und der öffent­lichen Reaktion auf diese andererseits bilden den Anreiz für die Untersuchung. Lässt sich aus dieser Dynamik eine Aussage über die gesellschaft­ liche Akzeptanz der kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ableiten? IV

Hannah Bölling hat auf der Trauerfeier für Professor Dr. Axel Gellhaus am 8. Oktober 2013 eine Rede gehalten. Da diese Rede das besondere Verhältnis von Axel Gellhaus zu seinen Studierenden widerspiegelt, soll sie hier dem Wortlaut nach wiedergegeben werden und die Einleitung zu d ­ iesem Sammelband, der aus seinem Seminar heraus entstanden ist, abschließen: Ein typisches Seminar bei Herrn Gellhaus begann in der ersten Sitzung mit einem leeren Verlaufsplan. Was den Studenten dann zum Oberthema vorgelegt wurde, waren Ideen, Denkanstöße und der ausdrück­liche Wunsch, eigene Vorschläge einzubringen. Durch seine Offenheit und Spontanität lenkte Herr Gellhaus uns durch die verworrendsten Texte, die gegensätz­lichsten Theorien und die wildesten Diskussionen. Im fach­lichen Austausch mit seinen Studenten glaubte er nicht an Creditpoints oder Studienverlaufspläne. Er glaubte an Menschen. Er ermutigte talentierte Erstsemestler dazu, nicht vor den großen Autoren zurückzuschrecken, und stand Studenten mit Schwierigkeiten mit gutem Rat im erneuten Prüfungsversuch zur Seite. In seiner Veranstaltungsreihe zu ,Literatur und Erinnerung‘ philosophierte Herr Gellhaus mit uns mehrere Semester lang über die verschiedensten Werke. Vom literarischen Klassiker über Neuerscheinungen bis hin zum Hollywood-Blockbuster setzte er unserer gemeinsamen Suche nach den Strukturen der Erinnerung keine Grenzen. Im Editions­seminar zu Kafka belagerte er mit uns regelmäßig zur prak­ tischen Arbeit die Bibliothek. Dies brachte nicht nur eine sehr aktive und motivierende Atmosphäre in den Seminarablauf, sondern verhalf auch manchen T ­ eilnehmern zur Überwindung ihrer Bibliotheks-Scheu. Auch mit weniger optimalen Situationen wusste Herr Gellhaus umzugehen. Vor nur wenigen Wochen ließ er das ganze Büchner-Kolloquium, das fast geschlossen ohne Textkenntnis zur Sitzung erschienen war, mit ein paar zackigen Worten fassungslos sitzen und konnte sich in der nächsten Sitzung ein Schmunzeln nicht

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verkneifen, als er ein perfekt vorbereitetes und motiviertes Plenum vorfand. Eine großartige Erfahrung bot er den Studenten auch im Mai ­dieses Jahres mit seinem Exkursionsseminar nach Weimar. Von der Arbeit an Büchners Handschriften im Archiv über Theaterbesuche und Spaziergänge zu Goethes Gartenhaus, bei denen Herr Gellhaus den Teilnehmern immer einige interessante Anekdoten über Geschichte und Umgebung zu erzählen wusste, bis hin zum abend­lichen Bier mit dem ganzen Kurs – sein Engagement für seine Studenten bleibt für uns alle unvergessen. Als Professor half er uns zu einem stetigen Blick über den Tellerrand. Er lehrte uns, unsere wissenschaft­lichen Ideen umzusetzen und unser Potenzial zu erkennen. Er glaubte an Menschen, wenn sie kaum an sich selbst glauben konnten. Herrn Gellhaus’ Tod ist ein kaum zu fassender Verlust für die ganze Studierendenschaft, und wir können nur versuchen, die Fähigkeiten, die er uns gelehrt hat, weiterzutragen und in seinem Andenken auch weiterhin über die Dinge hinauszudenken.

Heng Barone

Musealer Gedächtnisraum und Erinnerungsinstallationen

Erinnerung als räum­liches Konzept in Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit Als eine ewige Autobiographin, eine im eigenen Umkreis befangene Schreiberin, werde ich, wenn überhaupt, in die Literaturgeschichte eingehen, und mit Recht. Denn meine Erfindungsgabe ist gering. Ich sehe und höre, reiße die Augen auf und spitze die Ohren, versuche, was ich sehe und höre, zu deuten, hänge es an die große Glocke, bim bam.1

Für Marie Luise Kaschnitz, die sich in der zitierten Passage als ewige Autobiografin bezeichnet, stellt das Erinnern eine Grundvoraussetzung ihrer schriftstellerischen Tätigkeit dar. In einem Gespräch mit Horst Bienek aus dem Jahr 1961 unterstreicht Kaschnitz die Bedeutung von Erinnerungsmaterial für das Schreiben: „Ich glaube, daß niemand ohne eigene Erfahrungen zu verwenden schreiben kann. Es müssen aber nicht immer ausgewachsene Erlebnisse sein. Es können Keime von Erlebnissen sein, auch Keime von Anlagen und Ansichten, die man in sich trägt und die man dann literarisch entwickelt“2. Das Werk der Schriftstellerin umfasst jedoch nicht nur Erlebtes in Form literarisierter Erinne­rungen, sondern mitunter wird der Akt des Erinnerns selbst explizit zum Gegenstand literarischer Reflexion. Es fällt auf, dass Kaschnitz’ Texte, denen Erinnerungsreflexionen inhärent sind, bisweilen eine Relation zwischen den Begriffen ‚Gedächtnis‘ und ‚Raum‘ herstellen. Im Nachlass der Autorin gibt es ein kurzes Prosastück, das eine ­solche enge Verbindung zwischen Gedächtnis und Raum plausibilisiert, indem es beschreibt, wie in der Vergangenheit aufgesuchte Orte zu Gedächtnisträgern, zu Medien des Gedächtnisses avancieren, deren (literarische) Evokation eine erneute Aneignung vergangener Erlebnisse mög­lich macht: 1 Kaschnitz, Marie Luise: Texte aus dem Nachlaß. In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. ­Christian Büttrich und Norbert Miller. 3. Band: Die autobiographische Prosa II. Frankfurt am Main 1982. S. 757 – 851, hier S. 827. 2 Bienek, Horst: Werkstattgespräch mit Marie Luise Kaschnitz. In: Marie Luise Kaschnitz. Hrsg. v. Uwe Schweikert. Frankfurt am Main 1984. S 283 – 296, hier S. 286.

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Was das Gedächtnis hergibt, sind nur Orte, doch treten diese mit so großer Deut­ lichkeit hervor, als sei jedes dort gesprochene Wort, jede dort erlebte Empfindung Stoff geworden, Stein, Blattgrün und Wasserschleier, als sei es nur nötig, das Außen zu beschwören, um alles andere wieder Gestalt werden zu lassen. Mehrere solcher Orte will ich beschreiben, dazwischen das Heute, wie es auftaucht und vergeht.3

Während der Raum hier als Gedächtnisort fungiert, nimmt in der Kurz­ geschichte Das dicke Kind 4 das Erinnern selbst eine räum­liche Dimension an. Der prosaische Alltag der Ich-Erzählerin erfährt eine radikale Zäsur durch das imaginäre Zusammentreffen mit ihrem zunächst nicht erkannten kind­lichen Ich. Fasziniert von der wunder­lichen Erscheinung des dicken Mädchens verlässt die Protagonistin ihre gewohnte Umgebung und folgt ihm in einen imaginierten Erinnerungsraum, in dessen Zentrum ein Schlüsselerlebnis ihres Kinder­ daseins auf sie wartet: ein Eiseinbruch während des Schlittschuhlaufens. Durch die Konfrontation mit der Extremsituation erkennt die Ich-Erzählerin sich schließ­lich selbst in den Gesichtszügen des Kindes. Der Moment der Selbsterkenntnis wird zum Initiationspunkt der eigenen Vergangenheitsaneignung und der damit einhergehenden Aufarbeitung traumatischer Kindheitserfahrungen. Die wohl elaborierteste Verknüpfung von Gedächtnis und Raum findet sich in dem 1956 erschienenen Erinnerungsbuch Das Haus der Kindheit 5, das Kaschnitz als ihre meist geschätzte Prosaarbeit ausgibt.6 Der Text 7, nach ­Pulver „eine reich instrumentierte Ausgestaltung des Grundmotivs aus Das dicke Kind“8, nimmt eine Sonderstellung innerhalb Kaschnitz’ literarischer Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Erinnerung‘ ein. Roßbach etwa konstatiert, 3 Kaschnitz: Texte aus dem Nachlaß, S. 762 f. 4 Kaschnitz, Marie Luise: Das dicke Kind. In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller. 4. Band: Die Erzählungen. Frankfurt am Main 1983. S. 58 – 66. 5 Kaschnitz, Marie Luise: Das Haus der Kindheit. In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. ­Christian Büttrich und Norbert Miller. 2. Band: Die autobiographische Prosa I. Frankfurt am Main 1981. S. 271 – 377. Die im Fließtext angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Text. 6 Vgl. Bienek: Werkstattgespräch mit Marie Luise Kaschnitz, S. 291. 7 Wegen der umstrittenen Gattungsbezeichnung werden hier und im Folgenden die vergleichsweise neutralen Termini ‚Text‘ oder ‚Prosatext‘ verwendet. Vgl. zum Gattungsstreit etwa S. 53 in: Roßbach, Nikola: „Gepeinigt von Phantasie“. Autobiogra­ phische Kindheitsentwürfe bei Marie Luise Kaschnitz. In: „Für eine aufmerksamere und nachdenk­lichere Welt“. Beiträge zu Marie Luise Kaschnitz. Hrsg. v. Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2001. S. 49 – 64. 8 Pulver, Elsbeth: Marie Luise Kaschnitz. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München, Stand: 01. 08. 2007.

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dass in „keinem anderen ihrer Werke […] ähn­lich differenziert und ausführ­ lich Schwierigkeiten, Fortschritte und Erkenntnisse des Erinnerungsvorgangs thematisiert“9 werden. Pulver geht einen Schritt weiter und stellt fest, dass der inszenierte Erinnerungsprozess, „mühsam, oft qualvoll, wie er ist, mit seinen inneren Widerständen und Ausweichmanövern“, gerade „das Reizvolle und innerhalb der deutschen Literatur auch Neuartige“10 darstellt. Von was genau aber handelt Das Haus der Kindheit? In 126 nummerierten kurzen Abschnitten schildert Kaschnitz’ Prosatext die Erinnerungsarbeit einer fiktiven Ich-Erzählerin in fingierter Tagebuchform. Unmittelbar nachdem ein Fremder die Ich-Erzählerin auf das sogenannte Haus der Kindheit angesprochen hat, findet diese das mysteriöse Gebäude, das, wie sich im Laufe der Tagebucheinträge herausstellt, nicht nur kontinuier­lich seinen Standort wechselt, sondern sukzessive den Lebens- und Wahrnehmungsraum der Protagonistin beeinträchtigt. Das Kindheitsmuseum entpuppt sich schließ­lich als ein imaginierter innerer Ort, in dem die Tagebuchschreiberin vergangene Erlebnisse erneut durchlebt, Traumata verarbeitet und eine Neuorganisation der eigenen Identität anstrebt. Nicht zuletzt dient ihr dabei das Aufschreiben und Notieren der im Haus der Kindheit gemachten Erfahrungen als notwendige Stütze, um das dort Erlebte aus der Distanz heraus reflektierend zu rezipieren. Im Gegensatz zu Lesarten, die das Kindheitsmuseum als literarische Verfremdungstechnik deuten,11 interpretiert die vorliegende Arbeit die Museumsfiktion als komplexe Gedächtnismetapher, die einerseits den Erinnerungsprozess der Ich-Erzählerin für den Leser prägnant zur Anschauung bringt, andererseits aber auch Gedächtnis und Erinnerung als visualisiertes Raumkonzept inszeniert. Kaschnitz rekurriert bei der Verwendung der Museumsmetapher auf die raumorientierte Gedächtnisauffassung der antiken Mnemotechnik. Vom Fokus der rhetorischen Gedächtniskunst auf die Speicherkapazität setzt sich Kaschnitz allerdings kreativ ab, indem sie das mnemotechnische Gedächtnismodell in ihrer spezifischen ästhetischen Ausarbeitung vor dem Hintergrund

9 Roßbach, Nikola: „Jedes Kind ein Christkind, jedes Kind ein Mörder“. Kind- und Kindheitsmotivik im Werk von Marie-Luise Kaschnitz. Tübingen 1999, S. 110. 10 Pulver, Elsbeth: Marie Luise Kaschnitz. München 1984, S. 64. 11 Vgl. Keßler, Susanne: Die Egozentrik der undefinierten Frau. Zu Marie Luise Kaschnitz‘ autobiographischem Roman Das Haus der Kindheit. In: Marie Luise Kaschnitz. Hrsg. v. Uwe Schweikert. Frankfurt am Main 1984. S. 78 – 90, hier S. 81. Vgl. dazu ferner Stephan, Inge: Männ­liche Ordnung und weib­liche Erfahrung: Überlegungen zum autobiogra­ phischen Schreiben bei Marie Luise Kaschnitz. In: Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts. Hrsg. v. Inge Stephan, Regula Venske und Sigrid Weigel. Frankfurt am Main 1987. S. 133 – 157, hier S. 150 f.

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eigener Vorstellungen von Gedächtnis und Erinnerung reflektiert und mit den Themenfeldern ‚Identität‘ und ‚Schreiben‘ in Verbindung setzt. Die Arbeit b­ ietet zunächst einen kurzen Überblick über den Forschungszweig der Gedächtnismetaphorik und ihre Relation zum Raum, um dann, ausgehend von diesen Überlegungen, die Spezifik des im Prosatext Das Haus der Kindheit entworfenen Erinnerungskonzepts herauszuarbeiten. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der im Text verhandelten Räum­lichkeit zu, die sich mög­licherweise – so wird zu fragen sein – auch auf die präsentierten Konzepte von Identität und Schreiben übertragen lässt. I Gedächtnis in der Literatur: Gedächtnismetaphorik und Raum

Die literaturwissenschaft­liche Gedächtnisforschung kann mittlerweile auf diverse theoretisch fundierte Forschungsperspektiven zurückgreifen.12 Von Interesse ist für diesen Beitrag das Reflexionsfeld ‚Gedächtnis in der Literatur‘, das sich der Gedächtnisdarstellung und der Inszenierung von Erinnerung in literarischen Texten widmet. Indem Literatur in einem kontinuier­lichen Dialogverhältnis zur nichtliterarischen Realität samt ihren Gedächtnisvorstellungen und -diskursen steht, reproduziert sie Wissen über Gedächtnis und Erinnerung in der ihr eigenen ästhetischen Ausformulierung. Typische Darstellungsformen der Literatur sind etwa Narrationsstrukturen, Symbole oder Metaphern; sie ermög­lichen eine kritische Auseinandersetzung mit dem

12 Vgl. Erll, Astrid: Literaturwissenschaft. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. v. Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer. Stuttgart, Weimar 2010. S. 288 – 298. Vgl. dazu ferner Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2011, hier vor allem S. 73 – 94. Eine erste Zusammenstellung potenzieller Forschungsrichtungen präsentieren Astrid Erll und Ansgar Nünning 2003 in einem Artikel mit dem programmatischen Titel Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Ein Überblick; sie reagieren damit auf die paradoxale Situation der literaturwissenschaft­ lichen Gedächtnisforschung, die sich einerseits durch ihre Omnipräsenz auszeichnet, andererseits aber nur in Einzelfällen ein reflektiertes Theoriefundament aufweisen kann. (Vgl. Erll, Astrid; Nünning, Ansgar: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Ein Überblick. In: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Hrsg. v. Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning. Trier 2003. S. 3 – 27.) Weitere Ausführungen zu literaturwissenschaft­lichen Gedächtniskonzepten finden sich in Erll, Astrid; Nünning, Ansgar: Literaturwissenschaft­liche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Hanne Birk und Birgit Neumann. Berlin, New York 2005. S. 1 – 9.

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komplexen Phänomen ‚Gedächtnis und Erinnerung‘ in verdichteter Artikulation und machen es damit für den Leser nachvollziehbar.13 Insbesondere die Metapher erweist sich innerhalb des Reflexionsfeldes ‚Gedächtnis in der Litera­tur‘ als interessante Untersuchungskategorie, die einen eigenen Forschungszweig etabliert, handelt es sich nach Astrid Erll und Ansgar Nünning hierbei doch um „das wohl älteste und bis heute einschlägigste Verfahren, ‚Gedächtnis in ästhetisch-literarischen Formen‘ zu repräsentieren“14. Und auch an anderer Stelle akzentuiert Erll das Beschreibungspotenzial der Gedächtnismetaphorik: „[D]ie Metapher als basisliterarisches Verfahren gehört seit jeher zu den bevorzugten ästhetischen Formen, durch die Gedächtnis und Erinnerung zur Anschauung gebracht werden“15. Die Relevanz der Metapher im Rahmen des Gedächtnisdiskurses erschließt sich allerdings erst, wenn man Aleida Assmann folgend sich vor Augen führt, „daß, wer über Erinnerung spricht, dabei nicht ohne Metaphern auskommt“16. Harald Weinrich, der sich in einem „wegweisenden Aufsatz“17 aus dem Jahr 1964 als erster mit der Thematik der Gedächtnismetaphorik auseinandersetzt,18 schreibt: „Wir können einen Gegenstand wie die Memoria nicht ohne Metaphern denken. Metaphern, zumal wenn sie in der Konsistenz von Bildfeldern auftreten, haben den Wert von (hypothetischen) Denkmodellen“19. Das hier 13 Vgl. Erll: Literaturwissenschaft, S. 293. 14 Erll; Nünning: Literaturwissenschaft­liche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick, S. 4. 15 Erll: Literaturwissenschaft, S. 295. 16 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 5., durchgesehene Auflage. München 2010, S. 150. 17 Ebd., S. 150. 18 Vgl. Butzer, Günter: Gedächtnismetaphorik. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Hanne Birk und Birgit Neumann. Berlin, New York 2005. S. 11 – 29, hier S. 11. 19 Weinrich, Harald: Metaphora memoriae. In: Sprache in Texten. Hrsg. v. Harald Weinrich. Stuttgart 1976. S. 291 – 294, hier S. 294. Der kurze Aufsatz von Weinrich ist 1964 zunächst in der Zeitschrift Archiv für Begriffsgeschichte erschienen. Pethes relativiert Weinrichs These einer rein metaphorischen Erschließung von Gedächtnisvorgängen, indem er auf „die Mög­lichkeit formaler oder funktionaler Beschreibungen von Gedächtnisprozessen“ hinweist. (Pethes, Nicolas: Gedächtnismetapher. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hrsg. v. Nicolas Pethes und Jens Ruchatz, unter Mitarbeit von Martin Korte und Jürgen Straub. Reinbeck 2001. S. 196 – 199, hier S. 198.) Mit Blick auf diese deskriptiven Methoden sowie auf die moderne Hirnforschung führt er die Tatsache an, dass das Gedächtnis mittlerweile selbst als metaphorische Beschreibungskategorie in kulturellen oder technischen Diskursen dient. Pethes beendet seine

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formulierte Metaphernverständnis führt weg von einer Wahrnehmung, die die Metapher als poetisches oder rhetorisches Stilmittel begreift, und hin zu einer Auffassung von Gedächtnismetaphern als objektkonstitutiven und erkenntnisgenerierenden Reflexionsschemata, die einen Diskurs über ein für das mensch­liche Auge nicht wahrnehmbares Phänomen ermög­lichen. Ergänzend heißt es bei A. Assmann: Das Phänomen Erinnerung verschließt sich offensicht­lich direkter Beschreibung und drängt in die Metaphorik. Bilder spielen dabei die Rolle von Denkfiguren, von Modellen, die die Begriffsfelder abstecken und die Theorien orientieren. ‚Metaphorik‘ ist auf d ­ iesem Gebiet deshalb nicht umschreibende, sondern den Gegenstand allererst erschließende, konstituierende Sprache.20

In ­diesem Sinne avancieren Gedächtnismetaphern zu heuristischen Wahrnehmungscodes, die einen entscheidenden Einfluss auf unser Bild von Gedächtnis und Erinnerung nehmen. Während Weinrich von einer Dualität des Memoria-­ Komplexes ausgeht – er unterscheidet zwischen Metaphern, die das Gedächtnis verkörpern und solchen, die das Erinnern versinnbild­lichen –,21 plädiert A. Assmann dafür, Gedächtnis und Erinnerung als Begriffspaar zu denken. Die metaphorischen Modelle, so A. Assmanns These, konkretisieren Gedächtnis und Erinnerung „als komplementäre Aspekte eines Zusammenhangs“22. Wiewohl A. Assmann und Nicolas Pethes zu Recht die Heterogenität der metaphorischen Gedächtnisrepräsentationen betonen,23 ist es mit Blick auf die anstehende Interpretation an dieser Stelle notwendig, sich auf das Potenzial der Wahrnehmungskategorie ‚Raum‘ für die Metaphernbildung zu beschränken. Am Anfang der Relation von Raum und Gedächtnis steht das Memoria-Konzept der antiken Mnemotechnik.24 Als ein Teil der Rhetorik besteht die Idee der klas­ sischen Gedächtniskunst darin, dem Redner beim Memorieren von komplexen Gedankengängen ein Hilfsgerüst zur Verfügung zu stellen, das die adäquate Inhaltswiedergabe in der Situation des Vortrags erleichtert. Durch die Anordnung

Ausführungen zur Gedächtnismetaphorik mit der Feststellung, dass Gedächtnismetaphern sekundäre Erinnerungsmodelle sind, die aufgrund der implizierten Bildfelder weniger Funktionsweisen des Gedächtnisses illustrieren, als vielmehr einen Überblick über die Wissenschafts- und Technikgeschichte geben. (Vgl. ebd., S. 198 f.) 20 Assmann: Erinnerungsräume, S. 150. 21 Vgl. Weinrich: Metaphora memoriae, S. 294. 22 Assmann: Erinnerungsräume, S. 151. 23 Vgl. ebd., S. 151 ff. und Pethes: Gedächtnismetapher, S. 197. 24 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 158.

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von imagines, sinnbild­liche Repräsentanten von Redeinhalten, an ausgewählten Orten, loci, einer imaginierten Raumstruktur ermög­licht das gedank­liche Abschreiten derselben die zuverlässige Rekonstruktion des zuvor memorierten Gedankengangs.25 Bei der rhetorischen Mnemotechnik handelt es sich demzufolge um eine Technik, die die Speicherkapazität des natür­lichen Gedächtnisses erweitern soll; ihr zugrunde liegt eine statische Gedächtnisauffassung, die von einer detailgetreuen Wiederherstellung einmal gespeicherter Inhalte ausgeht. Von der Nutzung des Raums als Gedächtnisstütze ist es für A. Assmann „nur ein Schritt“ zur Verwendung von „architektonischen Komplexen als Verkörperungen des Gedächtnisses“26. Zusammenfassend charakterisiert sie die Verbindung von antiker Gedächtniskunst und Gedächtnismetaphorik als den entscheidenden „Schritt von Räumen als mnemotechnischen Medien zu Gebäuden als Symbolen des Gedächtnisses“27. Je nachdem wie die literarisierte Räum­lichkeit im Einzelnen aussieht, kann darauf geschlossen werden, ­welche Gedächtnisvorstellung sie versinnbild­licht. Gebäude und Räume, die sich durch Statik und Organisation auszeichnen, bleiben stark dem statischen Gedächtniskonzept der Mnemotechnik verhaftet und sind demzufolge Repräsentationen eines künst­lichen Hilfsgedächtnisses. Rauminszenierungen, deren Hauptmerkmale Desorganisation und Unzugäng­lichkeit sind, bilden das zufällige, chaotische Strukturprinzip unseres persön­lichen Erfahrungsgedächtnisses ab und verkörpern demnach das natür­liche Gedächtnis.28 II Die Museumsmetapher: ein räum­lich konzeptualisierter Erinnerungsprozess

Kaschnitz konstruiert in dem Prosatext Das Haus der Kindheit eine vielschichtige Gedächtnismetapher, deren grundlegende Idee darin besteht, das ­Gedächtnis und Erinnerungsvermögen aus dem Körper der Protagonistin herauszu­ lösen und in Form eines Museums zu externalisieren. Dass Kaschnitz für ihre

25 Vgl. Yates, Frances A.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis ­Shakespeare. 6. Auflage. Berlin 2001, S. 12. Vgl. dazu ferner Assmann: Erinnerungsräume, S. 158. 26 Assmann: Erinnerungsräume, S. 158. 27 Ebd., S. 158. 28 Vgl. ebd., S. 160 f. A. Assmann beschreibt diese beiden unterschied­ lichen literaturwissenschaft­lichen Mög­lichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis als ,ars‘ und ,vis‘. Steht die Statik des Gedächtnisses und damit die exakte Reproduzierbarkeit von Inhalten im Vordergrund, dann spricht man von ,ars‘, wird die D ­ ynamik des Gedächtnisses und damit die Konstruktivität von Erinnerung fokussiert, dann spricht man von ,vis‘. (Vgl. ebd., S. 27 – 32.)

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metaphorische Gedächtnisrepräsentation ein Museumsgebäude auswählt, scheint kein Zufall zu sein, sondern basiert auf der Vorstellung vom Museum als „hybride[r] Einrichtung“29. Das Museum ist auf der einen Seite „ein Ort des Sammelns und Bewahrens, ein Archiv der Gegenstände“, auf der anderen Seite ist es aber auch „ein Ort des Erforschens und Vermittelns der Vergangenheit und der Gegenwart“30. Damit bewährt sich das Museum als eine Gedächtnismetapher, die Gedächtnis und Erinnerung als Begriffspaar interpretiert: Das Sammeln, Bewahren, die Archivfunktion repräsentiert das Gedächtnis als Organ, das Informationen aufnimmt und verarbeitet; das Erforschen und Vermitteln hingegen verkörpert den Erinnerungsprozess, das Zurückholen, das Rekonstruieren dieser Informationen. Das Museum wird zum körperexternen Gedächtnisraum, in dem sich fortan der Prozess des Erinnerns abspielt. Konstitutiv für Kaschnitz’ Gedächtnis­ metapher ist demzufolge die Orientierung am raumaffinen ­Gedächtniskonzept der rhetorischen Mnemotechnik, ohne dass die Speicherfunktion allein im Vordergrund steht. In Analogie zum Redner, dem, wie weiter oben bereits verdeut­licht, eine adäquate Reproduktion der zuvor memorierten Redeinhalte nur gelingt, weil er in Gedanken einen imaginären Raum abschreitet, in dem die diversen Inhalte in Form von Bildrepräsentationen, imagines, spezifischen Orten, loci, zugeordnet sind, kann die Protagonistin das Museum mit seinen unzähligen Ausstellungsräumen betreten, in denen exklusives Erinnerungsmaterial, hervorgerufen durch aufwendige mediale Inszenierungen, sie mit der eigenen Kindheit konfrontiert. Mit ihrer Museumsfiktion distanziert sich Kaschnitz produktiv von der antiken Gedächtniskunst, geht es ihr doch nicht darum, die Funktionsweise des künst­lichen Gedächtnisses zu demonstrieren, sondern eine Metapher für das natür­liche Gedächtnis und damit auch für den individuellen Erinnerungsprozess zu finden.31 Als komplexes Denkmodell determiniert die Museumsmetapher die Struktur des ganzen Textes, der in zwei große Teile gegliedert werden kann. Der erste Teil schildert die Annäherung der Ich-Erzählerin an das Museum, das heißt den Weg von der Erinnerungsverweigerung zum Interesse an der Vergangenheit, 29 Lupfer, Gilbert; Roth, Martin: Museen. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. v. Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer. Stuttgart, Weimar 2010. S. 171 – 176, hier S. 171. 30 Ebd., S. 171. 31 Vgl. dazu auch Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie – Rhetorik – Schrift. Zum Beispiel Marie Luise Kaschnitz. In: „Für eine aufmerksamere und nachdenk­lichere Welt“. Beiträge zu Marie Luise Kaschnitz. Hrsg. v. Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2001. S. 7 – 26, hier S. 19 f.

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im zweiten Teil steht der Studienaufenthalt im Museum, also die konkrete Auseinandersetzung mit der Kindheit, im Vordergrund. Im Folgenden werden beide Teile als zusammenhängende Phasen eines räum­lich konzeptualisierten Erinnerungsprozesses gelesen. Ausgangspunkt des inszenierten Erinnerungsprozesses ist die Begegnung der Ich-Erzählerin mit einem Unbekannten, der sie nach dem zunächst nicht näher definierten Haus der Kindheit fragt. Sie kann dem Mann nicht weiterhelfen (vgl. 273). In der Logik des Textes resultiert die Unwissenheit hinsicht­ lich des ominösen Gebäudes aus der Relation der Ich-Erzählerin zur eigenen Kindheit, die sie in ihrer Selbstcharakterisierung als sensible Leerstelle angibt: Die Sache ist die, daß mich schon das Wort Kindheit einigermaßen nervös macht. Es ist erstaun­lich, an wie wenige Dinge aus meiner Kindheit ich mich erinnere und wie ungern ich von anderen an diese Zeit erinnert werde. Wo im Gedächtnis der meisten Leute eine Reihe von hübschen, freund­lichen Bildern auftaucht, ist bei mir einfach ein schwarzes Loch, über das zu beugen mich trübe stimmt. Ich nehme an, daß ­dieses Vergessen eine bestimmte Ursache hat. Außerdem hinterläßt ohnehin jeder Gedanke an Vergangenes in mir einen üblen Geschmack. (276)

Vergangene Ereignisse sind unveränder­lich; diese Tatsache expliziert die grund­ sätz­liche Vergangenheitsverweigerung der Ich-Erzählerin und ihre gleichzeitige Fokussierung auf das Leben in der Gegenwart: „Wichtig ist am Ende doch nur die Gegenwart, der Vergangenheit gegenüber sind wir machtlos, sie ist toter Stoff, den wir nicht verändern können und der kein Leben mehr gewinnen kann“ (278 f.). Selbst zu einem späteren Zeitpunkt, als die Protagonistin bereits begonnen hat, die dunklen Stellen ihrer Kindheit zu erkunden und die selbstgewählten Attribute „erinnerungslos oder erinnerungsunwillig“ (284) nicht mehr zutreffen, bagatellisiert sie durch Erinnerung aktualisierte Erfahrungen zugunsten einer fokussierten Wahrnehmung der Jetztzeit: „Daß man lebt, kann einem nur die Gegenwart bestätigen, die Vergangenheit nie“ (343).32 Kurz nachdem der Fremde sich verabschiedet hat, tritt das Haus der Kindheit in Erscheinung (vgl. 273); die Inszenierung „einer offensicht­lich mühsamen, fast chaotischen Kindheitsrekonstruktion“33 beginnt. Mit der Materialisierung des 32 Vgl. zum konstatierten Gegenwartsfokus ferner folgende Aussage: „Jedenfalls zahlt man, im übertragenen Sinne, mit Leben, mit Gegenwart, also mit dem Kostbarsten, was man hat“ (HdK, S. 282). Und weiter: „Seiner eigenen Vergangenheit nachzuhängen mutet in ­diesem Zusammenhang [atomare Bedrohung] völlig absurd, ja kindisch an“ (HdK, S. 282). 33 Vanhelleputte, Michel: Existentiell Autobiographisches in phantastischer Verkleidung. Gedanken zu Marie Luise Kaschnitz’ Erzählwerk Das Haus der Kindheit. In: Das erdichtete

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Kindheitsmuseums wird das schwarze Loch, die Versinnbild­lichung eines ausradierten Erinnerungsraums, durch eine „konkrete, architektonische Gedächtnisvorstellung“34 ersetzt. Die „Metapher für das Vergessen“ weicht dem Museum „als fiktionale[r] Ausgestaltung eines Gedächtnistopos“35. Illustriert wird das Ineinandergreifen der beiden Akte ‚Vergessen‘ und ‚Erinnern‘, die A. Assmann als Komplizen identifiziert: „Das eine ist die Ermög­lichung des anderen.“36 Im Sinne der Proustschen mémoire involontaire 37 infiltriert das Museum, von dem eine seltsame Faszination ausgeht, sukzessive den Wahrnehmungsund Lebensraum der Ich-Erzählerin. „Ich habe eine schreck­liche Entdeckung gemacht. Das Haus wandert“ (279),38 heißt es, als ein Blick aus dem Fenster nicht die gewohnte Aussicht freigibt, sondern plötz­lich die unmittelbare ­Präsenz des Kindheitsmuseums vermuten lässt. Räume, Redeinhalte und Objekte w ­ erden mit einem Mal zu Gedächtnisträgern, die einen zunächst ungewollten Erinne­ rungsprozess in Gang setzen, indem sie der Bild­lichkeit des Prosatextes entsprechend eine temporäre Anwesenheit des mysteriösen Hauses suggerieren. Ein Gespräch im Vorzimmer einer besuchten Familie wird zum Erinnerungs­ szenario, als das nicht geschlechtsspezifische Verhalten der Tochter zur Sprache kommt; der Raum erfährt eine abrupte Transformierung ins Irreale: In d ­ iesem Augenblick erfuhr der mich umgebende Raum eine blitzschnelle Verwandlung, ohne daß dabei etwa ein anderer von bestimmter Gestalt hervorgetreten wäre. Ich verlor nur gewissermaßen den Boden unter den Füßen, an die Stelle des netten vernünftigen Gesprächs traten Wort- und Tonfetzen von chaotischer Art. Obwohl ich das Haus der Kindheit nie betreten habe, bin ich doch überzeugt davon, daß es mich in ­diesem Augenblick wieder und noch kräftiger als das erstemal in sich hineingerissen hat. (283)

Ich – eine echte Erfindung. Studien zu autobiographischer Literatur von Schriftstellerinnen. Hrsg. v. Heidy Margrit Müller. Aarau, Frankfurt am Main, Salzburg 1998. S. 121 – 133, hier S. 131. 34 Westerwinter, Margret: Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2008, S. 83. 35 Ebd., S. 75 f. 36 Assmann: Erinnerungsräume, S. 30. 37 Vgl. zum Begriff: Erdmann, Eva: mémoire involontaire. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hrsg. v. Nicolas Pethes und Jens Ruchatz, unter Mitarbeit von Martin Korte und Jürgen Straub. Reinbek 2001. S. 367 – 368. 38 Da das Museum die Fähigkeit hat, seinen Standort zu wechseln, ist bereits an dieser Stelle offensicht­lich, dass Kaschnitz sich produktiv von der statischen Raumorganisation der rhetorischen Mnemotechnik absetzt. Aber erst wenn es um die innere Raumgestaltung des Museums geht, lohnt sich ein konkreter Vergleich zwischen mnemotechnischem Raumverständnis und dem räum­lichen Konzept der Museumsfiktion.

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Beim Aufräumen der Wohnung sind es „verdächtige Gegenstände“ (284), denen die Ich-Erzählerin eine Zweitexistenz im Haus der Kindheit zuspricht und die sie damit als die eigene Existenz destabilisierende Gedächtnisspeicher identifiziert. Die Omnipräsenz des musealen Gedächtnisraums zeigt sich aber nicht nur in Situationen unerwarteter Manifestation, die die Lebenswelt des erzählenden Ich erschüttern, sondern ebenfalls im Reflexionsverhalten desselben. Lange bevor der erste Museumsbesuch erfolgt, werden mög­liche Studienaufenthalte in spekulativen Gedankengängen durchgespielt, die an die später tatsäch­lich stattfindenden Visiten teilweise erstaun­lich nahe herankommen (vgl. 275).39 Der Ubiquität der Museumsanlage setzt die Protagonistin gleichwohl ihre entwickelten Abwehrmechanismen – „Ich habe den Besuch des Kindermuseums, oder was es sonst sein mag, wegen Arbeitsüberlastung auf die nächste Woche verschoben“ (275) – entgegen; vorerst begnügt sie sich mit einer dezidierten Außenbetrachtung: „Soviel ich in der Eile gesehen habe, ist es ein großes, graues Gebäude ohne besonderen Schmuck, ausgenommen eine Art von Jugendstil­ ornament, das über dem Portal angebracht ist und unter dem in Goldbuchstaben der Name steht“ (274). Die Fassade des Hauses besteht aus grauem Stein, „dessen Beschaffenheit, etwas merkwürdig Unsolides, Kulissenhaftes hat“ (274). Konterkariert wird „der offiziell-langweilige Charakter des Baustils“ durch „die zugemauerten Fenster“ (277, vgl. 274). Neben „der großen Eingangstür“ befinden „sich ein flacher, weißer Klingelknopf und eine Scheibe aus mattem Glas, auch eine Schallmuschel, in die man hineinsprechen kann“ (276). Eine kleine, im Eingangsbereich angebrachte Tafel verkündet den kostenlosen Museums­ eintritt (vgl. 279). Zwar scheint die verortete Lage in einer Sackgasse gewiss (vgl. 275, 287), aber eine nähere Lokalisierung in der Stadttopografie bleibt aufgrund der bereits oben skizzierten Bewegungspotenz des Hauses unmög­ lich. Kennzeichnend für das Phänomen ‚Gedächtnis und Erinnerung‘ ist seine schwer fassbare beziehungsweise immaterielle Konsistenz, die eine direkte Erschließung durch den mensch­lichen Wahrnehmungsapparat nicht zulässt. Kaschnitz reflektiert diese Beschaffenheit in ihrem Prosatext insofern, als sie der Außenerscheinung des Museums eine markante Instabilität attestiert, die sich nicht zuletzt auch durch die kontinuier­lichen Standortwechsel des Gebäudes äußert. Der hermetische Charakter der Räum­lichkeit spielt hingegen auf die momentane Nicht-Verfügbarkeit von Erinnerungsinhalten an. Und die Sackgassen-Symbolik weist einerseits auf die anfäng­liche Selbstwahrnehmung der Ich-Erzählerin hin, in der die Erinnerungsarbeit eher kontraproduktiv für die Identitätsbildung ist, andererseits manifestiert sich in dem Sackgassenbild

39 Vgl. dazu ferner HdK, S. 276, 277, 279, 280, 282, 284.

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die Vorstellung einer unüberwindbaren ‚Endstation‘: „Es mag sein, daß man, einmal in dem Haus heimisch geworden, seiner Stimmung verfällt und sich in der Außenwelt nicht mehr zurechtfinden kann“ (279). Letztend­lich triumphiert die Neugierde über Ablehnung und Bagatellisierung; die Protagonistin gibt der „Anziehungskraft, die doch nicht mehr zu leugnen ist“ (285) nach und wagt einen Blick ins Hausinnere. Die Szenerie, die sich vor ihren Augen entfaltet, soll hier in ihrer Ganzheit wiedergegeben werden, da sie zu erkennen gibt, wie Kaschnitz die mnemotechnische Raumkonzeption modifiziert, um das Museumsgebäude als Metapher für das natür­ liche Gedächtnis fruchtbar zu machen: Am wichtigsten erscheint es mir zu sagen, daß der Eindruck von Kulissenhaftigkeit, den ich schon früher hatte, sich voll bestätigt hat. Die ganze Anlage ist eine Kulisse, das Gebäude selbst nur eine Fassade, sonst nichts. Hinter der Fassade befinden sich im Freien eine Menge schwer erkennbarer Aufbauten, wie sie vielleicht auf dem Gelände einer Filmgesellschaft zu finden sind, auch kleine Garten- und Waldstücke, bei denen ich nicht erkennen konnte, ob sie echt oder aus Holz, Stoff und Pappe künst­lich nachgebildet waren. Das Verwirrendste an dem Anblick all dieser Dinge war, daß aus mehreren, mir verborgenen Apparaten das verschiedenste Licht, ja sogar ein tiefer künst­licher Schatten, wie die Dunkelheit der Nacht, auf sie fiel. Das Ganze wirkte unordent­lich, sogar chaotisch, aber durchaus nicht unheim­lich, und ich mußte beim Fortgehen darüber lachen, daß ich mich vor dem Besuch der Anlage so sehr gefürchtet und ihn so lange hinausgeschoben hatte. (285 f.)

Bei der Mnemotechnik zeichnet sich der imaginierte Raum durch Stabilität und Ordnung aus, nur so kann der Redner die zuvor platzierten Inhalte der Reihe nach lokalisieren und sie sich in Erinnerung rufen. Ganz anders hingegen sieht es im Kindheitsmuseum aus. Die Instabilität, die bereits die Außenerscheinung des Museums kennzeichnete, setzt sich im Inneren fort. Die Hervorhebung des kulissenhaften Museumsinneren, die Analogiesetzung zu einem Filmset, der Hinweis auf das mediale Inszenierungspotenzial technischer Apparaturen, all das unterstreicht die offenkundige Inkonsistenz und chaotische Dynamik des Raums, in dem die Abwicklung verborgener Vorgänge vermutet werden kann. In ihren Ausführungen zur räum­ lichen Gedächtnismetapher erklärt A. Assmann die Differenz zwischen „einer Raummetaphorik der Gedächtniskunst“ und „einer Raummetaphorik der Erinnerungskraft“, also den Unterschied zwischen metaphorischen Repräsentationen des künst­lichen Gedächtnisses und solchen des natür­lichen, ­folgendermaßen: „Wo der Raum strukturiert und geordnet ist, haben wir es mit Medien, Metaphern und Modellen des Speicherns zu tun. Wo der Raum

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hingegen als ungeordnet, unübersicht­lich und unzugäng­lich dargestellt wird, können wir von Metaphern und Modellen des Erinnerns sprechen.“40 Mit dem Eintritt in das Museum erschließt sich die Ich-Erzählerin einen Zugang zu ihrem Gedächtnis und kann mit der konkreten Erinnerungsarbeit beginnen. Sie stellt fest, dass beim Betreten der musealen Gedächtnisanlage „immer nur ein Raum vorhanden [ist], hinter dessen Wänden man ein schauer­liches Chaos ahnt“ (292). Bei diesen Räumen – „windige, nur für kurze Verwendung gedachte Filmaufbauten“ (292) – handelt es sich um Erinnerungsinstallationen, die Eindrücke, Erfahrungen, Situationen aus der Kindheit heraufbeschwören. Interessant ist der Verweis auf das Chaos, aus dem die Räume hervorgehen. Die Textstelle inszeniert „das Gedächtnis als den Bestand, der sich aus den im Laufe der Zeit erlebten Ereignissen eines Menschen zusammensetzt, und Erinnerung als eine Auswahl, die aktuell aus ­diesem Vorrat getroffen wird“41. Mehr noch: Die Dimension des Erinnerungsvorrats, Kaschnitz nennt es ‚Chaos‘, bleibt nur erahnbar; zugäng­lich ist der Bereich keineswegs, sondern die Museumsleitung scheint die Zugangsberechtigung zu regulieren. Halten wir fest: Das Museum als Ganzes bildet einen weitläufigen Gedächtnisraum, in dem kontinuier­lich variierende Erinnerungsinstallationen die Erforschung, Aneignung und Konstruktion der individuellen Vergangenheit versinnbild­lichen. Insgesamt können sieben differierende Installationstypen ausgemacht werden, die verschiedene Aspekte des Erinnerns veranschau­lichen: die Wiederholungskurse; die nicht näher beschriebene Apparatur, die eine Zweiteilung des Besuchers in ein erinnerndes und ein erinnertes Ich auslöst; die Erinnerungscodes; die Filme; die Vorträge; die Requisitenkunde; die theoretischen Unterrichtsstunden. Die Besichtigung der installierten Erinnerungsräume muss nicht alleine erfolgen, bei Bedarf können Museumsangestellte herbeizitiert werden: „Es gibt drei Ordner, von denen man sich begleiten lassen kann. Den Wunsch nach einer solchen Begleitung äußert man, indem man auf einen Knopf drückt, wobei man jedoch eine bestimmte Person nicht verlangen darf “ (298). Der Wiederholungskurs ist höchstwahrschein­lich die am häufigsten vorzufindende Installation. Bei dieser Form des Erinnerns muss der Museumsbesucher, der „sich in einen kind­lichen Zustand zurückversetzt fühlt“ (321), vergangene Erlebnisse erneut durchleben. Die eingenommene Wahrnehmungsperspektive ist die des Kindes, die re-aktualisierten Erfahrungen keine reflektierte Distanz zulässt, sondern sich durch die am eigenen Leib erfahrene Unmittelbarkeit

40 Assmann: Erinnerungsräume, S. 162. 41 Westerwinter: Museen erzählen, S. 84.

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auszeichnet. Das durch die Wiederholungskurse abgedeckte Spektrum wiederbelebter Vergangenheit könnte unterschied­licher kaum sein: Es reicht von einzelnen zusammenhanglosen Sinneseindrücken wie der wiederholten Wahrnehmung eines angstauslösenden Schreis oder eines bestimmten Geruchs (vgl. 294) über das Erproben von Kinderspielen (297 f.) bis hin zum Nacherleben ganzer Kindheitsepisoden wie der Bootstour (vgl. 304) oder der Badeanstaltsszene (328 f.). Kennzeichnend für die Wiederholungskurse ist das „Heimgesuchtwerden von Bruchstückhaftem“ (307), selbst die ganzheit­lich nachempfundenen Episoden aus der Kindheit sind aus ihrem Kontext herausgerissen. A. Assmann erklärt, dass „Erinnerungen für sich genommen fragmentarisch, d. h. begrenzt und ungeformt“42 sind. „Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher“43. Die wohl merkwürdigste Erinnerungsinstallation ist diejenige, die eine Aufteilung des Museumsbesuchers in zwei Individuen bewirkt, sodass sich erinnerndes und erinnertes Subjekt unmittelbar gegenüberstehen. Damit changiert die Wahrnehmungsperspektive von der Innenperspektive zu einem Modus der Außenbetrachtung. Im Kern geht es darum aufzuzeigen, ­welchen Einfluss Erinnerungen auf das Selbstbild des sich Erinnernden haben können, wenn sie Erlebnisse heraufbeschwören, die unvereinbar mit dem aktuellen Identitätsgefühl sind. Erinnerungen entfalten, so suggeriert die Installation, entweder eine stabilisierende oder eine destabilisierende Wirkung auf die Selbsterfahrung desjenigen, der eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit anstrebt (vgl. 335 f.).44 Im Gegensatz zu den bisher erläuterten Erinnerungsinstallationen, deren Inhalt von der Museumsleitung bestimmt wird (vgl. 306), kann man bei den Erinne­rungscodes, einem „neuartigen Anschauungsunterricht“ (344), frei ­wählen, an was man sich erinnern will. Die Installation funktioniert so, dass man nach Betreten des entsprechenden Raums dem Ordner Nr. 1, einem „gewöhn­ lichen Kustoden mit einer Amtsmütze“ (305), einen Namen oder einen Begriff nennt, woraufhin einem eine individualisierte, an diese Codes anknüpfende Erfahrung gezeigt wird. So äußert die Ich-Erzählerin beispielsweise das Wort ‚Carmen‘ und im nächsten Moment sieht sie sich, wie sie mit ihrem Groß­vater in der Oper ist und beschämt seinem beherzten Gesang zuhört (vgl. 345). Oder aber die Nennung der Wörter ‚Immanuel‘ und ‚Friedefürst‘ evoziert die Erinnerung 42 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 24 f. 43 Ebd., S. 25. 44 Das nächste Kapitel, das sich Kaschnitz’ Überlegungen zum Zusammenhang von E ­ rinnern und Identität widmet, geht genauer auf diese Einrichtung ein.

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an einen Gottesdienst, in dessen Verlauf sie ihre vom „Rationalismus stark abweichende Art des Hörens und Sehens“ (357) erkennt. Auf der einen Seite plausibilisieren die Erinnerungscodes eine Art von Steuerbarkeit beim Erinnern und sprechen demzufolge für eine Art der intellektuellen Auseinandersetzung mit den erinnerten Inhalten. Auf der anderen Seite akzentuieren sie die individuelle Konnotation von Erinnerungen; gleiche Schlagwörter rufen, so legt der Text nahe, bei unterschied­lichen Personen verschiedenartige Assoziationen hervor. A. Assmann spricht in ­diesem Zusammenhang von der Perspektivierung, der Unaustauschbarkeit und Unübertragbarkeit von Erinnerungen.45 Während die Erinnerungscodes die Individualität des Erinnerungsinhaltes postulieren, legen die Filmvorführungen und Vorträge offen, wie das Erinnerte aufgrund seiner Einbettung in einen sozial-historischen Kontext maßgeb­lich von äußeren Faktoren beeinflusst wird. Über die Filme äußert sich die Ich-­ Erzählerin folgendermaßen: Es gibt außerdem Kurzfilme, die man selbst abrollen läßt und die, soviel ich verstanden habe, jeweils Ereignisse eines Jahres, also etwa von 1901, 1905, 1910, 1920 zeigen, womit den Besuchern offenbar die Mög­lichkeit gegeben werden soll, allgemeine Erscheinungen ihrer Kindheitsjahre festzustellen. (298)

So dokumentieren die filmischen Vorführungen etwa den Untergang der ­Titanic (vgl. 312), das ­soziale Elend des Jahres 1910 (vgl. 332 f.) oder den Kriegsausbruch von 1914 (vgl. 359 f.). Für die Vorträge ist der blinde Ordner Nr. 2 zuständig (vgl. 301), „der offenbar von Beruf Historiker oder Soziologe“ (302) ist. Er referiert beispielsweise über die Monarchie (vgl. 302 f.), „über den Ausdruck Bankrott und seine Bedeutung, ferner über die kapitalistische Wirtschaftsordnung, das Kreditwesen“ (326) sowie über die Gründerjahre (vgl. 345). Erinnerungen weisen nicht nur eine individuelle Prägung auf, sondern die aktuali­sierten Erlebnisse transportieren ebenfalls historische und soziokulturelle Gemeinschaftserfahrungen. Damit erweist sich der Einzelne als Teil einer ‚Erinnerungsgemeinschaft‘, die ihr Vergangenheitsbild aus ‚gemeinsam‘ erlebten Erfahrungen und aus dem Austausch über diese Erfahrungen bezieht.46 Bei der Requisitenkunde „findet die Belehrung in ganz neutralen, mit Lehrmittelschränken und Regalen eingerichteten Räumen statt: ein Fach wird jeweils geöffnet und das Notwendige von dem Ordner hervorgeholt“ (321).

45 Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 24. 46 Vgl. dazu etwa A. Assmanns Überlegungen zum sozialen Gedächtnis in Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 25 – 29.

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Die Ich-Erzählerin, hier als erwachsene Person, wird mit Objekten aus ihrer Kindheit konfrontiert, denen spezifische Erinnerungen eingeschrieben sind. Eine männ­liche Puppe, offenbar eines ihrer Lieblingsspielzeuge, erinnert an ihr jungenhaftes Benehmen. Statt während des Puppenspiels die Mutterrolle nachzuahmen, präferiert sie das Spiel mit der Männerpuppe und konterkariert auf diese Weise geschlechtsspezifische Verhaltenserwartungen (vgl. 321). Oder: Ein Buch mit dem Titel Wie ein Mensch geboren ward aktiviert die schockartige Erinnerung an ihren offensicht­lich ersten Kontakt mit dem Thema ‚Sexualität und Geburt‘ (vgl. 331 f.). Ein anderes Mal wird der Ich-Erzählerin ein „sonder­ bare[r] Gegenstand, eine Art von Beinschiene aus Metall und Leder, in die Hand“ (335) gegeben, die sie nach ausführ­lichem Betrachten und Ertasten schließ­lich anziehen muss. Hierauf stellt sich ein unbehag­liches Gefühl ein. Mit der Beinschiene assoziiert sie allem Anschein nach ein zunächst nicht identifizierbares Erlebnis, dessen latente Präsenz im Gedächtnis sich gleichwohl durch die empfundene Emotion artikuliert. Erinnerungsarbeit, das vermittelt die Requisitenkunde, kann sich an konkreten Objekten vollziehen. Im Laufe unseres Lebens können Gegenstände zu Projektionsflächen von Erfahrungen und Empfindungen werden. Sie avancieren zu Medien des Gedächtnisses und übernehmen gleichsam die Rolle materialisierter Erinnerungen. Die erneute Konfrontation mit diesen Objekten löst beim Betrachter unterschied­liche Assozia­tionen aus; mal kulminieren diese in der Vergegenwärtigung vergangener Lebenssituationen, mal aktualisieren sie ‚nur‘ erfahrene Emotionen. Gegen Ende der Studienaufenthalte erweitert die Museumsleitung ihr Programm um den theoretischen Unterricht. Verantwort­lich für diese Form der Erinnerungsarbeit ist der Ordner Nr. 3, der aufgrund seiner Erscheinung einen Arzt oder Psychologen repräsentiert (vgl. 320): Er zeichnete mir heute drei Kästchen an die Tafel, von denen das erste leer, das zweite stark schwarz schraffiert, das dritte zur Hälfte zart gestrichelt, zur andern Hälfte aber überhaupt nur angedeutet war. Der Ordner schrieb über die Kästchen römische Zahlen und darunter die Worte Geborgenheit, Auseinandersetzung und Wachsende Einsicht, womit die gestrichelte Hälfte des dritten Kästchens bezeichnet war. Ich nehme an, daß mit dieser graphischen Darstellung eine Einteilung des Studien­materials in verschiedene Phasen versucht werden soll. (349 f.)

Die Illustration rekapituliert den emotionalen Verlauf der geleisteten Erinne­ rungsarbeit und setzt die einzelnen Stationen des Erinnerns in einen ­groben Zusammenhang. In der Folge führt der Ordner Nr. 3 der Ich-Erzählerin eine erneute Darstellung des absolvierten Kindheitsstudiums und der damit einhergehenden Emotionsschwankungen vor, diesmal als Kurvendiagramm

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(vgl. 369 f.). Die auf der Tafel abgebildete Kurve fungiert jedoch nicht ausschließ­ lich als grafische Repräsentation erlebter Höhen und Tiefen, sondern symbo­ lisiert als durchgezogene Linie gleichsam das Ineinandergreifen der Erinnerungsfragmente. Ein Ziel des theoretischen Unterrichts besteht sicher­lich darin, die im Museum vergegenwärtigten Erinnerungspartikel als Teile eines zusammenhängenden Kinderlebens auszuweisen. Reflektieren die einzelnen Erinnerungsinstallationen zumeist differente Beschaffenheiten des Erinnerungsvorgangs, so ist doch zu konstatieren, dass zumindest zwei Grundbehauptungen aufgestellt werden. Einerseits wird die Steuerbarkeit von Erinnerungsprozessen angezweifelt. Die Installationen – selbst die Äußerung der Erinnerungscodes erfolgt auf Anweisung des Ordners Nr. 1 – werden in der Regel durch eine nicht fassbare aber bisweilen erwähnte Museumsleitung ausgewählt und bereitgestellt. Die Handlungsfreiheit des Besuchers ist bis auf ein Minimum reduziert, er unterwirft sich geradezu dem ‚Erinnerungsprogramm‘ des Museums (vgl. 360). Folgerichtig hält Roßbach fest: „Daß Erinnerungsprozesse nicht steuerbar sind, ist demnach eine z­ entrale Textaussage“47. Andererseits demonstrieren die installierten Erinnerungsräume die Rekonstruktivität von Erinnerungen. A. Assmann formuliert: „Das Erinnern verfährt grundsätz­lich rekonstruktiv; es geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweiger­lich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung“48. Und ergänzend kann man bei Erll nachlesen, dass Erinnerungen niemals mimetische Reproduktionen einer objektiven Realität darstellen, vielmehr sind es „subjektive, hochgradig selektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen“49. Im Haus der Kindheit artikuliert sich der rekonstruktive Charakter von Erinnerungen bereits durch die Tatsache, dass das Erinnerungsmaterial dem Besucher nie unmittelbar ‚vorliegt‘, sondern durch Installationen präformiert und kanalisiert zur Verfügung gestellt wird. Wiewohl die heraufbeschworene Vergangenheit bisweilen „in allen Einzelheiten sachgetreu wiedergegeben“ (357) wird, bedient sich das Museum „künst­liche[r] Vorspiegelungen“ (334), den evozierten „Landschaften haftet doch immer etwas Künst­liches, Kulissenhaftes an“ (343). „Alles im Haus ist Spiegelung, Spiel, Leichtigkeit im höchsten Maße“ (347), kommentiert die Protagonistin ihre Erfahrung mit den Erinnerungsinstallationen. Sowohl die empfundene Künst­ lichkeit als auch das spielerische Moment bei der Vergangenheitsaneignung

47 Roßbach: „Jedes Kind ein Christkind, jedes Kind ein Mörder“, S. 114. 48 Assmann: Erinnerungsräume, S. 29. 49 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 7.

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indizieren den Unterschied zwischen ursprüng­licher Erfahrung und nachträg­ licher Erinnerung. Nicht zuletzt ist es die installatorisch-technisierte Wiedergabe von Vergangenem, die stets daran erinnert, dass hier etwas in veränderter Form, gleichsam medial rekonstruiert, heraufbeschworen wird. Bereits in der Mitte des Textes fasst Kaschnitz den im Haus der Kindheit absolvierten Erinnerungsprozess in einer Passage zusammen, die das Kindheitsmuseum mit dem „romantische[n] Topos des Bergwerks“50 vergleicht und damit das Ende der Erinnerungsarbeit frühzeitig antizipiert: Manchmal kommt mir das Haus der Kindheit vor wie ein Bergwerk, in dem ich immer tiefer hinabsteige, dem Herzen der Erde zu. Im Schoß der Erde gibt es schaurige Höhlen und ausweglose Stollen, in denen schlagende Wetter drohen, aber es gibt auch Gold- und Silberadern, Edelsteine und Halbedelsteine, wie ich sie mir dort unten vorstelle, näm­lich bereits geschliffen und von strahlendem Glanz. Oft ist mir zumute, als ob ich, tiefer und tiefer hinabsinkend, den Erdkern erreiche, eine Kammer strahlenden Lichts. (326 f.)

Westerwinter fokussiert in ihrer Textlektüre auf die Differenz zwischen der Museums- und Bergwerkmetapher, indem sie ersterer die Aspekte ‚Horizontalität‘ und ‚Kulissenhaftigkeit‘ zuordnet, letzterer die Attribute ‚Vertikalität‘ und ‚Materialität‘ beimisst.51 Wichtiger mutet indessen die gemeinsame Grundausrichtung der beiden raumorientierten Gedächtnismodelle an. Sowohl das Museum als auch das Bergwerk sind Denkbilder, die nicht die Ordnung und Speicherkapazität eines künst­lichen Gedächtnisses illustrieren, sondern das organische Gedächtnis und den Akt des Erinnerns versprach­lichen. Die Museums­ metapher inszeniert den Erinnerungsvorgang als musealen Gedächtnisraum, in dem die individuelle Vergangenheitsaneignung durch die Konfrontation mit den dort ausgestellten Erinnerungsinstallationen erfolgt; die Bergwerkmetapher basiert auf der Kategorie der Tiefe und interpretiert Erinnern als Ausgraben.52 Als Symbol „einer verräum­licht vorgestellten Seele, ihrer kognitiven Vermögen oder Inhalte“53 gewinnt das Bergwerk besondere Signifikanz um 1800, als die Dualität von Bewusstsein und Unbewusstem populär wird. Kaschnitz’ Denkfigur verweist auf einen Bereich der ‚Seele‘, der ausgeklammert vom aktuellen Selbst-Bewusstsein erst durch das Hinabsteigen in tiefere Bewusstseinsschichten 50 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie – Rhetorik – Schrift, S. 21. 51 Vgl. Westerwinter: Museen erzählen, S. 105. 52 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 163. 53 Steiner, Uwe: Bergwerk/Schacht. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar 2008. S. 40 – 41, hier S. 40.

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hervorgeholt werden kann. Damit ist die Bergwerkmetapher sicher­lich ein prägnantes Bild für den Erinnerungsprozess. Die Textpassage rekapituliert die in der musealen Gedächtnisanlage bewerkstelligte Erinnerungsarbeit, hebt die in den erinnerten Kindheitsepisoden empfundene Not, Trauer, Freude hervor und spricht durch den Verweis auf den lichterstrahlten Raum gleichzeitig die Erkenntnisfunktion des Erinnerns an. Erkenntnis meint hier vor allem Selbsterkennen. Zu Recht konstatiert ­Roßbach, dass der Ich-Erzählerin „[k]eine exakte Rekonstruktion empi­rischer Vergangenheit“ gelingt und demzufolge „kein vollkommen abgerundeter Sinnzusammenhang“54 am Ende des Erinnerungsprozesses steht. Aber: Die Leerstelle im Gedächtnis der Protagonistin wurde mit lebendigen Erinnerungsbildern ausgefüllt, vor ihrem inneren Auge entfaltet sich nun ein kaleidoskopartiges Kindheitspanorama. Dem vormals schwarzen Loch, Metapher für die vergessene, verdrängte Kindheit, steht die Lichtmetapher der hell erleuchteten Kammer mit ihren Erinnerungspartikeln diametral entgegen. Der museale Gedächtnisraum ist nicht länger vonnöten, und so verschwindet das Museum aus dem Wahrnehmungsfeld der Protagonistin (vgl. 377). III Erinnern als Identitätsarbeit

Der Nexus von Erinnerung und Identität geht auf die Grundannahme zurück, nach welcher Identität nur mittels der Fähigkeit des Erinnerns erwerbbar wird. Gemeint ist hiermit, dass die Konstruktion von Identität nicht ausschließ­ lich auf einer synchronen Ebene erfolgt, sondern darüber hinaus über eine diachrone Dimension verfügt, in der Erinnertes, gesetzt in Relation zum gegenwärtigen Selbstbild, das Fundament für eine kontinuier­liche, kohärente Selbsterfahrung bildet. Bei den reproduzierten Erinnerungsinhalten handelt es sich – wie oben ausgeführt – jedoch nicht um eine mimetische Wiedergabe vergangener Realität, vielmehr haben wir es mit einer selektiven und konstruktiven Vergangenheitsaneignung zu tun, die sich an der aktuellen Lebenssituation des erinnernden Subjekts orientiert. Die nachträg­liche Bearbeitung vergangener Erfahrungen sichert indes die identitätsstiftende Funktion des Erinnerten, indem sie seine nahtlose Übernahme in das gegenwärtige Selbst-Bewusstsein garantiert.55 54 Roßbach: „Jedes Kind ein Christkind, jedes Kind ein Mörder“, S. 114. 55 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Litera­turwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Hanne Birk und Birgit ­Neumann. Berlin, New York 2005. S. 149 – 178, hier S. 150.

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Kaschnitz’ im Haus der Kindheit entworfene Gedächtnismetapher visualisiert auf eindring­liche Art und Weise den Zusammenhang von Erinnern und Identität und reflektiert zudem die Konstruktivität dieser Verflechtung. In den Räumen des Museums kommt es, evoziert durch faszinierende Erinnerungsinstallationen, zu Begegnungen der Ich-Erzählerin mit ihrem kind­lichen Ich, in deren Verlauf die vormals sicher geglaubte Identität neu verhandelt werden muss. Begleitet wird der Prozess der Identitätsfindung durch den Ordner Nr. 3. In seinem theoretischen Unterricht teilt er die Identitätsarbeit in drei Phasen ein – Geborgenheit, Auseinandersetzung, wachsende Einsicht – und illustriert die oszillierenden Gefühlszustände der Ich-Erzählerin anhand eines Kurvendiagramms (vgl. 349 f., 369 f.). Der intensiven Beschäftigung mit der eigenen Identität, die mit dem Eintritt in das Kindheitsmuseum beginnt, geht der Versuch voraus, ein ­intaktes Selbstporträt zu konstituieren. Die Protagonistin stellt sich dem Leser als mitten im Leben stehende Journalistin vor (vgl. 287, 289 f.), die als freie Mitarbeiterin Artikel über zum Teil skurrile Themen wie „das außerirdische Zeitalter“ oder „Atom und Erotik“ (291) für diverse Zeitungen schreibt (vgl. 310). Eine solide s­ oziale Interaktion scheint durch einen mehrmals erwähnten Bekanntenkreis gewährleistet, der ebenso Raum für den Austausch über (schicksalhafte) Kollektiverfahrungen bietet wie auch eine Diskussionsplattform für individuelle Interessen und Beobachtungen darstellt (vgl. 274 f., 281, 284). Flankiert werden die freundschaft­lichen Kontakte von einer angedeuteten Liebesbeziehung zu einem Mann namens Carl (vgl. 277, 293). Zusammenfassend skizziert die Ich-Erzählerin ihre Lebenssituation in einer Passage, deren humoristisch-selbstkritischer Unterton zwar nicht zu übersehen ist, gleichwohl schließt die Selbstreflexion jede Notwendigkeit einer Beschäftigung mit der Vergangenheit aus und hebt stattdessen die existenzielle Bedeutung der Liebe hervor: So war es heute Eva, die behauptete, zu irgendeiner Zeit seines Lebens müsse man sich mit seiner Kindheit beschäftigen, es sei vielleicht unangenehm, aber man komme nicht darum herum. Ich bezweifle, daß sie recht damit hat, jedenfalls gilt das nicht für meine Person. Ich habe keine besonderen Lebensschwierigkeiten, die mit einer solchen Erforschung der Vergangenheit aus dem Wege geräumt werden müßten, und wenn man die Jahre, in denen ich mich befinde, ein kritisches Alter nennt, pflege ich zu sagen, daß es kein Alter gibt, das nicht in irgendeiner Beziehung kritisch wäre. Ich bin in der glück­lichen Lage, noch geliebt zu werden und, was wichtiger ist, noch selbst Liebe zu empfinden. Wenn ich in den Spiegel schaue, überkommt mich ein gewisser Galgenhumor, der hoffent­lich anhält, bis mir alles Äußere vollständig gleichgültig ist. (278)

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Das hier gezeichnete Psychogramm kann deswegen nicht vollends überzeugen, weil die Protagonistin bereits kurz zuvor ihre Kindheitserinnerungen als schwarzes Loch charakterisiert hatte, eine Unwohlsein erregende Leerstelle, die eine markante Diskontinuität im Prozess der Identitätsbildung signalisiert. Im Sinne der diachronen Identitätsauffassung haben die nun folgenden Museums­besuche das Ziel, d ­ ieses Vakuum mit Erlebnissen aus der Kindheit auszufüllen, um die biografische Kohärenz wieder herzustellen. Die Auseinandersetzung mit der Kindheit folgt im Großen und Ganzen dem dreiteiligen Schema von Ordner Nr. 3. Phase I, Geborgenheit, dient dazu, die Erwachsene schrittweise an ihr Dasein als Kind heranzuführen. Bei einem der ersten Besuche findet die Ich-Erzählerin, kurz nachdem sie das Museum betreten hat, einen Zerrspiegel, der ihr scheinbar kohärentes Selbstbild radikal infrage stellt: „Im Spiegel sah ich mich selbst, aber verzerrt, auf einem schmächtigen Kinderkörper mein eigenes großes und schauer­lich gealtertes Gesicht“ (292). Während einer weiteren Visite wird ihr „eine Art von Guckkastenbühne, wie eine Puppenstube, aber lebensgroß“ (301) vorgeführt, die eine typische Familienszene zeigt. Die Einrichtung vermittelt aufgrund der eingenommenen Beobachterposition einen objektiven Eindruck der kind­lichen Lebenswelt, gleichzeitig ermög­licht sie eine erste Annäherung an die Körper­lichkeit des erinnerten Ich: Inmitten der leblosen Figuren entdeckt sich die Protagonistin selbst als „ein dickes, kleines Mädchen“ (301). Im Folgenden steigert sich die Intensität der Studienaufenthalte aufgrund der veränderten Wahrnehmungsperspektive. Die Besucherin verlässt ihre Stellung als teilnahmslose Beobachterin und wird, rücktransformiert in ihr kind­liches Ich, in den sogenannten Wiederholungskursen unmittelbar mit der Erfahrungswelt und dem Körperempfinden ihres erinnerten Ich konfrontiert. So heißt es etwa während eines Streifzugs durch eine im Museum installierte Naturidylle: „Außerdem habe ich neuerdings ein Gefühl meines Körpers, eines angenehm kind­lichen Körpers mit nackten Armen und Beinen und dichtem wirrem Haar rund ums Gesicht“ (305). Entsprechend der Kennzeichnung ‚Geborgenheit‘ verlaufen die ersten aktualisierten Kindheitserfahrungen positiv; der emotionale Zustand des kind­lichen Ich – „Geborgenheit“, „heftige Lebenslust“ (305), „ein Gefühl geheimnisvoller Macht, das mich wie auf Flügeln trug“ (307) – spiegelt aufgrund des optimistischen Grundtons die Selbsteinschätzung der erwachsenen Ich-Erzählerin wider, sodass die vergegenwärtigten Erinnerungsepisoden das illustrierte Selbstporträt zunächst zementieren. Anders hingegen spielen sich die Museumsaufenthalte in Phase II ab, die der Ordner Nr. 3 mit dem programmatischen Stichwort ‚Auseinandersetzung‘ versieht. Hier trifft die Protagonistin in den Installationsräumen des Museums auf Reproduktionen ihres kind­lichen Ich, die keineswegs ihrer gegenwärtigen Selbstwahrnehmung entsprechen und damit die biografische Kontinuität destabilisieren:

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Ja, ich bin das ängst­liche, friedliebende Kind, als das ich mich in den bisherigen Wiederholungskursen gebärdet und betragen habe, ich weine viel (gestern einen ganzen Unterrichtsabschnitt lang) ohne ersicht­lichen Grund und mit rätselhaftem Genuß. Aber daneben bin ich doch noch etwas anderes, ein Gefäß jähen Zornes, der plötz­lich zu brodeln und zu kochen und herauszuschäumen beginnt, eine Glieder­ puppe, die jemand mit den Beinen strampeln, mit den Fäusten hämmern und an fremden Haaren reißen läßt, so wie ich es eben im Hadeka getan habe, um dann wegzulaufen und mich zu verkriechen, von Angst vor mir selber und eben ­diesem ganz neuen Gefühl, der Scham, erfüllt. (319 f.)

Die ursprüng­lich empfundene Geborgenheit, die das Hineinschlüpfen in die Kinderrolle hervorrief, wird ersetzt durch das nun dominierende Gefühls­ chaos aus Angst, Zorn und Scham. Die Ich-Erzählerin erlebt sich selbst als „ein anomal empfind­liches, weiner­liches Geschöpf “ (331), dessen grundsätz­ liche Frustration in einer „Abscheu“ (326) vor der eigenen Person kulminiert. In den Tagebuchnotizen reflektiert sie die neugewonnenen Einsichten und setzt sie in Beziehung zu ihrem aktuellen Befinden: „Unter ­diesem Abscheu vor meiner eigenen Feigheit leide ich noch immer“ (326). Kommentare wie dieser demonstrieren, wie Erinnerungen das Selbstbild des sich erinnernden Subjekts affizieren, im vorliegenden Fall gar auflösen. „[I]ch fühle, wie ich in Gefahr bin, meine Gestalt und damit mein Ich zu verlieren“ (319), notiert die Protagonistin in ihr Tagebuch. Kennzeichnend für diese Phase des sich anbahnenden Ich-Verlusts ist eine im Museum vorzufindende Erinnerungsinstallation, die die Besucherin in zwei disparate Individuen aufteilt, um ihr die Diskrepanz zwischen sich erinnerndem und erinnertem Subjekt zu verdeut­lichen: Eine neue erschreckende Einrichtung, die dem Erforscher des Museums, übrigens auch ohne oder sogar gegen seinen Willen, zur Verfügung gestellt wird und die ihn befähigt, sich selbst, und zwar nicht wie in einem Spiegel, sondern ganz von außen zu sehen. Die Umstellung erfolgt ganz plötz­lich, ohne vorherige Warnung, und hat deshalb schon an und für sich etwas Erschreckendes. Sie war heute für mich ­doppelt unangenehm, weil das mir vorgeführte Selbstbildnis meiner Vorstellung keineswegs entsprach. (335 f.)

Die Erinnerungssequenz zeigt die Protagonistin, wie sie als junges Mädchen auf dem Schulhof inmitten der sie umkreisenden Spielkameraden statuarisch verharrt, bevor sie sich erfolglos um Kontaktaufnahme bemüht. Für sie stellt die erlebte Isolation eine traumatische Erfahrung dar, hatte sie doch Lieben und Geliebtwerden als elementare Grundbedürfnisse ihrer Existenz deklariert.

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Neumann definiert das Trauma „als andauernde[n] Fremdkörper im Gedächtnis, als ‚verkörperte‘ Erinnerung, die sich einer konstruktiven Verarbeitung entzieht“56. Dementsprechend gelingt es der Ich-Erzählerin nicht, die im Haus der Kindheit heraufbeschworene traumatische Erfahrung in ihr Identitätsgefühl zu integrieren, sondern sie bleibt, in der Bilderwelt der musealen Gedächtnis­ anlage als Ich-Zweiteilung konkretisiert, ein entscheidender Störfaktor im Prozess der Identitätsfindung. Die Isolationserfahrung markiert gleichsam den Kulminationspunkt der Auseinandersetzung mit den verdrängten Kindheitserlebnissen. Die bisherigen Bemühungen der Protagonistin, das Erinnerte während der schrift­lichen Rekonstruktion durch nachträg­liche Modifizierungen und Korrekturen zu entschärfen, indem sie der Museumsleitung Übertreibungstendenzen vorwirft (vgl. 322) beziehungsweise die angewandten Inszenierungsmethoden oder die Selektion des Erinnerungsmaterials kritisiert (vgl. 322, 333 f.), laufen letztend­ lich ins Leere. Zu markant ist die erfahrene Differenz zwischen erinnerndem und erinnertem Subjekt; auf die ‚Dissoziationserfahrung‘ folgt der Zusammenbruch: „Ich kann nicht mehr. Obwohl ich gewiß den besten Willen gehabt habe, meine Studien im Haus der Kindheit bis zum Ende durchzuführen, fühle ich, daß ich dazu nicht mehr imstande bin“ (337). Nach einer Pause von ein paar Tagen, die die Ich-Erzählerin im Kaffeehaus, einer Außenstation des Museums, verbringt, nimmt sie ihr Studium wieder auf. Phase III , wachsende Einsicht, beginnt. Die letzte Phase der Identitäts­ arbeit zeichnet sich einerseits durch Aufenthalte aus, bei denen geäußerte Codewörter eine spezifische Kindheitserfahrung hervorrufen, sodass die Besucherin Einfluss auf die ihr präsentierten Erinnerungsinhalte hat (vgl. 344). Sie kann nunmehr aktiv an der Identitätsarbeit partizipieren und genießt die neu erworbene „Freiheit“ (344). Andererseits wird sie nach wie vor mit Erinnerungsszenen konfrontiert, die dunkle Stellen ihrer Vergangenheit enthalten, so etwa die Zwangsvorführung von Filmmaterial des Kriegsbeginns im Jahr 1914 (vgl. 359 f.) oder der Selbstmord der Sekretärin des besuchten Konservato­ riums (vgl. 364 f.). Neben Sequenzen, die eine direkte Konfrontation mit dem körper­lichen und see­lischen Befinden des kind­lichen Ich herbeiführen, zeigt das Museum in allen drei Phasen auch immer wieder ­solche, die den historisch-sozialen Kontext seiner Kindheit beleuchten. Gegen Ende der Phase III gelangt die Ich-Erzählerin dann in der Tat zur Einsicht. Der in den vielen Erinnerungsstationen gewonnene Einblick in Körper­ bewusstsein, Psyche, mentale Verfassung und Lebenswelt des erinnerten Ich

56 Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 154.

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scheint eine Deformierung oder gar Leugnung sowohl negativer als auch erfreu­ licher Kindheitserfahrungen nicht länger zuzulassen. Vielmehr beginnen die reaktivierten Episoden als wiedererkannte Bestandteile der eigenen Biografie das konstituierte Identitätsbild nachhaltig zu überformen – ­­Zeichen der Einsicht gab es auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt (vgl. 322 f.). So mündet ein „Vogelflug“ (371) über die Topografie der eigenen Kindheit schließ­lich in der Akzeptanz des erinnerten Ich:57 „Und wie ich, zum erstenmal demütig, die Dinge annahm, war ich auch angenommen, ein Kind des alten, baufälligen Hauses am Hang des Gebirges, ein Kind der alten, fragwürdigen Welt“ (372). Die Identitätsarbeit endet mit einer Analogiesetzung zwischen der Kinder- und der Erwachsenenwelt – ein harmonisches Bild, das offensicht­lich die wiedergefundene biografische Kontinuität indiziert: „Denn das kleine Leben ist erfüllt von den gleichen Spannungen, Ängsten und Freuden, die auch das große ausmachen, auch der kleine Bogen senkt sich am Ende der Liebe zu“ (374). Für Inge Stephan ist die Hinwendung zu einem Mann, die sowohl auf der Ebene des erinnernden als auch des erinnerten Ich das Ende der Identitätskrise einleitet, ein Indiz dafür, dass die Ich-Erzählerin es nicht vermag, ein weib­liches Identitätsgefühl zu entwickeln. An die Stelle einer selbstdefinierten Weib­lichkeit tritt die Abhängigkeit von einem männ­lichen Gefährten.58 Susanne Keßler erkennt in Kaschnitz’ Prosatext „den Niederschlag einer bürger­lichen Kultur des 19. Jahrhunderts, in der die Frau wie kaum sonst über den Mann definiert war“59 und demzufolge immer nur das Andere, das Pendant zum Männ­lichen bleibt. Den Feststellungen ist insofern zuzustimmen, als Kaschnitz’ Hauptfigur tatsäch­lich ein Opfer der „männ­lichen Ordnung“60 ist (vgl. 304), das dann, wenn es die durch den Mann präformierte Frauenrolle verlassen will, mit Unverständnis 57 Das Umdenken erfolgt in der Tat etwas plötz­lich und kann vom Leser nur schwer nachvollzogen werden. Die bisweilen im Haus der Kindheit gemachten traumatischen Erfahrungen, die die Ich-Erzählerin zu einer Regenerationsphase im Kaffeehaus zwangen, werden nachher als eine Art von Winterdepression banalisiert (vgl. HdK, S. 343). Ob und wie sie beispielsweise das Isolationstrauma ihrer Kindheit überwinden beziehungsweise aktiv in ihr Identitätsgefühl integrieren konnte, bleibt schleierhaft. Genau dies scheint Hildesheimer in seiner Rezension aus dem Jahr 1957 zu kritisieren, wenn er von fehlender „psycho-lo­gischer Konsequenz“ spricht und schreibt: „Sie [die Ich-­ Erzählerin] nimmt, je nach Art des Erlebnisses, Schrecken oder Vergnügen, Erschütterung oder Erlösung mit nach Haus, und ihre Emotionen arbeiten bis zum nächsten, andersgearteten Erlebnis in ihr fort, werden aber nicht verarbeitet.“ (Hildesheimer, Wolfgang: Ein Haus der Kindheit. In: Merkur 11. 7 (1957), S. 86 – 89, hier S. 88.) 58 Vgl. Stephan: Männ­liche Ordnung und weib­liche Erfahrung, S. 149. 59 Keßler: Die Egozentrik der undefinierten Frau, S. 88. 60 Stephan: Männ­liche Ordnung und weib­liche Erfahrung, S. 135.

Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit

und Isolation bestraft wird (vgl. 282 f., 336 f.), sodass eine eigenständige weib­liche Identität nicht geformt werden kann. Das mindert aber keineswegs Kaschnitz’ Leistung, das Zusammenspiel von Erinnern und Identität aufgezeigt zu haben. Die Museumsmetapher übernimmt dabei als Gedächtnisraum die Funktion des Austragungsortes, der die literarische Visualisierung der Konfrontation zwischen erinnerndem und erinnertem Subjekt erlaubt. Wenngleich die im Haus der Kindheit absolvierte Identitätsarbeit keine verkrusteten Denkschemata aufbrechen kann, so verschafft sich die Ich-Erzählerin doch einen mosaikartigen Überblick über ihre Kindheit und stabilisiert mit Blick auf die diachrone Identitätsauffassung nachhaltig ihre kontinuier­liche Selbsterfahrung. IV Die Tagebuchform: Erinnern und Schreiben

Die Erinnerungen der Ich-Erzählerin liegen dem Leser „als ein fiktives Tagebuch, d. h. eine Erzählung in Tagebuchform“61 vor. Der Tagebuchcharakter wird einerseits durch die Gliederung des Textes in 126 nummerierte, kurze, nicht datierte Abschnitte manifest. Andererseits erzeugt Kaschnitz eine Tagebuch-Illusion, indem sie den vorliegenden Text explizit als Niederschrift der Ich-Erzählerin ausweist (vgl. 298, 340 f., 374) oder an mehreren Stellen Leseradressierungen platziert, die, den Handlungsverlauf durchbrechend, sich an ein potenzielles Publikum richten (vgl. 317, 322 f., 342, 344) – mitunter weisen einzelne Sätze eine deut­liche Nähe zum Berichtton schmuckloser Tagebuchnotizen auf: „Beispiel für den nach meiner Rückkehr in das Hadeka angewandten neuartigen Anschauungsunterricht“ (344). Auf der einen Seite steigert die Inszenierung des Prosatextes als reale Aufzeichnungen einer Ich-Erzählerin die Authentizität der erinnerten Episoden, auf der anderen Seite reflektiert die Tagebuchform die Rolle des Schreibens für den Erinnerungsprozess. Mit dem ersten Hinweis auf das Kindheitsmuseum beginnt die Protagonistin, ihre Beobachtungen schrift­lich festzuhalten. Kurz danach legt sie ein „Sondertagebuch für ‚Museumsfragen‘“ an, was, wie ein späterer Eintrag bekundet, zum Desinteresse an den „laufenden Notizen“62 führt: „Solche Aufzeichnungen gehören natür­lich in mein anderes Tagebuch. Ich holte es eben heraus und sah zu meiner Überraschung seit dem 10. ­Oktober keine Eintragung mehr“ (286). Schreibend nähert sie sich der merkwürdigen Gedächtnisanlage und damit den eigenen Erinnerungen an; die selbst gewählte Kurzbezeichnung ‚H. D. K.‘, die Versprach­lichung des Gegenstandes nimmt ihm

61 Pulver: Marie Luise Kaschnitz, S. 62. 62 Baus, Anita: Standortbestimmung als Prozeß. Eine Untersuchung zur Prosa von Marie Luise Kaschnitz. Bonn 1974, S. 226.

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seine furchteinflößende Macht, lässt ihn zu etwas Eigenem werden (vgl. 283). „Die Mauer des Fremden und Unheim­lichen schwindet, die Erzählerin kann eintreten.“63 Ab d ­ iesem Zeitpunkt wird das Tagebuch zur Plattform, um die Studienauf­ enthalte im Museum akribisch zu be- und erschreiben. Erinnerungen zum Gegenstand des Schreibens zu machen, hat den Vorteil, immateriellen ­psychischen Vorgängen eine manifeste Form zu verleihen, sie sprach­lich zu konkretisieren, um die Vergegenwärtigung zu erleichtern: „In ­diesem Sinne kann der Schreibprozess als Musealisierungsakt gelesen werden, der den ephemeren Charakter der ‚Erinnerungsexponate‘, ­welche nach ihrer Präsentation in den Museumsräumen sofort wieder verschwinden, auffängt.“64 Einher mit der Materialisierung gedank­licher Abläufe durch ihre Versprach­lichung geht die Erfahrung des Schreibens als Reflexionsmedium. Die Ich-Erzählerin wird, indem sie das Erinnerte erschreibt, zur Rezipientin ihrer eigenen Erinnerungen. Diese Projektion von innen nach außen verschafft ihr die nötige Distanz, um das im Haus der Kindheit Erlebte kritisch zu kommentieren, zu bewerten und in einen aktuellen Zusammenhang einzubinden. Die Tagebucheinträge dokumentieren ihre Kritik an den ‚Unterrichtsmethoden‘ (vgl. 296, 322, 367), an dem Vorgeführten (vgl. 296 f., 305), an der Auswahl der Erinnerungsbilder (vgl. 333), ihre Zweifel an dem Wahrheitsgehalt des Inszenierten (vgl. 362) sowie ihre Verwunderung über Nichtgezeigtes, über bedeutsame Leerstellen (vgl. 334, 358), aber auch ihre Lebensfreude, ihr Wohlbefinden, ihr Glücksempfinden (vgl. 304 f., 308 f., 372 ff.), ihre Einsicht (vgl. 322 f.), ihre Wertschätzung (vgl. 374) und die gezogenen Verbindungslinien zwischen Erinnerung und Jetztzeit (vgl. 330 f., 374). Damit ist gewissermaßen eine Doppelreflexion gewährleistet; die unmittelbare, emotionale Konfrontation mit den Erinnerungsfetzen in den Räumen des Museums und die reflektierte Auseinandersetzung während der Niederschrift. Neben Annäherung, Fixierung und Reflexion bietet das Niederschreiben ferner die Mög­lichkeit, die einzelnen erinnerten Episoden in einen assoziativen Zusammenhang zu bringen. Texten ist in aller Regel ein Kohärenzanspruch inhärent, sodass während der Verschrift­lichung die fragmentarischen Erinnerungen in eine sinnvolle Beziehung zueinander gesetzt werden können. Einzeln betrachtet, reproduzieren die Tagebucheinträge zwar die im Kindheitsmuseum vergegenwärtigten Erinnerungsfragmente in einem selbstreflexiven Modus, aber erst in ihrer Gesamtheit als Tagebuchtext werden sie als Stationen eines

63 Stephan: Männ­liche Ordnung und weib­liche Erfahrung, S. 142. 64 Westerwinter: Museen erzählen, S. 101 f.

Marie Luise Kaschnitz’ Das Haus der Kindheit

Kinderlebens erkennbar, die sich in eine spezifische Chronologie eingliedern lassen. Die Bilanz, die die Ich-Erzählerin am Ende ihrer Tagebucheinträge über die Aufenthalte im Museum zieht, kann geradezu als Beweis dafür ­gelesen werden, wie sie schreibend die Erinnerungspartikel zu einem sinnreichen Gesamtbild verbindet: Zum erstenmal habe ich auch den dort erfahrenen Wechsel von Unliebe und Liebe, Angst und Vertrauen, Behauptung und Hingabe als ein Abbild des ganzen Lebens erkannt. […] Ich werde meine Vorwürfe bezüg­lich der Auswahl des Lehrstoffes zurücknehmen und sogar behaupten, daß die mir vorgestellten Erlebnisse gerade durch ihre Belanglosigkeit aufschlußreich waren. (374)

Zusammenfassend beschreibt Westerwinter die Rekonstruktion von Erinnerungen im Medium der Schrift folgendermaßen: „Wenn das erlebende und erinnernde Ich die Erinnerungsfragmente […] niederschreibt – sie in eine narrative Struktur einbindet – erfahren sie eine subjektive Ausdeutung und werden Teil eines umfassenden Assoziationsprozesses.“65 VI Fazit

Ausgehend von einigen Vorüberlegungen zur Gedächtnismetaphorik, nament­ lich ihre Leistung als Erkenntnis stiftende Denkmodelle und ihre Relation zum Raum, wurde der Versuch unternommen, Kaschnitz’ im Prosatext Das Haus der Kindheit entworfene Museumsfiktion als komplexe Gedächtnismetapher zu lesen, die eine räum­lich-konkrete Darstellung eines individuellen Erinnerungsprozesses erlaubt. Die Verräum­lichung des Gedächtnisses geht auf die antike Mnemotechnik zurück, eine Gedächtniskunst, die die Speicherkapazität des natür­lichen Gedächtnisses erweitern soll. Kaschnitz übernimmt für ihre metaphorische Gedächtnisrepräsentation die Grundidee der Mnemotechnik, modifiziert sie in ihrer ästhetischen Ausformulierung aber derart, dass die Inszenierung eines organischen Gedächtnisses und damit auch die Schilderung der dort absolvierten Erinnerungsarbeit mög­lich werden. Das Museum verkörpert das Gedächtnis, die Erinnerungsinstallationen veranschau­lichen den Akt des Erinnerns. Kaschnitz wählt dabei einen Modus des Erzählens, der weniger konkrete Aussagen über Gedächtnis und Erinnerung macht, als vielmehr in metaphorischen Bildern den inszenierten Gegenstand zur Diskussion freigibt. So reflektiert die Museumsmetapher zwar Kaschnitz’ Vorstellungen

65 Westerwinter: Museen erzählen, S. 100.

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von Gedächtnis und Erinnerung – etwa die Nicht-Steuerbarkeit und Rekonstruktivität von Erinnerungen –, aber die Sprache verbleibt in einem Duktus der Andeutung, der Leser wird zur Interpretation aufgefordert. Der Status der Museumsfiktion als Denkmodell bleibt jederzeit erhalten. Ferner thematisiert der Prosatext das Zusammenspiel von Erinnern und Identität. Im Sinne der diachronen Identitätsauffassung zeigt Kaschnitz, wie Erinnerungen zur Stabilisierung beziehungsweise zur Gefährdung des aktuellen Identitätsgefühls beitragen. Die Ich-Erzählerin, deren verdrängte Kindheitserinnerungen auf eine bedeutende Zäsur in der biografischen Kontinuität schließen lassen, revitalisiert ihre Erinnerungen an die Kindheit im Museum. Wiewohl die Vergegenwärtigung der Vergangenheit zunächst eine Identitätskrise auslöst, kann sie ihre negativen Kindheitserfahrungen schließ­lich als zur eigenen Person gehörend akzeptieren und das zwischenzeit­lich verlorene ‚Selbst-­ Bewusstsein‘ wieder herstellen. Von einem räum­lichen Identitätskonzept kann insofern die Rede sein, als die Räume des Museums zum Austragungsort des Spannungsverhältnisses zwischen erinnerndem und erinnertem Ich avancieren. Die im musealen Gedächtnisraum frequentierten Erinnerungsinstallationen versinnbild­lichen die Identitätsarbeit. Letzt­lich argumentiert Kaschnitz für einen Zusammenhang zwischen den Reflexionsfeldern ‚Erinnern‘, ‚Identität‘ und ‚Schreiben‘, indem sie ihre Ich-­ Erzählerin die im Museum gemachten Erfahrungen in einem Tagebuch rekonstruieren lässt. Das Schreiben über die Museumsaufenthalte verschafft die nötige Distanz für einen reflektierten Umgang mit dem dort Erlebten. Zudem ermög­licht der Akt der Verschrift­lichung die Strukturierung, assoziative Zusammensetzung sowie Zementierung der flüchtigen Erinnerungsfragmente und stabilisiert auf diese Weise das aus der Erinnerungsarbeit gewonnene Identitätsbild. Es ist in ­diesem Kontext sowie im Allgemeinen keineswegs abwegig, dem Schreiben eine Verräum­lichungstendenz zuzusprechen. Die Textproduktion erweist sich bisweilen als die Übertragung immateriell-inkonsistenter Phänomene in die Materialität des Textraums.

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Der Erinnerungsprozess in Friedrich Dürrenmatts Schreiblabyrinth Der Schreib- und Erinnerungsprozess wird in den Stoffen zum zentralen Ausgangspunkt von Friedrich Dürrenmatts schriftstellerischer Produktion, mit dem er sich ab 1970 während zwanzig Jahren bis zu seinem Tod 1990 in zunehmendem Maße beschäftigte. Im Nebeneinander von autobiographischer Rekonstruktion, philosophisch-essayistischer Reflexion und unterschied­lichen Formen von fiktiven literarischen Texten wird die Spannweite von schriftstellerischer Arbeit paradigmatisch ersicht­lich.1

Dürrenmatt verfolgt hier die Spuren seiner ungeschriebenen Schreibideen. Sein Schreibkonzept unterliegt der labyrinthischen Suche nach Worten und dadurch nach Fixierung, denn „sie sind entweder noch nicht geschrieben, noch nicht zur Sprache gebracht, noch nicht Sprache, oder sie sind noch Versuch, noch nicht Abschluß.“2 Die ‚vorliterarischen‘ beziehungsweise vorsprach­lichen Formen seiner ‚stoff­lichen Fragmente‘ liegen durch ihre Unabgeschlossenheit im Bereich der unvollendeten Mög­lichkeiten und können erst durch eine labyrinthische Rekonstruktion in die Abgeschlossenheit des Vergessens abgleiten. In ihrer Bruchstückhaftigkeit erhalten die unfertigen Texte ein erdrückendes Potenzial. Das Labyrinth wird in Dürrenmatts Großprojekt Stoffe I–III zum zentralen ‚Ur-Motiv‘ seiner literarischen Arbeit. Sein künstlerisches Selbstverständnis ist geprägt durch die Unabschließbarkeit der Stoffe sowie die ambivalenten Strukturen in seinem literarischen Schaffensprozess. Die hier aufgeworfenen Analogien zwischen der labyrinthischen Weltsicht Dürrenmatts und dem Erinnerungsprozess berühren immer wieder die Grenze des Vergessens. Der Autor wird zum Grenzgänger zwischen Fiktion und Autobiografie, wie auch zwischen Erinnerung und Vergessen. Das Labyrinth symbolisiert einen uralten Typus 1 Rusterholz, Peter: Exemplarische Untersuchung zur Genese von Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Lichte der Manuskriptentwicklung. 3. Teil: Die späten Stoffe II. Schlussbericht. Gemeinschaftsprojekt Universität Bern – Schweizerisches Literaturarchiv: 01. 04. 1999 – 31. 03. 2000, S.  3. 2 Dürrenmatt, Friedrich: Labyrinth. Stoffe I–III. Der Winterkrieg in Tibet. ­Mondfinsternis. Der Rebell. Zürich 1998, S. 15.

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und folgt gleichzeitig einer beständigen Neudeutung, vergleichbar damit kann die Erinnerung als ‚re-konstruierter‘ Prozess gefasst werden, der, ähn­lich wie der Mythos, etwas von seiner Ursprüng­lichkeit beinhaltet und zugleich eine gegenwärtige Modifizierung durchläuft. Die Suche nach dem Labyrinth, auf die sich Joseph Leo Koerner in seinem gleichnamigen Buch begibt, ist der Versuch, die Ursprünge und zeit­lichen Ausdehnungen des Mythos Labyrinth zu rekonstruieren. Das Labyrinthbild wird in seiner Untersuchung in unterschied­lichen Varianten dargestellt, dabei betont Koerner die spezifische Form der „Re-Präsentation“3 des Labyrinths. Ähn­lich begreift auch Dürrenmatt das Labyrinth als „eine Nachschöpfung, aber auch eine Neuschöpfung“4, somit vermengen sich Vergangenheit und aktuelle Ausdeutung miteinander. Der Labyrinthmythos wird bei Dürrenmatt zwar im Kontext der vergangenen Verwendung betrachtet, aber daraus resultiert kein epigonenhaftes Schreiben, sondern eine potentielle Modifikation des bereits Vorhandenen. Jeder Mythos impliziert Vergangenes und Gegenwärtiges, der Labyrinthmythos jedoch repräsentiert einen mytholo­gischen Sonderfall, denn die unüberschaubaren Strukturen des Irrgartens unterlaufen die nahtlose Verschränkung der Zeitmodi und verzerren die natür­liche Raumwahrnehmung. Indem Dürrenmatt in den Stoffen sein Schreiben als ein labyrinthisches begreift, wird seine spezifische Sichtweise auf den Schreibprozess deut­lich, die durch das Unvollendete und das Undurchschaubare geprägt ist. Die Stoffe können dahingehend auch im Kontext der „critique génétique“5 betrachtet werden; bei dieser Form der genetischen Editionsforschung wird der prozessuale Charakter der Schriftstücke betont, die Untersuchung der Handschriften unterliegt dem Versuch, den Schaffensprozess mit all seiner Unvollkommenheit und Bewegung wahrzunehmen. Von zentraler Bedeutung für die franzö­sische critique génétique sind die verschiedenen Entstehungsstadien der Texte sowie die Rekonstruktion des literarischen Schaffensprozesses. Der traditionelle Werkbegriff weicht hier einer dynamischen Handschriftenuntersuchung, die den Text in seinem Entstehungsvorgang begreift. Die handschrift­lichen Dokumente „liefern nur sprach­lich fixierte Indizien“6, 3 Koerner, Joseph Leo: Die Suche nach dem Labyrinth. Der Mythos von Dädalus und Ikarus. Frankfurt am Main 1983, S. 25. 4 Kreuzer, Franz: Die Welt als Labyrinth. Die Unsicherheit unserer Wirk­lichkeit. Franz Kreuzer im Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt und Paul Watzlawick. Wien 1982, S. 32. 5 Vgl. Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die critique ­génétique. Arbeiten zur Editionswissenschaft. Bern 1999, S. 11 f. 6 Grésillon, Almuth: Über die allmäh­liche Verfertigung von Texten beim Schreiben. In: Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse. Elf Aufsätze zum Thema

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keinesfalls können sie Aufschluss über die Schreibidee oder gar Denkprozesse geben, so folgert Almuth Grésillon. Die Rekonstruktion der ‚ungeschriebenen Werke‘ sowie die Offenlegung des damit einhergehenden Denkprozesses sind jedoch bei Dürrenmatt ein zentrales Anliegen. Wohingegen die franzö­sische Editionskritik in der Suche nach dem Ursprung der Schreibidee, im Sinne Paul Valérys, etwas vollkommen Unerreichbares sieht.7 Das Großprojekt Friedrich Dürrenmatts und die critique génétique heben zwar beide die ‚Unabschließbarkeit‘ und die ‚Unvollkommenheit‘ des ­Textes hervor, dennoch soll es in d ­ iesem Aufsatz nicht um eine Abbildung der Genese 8 der stoff­lichen Ideen gehen, sondern um eine textinhärente Untersuchung der Vergessens- und Erinnerungsprozesse sowie um die für den Text konstitutive Schreibreflexion. Die grundlegende Vergessens- und Erinnerungsstruktur in Dürrenmatts Stoffe-Sammlung soll hier anhand des Labyrinth-Bandes offengelegt werden. Die gezogene Analogie zwischen dem Mythos Labyrinth und dem Schreibprozess bei Dürrenmatt lässt sich anhand der autobiografischen R ­ eflexionen festmachen und soll hier zudem exemplarisch auch in Bezug auf die Binnen­ fiktionen Der Winterkrieg in Tibet und Der Rebell veranschau­licht werden. Die autobiografischen Passagen gehen sozusagen in die fantastischen Abschnitte der ‚unangefertigten‘ beziehungsweise ‚unvollendeten‘ ‚stoff­lichen Ideen‘ über. Die Reflexionen über das Schreiben und die Fiktion stehen sich dementsprechend nicht konträr gegenüber, sondern weisen vielmehr Interdependenzen auf, denn auch der Vergessens- und Erinnerungsprozess, das Labyrinth und die Schrift­lichkeit spielen in der Welt der fiktiven Figuren eine entscheidende Rolle. Zunächst soll das Verhältnis von Autobiografie und Fiktion im Werk ­Dürrenmatts näher betrachtet werden. Dadurch wird ein einführender Zugang zum Schaffensprozess gegeben und zudem die charakteristische Struktur des literarischen Großprojekts skizziert. Anschließend wird der Vergessens- und Erinnerungsprozess in seinem Werk nachgezeichnet. Dabei dient das Motiv des Labyrinths nicht nur als ein Beschreibungsmittel seiner literarischen Produktion, sondern wird zum zentralen Bezugspunkt seines gesamten Denkens.

Münd­lichkeit und Schrift­lichkeit. Hrsg. v. Wolfgang Raible. Tübingen 1995. S.1 – 36, hier S. 2. 7 Vgl. Grésillon: Literarische Handschriften, S. 37. 8 Das schweizerische Literaturarchiv, welches den Nachlass Dürrenmatts verwaltet, hat in Zusammenarbeit mit der Universität Bern die textgenetische Entwicklung der Stoffe Dürrenmatts in einem umfangreichen Projekt untersucht.

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I Das paradoxale Autobiografie-Konzept Dürrenmatts

Der franzö­sische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky hat den Begriff der Autofiktion geprägt und dadurch das traditionelle Verständnis der Autobiografie wesent­lich modifiziert.9 Was Lebenssinn ist, ist nicht mehr in der Selbsterzählung eingeschrieben und zu entdecken, sondern erst durch das Erzählen zu erfinden, zu konstruieren und im dreifachen Sinne des lateinischen Verbes ‚fingere‘ zu formen, sich vorzustellen und zu erdichten. Der Autofiktionär erfüllt sich den Traum der literarischen Selbst­ erschaffung, er schafft sich im Abstand von der Lebensrealität eine neue Existenz.10

Autofiktionale Texte untergraben die nach dem autobiografischen Pakt geforderte Gleichsetzung von Autor, Erzählinstanz und Protagonist. Inwieweit lassen sich Dürrenmatts Stoffe-Texte anhand des autofiktionalen Konzepts beschreiben? Im Kontext „der allgemeinen Autobiographie-Forschung“11 findet ­Dürrenmatts Stoffe-Sammlung kaum Erwähnung. „Um die Unmög­lichkeit einer authentischen Lebensbeschreibung wissend […], reiht sich D ­ ürrenmatt in die Diskussion der Abbildungs- und Konstruktionsproblematik und der Frage nach der Darstellbarkeit von Erlebtem ein.“12 Die autobiografischen Ausführungen im Band Stoffe I-III Labyrinth dienen somit keiner Lebens­beschreibung, sondern sind vielmehr Ausgangspunkt einer Rekonstruktion der ‚ungeschriebenen stoff­lichen Ideen‘. „Grundlegend ist dabei die Schnittstelle zwischen den literarischen Einfällen und dem Denken einerseits und dem Erleben andererseits.“13 Die autobiografischen Textstellen sind dahingehend nur im Kontext mit den ‚fragmentarischen Schreibideen‘ von Relevanz.

9 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? In: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hrsg. v. Martina Wagner-Egelhaaf. ­Bielefeld 2013. S. 7 – 21, hier S. 9 f. 10 Gasser, Peter: Autobiographie und Autofiktion. Einige begriffskritische Bemerkungen. „…all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs“. Autobiographie und Autofiktion. Hrsg. v. Elio Pellin, Ulrich Weber. Göttingen, Zürich 2012. S. 13 – 27, hier S. 25. 11 Famula, Marta: Erlebtes, Erkanntes und Fingiertes. Dürrenmatts ästhetisches Konzept einer Erkenntnistheorie in seinem autobiographischen Projekt Stoffe I–IX. In: Auto(r) fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hrsg. v. Martina Wagner-­Egelhaaf. Bielefeld 2013. S. 183 – 206, hier S. 183. 12 Ebd., S. 184. 13 Ebd., S. 189.

Friedrich Dürrenmatts Schreiblabyrinth

Wenn ich trotzdem über mich schreibe, so nicht über die Geschichte meines Lebens, sondern über die Geschichte meiner Stoffe; denn in meinen Stoffen drückt sich, da ich Schriftsteller bin, mein Denken aus. Doch gehören zu diesen Stoffen nicht nur die Stoffe, die ich geschrieben, sondern auch jene, die ich nicht vollendet oder nicht geschrieben habe. (13 f.)

Obwohl sich beide Konzepte zwischen Faktizität und Fiktionalität bewegen, lassen sich dennoch grundsätz­liche Unterschiede festmachen. „Das Prozesshafte und Unabgeschlossene“14 wird im Werk Dürrenmatts zum wesent­lichen Bestandteil des Textes und rückt dadurch die Reflexion des Schreib- und Denkprozesses in den Vordergrund, wohingegen das autofiktionale Modell ­Doubrovskys vornehm­lich das Verhältnis von Fiktionalität und Faktizität thema­tisiert und sich dadurch noch im Kontext einer autobiografischen Th ­ eorie verorten lässt. Die autobiografischen Reflexionen Dürrenmatts sind nicht Teil einer Selbstbeschreibung, deshalb greift das autofiktionale Konzept Serge ­Doubrovskys als Beschreibungsmodell für Dürrenmatts Stoffe zu kurz. Das Spannungsverhältnis von autobiografischen Reflexionen und fiktiven Elementen im Werk Friedrich Dürrenmatts stellt sich als eine komplexe Relation dar, die sich nicht in einer eindeutigen Zuordnung auflösen lässt. Peter Rüedi bezeichnet die Stoffe dahingehend als eine „Autobiographie im Z ­­ eichen des ‚Als-Ob‘“15. Er untersucht in seinem Aufsatz das Spannungsfeld von Autobiografie und Fiktion und konstatiert für Dürrenmatts Werk „die Eigenart eines autobiographischen Schreibens, das sich seines Prozeßcharakters und ­seiner immer selbstkritisch zu hinterfragenden Fiktionalität bewußt ist.“16 Auch Rudolf Probst thematisiert in seinem Buch (K)eine Autobiographie schreiben, Friedrich Dürrenmatts „Stoffe“ als Quadratur des Zirkels die paradoxale Struktur des Autobiografie-Konzepts der Stoffe. Probst geht der Frage nach dem „Ich“ im Werk nach und verzeichnet, vor dem Hintergrund einer ausführ­lichen Analyse der Manuskriptmaterialien, unterschied­liche „Dürrenmatt-­Figuren“17. Die Frage nach der Beziehung von Fiktion und Autobiografie kann hier nicht abschließend beantwortet werden und ist zudem auch nicht zentraler Gegenstand der Untersuchung, sie ist nur insofern von Relevanz, als dass sie die Komplexität 14 Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels. Paderborn 2008, S. 44. 15 Rusterholz, Peter und Wirtz, Irmgard: Vorwort. In: Die Verwandlung der „Stoffe“ als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Hrsg. v. Peter Rusterholz, Irmgard Wirtz. Berlin 2000. S. 7 – 12, hier S. 8. 16 Ebd., S. 8. 17 Probst: (K)eine Autobiographie schreiben, S. 15.

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der Stoffe-Sammlung verdeut­licht und auf die interpretative Textgenese als potenzielle Untersuchungsform verweist. Die Stoffe entziehen sich, so lässt sich an d ­ iesem Punkt rückblickend zusammenfassen, einer konkreten Genre-Zuordnung. Die Mischform von ständig problematisierter, teilweise auch fiktionalisierter Autobiographie, zeitgeschicht­lichem und philosophico-theolo­gischem Essay, verbunden mit Stoffreferaten und Binnenerzählungen, bildet eine versuchte Summe und Rekapitulation von Friedrich Dürrenmatts Werk, die sich zugleich gegen alles Abschließende und Formvollendete sträubt, vielmehr zementierte Sichtweisen aufbricht und sich in offenem Werkstattcharakter präsentiert.18 II Das Schreiblabyrinth Dürrenmatts

Nachfolgend soll die bis dahin in der Forschung kaum thematisierte Vergessens- und Erinnerungsstruktur der Stoffe offengelegt werden, die immer im Kontext einer Schreibreflexion beziehungsweise der Verwendung des labyrinthischen Mythos zu konstatieren ist. Als Gliederung dient hier die Einteilung in autobiografische Textsegmente und fiktionalisierte Stofffragmente. Obwohl, wie bereits erwähnt, sich die autobiografischen Textstellen und die Binnenfiktionen nicht diametral gegenüberstehen, werden sie hier aus systematischen Gründen zweigeteilt untersucht. Die ‚ungeschriebenen Stoffe‘ erhalten durch ihre unvollkommene Fragmentstruktur ein immenses literarisches Potenzial. „Das noch nicht Geschriebene und das Unvollendete […] gehören mir. Es ist bloß gedacht, nur Phantasie oder etwas Angefangenes, dann auf die Seite Geschobenes, immer noch Mög­liches, darum auch quälend“ (15). Anhand der Stoffe zeigt sich eine Struktur des verwahrenden Vergessens,19 denn „sie ruhen in meinem Gedächtnis, durch die Zeit mehr oder weniger undeut­lich geworden, wie versunkene Gegenstände“ (14). Das Einholen der Gegenwart stellt sich insbesondere für den Schreibprozess als ein besonderes Unterfangen dar. „Immer ein neues Sich-Hingeben an die Zeit, die jedes Geschriebene davonträgt. Was ich ändere, entspricht einer 18 Weber, Ulrich und Probst, Rudolf: ,Das ist natür­lich ein ziem­liches Abenteuer‘. Zur genetischen Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffen. In: Literatur und Literaturwissenschaft auf dem Weg zu den neuen Medien. Eine Standortbestimmung. Hrsg. v. Michael Stolz, Marco Lucas Gisi, Jan Loop. Zürich 2007. S. 164 – 178, hier S. 164 f. 19 Vgl. Blum, André; Karremann, Isabel; Sellier, Veronika: Kapitel 2. Vergessensformen und ihre Querbezüge. In: Potentiale des Vergessens. Hrsg. v. André Blum, Theresa Georgen, Wolfgang Knapp et. al. Würzburg 2012. S. 13 – 25, hier S. 15.

Friedrich Dürrenmatts Schreiblabyrinth

neuen Zeitwelle, lese ich das zur Schrift Erstarrte wieder, möchte ich es auch schon geändert haben, nichts Schwierigeres, als Geschriebenes zu akzeptieren“ (37). Der „Fluß der Zeit“ konstruiert vielfältige Vergangenheiten, „eine Welt von über- und durcheinandergewobenen ,Erinnerungsbildern‘“ (53). Die Vergangenheit „ist gestaffelt wie eine Landschaft“ (52) in der zunächst die persön­ liche Mikrostruktur der Erlebnisse vorherrscht, dann weitet sich der Hintergrund zum wirtschaft­lichen, gesellschaft­lichen, politischen, geistigen, end­lich zum geschicht­lichen Horizont, doch ist dieser nicht mehr unmittelbar zu deuten, […] aus zweiter, dritter, vierter Hand, aus Berichten, aus Berichten von Berichten, […] zurechtgestutzt, nur die großen Linien stimmen ungefähr. (52 f.)

Dürrenmatt verweist hier auf die interdependenten Strukturen der individuellen Wahrnehmung mit dem kollektiven Wissensbestand, jedoch zählt er im Gegensatz zu den vorherrschenden Gedächtnistheorien die persön­ liche Prägung zu den wirkungsmächtigsten Erfahrungen. „Den Einfluß der Litera­tur auf Literatur streite ich nicht ab. Doch noch entscheidender sind die Eindrücke, die durch die ‚vorliterarischen‘ Eindrücke zu Literatur werden“ (70). Subjektive Erfahrungen und Erinnerungen unterliegen, folgt man der Erinnerungs- und Gedächtnisliteratur, einer sozialen Einflussnahme. „Der subjektive Wissensvorrat ist also schon mehrfach intersubjektiv beeinflusst, weil der Wissenserwerb als solcher ebenso wie die Situationen, in denen er stattfindet, sozial bestimmt sind.“20 Trotz der ‚Ur-Motive‘ als eines geteilten Erbes unterliegt die literarische Ausdeutung bei Dürrenmatt primär den individuellen Lebenserfahrungen, und so findet sich das Labyrinthmotiv auch in den autobiografischen Reflexionen, sowohl als Darstellungsmuster der Wirk­lichkeit wie auch als Analogie zum Schreibprozess. Der Rückgriff auf das Labyrinth als welt­liches Beschreibungsmittel taucht schon früh bei Dürrenmatt auf, der Umzug aus dem begrenzten Dorf in die unüberschaubare Stadt wird anhand des Mythos veranschau­licht. Mit vierzehn mußte ich das Dorf verlassen, mein Vater nahm eine Stelle in der Stadt an. Aus dem Übersicht­lichen, aus den vertrauten Schleichwegen in den Kornfeldern, Tennen und Wäldern, verirrte ich mich ins Unübersicht­liche, aus dem es keinen Weg nach außen mehr gab. Das Labyrinth wurde Wirk­lichkeit. (45)

20 Berek, Mathias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaft­liche Konstruktion der Wirk­lichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden 2009, S. 67.

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Das Bild des Labyrinths dient hier als Darstellungsform der wahrgenommenen Lebenswelt. Die Kornfelder und die Gänge im Tenn der Bauernhäuser wurden mir durch die Sage vom Minotaurus, die mir mein Vater erzählte, zum Labyrinth, und so war mir das Bild des Labyrinths schon vertraut, als ich noch im Dorf lebte; ich rettete es in die Stadt hinüber, fand es durch sie nicht nur bestätigt, sie aktualisierte es noch, indem sie es durch die literarischen und philosophischen Einflüsse verstärkte, die unvermeid­lich waren, bis ich end­lich das Labyrinth zur Beschreibung jener Vorgänge anwandte, die sich zwar jenseits der Grenze des Landes abspielten, aber, von meiner Höhlensicht aus – […] auch meine eigene Lage und jene diesseits der Grenze widerspiegelten. (70 f.)

Der ausbrechende Krieg, die Abgeschlossenheit der Schweiz gegenüber den politischen Ereignissen sowie die Jugendzeit Dürrenmatts werden durch die „Vertrautheit mit den griechischen Sagen“ (71) anhand des Mythos Labyrinth beschrieben. Die Kenntnis des Labyrinths, so folgert Dürrenmatt, lässt sich hinsicht­lich der vorliterarischen sowie auch in Bezug auf die literarische P ­ rägung rekonstruieren, jedoch bleibt die Frage offen, warum gerade der ‚labyrin­ thische Stoff ‘ ihm als Gleichnis für die Welt dient. Eine Antwort könnte die von Dürrenmatt immer wieder betonte Mehrdeutigkeit und Komplexität des Labyrinthbildes geben. Die paradoxale Struktur des Labyrinths besteht aus seiner geformten Struktur, die durch den Erbauer gegeben ist, und seiner dazu konträren Funktion als unüberwindbarem Gefängnis für den Minotaurus. „Weil der Mensch in der Zeit lebt, ist seine Erfahrung des Labyrinths die des Verlorenseins, der Zusammenhanglosigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“21 Das Labyrinth symbolisiert die Orientierungslosigkeit des Menschen, „es ist eine Unbegreif­lichkeit“ (81) aus der eine Zeit- und Raumverzerrung resultiert. Das Phänomen der ‚Entzeit­lichung‘ und ‚Enträum­lichung‘ findet sich im Labyrinth wohl in seiner extremsten Form. Die Irrwege des Labyrinths schaffen eine künst­liche Raumstruktur, aus der zwar potenziell eine Flucht mög­lich ist, das Abschreiten wird jedoch zu einem wiederholten Kreislauf verformt, der die Umgebung zu einem undurchschaubaren Muster werden lässt. Ohne den Ariadnefaden, der kohärenzbildend ist, können Raum und Zeit im Labyrinth nicht strukturiert werden. Indem Dürrenmatt ein Gleichnis wie das des Labyrinths zur Beschreibung der Welt wählt, greift er die Vereinzelung des Menschen

21 Koerner: Die Suche nach dem Labyrinth, S. 38.

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auf. „Der Mensch ist von einer Kompliziertheit, die nur Individuali­täten zuläßt, Minotauren sozusagen“ (83). Die Identifikation Dürrenmatts verläuft aber nicht nur über den „Bewohner des Labyrinths“ (81), er identifiziert sich zudem auch mit den geopferten Gefangenen des Labyrinths sowie mit dem Erschaffer Dädalus. „Indem ich damals meine Welt in einem so mehrdeutigen Bild wie dem des Labyrinths zu bannen versuchte, gab ich auf meine Wirk­lichkeit eine mehrdeutige Antwort“ (82). Auch im Hinblick auf seine literarische Produktion wird die labyrinthische Weltsicht Friedrich Dürrenmatts deut­lich. Er beschreibt seine schriftstellerische Arbeit als eine Art Projektion seines persön­lichen Labyrinths in eine erdichtete Fiktion. Dabei ist die Verwendung der vergangenen, vorgeformten Symbole ein bewusster Rückgriff. Indem ich die Welt, in die ich mich ausgesetzt sehe, als Labyrinth darstelle, versuche ich, Distanz zu ihr zu gewinnen, von ihr zurückzutreten, sie ins Auge zu fassen. Die Welt, wie ich sie erlebe, konfrontiere ich mit einer Gegenwelt, die ich erdenke. Nun sind die Bilder, zu denen man greift, nicht zufällig, auch sie sind schon etwas Vorhandenes, jedes Gedachte ist schon einmal gedacht. In der Phantasie gibt es nichts Neues, alle Strukturen gehen auf Urstrukturen, alle Motive auf Urmotive, alle Bilder auf Urbilder zurück. (69)

Das Labyrinth ist im Denken Dürrenmatts allgegenwärtig und so wird aus seinem „privaten Labyrinth ein Weltlabyrinth“ (69) und schlussend­lich ein Schreiblabyrinth. So zielt meine Schriftstellerei von mir weg, wenn ich auch nichts geschrieben habe, das nicht in irgendeiner Beziehung zu etwas von mir Erlebtem steht, auch zu teils verdrängten, teils längst vergessenen Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken. Dabei verhalten sich die ungeschriebenen oder nicht vollendeten Stoffe unmittelbarer zu meiner Welt, zur Welt, wie ich sie erlebte und erlebe, als die geschriebenen Stoffe, die gefiltert, umgeformt, verformt, zwar immer wieder neugestaltet, aber doch schließ­ lich abgeschlossen, zur Sprache gebracht, damit der Sprache angepaßt, angenähert sind. Darum sind die ungeschriebenen und die unvollendeten Stoffe wichtig. (15)

Die ‚ungeformten Stoffe‘ liegen im Bereich des „Vorsprach­lichen, noch nicht genau Gedachten, im Bildhaften, Visionären“ (14) und befinden sich dadurch an der Grenze zum Vergessen. Im Hinblick auf die Bewahrung oder Zerstörung von Erinnerung bzw. auf deren mög­liche Latenz können zwei Ausformungen des Vergessens differenziert werden:

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ein Vergessen, das die Erinnerung aufhebt, zerstört oder auflöst, und ein bewahrendes Vergessen, das die Erinnerungsinhalte konserviert.22

Bei Dürrenmatt findet sich eine bewahrende, vorbewusste Form des Vergessens, dennoch sind die Stoffe nicht unmittelbar rekonstruierbar, sondern werden durch die suchende Erinnerungsarbeit nachträg­lich zurückverfolgt. „Hinter den Auslassungen des Gedächtnisses verbergen sich nicht irrelevante Aspekte der Vergangenheit, sondern gerade bedeutsame Erfahrungen.“23 Die ungeschriebenen Werke 24 erhalten durch ihre Fragmentstruktur ein quälendes Potenzial. In der teilweise bestehenden Unzuläng­lichkeit der stoff­lichen Ideen liegt die enorme Nachhaltigkeit begründet. Indem ich diese ungeschriebenen oder unfertigen Stoffe, diese Phantasiefetzen und die Erlebnisse, ja die Zeit, durch die sie herbeigeführt wurden, zu rekonstruieren oder doch wenigstens zu skizzieren unternehme, versuche ich, sie zu vergessen, mich zu befreien, einen Ballast abzuwerfen, der mit den Jahren immer größer wird. (15) III Der Winterkrieg in Tibet

In Der Winterkrieg in Tibet erzählt Dürrenmatt die Geschichte eines Söldners, die in der Zeit nach dem Dritten Weltkrieg spielt. Die Welt, die ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erdenken, […] die Stoffe, die mich nicht fanden, zu erfinden. Und so erfand ich denn zwischen den Schreibereien auf den langen Streifzügen der Grenze entlang meinen ersten Stoff, der nicht mich, sondern die ‚Welt‘ zum Inhalt hatte. (67)

Der Ich-Erzähler, ein ehemaliger Philosophiestudent und Soldat während des Dritten Weltkrieges, beschreibt seine zweijährige Wanderung durch die atomar zerstörte Schweiz; schlussend­lich führt ihn seine Reise als Söldner der Weltverwaltung nach Tibet. In dem verschlungenen Stollensystem hält das 22 Straub, Jürgen: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psycholo­gische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität I. Vorwort. Frankfurt am Main 1998, S. 33. 23 Patzel-Mattern, Katja: Jenseits des Wissens – Geschichtswissenschaft zwischen Erinne­ rung und Erleben. In: Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung. Hrsg. v. Clemens Wischermann. Stuttgart: 2002. S. 119 – 157, hier S. 129. 24 Der Labyrinth-Band sollte ursprüng­lich den Titel Die Geschichte der ungeschriebenen Werke tragen. Vgl. hierzu Kreuzer: Die Welt als Labyrinth, S. 17.

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Erzähler-Ich die Ereignisse des vergangenen Krieges durch Einritzungen in die Wände des Höhlensystems fest. Dürrenmatt dient die Erzählung als Gleichnis für die „Groteske des Verschontseins“ (67). Die ‚erschriebene‘ Fiktion hat eine Integrationsfunktion. Indem sie die reale Abgeschlossenheit der Schweiz von den kriegerischen Auseinandersetzungen in eine fiktive Welt überführt, schafft die Fiktion eine erdachte Parallelwelt zu den realen Begebenheiten, die wiederum eine erweiternde Darstellung ermög­licht. Der Winterkrieg in Tibet ist nicht mein erster Stoff, er setzt sich vielmehr aus verschiedenen Stoffen zusammen, deren Extrakt er ist, gleichsam mein erstes Grundmotiv. Ein erster Versuch, mich in die Wirk­lichkeit, von der ich und mein Land ausgeschlossen waren, durch eine erfundene Unwirk­lichkeit zu integrieren, eine Gesamtdarstellung zu wagen, indem ich nach einem Weltgleichnis suchte. (65)

Der Stoff Der Winterkrieg in Tibet reiht sich in die „Dramaturgie des Labyrinths“ (69) bei Dürrenmatt ein. Das Labyrinthbild ist zentrales Motiv dieser Binnen­ erzählung, es repräsentiert die undurchschaubaren Strukturen des staat­lichen Verwaltungssystems und symbolisiert die Irrwege des Erzähler-Ich auf seiner Suche nach einem zu bekämpfenden Feind (149). Dürrenmatt entwickelt ­dieses Stoffe-Fragment, „eine Geschichte, deren verschlungene Details ich nach so vielen Jahren frei­lich vergessen habe, um so mehr, als ich noch unfähig war, sie niederzuschreiben, meine Versuche mißlangen immer wieder und wurden abgebrochen“ (67), weiter und verwendet die stoff­liche Idee in unterschied­lichen Texten. Der Winterkrieg in Tibet ist ein Stoff ohne Handlung, eigent­lich ein endloser Alptraum, den ich zwei Jahre später in den Erzählungen Die Stadt und Die Falle weiterträumte, ohne mich von ihm befreien zu können. 1951 versuchte ich den Winterkrieg doch noch zu schreiben, das Unternehmen blieb ein Fragment; es fehlte mir, eingeklammert zwischen immer wieder neuen Fassungen der Ehe des Herrn Mississippi, die Einsicht, daß ich all das Fragmentarische nicht fortsetzen konnte, sondern fallenlassen mußte, wollte ich es bewältigen. (68)

Die Untergangsfantasie des tibetischen Krieges wird vielfältig als stoff­licher Entwurf in andere Texte ‚re-integriert‘. Das unvollendete Textfragment bleibt durch seine Reintegration und stetige Modifikation in der Schwebe und erhält dadurch ein erdrückendes Wirkungspotenzial. Ebenso verweist ­dieses Aufgreifen der ‚Stoffidee‘ auf die prozessuale Struktur des Schreibens bei Dürrenmatt.

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Im ‚Textlabyrinth‘ Der Winterkrieg in Tibet entwirft Dürrenmatt eine komplexe, groteske Weltstruktur nach dem Atomkrieg, die nachfolgend kurz skizziert werden soll. Dabei sollen vordergründig die labyrinthische Struktur des Gleichnisses, die erinnernden Reflexionen sowie deren Verschrift­lichung durch den Ich-Erzähler untersucht werden. Nach dem Ende des Dritten Weltkrieges begibt sich der namenlose Erzähler durch das vollkommen zerstörte Land auf die Suche nach der Soldatenfürsorge. Nach der Kapitulation der Armee hat die Verwaltung die staat­liche Macht übernommen; diese Weltverwaltung führt den Krieg in Tibet weiter (vgl. 144). Der Erzähler zieht in den Winterkrieg, weil ihm der „Feind“ (149) fehlt, und wird dort zum „Verteidiger der Verwaltung“ (150). „Sich vom Labyrinth, in dem wir Söldner leben, ein ‚geographisches Bild‘ zu machen – und wenn es auch nur ein roher, ungefährer Plan wäre – ist wohl nicht mög­lich“ (89 f.). Der grausame Kampf gegen den unbekannten Feind im unübersicht­lichen Bergmassiv wird für den Söldner zunehmend unbegreif­licher. Der Sinnlosigkeit des Krieges wird ein zu bekämpfendes Feindbild gegenübergestellt, das eine vermeint­liche Antwort auf die Sinnfrage des Kampfes zu geben versucht. Die Söldner wissen nicht, wofür sie kämpfen, wofür sie sterben, in primitiven Lazaretten amputiert, mit rohen Prothesen wieder an die höl­lische Front geschickt w ­ erden, manche mit Haken und Schrauben in den Händen, manche blind, das Gesicht nur noch eine rohe Fleischmasse, an eine Front, die überall ist. Sie wissen nur, daß sie gegen den Feind kämpfen. Sie begehen unmensch­liche und unsinnige Heldentaten, ohne zu wissen warum; sie haben schon längst vergessen, daß sie sich freiwillig gemeldet hatten; sie beginnen, nach einem Sinn des Winterkriegs zu suchen, entwickeln phantastische Gedankensysteme – warum vielleicht das Schicksal der Menschheit von ihnen abhänge –, weil allein diese Fragen noch einen Sinn für sie haben. Die Hoffnung auf einen Sinn gibt ihnen die Kraft, die sie benötigen, sie ist der Prozeß, durch den das Gemetzel mög­lich und erträg­lich wird. (96)

Durch die Abgeschiedenheit im labyrinthischen Höhlensystem verliert das Erzähler-Ich zunehmend an räum­licher und zeit­licher Orientierung. „Ich fand nicht mehr in die Haupthöhle zurück. Ich wußte nicht, durch ­welche Stollen ich rollte, in ­welche Wand ich meine Inschrift ritzte“ (107). Obwohl das Stollen­ system mittlerweile zum Museum geworden ist, bleibt das Erzähler-Ich in der Kriegszeit gefangen. Aus einer Gletscherhöhle starrten mir Söldner mit Sauerstoffmasken und Maschinenpistolen entgegen. Ich schoß. Glas splitterte: die Söldner waren Wachsfiguren, ausgestellt hinter einer Glasscheibe und kunstvoll beleuchtet. Ich befand mich in

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einer großen Ausstellungshalle, hinter weiteren Glasscheiben waren mit Wachs­ figuren immer neue Szenen aus dem Winterkrieg dargestellt. Ich erschrak, als ich hinter einer Glasscheibe den Kommandanten und mich erkannte. Wütend schoß ich in die Schaufenster hinein. Schattenhaft sah ich Menschen in Uniform flüchten, es waren Museumsdiener. (152)

Aus dem „Vordringen des Feindes“ (153) in die zentralen Bereiche des Höhlensystems resultiert ein Rückzug des Söldners in entferntere Teile des Stollensystems. Jetzt nur noch auf mich angewiesen, der Wand der ungeheuren Höhle nachkriechend, die oft die seltsamsten Windungen macht, darf ich mir die Frage stellen, die ich mir während des Kämpfens nie gestattet habe: Wer ist der Feind? (155)

Die Frage beantwortet er mit dem Konzept des Schattenmenschen, „das Ziel des Menschen ist, sich Feind zu sein – der Mensch und sein Schatten sind eins“ (158). Indem die Verwaltung einen Feind entwirft, konzipiert sie „einen Sinn des Leidens“ (157); darin liegt auch die Macht des Verwaltungssystems begründet. „Darum habe ich Edinger und den in der Höhle hängenden Mann erschossen, den Kommandanten getötet: sie glaubten nicht mehr, daß die Schatten Feinde sind; sie glaubten, sie seien Gefesselte wie ich einer bin“ (157). Die vollkommene Isolation des Erzähler-Ich in der labyrinthischen Höhlen­ formation ermög­licht umfangreiche Reflexionen und Beschreibungen über den Winterkrieg. Gewiß, es ist still geworden, meinen linken Maschinenpistolenarm benötige ich nicht mehr; vor Jahren bebte alles, vielleicht hatte die Verwaltung eine Bombe abgeworfen. Gleichgültig. Ich habe Zeit nachzudenken und Zeit, meine Gedanken in die Felswände zu ritzen mit dem Stahlgriffel an meiner rechten Prothese. (99)

Die Einritzungen in die Höhlenwände sollen der Nachwelt als Vermächtnis dienen. Die Inhalte der Inschriften oszillieren zwischen der individuellen Determiniertheit und dem Versuch, eine übergeordnete Distanziertheit über die Kriegserfahrungen zu erlangen, um der kollektiven Dimension der Menschheit gerecht zu werden. Meine Inschrift wird das einzige sein, was sie von der Menschheit wissen werden. Auf diesen unwahrschein­lichen Fall hin habe ich geschrieben. In meiner Lage gibt es keine andere Aufgabe. Ich hatte eine Inschrift zu finden, aus der heraus das Schicksal der Menschheit zu lesen ist: Diese Inschrift kann nicht etwa Privates sein, etwas, was nur mich angeht, auch wenn ich zur Menschheit gehöre; ja, es darf nichts sein,

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was mit der Menschheit zu tun hat. Die fremden Wesen, ­welche die Inschrift einmal lesen, […] würden nichts begreifen, denn sicher sind […] diejenigen, die sie lesen, keine Menschen. (109)

Die Sterne werden zum zentralen Thema seiner verschrift­lichten Reflexionen; sie sind Bestandteil eines mit der potentiellen Nachwelt geteilten, überzeit­ lichen Kollektivgedächtnisses.25 „Mit diesen Wesen läßt sich nicht über uns, sondern nur über etwas reden, das sie und uns gemeinsam angeht: über die Sterne“ (109). Die Inschrift schafft eine über die gegenwärtige Zeit bestehende, kommunikative Verbindungslinie mit der Zukunft. Mein Wissen über die Sterne ist nur ein ungefähres. Ich las vor dem Dritten Weltkrieg einige Bücher darüber, die heute sicher veraltet sind. Ich versuchte, mich an sie zu erinnern und aus meiner Erinnerung die Entwicklung der Sterne zu rekonstruieren. (107 f.)

Zentraler Bezugspunkt seiner Gedankengänge ist die gezogene Analogie zwischen den Naturgesetzen des Universums und der Entstehung des Verwaltungssystems. Wenn ich daher im Innern des Himalaja über die Sterne nachdenke, denke ich über die Staaten nach. Nur so ist ein Nachdenken über den Menschen in meiner Lage noch mög­lich. Es gibt für mich keinen anderen Ansatz des Denkens mehr als jenen, den ich aus der Zeit vor dem Dritten Weltkrieg in meine Höhle herübergerettet habe, auch wenn mein Wissen nur noch eine ungefähre Erinnerung an einige ungefähre Hypothesen ist. (102 f.)

Auch wenn die Richtigkeit der rekonstruierten, vergangenen Wissensbestände zweifelhaft bleibt, „ritze ich diese Erinnerungen nur zögernd in die Stollenwände: sie sind mir in vielem unglaubhaft geworden“ (125), so bildet doch diese erinnerte, verschwommene Vergangenheit das wesent­liche Fundament jeg­licher Reflexionen und Weltbeschreibungen durch das Erzähler-Ich. Die Vergangenheit des erzählenden Ich, seine konkrete gegenwärtige Situation im Winterkrieg und die Verschrift­lichung für die zukünftige Nachwelt in kodierter Form veranschau­lichen das Ineinandergreifen der drei Zeitmodi.

25 Der Begriff kollektives Gedächtnis geht auf den Philosophen/Soziologen Maurice Halbwachs zurück, vgl. hierzu Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin, Neuwied 1966.

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Der zu entschlüsselnde Code wird dann tatsäch­lich, mit Hinweis auf den in eckigen Klammern stehenden, eingeschobenen Text, entdeckt. Der kommentierende Text verweist auf den Fundort und Zustand des Söldner-Leichnams sowie auf dessen Höhlentext mit den „oft fast nicht entzifferbaren Buchstaben, ohne Lücke zwischen Wörtern und ohne Interpunktion“ (159). Auch auf inhalt­ licher Ebene werden die Reflexionen des Schreibers wissenschaft­lich gedeutet. Der Schlußtext bestätigt seine früheren Philosophiestudien, sie sind offenbar Reminiszenzen, eine Collage von Platon (Staat, Höhlengleichnis) und Nietzsche (Genealogie der Moral, Schopenhauer als Erzieher). Kaum noch fähig, selbst zu denken, sind ihm Zitate geblieben. Er baute, ohne zu wollen, zwar nicht die Philo­ sophie, sondern seine Philosophie auf. (159 f.)

Die Forschung nach dem Dritten Weltkrieg reflektiert das komplexe und widersprüch­liche schrift­liche Vermächtnis des Söldners und verweist auf zwei potenzielle „Ichs“ (160) als Schreiber. In Der Winterkrieg in Tibet entwirft Dürrenmatt eine groteske Labyrinthwelt. „Auf den Winterkrieg bezogen: wir können dem Labyrinth nicht entgehen. Ein Stoff, auf den wir einmal stießen, entläßt uns nie mehr. Wir bleiben in seiner Schwerkraft gefangen“ (170). Darum auch das Erinnern-Erschreiben-Vergessen 26 der ‚stoff­lichen Fragmentideen‘, das schlussend­lich seine Konzeption vom Minotaurus zu Theseus verschiebt. Realisieren ist etwas anderes als Konzipieren. Am Ufer der eisigen Rhone, über die Grenze ins Niemandsland starrend, konzipierte ich mein Weltlabyrinth. Später versuchte ich immer wieder, das Labyrinth zu gestalten, indem ich einen Erzähler fingierte, ein Ich. Alle diese Versuche scheiterten. 1972 schrieb ich meine erste Konzeption nieder, drei Seiten, dann schrieb ich die Dramaturgie des Labyrinths. Jetzt, 1978, seit Wochen wieder mit dem Winterkrieg beschäftigt, vom plötz­lichen Ehrgeiz befallen, ihn doch noch zu gestalten, wird mir auf einmal klar, wer ­dieses Ich ist, das ich da fingiert habe. Dieses fingierte Ich, von dem ich, verführt durch meine Dramaturgie, so lange glaubte, es sei der Minotaurus, ist Theseus. Nur dieser geht, wie mein Söldner, freiwillig ins Labyrinth, um den Minotaurus zu töten. Mehr noch, auch der, welcher es unternimmt, das Labyrinth darzustellen, muß es freiwillig betreten, er

26 Hier in Anlehnung an das Konzept Freuds: Freud, Sigmund: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. [1914] In: Gesammelte Werke. Band X. Gesammelte Werke aus den Jahren 1913 – 1917. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte. Hrsg. v. Anna Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer. Frankfurt am Main 1991. S. 125 – 136.

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muß Theseus werden. Wer den Plan des Labyrinths entwirft, weiß alles –, doch wer sich hineinbegibt wie ich jetzt, so viele Jahre nach meinen ersten zaghaften Versuchen, mich dem Eingang zu nähern, weiß nichts. (84 f.) IV Der Rebell

„Was jedoch meinen alten Plan betrifft, jenen, einen längeren Roman zu schreiben, Der Rebell, so hatte ich ihn wie meine Komödie aus dem Bergdorf in die Städte hinübergerettet“ (281). Der Stoff Der Rebell bleibt ein Romanfragment, weil Dürrenmatt keinen sprach­lichen Ansatzpunkt findet, um die Idee der Rebellion angemessen beschreiben zu können. Die suchende Auseinandersetzung mit klas­sischen Literaten seiner Zeit, wie zum Beispiel Thomas Mann und Hermann Hesse, kann die Sprachnot nicht auflösen. Meine Phantasie war zu radikal, ich fand in der Sprache nichts, das ihr entsprochen hätte, um eine längere Erzählung zu formen. Ich stand im Leeren, ein Schriftsteller ohne Fähigkeit zu schreiben […]. Vom Rebell ist mir deshalb nichts als die Erinnerung geblieben, die frei­lich oft so intensiv ist, als hätte ich diese Erzählung wirk­lich geschrieben, vielleicht deshalb, weil sie persön­licher ist als der Winterkrieg. Versuchte ich in ­diesem ein Weltgleichnis, ging es mir in jenem darum, ohne daß ich es ahnte, meine eigene konfuse Lage darzustellen. (181 f.)

Die ‚stoff­liche Idee‘ Der Rebell ist Dürrenmatt „noch besonders im Gedächtnis geblieben,“ (282) weil sie ihn während einer schweren Erkrankung im Jahre 1943 in seinen Fieberphantasien begleitete. Das gelesene Werk, Rudolf Kassners Zahl und Gesicht, und die komplexe Beziehungsstruktur im Rebell verschmelzen „zu einer sonderbaren Einheit“ (284). Der Zusammenhang zwischen der ungeschriebenen Erzählung Der Rebell und die Auseinandersetzung mit Zahl und Gesicht kann, so folgert Dürrenmatt, dennoch nicht eindeutig gezogen werden. „Auch kann ich nicht beschwören, daß ich während meiner Krankheit K ­ assners Zahl und Gesicht wirk­lich gelesen habe. Zwar kommt es mir so vor – es kann jedoch auch später gewesen sein“ (285). Durch die Krankheit ergibt sich „eine Verschmelzung verschiedener Zufälle“ (286), die nachträg­lich nicht mehr vollständig rekonstruierbar sind und darum auch nicht retrospektiv in einen kohärenten Sinnzusammenhang gebündelt werden können. Alles bleibt unbestimmt. Gedächtnislücken. Indizien dafür, daß wir unsere Erlebnisse aus der Wirk­lichkeit herausbrechen wie Blöcke aus einem Steinbruch, um das herausgehobene Material nachträg­lich wieder zusammenzusetzen. Willkür­licher, als wir glauben. Diese Tatsache vermag nicht einmal ein Tagebuch wesent­lich zu ändern.

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Was mein Gedächtnis betrifft, so fehlt ihm offenbar der Sinn für die Kontinuität des wirk­lichen Ablaufs der Fakten, Momente herrschen vor, Blitz­lichtaufnahmen, die ich zeit­lich allzuleicht vertausche, während meine Gedankenwelt mir durchaus kontinuier­lich erscheint. Erscheint. Denn auch diese Kontinuität ist eine nachträg­ liche Täuschung, weil sie die unberechenbaren Zufälle unterdrückt, die die Kontinuität erst mög­lich machten. (286)

Der Rebell, ein unbewältigter Stoff, soll nachfolgend skizziert werden; dabei spielen vor allem die Sprache und die unbekannte, fast vergessene Vaterfigur eine entscheidende Rolle in Dürrenmatts Konzeption. Inwieweit Dürrenmatt in dieser Binnenfiktion sein Verhältnis zum eigenen Vater reflektiert, ist für unsere Betrachtungsweise nicht von Relevanz. Der Protagonist der Erzählung wächst in einem Umfeld der Sprachlosigkeit auf. „Die Magd ist taubstumm“ (305) und die Mutter „ist gleichgültig gegen ihren Sohn“ (305). A, die Hauptfigur der Binnenfiktion, lebt in einer Atmos­ phäre des Schweigens. „Von ihrem verschollenen Mann spricht die Mutter nie. Wenn A nach seinem Vater fragt, bekommt er keine Antwort“ (305). Der Vater, ein reicher Kaufmann, kehrt von seiner Reise in fremde, entlegene Länder nicht mehr zurück. Für seinen Sohn bleibt er eine unbekannte Figur, der er durch die Reiseandenken, und „später, älter geworden“ (306), durch die Besuche in dessen Bibliothek näher zu kommen versucht. Während seiner zahlreichen Bibliotheksbesuche findet A „die Grammatik einer seltsamen Sprache“ (306). Die Sprache bleibt trotz ausgiebiger Nachforschungen ein ungelöstes Rätsel. „An wen er sich auch wendet, an den buckligen Hauslehrer, an den Pfarrer, […] später an Spezialisten, vergleichende Sprachforscher – die Sprache bleibt unbekannt und ist keiner anderen bekannten Sprache zuzuordnen“ (306). Die sonderbare Sprache und der verschollene Vater werden in der Vorstellung des Sohnes zur Einheit. A lernt die überaus komplizierte Sprache mühsam, da ihm niemand zu helfen vermag, beginnt mit seinem Studium immer wieder von vorn, radebrecht, spricht sie flüssiger, end­lich fließend, ohne zu wissen, ob er sie auch richtig spreche, sie ist für ihn die Sprache seines unbekannten verschollenen Vaters, obgleich er weiß, daß dieser Gedanke absurd ist, eine fixe Idee. (307)

Die Beschäftigung mit der Sprache seines Vaters wird dann auch zum Antrieb für weitere Nachforschungen über seinen Erzeuger. „A vernimmt über seinen Vater nur Widersprüch­liches, überdies sind die weiteren Zeugen, die er noch in einigen Altersheimen auffindet, so alt, daß sie seinen Vater mög­licherweise mit einem anderen verwechseln, er gibt die Nachforschungen auf “ (307 f.). Nachdem die

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Mutter nach einem ihrer Gewohnheit entsprechenden, nächt­lichen Besuch des Palais nicht zurückkehrt und „auch die alte Magd […] verschwunden“ (308) ist, verkauft A seinen gesamten Besitz „und verläßt die Heimat, ohne ein bestimmtes Ziel, aber aus dem dumpfen Gefühl heraus, die Reise antreten zu müssen, von der sein Vater vor mehr als zwanzig Jahren nicht zurückgekehrt ist“ (308). Auf seiner Reise durch „den Balkan, Kleinasien, Persien“ (308) glaubt A, immer wieder Landschaften zu sehen, die er bereits aus den Stichen vom Dachboden kennt, und gefundene Skulpturen vergleicht er ebenfalls mit den Fundstücken seines Vaters. „Er ist nun sicher, auf der richtigen Spur zu sein, doch brechen von da an alle weiteren Hinweise und Zeichen ­­ ab. Er irrt umher“ (308). A verliert zunehmend die Orientierung, „er bewegt sich im Kreis“ (309) und erkennt seine aussichtslose Lage. „Räuber überfallen ihn, seine Diener werden erschlagen, seine Pferde, sein Gepäck, seine Waffen, seine Karten und sein Kompaß gestohlen“ (309). Seine ausweglose Situation ist nun vom Zufall bestimmt, der ihn zu einem Zöllner an einer Grenzstation bringt. Ein Zollhaus, schäbig, windschief, ein Zöllner, klein, schlitzäugig, […] der ihn anhält und ihn in der seltsamen Sprache anredet, die er in der Jugend gelernt hat: Die ,Sprache seines Vaters‘ ist Wirk­lichkeit geworden, wenn sie auch rauher, zischender tönt, als er sie sich vorgestellt hat. A stutzt, antwortet in derselben Sprache, der Zöllner ist verwirrt, verneigt sich immer wieder, behandelt A mit Respekt, […] wie ihm vorkommt, mit geheimer Furcht […]. A beschließt, das unbekannte Land zu erforschen. (309)

Das fremde Land leidet unter der Herrschaft eines Unterdrückers, dessen Willkür auch dem Neuankömmling A nicht entgeht. Die ganze Hoffnung des unterdrückten Volkes liegt in der Ankunft eines Rebellen, der das Volk von der Tyrannei befreien soll. A verfolgt die Spuren der aufkommenden Revolution und erhält dabei unfreiwillig eine sch­lichtende Funktion hinsicht­lich der vorherrschenden politischen Unstimmigkeiten in den unterschied­lichen Parteien. „Ohne Absicht, bloß durch seine Gegenwart, versöhnt A die verschiedenen Revolutionäre, gleicht die Gegensätze aus. Seine Unbeteiligtheit, seine Ruhe, ja sein Humor, da ihn viele allzu radikale Ansichten belustigen, wirken versöhn­lich, schaffen Einigkeit“ (314). Der Herrscher des Volkes, so erfährt A, lebt „in völliger Abgeschlossenheit, […] er sei eine reine Fiktion entweder des Hauptmanns der Palastwache oder gar des ganzen Volkes“ (314). Die unübersicht­lichen Strukturen des Herrschaftssystems und der stetige Zweifel an der Existenz der Herrschaftsfigur begründen gerade die außerordent­liche Macht der unsichtbaren Regierung. „Gerade das sei das Bedrückende, der Herrscher übe seine Tyrannei durch die bloße Ungewißheit, ob es ihn gäbe oder nicht, aus“ (315).

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A folgt nach den Gesprächen mit den Vertretern der Revolution und dem religiösen Oberhaupt einer alten Frau in den Palast, weil er in ihr „die taubstumme Magd“ (315) aus seiner Kindheit wiederzuerkennen glaubt. Im Palast erfährt A weitere Details über die Herkunft des unbekannten Tyrannen, der als Fremder ins Land kam und nun als gespaltene Persön­lichkeit das Oberhaupt der ­Kirche repräsentiert und auch die Funktion des erbarmungslosen Machthabers übernimmt (vgl. 318). Der Unfug habe vor etwas mehr als zwanzig Jahren begonnen, leider sei er damals noch zu jung gewesen, so daß er nichts Sicheres wisse. Aber soviel sei ihm bekannt, daß einmal ein Fremder von irgendwoher gekommen sei, […] der durch ­irgendeinen Zufall der Landessprache mächtig gewesen und aus ­diesem Grunde vom Volk als der prophezeite Herrscher betrachtet worden sei, worauf sich der Fremde der Hauptstadt bemächtigt habe. (316)

Als A die Parallele zu seiner Geschichte erkennt, realisiert er, „daß er von allen als der Rebell betrachtet wird“ (317). Trotz aller Versuche, die Rebellenrolle von sich zu weisen, wird A vom Herrscher verhaftet. A glaubt weiterhin, gefangen in seinem Spiegelgefängnis 27, an seine Befreiung und die kurz bevorstehende Revolution. „Die Rebellion unterbleibt“ (320). Die Hoffnung im Volk er­lischt, und es fügt sich der bestehenden ‚Ordnung‘, in der Verhaftungen und Hinrichtungen ihren Lebensalltag bestimmen. Der einstige Hoffnungsträger A gerät in Vergessenheit und „verliert nach und nach den Verstand“ (320). „Sein tausendfach widergespiegeltes Spiegelbild“ (321) zermürbt zunehmend den Glauben an eine Befreiung, bis schlussend­lich die Gleichgültigkeit gegenüber seiner Situation vorherrscht. krepiert er wie ein Tier, seine Leiche vertrocknet, wird zur Mumie, wird vergessen, auch von den Politikern, auch vom Volk, das einen Rebellen erwartet oder einen Herrscher, in immer gleichbleibender frommer Hoffnung, daß sie sich irgendeinmal erfülle, vielleicht bald, vielleicht in einem Jahr, vielleicht in zehn, vielleicht in irgendeiner der kommenden Generationen. (321 f.)

27 Das Spiegelgefängnis findet sich schon an anderer Stelle bei Dürrenmatt, vgl. hierzu Dürrenmatt, Friedrich: Minotaurus. Eine Ballade. In: Minotaurus. Eine Ballade. Der Auftrag. Novelle. Midas oder die schwarze Leinwand. Hrsg. v. Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1998. S. 11 – 32.

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Dürrenmatt beschreibt in Der Rebell eine komplexe Welt, in der am Ende das Vergessen steht. Der unbekannte, verschollene Vater, die erhoffte Rebellion des Volkes und der potenzielle Befreier verweisen auf eine ‚Vergessensspur‘ im Romanfragment. Die Hauptfigur begibt sich auf die Suche nach ihrem verschollenen Vater, es ist aber auch eine Suche nach der eigenen Identität, die ohne erinnerbare Inhalte notwendigerweise scheitern muss. Dabei spielt das schweigsame ­familiäre Umfeld eine entscheidende Rolle. Auch eine nachfolgende Rekonstruktion der Vaterfigur durch Befragungen und die anschließende Reise ins unbekannte Land führen nicht zum Ziel. A bleibt so identitätslos wie der Tyrann, der „vielleicht sein Vater“ (321) ist. Die persön­liche Erinnerung als zentraler Generator der Identität wird im Kontext der Erinnerungs- und Gedächtnisliteratur immer wieder betont, aber „der Prozeß der Identitätsentwicklung erfolgt keineswegs rein introspektiv; er beinhaltet vielmehr stets auch die Auseinandersetzung mit der s­ ozialen Umwelt.“28 Die ­soziale Interaktionskomponente bleibt der Hauptfigur A unweiger­lich verwehrt und kann auch nachträg­lich nicht durch die Hinterlassenschaften des Vaters oder die Rekonstruktion seiner Reise erfolgen. Bezogen auf den nachträg­lichen Schreibprozess des Rebellen hält ­Dürrenmatt an einer Struktur der Unbestimmtheit in seinem Schreibkonzept fest. Denn in Wirk­lichkeit erfand ich ebensoviel als ich wiederfand, ohne unterscheiden zu können, was ich erfunden und was ich wiedergefunden habe. So weiß ich zum Beispiel nicht, ob mir die Vermutung, der geheimnisvolle Herrscher, der uralte Theologe und der Vater A’s könnten identisch sein, schon damals in meinen Fieber­ phantasien aufgegangen war oder erst jetzt, während der Niederschrift. (285) V Das Labyrinth der vergessenen Stoffe

Die Stoffe entziehen sich einer kategorisierenden Einteilung in eine spezifische Textsorte. Die charakteristische Struktur der Stoffe, gegeben durch die genreübergreifenden Merkmale, macht Dürrenmatts Werk besonders interessant für eine literaturwissenschaft­liche Analyse. „Die Auseinandersetzung mit gelungenen, misslungenen, vergessenen und erinnerten und schließ­lich neugestalteten

28 Gymnich, Marion: Individuelle Identität und Erinnerung aus Sicht von ­Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. In: L ­ iteratur Erinnerung Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Hrsg. v. Astrid Erll, Marion Gymnich, Ansgar Nünning. Trier 2003. S. 29 – 48, hier S. 30.

Friedrich Dürrenmatts Schreiblabyrinth

Projekten“29 bildet den literarischen Reflexionspunkt der Stoffe-Sammlung. Die literarische Form der Autobiografie ist als einziges Analysemodell für die Stoffe nicht ausreichend. Zwar finden sich in Dürrenmatts Texten zahlreiche autobiografische Bezüge, jedoch sind diese nur im Hinblick auf seine schriftstellerische Produktion von Bedeutung. Der Entstehung von Stoffen nachzuspüren, ist nicht einfach. Oft sind es Erinne­ rungen, die sich im Unterbewußtsein mit einem Einfall verbunden haben, der, taucht er wieder auf, scheinbar nichts mit den Erinnerungen zu tun hat. Indem ich die Entwicklung meines Denkens anhand der Geschichte meiner ungeschriebenen […] Stoffe darzustellen versuche, genauer noch: der Beziehung zwischen ­Erleben, Phantasie und Stoff nachtaste, um eine Dramaturgie der Phantasie aufzuspüren, läßt sich Autobiographisches nicht vermeiden, […] weil auch im Nebensäch­lichsten oft die Keime zu Stoffen liegen; bleibt das ­Autobiographische  […] nebensäch­lich, bloße Lappalie. (213)

Bei Dürrenmatt findet sich keine grundsätz­liche „mémoire involontaire“30 wie in Prousts À la recherche du temps perdu 31, sondern eine willent­liche Erinnerungskonstruktion, die den Verfälschungsmechanismus der Erinnerung durch die Dialektik des Wiederfindens und Erfindens berücksichtigt. Der Erinnerungsvorgang bei Dürrenmatt dient dem Vergessen. Die ‚re-konstruktive‘ Erinnerungsarbeit ist ein Befreiungsversuch. Die verblassten, fast vergessenen Stoffe werden nachträg­lich ‚erschrieben‘ und thematisieren auch auf inhalt­licher Ebene, wie Der Winterkrieg in Tibet und Der Rebell veranschau­licht haben, die für Dürrenmatts Schreiben zentrale Verwendung des Labyrinthmythos sowie die sich durch den Text konstitutiv ziehende ‚Vergessensspur‘. „Ich wollte in den Stoffen nie ein geschriebenes Werk erläutern. Ich wollte die Stoffe ausgraben, die noch tiefer liegen, also Erstfassungen, Grundstoffe wie „Labyrinth“, „Rebellion“32. Dürrenmatt verwendet „das Kretische Labyrinth“33 in seinen Texten als mytholo­gisches Gleichnis für die mehrdeutige, komplexe

29 Rusterholz: Exemplarische Untersuchung zur Genese von Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Lichte der Manuskriptentwicklung, S. 7. 30 Klinkert, Thomas: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. Tübingen 1996, S. 1. 31 Vgl. hierzu Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1. In Swanns Welt. Im Schatten junger Mädchenblüte. Frankfurt am Main 2000. 32 Kreuzer: Die Welt als Labyrinth, S. 17. 33 Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes. 4. unveränderte Auflage. München 1999, S. 43.

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Struktur der Welt. Das Ur-Labyrinth bleibt zwar in seiner ursprüng­lichen symbo­lischen Verwendung unerreichbar, dennoch wird das Labyrinthsymbol in modifizierter Form weiter tradiert. Dürrenmatt verweist in seinen Stoffen auf die Ur-Strukturen aller Motive, somit lässt sich anhand des Labyrinths ein Ineinandergreifen von subjektiver Ausformung und kollektiven Vorprägungen paradigmatisch festmachen. „Einem Labyrinth nicht mehr entkommen zu können bedeutet, daß die Stelle, an der der Wanderer schon gewesen ist – der Eingang ins Labyrinth –, verlorengegangen und die Stelle, zu der er hinstrebt – das Ziel, zu dem die düsteren Pfade führen –, unbekannt ist.“34 Das Labyrinth ist ein Ort der Zeitund Raumverzerrung, die vorherrschende Orientierungslosigkeit hinterlässt das Gefühl des Verlorenseins. Es unterläuft durch seine künst­lich wiederholende Baustruktur die Erinnerungsfähigkeit des Menschen, für den Zeit und Raum strukturierende und kohärenzbildende Konstanten sind und damit ein anthropolo­gisches Bedürfnis bedienen. Das Labyrinthsymbol kann dahingehend an der Grenze des Vergessens angesiedelt werden. „Erinnern und Vergessen bilden […] keine sch­lichte Dichotomie“35, ­sondern stehen vielmehr in einem wechselseitigen, ergänzenden und paradoxen Verhältnis zueinander. In den Stoffen entwirft Dürrenmatt ein Schreiblabyrinth, das diese Dialektik aufgreift und auf die fragile Erinnerungsstruktur im Kontext des Schreibprozesses hinweist. Aleida Assmann hält für die episodischen Erinnerungen vier grundsätz­liche Merkmale fest, sie betont dabei den pers­ pektivischen, vernetzten, fragmentarischen und flüchtigen Charakter von Erinnertem.36 Auch die Schreibreflexionen Dürrenmatts können im Kontext dieser kennzeichnenden Einteilung betrachtet werden, denn Dürrenmatt hält die individuellen Erfahrungen zwar für die prägendsten, hebt aber gleichzeitig die kollektive Vorstrukturierung der Weltwahrnehmung durch die Verwendung von Ur-Bildern, Ur-Motiven und Ur-Gleichnissen hervor; zudem finden sich zahlreiche intertextuelle Bezüge in den Stoffen. Die ungeschriebenen Stoffe verweisen ebenfalls auf eine ‚Fragmentstruktur‘, denn für die nachträg­ liche Verschrift­lichung des Unvollendeten muss der Schreiber die Irrwege der Erinnerung zurückverfolgen. Dürrenmatt entwirft hier ein Schreiblabyrinth, indem er das Unbewältigte reflektiert und rückblickend ‚erschreibt‘.

34 Koerner: Die Suche nach dem Labyrinth, S. 37. 35 Smith, Gary: Arbeit am Vergessen. In: Vom Nutzen des Vergessens. Hrsg. v. Gary Smith, Hinderk M. Emerich. Berlin 1996. S. 1 – 26, hier S. 20. 36 Vgl., Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 24 f.

Christina Ripeanu

Existenzielles Schreiben

Der Erinnerungsprozess als Identitätskonstruktion in Franz Kafkas In der Strafkolonie und in den Gedichten Paul Celans Erinnerungsprozesse und -momente in der Literatur manifestieren sich auf vielerlei Arten – sei es als autobiografisch motivierte Erzählungen, sei es als fiktionale Erinnerungen eines Protagonisten oder auch als ein Zusammenspiel beider Arten, welches ein Differenzieren manchmal schwierig macht. Ein Beispiel dafür gibt Vera Heinen in ihrer Beschäftigung mit Friedrich Dürrenmatt im vorliegenden Sammelband. Dort ist es der Labyrinth-Topos, durch den ein Zugang zu Erinnerungen ermög­licht werden soll und Erinnerung anhand des Symbo­lischen materialisiert werden will. In der hier fortzusetzenden Beschäftigung mit eben dieser Materialität von Erinnerungen soll das Augenmerk auf die Monumentalisierung des Körpers als manifestes Moment der Erinnerung, das durch den Prozess des Schreibens entsteht, gelegt werden – dies anhand der Erzählung In der Strafkolonie 1 von Franz Kafka – wie auch auf den Text als liminalen Erinnerungsort im lyrischen Werk und dem damit einhergehenden poetolo­gischen Verständnis Paul Celans.2

1 Kafka, Franz: In der Strafkolonie. In: Ders.: Sämt­liche Erzählungen. Hrsg. von Paul Raabe. Frankfurt am Main 1969. S. 100 – 123. 2 Dabei wird die siebenbändige Werkausgabe als Textbasis zugrunde gelegt: Celan, Paul: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt am Main 2000.

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I Das Folterritual als identitätskonstituierende Be-Schreibung des mensch­lichen Körpers 3

Zerstöre Dich! […]‚ um Dich zu dem zu machen, der Du bist‘

Franz Kafkas In der Strafkolonie erschien erstmalig im Jahre 1919. Ursprüng­ lich geplant war, die Erzählung innerhalb eines Bandes mit dem Titel Strafen zu veröffent­lichen – gemeinsam mit Das Urteil 4 (1913) und Die Verwandlung 5 (1915). Die Dimension des Strafens, die in Kafkas Literatur so zentral ist, wird auch in der Strafkolonie überdeut­lich. In die Forschung findet sie im Zusammenhang der Gegenüberstellung von Tradition und Moderne oder Barbarei und Zivilisation Eingang, die besonders anhand der Darstellung von Strafgefangenem auf der einen und Offizier und Kommandanten auf der anderen Seite hergeleitet wird.6 Der Gefangene wird archaisch, wenn nicht gar anima­lisch skizziert, wohingegen die Tracht des Offiziers und die Errungenschaften der Kommandantur von einer hochzivilisierten Welt zu zeugen scheinen. Insbesondere ist hierbei der technische Fortschritt in Gestalt eines Folter- und Tötungsapparates zu bemerken. Dieser Apparat ist jedoch sehr viel mehr als ein bloß technisches Hilfsmittel – dies wird bereits recht früh in Kafkas Erzählung deut­lich, nicht zuletzt aufgrund der feier­lichen und lobpreisenden Einführung durch den Offizier, der von dem Folterritual, welches durch den Apparat repräsentiert wird, gänz­lich überzeugt zu sein scheint.7 Vielmehr muss der Apparat als Monument und Gedenkstätte empfunden

3 Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Textband. Hrsg. v. Jost ­Schillemeit. Frankfurt am Main 1993. 4 Kafka, Franz: Das Urteil. In: Ders.: Sämt­liche Erzählungen. Hrsg. v. Paul Raabe. Frankfurt am Main 1969. S. 23 – 32. 5 Kafka, Franz: Die Verwandlung. In: Ders.: Sämt­liche Erzählungen, S. 56 – 99. Vgl. Auerochs, Bernd: In der Strafkolonie. In: Kafka Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Manfred Engel und Bernd Auerochs. Stuttgart 2010. S. 207. 6 Vgl. ebd., S. 208 und Axel Hecker, der jedoch die Aufteilung in „Gebildete“ – der Offizier und der Reisende – und „Ungebildete“ – der Strafgefangene und der ihn bewachende ­Soldat – bevorzugt. Hecker, Axel: An den Rändern des Lesbaren. Dekonstruktive Lektüren zu Franz Kafka: Die Verwandlung, In der Strafkolonie und Das Urteil. Wien 1998, S. 81. 7 „‚Es ist ein eigentüm­licher Apparat,‘ sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat.“ (Kafka: Strafkolonie, S. 100) „Aber ich könnte ja morgen, wenn der Apparat wieder gereinigt ist – daß er so sehr beschmutzt wird, ist sein einziger ­Fehler – die näheren Erklärungen nachtragen.“ (Ebd., S. 105 f.) „Können Sie jetzt die Arbeit der Egge und des ganzen Apparates würdigen?“ (Ebd., S. 107.)

Franz Kafkas In der Strafkolonie und die Gedichte Paul Celans

werden – er beinhaltet die Erinnerung an den alten Kommandanten und mit ihm an die ‚guten und alten Zeiten‘ unter einer Führungspersön­lichkeit, der scheinbar alle Errungenschaften der Kolonie zu verdanken sind.8 So ist auch das Tötungsinstrument selbst eine dieser Errungenschaften und steht damit für eine Tradition des technologisierten Mordens.9 Die Besonderheit des Strafaktes, welcher durch diese Maschine selbst ausgeführt wird, liegt in der Urteilsverkündung, die mit einer (Schein-) Epiphanie und schließ­lich dem Tode einhergeht. So wird vor der Strafprozedur kein Urteil gesprochen, der Gefangene hat somit keine Gelegenheit zur Verteidigung und weiß nicht einmal, dass und weswegen er verurteilt wurde.10 Es scheint, als ginge es bei dem Ritual des Strafens einzig darum, den Apparat und mit ihm das Gedenken an den alten Kommandanten aufrechtzuerhalten. Obgleich das Strafverfahren sowohl von Seiten des Reisenden als auch von Seiten des neuen Kommandanten als inadäquat bewertet wird,11 hält es weiter Einzug in der Strafkolonie und hat als Errungenschaft des alten Kommandanten maßgeb­ lichen Einfluss auf das Identitätsbewusstsein des Offiziers, der die Aufgabe des Richters übernimmt und nach dem Leitsatz der jederzeit unbezweifel­baren Schuld handelt.12 Auf den Sachverhalt der Identitätskonstituierung soll im weiteren Verlauf der Betrachtung noch näher eingegangen werden. Zunächst müssen jedoch die Ebenen festgehalten werden, die eine Beschäftigung mit der Erinnerungskonzeption in Kafkas Erzählung lohnenswert machen: Zunächst sei die Ebene der Erinnerung des Kollektivs genannt. Sie zeigt sich in der rituellen Verwendung eines Tötungsapparates, der repräsentativ für eine Gemeinschaft steht, die von dem alten Kommandanten geführt wurde. 8 „Dieser Apparat […] ist eine Erfindung unseres früheren Kommandanten. […] Haben Sie von unserem früheren Kommandanten gehört? Nicht? Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, daß die Einrichtung der ganzen Strafkolonie sein Werk ist. Wir, seine Freunde, wußten schon bei seinem Tod, daß die Einrichtung der Kolonie so in sich geschlossen ist, daß sein Nachfolger, und habe er tausend neue Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts von dem Alten wird ändern können.“ (Ebd., S. 101.) 9 Vielfach wurde in der Forschung ein gewisses ‚prophetisches‘ oder zumindest voraus­ ahnendes Moment in Kafkas Werk konstatiert, welches den Holocaust antizipiert und auch hier vorzuherrschen scheint. 10 Kafka: Strafkolonie, S. 103 f. 11 „Der Reisende überlegte: […] Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmensch­ lichkeit der Exekution war zweifellos. […] Dies war aber umso wahrschein­licher, als der Kommandant, wie er jetzt überdeut­lich gehört hatte, kein Anhänger d ­ ieses Verfahrens war und sich gegenüber dem Offizier fast feindselig verhielt.“ (Ebd., S. 109 f.) 12 „Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos.“ (Ebd., S. 104.)

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Als Errungenschaft eben ­dieses Führers bekommt der Apparat monumen­talen Charakter. Die rituelle Tötung eines Sträflings ist überdies die Mög­lichkeit gewesen, als Gemeinschaft zusammenzukommen und ihr beizuwohnen.13 Als fester Bestandteil des Selbstverständnisses der Kolonie ist der Folterapparat in den volkstüm­lichen Sprachgebrauch übergegangen.14 Der Apparat produziert also ‚Erinnerung‘ auf zwei Weisen: Zum einen lässt er an alte Zeiten erinnern und hat somit Monumentalcharakter für das Kollektiv – die Gemeinschaft der Strafkolonie, die in der Anhängerschaft an den alten Kommandanten verbunden ist –, und zum anderen hat er zur Aufgabe, Erinnerung als Form von Sühne für den Einzelnen – den Strafgefangenen – zu generieren. Dies würde die zweite, für den hier vorliegenden Kontext noch wesent­lichere Ebene berühren: den Schreibprozess als Erinnerungsmoment. Der Schreibprozess in Kafkas Strafkolonie geht zeit­lich mit dem Sterbeprozess des ‚Beschriebenen‘ einher – der Sträfling wird zum Medium der alten Gebote, denn genau daraus bestehen die Urteilssprüche in der Strafkolonie: Es sind Gebote, die einer vorgefertigten Sammlung entspringen und also nicht eigens für den Straffall generiert werden.15 Dieser Zusammenhang wurde in der Forschung vielfach als mög­liche Andeutung auf die (bib­lische) Ur-Schuld diskutiert.16 In der Erzählung Kafkas fallen die Urteilssprechung und deren 13 So der Offizier: „Wie war die Exekution anders in früherer Zeit! Schon einen Tag vor der Hinrichtung war das ganze Tal von Menschen überfüllt; alle kamen nur um zu sehen; früh am Morgen erschien der Kommandant mit seinen Damen; Fanfaren weckten den ganzen Lagerplatz; ich erstattete die Meldung, daß alles vorbereitet sei; die Gesellschaft – kein hoher Beamte durfte fehlen – ordnete sich um die Maschine; dieser Haufen Rohrsessel ist ein armseliges Überbleibsel aus jener Zeit. Die Maschine glänzte frisch geputzt, fast zu jeder Exekution nahm ich neue Ersatzstücke. Vor hunderten Augen – alle Zuhörer standen auf den Fußspitzen bis dort zu den Anhöhen – wurde der Verurteilte vom Kommandanten selbst unter die Egge gelegt. Was heute ein gemeiner Soldat tun darf, war damals meine, des Gerichtspräsidenten, Arbeit und ehrte mich. Und nun begann die Exekution! Kein Mißton störte die Arbeit der Maschine. Manche sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen mit geschlossenen Augen im Sand; alle wußten: Jetzt geschieht Gerechtigkeit.“ (Ebd., S. 111.) 14 „Es haben sich im Laufe der Zeit für jeden dieser Teile gewissermaßen volkstüm­liche Bezeichnungen ausgebildet.“ (Ebd., S. 96.) 15 Vgl. ebd., S. 96. Die sogenannten „Urteilsarten“ entpuppen sich hier als H ­ andzeichnungen des alten Kommandanten. 16 So sieht Wilhelm Emrich In der Strafkolonie als Parabel auf die „Daseinsschuld“ des Menschen (Emrich, Wilhelm: Franz Kafka. Bodenheim 1991, S. 222.). Susanne Kaul stellt, neben einigen anderen Kafka-Forschern, in ­diesem Zusammenhang eine Analogie zur Passionsgeschichte her (Vgl. Kaul, Susanne: Einführung in das Werk Franz K ­ afkas. Darmstadt 2000, S. 120.) Für Bernd Auerochs ist ein „klar konturierter

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Vollzug unmittelbar zusammen, die Schrift überbietet ihre mediale Funktion, indem sie sowohl Tod als auch Erleuchtung zum Resultat hat, und das Medium der sündhafte Mensch ist: „Kennt er sein Urteil?“ „Nein“, sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: „Er kennt sein eigenes Urteil nicht?“ „Nein“, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte dann: „Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.“17

Der Moment der Erkenntnis fällt also mit dem Moment des Beschreibens des Körpers, der körper­lichen Erfahrung des Urteils zusammen. Darüber hinaus wird scheinbar durch die haptische Wahrnehmung der Schrift ein Verständnis hervorgerufen, welches intellektuell und im Vorfeld nicht zu erwarten gewesen wäre – es ist nutzlos, dem Gefangenen sein Urteil zu verkünden, da das Verstehen in der Logik der Strafkolonie nur durch das sinn­liche Erfahren der Schrift erfolgen kann. Dabei ist die Schrift mit bloßem Auge nicht oder nur schwer entzifferbar, man kann sie nur durch ihre Einverleibung lesen und verstehen: Der Reisende hätte gerne etwas Anerkennendes gesagt, aber er sah nur labyrinth­ artige, einander vielfach kreuzende Linien, die so dicht das Papier bedeckten, daß man nur mit Mühe die weißen Zwischenräume erkannte. „Lesen Sie“, sagte der O ­ ffizier. „Ich kann nicht“, sagte der Reisende. „Es ist doch deut­lich“, sagte der ­Offizier. „Es ist sehr kunstvoll“, sagte der Reisende ausweichend, „aber ich kann es nicht entziffern.“ „Ja“, sagte der Offizier, lachte und steckte die Mappe wieder ein, „es ist keine Schönschrift für Schulkinder. Man muß lange darin lesen. Auch Sie würden es schließ­lich gewiß erkennen. Es darf natür­lich keine einfache Schrift sein; sie soll ja nicht sofort töten. […] Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.18

religiöser Anspielungshorizont gegeben“ (Auerochs: Strafkolonie, S. 211.), was er an einigen Punkten im Text festmachen kann, so die Darstellung des alten Kommandanten als gottgleiche Figur, die Bedeutung, die der sechsten Stunde der Hinrichtung beikommt und die damit an die Kreuzigung Christi denken lässt, oder auch die Prophezeiung einer Wiederkehr des alten Kommandanten als Analogie zu einer „messianischen Erlöserfigur“. (Ebd.) 17 Kafka: Strafkolonie, S. 104. 18 Ebd., S. 107 f.

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Dieses Verstehen oder Erkennen durch den von dem Schreibprozess hervor­ gerufenen Schmerz kann zugleich als Erinnerung erfasst werden, die in einer Wandlung des Menschen gipfelt. Das Verfahren des Beschreibens des mensch­ lichen Körpers macht den Menschen selbst zum Erinnerungsort – er zeugt für die Einheit und den Stolz der alten Kommandantur, bekräftigt damit die Identität der Kultur als zivilisatorischen Meilenstein und stigmatisiert den Strafgefangenen durch die Schrift, benennt ihn gleichsam neu. Paradoxerweise ist gerade der performative Akt des Benennens in Kafkas Erzählung problematisch. Walter Müller-Seidel weist in seiner Monografie Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ im europäischen Kontext folge­richtig auf die Identitätsproblematik des Personals innerhalb der Erzählung hin, wenn er konstatiert, die Menschen in der Strafkolonie würden nament­lich beziehungsweise begriff­lich ledig­lich „aufgrund ihrer Funktionen unterschieden […]: der Kommandant, der Offizier, der Hauptmann, der Forschungsreisende, der S­ oldat“19. Das Schreib- und Tötungsritual führt jedoch gerade zu einer Benennung in Form einer Stigmatisierung des Strafgefangenen; einer fremdbeschriebenen Identität, die gleichsam zum Tode führt. Damit wird der Körper selbst zu einem Stück Geschichtsschreibung. II Schreiben als Existenzform

Die Kafka-Forschung hat bereits sehr früh konstatiert, dass für Kafka dem Schreibprozess immer schon ein existenzielles, selbstreflexives Moment anhaftet.20 Insbesondere der Geburtsmetaphorik kommt eine besondere Bedeutung in ­diesem Zusammenhang zu.21 In der hier behandelten Erzählung Kafkas geschieht die 19 Müller-Seidel, Walter: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung In der Strafkolonie im europäischen Kontext. Stuttgart 1986, S. 115. Müller-Seidel spricht hier von „antipersonalen Tendenzen, die man an Josef K. im Prozeß-Roman wahrgenommen hat“ und die „hier die Erzählung im Ganzen erfaßt“ (Ebd.) zu haben scheinen. 20 Die Selbstreflexion des Schreibens wird auch von Susanne Kaul konstatiert, vgl. Kaul: Einführung, S. 62. 21 Die Geburtsmetaphorik ist dabei eine stetige, poetolo­gische Besonderheit im Werke ­Kafkas, die häufiger konstatiert wurde. (Vgl. Neumann, Gerhard: Der Zauber des Anfangs und das „Zögern vor der Geburt“. Kafkas Poetologie des „riskantesten Augenblicks“. In: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas Der Proceß. Hrsg. v. Hans Dieter Zimmermann. Würzburg 1992. S. 121 – 142.) „Wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt“. (Neumann, Gerhard: Die Vorstellung von der Entbindung des Textes aus dem Körper in Kafkas Poetologie. In: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Hrsg. v. Christian Begemann und David E. Wellbery. Freiburg im Breisgau 2002. S. 293 – 324.)

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oben benannte Transformation des Menschen, die man ebenso mit dem Begriff der ‚Geburt‘ fassen kann, aufgrund der Einverleibung der Schrift. Dabei ist die Schrift zugleich ein potenziertes und potenzierendes Symbol für die Folter – die zunehmende Komplexität der Schrift bedeutet einen langwierigeren Sterbeprozess, was durch das zuletzt angeführte Zitat deut­lich wird. Es entsteht in dem Moment der Epiphanie die Einheit von Körper und Schrift, der Folterapparat ist zugleich Schreibmaschine, die Folter ist Erkennen, der zerfallende mensch­liche Körper wird zum Monument, das von den Errungenschaften der mensch­lichen Zivilisation zeugt und zur gleichen Zeit mit einem Gebot beschrieben ist – ein Zusammenhang, der von seiner Absurdität gespeist wird, da sich Monumentalität und Vergäng­lichkeit per definitionem ausschließen. Der Körper legt seine – kreatür­liche – Schuld als ein Stigma preis. Die Postulierung des Schreibprozesses als existenzielle Frage bildet somit auch in der Strafkolonie das Zentrum. Wie genau zeugt jedoch dieser Komplex für einen Erinnerungsprozess? Wie bereits an früherer Stelle festgestellt wurde, befinden sich die Elemente der Erzählung, die Erinnerung thematisieren, auf mehreren Ebenen. Zunächst einmal ist die Strafkolonie bei Kafka geradezu ein Paradebeispiel für das, was Aleida Assmann das ‚kulturelle Feld der Erinnerung‘22 nennt: Zu letzterem [dem kulturellen Feld der Erinnerung] gehören sowohl materiale Repräsentationen in Gestalt von Texten, Bildern und Denkmälern als auch symbo­ lische Praktiken in Gestalt von Festen und Riten.23

In der Strafkolonie thematisiert nun eben ­dieses Feld. Sowohl der Apparat als auch der mensch­liche Körper nach seiner Beschreibung sind in der Erzählung materiale Repräsentationen einer Kultur, die ihren zivilisatorischen Fortschritt – und womög­lich ihre Überlegenheit – sowie den Glauben an die ‚naturgegebene‘ und jederzeit unbezweifelbare Schuld im Rahmen eines rituellen Vorgehens zelebrieren. Im Übrigen greift Kafka damit – ob bewusst oder unbewusst – ein Phänomen in der Geschichte der Folter auf, näm­lich die Benennung von Foltermethoden mit Begriffen, die den technolo­gischen oder zivilisatorischen Fortschritt implizieren: das ‚U-Boot‘ u. a. auf den Philippinen, das ‚Telefon‘ in Brasilien oder ‚Motorola‘ in Griechenland.24 22 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 31. 23 Ebd. 24 Vgl. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletz­lichkeit und die Erfindung der Kultur. Autorisierte Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main 1992, S. 67.

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Der dargebotene, beschriebene und leblose Strafgefangene kann gleichsam als ein Opfertier angesehen werden, das sich den Errungenschaften des alten Kommandanten beugen muss und sich von einer anima­lisch beschriebenen Kreatur in Kulturgut verwandelt. Auf der individuellen Ebene soll durch die Strafprozedur ein Erinnerungsmoment generiert werden, der die Annahme und ewige Einswerdung mit einer nicht nur persön­lichen, sondern den Menschen als Kreatür­liches betreffenden Ur-Schuld bedeutet, die ihm – dem Menschen – sichtbar auf den Leib geschrieben wird. Tatsäch­lich kann d ­ ieser Prozess als eine Art zweite Geburt gedeutet werden, die in der Logik der Strafkolonie die reinere Form der Geburt darstellt. Während der Mensch als ‚immer-schon-schuldige‘ Kreatur die Welt erblickt, leistet er durch die Folter­ szene Buße und wird durch den Moment der Epiphanie belohnt, legt somit sein sündhaftes Dasein ab, um scheinbar geläutert in eine andere Dimension zu gelangen. Diese Dimension kann als die Ebene der Kunst interpretiert ­werden, die den Gegensatz zur Ebene der Kreatur darstellt. Durch die kunstvolle Beschreibung des Körpers wird der Mensch von der Kreatur zu einem Text beherbergenden und ausstellenden Kunstprodukt, zum eigent­lichen Ausstellungsobjekt – frei­lich nur als Medium. Daher kann der Schreibprozess als in höchstem Maße existenziell gelten. Dem Schreibprozess ist es bei Kafka sogar mög­lich, natür­liche oder kreatür­ liche Existenz in ein Kunstprodukt zu transformieren. Dabei kann man von einer pervertierten Form des Erinnerungsprozesses sprechen: Zunächst ist es der Apparat, der im wahrsten Wortsinn eine Gedenkstätte darstellt – er generiert erst das Gedenken, die auf dem Leib empfundene Erinnerung der Sünde. Im durch die Strafprozedur entstehenden Moment der Epiphanie wandelt sich der erinnernde Mensch selbst zu einem absurden, weil vergäng­lichen, Monument und stellt damit persön­liche Erinnerung selbst als ein Paradoxon dar: Das zu Erinnernde soll auf einem sich auflösenden Medium bestehen bleiben und von einem sich auflösenden Geist verstanden und memoriert werden. Die Kreatur geht an der Kunst – dem Schreibprozess – zugrunde, jeg­licher Versuch, den Menschen als Kunstprodukt zu verewigen, scheitert an seiner naturgegebenen Vergäng­lichkeit. In der Polarität von Kreatür­lichkeit und Artifizialität ist ein deut­licher Schnittpunkt zur Poetik Paul Celans gegeben. Im Kontext der Bremer Rede 25 (1958) und der Meridianrede 26 (1960) wird das poetolo­gische Konzept der Beheimatung von Dichtung im Kreatür­lichen mit den Begriffen des ‚Gegenwortes‘ und der

25 Celan: GW III, S. 185 f. 26 Ebd., S.  187 – 202.

Franz Kafkas In der Strafkolonie und die Gedichte Paul Celans

‚Atemwende‘ ausgearbeitet. Der Rückgriff in die „allereigenste Enge“27 mit der Kunst mündet in der Freisetzung des Ich. Das nun Freigesetzte ist bei Celan fern jeder Artifizialität, es ist die Kreatur, es ist das Gedicht. Der Logik d ­ ieses thematischen Komplexes folgend besteht eine Vergleichbarkeit, doch Neuverortung der Memorabilität durch die Schrift von Celans Poetik mit K ­ afkas Strafkolonie. Denn die Kunst zeugt bei Celan eben nicht für die Existenz, sondern stellt das Fratzenbild des Existenziellen, das „Medusenhaupt“28, das Verund Entstellende dar. III Das Gedicht als Gedenkstätte bei Paul Celan

Die Verbindungslinien von Erinnerungsthematiken sind in Paul Celans Gedichten stets präsent gewesen; man kann behaupten, der Anspruch des Gedenkens sei eine der konstitutivsten Besonderheiten der Celan‘schen Lyrik. Bereits in den Gedichten des in Czernowitz und Bukarest entstandenen Frühwerks ist das Motiv des Todes und insbesondere auch die Aufarbeitung dessen am Bilde der toten Mutter stets präsent, so zum Beispiel in dem Gedicht Espenbaum 29. Es scheint, als habe sich als Konsens der Celan-Forschung die Überzeugung durchgesetzt, mit dem Gedicht Todesfuge beginne das ‚eigent­liche‘, weil konzeptuelle Werk Celans 30 – mit einem Gedicht also, das in dem Kontext ‚Lyrik nach Auschwitz‘31 steht und damit zugleich eine Poetik des Ausdrucks des Unsagbaren verfolgt. Diesem poetolo­gischen Anspruch folgend wird zum einen deut­lich, weswegen ein artifizieller Umgang mit Dichtung inadäquat ist – er würde in eine Ästhetisierung von Sprache münden, die Welt verzerrt und ein Gedenken unmög­lich macht. Zum anderen wird jedoch auch klar, dass die Sprache nicht mehr dieselbe sein kann – sie ist „hindurchgegangen durch die

27 Ebd., S. 200. 28 Ebd. 29 Celan: GW I, S. 19. 30 Dies beispielsweise formuliert von Barbara Wiedemann: „So ist die ‚Todesfuge‘ – in der ich eines der letzten Bukowiner Gedichte sehe, also ein Werk des Abschlusses und Übergangs – sicher­lich ein sehr wichtiges Gedicht für Celan. […] Mit ihr fängt, wenn man so will, Celans Werk an“. (Wiedemann-Wolf, Barbara: Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk. Tübingen 1985, S. 89.) 31 Im Zentrum der Problematik einer eigent­lichen Unaussprechbarkeit dessen, wofür ‚Auschwitz‘ steht und ob und wie Dichtung nach dieser nicht nur historischen, sondern gesellschaft­lichen Zäsur existieren und produziert werden kann, steht Adornos Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft. (Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Prismen. Frankfurt am Main 1976. S. 7 – 31.)

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tausend Finsternisse todbringender Rede“32 und kam „‚angereichert‘ von all dem“33 wieder hervor. Die Sprache als konstitutives Element der Erzeugung von Welt und Wirk­lichkeit (und auf der basalsten Ebene der Erzeugung von Identität) bringt somit zugleich im Gedicht nicht nur sich selbst hervor, s­ ondern darüber hinaus den veränderten Lebensraum, der ebenso hindurchging durch diese „tausend Finsternisse“. Es ist dies die „U-topie“34, die uns in den Gedichten Celans begegnet und die ein Erinnern durch das Zur-Sprache-Kommen im Gedicht ermög­licht: Toposforschung? Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der U-topie. Und der Mensch? Und die Kreatur? In ­diesem Licht.35

Im Folgenden soll untersucht werden, welches poetolo­gische Verständnis Erinnerung im Gedicht Celans mög­lich macht, und ­welche Funktionen dem Körper und der Schrift im Vergleich zu Kafkas Strafkolonie zukommen. Dabei wird der Begriff der ‚Schwelle‘ u. a. als topografisches Gelände sowie das Phänomen des Gestischen und – damit zusammenhängend – des Rituellen in den Fokus der Betrachtung gerückt. Der Zusammenhang von Erinnerung und Vergessen ist, so kann man behaupten, ein zentraler Gegenstand der Celan‘schen Poetik, wenn nicht gar das thema­tische Zentrum. Diese Annahme wird gestützt durch die Entscheidung Celans, den ersten konzeptuell angelegten Band mit Mohn und Gedächtnis zu übertiteln.36 Somit steht seine Dichtung von Beginn an in dem Licht der oben erwähnten Spannung von Erinnern oder Gedenken und Vergessen. Ein Zusammenhang, den Celan in seinen poetolo­gischen Reden, der Bremer Rede 37

32 Celan: GW III, S. 186. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 199. 35 Ebd. 36 Dies ist relativ auffällig, wenn man bedenkt, dass vor der Publikation von Mohn und Gedächtnis im Jahre 1952 der erste veröffent­lichte Gedichtband Der Sand aus den Urnen (1948) gewesen ist. Nach der Rücknahme ­dieses bereits publizierten Bandes aufgrund illustratorischer Unstimmigkeiten und orthografischer Fehler werden dennoch 26 Gedichte aus Der Sand aus den Urnen in Mohn und Gedächtnis übernommen und s­ tellen somit fast die Hälfte der Gedichte d ­ ieses Bandes dar. Ungeachtet dessen entscheidet sich Celan für den neuen Titel. 37 Entstanden im Jahre 1957 und vorgetragen im Jahre 1958.

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und der Meridian-Rede 38, formuliert und welcher spätestens im Dunstkreis dieser Reden und zeit­lich also mit den Entstehungszeiten der Bände Sprachgitter 39 und Die Niemandsrose 40 zusammenfällt und Bedeutsamkeit erhält. Die auch poetolo­gisch konstatierte Problematik und der Anspruch der Dichtung, Erinnerung zu bewahren und so zum Ort des Gedenkens zu werden, wird insbesondere im Kontext der Schwellenmetapher deut­lich. Ihre Einführung als poetisches Moment erhält sie durch den Band Von Schwelle zu Schwelle (1955). Doch wie erwähnt wurde, erfahren die Thematisierung und die damit einhergehende Problematik der Erinnerung bereits von Beginn an eine Aufnahme im Celan‘schen Gedicht. Hierzu kann Espenbaum als ein frühes Beispiel für das Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen, von ‚Mohn‘ und ‚Gedächtnis‘ erwähnt werden. Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel. Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß. Löwenzahn, so grün ist die Ukraine. Meine blonde Mutter kam nicht heim. Regenwolke, säumst du an den Brunnen? Meine leise Mutter weint’ für alle. Runder Stern, du schlingst die goldne Schleife. Meiner Mutter Herz ward wund von Blei. Eichne Tür, wer hob dich aus den Angeln? Meine sanfte Mutter kann nicht kommen.41

Interessant ist an ­diesem Gedicht, dass es aufgrund der Verwendung beziehungsweise Zitation der rumänischen Volksliedform ‚Doina‘ eine eigentüm­liche und sehr effiziente Erinnerungskonzeption herstellt: Die Doina wird inhalt­lich bestimmt durch das Zusammenspiel von subjektiver Gefühlswahrnehmung und Beobachtung von Naturphänomenen, formal ist sie als Volksliedgattung durch den Reim gekennzeichnet. Die Naturphänomene der ursprüng­lichen Doina-Form entwickeln sich im Gedicht Celans zu Chiffren des Gedenkens an 38 Diese hielt Celan im Oktober 1960; die älteste Schicht hat sich aus dem Jahre 1959 ­erhalten. Ursprüng­lich war sie als Entwurfsmaterial für einen anderen, jedoch nicht gehaltenen Vortrag für den Wuppertaler Bund vorgesehen, vgl. Böschenstein, Bernhard: Der Meridian. In: Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Markus May et al. Stuttgart 2008. S. 167 – 175, hier S. 167. 39 Im Jahre 1959 publiziert; die Entstehungszeit umfasst die Jahre 1955 – 1958. 40 Die Publikation erfolgte 1963. Entstanden ist dieser Band in den Jahren 1959 – 1963. 41 Celan: GW I, S. 40.

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den Holocaust, die an den Judenstern und an die deutsche Eiche erinnern und über die Existenz der im Gedicht bedauerten und beweinten Mutter entscheiden. Der für die Doina und die Volksliedgattung an sich konstitutive Bestandteil des Reims, welcher ein Erinnerungsmoment generiert und zugleich ein personales und kollektives Memorieren mög­lich macht, ist in Espenbaum nicht aufzufinden. Das lyrische Ich gedenkt in Espenbaum der toten Mutter; zur selben Zeit lässt Celan die Gefahr des Vergessens laut werden, indem er auf den Reim, also auf den Punkt der Gattungsspezifik, der die Funktion des Memorierens einlösen will, verzichtet. Hier wird bereits früh Celans poetolo­gischer Gestus der Deformierung von Konventionen deut­lich, der sich im Laufe seines Werks bis hin zur Unkennt­lichkeit der Vorlage verdichtet. Gleichzeitig muss das Gedicht als Raum verstanden werden, der die Problematik der Suche nach einem Gegenüber beinhaltet.42 Auch der in d ­ iesem Kontext bedeutsame Begriff der ‚Schwelle‘ ist der Versuch, ein nicht mehr Existentes durch eine räum­liche Komposition im Gedicht zurückzuführen. Die Räume und Landschaften, von denen Celans Gedicht aus spricht, sind daher von existenzieller Bedeutung. Sie beheimaten die Schrift, wie der Körper des Strafgefangenen bei Kafka das Gebot beheimatet. IV Das Gelände des Gedichts und die Existenzialität im Materiellen

Die folgende Betrachtung greift die Besonderheiten der Topografien im Celan‘schen Gedicht auf. Die Landschaften, von denen hier die Rede sein soll, sind nicht als reale Orte aufzufassen, sondern werden in der poetischen Entwicklung des Celan‘schen Œuvres zu poetolo­gischen Chiffren, die sich den oben benannten Problematiken zuwenden und die Notwendigkeit des Erinnerns und Gedenkens anhand des Konzeptes der ‚Wortlandschaften‘ zu materialisieren versuchen: VERBRACHT ins Gelände mit der untrüg­lichen Spur: Gras, auseinandergeschrieben.43

42 Dies wurde in den benannten Reden konstatiert und beschreibt in Verbindung mit der Problematik des Sprachzerfalls – spätestens seit der Sprachgitter-Metapher – und der Auflösung der Zeit in der poetolo­gischen Chiffre der ‚Zeitenschrunde‘, die im Celan‘schen Gedicht Weggebeizt aus dem Band Atemwende ihre Einführung erhält (Celan: GW II, S. 31.) – einen zusammenhängenden, motivischen Komplex. 43 So beginnt Engführung. Celan: GW I, S. 197.

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Das „Gelände / mit der untrüg­lichen Spur“ weist auf eine paradoxale Erinnerungsstruktur hin, wie Brotkrumen, die nach Hause führen – die Spur beinhaltet die Mög­lichkeit des Wiederfindens, die Spur macht erinnern, wenngleich sie nicht das Erinnern ist, sondern ihr genaues Gegenteil impliziert. Sie bewahrt ledig­lich vor dem Vergessen. Die Textproduktion löst sich aus ihrem artifiziellen Dasein und wird zum Lebensraum im Gedicht, der an Dimension gewinnt und somit phy­sisch 44 begangen werden kann: Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß, mit den Schatten der Halme: Lies nicht mehr – schau! Schau nicht mehr – geh!45

Die Formierung der Worte zu Wortmaterial ermög­licht eine Partizipation des Du, die auch die Mög­lichkeit einer Einkehr der Verstorbenen in und durch das Gedicht beinhaltet. Der Raum besteht in ­diesem Sinne aus Wortkomposita, die sich zu Landschaften formieren – auf der Ebene der Zeitdimension befindet sich das Gedicht in der Un-Zeit, der Zeitenschrunde, die das Rückführen der Toten ermög­licht. Dies wird sogleich näher ausgeführt werden. Das Gedicht verlässt sein Dasein als Kunstprodukt und wird durch seine performative Haltung ein Medium der Stellungnahme und Partizipation: „Lies nicht mehr – schau! / Schau nicht mehr – geh!“ Eine Stellungnahme, die Sprechen und Existenz bedeutet. Gezeichnet wird hier ein auch politisch zu b ­ egreifender Raum der Utopie. Die Verortung und Stellungnahme gipfelt in dem Motiv des Gletschers im späten Werk Celans, der erreicht werden kann, wenn man einen Weg geht und somit der Aufforderung aus Engführung Folge leistet. Das Du geht den „Weg durch den menschen- / gestaltigen Schnee“46. Celan wählt hier eine Landschaft, die sich ganz klar gegen die Artifizialität auflehnt. Nun wird deut­lich, dass der Text sich derart materialisiert hat, dass er sich – wenn man so will – zur ‚Menschenmaterie‘ entwickelt hat und die mensch­lichen Leiber in ihrer natur­ gegebenen Kreatür­lichkeit durch die Anwendung der Schnee-Metapher in einer nochmals potenzierten Fragilität und Vergäng­lichkeit darstellt. Durch die Charakterisierung ­dieses „menschen- / gestaltigen Schnee[s]“ als „Büßerschnee“47

44 ‚Phy­sisch‘ im Kontext des fiktiven Raums eines Gedichts. 45 Celan: GW I, S. 197. 46 Celan: GW II, S. 31. 47 Ebd.

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kann man eine Parallelität in der Ur-Sündenhaftigkeit zu Kafkas Strafkolonie sehen. Wurzel der Sünde wäre dann in beiden Fällen die Kreatür­lichkeit des Menschen im bib­lischen Sinne. Die Verschmelzung von Mensch als Kreatur, Landschaft und Zeit wird in dem Kontext der Zeitenschrunde-Metapher deut­ lich: In der oben dargestellten Landschaft „wartet / ein Atemkristall, / dein unumstöß­liches  / Zeugnis“48. Hier manifestiert sich der Ort des Gedichts und der Sprache schlechthin. Es ist auch der Ort, nach dem Celan im Meridian fragt. [V]ielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheim­lichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? – wieder frei?49

Und, einige Zeilen weiter: Ich habe bei Lucile der Dichtung zu begegnen geglaubt, und Lucile nimmt Sprache als Gestalt und Richtung und Atem wahr –: ich suche, auch hier, in dieser Dichtung Büchners, dasselbe, ich suche Lenz selbst, ich suche ihn – als Person, ich suche seine Gestalt: um des Ortes der Dichtung, um der Freisetzung, um des Schritts willen.50

Die „Sprache als Gestalt und Richtung und Atem“ ist konstitutiv für die Dichtung Paul Celans. Der ersuchte „Schritt“ und die „Freisetzung“ sind Merkmale einer wie auch immer zu verstehenden Partizipation des Menschen, gar des Textes, der das Gedenken impliziert. Der „Ort“ ist hier zugleich auch Zeit – eine Zeitdimension, die ihre eigene Leerstelle enthält, die Zeitenschrunde, ein Riss in der Zeit, eine Form der Aufspaltung. Dabei fällt der Begriff der ‚Schrunde‘ im Wesent­lichen in den Fachbereich der Medizin.51 Dort bezeichnet er einen Hautriss, der auch durch klimatische Bedingungen entstehen kann – wenn die Haut durch Kälte rissig wird. Ort und Zeit werden im Gedicht zu organischen Komponenten, die für die Kreatür­lichkeit des Menschen und seine

48 Ebd. 49 Celan, GW III, S. 193. 50 Ebd., S. 194. 51 Wobei ‚Schrunde‘ (ahd. scrunta; mhd. schrunde) eher umgangssprach­lich gebraucht wird. Der medizinische Fachbegriff lautet ‚Rhagade‘ bzw. ‚Rhagas‘: „Hautschrunde: mikrotraumatischer linearer Riß (Fissur; ohne Gewebsverlust) in entzünd­lich oder hyperkeratotisch [übermäßige Verhornung] veränderter Haut, vor allem in der Umgebung natür­licher Körperöffnungen“. (Roche Lexikon Medizin. Hrsg. v. d. Hoffmann-­ ­La Roche AG und Urban und Schwarzenberg. 2., neubearbeitete Auflage. München, Wien, Baltimore 1987, S. 1481.)

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Verbundenheit mit der Schrift zeugen. Eine Verbundenheit, die im Falle der Strafkolonie bei Kafka eine Perfidität und einen Zwangscharakter beinhaltet, bei Celan hingegen eine Utopie der Partizipation. In beiden Fällen jedoch dient die Verschmelzung von mensch­lichem Körper und Schrift dem Gedenken. Celans Gedicht Weggebeizt endet mit der Strophe: „Tief / in der Zeitenschrunde, / beim / Wabeneis / wartet, ein Atemkristall, / dein unumstöß­liches / Zeugnis“52. In der Schrunde wartet „ein Atemkristall“. Mit „Atemkristall“ beziehungsweise „Wabeneis“ wäre auch wieder die Struktur erkennbar, die in den Anfängen mit dem „Sprachgitter“ deut­lich wurde. Das Sprachgitter setzt die anorganische Form – das Gestaltlose – des Sprechens in eine räum­liche Perspektive. In seiner Struktur ist das Sprachgitter mit dem Atemkristall verschwistert oder: Das Sprachgitter wird durch den Atemkristall hervorgebracht. Man denke nur an das ‚Kristallgitter‘, die „raumgitterartige Anordnung der Atome, Moleküle oder Ionen in einem Kristall“53 und an die ‚Kristallsymmetrie‘, die „an geometr[ische] Elemente wie Punkte, Geraden u[nd] Flächen geknüpfte Deckungsgleichheit der Kristalle bei Drehung, Spiegelung oder bei beidem (Drehspiegelung)“54. Damit wird ein Ort des Sprechens gezeichnet, der die Kreatür­lichkeit und die damit einhergehende Verwundbarkeit und Verwundung des Menschen beinhaltet – ein thematischer Komplex, der mit dem Begriff des ‚Wundenspiegels‘ zusammenfällt und der im Gedicht Die Schwermutsschnellen hindurch 55 Einzug in die Dichtung Celans hält. Diese Spiegelung der phy­sischen Verwundung wird in Ich kenne dich erneut und deut­lich aufgegriffen. Sie impliziert im Gedicht sowohl das angesprochene Du als auch die Schwelle: (ICH KENNE DICH, du bist die tief Gebeugte, ich, der Durchbohrte, bin dir untertan. Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte? Du – ganz, ganz wirk­lich. Ich – ganz Wahn.)56

An dieser Stelle des Atemkristall-Zyklus’ ist die (Wunden-) Spiegelung in einem performativen Akt im Gedicht vollzogen. Das Gedicht stellt Wahn und Wirk­ lichkeit einander entgegen. Die Spiegelung liegt zwischen ihnen – es ist das „Wort“, das gleichsam Zeugenschaft für die Existenz übernimmt. 52 Celan: GW II, S. 31. 53 Großes Modernes Lexikon in 12 Bänden. Hrsg. v. Lexikon-Institut der Bertelsmann LEXIKOTHEK Verlag GmbH. Bd. 7. Gütersloh 1984, S. 16. 54 Ebd., S. 17. 55 Celan: GW II, S. 16. 56 Ebd., S. 30.

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V Rituale des Gedenkens bei Celan

Die – auch gestische oder performative – Gegenüberstellung von lyrischem Ich und dem Anderen, dem Du, dem es sich zuwendet, ist eine Form der spezifischen Liminalität 57 bei Celan. Sie ist immer auch Chiffre des Gedenkens und beherbergt zugleich die Gestik, insbesondere der Hände und Finger, die eine Verortung des Ich zur Folge hat und die poetolo­gische Chiffre des ‚Namens‘, des ‚Benennens‘. Dieser Motivkomplex thematisiert offen Identität und Gedenken. Jean Bollack sieht darin eine Begegnung mit der „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“ Yad Vashem, das mit „Hand-und-Namen“ übersetzt werden kann.58 Die Gedenkstätte befindet sich nach Bollack im Werke Celans selbst.59 Als eine frühe Verwendung von ritueller Gestik ist in Celans Werk das Gebet zu konstatieren – wobei die Gestik ausübenden Körperteile dazu nicht zwingend gebraucht werden, wie in Kein ankerloses Tasten stört die Hand 60. Dabei weist die Gestik des Gedenkens stets in Richtung des Erdbodens, des Unter­ irdischen. Die Schwelle ist hier also der Erdboden, unter dem sich eine Welt der Toten, Verscharrten, aber auch der Lautlosigkeit oder Stille zu befinden scheint. Bollack charakterisiert d ­ ieses Schweigen als „stumme[n] Gedanke[n]“61 und verbindet ihn mit dem poetolo­gischen Konzept der ‚Atemwende‘: „das Schweigen leitet sich genealo­gisch von der Totenwelt und der Vergegenwärtigung des Vergangenen her; es füllt die leeren Intervalle aus, die der pneumatische Rhythmus bereitstellt“62. Dieser Erdboden als Totenreich und die

57 Der Begriff entstammt hauptsäch­lich dem kultur- und sozialanthropolo­gischen ­Diskurs und bezeichnet einen Schwellenzustand, der auf die rituell durchgeführte Loslösung bestehender, normativer Sozialstrukturen folgt. Geprägt wurde dieser Begriff von ­Victor W. Turners Ritualtheorie. Vgl. Turner, Victor W.: Liminalität und Communitas. In: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Hrsg. v. Andréa Belliger und David J. Krieger. Opladen 1998. S. 251 – 264. 58 Vgl. Bollack, Jean: Paul Celan unter judaisierten Deutschen. München 2005, S. 28. 59 Eine tatsäch­liche und bewusste Bezugnahme auf die Gedenkstätte in Jerusalem wäre dann jedoch nur für den poetischen Sprachgebrauch ab dem Band Von Schwelle zu Schwelle zu konstatieren, da Yad Vashem als Gedenkstätte erst im August 1953 gegründet wurde. 60 Celan, Paul: Frühe Gedichte. Historisch-kritische Ausgabe. 1. Band; 1. Teil. Text Hrsg. v. Andreas Lohr unter Mitarbeit von Holger Gehle in Verbindung mit Rolf Bücher. In: Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung: Lyrik und Prosa. Begr. von Beda Allemann; bestellt von der Bonner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe Rolf Bücher, Axel Gellhaus. Band. 1 ff. Frankfurt am Main 2003, 1990 ff. 61 Bollack, Jean: Paul Celan. Poetik der Fremdheit. Aus dem Franzö­sischen von Werner Wögerbauer. Wien 2000, S. 35. 62 Ebd.

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Verbindung von ritueller Gestik und Gedenken wird überdeut­lich in Es war Erde in ihnen 63 aus dem Band Die Niemandsrose: ES WAR ERDE IN IHNEN, und sie gruben.

Sie gruben und gruben, so ging ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott, der, so hörten sie, alles dies wollte, der, so hörten sie, alles dies wußte. Sie gruben und hörten nichts mehr; sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied, erdachten sich keinerlei Sprache. Sie gruben. Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm, es kamen die Meere alle. Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm, und das Singende dort sagt: Sie graben. O einer, o keiner, o niemand, o du: Wohin gings, da’s nirgendhin ging? O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, und am Finger erwacht uns der Ring.

Der Erdboden wird hier nicht bloß als Element der äußeren Umwelt dargestellt, bereits durch den Titel wird deut­lich, dass „Erde in ihnen“ war, die Grabenden eins mit der Erde wurden und dies aufgrund der rituell anmutenden und monotonen Tätigkeit, zu der „sie“ berufen waren – jedoch bleibt die von einem Ritual, dem Durchbrechen einer Schwelle gemäß des Liminalitätsgedankens, erhoffte Epiphanie aus: „sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied, / erdachten sich keinerlei Sprache“, womit eine Parallelität zur Paradoxie des Rituellen in Kafkas Strafkolonie gegeben ist, denn auch hier bleibt die vermeint­liche Epiphanie des Sterbenden eine Vision des Gläubigen, des Offiziers, der damit gleichsam ­dieses Ritual der Strafkolonie legitimiert und ihren Schöpfer ehrt.

63 Celan: GW I, S. 211.

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Festzuhalten ist, dass es sich bei Celan um weit mehr als um eine im Mythos verwurzelte Unterwelt handelt. Die von Celan konzipierte Unterwelt ist durch ihre Präsenz – die „Erde in ihnen“ – zugleich auch stetige Gegenwart. „Sie“ ­gruben in der Vergangenheit, doch das „Ich“ und das „Du“ und auch „der Wurm“ graben im Heutigen. Das Graben wird zu einer Tätigkeit des Gedenkens; durch die Monotonie der Rhythmik wird das Graben im Gedicht selbst unmittelbar aktualisiert und damit zu einem performativen Akt, der das Gedicht im Sinne Bollacks zu einer Gedenkstätte macht.64 Der abschließende Vers lässt die Vermutung einer Bibel-Referenz zu: Im 1. Buch Mose 41, 42 wird Joseph vom Pharao mit einem Ring und weiteren Kostbarkeiten beschenkt, da dieser in Joseph den Geist Gottes zu erblicken vermeinte: „Und er tat seinen Ring von seiner Hand und gab ihn Joseph an seine Hand und kleidete ihn mit kostbarer Leinwand und legte ihm eine goldene Kette um den Hals“65 – im Übrigen eine Geste, die wiederholt in Celans Gedicht verwendet wird, so auch in Ich hörte sagen 66 – und ernannte ihn zum „Landes Vater“67. Und Joseph sammelte die ganze Ernte der sieben Jahre, da Überfluß im Lande Ägypten war, und tat sie in die Städte. Was an Getreide auf dem Felde rings um jede Stadt wuchs, das tat er hinein. So schüttete Joseph das Getreide auf, über die Maßen viel wie Sand am Meer, so dass er aufhörte zu zählen; denn man konnte es nicht zählen.68

Die Erhebung Josephs durch seine Verbindung zu Gott hatte zur Folge, dass ihm der Ring am Finger erwachte und er Getreide anbaute und erntete, den Erdboden also bepflanzte. Der Gottesbezug des Ich im Gedicht Es war Erde in ihnen ist durch die präzise Nennung Gottes im 4. Vers auch ohne die Kenntnis dieser alttestamentarischen Bibelstelle offensicht­lich. Doch über diesen 64 Vgl. auch Jan-Heiner Tück, der sich in seiner Monografie d ­ iesem Gedicht von einer theolo­gischen Sichtweise her nähert: „Der Vorgang des Erinnerns wird näm­lich selbst als Graben beschrieben“. Tück, Jan-Heiner: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans ­Dichtung – eine theolo­gische Provokation. Frankfurt am Main 2000, S. 51. 65 Eine Zitation d ­ ieses bib­lischen Ereignisses in Es war Erde in ihnen wird aufgrund der mannigfachen Parallelen wahrschein­lich. Der „Geist Gottes“ wandelt sich bei Celan jedoch in Erde. Zur Erkenntnis, dass Gott in Joseph ist, siehe 1. Buch Mose 41, 38 – 39: „Und der Pharao sprach zu seinen Großen: Wie könnten wir einen Mann finden, in dem der Geist Gottes ist wie in ­diesem? Und er sprach zu Joseph: Weil dir Gott dies alles kundgetan hat, ist keiner so verständig und weise wie du“. 66 Celan: GW I, S. 85. 67 1. Buch Mose, 41, 43. 68 1. Buch Mose 41, 48 – 49.

Franz Kafkas In der Strafkolonie und die Gedichte Paul Celans

mög­lichen Bibelbezug hinaus ist die Gabe des Rings eine rituell-symbo­lische Form der Liminalität. Die Schwelle, die von einer Entwicklungs- oder Identitätsstufe in die nächste führt, wird dabei meist musika­lisch oder tänzerisch vom Kollektiv untermalt.69 Die hier aufgeführten Referenzen im Gedicht Celans können jedoch nur die Richtung angeben, in die das Gedicht uns und die Grabenden, Ich und Du eingeschlossen, führt. Die Anwesenheit Gottes im Menschen, die im 1. Buch Mose in der Figur des Joseph zu erkennen ist, erfährt im Gedicht eine Umkehr – hier ist es nicht Gott, der den Grabenden innewohnt, in ihnen ist Erde. Sie sind bereits Teil des Erdbodens, doch sie graben beständig weiter – sie graben sich etwas zu und die Suche nach dem Ende dessen erscheint hoffnungslos. Wenn wir die Tätigkeit als rituelle Handlung definieren, die in der Definition Turners einen Übergang von einem Dasein zum nächsten markiert, so ist es ledig­lich die rituelle Handlung, die erfassbar ist. Das nächste Dasein ist unerreichbar, erreichbar ist nur die Schwelle. Diese Vorstellung von Ewigkeit stellt eine totale Abkehr von einer theolo­gisch motivierten Sichtweise dar. Die Tätigkeit des Grabens hat nur sich selbst zur Zielsetzung. Das Motiv der Schwelle übernimmt den ganzen Raum des Gedichts. Das unmittelbar auf Es war Erde in ihnen folgende Gedicht nimmt diese Tragik erneut auf, setzt jedoch das Wort und das Schreiben in ihren Kontext: DAS WORT VOM ZUR-TIEFE-GEHEN, das wir gelesen haben. Die Jahre, die Worte seither. Wir sind es noch immer.

Weißt du, der Raum ist unend­lich, weißt du, du brauchst nicht zu fliegen, weißt du, was sich in dein Aug schrieb, vertieft uns die Tiefe.70

Und auch hier scheint eine Bibelstelle wichtig zu sein, um den Bogen des Kreatür­lichen, des Wundenspiegels und der Wundschreibung – auch in Bezug auf Kafka – zu verstehen: „Das Wort“ rekurriert auf das Johannes-Evangelium des Neuen Testaments: „Im Anfang war das Wort“71. Der vierte Vers bei Celan,

69 Vgl. erneut die Ritualtheorie Turners. 70 Celan: GW I, S. 212. 71 Johannes 1, 1.

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„Wir sind es noch immer“, könnte ebenso in d ­ iesem Zusammenhang gele72 sen werden als „Und das Wort ward Fleisch“ . Die Verbindung des Wortes, des Namens mit dem Kreatür­lichen oder Materiellen in Form von Fleisch ist sowohl bei Kafka als auch bei Celan eine zentrale Problematik. In Celans Poetologie tritt die ‚Verortung‘ hinzu, die Räum­lichkeit. Celans Räume sind Schrift und zugleich Irrwege wie auch Gedenkorte. Spuren, die ein Gedenken ermög­lichen. Es gibt eine fast ‚evolutiv‘ zu nennende Verbindung zwischen dem Wort, das den Raum bestimmt und als eine Schwelle zu charakteri­sieren ist, und dem Ich. VI Die Kreatur als Monument

Sowohl in Kafkas Text als auch in Celans Poetologie erscheint der Mensch als Kreatür­liches und in d ­ iesem Sinne naturgemäß Sündhaftes. Dies ist ein wesent­ licher Bestandteil der hier vorliegenden Erinnerungskonzeptionen. Franz Kafka lässt seine Menschen der Strafkolonie zu fleischgewordenen Gedenkstätten ­werden, Celan setzt den Menschen in ein Gelände aus Worten – in eine Un-Zeit, an einen Un-Ort: auf die Schwelle. In beiden Fällen ist jedoch die Leerstelle zentral, die die eigent­liche Unerreichbarkeit des (scheinbaren) Ideals der materialen Repräsentation der Erinnerung schlussfolgert: Kafkas Erinnerungsort – also der mensch­liche Körper 73 – zerfällt eben aufgrund seiner Kreatür­lichkeit, die Epiphanie im Sterbeprozess entpuppt sich als Scheinepiphanie, die nur subjektiv von dem Offizier wahrgenommen wird und also nicht als Tatsache, sondern ledig­lich als Zuschreibung existiert. Paul Celan konzipiert einen Raum der Erinnerung, welcher stets vom Zerfall bedroht zu sein scheint, da er sich quasi in einem dimensionalen Riss befindet – in der Zeitenschrunde auf der Schwelle. Ein Themenkomplex, der im ­Meridian mit dem „Schon-nicht-mehr“ und „Immer-noch“74 des Gedichts seine

72 Johannes 1, 14. 73 Auf die Strafkolonie mit ihrem Apparat als Erinnerungsort für die alte Kommandantur wurde bereits hingewiesen; dieser Themenkomplex ist an dieser Stelle jedoch nicht wesent­lich und ist folg­lich nicht weiter Teil der Betrachtung. 74 Die betreffende Textstelle lautet: „Gewiß, das Gedicht […] zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen. Es behauptet sich […] am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schonnicht-mehr in sein Immer-noch zurück. […] Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatür­lichkeit spricht“. (Celan: GW III, S. 197.)

Franz Kafkas In der Strafkolonie und die Gedichte Paul Celans

Entsprechung findet. Das zu Erinnernde ist nur durch seine Einverleibung als Schrift und/oder als Raum in den hiesigen Konzepten denkbar; bei Kafka ist es eine unlesbare Schrift, die nicht erst auf, sondern in dem Körper selbst ihren Sinn entfaltet und erinnert werden soll; bei Celan ist es die Raumwerdung der Schrift, wie in den ersten Zeilen der Engführung konstatiert, die gleichzeitig das zu Erinnernde und den zu Erinnernden beheimatet. Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man d ­ iesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeß­lichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt? […] Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, w e h z u t u n , bleibt im Gedächtnis.75

Dieser vielzitierte Satz Nietzsches betrifft die Mnemotechnik des Folterns in der Strafkolonie Kafkas wie auch die Einfügung des Menschen in das Celan‘sche Erinnerungsgelände des Gedichts – ­dieses Erinnerungsgelände der ­Ermordeten und Verscharrten. Das Paradoxon ­dieses Themengefüges besteht – neben der bereits konstatierten Gefahr des Zerfalls des zu Erinnernden – in der Identitätsproblematik: Es sind gerade die Namenlosen, derer gedacht werden soll (Celan) oder die das Gebot des zu Gedenkenden auf ihren Körpern tragen (Kafka). Es ist im Hinblick darauf folgerichtig, von einer Existenzialität in dem Versuch einer Materialisierung von Erinnerung zu sprechen, da diese Materialisierung in den Texten über Existenz entscheidet und die Materialisierbarkeit zugleich hinterfragt.

75 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Mit einem Nachwort von Alfred Baeumler. Stuttgart 1976, S. 289.

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Grenzerfahrungen der Identität

Dimensionen des Erinnerns im Dramenwerk Friedrich Schillers Der in Schillers Kallias-Briefen (1793) entwickelte Schönheitsbegriff 1 bietet die Grundlage für die freie Selbstbestimmung des Menschen in seiner sinn­lichgeistigen Identität. Doch deren theoretische Fundierung dient im eigent­lichen Sinne als Maßstab, der in Konfrontation mit dem Empirischen auf Widerstand stößt. Bereits in den Räubern (1781) wird diese doppelte anthropolo­gische Kons­ titution in ihrer egoistisch-materialistischen und übertrieben idealis­tischen Extremform präsentiert, die von Goethe als Produkt eines zwar „kraftvollen, aber unreifen Talents“ getadelt wurde. Schließ­lich hatte Schiller damit die „ethischen und theatra­lischen Paradoxen“, von denen er sich zu befreien suchte, „im vollen hinreichenden Strome über das Vaterland ausgegossen.“2 Diese Problematisierung der Verwirk­lichung eines mit seinen Grundtrieben versöhnten Menschen wird in der Ästhetischen Erziehung des Menschen (1795) angesichts der wachsenden Fremdbestimmung des Individuums in einer problematischen Kultur vertieft, die durch eine meist zu starke Betonung der Rationalität ein Ungleichgewicht zwischen Kopf und Herz verursacht.3 Hans Fegers Beobachtungen zufolge tragen auch die Aufstände der Franzö­sischen Revolution und die daraus entstandene Unmög­lichkeit einer teleolo­gischen Konzeption der Weltgeschichte zum Identitätsverlust bei, was in die Forderung nach einer Neubestimmung von Subjektivität um 1800 mündet.4 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Kunst trotz erschwerter Bestimmung des Subjekts eine schöpferische Rolle zukommt. Durch ihre

1 Schiller an Körner, 25. 1. 1793. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Briefwechsel 1790 – 1794. Band 26. Hrsg. v. Edith und Horst Nahler. Weimar 1992, S. 176. 2 Goethe, Johann Wolfgang: Glück­liches Ereignis. In: Goethe. Werke. Vermischte ­Schriften. Band 6. Ausgewählt von Emil Staiger. Frankfurt am Main 1965, S. 169. 3 Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. NA . Philosophische Schriften. Band 20. 1. Teil. Hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 332. 4 Feger, Hans: Vorwort. In: Die Realität der Idealisten. Friedrich Schiller. Wilhelm von Humboldt. Alexander von Humboldt. Hrsg. v. Hans Feger und Richard Brittnacher. Köln 2008. S. 7 – 11, hier S. 7.

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Thematisierung des Erinnerns erscheint sie einerseits als Spiegelbild einer begrenzten Subjektivität. Andererseits wird sie zum Medium der sentimen­ ta­lischen Moderne, indem sie den Identitätsverlust als solchen reflektierbar macht und durch das Aufzeigen mög­licher neuer Formen Identität gleich­zeitig wieder­herstellt. Anhand einiger Auszüge aus Schillers Dramenwerk lassen sich vier Dimensionen des Erinnerns herauskristallisieren, die in unterschied­ licher Art und Weise mit der Identitätsproblematik umgehen. Die raum-zeit­ liche Dimension (I) zeigt die Zerstörung zwischenmensch­licher Beziehungen und Wertvorstellungen durch machtpolitische Interessen. Identitätserfahrung durch gegenseitige Liebe kann noch in der schmerzhaften Erinnerung als vollkommen präsentiert werden. In der individuellen Dimension (II) gelangt die Erinnerungsthematik in den Bereich der Identitätsverdrängung, wodurch eine Aufwertung des Traums, der Rolle des Geschlecht­lichen und des Tabubruchs als fiktionalisierende Momente des Kunstwerks zu beobachten ist. Hier äußert sich der psycholo­gische Scharfblick des Autors nicht nur in der S­ prache s­ eines Frühwerks, sondern auch in den späten Dramen, durch die eine ele­gische Dimension (III ) sichtbar wird, in der das Sinn­lich-Elementare ins Geistige sublimiert erscheint. Die Klage über den Verlust der Identität wird zum Ausgangspunkt ihrer Neukonstitution durch sentimenta­lische Kunst, die diese Paradoxie mit einer scheinbaren Identitätszerstörung, die Voraussetzung für die Begründung neuer Kunstformen sein soll, auf die Spitze treibt. In der experimentellen Dimension (IV) ist Erinnerung eine Kategorie des Dramas. Als ‚gescheiterte Wiedererinnerung‘ und ‚trügerische Anamnesis‘ begründet sie poetolo­gische Elemente der Erneuerung einer traditionellen Gattung. I

Im Wallenstein (1799) verdeut­licht Schiller die Zerstörung zwischenmensch­ licher Beziehungen und Wertvorstellungen. Dies zeigt insbesondere die Liebes­ tragödie zwischen Max und Thekla. Während Wallenstein durch die Beobachtung der Sternkonstellation versucht, seine machtpolitischen Interessen in ein günstiges Licht zu rücken, bekräftigt der astrolo­gische Diskurs für Max die Vorstellung eines Idealstaats 5, die von der Hoffnung vom Ende des Kriegs 5 Dieser Gedanke beruht auf der Forderung, die Eigenheit des Individuums mit dem Staat vereinen zu wollen; eine Vorstellung, die auf die Staatsideen Rousseaus zurückgeht und die Schiller u. a. durch die Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Gedanken Wilhelm von Humboldts kennengelernt hat. Diese sind von nachhaltigem Einfluss auf Schillers Kulturtheorie der Ästhetischen Erziehung des Menschen. (Mueller-Vollmer, Kurt: Humboldts Bildungspolitik und die Franzö­sische Revolution. In: Diskursanalysen.

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getragen wird, und damit an den Glauben an eine harmonische Koexistenz von Individuum und Staat geknüpft ist.6 Diese Idee wird für Max durch den Sieg der Venus über das kriegerische Marszeitalter 7 allegorisch versinnbild­licht. Obwohl Wallenstein an der, wie er glaubt, für ihn vorteilhaften Konstellation der Sterne festhält, die später seinen Untergang herbeiführt, wird das von ihm beschworene Recht auf politische Macht zunächst bestätigt. Die Durchsetzung der Ambitionen ­Wallensteins hat sowohl die Zerstörung der Liebe zwischen Max und Thekla als auch die schmerzhafte Erfahrung für Max zur Folge, dass seine Hoffnungen auf das Venuszeitalter, die bereits Bestandteil einer „heiteren Welt der Wunder“8 seiner Kinderzeit waren, nun als schmerzhafte Illusion wieder an diesen Ort der Erinnerung verbannt werden müssen. Die Vorstellung von einer Liebesbeziehung, nach der Körper und Geist, Pflicht und Neigung ausgeg­lichen sind, wird für Max zunächst durch die väter­liche Autorität des idealen Herrschers Wallenstein gewährleistet. Max erkennt noch nicht, dass er seine Neigung, die Liebe zu Thekla, für die Pflicht, die Gehorsamkeit gegenüber dem Herzog, aufopfern muss. Während Max seine schwärmerische Friedens­ utopie 9 zuerst noch als eine in der Kindheit entstandene Wunschvorstellung akzeptiert, wird sie später als illusorische Selbstprojektion des Ich vernichtet. Dies zeigt sich deut­lich im Gegensatz zwischen der Wunschprojektion und dem ernüchternden Standpunkt Theklas, was sprach­lich im folgenden Zitat durch den Einsatz des Gedankenstrichs 10 als Bruchstelle zwischen Realität und Illusion markiert wird:

Institution Universität. Hrsg. v. Friedrich A. Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber. Opladen 1990. S. 63 – 81, hier S. 65.) 6 Benjamin Marius Schmidt sieht in der Liebestragödie von Max und Thekla eine „Negativ­ kopie“ des Shakespeare‘schen Dramas Romeo und Julia, das das „Zerbrechen von uto­ pischem Traum und der Realität der modernen Krise“ verdeut­licht. (Schmidt, Benjamin Marius: Denker ohne Gott und Vater. Schiller, Schlegel und der Entwurf von Modernität in den 1790ern. Stuttgart 2001, S. 56.) 7 Schiller, Friedrich: Die Piccolomini. In: Schillers Werke. NA. Wallenstein. Band 8. Hrsg. v. Hermann Schneider und Lieselotte Blumenthal. Weimar 1949, III/4, S. 125. 8 Ebd., I/4, S. 124. 9 Rolf-Peter Janz deutet Max als „Schwärmer, der vom zeitenthobenen Glück phantasiert und jeden Realitätskontakt verliert.“ (Janz, Rolf-Peter: Affektmodellierung nach antiken Vorbildern? In: Schiller und die Antike. Hrsg. v. Paolo Chiarini und Walter Hinderer. Würzburg 2008. S. 195 – 207, hier S. 198.) 10 Der Gedankenstrich kann als sprach­liches Mittel gedeutet werden, das zwischen konven­ tioneller Sprache und uneigent­lichem Sprechen vermittelt. Dadurch wird das Kunstwerk auch zum Ausdruck der Einbildungskraft. An dieser Stelle ist auf Schillers Distichon Sprache zu verweisen, das er im Musenalmanach auf das Jahr 1797 veröffent­licht hat:

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MAX. Ich werfe mich zu deines Vaters Füßen, Er soll mein Glück entscheiden, er ist wahrhaft, Ist unverstellt und haßt die krummen Wege, Er ist so gut, so edel – 11 THEKLA. Das bist du!

Auch die Liebe zwischen Max und Thekla ist nur in der Erinnerung verankert, was eine Eliminierung ihrer Präsenz aus dem raumzeit­lichen Gefüge der gesellschaft­lichen Existenz zur Folge hat. Thekla sieht, dass ihre Liebe zu Max nicht mit der Sitte vereinbar ist. Sie bleibt eine schmerzhafte Erinnerung, weil sie gegenwärtig und zukünftig nicht mehr gelebt werden kann. Dies verdeut­licht Schiller sprach­lich durch die Gegenüberstellung der gegenwärtig entleerten Welt mit der als vergangen erfahrenen Liebe. Durch das Bild des „gestorbenen Herzens“ lässt er Thekla die zwischenmensch­liche Liebe als vollendeten Zustand zelebrieren, was in ihren Worten durch die Wiederholung, „Ich habe genossen… […] – Ich habe gelebet und geliebet“, ausgedrückt wird: „Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! / Spricht die Seele so spricht ach! Schon die Seele nicht mehr.“ (Schiller, Friedrich: Sprache. In: Schillers Werke. NA. Gedichte 1776 – 1799. Band 1. Hrsg. v. Julius Petersen und Friedrich ­Beißner. Weimar 1943, S. 302.) Die Aufwertung des Sprachlosen als Ausdruck see­lischer Vorgänge kann in enger Verbindung mit der Auffassung Wilhelm von Humboldts verstan­den werden, wie es die Untersuchungen Peter Schmitters ergeben haben, dass das Kunstwerk nicht mehr nur ein „Zeichen“ der Wirk­lichkeitsnachahmung ist, sondern vielmehr auch ein Werk, für das die Einbildungskraft „konstitutiv“ ist. (Schmitter, Peter: Ein transsemiotisches Modell. Wilhelm von Humboldts Auffassung von Kunst und S­ prache. In: Rekonstruktion und Interpretation. Problemgeschicht­liche Studien zur Sprach­ theorie von Ockham bis Humboldt. Hrsg. v. Klaus D. Dutz und Ludger ­Kaczmarek. Tübingen 1985. S. 311 – 334, hier S. 319.) Humboldts Wallenstein-Brief bildet in dieser Hinsicht den Ausgangspunkt für seine sprachphilosophischen Studien, die die Sprache als Ausdruck der schöpferischen Einbildungskraft gegenüber der Ansicht der Sprache als rationales Zeichensystem aufwerten. (Humboldt an Schiller, September 1800. In: Schillers Werke. NA. Briefe an Schiller 1798 – 1800. Band 38. 1. Teil. Hrsg. v. Lieselotte ­Blumenthal. Weimar 1975, S. 335.) Durch die Hervorhebung der Einbildungskraft erhält auch das Kunstwerk, durch das sich der Künstler sprach­lich ausdrückt, einen besonderen Stellenwert, weshalb von einer Überwindung der Kunstauffassung der Aufklärung gesprochen werden kann, nach der das Kunstwerk als Ausdruck sukzessiver ­­Zeichen nur an den Verstand appelliert. (Feger, Hans: Die Realität der Idealisten. Ästhetik und Naturerfahrung bei Schiller und den Brüdern von Humboldt. In: Die Realität der Idea­ listen. S. 15 – 34, hier S. 25.) 11 Schiller: Die Piccolomini. NA. Band 8. I/4, S. 79.

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Das Herz ist gestorben, die Welt ist leer, Und weiter gibt sie dem Wunsche nichts mehr. Du Heilige, rufe dein Kind zurück, Ich habe genossen das irdische Glück, Ich habe gelebet und geliebet.12

Die Liebe erscheint als irreales Bild, das zunächst noch als Wunschvorstellung in eine mög­liche Zukunft projiziert werden kann, wenn es heißt: „Uns trennt das Schicksal, unsere Herzen bleiben eins.“13 Der Liebe als „dem einzig reine[n] Ort“14 wird zunächst ein Raum in der Vorstellung zugeteilt, der dann durch die Trennung der Liebenden im Tod zerstört wird. Durch die Aufhebung der Erfahrung der Liebe löscht Schiller die Erinnerung an das Gefühl aus seinem raumzeit­lichen Kontinuum, indem er Thekla bekennen lässt: „Es ist nur ein Ort in der Welt! / Wo er bestattet liegt, zu seinem Sarge.“15 In dieser Hinsicht kann der sich auf Willkür und Machtinteresse stützende Herrschaftsanspruch Wallensteins als ein Pendant zur Liebe zwischen Max und Thekla betrachtet werden, der jetzt im Gegensatz zu ihr Raum gewinnt. Während die Liebe noch ein reines, aufrichtiges Gefühl darstellt, gesteht Wallenstein, sein Machtanspruch basiere auf Betrug, der „Diensten“ zu verdanken sei, „die Verbrechen sind.“16 Diese Willkür kann als Ideologie der verkehrten Welt verstanden werden, in der die Rechtschaffenheit mensch­licher Wertvorstellungen keinen Platz mehr hat. Die sich durch verbrecherische Mittel erkaufte Macht muss um den Preis der Sitt­lichkeit aufrechterhalten werden, was nur durch Widerstand zur herrschenden Ordnung erzwungen werden kann. Die Liebe wird nun durch die Gewalt ersetzt, die als Ausdruck „eifersüchtiger Schicksals Mächte“17 personifiziert und damit als Mittel der Handlungen gerechtfertigt wird. Dies verdeut­licht auch die Folgerung der Gräfin: Ei nun! Der Herzog ist dann eben auch Der neuen Menschen einer, die der Krieg Emporgebracht; ein übermächtiges Geschöpf der Hofgunst, die mit gleichem Aufwand Freiherrn und Fürsten macht.18

12 Ebd., III/7, S. 130. 13 Schiller: Wallensteins Tod. NA. Band 8. III/21, S. 280. 14 Ebd., II/7, S. 227. 15 Ebd., IV/11, S. 314. 16 Ebd., I/7, S. 201. 17 Ebd., S. 203. 18 Ebd., S.198.

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Sicher spricht diese Aussage der Gräfin nicht nur für eine Kritik Schillers an der Franzö­sischen Revolution  19, sondern auch für die sich immer stärker bemerkbar machende Absage an ein auf Gerechtigkeit beruhendes Geschichtsverständnis.20 II

Zweifelsohne kann Schillers Schrift Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) als ein Dokument der Auseinandersetzung sowohl mit dem Rationalismus des Carte­sischen Weltbilds gesehen werden, das eine Wechselwirkung von materieller und geistiger Existenz nicht zu begründen vermag, als auch mit dem Franzö­sischen Materialismus eines Julien Offray de Lamettrie, der die Abhängigkeit des Geistes von der Materie behauptet.21 Schillers Schrift überwindet den Standpunkt René Descartes‘, der davon ausgeht, dass der Geist nicht durch körper­liche Lebensformen beeinflussbar ist. In dieser Hinsicht sind unbewusste Seelenvorgänge noch nicht von tragender Bedeutung, wie sie zum Beispiel durch die Erfahrungsseelenkunde 22 eines Karl Philipp Moritz an Gewicht bekommen, mit 19 Dumont, Franz: „Freiheit und Gleichheit hört man schallen.“ Schiller und die Franzö­ sische Revolution. Ein historischer Essay. In: Götterfunken. Friedrich Schiller zwischen Antike und Moderne. Begegnungen mit Schiller Band 2. Hrsg. v. Siegrid Düll. Hildesheim 2007. S. 7 – 32, hier S. 25. 20 Hofmann, Michael: Die unaufhebbare Ambivalenz historischer Praxis und die Poetik des Erhabenen in Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999). S. 241 – 265. Zum Geschichtspessimismus bei Schiller siehe: Lämmert, Eberhard: Schillers Demetrius und die Grenzen poetischer Gerechtigkeit. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2006. S. 17 – 31, hier S. 29. 21 Schillers medizinische Schriften können als Erweiterung der Anthropologie, insbesondere der spekulativen und materialistischen Ärztewissenschaft des 18. Jahrhunderts, betrachtet werden. Hierauf hat bereits Walter Hinderer verwiesen. Er betont, dass Schiller sowohl den „influxus corporis“, der gemäß des Franzö­sischen Materialismus die vollständige Abhängigkeit der Seele vom Körper behauptet, als auch den bloßen „influxus animae“ des Animismus oder Spiritualismus überwinde, der die alleinige Herrschaft des Geistes über den Körper vertritt. Schiller beabsichtigt, beide Positionen durch den Begriff der „Mittelkraft“ zu synthetisieren, ein Zustand, der der postulierten Synthese von Selbsterhaltungs- und Formtrieb in der Ästhetischen Erziehung des Menschen entspricht. (Hinderer, Walter: Schiller und kein Ende. Metamorphosen und kreative Aneignungen. Würzburg 2009, S. 387.) 22 Karl Philipp Moritz. Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hrsg. v. Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt am Main 2006. Bezüg­lich der Frage nach dem Verhältnis der phy­sischen zur see­lisch-geistigen Natur des Menschen im 18. Jahrhundert

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der Schiller bereits in der Karlsschulzeit durch seinen Lehrer Jacob F ­ riedrich Abel in Kontakt kam. Die Schiller‘sche Schrift wertet das Unbewusste 23 und die Rolle des Traums auf, durch die die mensch­liche Denkkraft sehr wohl beeinflusst werden kann. In dieser Hinsicht erzeugt der Schlaf nicht nur betont die Forschung eine Verlagerung des Gegenstands von der spekulativen Philosophie in die Erfahrungswissenschaften. Hierfür markiert Wolfgang Riedel in dem Kommentar zur Münchener Schillerausgabe die Bedeutung der Schriften Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1792) sowie Johann Gottlieb Krügers Versuch einer Experimental-­ Seelenlehre (1756). (Riedel, Wolfgang: Kommentar zu Schillers Karlsschulschriften. In: Friedrich Schiller. Sämt­liche Werke. Erzählungen und Theoretische Schriften. Band 5. Hrsg. v. Wolfgang Riedel. München 2004. S. 1168 – 1181, hier S. 1168.) In d ­ iesem Zusammenhang wird die Betonung der Nerven als Grundlage der Verbindung des leib-see­lischen Zusammenhangs als besondere Errungenschaft Schillers betrachtet und auf wichtige Schriften verwiesen, die auf Schiller in seiner Karlsschulzeit gewirkt haben, wie z. B. Jacob Friedrich Abels Abhandlungen De origine characteris animi (1776) und De phaenomenis sympathie in corpore animali conspicuis (1779). (Ebd., S. 1169.) 23 Obwohl bereits Freuds Reminiszenzen an Schiller nachgewiesen wurden, kann man bei Schiller noch nicht von dem Begriff des Unbewussten sprechen, wie er bei Siegmund Freud wiederzufinden ist. (Weissberg, Liliane: Freuds Schiller. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. S. 421 – 434. Freud, Siegmund: Der Dichter und das Phantasieren. In: Schriften zur Kunst und Kultur. Hrsg. v. Oliver Jahraus. Stuttgart 2012. S. 101 – 112.) Vielmehr wird die Einbildungskraft als Ursache für das Entwerfen der Traumbilder betrachtet. (Riedel, Wolfgang: Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz Moor. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993). S. 198 – 220.) Laut Forschung ist der Begriff der Einbildungskraft bereits ein Versuch, die rationalen und see­lischen Kräfte begriff­lich zu integrieren, wie er z. B. von Johann Gottfried Herders Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der mensch­lichen Seele (1778) angestrebt wird. (Herder, Johann Gottfried: Vom Erkennen und Empfinden der mensch­lichen Seele. In: Ders.: Werke. Herder und die Anthropologie der Aufklärung Band 2. Hrsg. v. Wolfgang Pross. München 1987, S. 664 – 723.) Die neuere Forschung, wie z. B. die Harald Neumeyers, betont die Verlagerung der noch stärker vom Bewusstsein geleiteten Imagination in ein Unbewusstes im 18. Jahrhundert, die mit Johann Georg Sulzer angesetzt wird. Bedeutend ist Neumeyers Feststellung, dass das Hervorrufen innersee­lischer Bilder durch den Traum bei Schiller auch sprach­lich zum Ausdruck gelangt. Die rationale Sprache ist durch die Vergegenwärtigung der Traumereignisse gefärbt und bekräftigt die in Anmerkung 10 betonte Auffassung einer Sprache der Seele sowie Ansätze zu einer Ästhetik der Nerven, wie sie z. B. von Caroline Welshs Untersuchungen zur Literatur der Klassik und Romantik hervorgehoben werden. (Neumeyer, Harald: Traum-Literatur um 1800. Körperreize, Psychenbilder und die Macht des Wortes. In: Leib/Seele. Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900. Hrsg. v. Markus Dauss und Ralf ­Haekel. Würzburg 2009. S. 59 – 80; Welsh, Caroline: „Töne sind Tasten höherer Sayten in uns“. Denkfiguren des Übergangs zwischen Körper und Seele. In: Romantische Wissens­ poetik: Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004. S. 73 – 90.)

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eine „Harmonie der Seelenwirkungen“24, durch die sich „die Lebensgeister wiede­rum in jenes heilsame Gleichgewicht“25 ordnen, sondern kann auch das Unbewusste, „das ganze System der mora­lischen Empfindungen, in Unordnung bringen.“26 Damit zeigt sich der Traum als eine Dimension, durch die zum Beispiel ein Vergehen gegen die mora­lische Instanz des Bewusstseins oder auch gegen den eigenen körper­lichen Selbsterhaltungstrieb, entweder in Form einer Vorausempfindung „dunkler Ahndungen“27 oder im Sinne einer Erinnerung an vergangene und verdrängte Zustände, veranschau­licht werden kann. Das Unbewusste ist demnach ein Teil des ‚ganzen‘ Menschen, das ihn durch den Traum als fiktionalisierendes Medium des Kunstwerks 28 in seiner sinn­lich-geistigen Einheit wiederherstellt. In Schillers genannter Schrift werden see­lisch-geistige Schmerzen, die oft aus einem tiefen emotionalen Leiden entstehen, in ihrer körper­lichen Manifestation mit dem Zustand einer Krankheit 29 verg­lichen: „Furcht, Unruh, Gewissensangst, Verzweiflung wirken nicht viel weniger als die hitzigsten

24 Schiller, Friedrich: Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des ­Menschen mit seiner geistigen. NA. Band 20. 1. Teil, S. 74. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 65. 27 Ebd. 28 An dieser Stelle lässt sich die Wirkung der Empirischen Psychologie auf das Kunstwerk markieren. Im Hinblick auf den Einfluss der Empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts auf Schiller betont Wolfgang Riedel eine Abkehr der Wissenschaft vom ­Primat der spekulativen Vernunft. Vielmehr werde die Diskrepanz zwischen Ratio und Empfindung hervorgehoben, wobei die Dimension des Gefühls in ihrem Einfluss auf das Geistige immer stärker in den Vordergrund gelange. Riedel setzt hierin eine Hinwendung der Empirischen Psychologie zur Ästhetik an. (Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 217.) Dadurch erhält das Kunstwerk Gewicht als Ausdruck des Unbewussten und Nichtbegriff­lichen. Walter Hinderer betont die Überwindung der ästhetischen Positionen Christian Wolffs und Alexander Gottlieb Baumgartens durch Schiller, die sich bereits bei Sulzer durch die Aufwertung der empirischen Seelenkunde abzeichne und sowohl auf Schillers Jugendschriften als auch auf die Ästhetische Erziehung des Menschen gewirkt habe. Während Wolffs und Baumgartens Ästhetiken noch von dem Gedanken der Vorherrschaft der Vernunft gegenüber dem Empfinden geleitet werden, betont Schiller die Wechselseitigkeit von Sinn­lichkeit und Ratio, und deutet damit die Empfindung als eine der Vernunft analoge Instanz. (Hinderer: Schiller und kein Ende, S. 191.) 29 Schuller, Marianne: Körper. Fieber. Räuber. Medizinischer Diskurs und literarische Figur beim jungen Schiller. In: Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift von Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Wolfgang Groddeck und Ulrich Stadler. Berlin/New York 1994. S. 153 – 168.

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Fieber.“30 Indem Schiller Bezug auf sein Drama Die Räuber nimmt, inszeniert er, wie das „Integralbild des Traums“31 die geistige Ordnung erschüttert. Diese see­lischen „Konvulsionen“32 äußern sich im mensch­lichen „Nervengebäude“33, das als Verbindung zwischen Körper und Seele fungiert, indem es die see­lischen Zustände sichtbar werden lässt. Solche „allzuverworrenen Sensationen“34 können den Gang der Vernunft einholen, indem sie sich durch den Traum manifestieren. Schiller zitiert eine markante Textstelle aus den Räubern, in der der von seinen Gewissensbissen gebeutelte Franz Moor auf seinen Traum reagiert: MOOR. Nein ich zittere nicht. Wars doch ledig ein Traum – Die Todten stehen noch nicht auf – Wer sagt, daß ich zittere Und bleich bin? Es ist mir ja so leicht, so wohl. BED.: Ihr seyd todesbleich, eure Stimme ist bang und lallend. MOOR. Ich habe das Fieber. BED.: Oh, ihr seyd ernst­lich krank. MOOR. Ja frei­lich, frei­lich, das ists alles; und Krankheit verstöhret das Gehirn und brütet tolle, wunder­liche Träume – Träume bedeuten nichts – Pfui, pfui der weib­lichen Feigheit! – Träume kommen aus dem Bauch, und Träume bedeuten nichts – Ich hatte soeben einen lustigen Traum – (Er sinkt ohnmächtig nieder)35

Der ironische Ton ist unverkennbar, da der Widerspruch zwischen der Verdrängung unangenehmer Empfindungen und der aufrechtzuerhaltenden äußeren Ordnung besteht. Das Franz Moor erschütternde Gewissen wird sehr deut­lich inszeniert. Die see­lische Schmerzempfindung Moors zeigt sich durch die Erschütterung der Nerven nicht nur im „bleichen“ und „zitternden“ Äußeren des Leidenden, sondern manifestiert sich auch als sprach­liches Ereignis, indem sie durch das „Lallen“ sogar das geordnete konventionelle Sprachgerüst außer Kraft setzt. Wird diese Seelenregung von Schiller mit dem Zustand einer Krankheit verg­lichen, betrachtet sie aber Franz Moor als 30 Schiller: Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen. NA. Band 20. 1. Teil, S. 60. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 62. 33 Ebd., S. 61. 34 Ebd., S. 60. 35 Ebd.

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Ausdruck einer Wahnvorstellung, der keinerlei Bedeutung beigemessen werden soll. Das „Fieber“ wird zur Metapher, durch die verdeut­licht wird, wie sich das durch den Traum nach außen bahnende Gewissen als bloßes Trugbild entschuldigen lässt. Dass der Traum jedoch eine tiefgründige Bedeutung erhält, zeigt Moors verzweifelter Versuch, die in ihm aufsteigenden Erinnerungen als „lustig“ und „feige“ zu relativieren, was letztend­lich zur völligen Ohnmacht des Bewusstseins führt. Dabei wird dieser Prozess sich im Träumen an die Oberfläche bahnender Emotionen als ein natür­licher, sich in der mensch­ lichen Seele ereignender Vorgang beschrieben, der eine erzieherisch-sitt­liche Verankerung erhält. Die im Traum projizierten „Bilder“36 konstituieren sich aus den „in den Jahren der Kindheit eingesaugten Strafgerichte[n]“37, die in Form eines wiedererinnerten Gewissens hervorgeholt werden. Durch den Traum als ein sich sinn­lich-phy­sisch manifestierendes traumatisches Ereignis erhält der gegen seine sitt­liche Natur verstoßende Bösewicht Franz Moor seine sinn­lich-geistige Identität als Individuum zurück. In Wallensteins Tod hat der Traum die Funktion als Vorausempfindung ‚dunkler Ahndungen‘. Die Bedeutung des Traums ist hier eng verwoben mit der schicksalhaften Verstrickung Wallensteins, die sich aus dem Dilemma ergibt, dem Trugbild Glauben zu schenken und an dem wahren Weg zu zweifeln. In dieser Hinsicht zeigt sich der Traum im Sinne eines Vorboten des Untergangs der herzog­lichen Macht als ein durchaus wegweisendes und verläss­liches Indiz, aber auch als Projektionsfläche individueller Machtvorstellungen, und deshalb als Trugbild. Der Traum der Gräfin spiegelt eine tiefe Wahrheit der Natur, die als Projektion innerpsychischer Empfindungen der Vorstellungskraft verstanden werden kann, die aber durch Wallenstein zu seinem Vorteil willkür­lich ausgelegt wird. Durch den Traum entwirft das Unbewusste mög­ liche Zustände, die Wallenstein aber in ihrer wegweisenden Bedeutung nicht zu erkennen vermag. Verblendet von seinen Machtvorstellungen versucht er, aus jeder „Vorbedeutung“38 einen Vorteil für sich zu ziehen. Deshalb zweifelt er auch nicht an dem ersten Traumbild der Gräfin, an das sich diese erinnert: „ – Ich sah dich gestern Nacht mit deiner ersten / Gemahlin, reich geputzt, zu Tische sitzen.“39 Daraufhin bekräftigt Wallenstein, dass dieser Traum als „erwünschte Vorbedeutung“40 und damit als Spiegelbild seiner Wunschvorstellungen gedeutet werden kann, erkennt aber nicht, dass dies nur Schein 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Schiller: Wallensteins Tod. NA. Band 8. V/3, S. 334. 39 Ebd. 40 Ebd.

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ist. Auch sieht er die warnende Stimme nicht, auf die die Gräfin im zweiten Traumbild hindeutet: Und heute träumte mir, ich suchte dich In deinem Zimmer auf – Wie ich hineintrat, So wars dein Zimmer nicht mehr, die Kartause Zu Gitschin wars, die du gestiftet hast, Und wo du willst, dass man dich hin begrabe.41

Auf ­dieses ernst zu nehmende Traumbild, das einen wahrschein­lichen Untergang des Herzogs vorwegnimmt, reagiert Wallenstein jedoch mit Zweifel. So wie Franz Moor seinen Traum als bloße Krankheit abwertet, möchte ihn ­Wallenstein als Wahnvorstellung der Gräfin verstanden wissen: WALLENSTEIN. Dein Geist ist nun einmal damit beschäftigt. GRÄFIN. Wie? Glaubst du nicht, daß eine Warnungsstimme In Träumen vorbedeutend zu uns spricht? WALLENSTEIN. Dergleichen Stimmen gibt’s – Es ist kein Zweifel! Doch Warnungsstimmen möchte ich sie nicht nennen, Die nur das Unvermeid­liche verkünden.42

Auch auf den letzten Traum, der in der Erinnerung der Gräfin zum sprach­ lichen Ereignis wird, reagiert Wallenstein kühl und realistisch: GRÄFIN. (in düstres Nachsinnen verloren) Es wollte gar nicht enden – Türen schlugen Zusammen, krachend – keuchend folgt ich, konnte Dich nicht erreichen – plötz­lich fühlt ich mich Von hinten angefaßt mit kalter Hand, Du warsts, und küßtest mich, und über uns Schien eine rote Decke sich zu legen – 43 WALLENSTEIN. Das ist der rote Teppich meines Zimmers.

Auffällig ist die Eindring­lichkeit, in der das Traumbild zur Sprache gelangt. Sie wird durch die in Wallensteins Bemerkung vollzogene Wendung der zeit­lichen Dimension von der Vergangenheit in die Gegenwart, den Einsatz

41 Ebd., S. 335. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 336.

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der Partizipien „krachend“ und „keuchend“ sowie die Wendung „plötz­lich“ hervorgehoben. Auch hier vergegenwärtigt der Gedankenstrich den beschriebenen Zustand und lässt diesen vor dem geistigen Auge des Lesers lebendig werden, wodurch dessen Vorstellungskraft im Sinne des Ausfüllens einer Leerstelle verfährt.44 In d ­ iesem Zusammenhang zeugt das hier beschriebene Traumbild von einer ganz eigenen Verwendung von Symbolen. Das durch den Traum verarbeitete Symbol der das Herzogspaar unter sich begrabenden „roten Decke“ wird in der bewussten Vorstellung Wallensteins „als roter ­Teppich des Zimmers“ von seiner auf den Untergang des Paares verweisenden Bedeutung entfernt und zum bloßen alltäg­lichen Gegenstand degradiert.45 Ein weiterer Kontext, in dem sich Erinnern abzeichnet, ist die in Schillers Ästhetischen Briefen an Bedeutung gewinnende Verbindung der mensch­lichen Trieb- und Geistnatur. Diese Harmonie von Pflicht und Neigung im Bild des ‚ganzen‘ Menschen wird bereits in Schillers Aufsatz Ueber Anmuth und Würde (1793) als Idealbild theoretisch begründet, wobei der Ausgleich von Vernunft und Sinn­lichkeit im Bezug auf die Geschlechterdifferenz definiert erscheint. Hiernach verbinden sich Rationalität und Empfinden im Weib­ lichen zur ‚schönen Seele‘, was sich in Anmut und Grazie äußert, während 44 Peter-André Alt hat einen in Schillers Dramen impliziten Leser oder hinter den ­Kulissen verborgenen Zuschauer, der durch sein Mehr-Wissen das Geschehen ergänzt, als sentimenta­lischen Leser bezeichnet. (Alt, Peter-André: Der sentimenta­lische Leser. Schillers Lektüren. In: Friedrich Schiller. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2005. S. 5 – 19. Siehe auch: Dieckmann, Friedrich: Schillers Theater. Über einen hinter den Kulissen verborgenen Autor. In: Theater der Zeit 60 (2005). S. 26 – 28.) 45 Das Symbolisieren wird als schöpferischer Prozess verstanden, der bei Schiller mit der Auffassung einer produktiven Einbildungskraft verbunden ist, deren Ursprung wohl in der Kantischen Bezeichnung des Symbo­lischen als „intuitive Vorstellungskraft“ anzusetzen ist, die als ein Mittel der reproduktiven Tätigkeit der Einbildungskraft dient. Die nach Schiller offensicht­lich werdende Verknüpfung von rezeptiver Erfassung und produktiver Verarbeitung eines Gegenstands wird bei Immanuel Kant als das Entwerfen eines Symbols mittels Analogiebildung bezeichnet, bei dem die Urteilskraft eine Entsprechung des Begriffs mit der sinn­lichen Anschauung sucht und diese gleichzeitig durch einen Anthropomorphismus dem subjektiven „Gemüthszustand“ anpasst. Der Gegenstand wird durch das Symbolisieren explizit zum Ausdruck der individuellen Verfassung des Subjekts. (Kant, Immanuel: Von der Schönheit als Symbol der Sitt­lichkeit. In: Immanuel Kant. Werke. Kritik der Urteilskraft Band 10. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. 20. Auflage. Frankfurt am Main 1974, S. 295.) In einem Brief an Goethe schreibt Schiller, dass seine beabsichtigte Ausarbeitung der Gedanken zum Symbo­lischen jedoch unausgereift blieb. (Schiller an Goethe, 29. 12. 1797. In: Schillers Werke. NA. Briefwechsel 1796 – 1798. Band 29. Hrsg. v. Norbert Oellers und Frithjof Stock. Weimar 1977, S. 179.)

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diese Harmonie im Ausdruck der Würde durch das Männ­liche repräsentiert wird.46 Diese Schrift zeugt durchaus von einer kritischen Auseinandersetzung Schillers mit der Kantischen Subjektivitätsphilosophie, wobei aber ­Schiller die Betonung des Anthropolo­gischen gegenüber der transzenden­ talen Ebene verstärkt.47 Anhand Walter Hinderers Untersuchungen zur Rolle der Verbindung der doppelten Seelenkräfte im 18. Jahrhundert lassen sich die beiden Schriften Schillers durchaus mit dem Diktum verbinden, dass der Geschlechtscharakter der mensch­lichen Natur von seiner rein biolo­gischen Fundierung entfernt und in das mensch­liche Innere transponiert wird.48 Die mensch­liche Triebnatur wird ins Geistige sublimiert und in ihrem Verhältnis zum Intellekt beleuchtet. Damit werden die Sinne und der Intellekt als gleichwertig miteinander verbundene Instanzen definiert, die sich aus einem Naturbegriff ableiten lassen, nach dem der Mensch zur Sitt­lichkeit und Humanität bestimmt ist, was er am ehesten dadurch erreicht, dass er nach einem Ausgleich seiner Gemütskräfte strebt. Eine ­solche Naturvorstellung scheint noch weit entfernt von der Ansicht einer dämonischen Natur zu sein, die sich durch die „Anarchie der Triebe“, „Sexualität“ und Gewalt auszeichnet, wie sie bei Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer zum Ausdruck kommt.49 Doch angesichts der sich im 18. Jahrhundert anbahnenden „Theodizee-­Krise“50 und der wohl auch durch die in Anbetracht des Scheiterns der mensch­lichen Ideale durch die Franzö­sische Revolution veranlassten Zweifel an einer vom Vernunftoptimismus getragenen Auffassung vom Gang der Weltgeschichte 51, die Schiller bereits in seinen Räubern verarbeitet hat, tritt die Forderung

46 Schiller: Ueber Anmuth und Würde. NA. Band 20. 1. Teil, S. 283. 47 Mari Mielityinen betont, „Schillers Fortschritt über Kants Ästhetik hinaus besteht in der genialen Idee, die Freiheit von der Transzendentalen Ebene auf die immanente zu verlagern…“ (Mielityinen, Mari: Der ‚schöne Mensch‘ oder das ästhetisierte Subjektverständnis. In: Ders.: Das Ästhetische in Schleiermachers Bildungstheorie. Theorie eines individuellen Weltbezuges unter Einbeziehung der Theorie des Ästhetischen bei Schiller. Würzburg 2009. S. 78 – 80, hier S. 80.) 48 Hinderer, Walter: Der Geschlechterdiskurs im 18. Jahrhundert und die Frauengestalten in Schillers Dramen. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2006. S. 261 – 285, hier S. 266. 49 Merlio, Gilbert: Schiller-Rezeption bei Nietzsche. In: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Hrsg. v. Georg Bollenbeck und Lothar Ehr­lich. Köln 2007. S. 191 – 213, hier S. 197. 50 Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1981, S. 47. 51 Ders.: Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse. Köln 1987, S. 200.

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nach einer Neubestimmung des mensch­lichen Subjekts in den Vordergrund, das sich sowohl den Kräften der Geschichte als auch seinem eigenen Kampf zwischen Triebhaftigkeit und Intellekt unterlegen zeigt. Diese Einsicht in die „Zerbrech­lichkeit“ der idealistischen „Identitätskonstruktion“52 des Menschen leitet einen Prozess in der Literatur ein, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts expliziter wird: die immer bedeutendere Thematisierung des „Leib­lichen“ und „Geschlecht­lichen“ als Ausdruck der mit den „Trieben und Mächten kämpfenden Natur.“53 Als Beispiel für diese Entwicklung dient Schillers Braut von Messina (1803), insbesondere die Passagen, in denen die im Kloster lebende, zur Tugend erzogene Beatrice über ihre Liebe zu Don Manuel nachdenkt. Die folgende Textstelle zeigt besonders den Konflikt zwischen mensch­licher Triebnatur und Vernunft. Man kann sie als Inszenierung eines Tabubruchs verstehen, die sprach­lichtextuell von der Struktur des Paradoxen getragen wird: BEATRICE. Wo waren die Sinne? Was hab ich getan? Ergriff mich bethörend Ein rasender Wahn? Den Schleier zerriss ich Jungfräu­licher Zucht, Die Pforten durchbrach ich der heiligen Zelle, Umstrickte mich blendend ein Zauber der Hölle? Dem Manne folgt ich, Dem kühnen Entführer in sträf­licher Flucht.54

Ins Auge fällt der Widerspruch zwischen Selbstbestrafung und der eindring­ lichen Darstellung des entfesselten sinn­lichen Triebs, der in Form der Erinnerung an einen vergangenen Zustand emotional veranschau­licht wird. Die Verse, in denen Leidenschaft suggerierende Begriffe wie „bethörend“, „zerriss“, „durchbrach“ verwendet werden, wechseln sich mit den Versen ab, in denen die Sinne als Sünde und „rasender Wahn“ verurteilt werden und durch die Mahnung an die „Jungfräu­liche Zucht“ versucht wird, die sitt­liche 52 Alt, Peter-André: Klas­sische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 12. 53 Marquard: Transzendentaler Idealismus, S. 205. 54 Schiller, Friedrich: Die Braut von Messina. In: Schillers Werke. NA . Die Braut von Messina. Wilhelm Tell. Die Huldigung der Künste. Band 10. Hrsg. v. Siegfried Seidel. Weimar 1980. V 1005 – 1014, S. 55.

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Ordnung wiederherzustellen. In dieser Inszenierung des Erinnerten als ein als unmora­lisch zu verdrängendes, triebhaft-sinn­liches Ereignis, offenbart sich aber gleichzeitig seine Unüberwindbarkeit als Teil der mensch­lichen Natur. Die Paradoxie des erinnerten Tabubruchs impliziert, dass Beatrices mora­lische Abwertung der geschlecht­lichen Liebe gerade deren Aufwertung durch ihre offensicht­lich positiv konnotierte Empfindung als „Zauber der Hölle“ zur Folge hat. Eine s­ olche Synthese gegensätz­licher Momente zeigt sich auch im Einsatz doppeldeutiger Metaphorik. So kann zum Beispiel die „sträf­liche Flucht“ als Ausdruck der Tätigung des Verbotenen verstanden werden, und der „Schleier“, ein Sinnbild marianischer Jungfräu­lichkeit und Unberührbarkeit, wird in seiner Verbindung mit dem „Zerreißen“ und „Durchbrechen“ der „Pforten der heiligen Zelle“ in einen Zusammenhang gebracht, der das Tugendhafte mit dem körper­lichen Liebesakt auf eine Ebene stellt. Die durch diese Erotisierung der Bild­lichkeit deut­lich werdende Entfesselung des Triebhaften kann als ein Beitrag Schillers zur gescheiterten Identitätsgestaltung des in einer problematischen Kultur lebenden Individuums gedeutet werden, die einen Ausgleich zwischen Trieb und Intellekt nicht mehr zulässt. Das Sinn­liche ist als ein dem Geist gleichwertiger Teil zu deuten. Eine Beschwörung des Sinn­lichen verweist zwar auf die Abhängigkeit des Menschen von demselben als Bestandteil seiner Natur, suggeriert jedoch noch nicht die völlige Ohnmacht des Einzelnen vor der Triebgewalt, wie sie im 19. Jahrhundert betont wird. III

Die wechselseitige Verschmelzung des Sinn­lichen mit dem Sitt­lichen kann als ein Idealbild der individuellen Identitätserfahrung verstanden werden, die angesichts der kulturellen Hemmnisse meist nur punktuell empfunden wird. Ist d ­ ieses Ereignis gegenwärtig nur schwer zu verwirk­lichen, muss es entweder als utopisch deklariert oder als Gedenken an Vergangenes in Form eines ele­gischen Bildes wachgerufen werden. In Anlehnung an die erwähnte Liebesthematik der Braut von Messina wird die sinn­liche Liebe in ihrer Verschmelzung mit einer altruistischen Liebesvorstellung idealisiert, nach der die Geliebte, Beatrice, ihre Existenz ganz und gar ihrem Geliebten verschreibt.55 Diese auf sinn­licher und geistiger Identität beruhende Liebe ist aber nur eine Vorstellung, die als ein bereits vergangenes Erlebnis in Erinnerung gerufen oder als unerreichbares Ideal in die Zukunft projiziert wird, wie es folgende

55 Ebd., V 1048 – 1056, S. 57.

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Textstelle aus dem genannten Drama verdeut­licht, in der sich der Chor als eine das Geschehen kommentierende Instanz äußert: EIN ZWEITER. Stehen nicht Amors Tempel offen, Wallet nicht zum Schönen die Welt? Da ist das Fürchten! Da ist das Hoffen, König ist hier, wer den Augen gefällt! Auch die Liebe beweget das Leben, Daß sich die grau­lichten Farben erheben, Reizend betrügt sie die glück­lichen Jahre, Die gefällige Tochter des Schaums, In das Gemeine und Traurigwahre Webt sie die Bilder des goldenen Traums 56

Die Rückwendung auf den vergangenen Zustand verbindet Schiller mit der Idee einer sinn­lich-geistigen Liebe, die durch die schaumgeborene Aphrodite allegorisch versinnbild­licht wird. Dieser Gedanke einer vollkommenen Liebe ist jedoch in der Gegenwart, die durch das „Gemeine und Traurigwahre“ charak­ terisiert wird, nur noch als Hoffnung auf ihre zukünftige Verwirk­lichung oder in Gestalt eines Traumbilds präsent, das als traurige Erinnerung an „glück­ liche Jahre“ vor dem inneren Auge entsteht. Die gegenwärtige Trauer über den Verlust des Vergangenen ist bei Schiller eng mit den im Aufsatz Ueber naive und sentimenta­lische Dichtung (1795) entwickelten Begriffen des ‚Naiven‘ und ‚Sentimenta­lischen‘ verknüpft, die stellvertretend sind für die Epochen der Antike und der Moderne.57 Damit repräsentiert das Naive als kulturelles Empfin­den, welches sich in der Kunst der Antike ausdrückt, das in den Bildern der genannten Textstelle der Braut von Messina beschworene Identitätsgefühl, eine „innere Nothwendigkeit“, „die ewige Einheit mit sich selbst.“58 Dagegen spiegelt das Sentimenta­lische das Lebensgefühl eines in der modernen Kultur existierenden Menschen wider, der an dem Verlust des Vollkommenheitsempfindens und an dem Bewusstsein seiner Unerreichbarkeit leidet.59 Er muss sich mit der Tatsache abfinden, dass „das Ideal ein Unend­liches“60 ist, um das er sich bemühen muss. In ­diesem Sinne soll der Frage nachgegangen werden, ­welche Rolle die durch die Elegie betonte Wendung an das harmonische, naive 56 Ebd., V 893 – 901, S. 51. 57 Schiller, Friedrich: Ueber naive und sentimenta­lische Dichtung. NA. Band 20. 1. Teil, S. 431. 58 Ebd., S. 414. 59 Ebd., S. 438. 60 Ebd.

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Empfinden als Gegenstand einer modernen sentimenta­lischen Kunst 61 spielt. Die lyrischen Verse der Braut von Messina beschreiben in ihrer sinn­lichen Vergegenwärtigung der Erinnerung an „glück­liche Jahre“ und den „goldenen Traum“ das Gefühl des naiven Dichtens, indem sie das Erinnerte gemäß einer Nachahmung der Wirk­lichkeit zeigen. Dadurch verwandelt der „ele­gische Dichter“, der das Objekt seiner Klage „als etwas da gewesenes und nun verlorenes beweint“, in einen idealen Zustand der „Vollkommenheit“, in dem er womög­ lich „nie existirt hat.“62 Die Klage über den Verlust des Vergangenen wird für Schiller aber auch zum Anliegen moderner sentimenta­lischer Dichtung. Diese ist von einem „gemischten Gefühl“ geprägt, durch das das Verlorene nicht nur sinn­lich erfahrbar gemacht, sondern auch mit einer Idee verbunden wird, die das unend­liche Empfinden mit der „Wirk­lichkeit als Grenze“ konfrontiert.63 Die Trauer um den Verlust der „glück­lichen Jahre“ wird in ihrem Schmerz empfunden und zugleich ‚als‘ Gegenstand desselben reflektiert. Der „goldene Traum“ wird in der Erinnerung an die vergangene Zeit zum Objekt sinn­licher Rührung und auch als bloßer Traum ins Bewusstsein gerufen, worin er zur Realität des „Gemeinen und Traurigwahren“ in Kontrast gesetzt wird. Das erinnerte Ereignis besitzt die Funktion, „uns durch naive Schönheit zu r­ ühren“, aber auch das „[e]mpfangene“ Gefühl, „durch Reflexion sich gegenüber und aus sich herauszustellen.“64 Indem das „Gemüth“ „seinem eigenen Spiel zusieht“65, wird das Betrauerte nicht nur im Sinne einer mög­lichst empfindungstreuen Projektion des vergangenen Ereignisses in die Gegenwart nachgeahmt, ­sondern unterliegt auch dem Blickwinkel des sentimenta­lischen Künstlers, der sich je nach Art der „Behandlung“ verändert.66 Diese spezifische Position ist Merkmal der „neuern“67 Kunst, weil sie das Gefühl der Unvollkommenheit, von dem die gegenwärtige Kultur geprägt wird, zum Ausgangspunkt ihrer Beobachtung werden lässt, durch die sich die sentimenta­lische Kunst als unend­liche bestimmt.68 Das Bewusstsein, das „Ideal“, das durch den betrauerten Zustand verherr­licht wird, „niemals erreichen“69 zu können, ist aber nicht Ausdruck

61 Für Schiller ist die Elegie die Form des trauernden Erinnerns an ein Vergangenes und neben der Idylle und der Satire „eine Spezies der sentimenta­lischen Dichtung.“ (Ebd., S. 437.) 62 Ebd., S. 451. 63 Ebd., S. 441. 64 Ebd., S. 452. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 470. 67 Ebd., S. 459. 68 Ebd., S. 453. 69 Ebd., S. 438.

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einer bloß resignativen Kunstbetrachtung, sondern gleichzeitig ein Kriterium für eine schöpferische moderne Ästhetik 70, die die F ­ ormveränderung 71 durch den Künstler in den Vordergrund stellt, durch die auch der von ihr gewählte Gegenstand als künstlerisches Objekt reflektierbar 72 ist. Deshalb wird das 70 Im 21. Brief der Ästhetischen Erziehung des Menschen zeigt Schiller, dass der Kunst eine schöpferische Aufgabe zukommt. Der ästhetische Zustand wird approximativ vergegenwärtigt. Das heißt, dass die Kunst auf die Kluft zwischen Realität und Ideal und auf eine beständige Annäherung an das Ideal durch eine schöpferische Formveränderung verweist. Sie ist nicht begrenzt, obwohl sie, bedingt durch die End­lichkeit des Subjekts, auf die Unerreichbarkeit des Ideals deutet, denn hierdurch erschafft sie ständig neue Formen. Damit erscheint sie nicht als „leere“, sondern als „erfüllte Unend­lichkeit“ und konstituiert ihre Funktion aus einer „Negation aus unend­licher Fülle.“ (Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. NA. Band 20. 1.Teil, S. 377.) 71 Die Veränderung der Form wird in Naive und sentimenta­lische Dichtung als Verfahren der „Reduktion“, als „poetische Behandlung“ der Wirk­lichkeit durch den Künstler definiert, bei der der ästhetische Gegenstand einer ständigen Verwandlung der Betrachtungsweise unterliegt, was sich als Formung seiner Beschränktheit „auf ein Unend­liches“ bezeichnen lässt. (Schiller: Ueber naive und sentimenta­lische Dichtung. NA. Band 20. 1. Teil, S. 450.) Im Brief an Goethe vom 14. 9. 1797 greift Schiller d ­ ieses poetolo­gische Verfahren im entworfenen Modus der „Reduction empirischer Formen auf aesthetische“ wieder auf. Kunst ist ästhetisch zum einen, wenn der Künstler „sich über das Wirk­liche erhebt“ und zum anderen, wenn er „innerhalb des Sinn­lichen stehenbleibt“, denn „wo beides verbunden ist, da ist aesthetische Kunst.“ (Schiller an Goethe, 14. 9. 1797. NA. Band 29, S. 131.) Schiller macht den künstlerischen Gegenstand abhängig von der Freiheit, wie wir mit ihm umgehen. Die ‚Reduction‘ bezeichnet demnach eine „schwierige Operation“, bei der der Künstler sein Objekt sowohl in seinem Ansprechen der sinn­lichen Kräfte vergegenwärtigt, als auch seine Distanz zu ihm ausdrückt, durch die er ‚als‘ sinn­liches Medium reflektierbar wird. Indem er die geistigen Kräfte anspricht, wird ihm zum einen die Illusion seiner sinn­lichen Vollkommenheit abgesprochen und zum anderen erscheint er einem unend­lichen Bedeutungswandel unterworfen, der von einer mög­ lichen Vielfalt an Formen geprägt ist. (Ebd.) Zum Verfahren der Reduktion bei Schiller vgl. Wilm, Marie-Christin: Die „Reduktion empirischer Formen auf ästhetische.“ Zur poetolo­gischen Bestimmung von Wirk­lichkeit und Stoff durch Schiller, Goethe und Wilhelm von Humboldt. In: Die Realität der Idealisten. S. 113 – 144. 72 Der Bezug der Kunst zur ‚Wirk­lichkeit als Grenze‘ scheint hier von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Bestimmung der Kunst, modern zu sein. Indem die Realität als Grenze zum Ideal erfahren wird, spiegelt der sentimenta­lische Künstlerblick diese Grenzerfahrung wider. Die Unerreichbarkeit des Ideellen im Reellen fordert eine reflexive Distanz der ästhetischen Betrachtung heraus, die nicht nur die sinn­liche Wirkung des ästhe­tischen Objekts aufnimmt, sondern gleichzeitig die Art und Weise seiner Betrachtung zur Grundlage der Auseinandersetzung werden lässt. In dieser Hinsicht ist die ästhetische Erfahrung an die subjektive Distanz gebunden, die eine reflexive Auseinandersetzung mit künstle­ rischen Formen ermög­licht, indem sie ihr Objekt gleichzeitig zum Sujet der künstlerischen

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Erinnerte sowohl in seiner Bedeutung ‚als‘ Erinnertes bewusst gemacht, als auch zum Medium einer Kunst erklärt, die das Vergangene vom Standpunkt eines in einer sich stetig verändernden Kultur lebenden Künstlersubjekts abhängig macht, und es damit einem Wandlungsprozess 73 unterwirft. Dies kann auch als Credo der Schiller‘schen Spätdramen verstanden werden, wenn Schiller über seine Jungfrau von Orleans (1801) schreibt: „Die Idee eines Trauerspiels muß immer beweg­lich und werdend sein, und nur virtualiter in hundert und tausend mög­lichen Formen sich darstellen.“74 In ­diesem Zusammenhang spiegelt das Drama das ‚naive‘ Lebensgefühl, das gleichzeitig dem Prozess der Wandlung unterliegt, indem es in der Erinnerung des sentimenta­lischen Bewusstseins als Vergangenes wahrgenommen wird. Indem Johanna sich an ihr früheres Leben in der Natur erinnert, idealisiert sie es zum einen als vollkommenen Zustand und zum anderen als ein bereits verändertes Lebensgefühl, das in der Gegenwart nicht mehr in seiner reinen Präsenz erfahrbar ist. Im vierten Akt des Dramas wird dieser Verlust schmerzhaft realisiert, wenn Johanna in Gedanken an ihr Leben in der Natur bekennt: „Da war ich glück­lich wie im Paradies – / Ich kanns nicht wieder sein, nicht wieder werden.“75 Die Veränderung des Vergangenen durch den Erinnerungsprozess verdeut­licht Johanna Beobachtungsweise ernennt. Diesen selbstreflexiven Zug der Kunst als Kriterium von Modernität betonen sowohl Dieter Wandschneider im Hinblick auf die Kunst Ende des 18. und des 19. Jahrhunderts als auch Bernhard Greiner in Bezug auf Schillers Dramenpoetik. (Wandschneider, Dieter: Das Geistige und das Sinn­liche in der Kunst. Hegel, Heidegger, Adorno. In: Das Geistige und das Sinn­liche in der Kunst. Ästhetische Reflexionen in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Hrsg. v. Dieter Wandschneider. Würzburg 2005. S. 123 – 137, hier S. 131; Greiner, Bernhard: Tragödie als Negativ des ästhetischen Zustands. Schillers Tragödienentwurf jenseits des Pathetischerhabenen in Maria Stuart. In: Friedrich Schiller. Dramen. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Darmstadt 2009. S. 135 – 156, hier besonders S. 152.) 73 Peter-André Alt verweist auf das Prozessuale als Modus der Schiller‘schen Ästhetik und deutet auf Schillers Brief an Körner vom 21. 1. 1802, indem er die Aussage Schillers, dass die „moderne Kunst allein in einem ständigen Fortschritt ihr Heil finden kann, weil ein Maximum in Fragen der ästhetischen Produktion nicht existiert“, zum zentralen Moment der dynamisch modernen Ästhetik Schillers ernennt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie „ästhetische Normen und Urteilsmaßstäbe revidiert und neu begründet.“ (Alt, Peter-André: Schiller – Dialektisch. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 48 (2004). S. 381 – 386, hier S. 381.) 74 Schiller an Körner, 28. 7. 1800. In: Schillers Werke. NA. Briefwechsel 1798 – 1800. Band 30. Hrsg. v. Lieselotte Blumenthal. Weimar 1961, S. 181. 75 Schiller, Friedrich: Die Jungfrau von Orleans. In: Schillers Werke. Maria Stuart. Die Jungfrau von Orleans. Band 9. Hrsg. v. Benno von Wiese und Lieselotte Blumenthal. Weimar 1948. IV/9, S. 284.

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durch den ele­gischen Tonfall, der in einem ihrer Monologe zum Ausdruck kommt. Johanna erfährt die sinn­lich-geistige Identität ihres früheren Lebens im Einklang mit der Natur, was im folgenden Textauszug besonders durch Johannas Anrufe der Natur und durch die Metapher des „Echos“ betont wird: Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften, Ihr trau­lich stillen Täler lebet wohl! Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln, Johanna sagt euch ewig Lebewohl. Ihr Wiesen, die ich wässerte! Ihr Bäume, Die ich gepflanzt, grünet fröh­lich fort! Lebt wohl ihr Grotten und ihr kühlen Brunnen! Du Echo, holde Summe ­dieses Tals, Die oft mir Antwort gab auf meine Lieder, Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder!76

Die schmerzhafte Realisierung der Vergangenheit des einheit­lichen Lebensgefühls im sentimenta­lischen Bewusstsein 77 wird auch durch die Form des Imperfekts verdeut­licht, in der Johanna die früheren Bilder beschreibt. Durch Johannas Selbsterwähnung in der dritten Person zeichnet sich ihre Distanz zum Erlebten ab, wobei diese Veränderung als unend­licher Wandlungsprozess erscheint, der durch die Verwendung des Futurs im dritten und zehnten Vers angedeutet wird. Dieses Aufgreifen des Erinnerten im ‚Sentimenta­lischen‘ äußert sich explizit in der angefügten Prognose „Umwälzen wirst du seines 76 Ebd., Prolog 4, S. 180. 77 Auf die Veränderung Johannas als schmerzhafte Abkehr vom Naiven durch das sentimen­ ta­lische Bewusstsein wurde bereits verwiesen. (Gabriel, Norbert: „Furchtbar und Sanft“: Zum Trimeter in Schillers „Jungfrau von Orleans.“ In: Jahrbuch der Deutschen Schiller­ gesellschaft 29 (1985). S. 125 – 140, hier S. 130.) Wolfgang Binder sieht im Naiven die Grundlage für den Wesenszug Johannas, da sie „in Unkenntnis ihrer Selbst“ handelt. Das schmerzhafte Realisieren im sentimenta­lischen Bewusstsein erfolgt deshalb im Nachhinein. (Binder, Wolfgang: Die Begriffe „naiv“ und „sentimenta­lisch“ und ­Schillers Drama. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 4 (1960). S. 140 – 157, hier S. 150.) Das Erinnern in der sentimenta­lischen Reflexion wird auch mit der Problematik einer gescheiterten Erziehung des Menschen in Verbindung gebracht. Die ursprüng­liche Identität von sinn­licher und geistiger Natur findet im gegenwärtigen Erziehungs- und Menschen­bild keinen Platz. Johanna wird damit erst gar nicht die Mög­lichkeit gegeben, ihre Natur zu verwirk­lichen. Nach Gerhard Sauder spiegelt sich hierin die „selbstverschuldete Deformation des Menschen in der Welt.“ (Sauder, Gerhard: Die Jungfrau von Orleans. In: Friedrich Schiller. Dramen. S.157 – 189, hier S. 160.)

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Glückes Rad.“78 Das Erinnern an das Vergangene bedeutet deshalb nicht bloß die sinn­liche Projektion eines ele­gischen Bildes in die Gegenwart, sondern ereignet sich als reflexiv-prozessuale Form moderner Bewusstseinsbildung.79 IV

Dass die Veränderung der Form ein Merkmal sentimenta­lischer Kunst ist, zeigt auch Schillers Dramenfragment Demetrius (1805). Hier erweisen sich die im letzten Abschnitt betonte Erfahrung der ‚Wirk­lichkeit als Grenze‘ und die hierdurch erforder­liche ‚Umwälzung‘ des Vergangenen in der Gegenwart auch als ausschlaggebende Kriterien der Schiller‘schen Reform der Ästhetik und der Poetik des Dramas.80 Sie sind wirksam im Aufgreifen und gleichzei­ tigen Infragestellen tradierter Kunstformen. Damit schließt sich der Demetrius nicht nur der Ansicht Schillers an, dass jedes Drama eine angemessene Form

78 Schiller: Die Jungfrau von Orleans. NA. Band 9. Prolog 4, S. 181. 79 Diese Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigem ist an Schillers in Ueber naive und sentimenta­lische Dichtung getätigte Auffassung der Beziehung von Antike und Moderne gekoppelt. Die auch im Austausch mit Goethe diskutierte Nachahmung der ‚Alten‘ wird in dieser Schrift bereits mit dem Vorbehalt ausgedrückt, dass die antiken Gattungsformen unter dem Primat der Moderne stehen und damit nicht als ausschließ­lich reine Formen von der Gegenwart assimiliert werden können. Sie wirken zwar in ihr weiter, aber in veränderter Art und Weise, weil sie hier den spezifischen Gesetzen einer sentimenta­ lischen Moderne unterliegen, um deren Definition sich der moderne Künstler bemühen soll. Als ein von existenzieller Zerrissenheit geprägter Künstler ist es ihm erst gar nicht mög­lich, die verschiedenen Gattungsformen zu trennen und sie in reiner Form wieder aufzunehmen. Für den Künstler einer sentimenta­lischen „Kunst des Unend­lichen“ ist die Mischung und Weiterentwicklung der Kunstformen ein modernes Kriterium, durch das er sich gegen die „Kunst der Begrenzung“, und damit gegen eine bloße Projektion der Vergangenheit in die Gegenwart, ausspricht. (NA. Band 20. 1. Teil, S. 440. Schiller an Goethe, 29. 12. 1797. NA. Band 29, S. 178.) Zur Flexibilisierung von Gattungen und Formen als Merkmal sentimenta­lischer Kunst und zu Schillers selbstreflexiver Aneignung der Antike vgl. Oschmann, Dirk: Schillers Verknüpfung von Sprach- und Gattungstheorie. In: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. S. 137 – 157, hier S. 140 f.; Alt, PeterAndré: Die Griechen transformieren. Schillers moderne Konstruktion der Antike. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. S. 339 – 363, hier 357. 80 Schillers Ästhetik strebt, ausgehend vom Schönheitsbegriff der Kallias-Briefe, eine Reform der Ästhetik an, die sich auch als grundlegend für seine Dramenpoetik erweist, indem sie durch ihre Betonung der Wechselseitigkeit von Sinn­lichkeit und Verstand, sowohl die zeitgenös­sische Regelpoetik als auch die allein auf Rührung abzielende Einfühlungsästhetik überwindet. (Pikulik, Lothar: Schiller. Das Werk als Wille und Vorstellung. Paderborn 2008, S. 34.)

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benötigt und in d ­ iesem Sinne ein Experiment mit seinen dramenpoetischen Grundlagen einschließt 81, was sich auch in der Distanz Schillers von der Wirkungsästhetik 82 äußert, sondern reiht sich auch in die besonders von Jürgen Söring und Axel Gellhaus markierten Thesen ein, die mit dem Dramenfragment ein ausdrück­liches Hintertreiben der klas­sischen Tragödienform durch Schiller ansetzen.83 Im Anschluss hieran lässt sich die Erinnerung auch als dramen­poetische Kategorie deuten, die sowohl die Tragik des sich im Glauben an seine fürst­liche Identität wiegenden Demetrius unterstreicht, als auch durch ihre Inszenierung als ‚verfehlte Peripetie‘ die Grenzen der Darstellungsmittel der klas­sischen Tragödie andeutet. Demetrius‘ Glauben, er sei der Sohn des Zaren, gestaltet Schiller als einen anamnetischen Prozess, der aber als fehlgeleitete Identitätsfindung zu sehen ist, denn die Erinnerungen des Demetrius stellen nur für ihn – nicht aber für den Zuschauer, der bereits über die Nullität seiner Herkunft aufgeklärt ist – eine unanzweifelbare Wahrheit dar. Somit erzeugt die folgende Inszenierung der Erinnerung des Demetrius an seine hohe Bestimmung einen ans Komische 84 grenzenden Effekt: Und jezt fiels wie Schuppen mir vom Auge! Erinnrungen belebten sich auf einmal Im fernsten Hintergrund vergangner Zeit Und wie die lezten Thürme aus der Ferne Erglänzen in der Sonne Gold, so wurden Mir in der Seele zwey Gestalten hell,

81 Schiller: Die Braut von Messina. Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie. NA. Band 10, S. 7 – 15. Zum Experimentalcharakter der Schillerschen Dramen: Frick, ­Werner: Trilogie der Kühnheit. Die Jungfrau von Orleans, Die Braut von Messina, Wilhelm Tell. In: Schiller. Werk-Interpretationen. (Ringvorlesung des Deutschen Seminars II der Universität Freiburg zum 200. Todestag des Dichters). Hrsg. v. Günter Sasse. Heidelberg 2005. S. 134 – 174, hier S. 145. 82 Gemeint ist hier die Überwindung der auf Mitleid und Furcht basierenden Einfühlungsästhetik Lessings, die das Erlangen tugendhafter Fertigkeiten erzielt. (Blesch, Rainer: Drama und wirkungsästhetische Praxis. Zum Problem der ästhetischen Vermittlung bei Schiller. Frankfurt am Main 1981, S. 41.) 83 Söring, Jürgen: Tragödie. Notwendigkeit und Zufall im Spannungsfeld tra­gischer Prozesse. Stuttgart 1982, S. 327. Gellhaus, Axel: Geschichte und Intrige. Schillers Demetrius-­ Projekt. Marbach 1991, S. 16. 84 Die „Anordnung“ der dramatischen Handlung darf mit den Worten Schillers „ins Komische fallen.“ (Schiller, Friedrich: Demetrius. Szenar. Manifest in dem Dorfe vorgelesen. In: Schillers Werke. NA. Demetrius. Band 11. Hrsg. v. Herbert Kraft. Weimar 1971, S. 206.)

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Die höchsten Sonnengipfel des Bewußtseyns. […] Dieß alles traf jezt blitzschnell meinen Geist, Und vor mir stands mit leuchtender Gewißheit, Ich sey des Czaren todtgeglaubter Sohn.85

Der durch die Lichtmetaphorik eindrucksvoll dargestellte Erinnerungsmoment evoziert das Mitgefühl des Zuschauers, denn gerade die „Sicherheit des Glaubens“ ist für Schiller der eigent­liche Grund des Tra­gischen und des „Furchtbaren“, der „Rührung“ weckt.86 Gleichzeitig führt aber das ‚Wissen‘ des Zuschauers um die Nichtigkeit seines Glaubens eine emotionale Distanz zur Hauptfigur 87 herbei, was Schiller als „Coexistenz entgegengesetzte[r] Zustände“88 bezeichnet. Diese emotionale Kluft wird durch die Inszenierung der Mutter-Sohn-Begegnung als ‚gescheiterte Wiedererinnerung‘ verschärft, da Demetrius von der Nullität seiner Herkunft erfährt, aber den Glauben daran aufrechterhalten möchte, um eigene Machtansprüche zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht ereignet sich eine Veränderung der Bedeutung der Peripetie des klas­sischen Dramas, da diese Selbstrettung des Eigensinns 89 den hierdurch in Kraft tretenden Schuldund Sühnemechanismus nicht mehr zulässt.90 Dies zeigt sich in der durch ­Schiller arrangierten zweifachen Umkehrung der Sophokleischen Enthüllung der Mutter-­Sohn-Beziehung, wie sie im König Ödipus vorgestellt wird. Zum einen zielt die Wiedererkennung nicht auf die Offenbarung, sondern auf die Auflösung ­dieses Verhältnisses ab. Marfa, Demetrius Mutter, erkennt gleich zu Anfang, dass „ihr Muttergefühl keine Nahrung“91 finden kann, und dass 85 Ebd., Demetrius. I/1, S. 14. 86 Ebd., Szenar. Demetrius an der Rus­sischen Grenze, S. 205. 87 Zur Zerstörung des identifikatorischen Mitleidgefühls als „formalästhetische Distanzierung vom tra­gischen Geschehen“ durch den Zuschauer vgl. Immer, Nikolas: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 441. 88 Schiller: Demetrius. Studienheft. NA. Band 11, S. 111. 89 Mark W. Roche unterscheidet die klas­sische „Tragödie der Selbstaufopferung“ von der „Eigensinnstragödie.“ Bei letzterer reduziert sich das „Tra­gische“ auf „formale Größe.“ Der Eigensinn ist ein Merkmal der Modernität, weil er den Mitleidsaspekt aufhebt. Das Leiden wird nicht mehr, wie beim Selbstopfer, als ungerecht empfunden, sondern entspringt dem „Verlangen des Publikums nach poetischer Gerechtigkeit.“ (Roche, Mark W.: Formen der Tragödie in der Moderne. In: Die Tragödie der Moderne. Gattungs­ geschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Hrsg. v. Daniel Fulda und Thorsten Valk. Berlin 2010. S. 339 – 354, hier S. 346.) 90 Söring: Tragödie. 1982, S. 350. 91 Schiller: Demetrius. Marfa kommt mit Demetrius zusammen. NA. Band 11, S. 217.

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­ emetrius nicht ihr leibhaftiger Sohn ist. Zum anderen führt diese Wieder­ D erinnerung nicht in die Peripetie, nach der die Hauptfigur ihren mora­lischen Fehler bekennt, Mitleid erregt und damit ihren tra­gischen Untergang besiegelt 92, sondern mündet in die Absicht, die nichtige Mutter-Sohn-Beziehung vorzutäuschen, um die mit dem Betrug einhergehende politische Verwerf­lichkeit zu verbergen. Obwohl das Verdrängen der Sühne eine mög­liche Schuld implizieren würde, wird auch diese durch die Tatsache neutralisiert, dass Demetrius‘ Charakter von Beginn an, angesichts der ihm zu Grunde liegenden Naivität im Aristote­lischen Sinne, als unfrei 93 bezeichnet werden muss, sodass seine Zurechnungsfähigkeit fragwürdig und die notwendige Enthüllung eines mora­ lischen Vergehens gemäß einer tra­gischen Analysis überflüssig erscheint. Das ‚Schweigen‘ Marfas, das nach der ‚Wiedererkennung‘ einsetzt, ist damit nicht nur Ausdruck ihres Stolzes, da sie weder dazu bereit ist, Muttergefühle vorzutäuschen noch Demetrius zu denunzieren oder sich für ihn aufzuopfern 94, sondern spiegelt auch die Begrenztheit der durch das klas­sische Drama vorgegebenen Handlungsmög­lichkeiten. Die ‚Sprachlosigkeit‘, die anstelle der Peripetie erfolgt, dient deshalb als poetolo­gisches Moment des Experimentierens mit den Bedingungen der traditionellen Tragödie, worin Schillers Beitrag zur Diskussion um die Aktualität der antiken Tragödie 95 gesehen werden kann, näm­lich sich überlieferte Grundlagen anzueignen und durch ihre Erfahrung ‚als Grenze‘ mög­liche neue Formen zu erschaffen.

92 Aristoteles Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 5. Hrsg. v. Arbogast Schmitt. Berlin 2011. [1452a25 – 1452b10], S.  15 – 16. 93 Hier weicht Schiller von der bereits in der Vorrede zu den Räubern betonten Konzeption des an Aristoteles und Lessing orientierten vollkommenen Charakters ab, der sich aus einer Mischung sitt­licher und unmora­lischer Eigenschaften und deshalb aus einer freien Anlage zur Schuldfähigkeit konstituiert. (Schiller, Friedrich: Die Räuber. Vorrede zur ersten Auflage. In: Schillers Werke. NA. Die Räuber. Band 3. Hrsg. v. Herbert Stubenrauch. Weimar 1953, S. 7. Siehe auch: Prokofieff, Sergej: Friedrich Schiller und die Zukunft der Freiheit. Zugleich einige Aspekte seiner okkulten Biographie. Dornach 2007, S. 191.) 94 Schiller: Demetrius. Marfa kommt mit Demetrius zusammen. NA. Band 11, S. 223. 95 Szondi, Peter: Versuch über das Tra­gische. 2. durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1964, S. 7.

Till Hensen

Zum Zusammenhang von Erinnerung und jüdischer Identität in Günter Kunerts Erwachsenenspiele Zusammen mit den ersten 50 Jahren seiner individuellen Lebensgeschichte beschreibt der 1929 geborene Schriftsteller Günter Kunert in seiner Autobiografie Erwachsenenspiele 1 sein subjektives Erleben zweier Abschnitte der übergeordneten, überindividuellen Zeitgeschichte, die für d ­ ieses Leben bedeutsam sind. Zunächst schildert er seine Erinnerungen an die Zeit während des NS-Regimes und das Ende des Zweiten Weltkriegs als Kind einer sogenannten „Mischehe“ (Kunerts Mutter war Jüdin). Den größten Teil des Textes hingegen machen seine Erfahrungen als zunehmend durch die kulturpolitischen Organe der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) kritisierter Künstler aus. Der Blick auf die bedeutenden historischen Entwicklungen und das politische Klima ist dabei bestimmt durch das Zusammentreffen mit persön­licher Alltagserfahrung und Anekdoten aus Günter Kunerts Leben. Es wird erzählt von Familienangelegenheiten, Liebesgeschichten, den Begegnungen mit anderen Autoren wie beispielsweise Bertolt Brecht oder Johannes R. Becher, der Skurrilität des bürokratischen Apparats der DDR, aber auch von Katzenaufzucht. So werden im Text Zeit- und Subjektgeschichte miteinander verknüpft. Die einzelnen Episoden sind überwiegend in chronolo­gischer Folge angeordnet, die Auswahl der erzählten Ausschnitte aus Kunerts Leben aber orientiert sich an der jeweiligen Situation des Erinnernden und dem alltäg­lichen Geschehen in seinem unmittelbaren Umfeld. Scheinbar w ­ eniger entscheidend sind die großen zeitgeschicht­lichen Linien, die sein Leben kreuzen und die nur als weitere Begebenheiten unter vielen in die Autobiografie aufgenommen werden. Dennoch greift das politische Geschehen immer wieder in sein Leben ein, konkrete Bedrohungssituationen bahnen sich mal langsam an, mal brechen sie unvermittelt herein. Immer wieder leidet Günter Kunert an dem Gefühl ständiger Verfolgung, ergänzen doch in den Text integrierte Auszüge aus Stasi-Akten und Gesprächsprotokollen, die sich konkret auf Kunert beziehen, den meistens

1 Kunert, Günter: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. 3. Auflage. München 2003 (im ­Folgenden mit Angabe der Seitenzahl im Fließtext zitiert).

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eher ironisch-heiteren Grundton von Erwachsenenspiele.2 Als quasi dokumentarische Anteile 3 verdeut­lichen diese Stellen das Moment ständiger Beobachtung und angespannten Misstrauens in der DDR. Zudem spiegelt die rasche Folge von Ereignissen und Erinnerungen das Sprunghafte des Erinnerungsprozesses an sich wider,4 da die chronolo­gische Reihung zwar ein Ordnungsprinzip vorgibt, die Akzentuierung und zeit­liche Ausdehnung 5 der erzählten Passagen aber assoziativ erfolgt. Die Ereignisse haben kein übergeordnetes Muster, das ein strukturelles Prinzip vorgeben könnte, vielmehr wird hier die einzelne Anekdote zum literarischen Verfahren der Erinnerungsreflexion erhoben. So passt sich die Autobiografie formal den subjektiven Entscheidungsprozessen und Gewichtungen an, die bei der Bildung persön­licher Identität wirksam sind.6 Gleichzeitig bringt der Text die Korrelation solcher autobiografischer Herstellungsprozesse von Identität mit dem kollektiven Gedächtnis zum Ausdruck, indem die Erinnerungen immer gebunden an überindividuelle historische Entwicklungen sind. Die Verschränkung von Zeit- und Subjektgeschichte zielt darauf ab, „Ich-Kontinuität“7 zu erzeugen. Günter Kunerts Lebenserinnerungen stellen einen Versuch dar, die eigene Identität anhand des Verhältnisses zur deutschen Geschichte zu definieren,8 entgegen allen Diskontinuitäten, die sich mit dieser verbinden. Das Nebeneinander von Autobiografie und Historie kommt dem Bedürfnis nach Kontinuität und Konsistenz der eigenen Biografie nach,9 trotz der Herausforderungen, die sich durch die historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts für ihre Aufrechterhaltung ergeben.10

2 Vgl. Micus-Loos, Christiane: Christa Wolf, Carola Stern, Günter de Bruyn und Günter Kunert. Zum Porträt einer Generation. In: BIOS 19 (2006), H. 2. S. 205 – 232, hier S. 219. 3 Vgl. Bekes, Peter: Günter Kunert. In: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stand: 01. 03. 2010. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. dazu Stern, Martin: Autobiographie und Identität. In: Ein Inuk sein. Interdiszipli­ näre Vorlesungen zum Problem der Identität. Hrsg. v. Gaetano Benedetti und Louis Wiesmann. Göttingen 1986. S. 257 – 270. 6 Vgl. Gymnich, Marion: Individuelle Identität und Erinnerung aus Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. In: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Hrsg. v. Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning. Trier 2003. S 29 – 48, hier S. 33 ff. 7 Sabrow, Martin: Autobiographie und Systembruch im 20. Jahrhundert. In: Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Sabrow. Leipzig 2012. S. 9 – 24, hier S. 10. 8 Vgl. Bekes: Günter Kunert. 9 Vgl. Gymnich: Individuelle Identität und Erinnerung, S. 33. 10 Vgl. Sabrow: Autobiographie und Systembruch, S. 17.

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Von besonderer Bedeutung für die Verbindung von persön­licher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis ist zweifellos die jüdische Herkunft Kunerts, gerade auch angesichts des zentralen Stellenwerts der Erinnerungsthematik innerhalb der jüdischen Tradition.11 Es ist danach zu fragen, w ­ elche Rolle die Erinnerungsthematik innerhalb der Autobiografie für die individuelle Erinne­rungsarbeit und die Geschichtsperspektive spielt. Einer der wesent­ lichen Anknüpfungspunkte ist der Zusammenhang von Holocaust und Erinnerung. Die Rekonstruktion der Lebensgeschichte und Identität in Erwachsenenspiele erschließt sich ausgehend von dieser „zentralen gesellschaft­lichen und (kultur-)wissenschaft­lichen Fragestellung“12 des 20. Jahrhunderts. Gleich zu Beginn von Erwachsenenspiele ist der Umstand, man könne jederzeit „als jüdisch identifiziert“ (21) werden, besonders wichtig und wird im weiteren Verlauf gewissermaßen zu einer Sollbruchstelle für die Utopie einer geschlossenen, bruchfreien Identitätsbildung. Immer wieder wird dies aufgegriffen, zum Beispiel wenn Familiengespräche „durchflochten von Restbeständen des Jiddischen“ (22) sind. Bestimmte Zuordnungsmerkmale, wie etwa die Sprache, kommen also zum Vorschein. Auch wenn es nur „Restbestände“ sind, lässt sich die Außenzuschreibung als Jude nicht ganz verhindern, da sich diese Zuschreibungsmerkmale nicht ablegen lassen. Der Abstand vom jüdischen Glauben wird hingegen klar markiert (vgl. 27), es gibt Bestrebungen, jüdische Traditionen immer wieder aus dem Familienleben zurückzudrängen. Das Jüdischsein anhand bestimmter Zuschreibungen ist also auf der einen Seite konstitutiv für die Identitätsbildung. Andererseits wird versucht, die eigene jüdische Identität nicht als eigenständiges Phänomen der Auseinandersetzung mit der eigenen Erinnerung und Geschichte zu verstehen. Sie steht vielmehr neben anderen ‚Merkmalen‘, die der Kennzeichnung als Außenseiter dienen. Das Wort ‚Jude‘ begreift Kunert in seinen Erinnerungen eher als Synonym für Dissident (vgl. 21), ein Ausdruck, der für sein Selbstverständnis als Autor in der DDR zentral ist. Man kann sogar sagen, dass Kunert seine Autobiografie „von vornherein unter dem Zeichen ­­ der Dissidenz konstruiert“13 hat und dass die Bedeutung der jüdischen Abstammung 11 Vgl. Bannasch, Bettina; Hammer, Almuth: Jüdisches Gedächtnis und Literatur. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin, New York 2005. S. 277 – 295, hier S. 277. 12 Ebd., S. 278. 13 Ludorowska, Halina: Individuelle Geschichten im Erinnerungsdiskurs der Nachwende­ zeit – Günter de Bruyns Zwischenbilanz (1992) und Günter Kunerts Erwachsenenspiele. Erinnerungen (1997). In: Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen

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für die eigene Lebensauffassung in den Hintergrund tritt zugunsten seiner Dissidenz in der DDR. Es zeigt sich, dass die Konfrontation mit dem Antisemitismus der NS-Diktatur und der damit verbundenen Bedrohung für das eigene Leben zwar für den „Mischling ersten Grades“ (21) am Anfang steht und betont wird. Später jedoch ersetzen die Konfrontation mit der rigiden Kulturpolitik der DDR sowie die empfundene Isolation durch die Stasi-Überwachung in der Logik des Textes den nationalsozialistischen Antisemitismus als anfäng­liche Bedrohung. Das Fortbestehen antisemitischer Stereotypen in der Nachkriegsgesellschaft und damit auch in Ostdeutschland 14 kommt hingegen nicht zur Darstellung; die gesellschaft­liche Stellung Kunerts wird ausschließ­lich aus seinem „Austerndasein“15, wie er selbst es beschreibt, als dissidenter Schriftsteller in der DDR heraus verstanden, wohingegen eine Außenseiterposition als Jude nicht mehr vordergründig thematisiert wird. Dass diese Lebensform des Dissidenten andere Zugänge zur Identitätsbildung und Erinnerungsreflexion überlagert, reflektiert Günter Kunert im Text auch selbst. Außerdem gibt es immer wieder Textstellen, die einen bewussten Perspektivenwechsel vornehmen und sich mit der jüdischen Familientradition und den konkreten Auswirkungen des Holocaust auf die eigene Familiengeschichte befassen. Textpassagen also, die die Thematik durchscheinen lassen. In Erwachsenenspiele bleibt der Holocaust als Thema unhintergehbar und mit der eigenen Lebensgeschichte verbunden, ein davon unerschüttertes Gedächtnis nach 1945 ist nicht mehr mög­lich.16 Implizit verhandelt damit Günter Kunerts Autobiografie, „ob und inwiefern die Erinnerung an die Schoah dem jüdischen Gedächtnis als zentrale Erinnerungsleistung aufgegeben ist, über die sich Jüdischsein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeb­lich konstruiert“17. Den Bestrebungen, die Anteile des Jüdischen an der eigenen Identität abzuschwächen, steht somit die Unmög­lichkeit gegenüber, die Vernichtung der europäischen Juden aus der Rekapitulation der eigenen Vergangenheit zu streichen, und damit die Unmög­lichkeit, jüdische Identität gänz­lich abzulegen, sei der Akkulturationsgrad noch so groß.

Gegenwartsliteratur nach 1989. Hrsg. von Carsten Gansel und Pawel Zimniak. Göttingen 2010. S. 75 – 86, hier S. 86 (Hervorhebungen im Original). 14 Vgl. dazu etwa Timm, Angelika: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Israel. Bonn 1997, bes. S. 99 ff; sowie Haury, Thomas: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburg 2002. 15 Zitiert nach: Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR . Erweiterte Neuausgabe. 2. Auflage. Berlin 2005, S. 66. 16 Vgl. Bannasch: Jüdisches Gedächtnis und Literatur, S. 287. 17 Ebd., S. 285.

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Daraus ergeben sich mehrere Fragen, die hinsicht­lich des Zusammenhangs von Erinnerung, jüdischer Identität und DDR-Antisemitismus an den Text zu stellen sind: 1. Auf w ­ elche Weise kommt der Holocaust zur Sprache und wie wird dessen sprach­liche Darstellung mit der allgemeinen Reflexion über Erinnerung und Identität verknüpft? Welche Verbindung wird zum Verlauf des eigenen Lebens und zu dessen autobiografischer Aufarbeitung gesehen? 2. Inwieweit wird in Erwachsenenspiele auf einer allgemeineren Ebene jüdische Identität definiert und abgegrenzt gegenüber anderen Formen der Identifikation und anderen Erinnerungsperspektiven? Inwiefern wird diese Perspektive – also jüdisches Bewusstsein mit seiner spezifischen Erinnerung und Vergangenheitskonstruktion – zur Herstellung eines kohärenten Selbst herangezogen? 3. Lassen sich im Übergang vom Nationalsozialismus zur DDR Verschiebungen im Selbstverständnis Günter Kunerts als Jude ausmachen? Und wenn ja, wie werden diese Verschiebungen im Text ausgehandelt? Analog dazu sind Unterschiede zwischen der Konfrontation mit dem Antisemitismus im national­ sozialistischen Deutschland und den antisemitischen Tendenzen in der Nachkriegsgesellschaft der DDR in den Blick zu nehmen. I

Für die folgende Lektüre von Erwachsenenspiele und eine Annäherung an die aufgeworfenen Fragen ist es sinnvoll, einige Bemerkungen zum Umgang der SED-Politik mit der jüdischen Bevölkerung und zur Ausprägung antisemitischer Tendenzen in der DDR als historische Grundlage der Untersuchung voranzustellen. Es geht zunächst um die Bedeutung der Gründungsvoraussetzungen der DDR und das Geschichtsbild, das nach 1945 als Reflex auf die unmittelbare Vergangenheit entworfen wurde. Ähn­lich wie in Westdeutschland bediente man sich „einer Strategie, die darauf abzielte, die Verbrechensgeschichte des ‚Dritten Reichs‘ mit Hilfe ideologisierter Deutungsmuster zu universalisieren“18, während die Aufgabe einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld an das andere politische Lager abgegeben wurde. Als „Gründungsmythos“19 der DDR können die Maximen des verordneten 18 Weinke, Annette: Strafrecht­liche Abrechnung als Medium gesellschaft­lichen Wandels? Bundesrepublik und DDR. In: Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis. Hrsg. v. Kerstin von Lingen. Paderborn 2009. S. 131 – 149, hier S. 135. 19 Emmerich: Literaturgeschichte der DDR, S. 29.

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kollektiven Antifaschismus und Sozialismus gelten, die schon durch die in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) propagierte Ideologie vorbereitet wurden. Mit ihnen ging der Staat in doppelte Opposition gegen den ‚­deutschen Faschismus‘ der Vergangenheit sowie gegen den Westen, dessen kapitalistisch-imperialistische Ausrichtung als Nährboden für neue ‚Faschismen‘ galt.20 Die Implikationen einer solchen staatstragenden Geschichtsdeutung betreffen nicht nur die offizielle Politik und die öffent­lich vertretene ideolo­gische Ausrichtung des Staates. Vielmehr müssen das transportierte Bild der Vergangenheit und die daraus gezogenen Konsequenzen auch als Konstruktionen verstanden werden, die allgemein „im jeweiligen kulturellen Gedächtnis“21 verankert sind. Sie wurden „zu den zentralen, quasimythischen Sinnkonstrukten und Rechtfertigungsmustern der DDR, die auch die Literatur des Landes internalisierte und sodann propagierte“22. Wolfgang Emmerich spricht beim Vergleich von BRD und DDR von der „Verfestigung des Zustands zweier differenter Kulturen und Mentalitäten“23. Michael Froese hält als direkte Folge dieser Geschichtsdeutung sogar die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage in der DDR für noch gehemmter als in Westdeutschland, wo man ihr einen größeren Raum in der Geschichtsschreibung gegeben habe.24 Jedenfalls ist klar, dass die Überbetonung einer bestimmten Erinnerung immer auch bedeutet, dass andere Erinnerungsperspektiven, etwa diejenige jüdischer Überlebender des Holocaust, ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt konnte der Diskurs um die eigene Verantwortung in der DDR weitestgehend unterbunden werden, da man diese auf der Ebene der generellen Konkurrenz zum Kapitalismus und seinen Vertretern von sich gewiesen hatte. Der offizielle ‚Antifaschismus‘ als Programm der SED beinhaltete demnach die Vorstellung, man gehöre zu den ‚Siegern der Geschichte‘, die eigenen Bürger seien im Gegensatz zu den Menschen in der Bundesrepublik im Grunde ­niemals nazistisch gewesen, vielmehr handele es sich bei der DDR-Bevölkerung um eine Gruppe von Widerständlern und Kritikern des Nationalsozialismus. Der Staat

20 Vgl. Emmerich, Wolfgang: Kulturelles Gedächtnis Ost vs. West: Wächst zusammen, was zusammengehört? In: Gedächtnis, Erzählen, Identität. Literarische Inszenierungen von Erinnerung. Hrsg. v. Manuel Maldonado Alemán. Würzburg 2012. S. 93 – 108, hier S. 94. 21 Ebd., S. 100 f. 22 Emmerich: Literaturgeschichte der DDR, S. 29. 23 Emmerich: Kulturelles Gedächtnis Ost vs. West, S. 103. 24 Vgl. Froese, Michael J.: Einige psychohistorische Besonderheiten Ostdeutschlands. 7 Thesen. In: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Erfahrungen über vier Generationen. Hrsg. v. Hartmut Radebold, Werner Bohleber und Jürgen Zinnecker. Weinheim 2003. S. 193 – 199, hier S. 194.

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machte also Angebote zu Amnesie und Entschuldung seiner Bürger,25 indem die Partizipation am Projekt ‚Antifaschismus‘ es dem Einzelnen ermög­lichte, jeg­liche Schuld auf den Westen abzuschieben. Hinzu kamen kulturpolitische Bestrebungen, die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit gezielt zu unterbinden und zu tabuisieren. Für die Literatur bedeutete dies nahezu die Unmög­lichkeit von Systemkritik: Denn wer wollte sich schon, bei aller Kritik an Machthabern und Missständen im Lande, aus dem Bunde der Antifaschisten (also der Guten) entfernen und die F ­ ronten wechseln? Besser bleibt man denn doch bei der gewohnten Loyalität gegenüber den antifaschistischen Mächtigen im Lande und hegte seine Kritik ‚solidarisch‘ ein.26

So standen die Fortschrittsgläubigkeit der SED und deren Wille, den Aufbau des neuen sozialistischen Staates störungsfrei umzusetzen, der ernsthaften Vergangenheitsbewältigung und angemessenen Erinnerung der vergangenen Jahre nach wie vor im Weg.27 Doch nach den zwölf Jahren, die das ‚Tausendjährige Reich‘ bestanden hatte, war es in ganz Deutschland „zu einer allgemeinen Verrohung, Demoralisierung und Preisgabe humaner Normen“28 gekommen; die mora­lische Hypothek des NS-Regimes war nach 1945 nicht plötz­lich abgetragen, sondern lebte noch weiter. Dennoch verschrieb sich die DDR ganz ähn­lich wie die BRD der reinen „Gegenwartsbewältigung“29 und fokussierte optimistisch die Zukunft und das eigene Programm. Ihre Bürger konnten sich auf den kommunistischen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime berufen, dessen Rolle in der DDR-Öffent­lichkeit massiv überbetont wurde.30 Bei „weitgehendem Aussparen des nazistischen Kernereignisses, dem Massenmorden an den Juden“31 wurde der kommunis­ tischen Opfer in besonderer Weise erinnert. Das sozialistisch-antifaschistische 25 Vgl. Emmerich: Kulturelles Gedächtnis Ost vs. West, S. 98 f. 26 Ebd., S. 100. 27 Vgl. Emmerich: Literaturgeschichte der DDR, S. 37. 28 Ebd., S. 30. 29 Ebd. 30 Ein Beispiel hierfür ist etwa die heroisierende Darstellung kommunistischer Häftlinge sowie ihres Aufbegehrens im KZ Buchenwald. Durch Filme wie etwa Nackt unter Wölfen (1963) nahm ‚Buchenwald‘ als Ortsname eine ähn­liche Signalwirkung wie im Westen ‚Auschwitz‘ an. Siehe dazu auch Taterka, Thomas: „Buchenwald liegt in der Deutschen Demokratischen Republik“. Grundzüge des Lagerdiskurses in der DDR. In: LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Hrsg. v. Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka. Stuttgart, Weimar 2000. S. 312 – 365. 31 Emmerich: Literaturgeschichte der DDR, S. 37.

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Programm schloss damit die klare Hierarchisierung der Opfer ein. 32 Das Konzept vom kämpferischen Antifaschismus hatte keinen Platz für Juden und ihre Erinnerung im Speziellen. Wer als Jude an der kommunistisch-­ antifaschistischen Bewegung teilhaben wollte, war angehalten, seine „jüdische Identität mehr oder minder völlig preiszugeben und die angestrebte Assimilation gleichsam vorauseilend schon zu vollziehen“33. Die im Allgemeinen angestrebte Homogenisierung der Gesellschaft erschwerte es zudem, an der eigenen Identität und Kultur festzuhalten. Dass die Perspektive der jüdischen Opfer ausgeblendet und Juden auch aus der sozialistischen Gemeinschaft erneut ausgeschlossen wurden, forderte nicht nur dazu auf, diesen Aspekt der eigenen Vergangenheits- und Identitätskonstruktion abzulegen, sondern bildete „geradezu einen Nährboden für die Revitalisierung fremdenfeind­ licher Abstoßung und Ausgrenzung“34. Sie zeigte sich in der SBZ/DDR als antizionistische bis antisemitische Stereotype im Zusammenhang mit der sozialistischen staat­lichen Doktrin. In der DDR galten Juden teilweise als „ein auf Eigentum fixiertes, der Arbeiterklasse zumindest fremdes, für eine Reihe Parteifunktionäre auch feind­liches Element.“35 Sie wurden nicht als Opfer antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung durch den Nationalsozialismus betrachtet, ­sondern sahen sich weiterhin mit judenfeind­lichen Ansichten konfrontiert, die teilweise bis in die achtziger Jahre politisch mitgetragen wurden.36 Die Ablehnung der Wiedergutmachung und der Rückgabe jüdischen Besitzes in der DDR kann als ein Rückfall in derartige Denkmuster angesehen ­werden.37 Gerne war innerhalb der staat­lichen Führungsebene die Rede von der Unterwanderung der SED durch „Klassenfeinde und zionistische Agenten“38, was zu parteiinternen ‚Säuberungsaktionen‘ und der Überprüfung der Parteimitglieder auf eine mög­liche jüdische Herkunft hin führte. Parallel dazu muss auch die von Moskau ausgehende zunehmend antizionistische

32 Vgl. Groehler, Olaf: Antifaschismus und jüdische Problemantik in der SBZ und der frühen DDR. In: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR. Hrsg. v. Olaf Groehler und Mario Kessler. Berlin 1995. S. 5 – 31, hier S. 27. 33 Ebd., S. 6. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 15. 36 Vgl. Berek, Mathias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaft­liche Konstruktion der Wirk­lichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden 2009, S. 153. 37 Vgl. Gröhler: Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ, S. 15. 38 Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 122.

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Außenpolitik gesehen werden, die 1953 im Abbruch aller diplomatischen Beziehungen zu Israel mündete, das die Sowjetunion als den verlängerten Arm amerikanisch-imperialistischer Interessen betrachtete.39 Das Erstarken antisemitischer Vorstellungen sowie die zunehmend antizionistische und antisemitische Ideologie gerade in der frühen DDR erklären auch den überproportionalen Anteil jüdischer Flüchtlinge innerhalb der Gesamtfluchtbewegung aus der DDR,40 3500 der 5000 in der DDR lebenden Juden sahen sich gezwungen, den Staat zu verlassen.41 Diese von der stalinistischen Ideologie unterfütterten Formen von Antisemitismus traten in den frühen Jahren der DDR neben die noch aus dem Nationalsozialismus fortbestehenden Einstellungen,42 die dem Projekt einer vollständigen Entnazifizierung im Weg standen. Trotzdem wurde von offizieller Seite zumeist behauptet, es gebe nahezu keine Antisemiten mehr im Staat. Die linientreue Presse stellte judenfeind­liche Vorfälle als Einzelfälle dar, deren scharfe Verfolgung man sich auf die Fahnen schrieb.43 Auf diese Weise bediente sich die Führungselite in doppelter Weise des Antisemitismus. Einerseits wurde dem politischen Gegner Judenfeind­lichkeit vorgehalten, um auf dessen weiterhin faschistische Ausrichtung zu verweisen. Andererseits wurden selbst antijüdische Vorstellungen aktiviert – etwa bei Parteiüberprüfungen und ‚Säuberungen‘ oder der Haltung gegenüber Israel –, „um eigene Machtpositionen zu festigen und systemkritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.“44 Der offizielle Antizionismus und Antisemitismus der DDR-Führung muss daher als taktisch-politisch eingeschätzt werden.45 Thomas Haury weist in d ­ iesem Zusammenhang auf die notwendige Unterscheidung von Antisemitismus und Antizionismus hin, betont aber gleichzeitig, dass der Begriff des Antisemitismus auch bei Formen antijüdischer Einstellung zutreffend ist, die nicht rassenbiolo­gisch begründet sind.46 Klaus Holz hingehen sieht in der antizionistischen Politik „eine Reproduktion der Sinnstruktur des nationalen Antisemitismus“47.

39 Vgl. Groehler: Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ, S. 20 ff. 40 Vgl. ebd., S. 19. 41 Vgl. Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 152. 42 Vgl. Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 122. 43 Vgl. ebd., S. 101 ff. 44 Ebd., S. 125. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. Haury: Antisemitismus von links, S. 13 f. 47 Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001, S. 431.

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Insgesamt erwiesen sich das in der DDR sowie teilweise bereits in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführte politische Programm und die dahinterstehende Ideologie als „unfähig, den Rassenantisemitismus der NS-Diktatur erklären zu können“48. Er wurde allein auf ökonomische ­Ursachen zurückgeführt und mündete in einseitiger Imperialismuskritik, was zur Folge hatte, dass Antisemitismus ledig­lich dem kapitalistischen Westen zugeschrieben wurde, während man das Phänomen in den eigenen Reihen verkannte oder bewusst ignorierte. Zudem „hat die abstrakte, sich theoretisch gebende Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der DDR dazu geführt, daß Opferperspektiven und Selbstbetroffenheit weitgehend ausgeblendet blieben“49. Diese unkritische Haltung des DDR-Regimes hat „im Grunde auch den fortbestehenden latenten Antisemitismus bedenkenlos bedient“50. Gerade für einen jüdischen Autor wie Günter Kunert, dessen Anspruch es stets war, sein Werk zeitgeschicht­lich eingeordnet zu wissen und das Leben in der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR zu reflektieren,51 muss diese Ausgangssituation als entscheidend eingeschätzt werden. Sie bestimmte, wie in Erwachsenenspiele zu sehen ist, nicht nur sein Selbstverständnis als Autor, sondern vor allem auch seine Beziehung zur eigenen jüdischen Identität und ­welchen Raum er dieser in der autobiografischen Rekonstruktion seiner DDR-Jahre zuspricht. II

Persön­lichkeit und Identität werden von Günter Kunert in seinem Erinnerungsbuch nicht als vordefinierte Phänomene begriffen, vielmehr ist klar, dass der Prozess der Herstellung von Erinnerung und Identität nicht ohne Umwege auskommt und der nachgezeichnete Lebensweg eben kein geradliniger sein kann. Von vornherein unternimmt das erzählende Ich daher Versuche, sich die eigene Vergangenheit ‚spielerisch‘ mit den naiven Augen des Kindes zu erschließen. Die ersten Jahre stehen in Erwachsenenspiele unter dem ­­Zeichen der Existenz als „Indianer“ (9), von der aus sich die Jugend und das Erwachsenwerden erschließen. Immer wieder wird auf das Indianermotiv zurückgegriffen. Der Indianer als eine fremde, exotische Figur verweist schon auf die Bedeutung

48 Groehler: Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ, S. 6. 49 Ebd., S. 27. 50 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990. München 2008, S. 350. 51 Vgl. Bekes: Günter Kunert.

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von Andersartigkeit und Abgeschiedenheit für die Identitätskonzeption.52 Die Bezeichnungen ‚Indianer‘, ‚Künstler‘ und ‚Mischling‘ treten nebeneinander (vgl. 21), wodurch ein allgemeines Gefühl der Fremdheit evoziert wird. Diese umfassend empfundene Fremdheit ist der rote Faden des Textes; das Motiv, von dem bereits Kunerts Reflexion seiner Kindheit ausgeht und zu dem er den Erzählstrang immer wieder zurückführt. Das kind­liche Spiel hat zum Ziel, die Reife eines echten Indianers zu erreichen, das Aufrücken „in den Indianerstand“ (10). Dieser Modus des Heranwachsens als fortwährendes Spiel „braucht eine ganze Weile“ und ist „keineswegs leicht und einfach“ (9). Der Text stellt den Prozess der Identitätsbildung als spielerisch dar, das Nachdenken über das eigene Leben beginnt mit einem Rollenspiel. Neben der nötigen Selbstdisziplin (vgl. 12) erfordere dieser Identitätsbildungsprozess das entsprechende Hilfsmittel, näm­lich ein „Spielzeug, wie es Erwachsene verwenden“ (vgl. 14). Konkret gemeint ist hier die Waffensammlung Kunerts, seine private „Rüstkammer“ (15). Sie enthält „das Spielzeug der Gojim“ (15), der Nichtjuden. Die Sphäre der bewaffneten Auseinandersetzung reicht schon zu frühesten Kindertagen in das Leben hinein. Krieg und Vernichtung sind Bestandteile jeder Biografie, jedoch besteht die Bedrohungssituation, das wird betont, besonders für Juden durch Nichtjuden, und es ist gerade die Bedrohung, über die stellenweise jüdische Identität aufgebaut wird, denn Kunert wundert sich, dass seine Verwandten ihn wegen dieser Waffenkammer nicht als „meschugge“ (15) bezeichnen, wächst doch mit dieser „von Tag zu Tag die Bedrohung der wegen ihrer Abstammung Ausgegrenzten“ (15). Hinzu kommen bei der Beschäftigung mit dem Spielzeug der Erwachsenen die „Mög­lichkeiten der Selbstverletzung“ (15). Diese Gefahr der Selbstverletzung ist hier auch zu denken als die Gefahr, der sich derjenige aussetzt, der die ‚Erwachsenenspiele‘ mitspielt. Der Bereich des Erwachsenen, Ernsthaften bezeichnet als Gegenpol des Kind­lichen die Sphäre der Politik, des Krieges und der Vernichtung. Wer sich auf das Spiel mit den politisch-historischen Begebenheiten der Zeit einlässt, lebt gefähr­lich. So werden auch die biografischen Reflexionen, die Erwachsenenspiele insgesamt, zur Bedrohung der unbeschwerten Idylle. Spielen wir alle immer nur ‚Erwachsenenspiele‘, dann bedeutet dies, dass sich auch das Spiel mit der eigenen Identität nicht auf die Kindheit beschränkt. Identitätsfindungsprozesse sind für Kunert nicht durch das Erwachsen­ werden abschließbar und endgültig; jeder spielt auch später immer eine Rolle und erschließt sich damit zugleich einen alternativen Erfahrungs- und

52 Vgl. Ludorowska: Individuelle Geschichten im Erinnerungsdiskurs der Nachwendezeit, 81 ff.

130 Till Hensen

Erinnerungsraum, teilweise angesiedelt im Bereich der Fantasie.53 Daher r­ ichten sich literarische Texte nach Kunerts poetolo­gischem Verständnis allgemein vor allem an den Autor selbst und dienen dessen eigener Standortbestimmung und Identitätsfindung.54 Indem im Text mit den Mitteln des Spiels, des Sprunghaften und der Ironie von der tatsäch­lichen Alltagserfahrung Abstand genommen wird, ermög­licht die so gewonnene Distanz, auch die ‚ernste‘ historische Vergangenheit und das Politische, Bedroh­liche mit zu reflektieren. Zusammen mit dem zeit­lichen Abstand, der sich aus der nachträg­lichen Aufarbeitung der eigenen Kindheit ergibt, etabliert Kunert eine Art doppelter Distanz, die historische Distanz des sich Erinnernden sowie die ironisch-spielerische Distanz, die eine vielschichtige Sicht auf die Geschichte bereitstellt. Die Biografie geht über die eigene Subjektgeschichte hinaus, sie muss Modi finden, die eigene Lebensgeschichte mit größeren zeitgeschicht­lichen Linien zu verbinden. Der Idee des kind­lichen und sprunghaften Erinnerns von historischer und persön­licher Vergangenheit steht der chronolo­gische Aufbau des Textes gegenüber, der gegen die Diskontinuität des eigenen Lebens im 20. Jahrhundert gehalten wird. Auf Abweichungen in der strengen Erzählreihenfolge weist Kunert explizit hin, wenn es beispielsweise darum geht, einen „Komplex merkwürdiger Beziehungen“ (133) darzustellen. Es handelt sich dabei aber um Verstöße gegen den Normalfall der Chronologie, von der meistens ausgegangen wird. Vorgriffe auf spätere Ereignisse oder Reflexionen über bereits abgehandelte Episoden finden selten statt. Im Festhalten an der Chronologie der Ereignisse kann der Versuch gesehen werden, dem Verlauf der Erinnerung Geschlossenheit zu verleihen. Das Leben soll in seiner Kontinuität dargestellt werden, um der turbulenten oder gar katastrophalen Geschichte ein Ordnungsprinzip entgegenzustellen. Wenn es jedoch darum geht, eben die Begebenheiten zu erzählen, die ­Zweifel an der Geradlinigkeit des eigenen Lebens aufkommen lassen, verwirft Kunert auch die strenge episodische Reihenfolge. Ein Beispiel hierfür ist das Wieder­sehen mit seinem Kindermädchen nach fünfzig Jahren. Sie, als „gestalt­gewordene Vergangenheit“ (10), aktiviert eine andere Form der Begegnung mit den Erinnerungen. Die jähe Konfrontation mit der eigenen Kindheit – mög­licherweise sogar als ein Anlass, überhaupt mit dem Projekt einer Autobiografie zu beginnen – ruft unvermittelt die tra­gischen Erlebnisse ­seiner Jugend hervor. Für Kunerts Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus war

53 Vgl. Micus-Loos: Zum Porträt einer Generation, S. 218. 54 Vgl. Hinze, Dagmar: Günter Kunert: Sinnstiftung durch Literatur. Literaturtheorie und dichterische Praxis. Frankfurt am Main et al. 1996, S. 18 f.

Günter Kunerts Erwachsenenspiele 131

die Erfahrung bestimmend, dass Angehörige zu Opfern wurden und verschwanden. Der Erzähler registriert das sukzessive Zusammenschrumpfen seiner Familie, deren Mitglieder entweder verschwinden oder getötet werden. Die Verbleibenden rücken als Folge „enger zusammen“ (37), der vierzehnte Geburtstag wird bereits in deut­lich kleinerer Runde gefeiert (vgl. 48). Auch der „letzte gemeinsame Gang“ (47) mit dem Onkel wird als eingeprägte Erinnerung beschrieben. Geschlossene und lineare Lebensentwürfe werden der Erfahrung von Bedrohung und Vernichtung, eng gebunden an die Reflexion über jüdische Identität, nicht mehr gerecht. Diese Erinnerungen brechen aus dem sie umgebenden Alltagsgeschehen hervor. Eine spätere Fahrt des Ehepaars Kunert nach Theresienstadt gibt Anlass, die lineare Schilderung der Kindheitserinnerungen durch einen Vorgriff um 20 Jahre aufzubrechen. Vor der Ruine einer Erschießungsmauer wird mit Blick aus der Zukunft auf die Kindheit zurückreflektiert, inwiefern gerade „in jüdischen Familien die Kinder in die ‚Erwachsenenspiele‘ miteinbezogen werden“ (50). Auch diese Aussage betont, dass keine Lebensgeschichte mehr denkbar ist, die sich nicht mit dem Holocaust konfrontiert sieht. So stellt sich das Erwachsenwerden in einer jüdischen Familie als ein ‚Erwachsenenspiel‘ heraus, bei dem die eigene Erinnerung mit dem Erinnern des Holocaust untrennbar verbunden ist. Die Episoden in und um Theresienstadt als einem der „Unheilsplätze“ (244) stehen außerdem für seinen Verfall zu einer „Stelle ausgelöschten Gedenkens“ (49), die mehr für Vergessen als für Erinnern bürgt und schließ­lich zur Enttäuschung über die vergeb­liche Erinnerungsarbeit führen muss. 55 Andererseits aber wird die Verbindung von Biografie und Holocaust in Erwachsenenspiele an anderer Stelle wieder relativiert durch die Perspektive des Kindes, die nicht dem Modus des Erwachsenenspiels folgt: Noch weiß man nicht, daß es überhaupt einen Ort namens Theresienstadt gibt. Dort dreht Kurt Geron einen Film, betitelt »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt«, und wird nach Ende der Dreharbeiten zu einem anderen Platz transportiert, der Auschwitz heißt. Von dem weiß man auch noch nichts. (10)

Die Perspektive auf den Holocaust ist nicht einfach die des sich erinnernden Erwachsenen, der auf seine Kindheit zurückschaut. Vielmehr wird auf Wissens­ lücken des vergangenen kind­lichen Ich beharrt und so der Abstand der historischen Ereignisse zum kind­lich betrachteten Leben an dieser Stelle betont. Man wisse noch nichts. Eine Verbindung von Subjekt- und Zeitgeschichte ist

55 Vgl. Micus-Loos: Zum Porträt einer Generation, S. 219.

132 Till Hensen

hier nicht mög­lich. Die Einbindung der übergeordneten politischen Ereignisse in die Erinnerung findet also erst im Nachhinein beim Erwachsenen statt und wird von Kunert an dieser wie an anderen Stellen zurückgenommen zugunsten der kind­lichen Perspektive, die den Ernst des Historischen bewusst verdrängt. Konsequent wendet sich der Ich-Erzähler unmittelbar im Anschluss an diese Passage wieder der Indianerwerdung zu, setzt also das Spiel mit fantastischen Mitteln fort. Weiter wird eine abend­liche Gesellschaft im Elternhaus kommentiert: „Inzwischen tagt die ‚Wannseekonferenz zur Endlösung der Judenfrage‘, mit deren Beschlüssen die fröh­liche Skatrunde insgesamt zu Verlierern wird“ (42). Die Verbindung des Skatspiels mit der Vernichtung wird auch später noch weiter ausgeführt, bis der Tod aller regelmäßigen Teilnehmer die Skat­ runden beendet (vgl. 151). Selbst im Umgang mit der erschütternden und traurigen Erinnerung an den Holocaust wird das Spiel als Kontext für Erinnerungen nicht aufgegeben, vielmehr hält Kunert sich am Spielerischen als einem Modus der Auseinandersetzung fest, so auch, wenn die Deportation seines Großvaters kontrastiert wird durch Luftschlangen und Konfetti von einer vorangegangenen Feier. Diese sei „trotz see­lischer Belastungen fröh­lich“ (49) verlaufen, die belastenden ernsten ‚Erwachsenenspiele‘ verbinden sich auch hier mit den alltäg­lichen, trivialen, kind­lichen Spielen. Der 9. November, der Beginn der Novemberpogrome von 1938, wird in Erwachsenenspiele vordergründig als Anlass zum Witzemachen beschrieben, mit denen „sich die Erwachsenen über die trostlose Lage hinweg“ (37) trösten. Zuvor stellt Kunert zu jiddischen Witzen noch fest: „Jede Sprache stirbt mit ihren Benutzern, und die besten Witze erscheinen daher den ­‚ arischen‘ Zuhörern wie böhmische Dörfer“ (28). Oft geht es um die Polarität zwischen Ernst und Spiel (vgl. 40) beziehungsweise Realität und Witz, in der sich der Text bewegt. Zugleich fungiert das Jiddische zu Beginn noch als ein Identitätsmerkmal, das den jungen Kunert von anderen abhebt. Er bemerkt: „Obschon nicht ausdrück­lich untersagt, verwende ich niemals jiddische Ausdrücke gegenüber Spielgefährten“ (22). Es handelt sich dabei um Feststellungen des Autobiografen, die sehr wohl die eigene jüdische Identität betonen. Die Bemerkungen über das Jiddische und jiddische Witze im Text müssen ­darüber hinaus als Anspielungen auf das antisemitische Stereotyp einer ‚verdorbenen‘ jüdischen Sprache gelesen werden,56 das Juden von der ‚arischen‘ Mehrheitsgesellschaft trennt und als die Anderen stigmatisiert, weswegen

56 Vgl. Gilman, Sander: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Aus dem Amerikanischen von Isabelle König. Frankfurt am Main 1993.

Günter Kunerts Erwachsenenspiele 133

das Jiddische im Umgang mit ‚Nichtjuden‘ zu vermeiden ist. Immer wieder ist es die Sprache, die den Widerspruch ­zwischen Selbstverständnis und Außenzuschreibung verdeut­licht. Insgesamt bleibt es eher bei kurzen Einschüben, in denen der Antisemitismus und der Holocaust als Bestandteile der eigenen Lebensgeschichte zwischen den erzählten Episoden immer wieder durchscheinen. Außerdem stehen diese Einschübe in klar markierter Distanz zum eigent­lichen Lebensalltag. „Die biographischen Krisenerfahrungen werden […] weder direkt noch detailliert thematisiert, sondern durch Szenen und Rückblenden angedeutet, die das intakte, normale, fast idyl­lische Leben vor der Katastrophe beschreiben“57. Meistens behält der Text die „Scheinnormalität“ (26) bewusst bei und stellt die Bedrohung durch die großen geschicht­lichen Katastrophen scheinbar zurück. Sie finden ihre Beachtung vor allem mit den Mitteln der Ironie, während es „­kleinere familiäre Katastrophen“ (26) sind, die das Leben nach wie vor bestimmen. „Papierhütchen auf dem Kopf, Pappnasen im Gesicht, Luftschlangen werfend, die vergangene Zeit vergessen und die künftige verdrängen“ (151). Der ­Wechsel zwischen Ernst und Spiel ist ein Vorgang, der in Erwachsenenspiele auch expliziert wird, zusammen mit den Verdrängungsmechanismen im ­Verlauf des eigenen Erlebens der Geschichte. Dem Streben nach Linearität und Konsistenz der Autobiografie begegnet das fortwährende Spiel als eine Mög­lichkeit des Heranwachsens, das sich auf der Grenze von ernster Realität und Rollenspiel bewegt. Die auf diese Weise etablierte Erzählhaltung geht auch ein in die ironisierend verfahrende Darstellung des Nationalsozialismus und der NS-Vernichtungspolitik. Die Verschränkung von Subjekt- und Zeitgeschichte findet einerseits statt, wird aber auf der anderen Seite relativiert durch den Modus des kind­lichen Indianer­ spiels als phantastische Mög­lichkeit, in der Alltagsidylle zu verbleiben. Doch macht der Text diese Form der Verdrängung des Historischen explizit und hält, durch die nachträg­liche Selbstreflexion des Autobiografen, dadurch umso mehr an der Notwendigkeit fest, einen Zusammenhang zwischen den historischen Ereignissen und der eigenen Identität herzustellen, also die ­ernsten ‚Erwachsenenspiele‘ mitzuspielen. Außerdem lässt sich ablesen, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust für Günter Kunerts Reflexion seiner jüdischen Identität entscheidend ist. Als dasjenige historische Faktum, das wie kein anderes krasse, unumgäng­liche Auswirkungen für jedes Leben und jede Biografie nach 1945 hat, stellt das Erinnern der Vernichtung der europäischen Juden das ‚Erwachsenenspiel‘ schlechthin dar.

57 Micus-Loos: Zum Porträt einer Generation, S. 220.

134 Till Hensen

III

Günter Kunert beschreibt in einem durchaus selbstkritischen Rückblick das positiv besetzte kommunistische Selbstverständnis seiner Jugend und ­liefert damit ein Gegenmodell zur Anknüpfung an jüdische Traditionen bei der Konsti­ tuierung von Identität. Als kleiner Junge vertritt Kunert einen idealisierten und stolz vorgetragenen Kommunismus (vgl. 38). Bereits vor Kriegsende übt außerdem alles Rus­sische eine große Anziehung auf ihn aus. „Moskau“ als ein ma­gisch aufgeladen empfundener Ausdruck „verursacht ein Kribbeln auf der Haut des Nackens“ (77). Die später einsetzende Kritik an der sowjetisch geprägten Ideologie wird aber schon vorweggenommen, als die einziehende Rote Armee beschrieben und damit entzaubert wird: Verwunderung, Verblüffung, Erstaunen, Kopfschütteln. Das also wäre der Troß der ruhmreichen Roten Armee? Lauter Panjewagen, hölzerne bäuer­liche Vehikel, von ungewöhn­lich kleinen Pferden gezogen. Hinter der Deichsel auf den nackten Brettern meist ein älterer, bärtiger Soldat, gemüt­lich sein Pfeifchen paffend, als käme er von der Feldarbeit heim. Dazwischen ab und zu ein Lastauto, wie auf dem Automobilmuseum der Firma Ford. (88)

Später folgt der Eintritt in die SED nach dem Beispiel der Mutter, wobei der programmatische Satz: „Nie wieder Faschismus“ zu d ­ iesem Zeitpunkt für ihn „mehr als ein Abstraktum“ (117) gewesen sei. Seine Mutter habe den Eintritt in die KPD gewählt, da es sich bei den Kommunisten ihrer Meinung nach um die „entschiedensten Kämpfer gegen Hitler“ (91) gehandelt habe. Kunert greift damit den Glauben an eine entschiedene und breite Opposition der deutschen Kommunisten gegen die Nazis auf, der auch von der DDR propagiert wurde. Er reflektiert hier im Rückblick auf seine frühen Jahre die Auswirkungen des ideolo­ gisch verordneten Antifaschismus der DDR mitsamt seinen Implikationen für den Umgang mit der jüdischen Herkunft, die in Kapitel I beschrieben wurden. Zwischen der kommunistischen Mutter und dem kapitalistisch eingestellten Vater finden immer wieder Streitgespräche statt, bei denen sich der junge Günter Kunert auf die Seite der Mutter stellt (vgl. 101). Der Vater vertritt sein eigenes ‚Glaubensbekenntnis‘: „Wirtschaft in Fesseln ist Tod der Wirtschaft“ (25), womit nicht nur dessen klare antikommunistische Haltung deut­lich wird, sondern auch eine definitive Absage an alles Religiöse zugunsten rein ökonomischer Fragen verbunden ist. Das pragmatische Glaubensbekenntnis der Mutter lautet: „Ich glaube, daß ein Pfund Rindfleisch eine gute Suppe ergibt.“ (27) Im Familien­ leben ist das ideolo­gische Streitgespräch zwischen Mutter und Vater zentral, die jeweils für die konkurrierenden Systeme Kommunismus und Kapitalismus

Günter Kunerts Erwachsenenspiele 135

eintreten. Kunert steht, zumindest als Jugend­licher, immer auf der Seite der Mutter und vertritt genau wie sie vehement kommunistische Ideen, nicht nur in Opposition zum herrschenden Nationalsozialismus, sondern auch noch in der frühen DDR. Im Gegensatz zu Kunerts späterer Abkehr von bestimmten Überzeugungen steht die Mutter für das Rollenbild einer linientreuen Kommunistin, wenn es zum Beispiel zum Streit kommt, weil Günter Kunert und seine Frau nicht ausreichend um Stalins Tod getrauert hätten (vgl. 176). Ihre Funktion als Bindeglied zur ganzen Welt des Jüdischen, zu anderen Juden in der Familie und zu den dazugehörigen Traditionen fällt dagegen nach dem ‚Systembruch‘ kaum mehr ins Gewicht. Ihre Figur zeigt die Wirkungsmächtigkeit kommunistischer beziehungsweise sozialistischer Ideen auf und wie diese andere Betrachtungsweisen überlagern. Im familiären Gespräch und Alltag der Familie Kunert kann die jüdische Tradition keinen großen Raum einnehmen. Es wird eher das Bild einer vollständig akkulturierten Familie gezeichnet, in der die jüdisch geprägte Familiengeschichte in den Hintergrund tritt, genauso wie etwa christ­liche „Dekorationsartikel“ (153). Wenn dann aber von einer Pragreise auf den Spuren des Golems erzählt wird, in deren Mittelpunkt der Besuch des jüdischen Friedhofs steht und auf die wieder die Besichtigung von Theresienstadt folgt (vgl. 242 ff.), ist es gerade jene jüdische Tradition, der Kunert nachgeht. Hier begibt er sich auf die Suche nach Spuren der eigenen jüdischen Vergangenheit. Die Entfremdung von seiner jüdischen Herkunft unter dem Eindruck der Homogenisierungstendenzen in der DDR-Gesellschaft besteht nicht durchgängig. So ist auch der Kontakt zu den jüdischen Gemeinden in der DDR ebenfalls nicht ganz abgebrochen und wird intensiviert, je kritischer sich die Haltung Kunerts zum Staat entwickelt. Kurz vor seiner endgültigen Ausreise heißt es: „Einige Bekanntschaften lösen sich in nichts auf. Andere scheinen beständiger. So die mit dem Ostberliner Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde. Ich setze unbewußt etwas Familiäres voraus, eine innere Verbundenheit, befangen in Sentimentalität.“ (388) Wenn Kunert das Leben in der DDR schrittweise rekapituliert, kommt im Verlauf der Schilderung ganzer Lebensjahre immer stärker das Moment der Kritik am Kommunismus und am System der DDR hinzu, während diesen unmittelbar nach der nationalsozialistischen Herrschaft noch große Hoffnungen entgegengebracht wurden. Kunert bildet außerdem das Schleichende ­dieses Prozesses ab, und reflektiert Schwierigkeiten im ideolo­gischen Umdenken, obwohl er zunächst „Geduld mit den Kinderkrankheiten des Sozialismus“ (221) hatte. Es kommt zu politischen Streitgesprächen über die DDR zwischen Kunert und seiner Ehefrau (vgl. 171), wobei er die Rolle des Verteidigers einnimmt, genau wie seine Mutter früher gegenüber dem Vater. Doch beschränkt sich die Kritik bis zuletzt größtenteils auf den Bereich der Zensur und der

136 Till Hensen

Kulturpolitik und erfolgt durch den Dissidenten, der das System insgesamt anzweifelt, so etwa, wenn es um das Vorhaben geht, als DDR-Bürger über den Holocaust zu schreiben: Ich muß etwas schreiben, wogegen die Zensur keine Einwände erheben kann. Und da ich die erwünschten Lügen nicht zustande bringe, nicht zustande bringen will, bieten sich Themen an, die ins Bild des plakatierten Antifaschismus passen. Das ist nicht mal ein Ausweichen, eine Ausflucht. Ich will ja, daß unvergessen sei, was an den Schandplätzen Menschen von Menschen angetan worden ist. (299)

Die Bewertung der staat­lichen Ideologie erfolgt jetzt aus einer erwachseneren Sichtweise. ‚Antifaschismus‘ als Programmbegriff der DDR wird nun als Zensur­mechanismus verstanden, der bestimmte literarisch vermittelte Zugänge zur Erinnerung ausschließen kann. Zudem wird hier Kunerts Selbstentwurf als systemkritischer Autor ausgedrückt, der sich an den Grenzen des in der DDR Sagbaren bewegen möchte und nicht „auf der antifaschistischen Leimrute“ (221) der DDR kleben bleiben will. Es verwundert daher, dass gerade diese Textstelle eine Tendenz zur „Vermenschheit­lichung“58 der Opfer aufweist, die den allgemeinen Tendenzen in der DDR-Geschichtsschreibung, spezifisch jüdische Opferperspektiven auszuklammern, durchaus entspricht. Generalisierend heißt es, dass „Menschen von Menschen“ etwas angetan worden sei, ohne auf die Gruppe der Opfer näher einzugehen. Die Kritik am System der DDR geschieht aus der selbst gewählten Außenseiterposition des Schriftstellers heraus, wohingegen Kunert keinen Zusammenhang zwischen seinem Außenseitertum und mög­lichen antisemitisch motivierten Vorbehalten der DDR-Gesellschaft sieht. In Erwachsenenspiele werden Literaturkritiken aufgeführt, die Kunert als einen literarischen Dissidenten schmähen: „Hochmut, Subjektivismus, Individualismus, Überheb­lichkeit, ohne Verbindung zu den Massen, kein Klassen­ standpunkt – die ganze Palette bösartiger Phrasen dient dazu, das Porträt eines üblen Elements zu entwerfen, das einen Namen trägt, den man sich merken würde“ (136). Auffallend ist daran, dass jene Zuschreibungen ihrem Wortlaut nach K­lischees enthalten, die in der Geschichte der DDR durchaus von offi­ zieller Seite auf Juden angewendet wurden, um diese als Antikommunisten und der Arbeiterklasse nicht Zugehörige zu kennzeichnen, als ‚fremde Elemente‘.

58 Vgl. dazu etwa Diner, Dan: Der Holocaust im Geschichtsnarrativ – Über Variationen des historischen Gedächtnisses. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Stephan Braese. Opladen, Wiesbaden 1998. S. 13 – 30, hier S. 28.

Günter Kunerts Erwachsenenspiele 137

Während Kunert im ersten Kapitel noch der paradigmatische Außenseiter als Halbjude war, überlagert das Bild des dissidenten systemkritischen Autors die Bedeutung von jüdischer Identität später. Antisemitisch sind in Erwachsenspiele nur ein rus­sischer Beamter in der SBZ und die übergeordnete politische Linie Moskaus, nicht jedoch Mitbürger später in der DDR. Günter Kunert erklärte mehrfach, etwa im Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 08. 11. 2008, es habe in seiner Wahrnehmung ledig­lich ein offizieller staat­licher Antizionismus vorgeherrscht. Es gebe aber „ausreichend Nachweise und Indizien, dass die DDR weiß Gott nicht antisemitisch war“59, womit Kunert mit der Linie der SED konform geht, antisemitische Vorfälle und Ansichten in der eigenen Bevölkerung herunterzuspielen. Es verwundert daher nicht, dass sich dementsprechend keine Darstellung eines alltäg­lichen DDR-Antisemitismus in Erwachsenenspiele finden lässt. Als er und seine Mutter zu einer rus­sischen Kommandantur fahren, treffen sie auf einen Besatzungsoffizier, der sie „mit einer Stimme voller Verachtung“ (90) unversehens wieder wegschickt, weil sie Juden sind. Nun ist die Enttäuschung über den Antisemitismus des Russen bei Kunert groß: Mein Moskowiter, mein Bolschewik mit dem Roten Stern, wie ich selber einen besitze, ein Antisemit?! Wie kann das sein?! Wozu ist der Bursche denn hier, wenn nicht unseretwegen? Kleinlaut ziehen wir ab […] und unsere Beziehung zur sowjetischen Besatzungsmacht ist beendet, ehe sie begonnen hat. (90)

Anstatt etwa die in der vorherrschenden sowjetischen Ideologie enthaltenen antisemitischen Vorstellungen zu thematisieren, werden sie hier nur mit den rus­sischen Soldaten in Verbindung gebracht. Der nicht-deutsche Offizier wird eher zu einem vereinzelten Sonderfall von Antisemitismus. In ähn­licher Weise wird mit offizieller antizionistischer Politik verfahren, deren Aufkommen in Moskau zwar thematisiert wird (vgl. 176), jedoch nicht für die DDR in Frage kommt. Als es dann auf dem ‚Lehrgang des deutschen Schriftstellerverbandes‘ mit dem Autorenkollegen Armin Müller zum Streit kommt, ruft dieser aus: „Du gehörst ins Lager“ (144). Doch wird auch dies erneut in ausschließ­lichem Zusammenhang mit der Position als Schriftsteller gesehen, die sprach­lich angedeutete Verbindung zum Holocaust wird dagegen übergangen. Beim Übergang zweier Systeme hat sich für Kunert eine Verschiebung in der Bedeutung seiner jüdischen Identität ergeben, die zwar bis zuletzt nicht

59 Scheller, Wolf: ‚Antizionismus gab es in der offiziellen Politik, nicht in der Bevölkerung‘. Gespräch. In: Stuttgarter Zeitung, 8. 11. 2008.

138 Till Hensen

aufgegeben wird, aber zugunsten der Rolle des Dissidenten im sozialistischen System zurücktritt. Wenn Elemente wie eine spezifisch jüdische Erinnerungsperspektive im Text herausstechen, dann nur punktuell, wie etwa auf der Ebene sprach­licher Ausdrücke aus dem Jiddischen, doch es bleibt bei einem ambivalenten Verhältnis zu den jüdisch geprägten Anteilen seiner Identität. Hinweise auf Antisemitismus in der DDR fehlen fast gänz­lich, was umso mehr erstaunt, da sich Günter Kunert der Verdrängung historischer Tatsachen in der nachträg­lichen biografischen Reflexion durchaus bewusst wird. Gegenüber den Bemühungen zur Gegenwartsbewältigung in der DDR und der verklärten Darstellung der kommunistischen Holocaustopfer wäre eine jüdische Opferperspektive vielleicht auf zu großen Widerstand getroffen und hätte die Außenseiterposition nur weiter verstärkt. Zu übergehen, dass nicht nur in der Bundesrepublik große Gesellschaftsteile nach wie vor antisemitisch eingestellt waren, wäre dann eine Mög­lichkeit, zumindest partiell an einem positiveren Bild festzuhalten und ein ‚normales‘ Leben in dieser Gesellschaft zu ermög­ lichen. Im Falle Günter ­Kunerts ist das Verhältnis zu speziell jüdischer Erinnerung daher gebrochen und wird überlagert durch andere Kohärenzentwürfe der eigenen Identität – wie etwa als Fremder oder Dissident –, die ebenfalls nicht voll aufgehen. In dieser Hinsicht trägt Erwachsenenspiele den sich aus den historischen Brüchen des 20. Jahrhunderts ergebenden tiefen Einschnitten in das eigene Leben und die eigene Erinnerung Rechnung. Von einem Misslingen des Unterfangens, seine Lebensgeschichte mit ihren Widersprüch­ lichkeiten abzubilden, kann keine Rede sein, vielmehr ist die Art und Weise, wie sie Einzug in den biografischen Text gehalten haben, symptomatisch für den literarischen Umgang mit Erinnerung im Hinblick auf die Zäsuren des vergangenen Jahrhunderts.

Andrea Kuchenbuch

Tagebuch, Autobiografie, Sprachkritik

Instrumentalisierung von Erinnerung am Beispiel von Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen Erinnerungen von 1933 – 1945 lassen nicht los! Victor Klemperer

Erinnerungen sind nicht nur ein beliebtes Thema in der Literatur, sondern vor allem auch in vielfältiger Form die Basis von Literatur und von Schreibprozessen überhaupt. In Tagebüchern zeigt sich diese Verbindung von Erinnerung und Schreiben am ursprüng­lichsten. Hier geht es zuallererst um das Festhalten und Bewahren von persön­lichen Erinnerungen. Victor Klemperer hat es dabei jedoch nicht belassen: Der jüdische Romanist hat hauptsäch­lich seine Tage­ bücher aus der Zeit von 1933 bis 1945 in seiner Sprachkritik LTI. Notizbuch eines ­Philologen  1 synthetisiert. LTI steht für ‚Lingua tertii imperii‘, ein Vermerk, mit dem Klemperer seine sprach­lichen Beobachtungen im Tagebuch versehen hat und der für ihn metaphorisch für die Sprache der ganzen Epoche steht – inklusive der Plakate und Prunkbauten, der Autobahnen und Massengräber.2 In dem Aufsatz wird davon ausgegangen, dass Klemperer seine Erinnerungen aus den Notizen der Tagebücher ganz bewusst ausgewählt, angeordnet und bearbeitet hat, dass es also zu einer bewussten Inszenierung und Instrumentalisierung von Erinnerung kommt. Diesen Prozess der Konstruktion zu untersuchen, wird durch die Veröffent­lichung seiner Tagebücher in den 90er Jahren ermög­licht. In einem Vergleich der Tagebücher mit der LTI untersucht die nachfolgende Arbeit Klemperers Vorgehen bei der Umsetzung seiner Erinnerung, seiner Tagebuchnotizen der durchlittenen zwölf Jahre, in das heute vorliegende sprachkritische Werk. Zu klären ist etwa, inwieweit er die Notizen aus dem Original übernimmt, inwiefern er Kürzungen und Modifikationen vornimmt oder auch ergänzt. Bleibt persön­lich Erlebtes erhalten? An die Frage nach dem ‚Wie?‘ schließt sich das ‚Warum?‘ an. Welchen Zweck verfolgt

1 Klemperer, Victor: LTI . Notizbuch eines Philologen. 23. Auflage. Stuttgart 2009. Im Folgenden zitiert als: LTI. 2 Vgl. LTI, S. 19.

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Klemperer mit der speziellen Umwandlung seiner Erinnerungen in der LTI? Da hier keine vollständige Analyse der Tagebücher und der LTI mög­lich ist, wird die Untersuchung ledig­lich stichprobenartig beziehungsweise exem­ plarisch erfolgen können. I Erinnerung(en) in Tagebuch und Autobiografie

Zur besseren Einordnung der Untersuchung von Klemperers Umgang mit seinen Erinnerungen im Übergang vom Tagebuch zur LTI wird im Folgenden erst kurz auf Eigenschaften von Tagebüchern und Autobiografien allgemein hingewiesen. Ergänzt werden diese Ausführungen um Thesen aus der Gedächtnisforschung. Dusini definiert die Autobiografie als eine „rück­ blickende Prosaerzählung einer tatsäch­lichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persön­liches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persön­lichkeit legt“3. Er weist auf die Identität von Autor und Erzähler hin; meist stimmt diese auch mit der Identität der Hauptfigur überein, allerdings sind Ausnahmen mög­lich. Das Tagebuch hingegen verlangt die Identität der drei genannten Instanzen.4 Es handelt sich um eine autobiografische Gattung 5, die von Boerner als ein „fortlaufender, meist von Tag zu Tag geschriebener Bericht über Dinge, die im Lauf jedes einzelnen Tages vorfielen“6, beschrieben wird. Ebenso wie die deutsche weist schon die lateinische Bezeichnung ‚diarium‘ auf die Bedeutung hin, die der Tag hier für den Inhalt und die Struktur des Textes einnimmt.7 Die einzelnen Tage markieren die Abschnitte des Tagebuchs, die meist mit der Nennung des Datums beginnen. Dies bildet die Grenze zwischen einzelnen Eintragungen; der Aufbau des Tagebuchs folgt einem „chronolo­gischen Reihenprinzip“8 von Tagen. Meist erfolgt der Bericht regelmäßig und in geringem zeit­lichen Abstand zum Erlebten, es sind aber auch Unterbrechungen mög­lich.9 Abgesehen von der Trennung durch Daten folgen die Beiträge weder in Bezug auf Form noch auf Umfang und Inhalt bestimmbaren Regeln. Die Autorinnen und Autoren sind so vielfältig wie auch die behandelten Themen:



3 Dusini, Arno: Tagebuch. Mög­lichkeiten einer Gattung. München 2005, S. 72. 4 Vgl. ebd., S. 74. 5 Vgl. ebd., S. 67. 6 Boerner, Peter: Tagebuch. Stuttgart 1969, S. 11. 7 Vgl. Dusini: Tagebuch, S. 74; Boerner: Tagebuch, S. 13. 8 Vgl. Boerner: Tagebuch, S. 11; Dusini: Tagebuch, S. 107 f. 9 Vgl. Boerner: Tagebuch, S. 11.

Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen 141

Private Erlebnisse oder öffent­liche Vorfälle, Gedanken oder Empfindungen, nahezu alle mensch­lichen Tätigkeiten oder Erfahrungen bieten sich zur täg­lichen Fixierung an, kein Vorgang von Bedeutung und kein noch so abwegiges Detail bleiben ausgeschlossen.10

In der Regel weist ein Tagebuch einen „monolo­gischen Charakter“11 auf, wobei auch Dialoge eingeschoben werden können.12 Da es sich demnach nicht an einen bestimmten Adressaten, sondern in erster Linie an den Verfasser selbst wendet, sind weder Hintergrundinformationen noch ergänzende Erklärungen seitens des Schreibers notwendig; es hat keine narrativen Kriterien zu erfüllen, bedarf keines roten Fadens und keiner Kontinuität 13 und kann daher auch fragmentarischen Charakter aufweisen.14 Die Ähn­lichkeit zwischen Tagebuch und Autobiografie besteht in der hohen Subjektivität der beiden Gattungen, beide dienen sie der Selbstdarstellung. Das Tagebuch weist jedoch meist einen höheren Detailreichtum als die retrospektiv zusammenfassende Autobiografie auf, es kann – muss aber nicht – als Vorstufe für eine Autobiografie verwendet werden. Während das Tagebuch sich durch den geringen zeit­lichen Abstand zum Beschriebenen auszeichnet, wird eine Autobiografie aus größerer zeit­licher Distanz verfasst. Der Autor vermag rückblickend Zusammenhänge zu erkennen, die einem Tagebuchschreiber zuerst noch verborgen bleiben, und kann daher die gemachten Erfahrungen zu einer sinnhaften Lebensgeschichte anordnen.15 Allerdings weisen Dusini, Wisthaler und Boerner auch in Bezug auf das Tagebuch darauf hin, dass hier schon Selektionen sowie Reduktionen vorgenommen 10 Ebd. 11 Dusini: Tagebuch, S. 68. 12 Vgl. ebd., S. 68 ff. 13 Dies bedeutet jedoch nicht, dass jedes Tagebuch aus einem Aneinanderreihen von Fragmenten besteht, viele Tagebücher folgen einer ‚Logik der Erzählung‘. Vgl. dazu Dusini: Tagebuch, S. 68. 14 Vgl. dazu Marschewski, Marie-Amal: Narrative Identitätskonstruktionen und subjektives Krankheitserleben in den Tagebuchaufzeichnungen erkrankter Menschen. Eine textrekonstruktive Analyse von Krankheitstagebüchern. 2007. Diss. Einzusehen unter: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/3139/pdf/Abschlussfassung.pdf, zuletzt eingesehen am 26. 02. 2014, S. 53; vgl. auch Wisthaler, Sigrid: Karl Außerhofer: Das Kriegstagebuch eines Soldaten im Ersten Weltkrieg. Innsbruck 2010, S. 19. 15 Vgl. zu ­diesem Absatz: Leh, Almut: Biographieforschung. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. v. Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer. Stuttgart, Weimar 2010. S. 299 – 311, hier S. 304; Boerner: Tagebuch, S. 13; Dusini: Tagebuch, S. 93.

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werden, da zum einen wegen der Fülle an Eindrücken ausgewählt werden muss. Noch im Prozess der Wahrnehmung wird bereits selektiert. Zum anderen wird jeder Schreiber durch bestimmte Interessen und Gefühle beeinflusst. Jeder Schreibprozess beinhaltet stets eine Form von Selektion und jeder Versuch, Erinnerungen zu bewahren, erfordert eine Form der Bearbeitung. Ob das Tagebuch rein privat gedacht oder zur Veröffent­lichung vorgesehen ist, beeinflusst nach Dusini und Boerner weder Form noch Inhalt und widerspricht damit nicht der Struktur des Tagebuchs.16 Jedoch kann es gerade, aber nicht ausschließ­lich, wenn der Verfasser mit dem Gedanken an eine Publikation spielt, zur „Selbstverfälschung“ kommen; das heißt, er präsentiert sich eher wie er wahrgenommen werden möchte, statt wie er wirk­lich ist. Diese Tendenz besteht bei der Autobiografie noch verstärkt durch den Versuch, einen Sinn in der eigenen Entwicklung aufzuzeigen.17 Allerdings ist d ­ ieses Phänomen der „Verfälschung“ von Erinnerungen kein Phänomen, das sich allein auf diese beiden Gattungen beziehen lässt. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Herausforderung, der das Gedächtnis und die Erinnerungen generell gegenüberstehen. So schreibt Helmut König: „Das Gedächtnis ist ein unzuverlässiger Geselle“18 und erläutert anschließend, dass es die Vergangenheit, den „Rohstoff der eigenen Erfahrung“19, nicht ohne zahlreiche Verformungen, Abwandlungen, Kürzungen oder sogar Erfindungen wiedergeben kann. Erinnerungen sind für ihn „eine Montage, in der Eigenes und Fremdes, Selbsterlebtes und Gehörtes, Gelesenes, Gesehenes auf geschickte Weise zu einer neuen Einheit zusammengefügt wird.“20 Dazu gehört zum Beispiel, dass Ereignisse verschiedener Tage zu einem einzigen Tag zusammengefasst werden oder umgekehrt. Ergänzt werden diese Schilderungen durch vergangene Erlebnisse anderer Menschen oder auch durch fiktive Beiträge. Dies geschieht jedoch – wenn auch oft unbewusst – nicht rein willkür­lich, sondern basierend auf den „gegenwärtigen Interessen, Wünschen und Überzeugungen“21 der sich erinnernden Person; vor allem „Plausibilität und lo­gische Kohärenz“22 sind wichtig für die Montage, weniger die „Treue

16 Vgl. Dusini: Tagebuch, S. 70 f.; Boerner: Tagebuch, S. 12, 25. 17 Vgl. zu ­diesem Absatz: Boerner: Tagebuch, S. 31; Wisthaler: Karl Außerhofer, S. 18; Rüttinger, Denise: Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor Klemperer. Bielefeld 2011, S. 14, 20. 18 König, Helmut: Politik und Gedächtnis. Weilerswist 2008, S. 71. 19 Ebd., S. 72. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 73.

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zur Wahrheit“23. König bezeichnet die Montage von Erinnerungen daher als „konstruktiv und funktional“24. Sie erfolgt im Gespräch mit anderen Menschen, aber auch im Dialog mit sich selbst, im Tagebuch und noch verstärkt in der Autobiografie aufgrund der größeren zeit­lichen Distanz. Das Gedächtnis und die Erinnerungen sind – unabhängig vom Grad ihrer Konstruktion – zudem grundlegend für die mensch­liche Identität.25 Das Tagebuch kann als Spiegel für die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, als Speicher für Gedanken und Reflexionen und als Werkstatt in Vorbereitung weiterer Werke dienen.26 Für Klemperer waren seine Tagebücher all das und noch mehr. Inwiefern er selbst seine Erinnerungen verändert und konstruiert, wird durch den Vergleich zu zeigen sein. II Klemperers Tagebücher

In der Einleitung zu seiner Autobiografie Curriculum Vitae äußert K ­ lemperer sich selbstreflexiv 27 zu den Gründen seines Tagebuchschreibens. Mit 16 Jahren begann er, seine Erfahrungen und Gedanken festzuhalten, zuerst vornehm­lich unter der Prämisse, das Notierte als Speicher für spätere Werke verwenden zu können. Im Laufe der Zeit sei ihm das Tagebuchschreiben zur „Notwendig­keit“ geworden, wobei die Speicherfunktion weiterhin erhalten bleibt. In ­seinem Tagebuch setzt er sich mit seinen Erlebnissen auseinander, um mit ihnen abschließen zu können.28 Mit Einsetzen der Herrschaft der Nationalsozialisten befasst Klemperer sich dann immer intensiver mit der Sprache und ihren Auswirkungen auf Ideologie und Gesinnung beziehungsweise damit, inwiefern durch die Sprache die Gesinnung eines Menschen erkennbar ist.29 Rüttinger weist darauf hin, dass 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd., S. 26 f. 26 Vgl. Boerner: Tagebuch, S. 20, 23 und 24. 27 Ansonsten finden sich selbstreflexive Äußerungen bezüg­lich seiner Arbeitsmethode, meist in Form von Zweifeln an seinem Vorgehen. Metasprach­liche Äußerungen hinsicht­lich der Auswahl des Materials oder der Erinnerung lassen sich leider nur vereinzelt feststellen. 28 Er führt dies fort bis kurz vor seinem Tod, nahezu sein ganzes Leben begleitet er sich also sozusagen selbst in seinen Tagebüchern. Vgl. dazu Rüttinger: Schreiben ein Leben lang, S. 11 f. Vgl. zu ­diesem Absatz Klemperer, Victor: Curriculum vitae. Erinnerungen eines Philologen 1881 – 1918. 1. Band. Berlin 1989, S. 6 f. 29 Abgesehen davon werden in den Tagebüchern auch der Häuserbau, das Verhältnis zu seiner Frau, seine ständige Zeitnot und Schwierigkeiten mit seinen wissenschaft­lichen Arbeiten

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Klemperers höchstes Ziel das Bewahren der eigenen Existenz im geschriebenen Wort ist – eine Motivation, die über die oben beschriebene Selbstdarstellung hinausgeht.30 Sein Tagebuch dient ihm zum einen zur Erinnerung „im persön­lichen Kontext“31, zum anderen aber auch als Quelle für Texte, die er zu veröffent­lichen plant, und vor allem als „Balancierstange“32 in dieser für ihn als Juden gefähr­lichen Zeit. Es ist sein „zentrales Instrument der Auseinandersetzung mit allem“33. Zwölf Jahre lang sammelt er Material für sein Curriculum und für seine LTI – ohne Aussicht, sie jemals fertigstellen und veröffent­lichen zu können.34 Aufgrund der Umstände ist es ihm nirgends sonst mög­lich, seine Erkenntnisse zu verschrift­lichen. So sind speziell die Tagebücher von 1933 bis 1945 zwar ein „privates Dokument“, aber auch „Ort und Ergebnis seiner wissenschaft­lichen Arbeit“35 dieser Zeit. Es ist „eine Art Arbeitsbuch, in dem Notizen zur nationalsozialistischen Sprache ebenso Platz finden wie Alltags­ beobachtungen und private Reflexionen“36. Diese Bedingungen führen schließ­ lich dazu, dass die Tagebücher zur Basis von Klemperers LTI werden. Inwiefern diese Basis seine Wahrnehmungen bereits selektiert hat, es also in seinem ersten Arbeitsschritt schon zu Konstruktionen und Montagen im Sinne von Königs oben dargestellten Thesen kommt, lässt sich aufgrund fehlender metasprach­ licher Aussagen über sein Schreiben nicht feststellen. Ledig­lich Berichte und Hinweise auf geschicht­lich dokumentierte Ereignisse ließen sich vergleichen und bezüg­lich des Konstruktionsgrades bewerten. III Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen

Bereits während Klemperer seine Beobachtungen macht, fragt er sich wiederholt, wie diese einer Öffent­lichkeit zugäng­lich gemacht werden könnten. Nachdem ihm durch das Überleben der NS-Zeit die Mög­lichkeit gegeben ist, die Veröffent­ lichung seiner sprachkritischen Notizen selbst zu übernehmen, distanziert er sich von der Überlegung, seine Tagebücher vollständig zu veröffent­lichen.37

sowie sein gesellschaft­licher Umgang thematisiert. Vgl. dazu Dirschauer, Johannes: Tagebuch gegen den Untergang. Zur Faszination Victor Klemperers. Gießen 1997, S. 28 ff. 30 Vgl. Rüttinger: Schreiben ein Leben lang, S. 12 f. 31 Ebd., S. 13. 32 LTI, S. 21. 33 Rüttinger: Schreiben ein Leben lang, S. 415. 34 Vgl. ebd., S. 211. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 210. 37 Vgl. ebd., S. 82.

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In der rückblickenden Auseinandersetzung mit seinen Beobachtungen und Erlebnissen kommt er zu dem Schluss, dass die „LTI zur Publikation wesent­lich geeigneter als das eigent­liche Tagebuch“38 sei. Er äußert über das Tagebuch: „Es ist unförmig, es belastet die Juden, es wäre auch nicht in Einklang zu bringen mit der jetzt gültigen Opinio, es wäre auch indiskret.“39 Es fällt ihm allerdings schwer, zu entscheiden, ­welche Elemente er für die Veröffent­lichung übernehmen will.40 Selbst während der Schlussredaktion ist die Frage für ihn nicht zur vollkommenen Zufriedenheit geklärt: „Immer, eigent­lich auch jetzt noch, das Schwanken: wieweit Studie, wieweit Tagebuch? Das schwierigste Buch meines Lebens.“41 So beklagt er zwar die enge Beziehung zwischen seinen subjektiven Erfahrungen und seinen sprachkritischen Beobachtungen, zögert aber auch, sie zu trennen. Eine Lösung findet sich schließ­lich auf der „Mittellinie zw. Philologie u. (novellistisch ausgeschlachtetem) Tagebuch“42. Wie genau sich dies ausdrückt, zeigt sich anhand der ausgewählten Beispiele in dieser Arbeit. Rüttinger stellt bei Klemperer drei verschiedene Schreibformen fest, die er immer wieder verwendet: das Tagebuchschreiben, das beruf­liche und das lebensgeschicht­liche Schreiben.43 Diese drei Schreibformen kommen nun in der LTI zusammen und gehen fließend ineinander über. Es handelt sich demnach um eine Mischform, eine klare Zuordnung zu einer dieser drei Formen ist nicht mög­lich.44 Rüttinger bezeichnet die LTI daher als „Schnittstelle“45. K ­ lemperer hat den Anspruch einer wissenschaft­lich essayistischen Untersuchung mit autobiografischem Erzählen verbunden, ergänzt wird diese durch die wört­liche Zitation seiner Tagebucheinträge.46 Die subjektive Perspektive wird stets betont, die persön­lichen Erlebnisse prägen seine wissenschaft­lichen Ausführungen, da sie die zentrale Quelle sind.47 Er hat somit die Mög­lichkeit, seine unmittelbar getätigten Beobachtungen rückblickend in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, 38 Klemperer, Victor: Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember 1945. Hrsg. v. Günter Jäckel unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. 4. Auflage. Berlin 1997, 8. 8. 1945, S.  83. 39 Ebd. 40 Vgl. z. B. „Ich finde keinen Zugriff, keine Lösung der Schwierigkeiten. Was ist zu intim, was zu allgemein? Wo soll man LTI und Vita trennen? […] Wie weit von der Tgb.-Form abgehen?“ (Ebd., 17. 7. 1945, S. 59.) 41 TB 1946, 25. 12. 1946, S. 330. Zitiert nach Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 41. 42 TB 1946, 27. 1. 1946, S. 183. Zitiert nach Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 37. 43 Vgl. Rüttinger: Schreiben ein Leben lang, S. 15 f. 44 Vgl. ebd., S. 26, 413. 45 Ebd., S. 209. 46 Vgl. ebd., S. 90, S. 209. 47 Vgl. ebd., S. 209.

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es vereinen sich die Vorteile des Tagebuchs und der Autobiografie. In der Einleitung seiner LTI macht Klemperer auf diese enge Kopplung aufmerksam und erläutert beziehungsweise rechtfertigt sein Vorgehen mit dem erzieherischen Anspruch, den er mit der LTI verfolgt:48 „Das Gift der LTI deut­lich zu machen und vor ihm zu warnen – ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei.“49 Er entscheidet also bewusst, ­welche Elemente des Tagebuchs und ­welche seiner Erinnerungen und Beobachtungen er wie verwendet. Der „autobiographische Grundton“50 bedingt sowohl formal als auch inhalt­lich die Ausrichtung und die Verarbeitung. Die generelle Ausrichtung der LTI ist chronolo­gisch, die Aufsätze in sich sind ebenfalls weitestgehend chronolo­gisch aufgebaut. Aufgrund der Materialfülle entschließt er sich, keine weiteren Untersuchungen mehr vorzunehmen, sondern das Notizbuch herauszugeben, obwohl er wiederholt im Tagebuch Vermerke für weitere Beschäftigungen mit dem Thema notiert hat.51 Durch den Untertitel seiner Sprachanalyse – Notizbuch eines Philologen – kommt Klemperer einer denkbaren Kritik zuvor, die seinem Werk mangelnde wissenschaft­liche Abgeschlossenheit unterstellen könnte. Zwar wird die wissenschaft­liche Ausrichtung betont, da er die Sprachkritik in seiner Rolle als Philologe verfasst, diese basiert jedoch auf dem Tagebuch, das zunächst allein für den privaten Gebrauch gedacht war. Der Begriff des Notizbuchs verweist auf den fragmentarischen, subjektiven Charakter der Studie, in der er Notizen, Eindrücke und Beobachtungen zusammenführt und reflektiert.52 Doch bedeutet dies wirk­lich, dass es sich um „im wesent­lichen nichts anderes als eine Zusammenstellung der LTI-Notizen aus den Tagebüchern“53 handelt, wie Jäger und Jäger konstatieren? Oberfläch­lich betrachtet ist Jägers Aussage durchaus zutreffend. ­Klemperer trägt in der LTI seine sprach­lichen Beobachtungen und Erlebnisse aus den Tagebüchern zusammen und ordnet sie, ergänzt durch Reflexionen, nach Themen­schwerpunkten an. Die einzelnen Kapitel, die teils den „Charakter eines Essays [aufweisen], der durch den Rückgriff auf Quellen oder Anekdoten,

48 Vgl. LTI, S.  24 – 27. 49 Ebd., S. 27. 50 Rüttinger: Schreiben ein Leben lang, S. 91. 51 Vgl. ebd., S. 214; Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 32. In einem ersten Arbeitsschritt exzerpiert er aus den etwa 5000 Seiten Tagebuch 64 maschinengeschriebene Seiten seiner sprachanalytischen Notizen. Er zitiert dabei wört­lich, ergänzt und kommentiert aber auch bereits. Vgl. dazu Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 32, 44. 52 Vgl. zu d ­ iesem Absatz Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 268 f.; Rüttinger: ­Schreiben ein Leben lang, S. 92. 53 Jäger, Magret/Jäger, Siegfried: Gefähr­liche Erbschaften. Die schleichende Restauration rechten Denkens. Berlin 1999, S. 126.

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frühere Erlebnisse und Gedanken aufgelockert und belegt wird“54, sind meist im Präteritum gehalten; reflektierende Ergänzungen hingegen werden im Präsens formuliert. In manchen Kapiteln, so zum Beispiel bei „fanatisch“, kommt es zu einer stärkeren Reflexion als in anderen.55 Doch wie gestaltet sich die Bearbeitung im konkreten Fall? Es ist zu betonen, dass Klemperers Modifikationen für den Leser der LTI ohne den Vergleich mit den Tagebüchern nicht ersicht­lich sind. Er weist zwar zu Beginn auf sein Vorgehen hin, markiert aber im konkreten Fall nicht, inwiefern ein Beitrag bearbeitet ist. IV Komposition

Komposition, Gestaltung und Reflexion (beziehungsweise Kommentar) sind nach Fischer-Hupe als die drei Aspekte zu charakterisieren, hinsicht­lich derer Klemperer seine Tagebuchnotizen verändert.56 In Bezug auf die Komposition der Erinnerungen lässt sich feststellen, dass Klemperer oftmals Beiträge aus verschiedenen Stellen seines Tagebuchs zusammenführt. Die Anordnung der explizit als Tagebucheinträge gekennzeichneten Beiträge im fünften K ­ apitel, die auf eine kurze Einleitung folgend von Klemperer dargestellt werden, beschreibt Fischer-Hupe bereits eingehend.57 Klemperer nimmt hier Kürzungen vor oder fasst Beiträge verschiedenen Datums unter einem Datum zusammen. Eine ähn­liche Zusammenführung liegt vor, wenn er die Personen charakterisiert, die in der LTI für seine Darlegungen eine größere Rolle spielen. Er fasst an verschiedenen Stellen im Tagebuch vermerkte Eigenschaften und Handlungen der Personen zusammen und ergänzt sie, vermut­lich aus seiner Erinnerung, wie zum Beispiel im Fall der Beschreibung des Bekannten Seliksohn 58 oder der Kollegin Paula von B.59. So finden sich die Beschreibungen von Paulas beruf­licher Laufbahn und von ihrem Chef ebenso wenig im Tagebuch ­wieder wie eine Reflexion ihrer politischen Gesinnung vor 1933. Zu ihrer familiären Situation findet sich ein knapper Satz am 17. 6. 193360 in Kombination mit der Notiz ihres Hinweises, keine Zeitung mehr zu lesen. Diesen Hinweis hat

54 Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 47, 53. 55 Vgl. ebd., S. 53. 56 Vgl. ebd., S. 49 ff 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. LTI, S. 270 ff. 59 Vgl. ebd., S. 140 ff. 60 Klemperer, Victor: Die Tagebücher 1933 – 1945. Kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. v. Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. Berlin: 2007, S. 131. Die Seiten­ angaben beziehen sich auf die digitale Version der Edition von Klemperers Tagebüchern

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Klemperer in der LTI ebenfalls übernommen, allerdings in einen Dialog eingebettet.61 In einen weiteren Dialog fügt er Paulas Glaubensbekenntnis an den Führer ein 62, welches sie laut Tagebuch 63 eigent­lich per Brief mitteilte. Ergänzt wird die Beschreibung in der LTI durch Einträge vom 14. 7. 193464 und vom 1. 1. 193665. Die übrigen Bemerkungen zu Paula von B. müssen daher aus der persön­lichen, nicht schrift­lich festgehaltenen Erinnerung des Autors an ihre Person stammen. Ebenso fasst Klemperer bei der Beschreibung der Hausdurchsuchungen Erfahrungen aus mehreren Einträgen zusammen: Am 11. 6. 1942 notiert er die Äußerung „artvergessenes Weib“66 eines Gestapo-Beamten, während am 23. 5. 1942 der Kommentar „jede nichtjüdische Frau ist für uns eine Hure“67 eines weiteren Beamten, der versucht, den Talmud zu zitieren, vermerkt wird. Laut LTI spielten sich die Durchsuchungen jedes Mal „wört­lich“68 so ab, er zieht die einzelnen Aspekte zusammen, um eine typische Situation zu entwerfen, die als paradigmatisch gelten kann. Es geht ihm mehr um das generelle Phänomen, unter dem (nicht nur) er und seine Frau zu leiden hatten. Nicht nur bei persön­lichen Erfahrungen und Beschreibungen von Personen kommt diese Technik der Kompilation zum Einsatz, sondern auch bei allgemeinen sprach­lichen Reflexionen, wie im Fall von Kapitel VII „Aufziehen“69. So werden hier beispielsweise die vereinzelten Bemerkungen zu ‚aufziehen‘ der Tagebucheinträge vom 1. 7. 193370, 21. 10. 193471, 18. 1. 193772 und 2. 9. 194373 zusammengeführt und um nachträg­liche Ausführungen Klemperers ergänzt. In anderen Kapiteln bettet er seine allgemeinen sprach­lichen Beobachtungen zwischen zwei eher persön­lichen Textstücken ein. Beispielsweise wird Kapitel

1933 – 1945. Im Folgenden zitiert als: TB mit entsprechender Datum- und Seitenangabe, es sei denn, das Datum ist im Fließtext erwähnt. 61 Vgl. LTI, S. 142. 62 Vgl. ebd., S. 144. 63 Vgl. TB 13. 6. 1934, S. 330 f. 64 Vgl. ebd., S. 348. 65 Vgl. ebd., S. 582. 66 Ebd., S. 1972. 67 Ebd., S. 1913. 68 LTI, S. 359. 69 Vgl. ebd., S. 65 ff. 70 Vgl. TB, S. 145. 71 Vgl. ebd., S. 422. 72 Vgl. ebd., S. 839 f. 73 Vgl. ebd., S. 3113.

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XXX „Der Fluch des Superlativs“ mit einer Anekdote eingeleitet.74 Sie stammt aus dem Jahr 1907 und wird in Klemperers Tagebüchern nicht noch einmal thematisiert. Er verwendet also auch Erinnerungen aus der Zeit vor 1933, die keiner Stütze in den Tagebüchern bedürfen, um seine allgemeinen Reflexionen zu motivieren. Abgeschlossen und auf seine persön­liche Perspektive zurückgeführt wird das Kapitel mit zwei als ­solche markierten Tagebucheinträgen.75 Ähn­lich wie in Kapitel V handelt es sich aber nicht um komplett originale Einträge. Beide Einträge sind im Tagebuch statt unter dem 18. und dem 20.12. unter dem 19. 12. 1944 notiert.76 Zudem ergänzt Klemperer unter anderem ein Zitat aus Don Karlos sowie die Formulierung „und der Krieg kann noch Jahre dauern“77, weist aber nicht daraufhin, dass dies nicht Teil des originalen Eintrags ist. Klemperer nutzt die Ausdehnung auf zwei Einträge, um den Beispielen den Charakter der Einmaligkeit zu nehmen, während die ergänzten Sätze die Hoffnungslosigkeit der damaligen Zeit im Nachhinein noch unterstreichen. Es lässt sich festhalten, dass Klemperer seine Kapitel, ob sie nun sprach­liche Beobachtungen, Personenbeschreibungen oder persön­liche Erlebnisse beinhalten, meist auf verschiedenen Tagebucheinträgen aufbaut, die er zusammenfügt, kürzt und um weitere Aspekte, die nicht im Tagebuch enthalten sind, ergänzt – immer mit Blick auf den Sachverhalt, den er gerade vermitteln möchte. Es kann sich dabei um nachträg­liche Reflexionen, aber auch Erinnerungen handeln, die keiner ausführ­lichen Gedächtnisstütze in Form des Tagebuchs bedürfen. Er nimmt demnach eine ganz bewusste Auswahl und Anordnung seiner Erinne­ rungen in der LTI vor. V Gestaltung

Wie aufgezeigt wurde, gibt es wört­liche Entsprechungen, aber auch teilweise Veränderungen und Ergänzungen, die zum Beispiel einer poetischen Gestaltung oder der größeren Verständ­lichkeit dienen.78 Wiederholt gibt es in der LTI fiktive Gespräche beziehungsweise konstruierte Dialoge wie die

74 Vgl. LTI, S. 289. Die Eröffnung eines Kapitels mittels eines persön­lichen Erlebnisses wird von ihm wiederholt angewandt. Teils liegt dem keine Notiz im Tagebuch zugrunde, sondern sie entsteht allein aus der Erinnerung oder Reflexion des Autors. Vgl. dazu Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 54. 75 Vgl. LTI, S. 301. 76 Vgl. TB, S. 4484 f. 77 Ebd. Wenn auch nicht an dieser Stelle, so findet sich diese Formulierung wiederholt im Tagebuch, vgl. z. B. TB 5. 2. 1942, S. 1769. 78 Vgl. Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 50.

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Auseinandersetzung mit Seliksohn über Herzl.79 Zwar basiert die Beschreibung Seliksohns stellenweise auf Tagebuchnotizen 80, Hinweise auf das dargestellte Gespräch lassen sich jedoch nicht finden. Ein im Tagebuch notierter Kommentar von Klemperers Frau lässt darauf schließen, dass es zwischen ihrem Mann und Seliksohn Meinungsverschiedenheiten zum Thema Zionismus gegeben hat. 81 Ansonsten entstammt das Gespräch entweder Klemperers nicht dokumentierter Erinnerung oder es wurde komplett konstruiert, um seine eigene Position gegenüber dem Deutsch-Sein, Herzl und dem Zionismus – in der Konfrontation mit einem Verächter der deutschen Patrioten unter den Juden – zu verdeut­lichen. Ähn­lich geht er auch in seinem Nachwort „Wejen Ausdrücken“82 vor oder wenn er von der Legende um die Babisnauer Pappel 83 berichtet. Hier liegen kurze Notizen im Tagebuch vor,84 die dann von ihm zu Gesprächen ausformuliert werden. So lässt er das Phänomen der Pappel von verschiedenen Frauen in der Fabrik, in der er arbeiten musste, schildern und äußert sich im Gegensatz zu der im Tagebuch fixierten Feststellung – „fraglos allgemeiner regionaler Aberglaube“85 – weniger kritisch: „ganz von der Hand zu weisen ist Volksglaube nie.“86 Allerdings stellt er dies nicht als seine eigene Aussage dar, sondern lässt sie seinen Freund Feder äußern. Diese Ausformung von Notizen in einen Dialog wirkt authentischer und verleiht seinem Schreiben eine gewisse Lebendigkeit, aber auch den Charakter einer Erzählung. In seiner Auseinandersetzung mit dem Ausdruck „sonnig“87 berichtet Klemperer von einer Arbeiterin in der Fabrik, die ihm ihre Feldpostbroschüre überlässt. Laut seinen Tagebüchern hat er diese Broschüre allerdings von Lewinsky erhalten, der sie extra für Klemperers Untersuchungen besorgt hatte.88 Hier geht es Klemperer vermut­lich um die explizite Inszenierung als „vox ­populi“89, als Stimme des Volkes, die sich bei der einfachen Frau in der Fabrik am authentischsten äußert.

79 Vgl. LTI, S. 270 ff. 80 Vgl. Abschnitt IV ­dieses Aufsatzes. 81 Vgl. TB 9. 5. 1943, S. 2845. 82 Vgl. LTI, S. 380 ff. 83 Vgl. ebd., S. 89. 84 Vgl. zur Babisnauer Pappel TB 23. 5. 1943, S. 2890 und TB 25. 5. 1943, S. 2899; vgl. zum Nachwort TB 16. 5. 1945, S. 5286. 85 Ebd., 25. 5. 1943, S. 2899. 86 LTI, S. 89. 87 Vgl. ebd., S. 191 – 198. 88 Vgl. TB 26. 09. 1944, S. 4133. 89 LTI, S. 198.

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Die Konstruktion von Gesprächen führt an einer Stelle schließ­lich so weit, dass eine Unterhaltung mit jemandem geschildert wird, der zu ­diesem Zeitpunkt schon tot ist: Klemperer erzählt von einem Gespräch an Weihnachten 1944 mit seinem „Schicksalsgefährten“90 Stühler, der jedoch laut dem Personenregister der Tagebücher bereits am 1. 12. 1944 verstorben ist.91 Der Konstruktcharakter des Gesprächs wird dadurch noch unterstrichen, allerdings ist dem Leser der LTI dieser Unterschied ohne den Vergleich nicht bekannt. Das Gespräch dient dem Zweck, den Zweifel an der aufkommenden Hoffnung Ende 1944 zu verdeut­lichen. Stühler, der von Klemperer als „überlegender, skeptischer, ganz unromantischer Mensch“92 beschrieben wird, ist als Gesprächspartner besonders geeignet, dies zu veranschau­lichen. In Kapitel XVI „An einem einzigen Arbeitstag“93 schildert Klemperer, wie der Titel bereits verrät, einen typischen Arbeitstag in der Fabrik. Darin eingebettet gibt er vier Gespräche wieder, die er mit den Mitarbeitern führt, als Beispiele für den täg­lichen Einfluss der NS-Sprache. Er wertet es als Ausnahme, dass sich an einem Tag so viele verschiedene Situationen ereignen, in denen sich der Einfluss offen zeigt. Der Vergleich mit den Tagebüchern zeigt jedoch, dass es sich weniger um eine Ausnahme als um eine Konstruktion handelt. Die formulierten Beispiele ereignen sich nicht alle am selben Tag 94, teilweise auch nicht in der von ihm gewählten Formulierung. Auch zeigt sich im Tagebuch, dass die Personen, die die Aussagen der LTI zufolge tätigen, nicht unbedingt diejenigen sind, denen diese ursprüng­lich zuzuordnen sind. Dennoch handelt es sich um Äußerungen, die ihm so oder in ähn­licher Form tagtäg­lich auffallen. Dies verdeut­licht Klemperer auch durch folgende Reflexion: „Aber der Geistes­zustand selber beschränkte sich nicht auf den einen Tag und war nicht auf diese vier Leute beschränkt.“95 Worauf es ihm besonders ankommt, ist, dass es sich bei den dargestellten Personen um ganz durchschnitt­liche Mitarbeiter der Fabrik handelt, alle mit unterschied­lichen Persön­lichkeiten in verschiedenen Positionen, aber vor allem: keine Nazis. Und dennoch werden sie beeinflusst durch deren Gesinnung, die sich in den dargestellten Äußerungen zeigt. Um diese sprachkritische Erkenntnis zu veranschau­lichen, bündelt Klemperer die verschiedenen einzelnen Erfahrungen zu einem konstruierten Gesamtbild. 90 Ebd., S. 75. 91 TB, S. 7879. 92 LTI, S. 76. 93 Ebd., S.  127 – 131. 94 Vgl. TB 05. 12. 1943, S.  3251; TB 29. 1. 1944, S.  3363; TB 12. 3. 1944, S.  3470; TB 19. 3. 1944, S. 3480. 95 LTI, S. 131.

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An einer Stelle der LTI konstruiert er nicht nur Gespräche, sondern ganze Tagebucheinträge: Sein Kapitel XXIV „Café Europe“ leitet er mit Tagebuch­ notaten vom 12. bis 14. August 1935 ein. Im Tagebuch findet sich allerdings in ­diesem Monat nur ein Eintrag für den 11. August, der zudem nichts mit den Einträgen in der LTI gemeinsam hat. Die Themen der fingierten Einträge finden sich knapp erwähnt an anderer Stelle im Tagebuch.96 Der auf die Tagebucheinträge folgende Hinweis, in den nächsten acht Jahren habe er sich in seinem Tagebuch kaum mit ‚Europa‘ beschäftigt, lässt sich ebenfalls nicht bestätigen. Es kann kein großer Unterschied in der Häufigkeit der Auseinandersetzung mit ‚Europa‘ um 1935 und den darauffolgenden acht Jahren festgestellt werden. Da Klemperer aber ansonsten keinen Bezug auf das Datum nimmt, kann man diese Fiktion hier eventuell sch­licht als eine Einleitung sehen, die seinen folgenden reflektierenden Umgang mit dem Begriff ‚Europa‘ motiviert. Schwieriger ist es zu bewerten, wenn Klemperer als Autor konkret Aussagen verändert. Während ein Soldat, der das Ehepaar Klemperer ein Stück weit auf seiner Flucht begleitet, in der LTI ein pathetisches Glaubenszeugnis für Hitler und einen deutschen Sieg ablegt („Aber der Führer hat erst neu­lich gesagt, daß wir bestimmt siegen werden. Und er hat noch nie gelogen. An Hitler glaube ich. Nein, den läßt Gott nicht im Stich, an Hitler glaube ich.“97), lässt Klemperer ihn im Tagebuch Bedenken hinsicht­lich seiner Zukunft als ehemaliges SS-Mitglied äußern („hier gefiel es ihm, hier hatte er ein Mädel gefunden. Nur – ob ihm überhaupt noch eine Zukunft mög­lich sei?“98), scheint also nicht mehr überzeugt von der Aussicht auf einen Sieg der Deutschen. In der LTI wird die Aussage des Soldaten also verändert und er somit als Beispiel für die unterschied­lichen Erfahrungen, die Klemperer mit Glaubensbezeugungen für Hitler macht, heran­ gezogen. Klemperer zielt nicht auf den Anspruch von Geschichtsschreibung ab, sondern will stattdessen seine Beobachtungen anschau­lich belegen. Kurze Zitate aus Reden oder Artikeln, zum Beispiel von Goebbels, übernimmt er meist genauso, wie er sie im Tagebuch notiert hat, und führt sie – in Anführungszeichen gesetzt, und somit als Zitate markiert – als sprach­liche Belege an.99 Weiterhin lassen sich in der LTI explizite Verweise auf das Tagebuch und seine Notizen finden. Klemperer macht also manchmal darauf aufmerksam, dass er eine Formulierung aus seiner Quelle verwendet.100 Allerdings 96 Vgl. TB 16. 9. 1935, S. 546 f.; TB 25. 12. 1938, S. 1181; TB 20. 5. 1944, S. 3621. 97 Vgl. LTI, S. 147. 98 Vgl. TB 7. 4. 1945, S. 5092 f. 99 Vgl. diesbezüg­lich LTI , S. 153 ff. mit TB 23. 7. 1934, S.  357; TB 10. 4. 1938, S.  1052; TB 5. 4. 1938, S.  1050; TB 22. 4. 1941, S. 1501. 100 Vgl. LTI, S. 78, 109, 136 f., 150, 196, 221, 262, 286 etc.

Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen 153

zeigt der Vergleich, dass die angeb­lichen Notizen nicht immer im Tagebuch zu finden sind.101 Er betont demnach den subjektiven und vor allen Dingen den dokumentarischen Charakter, bedingt durch die Basis des Tagebuchs, und schafft damit Authentizität, auch wenn seine Angaben nicht immer der Vorlage entsprechen.102 Zudem wird an diesen Stellen durch den Verweis auf das Tagebuch der Eindruck von Unmittelbarkeit hervorgerufen. Deut­lich wird dies beispielsweise in Verbindung mit der folgenden Reflexion: „Hier ist die LTI nach innen gerutscht, heißt es in meinem Tagebuch, und wenn ich das jetzt druckfähiger ausdrückte, würde ich es nicht besser aussagen.“103 Auch gerade diese Stelle findet sich nicht im Tagebuch, er inszeniert also bewusst einen unmittelbaren Eindruck, dessen Gültigkeit anhält und durch die nachfolgende Analyse bekräftigt wird. Während Klemperer die auf dem Tagebuch basierenden persön­lichen Beobachtungen meist durch allgemeine sprachanalytische Reflexionen ergänzt, kommt es auch vor, dass Ergänzungen einzig mit Blick auf ein besseres Leseverständnis vorgenommen werden. So erklärt er Begriffe wie „Pejorativ“104 und „Gruppensprache“105, fasst aber auch ein Theaterstück zusammen 106, welches er vergleichend heranzieht. Für ihn selbst waren diese Ausführungen nicht nötig, sie finden sich daher auch nicht in den Tagebüchern. Der Leser bedarf allerdings dieser Ergänzungen, der Klemperer bekannte Kontext muss ihm nachgereicht werden.107 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Klemperer bewusst ‚Fehler‘ in Kauf nimmt beziehungsweise Ereignisse konstruiert, um seine pädago­ gischen Ziele – näm­lich die Aufklärung (nachfolgender Generationen) über den andauernden sprach­lichen Einfluss des Nazismus – zu verfolgen und seine Analyse nachvollziehbar zu machen. Meist wird eine sprach­liche ­Reflexion motiviert, aber auch Anschau­lichkeit, Authentizität und Unmittelbarkeit sollen durch die konstruierten Gespräche erreicht werden. Sein Anspruch, durch Sprache die Gesinnung der damaligen Zeit im Allgemeinen und der Nationalsozialisten im Besonderen zu verdeut­lichen, ist in seinen Bearbeitungen konstant erkennbar.

101 Dies könnte allerdings auch an der Edition der Tagebücher liegen, eventuell wurden hier Stellen ausgelassen. 102 Eventuell hatte Klemperer aber auch noch weitere Quellen, wie Zeitungsausschnitte und ergänzende Notizblätter, auf die er mit diesen Formulierungen Bezug nimmt. 103 LTI, S. 266. 104 Ebd., S. 65. 105 Ebd., S. 31. 106 Vgl. ebd., S. 85 f. 107 Vgl. dazu auch Abschnitt I d ­ ieses Aufsatzes.

154 Andrea Kuchenbuch

VI Reflexion/Kommentar

Wie bereits mehrfach angesprochen, bearbeitet Klemperer nicht nur seine Notizen aus den Tagebüchern mittels Kürzung, Ergänzung und Konstruktion neuer Beiträge, er reflektiert und kommentiert die verwendeten Inhalte auch stets. Diese Reflexionen erfolgen meist aus der rückblickenden Perspektive und finden sich daher nicht in den Tagebüchern. Häufig handelt es sich dabei um Reflexionen über den Schreibprozess, verbunden mit Rechtfertigungen,108 aber auch Kommentare frühere Fehleinschätzungen betreffend kommen vor. So äußert sich Klemperer über das veränderte Verhaltens des jungen Georg M.: „Wir hielten das damals noch für die gedankenlose Übernahme eines K­lischees.“109 Während des Schreibens der LTI kann er nun auf die gesamte Entwicklung zurückblicken und weiß daher, dass er sich geirrt hat. Die „Grundanständigkeit“110 des jungen Mannes war gänz­lich umgeschlagen, er war nun vielmehr „verschwenderisch und skrupellos, von seinem Herren- und Heldenrecht durchdrungen.“111 Auch im Hinblick auf Paula von B. gesteht Klemperer ein, sich geirrt zu haben.112 Zu Max René Hesses Partenau kommentiert Klemperer in der LTI: „Welch eine Vorwegnahme der Sprache, der Gesinnungen des Dritten Reichs! Damals, als ich mir die entscheidenden Sätze im Tagebuch notierte, konnte ich es nur ahnen.“113 Hier zeigt sich besonders deut­lich die retrospektive Einschätzung. Zudem kommentiert er eigene sprach­liche ‚Vergehen‘, das heißt, er reflektiert den eigenen Gebrauch nationalsozialistischer Wendungen, allerdings längst nicht immer.114 Ebenfalls markiert er vermeint­liche Abschweifungen sprach­lich und rechtfertigt sie. So lässt er den Leser am Prozess der Umsetzung teilhaben und reflektiert darüber wiederum die Relevanz der autobiogra­fischen Elemente für sein Schreiben.115 Ein Beispiel für eine s­ olche ­Recht­fer­tigung wäre: „Da bin ich doch wieder beim jüdischen Thema angelangt. Ist es meine Schuld? Nein, es ist die Schuld des Nazismus, und nur dessen Schuld.“116 Auch

108 So begründet er beispielsweise im Anschluss an die Tagebucheinträge aus Kapitel V, warum er gerade diese Einträge an dieser Stelle zusammengeführt hat. 109 LTI, S. 41. 110 Ebd., S. 38. 111 Ebd., S. 41. 112 Vgl. dazu Abschnitt IV ­dieses Aufsatzes. 113 LTI, S. 40. 114 Vgl. z. B. „‚Holen!‘ Jetzt spreche ich auch schon in dieser Sprache!“ (Ebd., S. 366; vgl. auch S. 376.) 115 Vgl. ebd., S. 277. 116 Ebd., S. 112.

Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen 155

an anderer Stelle erfolgen die Veranschau­lichung ­dieses Prozesses und seine Rechtfertigung mittels Fragen, die er dann sofort beantwortet.117 In der Frage „que sais-je?“118 lassen sich seine Selbstzweifel zusammenfassen, auch im Tagebuch stellt er diese Frage wiederholt.119 Klemperer hat also auch in der LTI noch keine befriedigende Antwort auf seine verbleibenden Zweifel gefunden, versucht dies aber auch gar nicht zu vertuschen, sondern thematisiert sie stattdessen. Auch Fehler, die er beispielsweise im Gespräch mit anderen feststellt, werden nicht beschönigend übergangen, wenn sie ihm auffallen, sondern stattdessen im Text kommentierend korrigiert: „Als ich Spamer bei unserem ersten ausführ­lichen Wiederbeisammensein hieran erinnerte, da verbesserte er mich: ‚Ja, ich weiß noch; Sie haben nur eines falsch behalten; ich sagte damals und meine das heute erst recht: nach einem Jahr!‘“120 Dadurch kommt es erneut zu einer Verstärkung von Authentizität und Glaubwürdigkeit. Klemperer beantwortet auch Fragen, die ihn jahrelang beschäftigt haben, was ihm aufgrund der zeit­lichen Distanz und in der Ausein­andersetzung mit all seinen Beobachtungen mög­lich ist.121 Ebenfalls zur Authentizität tragen Formulierungen wie „Boguslav oder Boleslaw – was ist ein Philologe, dem die Bücher geraubt sind und Teile seiner Notizen vernichtet?“ bei. Solche Äußerungen lassen Klemperer mensch­licher erscheinen. Allerdings irritiert diese Äußerung ein wenig, lässt sich doch in den Tagebüchern der richtige Name auffinden.122 So handelt es sich vermut­lich auch hier um eine bewusste Inszenierung. Es könnte andererseits auch sein, dass er seinen Vermerk aufgrund des Umfangs seiner Tagebücher nicht mehr finden konnte und daher fälsch­licherweise davon ausging, dass seine Notizen zum Thema vernichtet worden waren. Teilweise reflektiert Klemperer, wie Erinnerungen ihn über die Jahre nicht losgelassen haben, auch ohne dass er überhaupt etwas oder besonders viel im Tagebuch dazu notiert hätte: „Mich berührte bloß damals, und tut es noch heute in der Erinnerung, die reine Formung und der Schwung der einen Ode.“123 Dies äußert er über eine Europa-Ode von Wilfried Bade. Im Tagebuch ist nur die

117 Vgl. ebd., S. 211. 118 Ebd., S. 96. 119 Vgl. dazu z. B. TB 10. 3. 1933, S. 83; TB 8. 3. 1942, S. 1815; TB 8. 12. 1944, S. 4436. 120 Vgl. LTI, S. 153. Allerdings fällt bei Vergleich mit den Tagebüchern auf, dass auch diese Korrektur noch nicht dem Original entspricht, wobei es sich eventuell um einen Übertragungsfehler handeln könnte. 121 Vgl. ebd., S. 178. 122 Vgl. TB 12. 2. 1943, S. 2618. 123 LTI, S. 221.

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Ode selbst, nicht jedoch seine Reaktion darauf, notiert.124 Ebenso begleite ihn laut LTI ein Satz aus Gutzkows Trauerspiel Uriel Acosta 125 durch sein ganzes Leben. Im Tagebuch ist dieser jedoch nirgends notiert, auch das Stück selbst wird nicht thematisiert. Gleichwohl verwendet er die Formulierung in einem anderen Zusammenhang ohne Verweis auf dessen Ursprung.126 Klemperers Identifikation mit ­diesem Satz zeigt sich in der Verinner­lichung desselbigen, die einer ausführ­lichen Thematisierung nicht bedarf. Auch seine Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Voßler zum Thema „Menschenmaterial“ basiert nur auf einer knappen Notiz aus den Tagebüchern und ist ansonsten aus der Erinnerung verfasst. Zusätz­lich fließen Erlebnisse von vor 1933 und nach 1945 in seine Sprachanalyse mit ein, werden jedoch meist über die Nennung von Daten als ­solche markiert. Zusammenfassend kann man sagen, dass durch reflexive Betrachtungen, die teils erst durch den zeit­lichen Abstand ermög­licht werden, der Leser vor allem am Entstehungsprozess teilhaben kann. Da auch Fehler thematisiert werden, lässt sich zusätz­lich von einer Verstärkung der Authentizität sprechen, da scheinbar keine verfälschende Beschönigung erfolgt. Der Vergleich zwischen LTI und den Tagebüchern könnte noch weitaus detaillierter erfolgen und sicher­lich noch zusätz­liche interessante Beispiele ­liefern. Auch ließen sich noch weitere Bearbeitungsweisen beschreiben, so zum Beispiel der Umgang mit Namen von Personen in der LTI. Doch der Zweck all seiner Bearbeitungen ist stets derselbe: Klemperer verfolgt einen wissenschaft­ lichen und vor allem erzieherischen Anspruch. VII Fazit

Wie die Untersuchung anhand von Stichproben gezeigt hat, nimmt K ­ lemperer tatsäch­lich keine willkür­liche, sondern eine ganz bewusste Umwandlung beziehungsweise Inszenierung seiner Erinnerungen vor. Es lässt sich eine Instrumentalisierung der Erinnerungen feststellen. Er hebt den weiter oben dargestellten unbewussten Prozess der Selektion von Erinnerung ins Bewusste. In der LTI verarbeitet Klemperer seine unmittelbaren Beobachtungen, die er im Tagebuch mit geringem zeit­lichen Abstand zum Geschehen festgehalten hat. Teils Jahre später blickt er auf seine Notizen und auf das darin erinnerte

124 Vgl. TB 2. 9. 1943, S. 3115. 125 „Ins Allgemeine möcht’ ich gerne tauchen und mit dem großen Strom des Lebens gehn!“ (LTI, S. 225.) 126 Vgl. TB 30. 03. 1945, S. 5038.

Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen 157

Leben zurück. In einer Mischung aus Rekonstruktion und Reflexion, bedingt durch den nun größeren zeit­lichen Abstand, kreiert Klemperer eine Art Autobiografie, allerdings mit dem Fokus auf wissenschaft­lichen Erkenntnissen und einem pädago­gischen und aufklärerischen Anspruch. Dieser Anspruch, den er in der Einleitung seiner LTI vermerkt, bestimmt die Auswahl, Umformung, Zusammenfassung, Kürzung und Konstruktion von Erinnerungen. Um ihn zu vermitteln, bemüht Klemperer sich um Authentizität, Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit. Er begründet dies teils selbst, er rechtfertigt sich und zeigt, dass d ­ ieses Vorgehen für ihn nicht selbstverständ­lich ist, da diese beiden Bereiche – sein eigenes Leben und die wissenschaft­liche Erkenntnis – sonst eher getrennt behandelt werden. Leben und Sprache sind für ihn jedoch nicht zu trennen. Bereits der Untertitel Notizbuch eines Philologen weist darauf hin, was ­Klemperer verfasst hat. Zum einen verdeut­licht er seine wissenschaft­liche Perspektive, zum anderen reduziert er durch die Kennzeichnung als Notizbuch aber auch den Druck, der auf einer rein wissenschaft­lichen Ausarbeitung lasten würde. In einem Notizbuch lässt sich alles notieren, von persön­lichen Erinnerungen bis zu wissenschaft­lichen Reflexionen. Diese werden dann kommentiert, ausgewählt und abgewandelt. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass schon Klemperers erster Arbeitsschritt, sein Tagebuchschreiben, eine Selektion seiner Erlebnisse und eine Montage seiner Erinnerungen ist, wenn auch weitaus unmittel­ barer als die schließ­lich veröffent­lichte LTI. So lässt sich von einer doppelten Montage sprechen: einer unbewussten beim ersten Notieren der Beobachtungen im Tagebuch und einer bewussten beim Auswählen und Anordnen der Erinnerungen in der LTI. Es geht Klemperer nicht um Geschichtsschreibung, vielmehr liegt ein Erlebnisbericht mit erzieherischem Anspruch vor: Klemperer möchte sensibilisieren beziehungsweise vor dem „Gift der LTI“127 warnen, und dies gelingt trotz oder gerade wegen der Abweichungen, Veränderungen und Konstruktionen. Auch Boerner weist schon darauf hin, dass, wenn ein Autor diesen Umstand nicht verschweigt, man ihm diesen nicht zum Vorwurf machen sollte.128 Ebenso ist Fischer-Hupe der Auffassung, dass die Daten nicht exakt übereinstimmen, sei für die Authentizität und Ehr­lichkeit nicht von Bedeutung.129 Klemperer will seine Geschichte erzählen, daher hält er es für notwendig, im Rahmen der

127 LTI, S. 27. 128 Vgl. Boerner: Tagebuch, S. 28. 129 Vgl. Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, S. 53.

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historischen Plausibilität zu interpretieren und zu konstruieren,130 kurz gesagt: seine Erinnerungen zu instrumentalisieren. Wie für Erinnerungen allgemein gilt auch hier, dass nicht die „Treue zur Wahrheit“131 ausschlaggebend ist, ­sondern die gegenwärtigen Interessen der erinnernden Person. Plausibilität und lo­gische Kohärenz sind in der LTI gegeben, auch fallen Unstimmigkeiten nur im Vergleich mit den Tagebüchern auf und lassen sich durch den erzieherischen Anspruch des Werks begründen, sie sind „konstruktiv und funktional“132 gewählt und ganz bewusst eingesetzt.

130 Vgl. ebd., S. 64. 131 König: Politik und Gedächtnis, S. 73. 132 Ebd.

Barbara König

Unzuverlässige Erinnerung und Erinnerungskonstruktion in Vladimir Nabokovs Lolita Vladimir Nabokovs Roman Lolita (1955) ist die als Plädoyer stilisierte Autobiografie des Protagonisten Humbert Humbert, in welcher er sein Leben innerhalb einer ganzen Analepse schildert, die ihn in einer Zwangsläufigkeit zu den Verbrechen an seiner Stieftochter, einem Mord und schließ­lich an den Punkt seiner Festnahme führt.1 Dabei wendet Nabokovs Erzählinstanz Humbert verschiedene sinn-, authentizitäts- und kohärenzstiftende Techniken einer Rhetorik der Erinnerung beziehungsweise Mimesis des Erinnerns mit dem Ziel einer gelungenen Erinnerungskonstruktion und Selbstnarration an.2 Diese Selbstnarration dient als Grundlage einer Verführungsstrategie einerseits gegenüber dem fiktiven Richter und den Geschworenen und andererseits gegenüber den realen Rezipienten. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie rückwirkende Deutung, Glättung, Modifikation und selektives Erinnern sowie Erzählen von Erlebnissen nicht nur den konstruktiven Charakter des fiktiven autobiografischen Gedächtnisromans auszeichnen, sondern zugleich auch auf die Konstrukti­ vität mensch­licher Erinnerungen anspielen. Das Ziel der Untersuchung ist, vor dem Hintergrund konstitutiver Selektivität, Konstruk­tivität und Unzuverlässigkeit mensch­licher Erinnerungsprozesse am Beispiel des Romans nach der Zuverlässigkeit von Erinnerungskonstruktionen zu fragen – ist konstruierte Erinnerung gleichzeitig unglaubwürdige Erinnerung oder kann sie ein Indiz für Zuverlässigkeit sein, da sie mensch­liche Erinnerung in ihrer konstitutiven Unzuverlässigkeit nachbildet?

1 Vgl. Grabes, Herbert: Erfundene Biographien. Vladimir Nabokovs eng­lische Romane. Tübingen 1975, S. 29. 2 Vgl. zur Rhetorik der Erinnerung Löschnigg, Martin: ‘The Prismatic Hues of Memory.’ Autobiographische Modellierung und die Rhetorik der Erinnerung in Dickens’ David Copperfield. In: Poetica. Schriften für Sprach- und Literaturwissenschaft 31. 1 – 2. (1999). S. 175 – 200. Vgl. zur Mimesis des Erinnerns Bassler, Michael; Birke, Dorothee: Mimesis des Erinnerns. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin 2005. S.  123 – 147.

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I Unzuverlässiges Erzählen im Kontext der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen

Um sich mit der Frage nach der Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit einer Erinnerungskonstruktion auseinandersetzen zu können, ist zunächst auf das erzähltheoretische Konzept des ‚Unreliable Narrator‘ einzugehen. Der Begriff und das Konzept des ‚Unreliable Narrator‘, die im Folgenden unter der deutschen Bezeichnung des unzuverlässigen Erzählers beziehungsweise unzuverlässigen Erzählens verwendet werden, gehen auf Wayne C. Booth zurück. Dieser ordnet die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit eines Erzählers als zweifelhaft ein, wenn dessen mora­lische Vorstellungen und Normen sich nicht mit denen eines impliziten Autors decken.3 Demnach wird die Unzuverlässigkeit eines Erzählers nicht anhand der Faktizität und Wahrhaftigkeit seiner Äußerungen festgemacht, sondern anhand mora­lischer Kategorien.4 Gleichzeitig basiert Booths vielfach adaptiertes und erweitertes Konzept des unzuverlässigen Erzählers auf der umstrittenen Idee eines impliziten Autors, welcher unterschwellig mit einem impliziten Leser kommuniziert.5 Ansgar Nünning zufolge lässt sich somit festhalten, daß die bisherigen Definitionen des unreliable narrator vor allem deshalb undefinierbar sind, weil sie die Antwort auf die Frage nach Glaubwürdigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit einer Erzählinstanz nur von einem Maßstab abhängig machen, dem notorisch undefinierten oder sogar undefinierbaren implied author.6

Als Alternative zu Booths Ansatz unternimmt Nünning den Versuch einer kognitiv-narratolo­gischen Neuformulierung anhand von textinternen Indikatoren und kontextuellen Bezugsrahmen, um erzählerische Unglaubwürdigkeit zu beurteilen.7 Nünnings Neukonzeptualisierung geht von der Annahme aus, dass der unzuverlässige Erzähler kein rein textimmanentes Phänomen ist, ­sondern stark mit dem realen, nicht dem impliziten Rezipienten interagiert. Seine Unzuverlässigkeit lässt sich anhand von Textsignalen ermitteln, hängt aber auch von dem durch den „Rezipienten an den Text herangetragenen 3 Vgl. Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der eng­lischsprachigen Erzählliteratur. Trier 1998. S. 3 – 39, hier S. 4. 4 Vgl. ebd., S. 11. 5 Vgl. ebd., S. 13. 6 Ebd., S. 16. 7 Vgl. ebd., S. 17.

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Weltwissen und Werte- und Normensystem gleichermaßen“8 ab. Die Beurteilung der Zuverlässigkeit eines Erzählers ergibt sich aus der Vereinbarkeit oder Distanz zwischen den Vorstellungen und Werten des Textes und denen des Rezipienten. Dies zeigt, dass die Einstufung einer Erzählinstanz als unzuverlässig interaktiv und subjektiv vom jeweiligen Rezipienten abhängig ist. Textintern lässt sich Unzuverlässigkeit anhand von Signalen ermitteln. Sie weisen den Rezipienten darauf hin, Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erzählers zu haben, vor allem wenn sie vermehrt auftreten. Die von Nünning aufgezählten textinternen Signale sind in ­diesem Aufsatz zu Gruppen zusammengefasst, wobei die Grenzen zwischen den Gruppen durchlässig sind. Die erste Gruppe bilden Diskrepanzen und Divergenzen. Darunter fallen Unstimmigkeiten und explizite Widersprüche, Diskrepanzen zwischen den Aussagen und dem Handeln des Erzählers, unterschied­liche Selbstcharakterisierung und Charak­terisierung durch andere Figuren, Unstimmigkeiten zwischen expliziten Fremdkommentaren des Erzählers über andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung beziehungsweise Selbstentlarvung, Unstimmigkeiten zwischen der Wiedergabe von Ereignissen und seiner Interpretation des Geschehens, verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv. In der zweiten Gruppe sind Äußerungen zusammengefasst, also Häufungen von sprecherzentrierten Aussagen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität, Häufung von Leseranrede und bewussten Versuchen der Rezeptionslenkung durch den Erzähler, explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit, eingestandene Unglaubwürdigkeit, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen, eingestandene oder situativ bedingte Partei­lichkeit. Weitere Signale sind eine multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und die Kontrastierung unterschied­licher Versionen desselben Geschehens, Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen) und auch paratextuelle Signale, wie zum Beispiel Titel, Untertitel und Vorwort.9 Über diese textinternen Signale hinaus, die, wie ihre Bezeichnung verrät, nur über eine Signalwirkung verfügen, hängt Unzuverlässigkeit auch im Dialog mit dem Rezipienten vom textexternen Kontext ab. Unzuverlässigkeit entsteht, wenn die erzählte Welt mit der realen Welt und den daraus resultierenden Bezugsrahmen des Rezipienten nicht kompatibel ist. Deutungsrahmen, die der Rezipient an den Text heranträgt, sind einerseits in Bezugsrahmen, ­welche die erzählte Welt in Relation mit der realen Welt setzen, und andererseits in

8 Ebd., S. 23. 9 Vgl. ebd., S. 27 ff.

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literarische Bezugsrahmen zu unterteilen. Zu ersteren zählen unter anderem allgemeines Weltwissen, gesellschaft­lich anerkannte Vorstellungen von psycholo­gischer Normalität und Kohärenz und mora­lische und ethische Maßstäbe, die das in der Gesellschaft vorherrschende Werte- und Normensystem konstituieren. Literarische Bezugsrahmen sind hingegen allgemeine literarische Konventionen, Konventionen einzelner Gattungen und Genres und intertextuelle Bezugsrahmen, das heißt, Referenzen auf spezifische Prätexte.10 Das Erkennen und Benennen sowohl textinterner als auch textexterner Diskrepanzen ist laut Nünning die Voraussetzung, um über Unzuverlässigkeit überhaupt urteilen zu können. Sowohl Birgit Neumann als auch Michael Bassler und Dorothee Birke bringen den Begriff der Unzuverlässigkeit mit gegenwärtigen Annahmen zu mensch­ lichen Erinnerungen zusammen und hinterfragen, ob ein Erzähler überhaupt als unzuverlässig bezeichnet werden kann, ausgehend von der Annahme, dass mensch­liche Wahrnehmung und somit auch Erinnerung selektiv und subjektiv stark von der aktuellen Situation des Erinnerns selbst abhängen und somit konstitutiv unzuverlässig sind.11 „Die Vorstellung von zuverlässigem, objektivem Erinnern ist inzwischen zu einem Relikt aus positivistischen Zeiten geworden, abgelöst von der Erkenntnis, dass der Mensch letzt­lich erinnert, was er – immer unter der obersten Prämisse der Kohärenz – erinnern will oder muss.“12 Mensch­liche Erinnerungen sind somit in zweifacher Hinsicht konstitutiv unzuverlässig; erstens, da bereits die Wahrnehmung unzuverlässig, selektiv und perspektivisch ist und zweitens, da Erinnerungen wiederum auch selektiv und dem Gebot der persön­lichen Kohärenz und Sinnstiftung untergeordnet sind.13 Aleida Assmann fasst in ­diesem Kontext zusammen: Wir sind heute konfrontiert mit den Ergebnissen der Hirnforschung und kognitiven Psychologie, die in großem Umfang und an immer neuen Beispielen die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen nachweisen. Angesichts dieser Befunde erscheint die Frage nach der Authentizität von Erinnerungen bereits verfehlt.14

10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin, New York 2005, S. 165 f. Vgl. Bassler; Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 140 – 143. 12 Ebd., S. 141. 13 Vgl. ebd., S. 141. 14 Assmann, Aleida: Wie wahr sind unsere Erinnerungen? In: Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritt der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hrsg. v. Harald Welzer. Stuttgart 2006. S. 95 – 110, hier S. 108.

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Daraus ergeben sich für die Auseinandersetzung mit unzuverlässigem Erzählen folgende Fragen: Ist vor ­diesem Hintergrund jede erinnernde und erzählende Instanz unzuverlässig? Oder aber kann man im genauen Gegenteil dazu – ausgehend von der konstitutiven Unzuverlässigkeit von Erinnerungen – überhaupt noch von erzählerischer Unzuverlässigkeit sprechen?15 Kann ferner ein Erzähler, welcher sich des unzuläng­lichen Charakters seiner Erinnerungen bewusst ist und diesen offen kommuniziert, als unzuverlässig bezeichnet werden? Auf diese Fragen soll anhand der Erinnerungsdarstellung und -konstruktion in Lolita exemplarisch eingegangen werden. Dabei soll gezeigt werden, wie Nabokov seine Erzählinstanz Humbert verschiedene sinn-, authentizitäts- und kohärenzstiftende Techniken einer Rhetorik der Erinnerung beziehungsweise Mimesis des Erinnerns mit dem Ziel einer gelungenen Selbstnarration anwenden lässt, um im Anschluss die Zuverlässigkeit dieser Erinnerungskonstruktion zu disku­ tieren und auf die soeben formulierten Fragen nach der Anwendbarkeit der Kategorie des unzuverlässigen Erzählers zurückzukommen. II Erinnerungsdarstellung und -konstruktion in Lolita

Vladimir Nabokovs Lolita ist eine fiktionale Repräsentation eines autobiografischen Gedächtnisromans und somit eine fiktive Adaptation eines auf Realien basierenden Genres. Eine Vielzahl von authentizitätsstiftenden, verifizierenden und kontinuitätsstiftenden Techniken dient nicht nur dazu, die absurde Lebensgeschichte des Protagonisten, sondern auch die mora­lisch verwerf­liche Vergangenheit des Päderasten Humbert kohärent zu schildern, um Verständnis und Nachvollziehbarkeit bei den Geschworenen im Prozess, seinen Rezipienten, zu erreichen. Daher eignet sich der Roman, um anhand ausgewählter Beispiele die Funktionsweisen der Rhetorik der Erinnerung zur Leserverführung exemplarisch aufzuzeigen und in einem weiteren Schritt Schlüsse über die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz zu ziehen. Die dabei genannten Techniken der Mimesis des Erinnerns beziehungsweise Rhetorik der Erinnerung nach Neumann, Löschnigg sowie Bassler und Birke werden jeweils an gegebener Stelle kurz erläutert und textimmanent gezeigt. Da Erinnerungsdarstellung nur gegeben sein kann, wenn es mindestens zwei Zeitebenen gibt – die der Basiserzählung, von der aus eine Rückschau stattfindet, und die, die erinnert wird – ist zunächst das Verhältnis beider Ebenen der Genese zu betrachten. Die aktuelle Abrufsituation des erzählenden und erinnernden Ich nimmt Einfluss auf die Darstellung seiner Erinnerungen. Sie gibt

15 Vgl. Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 165.

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„Antworten auf die aktuellen Sinnanforderungen der sich erinnernden Person“16. Die Basiserzählung kann daher Aufschluss über die momentanen Umstände, die Motivation und die Sinnstiftungsbedürfnisse der erinnernden Figur verraten oder – ist die Abrufsituation nur sehr gering gestaltet – den konstruktiven Charakter der Erinnerungsdarstellungen verschleiern, was wiederum Glaubwürdigkeit suggeriert.17 Gleichzeitig kann die Schilderung von momentanen Umständen den Leser in seiner Beurteilung und Haltung gegenüber dem Prota­ gonisten beeinflussen. Humbert verfasst seine deut­lich als Plädoyer stilisierte Autobiografie, während er wegen eines Mordes inhaftiert ist und auf seinen Prozess wartet.18 Von der Basiserzählung aus schildert er sein Leben innerhalb einer Rückschau, ­welche ihn wieder zu dem Punkt der Festnahme führt. Somit enthält Lolita zwei Zeitebenen, wobei die erste Ebene, die Basiserzählung, nur sehr gering gestaltet ist, während die Analepse deut­lich überwiegt. Humbert teilt dem Leser ledig­lich mit, er schreibe unter Bewachung, sei zunächst auf einer psychiatrischen Beobachtungsstation gewesen, sei herzkrank, habe nur Zugang zu einer dürftig ausgestatteten Gefängnisbibliothek und besäße noch wenige Aufzeichnungen aus der Zeit seiner Fahrt durch die USA, die ihm zur Niederschrift seiner Aussage von den Behörden überlassen wurden.19 Darüber hinaus erfährt man nur sehr wenig über sein Befinden und seinen Alltag in Haft, was die Basiserzählung stark in den Hintergrund rückt. Nach Bassler und Birke spielt neben dem Verhältnis der einzelnen Erzähl­ ebenen zueinander auch der Genette‘sche Begriff der Ordnung eine zentrale Rolle. Ordnung bezieht sich dabei auf die Abfolge, in welcher sich die erinnerten Ereignisse abgespielt haben, und die Abfolge, in welcher diese wiederum erzählt werden. Die Vergangenheit wird meist in Form einer oder mehrerer Analepsen geschildert. „Der klas­sische Fall sind Rückblicke, die zum Beispiel mit der Geburt des Erzählers von ‚vorne‘ anfangen und die Erzählung bis zu dem zeit­ lichen Punkt bringen, an dem der Erinnerungsprozess eingesetzt hat.“20 Dabei handelt es sich um eine ganze Analepse und durch die Verknüpfung zwischen Anfang und Ende entsteht eine zyk­lische Struktur. Diese führt zur Geschlossenheit des autobiografischen Schreibaktes und somit zur Abgeschlossenheit des Sinnstiftungsprozesses der sich erinnernden Instanz.21 Diese Chronologie von Ereignissen bildet eine Grundlage für die Konstruktion einer kohärenten 16 Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 162. 17 Vgl. ebd., S. 163. 18 Vgl. Grabes: Erfundene Biographien, S. 29. 19 Vgl. Nabokov, Vladimir: Lolita. 4. Auflage. London 2006, S. 8 – 198. 20 Bassler; Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 126. 21 Vgl. Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 249.

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Geschichte, sie suggeriert Vollständigkeit und schafft einfachere Nachvollziehbarkeit. Eine chronolo­gisch einwandfreie Vergangenheitsversion trägt somit stark zur Plausibilität bei.22 Humbert schildert in Lolita sein gesamtes Leben – von seiner Geburt bis zu dem Moment, in dem er für den Mord an Quilty festgenommen wird – in einer solchen ganzen Analepse. Zusätz­lich sind das erste und das letzte Wort des Romans identisch: Lolita.23 Damit weist Lolita eine deut­lich zyk­lische Struktur auf, ist symmetrisch und in sich abgeschlossen. Diese Abgeschlossenheit des Romans wird darüber hinaus dadurch gesteigert, dass der Erzähler und Protagonist Humbert zum Zeitpunkt der Veröffent­lichung seines autobiogra­ fischen Plädoyers bereits tot ist, wie der Leser aus dem fiktiven Vorwort erfährt: „,Humbert‘ […] had died in legal captivity, of coronary thrombosis, on November 16, 1952, a few days before his trial was scheduled to start.“24 Neben der Abgeschlossenheit des Romans ist auch Humberts Leben abgeschlossen. Ein weiteres typisches Charakteristikum innerhalb der Erinnerungskon­ struktion stellt eine genealo­gische Verankerung zu Beginn der chronolo­gischen Schilderung verschiedener Lebensstadien dar. Die genealo­gische Verankerung ist oftmals ein kurzer Bericht über die Familiengeschichte und die Herkunft des Protagonisten. Dieser Abriss der Familiengeschichte bildet eine Grundlage, um die eigene Identität zu verankern, und ist gleichzeitig Ausgangspunkt für die sich anschließende Linearität und Kontinuität innerhalb der Selbstnarration. 25 Nach der genealo­gischen Verankerung werden verschiedene Lebensphasen in ihrer chronolo­gischen Abfolge dargestellt, mit der besonderen Hervorhebung einzelner ausgewählter Schlüsselmomente. Dabei können Ereignisse innerhalb der eigenen Vergangenheitsversion auch erst retrospektiv von der sich erinnernden Instanz zu solchen Schlüsselmomenten aufgewertet werden. Dass Erinnerungen in der Rückschau nachträg­lich mit anderer Bedeutung aufgeladen werden, um bestimmte Geschehnisse oder Verhaltensweisen zu erklären, dient dabei erneut der Kohärenz der eigenen Vergangenheitsversion, denn im „Sinnstiftungsakt werden Erfahrungen im Lichte nachfolgender Erkenntnisse gedeutet, um ihnen so eine besondere Eingängigkeit zuzusprechen.“26 Birgit Neumann erklärt dazu, dass die Funktion des Gedächtnisses weniger in der Speicherung von Erlebtem liegt, sondern darin, das Erlebte auf der Folie des aktuellen Erlebenskontexts zu deuten: 22 Vgl. ebd., S. 242 ff. 23 Vgl. Hof, Renate: Das Spiel des unreliable narrator. Aspekte unglaubwürdigen Erzählens im Werk Vladimir Nabokovs. München Fink 1984, S. 134. 24 Nabokov: Lolita, S. 1. 25 Vgl. Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 247. 26 Ebd., S. 248.

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Dem autobiographischen Gedächtnis kommt die Aufgabe zu, durch produktive Prozesse der Selektion und Interpretation neue, selbstrelevante Informationen an bestehende Gedächtnisbestände zu assimilieren und auf diese Weise die Grundlage für das subjektive Gefühl der biographischen Kontinuität zu schaffen. Da sich die Rahmenbedingungen für Kontinuität im Laufe des Lebens verändern, müssen auch die vergangenen Ereignisse gemäß zwischenzeit­lich erworbener Deutungsmuster reinterpretiert werden 27.

Die auf diese Weise erzielte retrospektive Teleologie und rückwirkende Aufwertung von Erinnerungen verdeut­licht das konstruktive Potenzial und den konstruktiven Charakter von Erinnerungen und Erinnerungsdarstellungen.28 Das Rekapitulieren der individuellen Vergangenheit beinhaltet neben Schlüssel­ momenten auch immer bestimmte andere Personen, die als Interaktionspartner für die eigene Entwicklung fungieren. „Da sich das Selbst nicht monolo­gisch, sondern im Spannungsfeld zwischen der eigenen Lebensgeschichte und dem sozialen Umfeld konstituiert, entstehen auch Identitätsnarrative im diskursiven Wechselspiel mit ‚signifikanten Anderen‘.“29 Die Rückschau auf Humberts Autobiografie beginnt bereits mit der Information, es habe eine ­solche Schlüsselperson, eine Vorläuferin seiner Lolita, gegeben. Im Anschluss konzentriert sich der Erzähler darauf, sehr gerafft von seiner Geburt in Paris und seiner nach eigener Aussage glück­lichen Kindheit und Schulzeit zu berichten. Er unternimmt also eine Verankerung seiner Herkunft, bevor er – eingebettet in die weitgehend chronolo­ gische Schilderung dieser frühen Lebensphasen – von der Schlüsselerfahrung mit Annabel Leigh erzählt. Humbert und Annabel Leigh sind, als sie einander kennenlernen, beide zwölf Jahre alt und teilen in einem gemeinsamen Sommer erste sexuelle Erfahrungen miteinander. Annabel Leigh stirbt vier Monate nach der gemeinsamen Zeit.30 Diese Erinnerung an Annabel betrachtet das sich erinnernde Ich immer wieder als besonders prägend für sein weiteres Leben: „[B] ut today, in September 1952, after twenty-nine years have elapsed, I think I can distinguish in her the initial fateful elf in my life.“31 Über diese schicksalhafte Erfahrung mit Annabel hinaus gibt es bis zu dem Zusammentreffen mit Lolita

27 Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literatur­ wissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin, New York 2005. 149 – 178, hier S. 154. 28 Dies ist ein Aspekt, der in anderer Form ebenfalls in Olga Blanks Aufsatz Es ist ja keine Geschichte, es sind tatsäch­lich nur Erinnerungsfetzen – Wolfgang Hildesheimers litera­ risches und bildkünstlerisches Werk in Relation dargestellt wird. 29 Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 245. 30 Vgl. Nabokov: Lolita, S. 12 ff. 31 Ebd., S. 17.

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weitere Erlebnisse, die auffallend um ein ähn­liches Thema kreisen und w ­ elche der Erzähler besonders hervorhebt: „a great number of these onesided diminutive romances.“32 Alle diese Erlebnisse beurteilt das erinnernde Ich als weitere Verbindungsglieder in der Gänseblümchenkette seines Schicksals und erhebt sie somit auf eine höhere Bedeutungsebene innerhalb seiner Selbstnarration.33 Den Erlebnissen wird durch das erinnernde Ich rückblickend ein Beitrag zur eigenen Entwicklung zugesprochen. Sie fügen sich ein und führen in scheinbar lo­gischer Konsequenz alle zwangsläufig zu Lolita, wie Humbert formuliert: „I am convinced, however, that in a certain magic and fateful way Lolita began with Annabel.“34 Dieses Potenzial, Erinnerungen nachträg­lich an momentane Bedürfnisse des sich erinnernden und erzählenden Ich anzuschließen, kann insbesondere zur Kontingenzreduktion beitragen. Auch prekäre Erfahrungen können in der Retrospektive so geglättet und mit der Handlung verknüpft werden, dass sie dadurch plausibel erscheinen und das Bild einer kohärenten Lebensgeschichte nicht aufheben. Damit Kontinuität und Kohärenz erhalten bleiben, müssen ­Brüche innerhalb der Erzählung, w ­ elche diese gefährden, geglättet werden. Selbst besonders extreme Erlebnisse, die eigent­lich Brüche innerhalb der Selbstnarration hervorrufen müssten, können dabei so eingeordnet werden, dass sie nicht nur nicht zu einem Bruch in der Kohärenz führen, sondern die Identitätsbildung positiv stützen.35 Bei der Betrachtung von Lolita fällt auf, dass der Erzähler versucht, sehr prekäre Erlebnisse in seinen Lebensbericht einzuordnen. Mit dem ihn prägenden Kindheitserlebnis mit Annabel Leigh begründet er später einerseits seine Pädophilie und andererseits seine Gefühle für Lolita. Auch ist er der Meinung, dass er sich nicht an Lolita vergangen hat: „Did I deprive her of her flower? Sensitive gentlewomen of the jury, I was not even her first lover.“36 Immer wieder charakterisiert er seine dreizehnjährige ‚Nymphette‘ als „utterly and hopelessly depraved“37, behauptet: „it was she who seduced me“38, und glättet, indem er sie als Verführerin und sich selbst als Verführten darstellt, vermeint­lich den Umstand seines Missbrauchs. Sich selbst charakterisiert Humbert indes wie folgt: „I am not a criminal sexual psychopath taking indecent liberties with a child. The rapist was Charlie H ­ olmes; I am the therapist“39. 32 Ebd., S. 20. 33 Vgl. ebd., S. 34. 34 Ebd., S. 12. 35 Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 248. 36 Nabokov: Lolita, S. 153. 37 Ebd., S. 150. 38 Ebd., S. 151. 39 Ebd., S. 168.

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Zusätz­lich verweist Humbert während der Reaktualisierung seines Lebens mehrfach auf die Auswirkung von Schicksal und Zufall. Der Unfalltod von Lolitas Mutter und seiner Frau Charlotte nach seinem gescheiterten Mordversuch an ihr ist ein solcher schicksalhafter, ihm sehr zuvorkommender Zufall gewesen: „I had actually seen the agent of fate.“40 Ebenso ist seine Vorliebe für Mädchen zwischen neun und vierzehn Jahren angeb­lich durch sein Schicksal vorbestimmt gewesen. Alles führte zwangläufig zunächst auf die Beziehung zu Lolita und im Anschluss auf den Mord an Quilty hin, der Lolita bei ihrer Flucht vor Humbert half, dabei jedoch dieselben Absichten wie Humbert verfolgte. Fouler äußert dazu: „In moral terms: […] Humbert is not wholly responsible for his own entry into his relationship with Lolita: fate kills Charlotte, and Lolita seduces him.“41 Die Überzeugung, sein Leben sei eine Verkettung von Zufällen und durch das Schicksal vorbestimmter Ereignisse, Schlüssel­momente und -personen, stellt wiederum selbst eine retrospektive Deutung dar und fügt sich daher in die durch Humbert erzeugte Teleologie seines Lebens, wie auch Grabes herausstellt: In die Situation gebracht, die zu einem Mord führende ,Abartigkeit‘ seines ­Verhaltens vor Gericht zu erklären, kommt es dem Erzähler in seiner als Plädoyer konzipierten Autobiographie offensicht­lich darauf an, die Eigenmächtigkeit des Prozesses aufzuzeigen, der sein Leben bestimmt, und sich so nicht als den bewußten Urheber verwerf­licher Taten, sondern als das leidvolle Opfer einer ,schicksalhaften‘ Entwicklung zu erweisen.42

Somit ist Humbert, seiner eigenen Auffassung und Darstellung nach, kein Mörder und missbraucht auch kein Kind.43 Eine weitere Strategie der Rhetorik der Erinnerung stellen intertextuelle und intermediale Referenzen innerhalb des Romans Lolita dar. Solche Verweise über den Text hinaus können innerhalb der Erinnerungskonstruktion unterschied­ liche Funktionen erfüllen, darunter erneut die Suggestion von Authentizität, aber auch das Herantragen von bereits bestehenden oder üb­lichen Deutungsund Interpretationsmustern an den Text. Intertextualität ruft „kulturell verfügbare, textexterne Deutungsmuster, Erinnerungssymbole und -ordnungen zur produktiven Auslegung eigener Sinnwelten auf “44, was besonders für die 40 Ebd., S. 115. 41 Fowler, Douglas: Reading Nabokov, S. 149. 42 Grabes: Erfundene Biographien, S. 30. 43 Fowler, Douglas: Reading Nabokov, S. 149. 44 Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 189.

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Erschaffung fiktionaler Gedächtniswelten von Bedeutung ist, da es diese vergleichbar macht sowie die Erinnerung und Identität vergleichbar mit anderen werden lässt. „Sinnstiftungsstrategien und Wertehierarchien können durch intertextuelle Verweise […] im Folgetext affirmiert und legitimiert werden“45 und gleichzeitig im Folgetext für sich in Anspruch genommen werden.46 Eine so verstandene Intertextualität „als eine vom Leser vorgenommene Bezugsetzung von Texten“47 geht von einer Interaktion zwischen dem Leser und dem Text aus. Dabei ist Intertextualität eine Form der Leseraktivierung, da sie den Rezipienten dazu auffordert, einen Text mit anderen zu vergleichen und in einem bestimmten Deutungsrahmen zu interpretieren.48 Dieser Deutungsrahmen kann dem Rezipienten auch als literarischer Bezugsrahmen zur Beurteilung der erzählerischen Zuverlässigkeit beziehungsweise Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz dienen. Der Protagonist und Literaturwissenschaftler Humbert zieht in seiner Autobiografie immer wieder intertextuelle Bezüge heran. Besonders auffällig ist der Bezug auf Edgar Allan Poes Kingdom by the Sea, das als Vorlage für das ‚Prinzess­ reich am Meer‘ gesehen werden kann, in dem sich die Annabell-Leigh-Episode, bei Poe Annabel Lee, ereignet hat.49 Darüber hinaus nimmt Humbert Bezug auf verschiedene Gesetzestexte und Artikel, die alle Beziehungen zu Minderjährigen und Vormundschaft thematisieren: I quote again: Among Sicilians sexual relations between a father and his daughter are accepted as a matter of course, and the girl who participates in such a relationship is not looked upon with disapproval by the society of which she is part. I’m a great admirer of Sicilians […] fine upright people, Lo, and great lovers.50

Ebenso nutzt er literarische Beispiele zur Auseinandersetzung mit seiner Pädophilie und Beziehung zu Lolita: „Here are some more pictures. Here is Virgil, who could the nymphet sing in single tone, but probably preferred a lad’s perineum.“51 Die vielen literarischen Anspielungen, „die fast immer auf Parallelen

45 Ebd., S. 190. 46 Vgl. ebd. 47 Scheiding, Oliver: Intertextualität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin 2005. S. 53 – 72, S. 63. 48 Vgl. ebd., S. 63 f. 49 Vgl. Grabes: Erfundene Biographien, S. 29 f. 50 Nabokov: Lolita, S. 169. 51 Ebd., S. 18.

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zu seiner Situation verweisen […] haben eine berechtigte Funktion, indem sie dem geschilderten Verhältnis zu Lolita die Einzigartigkeit – und damit einen Teil der ‚Abartigkeit‘ – nehmen“52. Der Bezug auf aktuelles Zeitgeschehen anhand von medialer Bericht­ erstattung innerhalb der Erinnerungskonstruktion eignet sich wiederum, um Glaubwürdigkeit zu suggerieren und die eigenen Erinnerungen zu verifizieren. Immer wieder beruft sich Humbert unter genauer Angabe des Datums zum Beispiel auf Zeitungsartikel und Journals, um die geschilderte Handlung zeit­ lich und ört­lich einzuordnen und sie für den Leser theoretisch überprüfbar zu machen, wie etwa: „The reader may check the weather data in Ramsdale Journal for 1947.“53 Diese Angabe von Quellen dient dabei als Rückversicherung und Beleg von Authentizität. Hof formulierte dazu: Als Künstler kann er Geschichten erfinden. Er wird zum Märchenerzähler und zum Zauberer. Er kann mit seinen Lesern spielen, indem er selbst darauf hindeutet, daß große Teile seiner Geschichte vielleicht nur seiner Phantasie entspringen. Dann verweist er auf – wirk­lich existierende – Zeitungsberichte, in denen von ähn­lichen ‚­Fällen‘ die Rede ist. Wir werden aufgefordert, Orts- und Zeitangaben zu überprüfen.54

Die Erinnerung an sehr viele Details ist eine weitere Technik des erinnernden Ich, um die Authentizität seines retrospektiven Berichts des Geschehenen zu gewährleisten, da die Detailfülle von Erinnerungen als Indiz für ihre Wirk­ lichkeitstreue gilt. Humberts Erinnerungen zeichnen sich durch sehr viele Einzelheiten aus, sowohl bezüg­lich der Reiseroute, bei der genauen Beschreibung von Orten und Räumen oder Lolitas exakten Körpermaßen.55 Besonders die detailgetreue Beschreibung von Personen, ihres Verhaltens, bis hin zur wört­lichen Wiedergabe von Gesprächen steigert die Wirkung, es handle sich um tatsäch­lich erlebte Erinnerungen des Ich. Je genauer und detaillierter eine Erinnerung geschildert wird, umso stärker sind wir geneigt zu glauben, dass diese sich so ereignet habe. „Die Detailliertheit dieser Erinnerungsbilder stützt die Glaubwürdigkeit des Erzählerberichts – Visualisierung und ‚Rheto­ rik der Erinnerung‘ wirken somit zusammen im Sinne der Suggestion von Authentizität.“56 Dabei ist für den Grad an Glaubwürdigkeit der Erinnerung nicht nur die Menge an Details entscheidend, sondern auch die Art der Details. 52 Grabes: Erfundene Biographien, S. 32. 53 Nabokov: Lolita, S. 43. 54 Hof: Das Spiel des unreliable narrator, S. 140. 55 Vgl. Nabokov: Lolita, S. 121. 56 Löschnigg: The Prismatic Hues of Memory, S. 189.

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Gerade Sinneswahrnehmungen, die über visuelle Erfahrungen hinausgehen, suggerieren Glaubwürdigkeit. Erinnerte haptische oder olfaktorische Details unterstützen den Eindruck, es handle sich um ‚Field Memories‘ also Erinnerungen, die aus der internen Fokalisierung des erlebenden und nun erinnerten Ich hervorgehen und daher besonders unmittelbar, lebhaft und detailreich wirken. Im Gegensatz dazu stehen ‚Observer Memories‘, die sich durch eine größere Distanz gegenüber der Erinnerung auszeichnen. ‚Field Memories‘ machen Erinnerungen emotional nachvollziehbar und steigern durch ihre Unmittelbarkeit die Glaubwürdigkeit von Erinnerungen. Gleichzeitig spielt das Erinnern an bestimmte Sinneseindrücke auch auf die Speicherung von Erinnerung innerhalb des mensch­lichen Gedächtnisses an, welches Eindrücke über visuelle Reize und Wahrnehmung hinaus wahrnimmt, ablegt und (bewusst und unbewusst) abrufbar macht, wie Humbert auch anhand seiner Erinnerung an Annabel veranschau­licht: „I recall the scent of some kind of toilet powder – I believe she stole it from her mother’s Spanish maid – a sweetish, lowly, musky perfume. It mingled with her own biscuit odor, and my senses were suddenly filled to the brim“57. Neben der Detailfülle des Erinnerns kann die Erinnerungsleistung auch durch verschiedene explizite Strategien untermauert werden. Dazu zählt unter anderem die Betonung eines besonders guten Gedächtnisses.58 Über intermediale und intertextuelle Referenzen hinaus bezieht sich Humbert zur Rückversicherung seiner Selbstnarration auf verschiedene Briefe, Straßenkarten und ein Tagebuch, welches er bis zu Charlottes Tod geführt hat, das aber nicht mehr existiert. Dabei gibt er den Wortlaut der Briefe aus seiner Erinnerung wieder und betont die Genauigkeit seiner Erinnerungen: „What I present here is what I remember of the letter and what I remember of the letter I remember verbatim (including that awful French). It was at least twice longer.“59 Zusätz­lich informiert Humbert den Leser über sein fotografisches Gedächtnis und macht auf seine außergewöhn­liche Erinnerungsgabe aufmerksam. Diese beweist er, indem er jeden der zwanzig Einträge seines vernichteten Tagebuchs in seiner Autobiografie rekonstruieren und wiedergeben kann, um diese Einträge im Anschluss wiederum als Beleg für die Richtigkeit seiner Erinnerungen zu verwenden. Das Erkennen und Benennen verschiedener Phänomene, die im Zusammenhang mit der Erinnerungsthematik stehen, wie zum Beispiel das Déjà-vu, sind weitere Mög­lichkeiten, um die Erinnerungsleistung explizit aufzugreifen und

57 Nabokov: Lolita, S. 14. 58 Vgl. Löschnigg: The Prismatic Hues of Memory, S. 194 f. 59 Nabokov: Lolita, S. 76.

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darüber hinaus zu verdeut­lichen, dass man sich der mitunter problematischen Charakteristika von Erinnerungen bewusst ist.60 Gerade ­dieses Bewusstsein der Beschaffenheit von Erinnerungen und das sowohl implizite als auch explizite Eingestehen der unzuverlässigen Eigenschaft von subjektiven Erinnerungen steigern die Glaubwürdigkeit der erzählenden Instanz, da auf diese Weise das mensch­liche Gedächtnis in seiner konstitutiven Unzuverlässigkeit abgebildet wird. In Humberts Erinnerungskonstruktion zeigen sich verschiedene erinnerungstypische Phänomene. Dazu zählt unter anderem das Auswendigwissen der Namensliste von Lolitas Schulklasse in Ramsdale, über ­welche er in sein verschollenes Tagebuch geschrieben hat: „It is a poem I know already by heart.“61 Das Auftreten solcher erinnerungstypischer Phänomene zeigt die Erinnerungshaftigkeit von Humberts Schilderungen. Die Phänomene sind dem Rezipienten aus der eigenen Erinnerung bekannt und steigern daher die Glaubwürdigkeit erneut. Humberts Aussagen über seine Gedächtnisleistung erweisen sich jedoch als höchst widersprüch­lich und weisen Unstimmigkeiten auf. Er teilt mit, ein außerordent­lich gutes und zudem fotografisches Gedächtnis zu haben, erinnert sich aber nicht an das Autokennzeichen von Quilty, das er zusätz­lich noch notiert haben will: „As the ass I was I had not memorized it.“62 Die Grenze zwischen einer Detailhaftigkeit, ­welche verifizierend funktioniert, und einer zu großen Detailhaftigkeit innerhalb der Erinnerungskonstruktion ist nicht genau zu bestimmen. Eine unverhältnismäßige Menge an Details kann auch eine gegenteilige Wirkung erzielen. Wört­lich wiedergegebene Dialoge zum Beispiel würden ein vollkommenes Erinnerungsvermögen voraussetzen und sind daher eher als Fiktions- und Unzuverlässigkeitsindiz zu betrachten.63 Darin zeigt sich eine Polyfunktionalität innerhalb der Erinnerungsdarstellung. ­Mittel, ­welche zur Steigerung der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit beitragen, können gleichzeitig Indizien dagegen sein. Die Detailfülle, ­welche zwar der Verifizierung von Humberts Erinnerungsdarstellungen dient, entlarvt gleichzeitig die Erinnerungskonstruktion als Erinnerungsfiktion. Sie übersteigt das gewöhn­liche Erinnerungsvermögen des mensch­lichen Gedächtnisses. Wie sollte sich Humbert zum Beispiel an diese unleser­liche Stelle in Charlotte Hazes Brief erinnern: „Let me rave and ramble on for a teeny while more, my dearest, since I know this letter has been by now torn by you, and its pieces (illegible)

60 Vgl. Löschnigg: The Prismatic Hues of Memory, S. 177 f. 61 Nabokov: Lolita, S. 56. 62 Ebd., S. 257. 63 Vgl. Löschnigg: The Prismatic Hues of Memory, S. 189.

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in the vortex of the toilet.“64 Zumal er selbst eingesteht, diese vermut­lich verändert zu haben: „Yes there is a chance that the vortex of the toilet (where the letter did go) is my own matter-of-fact contribution.“65 Obwohl der Erzähler die ungenaue Wiedergabe an dieser Stelle offenlegt, sind es dennoch stets wieder­gegebene Briefe  66 und wört­liche Rede, die er als Rückversicherung ­seiner Erinnerungen nutzt. Des Weiteren äußert der sich erinnernde Humbert offen, sein später verschollenes Tagebuch, das Charlotte Haze gefunden und das seine Absichten gegenüber Lolita aufgedeckt hat, als fingierten Romanentwurf neu zu verfassen und ihr diese Fälschung zur Beschwichtigung der Situation erneut vorzulegen: „Rewrite. Let her read it again. She will not recall details. Change, forge. Write a fragment and show it to her or leave it lying around.“67 Das tritt zwar aufgrund des für Humbert glück­lichen Zufalls ihres Todes nicht mehr ein, weist jedoch zusätz­lich auf eine Diskrepanz zwischen der Erinnerungskonstruktion Humberts und seinen Handlungen und Aussagen hin und führt erneut zu Zweifeln an seiner Zuverlässigkeit. Auf sprach­licher Ebene wird die Retrospektive durch bestimmte Äußerungen des Erzählers thematisiert. Diese Thematisierung bezeichnet Martin Löschnigg als eigent­liche Rhetorik der Erinnerung. Zunächst sind emphatische Bekräftigungen der Erinnerung zu nennen, also Äußerungen des erinnernden Protagonisten, die dessen Erinnerungen nicht nur erwähnen, sondern auch bekräftigen und somit die Zuverlässigkeit des Erinnerungsvermögens stützen. Zu solchen Bekräftigungen gehören zum Beispiel Aussagen, wie: „I remember the thing so exactly because I wrote it really twice.“68 Auch die Bewertung eigener Erinnerungen als irrelevant und die somit offengelegte bewusste Selektion des erzählenden und erinnernden Ich, ­welche Erinnerungen es für erzählenswert empfindet und ­welche nicht, zeigt implizit die Retrospektive.69 Neben der Erinnerungsleistung „können allerdings auch Probleme des Erinnerungsabrufs, die mangelnde Zuverlässigkeit, die Selektivität und die Perspektivität von Erinnerungen und sogar das Vergessen thematisiert werden.“70 Martin Löschnigg spricht in d ­ iesem Zusammenhang nicht nur von einer Rhetorik der Erinnerung, sondern auch von einer Rhetorik des Vergessens.

64 Nabokov: Lolita, S. 75. 65 Ebd., S. 76. 66 Vgl. Nabokov: Lolita, S. 253 f. 67 Vgl. ebd., S. 108. 68 Ebd., S. 43. 69 Vgl. Löschnigg: The Prismatic Hues of Memory, S. 184 f. 70 Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 164.

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In Lolita sind implizite sprach­liche Thematisierungen der Retrospektive durch simple Erwähnung sowie empathische Bekräftigungen der Erinnerung verhältnismäßig selten auszumachen. In Relation zur auf diese Weise seltenen Thematisierung und Bestärkung der Erinnerungen kommen die Eingeständnisse von Lücken, Unvollständigkeit, Problemen des Erinnerungsabrufs und auch der bewussten Selektion von bestimmten Erinnerungen innerhalb der Autobiografie deut­lich häufiger vor. Humbert zeigt sich mehrfach als sehr bewusst Erinnernder und setzt sich während der Reaktualisierung s­ einer Lebens­geschichte mehrfach kommentierend mit seinen eigenen oder den allgemeinen Eigenschaften von Erinnerung auseinander: There are two kinds of visual memory: one when you skillfully recreate an image in the laboratory of your mind, with your eyes open (and then I see Annabel in such general terms as: ,honey-colored skin’, ,thin arms’, ,brown bobbed hair’, ,long lashes’, ,big bright mouth’); and the other when you instantly evoke. With shut eyes, on the dark innerside of your eyelids, the objective, absolutely optical replica of the beloved face, a little ghost in natural colors (and this is how I see Lolita).71

Eine Erzählinstanz, die sich der Beschaffenheit von Erinnerungen, ihrer Flüchtigkeit und Unzuverlässigkeit bewusst ist und ­dieses Bewusstsein thematisiert, unterstreicht damit ihre Zuverlässigkeit als Erinnerungsinstanz. Es entsteht nicht unbedingt Authentizität, aber Glaubwürdigkeit für das erzählende und erinnernde Ich. Es berichtet so gut und wahrheitsgetreu, wie es nur kann. Der Erzähler in Lolita äußert sich vermehrt unzufrieden über die Unzuläng­ lichkeit seiner Erinnerungen und darüber hinaus über seine Fähigkeit zu deren sprach­licher Darstellung: „I find it most difficult to express with adequate force that flash, that shiver, that impact of passionate recognition.“72 Oder „I would like to describe her face, her ways – and I cannot, because my own desire for her blinds me when she is near.“73 Zudem zeigt sich sein Bewusstsein für seine eigenen rückwirkenden Deutungen bei der Betrachtung seines erinnerten Ich ganz deut­lich: „All this I rationalize now. In my twenties and thirties, I did not understand my throes quite so clearly.“74 Somit ist sich diese Erzählinstanz nicht nur der Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerungen und Erinnerungsdarstellungen, sondern auch ihrer eigenen Eingriffe in die Autobiografie bewusst,

71 Nabokov: Lolita, S. 10. 72 Ebd., S. 42. 73 Ebd., S. 47. 74 Ebd., S. 18.

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weist allerdings auf diese hin, statt sie zu vertuschen. Dennoch stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob ein Erzähler wie Humbert alle retrospektiven Deutungen offenlegt, oder aber, ob er sich so deut­lich als seinen eigenen Erinne­ rungen gegenüber kritische Erzählinstanz darstellt, damit darüber hinaus eine Zahl intendierter, nicht erwähnter retrospektiver Eingriffe mit dem Ziel einer kohärenten Selbstnarration und darauf aufbauenden Rezeptionslenkung unentdeckt bleiben kann. Obwohl die von dem Erzähler eingestandene Unvollständigkeit seiner Erinne­ rungen und deren unzuläng­liche sprach­liche Darstellung ihn einerseits als sehr bewussten und daher glaubwürdigen Erzähler auszeichnen, ist die Thematisierung der eigenen Unglaubwürdigkeit ebenso ein mög­liches Signal für unzuverlässiges Erzählen. Das gleiche Signal kann, wie bereits am Beispiel der Detailfülle gezeigt wurde, sowohl als Indiz für als auch gegen die Unzuverlässigkeit des Erzählers dienen. Bleibt man aber bei der Annahme, dass der Erzähler in Lolita ein sich sowohl der Qualität als auch der Wirkung seiner Erinnerungen und Erzählungen bewusster Erzähler ist, so erlaubt dies die These, dass er seine Erinnerungen unter Kenntnis und Wissen über den konstitutiv unzuverlässigen Charakter von mensch­lichen Erinnerungen inszeniert. Damit bedient er sich einer Mimesis der Erinnerung, w ­ elche das Eingeständnis von Lücken und Unzuverlässigkeit beinhaltet, um damit tatsäch­liche erzählerische Selektion, Unstimmigkeiten und Unzuverlässigkeit zu verschleiern. Dass das Vorgehen dem Charakter des sich erinnernden Humbert entspricht, zeigt sich darin, dass er auf dieselbe Weise bereits Psychiater täuschte: „[C]unningly leading them on; never letting them see that you know all the tricks of the trade; inventing for them elaborate dreams, pure classics in style […] and never allowing them the slightest glimpse of one’s real sexual predicament.“75 Auch Grabes stellt fest, „in Humbert Humbert hat der Leser demnach einen durchaus bewußten Erzähler vor sich, der die Wirkung seiner Darstellungsweisen genau kalkuliert.“76 Wie sich anhand der zuvor genannten textinternen Signale für unzuverlässiges Erzählen zeigt, fallen in Humberts retrospektivem Bekenntnis vor allem Unstimmigkeiten und Diskrepanzen auf, die Anlass dazu geben, seine Zuverlässigkeit zu bezweifeln. Die beschriebene Kohärenz, Plausibilität und Authentizität seiner Erinnerungskonstruktion dient nicht nur als Basis einer gelungenen Selbstnarration, sondern bildet vor allem die Grundlage für eine Verführungsstrategie: Denn nur wenn nachvollziehbar erzählt wird, kann eine gelungene Verführung des Lesers stattfinden.

75 Ebd., S. 36. 76 Grabes: Erfundene Biographien, S. 32.

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III Ist konstruierte Erinnerung gleichzeitig unzuverlässige Erinnerung?

In der bisherigen Untersuchung konnte bei der Erzählinstanz Humbert die Verwendung verschiedener Techniken einer Rhetorik der Erinnerung beziehungsweise Mimesis des Erinnerns nachgewiesen werden, mittels derer er seine Selbstnarration mög­lichst kohärent, linear und plausibel zu gestalten versucht. Wie gezeigt worden ist, beinhaltet diese auch, dass gezielt Unzuläng­lichkeiten der eigenen Erinnerung dargestellt und thematisiert werden. Diese eingestandene Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerungen dient dabei eigent­lich als ein Indiz für unzuverlässiges Erzählen, kann allerdings auch – da sie offen artikuliert wird und auf konstitutive Schwächen und Grenzen mensch­lichen Erinnerns anspielt – gegenteilig als positive Bekräftigung der sich erinnernden Instanz gelten. An dieser Stelle muss die Polyfunktionalität von kommunizierter Unzuverlässigkeit erneut betont werden. Gelten nach Nünning Eingeständnisse von mangelnder Zuverlässigkeit der Erinnerung und Erinnerungsdarstellung als Indikatoren für unzuverlässiges Erzählen, wirken sie innerhalb der Rhetorik der Erinnerung authentizitätsstiftend. Geschuldet ist diese Wirkung der bereits erwähnten Annahme, dass mensch­liche Erinnerung lückenhaft und unzuverlässig ist, ein Eingeständnis dieser Lückenhaftigkeit also die Authentizität und somit den Wahrheitsgehalt der retrospektiven Erinnerung steigern kann, da es die Vorstellung eines tatsäch­lichen Erinnerungsprozesses hervorruft.77 Gleichzeitig zeigt sich ein Erzähler bei Eingeständnis dieser Lücken in seinen Erinnerungen als der Beschaffenheit und Qualität seiner Erinnerungen bewusster Erzähler, was zusätz­lich zur Steigerung seiner Zuverlässigkeit beiträgt. Diese Polyfunktionalität von bewusst oder gezielt thematisierten Erinnerungslücken veranschau­licht im Kleinen die Frage, ob vor dem Hintergrund charakteris­ tischer Selektivität, Subjektivität und Situativität mensch­licher Wahrnehmung und Erinnerung überhaupt von Unzuverlässigkeit gesprochen werden kann. Ist konstruierte Erinnerung gleichzeitig unglaubwürdige Erinnerung oder kann sie nicht ein Indiz für Authentizität sein, da sie Erinnerung in ihrer konstitutiven Unzuverlässigkeit nachbildet? Neumann schlägt vor, das unzuverlässige Erinnern von unzuverlässigem Erzählen zu trennen und gesondert zu betrachten. Dieses unzuverlässige Erinnern beziehe sich demnach ausschließ­lich auf die unzuläng­lichen Eigenschaften von mensch­licher Erinnerung und die daraus resultierende mangelnde Zuverlässigkeit des Erzählens. Die sich so erinnernde und erzählende Instanz berichte entsprechend ihres subjektiven Wissens und könne daher nicht als

77 Vgl. Bassler; Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 141.

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unzuverlässiger Erzähler eingestuft werden. Gesteigert wird diese Annahme dadurch, dass sich die erinnernde und erzählende Instanz der unzuverlässigen Beschaffenheit der eigenen Erinnerung und des konstruierten Charakters im Hinblick auf einen Sinnstiftungsprozess bewusst ist und diese eingesteht. So kann dieser bewussten Instanz keine Unzuverlässigkeit unterstellt werden. Denn „[t]hematisiert ein Erzähler häufig den Erinnerungsprozess und gesteht sich Erinnerungslücken und retrospektive Sinnstiftung ein, so kann er nicht mehr als unzuverlässiger Erzähler im eigent­lichen Sinn gelten, selbst wenn die von ihm geschilderten Ergebnisse sich innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt widersprechen.“78 Nutzt ein Erzähler unzuverlässige Erinnerungskon­ struktionen und gezielte retrospektive Umdeutung und Glättung, um einen nachvollziehbaren Sinnstiftungsprozess zu erzielen, klassifiziert das Vorgehen diesen auch nicht zwingend als unzuverlässigen Erzähler. Sein unzuverlässiges Erzählen ist durch eine intendierte Funktion legitimiert und es kommt ihm ein positiv produktives Potenzial innerhalb der Selbstnarration zu. Unzuverlässiges Erzählen resultiert in ­diesem Fall nicht nur aus dem unzuverlässigen Charakter von Erinnerungen, sondern kann nach der Prämisse einer sogenannten ‚Usable Past‘ auf ein Ziel hinaus entworfen auch positives Potenzial haben, ohne dass die Erzählinstanz an Glaubwürdigkeit verliert.79 „Offensicht­ lich scheinen ‚unzuverlässige Erinnerungen‘ eine Mög­lichkeit zu bieten, die Identitätskonstruktionen auf ein Ziel hin zu entwerfen“80. Denn [m]ag die Projektion von gegenwärtigen Erkenntnissen auf die […] Sichtweise den Erzähler gemäß herkömm­licher Definitionen als ‚unzuverlässig‘ desavouieren, so stellt sie im Rahmen von Gedächtniserzählungen ein konstitutives Element der Mimesis des Erinnerns dar, das einen maßgeb­lichen Beitrag zur Sinnstiftung und den Eindruck von Erinnerungshaftigkeit unterstreicht.81

Neumann sieht unzuverlässiges Erzählen somit als Teil einer Nachahmung des natür­lichen unzuverlässigen Erinnerungsabrufs. Die spezifische Wahrheit von Erinnerung liegt daher gerade auch in der durch ihre Konstruktivität begründeten Unzuverlässigkeit.82 Dem stehen nun andere Formen des unzuverlässigen Erzählens gegenüber. Ein Beispiel dafür ist nach Neumann, wenn Erinnerungen über den notwendigen 78 Ebd. 79 Vgl. Neumann: Erinnerung, Identität, Narration, S. 274. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 273 f. 82 Vgl. ebd., S. 274.

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Grad, welcher für eine kohärente Vergangenheitsversion nötig wäre, gesteigert werden. Sie werden zu „subjektiven Phantasiegebilden“83, die keinen Bezug mehr zur Vergangenheit aufweisen und teilweise ganz imaginiert sein können. Weiter kann ein Erzähler „durch deviante Wertvorstellungen und Verhaltensweisen“84 als unzuverlässig eingestuft werden, was wiederum an das Konzept des unzuverlässigen Erzählers anknüpft, da dessen Wertvorstellungen nicht mit den Bezugsrahmen des Rezipienten übereinstimmen. Ein unzuverlässiges Erzählen, welches nicht auf unzuverlässigen Erinnerungen basiert, kann gegeben sein, wenn es sich um eine bewusst intendierte Unzuverlässigkeit handelt, die der Lesermanipulation dient. Der Erzähler hat in ­diesem Fall Kenntnis von seinen unzuverlässigen Berichten und konstruiert diese auf ein bestimmtes Ziel hin. Die Unterscheidung zwischen einer solchen Erinnerungskonstruktion und einer produktiven ‚Usable Past‘ ist jedoch nicht leicht auszumachen, da sich die beiden zielgerichteten Erinnerungskonstruktionen gleicher Mittel der Rhetorik der Erinnerung und Mimesis des Erinnerns bedienen können. Wie sich anhand der verschiedenen Überlegungen zu erzählerischer Unzuverlässigkeit zeigt, stehen erzählerische Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit in keinem dichotomen, sondern einem graduellen Verhältnis zueinander. Es gibt verschiedene Arten von narrativer Unzuverlässigkeit, die einen unterschied­ lichen Grad an Unzuverlässigkeit beinhalten: konstitutive Unzuverlässigkeit, bewusste Unzuverlässigkeit als produktive Mög­lichkeit, eine ‚Usable Past‘ zu erschaffen, und intendierte manipulative Unzuverlässigkeit. Ein Erzähler ist nicht bloß zuverlässig oder unzuverlässig, sondern kann auf unterschied­liche Weise mit unterschied­licher Intention mehr oder weniger zuverlässig sein. Zudem ist anzunehmen, dass verschiedene Formen von Unzuverlässigkeit gleichermaßen innerhalb eines Werks auftreten. Ein und derselbe Erzähler ist nicht immer auf die gleiche Weise unzuverlässig. Unzuverlässigkeit, die auf der charakteristischen Unzuläng­lichkeit der Erinnerungen basiert, kann sich mit intendierter und manipulativer Unzuverlässigkeit vermischen. Basiert die mangelnde Zuverlässigkeit eines Erzählers ausschließ­lich auf konstitutiven Schwächen des Erinnerungsabrufs, ist dies jedoch kein ausreichendes Kriterium, um ihn als unzuverlässigen Erzähler zu charakterisieren. Obwohl die Unzuläng­lichkeit ein typisches Charakteristikum von Erinnerungen ist und daher zur Authentizität von Erinnerungsdarstellung beiträgt, und obwohl diese Klasse von konstitutiver Unzuverlässigkeit aufgrund unzuverlässiger Erinnerung bei dem erzählenden und erinnernden Ich in Lolita

83 Ebd., S. 166. 84 Ebd.

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nachgewiesen werden konnte, kann für den ganzen Roman nicht von konstitutiver Unzuverlässigkeit ausgegangen werden. In Lolita konnten alle Formen eines nicht zuverlässigen Erzählens gezeigt werden. Während das erzählende und erinnernde Ich stark emotional involviert ist und die akute Abrufsituation den Erinnerungsabruf und die Vergangenheitskonstruktion ohne bewussten Eingriff des erinnernden Ich beeinflusst, verweisen viele der gezeigten Signale auf eine intendierte, durch die Erzählinstanz gelenkte Retrospektive. Widersprüche, sehr große, vermeint­lich geglättete Kontingenzen und eine überspitzte, retrospektiv teleolo­gische Deutung mit dem häufigen Verweis auf Schicksalhaftigkeit gehen über das natür­liche Potenzial von Erinnerungsdarstellungen hinaus. Zwar gehören sie alle zu den Strategien von Erinnerungsdarstellungen, entlarven in ihrer Dichte und Eindring­lichkeit die Erzählinstanz in Lolita allerdings als unzuverlässigen Erzähler. Auch die Annahme der positiven Funktion von Inszenierungen fiktionaler Erinnerungen nach der Prämisse einer ‚Usable Past‘, also einer auf ein Ziel hinaus entworfen Vergangenheit, erklärt die Unzuverlässigkeit der erinnernden und erzählenden Instanz in Lolita nicht hinreichend.85 Obwohl Erinnerung konstruiert wird, bewusste Erinnerungskonstruktion als narrativer Akt dienen kann, und obwohl Unzuverlässigkeit ein Charakteristikum von Erinnerungen ist und angereicherte Erinnerungen aus der momentanen Perspektive sinnstiftend genutzt werden können, ohne dass von unzuverlässigem Erzählen die Rede ist, verschleiert dies die offensicht­lichen Absichten dieser Erzählinstanz nicht.86 Denn „[n]eben dieser durch den ontolo­gischen Status des Ich-Erzählers bedingten Unzuverlässigkeit sei vor allem eine erzählstrate­gische Manipulation zu beachten. Eine Erzählerfigur ist sich bewußt, daß sie erzählt, sie ist sich bewußt, daß ihre Erzählung Gegenstand eines Kommunikationsvorgangs ist.“87 Die häufig verwendeten Authentizitätsstrategien, Rückversicherungen und Beweise in Lolita scheinen die Erinnerungsdarstellungen zu verifizieren, ­welche eine unzuverlässige Erzählinstanz im Bewusstsein ihrer Unzuverlässigkeit formuliert. Leserkomplimente, Leseranreden und das Streben nach der Sympathie des Rezipienten, der Geschworenen und des Richters vor dem Hintergrund der Abrufsituation des erzählenden und erinnernden Ich beweisen die gezielte und doch verschleierte Unzuverlässigkeit des Erzählers. Verschleiert wird diese vor allem durch den Umstand, dass sich die Erzählinstanz als die bewusste Erzählinstanz zeigt, w ­ elche sie auch ist. Der Erzähler in Lolita scheint sich sowohl der typischen Eigenschaften von mensch­lichen Erinnerungen als

85 Vgl. ebd., S. 274. 86 Vgl. ebd., S. 273 f. 87 Hof: Das Spiel des unreliable narrator, S. 45.

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auch einer Rhetorik der Erinnerung und Mimesis des Erinnerns bewusst zu sein, weshalb er seine Erinnerungsdarstellung mimetisch und dadurch glaubwürdig gestaltet. In ­diesem Erzähler vermischen sich konstitutive Unzuverlässigkeit, das Wissen und der bewusste Umgang mit dieser sowie die Intention, unzuverlässig zu erzählen. Gerade deshalb ist die Erzählinstanz in Lolita als in hohem Maße unzuverlässig einzustufen. Nicht, weil ihre Erinnerungen und Erinnerungsdarstellungen teilweise konstitutiv unzuverlässig sind und nicht nur, weil sie im Hinblick auf eine kohärente Vergangenheitsversion bewusst unzuverlässig konstruiert, sondern weil sie im Wissen um die Charakteristika von Erinnerungen ihre unzuverlässigen Erinnerungsdarstellungen mit (scheinbar) konstitutiv unzuverlässigen Erinnerungsdarstellungen vermischt und somit vertuscht. Typisch mensch­liche Unzuverlässigkeit von Erinnerungen lässt sich nicht mehr oder nicht mehr einfach von intendierter zielgerichteter Unzuverlässigkeit trennen. All das ist als Teil einer Verführungsstrategie zur Lenkung des Rezipienten zu betrachten. Renate Hof formuliert dazu: Mit dieser Interpretation […] folgt man genau der Darstellung von Humbert selbst. Ist er glaubwürdig oder unglaubwürdig? Oder können wir ihm vielleicht gerade ­deshalb vertrauen, weil er immer wieder seine eigene Unzuverlässigkeit betont? Oder ist auch diese ‚Offenheit‘ wiederum ein Teil seines Spiels?88

Das Urteil über einen Erzähler basiert auf einem Zusammenspiel von Text­ eigenschaften, aber auch auf der subjektiven Einschätzung des Rezipienten. Textinterne Signale können den Rezipienten dabei auf das unzuverlässige Erzählen hinweisen, sind aber allein kein hinreichendes Merkmal, um Unzuverlässigkeit zu bestimmen. Denn über die textinternen Signale hinaus hängt Unzuverlässigkeit auch von außertextuellen Bezugsrahmen ab. Unzuverlässigkeit entsteht dann, wenn die erzählte Welt Diskrepanzen gegenüber den Bezugsrahmen des Rezipienten aufweist. Darüber hinaus ist es denkbar, dass Rezipienten auch selbst – unabhängig von der Erinnerungskonstruktion des Erzählers – Unstimmigkeiten einordnen, glätten, selektiv nach bestimmten eigenen Bedürfnissen wahrnehmen, Plausibilität schaffen und damit schließ­ lich über den Erzähler hinaus auch von sich aus zur Kohärenz, Kontinuität und Glaubwürdigkeit einer Geschichte beitragen.89

88 Ebd., S. 28. 89 Vgl. Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi. National­ sozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 7. Auflage. Frankfurt am Main 2002, S.  44 f.

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„Es ist ja keine Geschichte, es sind tatsäch­lich nur Erinnerungsfetzen“ Wolfgang Hildesheimers literarisches und bildkünstlerisches Werk in Relation Wolfgang Hildesheimer, der sich in der Nachkriegszeit einen Namen als Schriftsteller machte, brachte nicht nur ein umfangreiches literarisches Werk, sondern auch eine beacht­liche Sammlung von Collagen, Grafiken und Federzeichnungen hervor. Sein literarisches und bildkünstlerisches Werk gewinnt durch intermediale Verknüpfungen an Mehrdimensionalität: Seine Texte wirken durch Fragmentarisierung und Bilderreichtum oftmals wie literarische Collagen; seine Illustrationen und Grafiken vereinen Farben, Formen und Buchstaben und beziehen sich mitunter auf seine eigenen Texte oder auf literarische Werke anderer Autoren. In den Prosatexten Tynset (1965) und Masante (1973) greift Hildesheimer seine Erinnerungen an die Nürnberger Prozesse auf, die er als Simultandolmetscher miterlebte. Das Schreiben scheint eine nachträg­liche Aufarbeitung seiner Erlebnisse zu dokumentieren. Besonders deut­lich wird das Nahverhältnis des Autors zum Ich-Erzähler – für den die Vergangenheit immer noch Gegenwart ist – in der Aussage Hildesheimers, dass er „über nichts anderes schreiben [kann] als über ein potentielles Ich“1. In beiden Texten werden Erinnerung, Vergessen und Identität – Themen, die Hildesheimers literarisches Werk nachhaltig geprägt haben – hinterfragt. Nach der Vollendung von Masante entsagt Hildesheimer dem fiktionalen, erzählenden Schreiben und konzentriert sich intensiver auf die bildende Kunst. In der Einführung zu seinem Collagenband End­lich allein schreibt er, dass seine Arbeit kein „Generalprogramm“ hat und er „nichts damit sagen“, sondern „Schönheit […] erzeugen“2 will. Ist das Collagieren und Illustrieren demnach ledig­lich als ‚Beschäftigungstherapie‘ zu bewerten? Wie ist es zu deuten, dass Beziehungen zwischen seinem bildkünstlerischen und dem literarischen Werk bestehen?

1 Durzak, Manfred: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt am Main 1976, S. 286. 2 Hildesheimer, Wolfgang: End­lich allein. Collagen. Frankfurt am Main 1985, S. 9.

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Fast zwanzig Jahre nach der Veröffent­lichung von Tynset entsteht die Collage Dorthin, die eine signifikante Passage ­dieses Textes verarbeitet.3 Dies könnte darauf hinweisen, dass Hildesheimer den Themenkomplex von Tynset und Masante nicht abgeschlossen hat, sondern die Arbeit daran im bildkünstlerischen Medium fortsetzt. Außerdem deutet seine dargelegte Intention, dem Betrachter seiner Collagen ein „Nacherleben“4 von Emotionen und Gedanken zu ermög­lichen, auf eine erweiternde Aussagefunktion seiner Bildkunst hin. Es wird daher sowohl zu beantworten sein, ob eine Untersuchung der Bild-Text-Beziehungen neue Perspektiven auf Wolfgang Hildesheimers Schreiben und sein bildkünstlerisches Werk ermög­licht, als auch beleuchtet w ­ erden, wie Erinnerung im Tynset-Masante-Komplex und in seiner Bildkunst dargestellt wird. I Die Prosatexte Tynset und Masante – Erinnerung in Bruchstücken

Nach seiner Emigration 1933 lebte der jüdische Schriftsteller und Maler ­ ildesheimer nicht in Deutschland, sondern in Palästina und England.5 Erst H die Übersetzungsarbeit für die Besatzungsmächte brachte ihn nach Deutschland zurück. Seine Erfahrungen während der Nürnberger Prozesse haben seine schriftstellerische Arbeit grundlegend beeinflusst; so heißt es in einem Lebenslauf, den er 1953 an Heinrich Böll schickt, dass seine „Eindrücke damals […] wohl viel zu [s]einem – damals noch nicht bewußten – Entschluß beigetragen haben, zu schreiben.“6 Der Prosatext Tynset ist in einem jahrelangen und schwierigen Schreibprozess entstanden. Rückblickend glaubt Hildesheimer, dass er seit Beginn seines Schreibens daran schrieb, „und manchmal als hätte [er] es nie geschrieben.“7 Im Dezember 1962 erwähnt er in einem Brief an Hans Werner Richter, dass

3 Vgl. Hildesheimer, Wolfgang: In Erwartung der Nacht. Collagen. Frankfurt am Main 1987, S. 20 f. 4 Hildesheimer: End­lich allein, S. 10. 5 Vgl. Lea, Henry A.: Verfolger und Verfolgte: Wolfgang Hildesheimers Erfahrung der Nürnberger Prozesse. In: Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen. Hrsg. v. Stephan Braese. Göttingen 2004. S. 67 – 86, hier S. 67. 6 Hildesheimer, Silvia ; Pleyer, Dietmar: Wolfgang Hildesheimer: Briefe. Frankfurt am Main 1999, S. 39. 7 Hildesheimer, Wolfgang: Antworten über Tynset. In: Wolfgang Hildesheimer. ­Suhrkamp Taschenbuch Materialien. Hrsg. v. Volker Jehle. Frankfurt am Main 1989. S. 31 – 34, hier S. 34.

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er an einem Roman arbeitet, sich danach aber wieder der bildenden Kunst zuwenden möchte.8 Hier spricht Wolfgang Hildesheimer noch von einem Roman – eine Bezeichnung, die er dem Text künftig in keinem Fall zuschreiben will. Er ist der Meinung, der Roman habe „nun einmal keine Wirk­lichkeit“, da „Fiktion […] für nichts als Fiktion“9 stehe. Daher scheint es folgerichtig, dass Tynset nicht als rein fiktionaler Text gelesen werden darf, sondern authentische Erinnerungen und Erfahrungen beleuchtet, zumal Hildesheimer in Antworten über Tynset schreibt: „Sie haben recht, ich habe mehr von mir gesprochen als von dem Buch. Aber das ist eigent­lich dasselbe.“10 Dennoch kann das Erzähl-Ich in Tynset und Masante, die als zusammenhängender Textkomplex gesehen werden, nicht mit dem Autor gleichgesetzt werden; auch wenn von dieser Gleichsetzung oftmals in der Literaturwissenschaft – als Beispiel wäre Günter Blamberger 11 zu nennen – ausgegangen wird. Hildesheimer äußert 1973 in einem Interview, dass zwar persön­liche Erfahrungen in Masante verarbeitet sind, es sich aber nicht um ein autobiografisches Buch handelt.12 Außerdem greift Hildesheimer auf kollektive Erinnerungen zurück, da er 1933 emigrierte und die Zeit des Nationalsozialismus nicht unmittelbar in Deutschland erlebte. Er erklärt im selben Interview, dass die „Angstvisionen des Ich-Erzählers […] zum großen Teil nicht auf einer individuell erfahrenen Wirk­lichkeit, sondern auf einer kollektiven Wirk­lichkeit beruhen.“13 Dem Erzähler sind jedoch, wie durch einen Briefwechsel mit Reich-Ranicki deut­lich wird, Hildesheimers Ansichten und Prägungen eingeschrieben; Hildesheimer antwortet auf Reich-Ranickis Frage, ob er – als jüdischer Schriftsteller – Äußerungen über sein Verhältnis zu Deutschland bereitstellen könnte, dass diese in Tynset enthalten seien.14 Neben dem reduzierten Handlungsgerüst überwiegen in Tynset die Reflexio­ nen des Erzählers und illustrative Situationsbeschreibungen. Die schlaflose

8 Vgl. Hildesheimer; Pleyer: Wolfgang Hildesheimer: Briefe, S. 120. 9 Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 32. 10 Ebd., S. 34. 11 Vgl. Blamberger, Günter: The End of Fiction? Anmerkungen zu Wolfgang H ­ ildesheimers Narratologie, mit einem Seitenblick auf Francis Bacon und Samuel Beckett. In: ­Wolfgang Hildesheimer und England. Zur Topologie eines literarischen Transfers. Hrsg. v. R ­ üdiger Görner. Bern 2012. S. 181 – 194, hier S. 186. 12 Vgl. Zimmer, Dieter E.: Das Gespräch mit dem Autor: Wolfgang Hildesheimer. Rückzug aus dem Leben. In: Die Zeit 13. 04. 1973. 13 Ebd. 14 Vgl. Hildesheimer; Pleyer: Wolfgang Hildesheimer: Briefe, S. 161 f.

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Nacht des isolierten Erzählers beginnt mit einer Gedankenreihe über das ­Knacken der Holztäfelung seiner Wände. Er erklärt, dass Holz „arbeitet“, also „an Substanz verliert“15. Es folgt eine Beschreibung des Alterungsprozesses von Holz: Jedenfalls, anstelle der Substanz klafft Hohlraum in Form von Ritzen und Fugen oder Spalten oder Löchern, eine Tür hebt sich, unheim­lich langsam, über ihrer Schwelle, ein Fenster verzieht sich, wird windschief, wird undicht, und manchmal, plötz­lich, zieht ein jäher Sog von Luft durch die Zimmer, Wind, ein Stoß geballter Zeit, er trägt einen Geruch oder auch nur die Idee eines Geruches, als wolle er, unerwartet, eine Erinnerung wecken, aber er will nichts dergleichen, ganz im Gegenteil, er bläst die Idee hinweg, bevor sie untergebracht ist, er löscht sie wieder aus, und das ist gut so.16

Diese Beschreibung lässt sich auf die Erinnerungsprozesse des Erzählers übertragen, da Erinnerungslücken bestehen, wo eigent­lich „Substanz“ sein sollte. Bereits zu Beginn des Textes wird deut­lich, dass das Erinnern für das ErzählIch ein schmerzhafter Prozess ist: Es ist spät. Ich will versuchen zu schlafen, aber irgend etwas hat mich aufgestört, ich habe schon vergessen, was es war, und ich will versuchen, mich nicht daran zu erinnern; will versuchen, sanft in andere Bahnen zu gleiten, an anderes zu denken, ich will hoffen, daß ­dieses andere nicht auch etwas Verstecktes enthält, das mich aufstört.17

Da seine Erinnerungen seine Schlaflosigkeit verursachen, versucht er, sie zu verdrängen. Diese Erinnerungen – eigent­lich eher noch Erinnerungsfragmente – steigen immer wieder wie Gedankenblitze in sein Bewusstsein. Sie werden durch assoziative Gedankenfolgen ausgelöst, das heißt ein bestimmtes Wort oder ein Bild kann Erinnerungsprozesse initiieren. Der Erzähler ist sich bewusst, dass seine Erinnerungen fragmentarisch und unzuverlässig sind: Nicht zu reden von meinen Gedanken –, wenn ich das, was ich denke, wirk­lich noch Gedanken nennen soll, diese Splitter, diese Bruchstücke, abgetakelte Sehnsüchte, deren Objekt mir entschwunden ist oder soeben entschwindet. Meine Erinnerung läßt nach, alles verblaßt und wendet sich ab, Menschen, Ereignisse, Freundschaften, Liebschaften –, nur das Sinnlose bleibt, das schwimmt oben – –

15 Hildesheimer, Wolfgang: Tynset. Frankfurt am Main 1965, S. 7. 16 Ebd., S. 8. 17 Ebd., S. 19.

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und doch: da sind noch Augenblicke, kurze Einschnitte, Zäsuren auf dem Weg, retardierende Elemente, Augenblicke, in denen die Fremdheit aufleuchtete: hier ich – dort die trügerische Schönheit der Welt – und dann wieder vorbei –18

Der Ich-Erzähler kann sich an unwichtige Gegebenheiten und Details erinnern, aber Menschen, die ihm nahestanden und an die er emotional gebunden war, verblassen in seiner Erinnerung; zum Beispiel erinnert er sich genau an die Telefonnummer eines Nachbarn,19 an die Frau, die er anscheinend liebte, erinnert er sich jedoch nur bruchstückhaft: Welche Farbe hatten ihre Augen? Ich weiß es nicht mehr, ich habe es vergessen wie ihren Namen, ich entsinne mich nur noch der Hintergründe, der Szenerie, die Darsteller sind entschwunden, haben sich längst umgekleidet und verwandelt, vielleicht haben sie sich artig und lächelnd vor mir verbeugt, aber diesen Moment habe ich versäumt, vielleicht hielt ich die Augen geschlossen in dem Moment, da ich hätte applaudieren sollen.20

Der Erzähler will „keine Bilder mehr, keine Gespräche und keine Stimmen“ wahrnehmen, weil diese Momente „endgültig vorbei“21 sind und er sich wünscht, alles zu vergessen. Die Erinnerungen des Erzählers erscheinen in Form von Flashbacks oder als Episoden und werden in assoziativen Gedankengängen nach und nach erzählt, aber nicht einheit­lich geschildert. Zudem hat er Schwierig­ keiten, Erinnerungen an verschiedene Menschen auseinanderzuhalten; im Zusammenhang einer Erinnerung an ein Fest, das er gegeben hatte, äußert er Folgendes: Schon damals begannen Namen mir zu entschwinden, begannen die Namen ihre Träger von fernher zu rufen, es entschwanden mir die Träger, die Züge verwischten, vermischten sich mit Zügen anderer, ich hielt drei Personen für eine und eine für zwei. Heute sind mir Gesichter und Gestalten und Namen entschwunden.22

Dies wird besonders in Masante deut­lich, da die Opfer sich in seiner Erinnerung nicht mehr differenzieren lassen:

18 Ebd., S. 73. 19 Vgl. ebd., S. 36. 20 Ebd., S. 98. 21 Ebd., S. 99. 22 Ebd., S. 149 f.

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Oder war es keiner von denen, sondern Bloch? Auch der könnte es gewesen sein […] Bloch, sein Bild, sein Name, aber keine andere Eigenschaft als Furcht vor den ­Häschern […]. Wer immer es war, Bloch oder Gerber oder Felber oder Lüning: er nannte die beiden Verfolger seine Häscher.23

Die jüdischen Figuren fungieren nicht als unverwechselbare Subjekte, sondern werden in seiner Erinnerung zu einer Masse von austauschbaren Opferfi­guren, da sie sich nur durch ihre Angst auszeichnen. Seine Erinnerung an Menschen, zu denen er eine emotionale Bindung hatte, bereitet ihm derart große Schwierig­ keiten, dass er sich kaum ihre Namen in Erinnerung rufen kann: Jetzt fällt es mir ein: Vanessa hieß sie. Vanessa, ein guter Name. Und ich muß sie geliebt haben. Ich erinnere mich – Ich erinnere mich, daß ich mich manchmal nachts im Dunkel, in jäher lähmender Angst um ihr Leben, über die Schlafende neigte, um zu horchen ob sie noch atme. Ob sie noch atmet?24

Es ist fast ironisch, dass der Erzähler sich an einen Augenblick erinnert, in dem Vanessa schläft, da er an Schlaflosigkeit leidet. Damals hat ihn seine Angst um sie wach gehalten, jetzt ist es die Erinnerung an sie und mög­licherweise auch eine Form von Schuldbewusstsein. Denn obwohl er immer wieder betont, dass er „ohne Schuld – besser vielleicht, vorsichtiger gesagt: ohne wesent­liche Schuld“ sei und dass niemand durch ihn „gelitten“25 habe, ist es dennoch bezeichnend, dass er in einem Bett schläft, das einem Mann gehörte, der seine Ehefrau ermorden ließ. Paradoxerweise malt der Erzähler sich einerseits aus, dass er genau dort liegt, wo die Fürstin Gesualdo und ihr Liebhaber – beide ermordet von ihrem Ehemann – lagen 26; andererseits stellt er sich die Todesnacht des Fürsten Gesualdo vor und dass sein Kopf da liegt, wo der des Fürsten früher lag.27 Der Erzähler erläutert, dass der Fürst Gesualdo auf der Innenseite des hölzernen Himmels „einen Totenschädel hatte aufmalen lassen, um bis zu seinem Tode des Mörders in sich eingedenk zu bleiben, um in seinen schlaf­losen Nächten stets an sein entsetz­liches Verbrechen erinnert zu werden“28. Die Identifikation des Erzählers sowohl mit den Opfern als auch mit dem Mörder scheint 23 Hildesheimer, Wolfgang: Masante. Frankfurt am Main 1975, S. 210 f. 24 Hildesheimer: Tynset, S. 267 f. 25 Ebd., S. 99. 26 Vgl. ebd., S. 130 f. 27 Vgl. ebd., S. 241. 28 Ebd., S. 129 f.

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darauf hinzuweisen, dass er trotz seiner Äußerung, ihn treffe keine „wesent­ liche Schuld“, mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat. Der Wunsch des Erzählers nach Verdrängung und Vergessen äußert sich in seiner Sehnsucht nach einem „Ort, an dem nichts ist und nichts sein kann und nie etwas gewesen ist“29. Er besitzt ein Teleskop, mit dem er nicht in den Sternenhimmel schaut, sondern auf ein „Nichts“, einen Ort, „wo Zwischenraum ist und sonst nichts.“30 Er sehnt sich nach d ­ iesem „Nichts“ und stellt sich – mit ein wenig Selbsttäuschung – vor, dass es erreichbar ist: Dennoch: manchmal, im frühen Sommer zum Beispiel, gelingt mir, an einer einzigen bestimmten Stelle, mit geringstem Maß der Selbsttäuschung, die ich überspiele – gelingt mir der Absprung ins Dunkle, […] ich spüre die Wärme des Erdkerns aus mir schwinden, die Kraft des Magneten läßt nach, ich werde leicht, ich fliege, schwebe entlang, hinan zwischen rauschenden, dröhnenden Erden und Planeten, […] jetzt stoße ich tief in die unend­liche Vergangenheit, hier gleichbedeutend mit unend­licher Zukunft, und immer gezogen von meiner Sehnsucht, nirgends zu sein, dorthin, wo kein Stern, kein Licht mehr sichtbar ist, wo ist, wo nichts vergessen wird, weil nichts erinnert wird, wo Nacht ist, wo nichts ist, nichts, Nichts. Dorthin –31

Seine Suche nach dem „Nichts“ muss sich auf das Weltall ausdehnen, da die Erfahrung des Holocaust die ganze Erde tangiert. Eine mög­liche Analogie ­dieses „Nichts“ sieht der Ich-Erzähler in dem norwe­gischen Ort Tynset. Er äußert, dass er sein Haus nur noch verlässt, um dorthin zu fahren, da dies das einzig mög­liche Ziel ist.32 Tynset bezeichnet er als „Ankerplatz in einem Meer von Irrtum“33 und hofft, dass es die irdische Mög­lichkeit auf d ­ ieses „Nichts“ darstellt, da es in Tynset nichts gibt, „das sich aufzeichnen oder nachmalen läßt.“34 Er befürchtet jedoch auch, dass Tynset ihm seine letzte Hoffnung n ­ ehmen könnte, da der reale Ort seine Hoffnungen mög­licherweise nicht erfüllt: Dennoch, ich will nach Tynset fahren, mein Wunsch versteift sich, ich komme nicht davon los – obgleich auch Tynset letzten Endes nichts anderes sein wird als eine Bestätigung dessen was ich seit je ahne und seit langem weiß: daß ich im Ungeheuer­lichen mich bewege, scheinbar frei, in Wirk­lichkeit gebunden, in einer 29 Ebd., S. 181. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 185 f. 32 Ebd., S. 99. 33 Ebd., S. 136. 34 Ebd., S. 92.

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Gefangenschaft mit versteckten Mißhandlungen, die oft – nein: die manchmal wie Liebkosungen erscheinen, für die wir aber mit schwerer Münze bezahlen müssen – in einem Käfig, ohne Mög­lichkeiten.35

Der Erzähler beschreibt seine gegenwärtige Situation. Er äußert, dass er im Nachhall des Holocaust lebt und alle Erinnerungen, die wie „Misshandlungen“ und manchmal wie „Liebkosungen“ erscheinen, davon kontaminiert sind. Dass er sich von den Erinnerungen nicht befreien kann, wird durch die Schlaflosigkeit symbolisiert, da Schlaf eine Form von Bewusstlosigkeit ermög­licht, die ein Erinnern oder Denken unmög­lich macht. Sinngemäß wird in Masante erläutert, dass der Schlaf die „begehrte Leere“36 erzeugt, dass aber die „Verbrecher“ – mit gutem Gewissen – „den Schlaf derer schlafen, die ihn verdient hätten.“37 Dieses „Nichts“ hat Hildesheimer mehrere Jahre später, erst 1984, in der ­Collage Dorthin (Abb. 1) veranschau­licht. Die Verbindung zur Textstelle verdeut­ licht er im Begleittext der Collage: Das Wort ‚Dorthin‘ ist hier Zitat, das letzte Wort eines Schlüsselabsatzes aus m ­ einem Buch ‚Tynset‘ (Seite 186). Ein Blick durch das Okular eines Teleskops lässt den Ich-­ Erzähler scheinbar ins All entschweben, hinauf ins Nichts, in das dunkle Loch in der Milchstraße, eben ‚dorthin‘. Ein Gedankenbild also, dem alles dekorative Beiwerk und alle Farbschwelgerei geopfert wurden. Wichtig war mir die perspektivische Sicht auf einen Verschwindungspunkt, den sich befreienden Blick hinaus, ins Freie. Papier: Reproduktionen von Landschaftsphotographien, Himmel und Gestein, dazu ein paar disparate Fetzen.38

Die Verbindung zu Tynset wird sogar durch eine genaue Seitenangabe dokumentiert. Dass Hildesheimer diese Textpassage nach einem derart langen Zeitraum in einem anderen Medium bearbeitet, verdeut­licht, dass dieser Themen­komplex sein Denken nachhaltig beeinflusst hat. Hilde Strobl unterstreicht, dass sich in dieser Collage „das Motiv einer metaphorisch gezeichneten Bewegung zu einem Fluchtpunkt ins ‚Nichts‘“39 spiegelt und durch geometrische Elemente wie die Pfeile, die auf einen Punkt im Himmel weisen, veranschau­licht wird. Hildesheimers Beschreibung der 35 Ebd., S. 95. 36 Hildesheimer: Masante, S. 357. 37 Ebd., S. 360. 38 Hildesheimer: In Erwartung der Nacht, S. 20. 39 Strobl, Hilde: Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst. Und mache mir ein Bild aus vergangener Mög­lichkeit. Berlin 2013, S. 16.

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Collage als „Gedankenbild“ erklärt sich nur mit Bezugnahme zur Textstelle, da daraus hervorgeht, dass es sich um eine gedank­liche und nicht um eine faktische Bewegung handelt. Vergleichbar dazu heißt es in Masante: „Wo denkst du hin? Eine schöne Formulierung: irgendwohin denken!“40 – und ­dieses „irgendwohin denken“ wird in der Collage nicht sprach­lich, sondern bild­lich vermittelt. Hilde Strobl verweist außerdem auf eine unbetitelte Federzeichnung (Abb. 2), die im selben Jahr entstanden ist, in dem Tynset veröffent­licht wurde, und eine klare Verbindung zu Tynset darstellt: [E]ine abgewandelte Variante von Dürers Polyeder als Ausweis der Melancholie, ein Bett als Metapher für die Produktion von Erinnerungs- und Traumbildern und ein angedeutetes Beziehungsgefüge durch ein Liniensystem. Die Objekte sind in einem deut­lichen Schwebezustand dargestellt und einem gerahmten, hellen und einem dunklen Bildraum zugeordnet. Der Dunkelheit der Nacht, von der das Bett umgeben ist, wird durch die dem Polyeder zugeordneten Buchstaben, die die Silbe ‚tyn‘ bilden und beim Ich-Erzähler in ‚Tynset‘ […] eine Assoziation mit einem hellen Gongschlag hervorrufen, der erinnerungsbefreite, lichte Raum des Tages gegenübergestellt.41

Durch die Abgrenzungen von geradlinigen Balken werden in der Tat zwei abgetrennte Räume dargestellt. Das Bett befindet sich im dunklen Raum, und im Hintergrund setzt sich eine horizontale Verdunkelung vom Raum ab, die mög­licherweise die Erscheinung des Vaters von Hamlet darstellen soll, die dem Erzähler immer nachts im Treppenhaus begegnet.42 Der Erzähler fragt sich im Laufe der Nacht, „Tynset – klingt das nicht wie Hamlet? Ja, es klingt wie Hamlet“43; es besteht also eine Verbindung zwischen dem Ort und der Figur im dunklen Teil der Federzeichnung. Strobl deutet das gezeichnete Liniensystem als ein Darstellungsmittel der Beziehungen zwischen den Elementen. Des Weiteren ist ein rundes Element zu sehen, das vermut­lich den Mond darstellt. Es ist aber auch mög­lich, dass dies den Bildausschnitt zeigt, den der Erzähler beim Blick durch das Fernrohr sieht, da sich vor dem runden ein läng­liches, dreieckiges Element – vielleicht das Fernrohr? – befindet. Könnte dies die Suche nach dem „Nichts“ darstellen? Denn diese beiden Elemente sind durch Linien

40 Hildesheimer: Masante, S. 376. 41 Strobl: Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst, S. 127. 42 Vgl. Hildesheimer: Tynset, S. 20. 43 Ebd., S. 155.

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Abbildung 1: Wolfgang Hildesheimer, Dorthin, 1984 

mit dem Polyeder verbunden, der durch die Anlehnung an Dürers Polyeder als Hinweis auf Melancholie zu deuten ist, aber durch die drei Buchstaben t, y, n auch ein Hinweis auf die Stadt Tynset ist, die in den nächt­lichen Reflexionen des Erzählers großen Raum einnimmt und in Verbindung mit der Suche nach dem „Nichts“ steht. 44 II Schreibprozess und bildkünstlerisches Arbeiten im Vergleich

Wolfgang Hildesheimer war zunächst Maler und Grafiker und begann erst zu einem späteren Zeitpunkt, literarische Texte zu verfassen und zu veröffent­lichen. Interessanterweise beginnen schon die ersten Schreibversuche im Zusammenhang mit dem Malen:

44 Wolfgang Hildesheimer, Dorthin, 1984. Maße: 165 x 184 mm. Reproduktion: In ­Erwartung der Nacht 1986, Nr. 3.

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Abbildung 2: Wolfgang Hildesheimer, Ohne Titel, 1965 

Ich mietete mir eine Wohnung mit Atelier in Ambach am Starnberger See und malte, aber nicht lange: genau bis zum 18. Februar 1950 vormittags. An ­diesem Tag war es in meinem Atelier sehr kalt, sehr feucht, es zog. Ich fror an den Händen und mußte in die Nähe des Ofens rücken, wo es aber zum Malen zu dunkel war. Unlustig45[…] nahm ich ein Blatt Papier zur Hand, um wenigstens zu zeichnen, aber wider jeg­liches Erwarten begann ich eine Geschichte zu schreiben. Am nächsten Tag schrieb ich eine zweite, und so wurde ich allmäh­lich Schriftsteller, denn wenn man einmal mit dem Schreiben angefangen hat, scheint es schwer, wieder damit aufzuhören, selbst wenn man will, und ich habe seitdem schon mehrmals gewollt.46

45 Wolfgang Hildesheimer, Ohne Titel, 1965. Reproduktion: Weser-Kurier, 14. 1. 1966; Archiv der Akademie der Künste Berlin, Inv. Nr. 243. 46 Hildesheimer, Wolfgang. Vita. 1966. In: Jehle, Volker. Wolfgang Hildesheimer. ­Suhrkamp Taschenbuch Materialien. Frankfurt am Main 1989, S. 17 – 18.

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Es ist immerzu dieselbe Geschichte, die Hildesheimer über seinen Schreib­ anfang erzählt; dadurch wird der Beginn seines Schreibens fast zum Mythos. In dieser selbstverfassten Vita von 1966 verweist er bereits auf seine ambivalente Einstellung zum Schreiben, doch noch könne er nicht aufhören.47 Tatsäch­lich sind erste Schreibversuche bereits aus seiner Zeit in Palästina dokumentiert. Dort hatte er – als britischer Informationsoffizier und Redakteur der eng­lischen Ausgabe einer Propagandazeitschrift – bereits einige eng­lische Gedichte und Kunstkritiken publiziert.48 Hildesheimer war von Selbstzweifeln geplagt und hinterfragte seinen Erfolg als Schriftsteller. In seinen Briefwechseln wird deut­lich, dass er die Rezeption seiner Veröffent­lichungen akribisch verfolgte. Ingeborg Bachmann schreibt 1959 in einem Brief, in dem sie zu Hildesheimers Theaterstück Landschaft mit ­Figuren Stellung nimmt, dass sein Schreiben nicht einer Veränderung literarischer Art, wie beispielsweise des Stils, bedürfe. Sie rät ihm zur „schmerzhaftesten und schwersten Wendung – zu einem Warum, einem Woraufhin, einem Wozu“49. Hildesheimers Antwort offenbart seine Zweifel an seinen Texten sehr deut­lich: Ich habe noch nie jemandem – außer Silvia – gesagt, daß für mich das Schreiben ein ewiges Herumdrücken und Winden vor dem Eingangstor zu d ­ iesem Schmerz ist. Ich will nicht hindurch, weil ich die Folgen nicht absehe, (oder vielleicht allzu klar absehe?) Ich fürchte, daß ich – zum Teil unbewußt – vor der allerletzten Konsequenz des Schreibens zurückschrecke, näm­lich: meine Lebenssubstanz dazuzugeben. Wenn ich sie dazu gebe, dann habe ich sie verloren, dann fließt sie in die Arbeit ein, und mein Leben versickert, es höhlt mich aus, untergräbt mein Erlebnisvermögen, meine Rezeptionsfähigkeit. Vielleicht bin ich gar kein Schriftsteller, denn Erleben ist für mich nicht gleichbedeutend mit Schreiben, jedenfalls werde ich niemals ein erstrangiger Schriftsteller werden, denn Schreiben kommt für mich nicht an erster Stelle, und das zahlt mir das Schreiben heim. Was ich zu Papier bringe, ist, auch von mir aus gesehen, immer nur das Zweitbeste, das beste schlucke ich wieder hinunter, um es zu behalten. Vielleicht könnte ich es auch gar nicht ausdrücken.50

Es lässt sich nur vermuten, dass Hildesheimer sich in Tynset und Masante zu dieser ‚schmerzhaften‘ Wendung entschieden hat; den Schreibprozess erlebte er als äußerst belastend. Er betont, dass sein Schreiben vom Unbewussten ausgehe

47 Vgl. ebd., S. 18. 48 Durzak: Gespräche über den Roman, S. 273. 49 Hildesheimer; Pleyer: Wolfgang Hildesheimer: Briefe, S. 95. 50 Ebd., S. 96 f.

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und erst dadurch authentisch sei; dagegen resultiere bewusstes Schreiben in „Imitation, wenn nicht gar Plagiat“51. Dies belegt, dass sein Schreiben eng mit seinen unmittelbaren Erlebnissen und Erfahrungen verknüpft ist. Den Entstehungsprozess von bildkünstlerischen Werken bewertet Wolfgang Hildesheimer einer Aussage von 1973 zufolge anders. Er sei „nicht immer in der Verfassung zu schreiben“ und das Schreiben befriedige ihn auch „nur sporadisch“; das Zeichnen und Malen jedoch enthalte für ihn „ein beschäftigungstherapeutisches Element“, wodurch er „Müdigkeit, Ennui und Depression“52 überwinde. Dementsprechend betont Wolfgang Hirsch, dass das Malen während seiner Beschäftigung als Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen in besonderem Maß als Ablenkung von seinen traumatisierenden Einsichten diente.53 Außerdem sei beim bildkünstlerischen Arbeiten für Hildesheimer „Nichts […] auf Gelingen angelegt“54. So ist der Entstehungsprozess entscheidender als das Endergebnis. Es wird deut­lich, dass Hildesheimer die beiden Arbeitsprozesse unterschied­lich wahrnimmt; so beschreibt er 1987, dass das Schreiben […] permanent zum Nachdenken über unser Leben [zwingt], über unsere Vergangenheit, vor allem aber über unsere Zukunft, in der die Rezeption stattfinden soll. Die Collage dagegen zwingt zum Nachdenken über Farbtöne, Schnittflächen, Papierstärke und ein sehr allmäh­lich entstehendes Gebilde reiner aktiver Phantasie. Das heißt, daß Zeit und reale Welt ausgeschaltet bleiben.55

Das Collagieren zeichnet sich für ihn daher vor allem durch seinen handwerk­ lichen Charakter aus. Im Vorwort des Collagenbandes End­lich allein äußert sich Hildesheimer zu seiner Arbeitsweise und der Verortung seiner Collagen. Er glaubt, eine „Erweiterung des Begriffes Collage“ in d ­ iesem Band darzulegen, die sich in der „Materialwahl, [dem] Arbeitsprozess […] und der damit verbundenen intendierten Bildwirkung“56 äußere. Außerdem betont er, dass er keinem Generalprogramm folge:

51 Hildesheimer: Antworten über Tynset, S. 33. 52 Hildesheimer, Wolfgang: Beim Malen überwinde ich Müdigkeit und Depression. 1973. In: Jehle, Volker: Wolfgang Hildesheimer. Suhrkamp Taschenbuch Materialien. Frankfurt am Main 1989, S. 35. 53 Vgl. Hirsch, Wolfgang: Zwischen Wirk­lichkeit und erfundener Biographie. Zum Künstler­ bild bei Wolfgang Hildesheimer. Hamburg 1997, S. 274. 54 Hildesheimer: Beim Malen überwinde ich Müdigkeit und Depression, S. 35. 55 Hildesheimer: In Erwartung der Nacht, S. 9. 56 Hildesheimer: End­lich allein, S. 9.

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Ich will auch ‚nichts damit sagen‘, außer natür­lich mit dem einzelnen Bild die Assoziationslust des Betrachters in jene Bahnen lenken, die ich selbst eingeschlagen habe, um – spreche ich es aus – Schönheit zu erzeugen. Schönheit, wie wir sie wohl alle im Traum oder in der Erinnerung oder in der Einbildungskraft erfahren, aber auch Schönheit, die vergangenes Bangen, alte Ängste und Alpträume zu positiver Erfahrung, wenn nicht gar zu rauschhaftem Erleben aller Vergäng­lichkeit verklärt.57

Hildesheimer zufolge verbergen sich hinter der ästhetischen Wirkung der Collagen Ängste und Albträume, die durch die Verarbeitung in den Collagen ihre Schönheit entfalten und erst durch Assoziation – die auch in seinem literarischen Werk eine wichtige Rolle spielt – nachvollziehbar werden. So sollen die Titel der Collagen dem Betrachter eine Mög­lichkeit zum „potentiellen Nacherleben“58 eröffnen. Durch diese dargelegte Verbindung zu „vergangenem Bangen“ und „alten Ängsten“ wird die zentrale Rolle von Erinnerungsprozessen in Hildesheimers bildkünstlerischem Werk deut­lich. Die Thematik einer Collage eröffnet sich ihm zumeist während des Arbeitsprozesses; sobald er sie erkennt, arbeitet er auf eine Verdeut­lichung des Themas hin. Daher sei eine Loslösung vom ursprüng­lichen Anfangskonzept während des Arbeitens denkbar, wenn ihm Mög­lichkeiten auffallen, die zu einem anderen Ergebnis führen. Hildesheimer verweist aber auch auf die Gefahr, dass er ein sich eröffnendes Thema nicht erkennt und durch Hervorhebung des Ausgangsthemas die Komposition „überanstreng[t]“59. Er vollzieht zur Erläuterung ­dieses Vorganges einen Vergleich zum Schreibprozess: „Einen Text kann ich streichen und kürzen, bei der Collage kann ich das Zuviel meist nicht rückgängig machen. Der Punkt der Überschreitung ist nicht immer sofort erkennt­ lich.“60 Außerdem beschreibt er das Collagieren als „kreatives Spiel von ‚trial and error‘“ und als einen Arbeitsvorgang, der „weitaus mehr geistige Präsenz als das Schreiben“ erfordert, bei dem man ja mehr oder weniger jederzeit abrufbar ist. Hier dagegen kann jede auch nur kurze Unterbrechung, jeder auch nur kleine Fehler den Ruin der Arbeit bedeuten. Ein falscher Schnitt, ein Verrutschen des befestigten Stückes, und das Konzept ist zerstört und kann nur durch glück­lichen Zufall gerettet werden.61

57 Ebd. 58 Ebd., S. 10. 59 Ebd., S. 10. 60 Ebd., S. 10 f. 61 Ebd., S. 11.

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Die Rekonstruktion von Wolfgang Hildesheimers Äußerungen über seine Collagiertechnik zeigt, dass er den bildkünstlerischen Arbeitsprozess oftmals im Vergleich zum Schreibprozess beschreibt. Er setzt die beiden Arbeitsweisen miteinander in Beziehung und grenzt sie voneinander ab; der Vergleich scheint ihm notwendig, um eine hinreichende Beurteilung leisten zu können. III Text, Bild und Klang

Es lassen sich nicht nur Parallelen in der methodischen Arbeitsweise, sondern auch in der motivischen Bildsprache feststellen, da sich die Verbindung von literarischem und bildkünstlerischem Werk nicht nur in einer bloßen Verbild­ lichung von Textstellen äußert: Vogelgestalten, Betten, Buchstaben und Zahlenketten lassen sich sowohl im literarischen als auch im bildkünstlerischen Werk auffinden.62 Außerdem integriert Hildesheimer häufig vereinzelte Buchstaben in seine Collagen, was dazu verleitet, diesen einen Sinngehalt zuzuschreiben. Hilde Strobl betont aber, dass „Hildesheimers Einbindung von Buchstaben und Zahlen ins Bild nicht auf eine Übertragung des Literarischen in die Bildform oder auf das Kreieren poetischer Sprach- und Wortbilder“ abzielt, sondern „vielmehr Ergebnis einer rein gestalterischen Auseinandersetzung mit der Schrift als ­­Zeichen- und Formelement“63 ist. Strobl zufolge sind in Collagen integrierte Buchstaben ledig­lich bildkompositorisches Element und von einer semantischen Bedeutung befreit. Gleichzeitig beobachtet sie aber in Tynset, dass der Buchstabe Ypsilon „als grafisches und phonetisches Element in den Fokus der Betrachtungen gestellt und geradezu mit semantischen Bezügen überfrachtet“64 und zum „Pars pro Toto für ‚Tynset‘“65 wird. Der Ich-­Erzähler versucht, in assoziativen Gedankenfolgen zu beschreiben, dass das Ypsilon eine Zwischenstellung einnimmt. Die grafische Besonderheit des Buchstabens beschreibt er wie folgt: Dieses Ypsilon! Indem es schräg nach links unter die Zeile ragt und daher zwischen den Zeilen steht, hat es einen Fang ausgestreckt, an dem die Fetzen der Gedanken, müde und in wachsendem Maße bereit, ein Hindernis wahrzunehmen, ja, es sogar willkommen zu heißen, sich weit aufgerissen haben und hängen geblieben sind.66

62 Vgl. Strobl: Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst, S. 115. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 120. 65 Ebd., S. 121. 66 Hildesheimer: Tynset, S. 26.

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Diese gedank­lichen Assoziationsketten zu einem einzelnen Buchstaben weisen auf Hildesheimers Gespür für die grafischen Besonderheiten von Schrift­zeichen hin. Dementsprechend sind die kontextfreien Buchstaben und Zahlen in ­seinen Collagen oftmals nur visuelles Element. So konstatiert Hilde Strobl, dass Buchstaben aus dem „Sprachsystem und aus dem semantischen Kontext“ isoliert werden und dadurch „bildkompositorische Bedeutung als formale Zeichen“ ­­ erhalten, aber „ihnen durch ihre Einzelstellung und die scheinbar beliebige Auswahl kein Sinngehalt zugewiesen“ wird.67 Nun lässt sich jedoch hinterfragen, ob diese sinnentleerten Buchstaben ledig­lich eine kompositorische Funktion erfüllen oder durch den Kontext der Collage eine neue Bedeutung erhalten sollen. Folgt man den Ausführungen des Erzählers zu dem Buchstaben Ypsilon, so wird neben der grafischen Beschreibung ebenso eine Auseinandersetzung mit der Vokalisation des Buchstabens deut­lich. Denn auch phonetisch scheint der Buchstabe Ypsilon für den Erzähler eine Sonderstellung einzunehmen: Da liegt es denn, auf dem Weg zwischen I und Ü, liegt genau auf der Mitte, aber das Ü selbst liegt auf der Mitte eines Weges, es liegt auf der Hälfte des doppelt so langen Weges von I zu U. Die zweite Hälfte d ­ ieses Weges, die Strecke von Ü zu U, hat keine Mitte, hat kein ­­Zeichen, das sie markiert. Hier liegt nichts, liegt Schweigen, liegt, im wahren Sinne des Wortes, das Unaussprech­liche, hier beginnt es, in diesen unscheinbaren Dingen tritt es plötz­lich hervor, um dann in den scheinbaren ins Unermeß­liche anzuwachsen, ins Entsetz­liche.68

Da Musik eine wichtige Rolle für Hildesheimer spielt, ist die Auseinandersetzung des Erzählers mit dem Klang des Buchstabens Ypsilon ein bedeutungstragendes Element. Auch in Masante werden phonetische Elemente herausgestellt: „Me – der Auftakt, Vorhalt, ein bescheidenes Versprechen. Die Betonung liegt auf dem langen O, ein Omega, nur offener. Das Na ist kurz, es hüpft hinterher und stellt den Namen in Frage.“69 So wie der Ort Meona, der Aufenthaltsort des Erzählers, auf seinen Klang untersucht wird, klingt auch „Masante“, der Name seines Hauses in Italien, dem Erzähl-Ich zufolge „gut für ein Haus.“70 Ferner beschäftigt sich der Erzähler mit dem Klang von Personennamen und ist beispielsweise der Meinung, dass sein eigener Name „einen pein­lichen Unterlaut“71 habe. Es eröffnet sich dadurch eine Deutungsmög­lichkeit der 67 Strobl: Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst, S. 130. 68 Hildesheimer: Tynset, S. 26 f. 69 Hildesheimer: Masante, S. 22. 70 Ebd., S. 62. 71 Hildesheimer: Tynset, S. 71.

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Abbildung 3: Wolfgang Hildesheimer, Die Vokale, 1983 

kontextfreien Buchstaben in seinen Collagen, denn es ist durchaus denkbar, dass durch die Einbindung von Schriftzeichen den Collagen eine phonetische Komponente beigefügt wird; die ursprüng­lich ausschließ­lich visuelle Collage wird zur intermedialen Kunstform. 72

72 Wolfgang Hildesheimer, Die Vokale, 1983. Maße 179 x 129 mm. Reproduktion: End­lich allein 1984, Nr. 23.

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Hilde Strobl interpretiert den Einsatz von Buchstaben in der Collage Die Vokale von 1983 (Abb. 3) als kompositorisches Element: „Über die positivistische Erkenntnis, dass die komplette Vokalreihe dargestellt ist, reicht ihre Bedeutung nicht hinaus. Dass Buchstaben auch auf den Kopf gestellt oder gespiegelt werden, bestätigt ihre Funktion als ausschließ­lich formales Bild­ element.“73 Es ist dennoch auch mög­lich, dass die eingesetzten Vokale nicht nur ein ästhetisch-kompositorisches Element sind, sondern auch phone­tische Bedeutung haben: Im Begleittext schreibt Hildesheimer, dass die Collage ohne die Buchstaben „zu tot“ wirkte, sodass er sich dazu entschied, die monochrome Collage durch den Einsatz von Buchstaben zu „beleben“.74 Spricht man den Buchstaben eine phonetische Bedeutung zu, so wird die ‚stumme‘ Collage durch eine Klangkomponente erweitert. Interessanterweise setzt Hildesheimer hinter einen Vokal ein Ausrufezeichen, das im Schriftgebrauch ein Satzzeichen ist, welches Informationen zur Intonation übermittelt. Überhaupt könnte es sich bei den Vokalen nicht nur um Schriftzeichen handeln, sondern um phonetische Z ­­ eichen. So lässt sich das auf den Kopf gestellte ‚e‘ als phonetischer Laut Schwa [Ə] deuten. Untermauert wird diese Interpretation durch die trapezförmigen Flächen im Hintergrund der Collage. Hildesheimer scheint in dieser Collage ein Spiel der Laute zu visualisieren, indem er das aus der Phonologie bekannte Vokaltrapez andeutet. Dies sind weitere Hinweise darauf, dass – zumindest in ­diesem Fall – der ­Collage, einem visuellen Medium, eine phonetische Komponente beigefügt wird und die medialen Grenzen ausgeweitet werden. Diese Umgestaltung kurz vor der Fertigstellung der Collage bezeichnet er als einen „Fall von Notlösung als beste Lösung.“75 Es liegt daher die Vermutung nahe, dass Hildesheimer eine Unzuläng­lichkeit der einzelnen Gattungen wahrnimmt, und daher Text, Bild und Klang in einem Konzept verbinden will. Daraus ließe sich wiederum folgern, dass Hildesheimer mit der Zusammenführung das Ungenügen der einzelnen Gattungen überwinden wollte und – womög­lich auch unbewusst – an einem intermedialen Gesamtkunstwerk arbeitete.

73 Strobl: Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst, S. 132. 74 Hildesheimer: End­lich allein, S. 60. 75 Ebd.

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IV Schreiben, Collagieren und Erinnern – Fragmente im neuen Kontext

Das „Kunstzitat“76 ist ein Charakteristikum von Wolfgang Hildesheimers Colla­ giertechnik: Er zerschneidet Reproduktionen von Kunstwerken, zerstört die ursprüng­liche Bildsemantik, setzt die Ausschnitte in seinen eigenen Collagen zusammen und vollzieht eine Interpretation von bereits vorhandenem ‚Material‘. Dadurch werden, laut Hilde Strobl, „zueinander kontrastive und gleichzeitig sich bedingende Momente“ ausgelöst, näm­lich „Destruktion und Neuorganisation.“77 Außerdem erfahren Fragmente eines Werkes aus der Vergangenheit eine neue Kontextualisierung in einem zeitgenös­sischen Kunstwerk. Wolfgang Hirsch erläutert, dass Hildesheimers Geschichtsauffassung diese Verfahrensweise begründet; Hildesheimer betrachtet Geschichte „nicht als einen lo­gischen Ablauf miteinander verknüpfter Ereignisse“, sodass er sich erlaubt, „Geschichte und Geschichten als Steinbruch zu benutzen, histo­rische Figuren und ihre Kontexte zu Collagenmaterial zu destruieren und neu zu arrangieren.“78 Diese Verfahrensweise beeinflusst auch sein literarisches Arbeiten: Tynset und Masante sind in einem Arbeitsvorgang entstanden, der dem Collagieren besonders ähn­lich ist; sie sind Hirsch zufolge in einer „zettelkastengenerierten Collagetechnik“ entstanden und wurden „in der Manier einer Szenencollage kombiniert“79. Das Anordnen von bereits bestehendem Material beeinflusst auch sein Schreiben, da dies ein inhärentes Merkmal des Zitierens ist. Hildesheimer erläutert 1973 in einem Interview zu Masante, dass der Text Zitate enthält, „auch nur angedeutete Zitate, auch nur rhythmische Zitate, die alle dem Erfahrungsschatz des Autors entsprechen, Gedichtzitate, Prosazitate, auch Musikzitate.“80 Das Anordnen von Zitaten reizt den Autor in besonderem Maß. Demgemäß folgert Walter Jens, dass Wolfgang Hildesheimer „als Schriftsteller so wenig wie als bildender Künstler, ein Freund des Erfindens und unvorbereiteten Drauflosfabulierens“81 sei. Es lässt sich daraus schließen, wie Hilde Strobl bekräftigt, dass H ­ ildesheimer der Auffassung ist, dass „jedem kreativen Prozess eine Überwindung oder Neuformung von primär Gegebenem vorausgeht“82. In seinen Collagen gibt 76 Strobl: Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst, S. 15. 77 Ebd., S. 94. 78 Hirsch: Zwischen Wirk­lichkeit und erfundener Biographie, S. 277. 79 Ebd. 80 Zimmer: Rückzug aus dem Leben. Die Zeit 13. 04. 1973. 81 Jens, Walter: Wolfgang Hildesheimer: ein bildender Künstler. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Wolfgang Hildesheimer 89/90 (Januar 1986). S. 1 – 7, hier S. 1. 82 Strobl: Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst, S. 105.

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Hildesheimer bereits existierendem Material durch den Zuschnitt eine neue Form und durch seine kompositorische Leistung eine neue Anordnung. Analog dazu wählt Hildesheimer Zitate und Allusionen aus oder bindet literarische Figuren – beispielsweise den Vater von Hamlet – in seine eigenen Texte ein; dadurch entstehen intertextuelle Bezüge. Die Episode der Hähne von Attika aus Tynset gestaltet Hildesheimer ausgehend von einer Vorlage, die in einem Brief Lawrence Durrells an Henry Miller enthalten ist.83 Hildesheimer verheim­ licht seine Quellen dabei nicht, er äußert auch in ­diesem Fall, dass es sich um eine „Anleihe“84 handelt. Die Reflexionen des Erzählers in Tynset veranschau­lichen sein problema­ tisches Erinnerungsvermögen, da er entweder verschiedene Erinnerungssplitter – die ursprüng­lich nicht miteinander in Beziehung standen – in einem neuen Kontext verbindet oder wichtige Details vergisst, während anscheinend bedeutungslose Erinnerungsfetzen bleiben. Das sehr eingeschränkte Erinnerungsvermögen spiegelt sich in der episodischen, literarischen Form wieder, die einer literarischen Collage gleicht. Im Interview mit Manfred Durzak erläutert Wolfgang Hildesheimer, dass die episodische Form in T ­ ynset notwendig sei, weil es „ja keine Geschichte“ sei, es seien „tatsäch­lich nur Erinne­ rungsfetzen, und als Fetzen [seien] sie auch verwertet.“85 Stephan Braese verdeut­licht, dass in Masante eine „Radikalisierung der Form“ einhergeht mit „einer veränderten, […] radikalisierten Perspektivik des Erzähl-Ichs“86. Dementsprechend erläutert Hildesheimer im Interview mit Durzak seine Sicht auf diese Radikalisierung: Aber die Themen konnten ja nicht eines nach dem andern abgehandelt werden, sondern irgend etwas, ein Kalender-Name z. B., bringt mich auf einen der Häscher. Und so setzt sich im Laufe des Buches zusammen, wer sie sind. Die Namen fallen mir immer wieder so ein, wie es tatsäch­lich bei mir ist: Namen fallen mir tatsäch­lich ein, und plötz­lich beginnt bei diesen Namen irgendeine Geschichte, die mir dann wieder entfällt und die bei irgendeiner andern plötz­lichen Erinnerung wieder aufblitzt, und dann wird sie wieder weitergeschrieben.87

83 Vgl. Hildesheimer, Wolfgang: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig und Volker Jehle. 2. Band. Frankfurt am Main 1991, S. 389. 84 Ebd. 85 Durzak: Gespräche über den Roman, S. 283. 86 Braese, Stephan: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. 2. Auflage. Berlin, Wien 2002, S. 367. 87 Durzak: Gespräche über den Roman, S. 283.

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Es scheint, als ob Hildesheimer in der literarischen Form Erinnerungsprozesse abzubilden versucht. Eine Analyse des Erinnerungsprozesses zeigt, dass Erinne­ rungen oder auch nur Bruchstücke von Erinnerungen zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden – näm­lich der Vorstellung der eigenen Identität. Birgit Neumann erläutert, dass die Funktion des Gedächtnisses […] nicht in der Bewahrung von Vergangenem [liegt], sondern darin, früheren Erlebnissen im aktuellen Erlebenskontext Bedeutung zu verleihen. Dem autobiographischen Gedächtnis kommt die Aufgabe zu, durch produktive Prozesse der Selektion und Interpretation neue, selbstrelevante Informationen an bestehende Gedächtnisbestände zu assimilieren und auf diese Weise die Grundlage für das subjektive Gefühl der biographischen Kontinuität zu schaffen. Da sich die Rahmenbedingungen für Kontinuität im Laufe des Lebens verändern, müssen auch die vergangenen Ereignisse gemäß zwischenzeit­lich erworbener Deutungsmuster reinterpretiert werden […].88

Der Kognitions- und Narrationspsychologie zufolge werden Erinnerungen also nicht konserviert, sondern reaktualisiert, verbunden und in Zusammenhang gebracht. Die Erinnerungen des Erzählers scheinen jedoch nicht in einem chronolo­gischen, sinnvollen Zusammenhang zu stehen. Birgit Neumanns Erklärungen zum Bewältigungsprozess von traumatischen Erinnerungen geben hierzu Aufschluss. Sie erläutert, dass traumatische Erlebnisse „angesichts ihrer emotionalen Intensität nicht sinnstiftend aufbereitet und an bestehende Gedächtnisbestände angeschlossen werden“ können, sodass sie „in sich unfreiwillig einstellenden Erinnerungsfragmenten zwanghaft reproduziert“89 werden. Dadurch, dass diese Fragmente nicht in das subjektive, kontinuier­ liche Identitätsgefühl integriert werden können, werden sie zur Bedrohung. Narra­tiven Identitätstheorien zufolge „basiert die diachrone Dimension der Identität maßgeb­lich auf dem Erzählen von Selbstgeschichten, denn erst diese ermög­lichen eine Synthese temporal differenter Erinnerungen.“90 Der Erzähler ist aber nicht fähig, die disparaten Erinnerungen in einen sinnvollen, chronolo­ gischen Kontext zu bringen; dies spiegelt sich in der episodischen Erzählform und im unzuverlässigen Erzählen, da der Erzähler mehrmals bekennt, dass

88 Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literatur­ wissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin, New York 2005. S. 149 – 178, hier S. 154. 89 Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 154. 90 Ebd., S. 155.

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seine Erinnerungen verblassen.91 Das Erzähl-Ich reflektiert die eigene Unfähig­ keit, eine kohärente Selbstgeschichte zu erschaffen oder sogar aufzuschreiben, in Masante: Nur noch Fragmente, Dinge, die immer im Entstehen bleiben, doch das ist meine Sache nicht, ich habe immer Fertiges, Vollkommenes haben wollen – : mein ­Fehler. Damit bringt man es nicht weit. Wozu erzähle ich mir Geschichten, als sei ich nicht der, dem sie geschehen sind? Weil ich es nicht mehr bin? Weshalb will ich sie hören, als sei die Vergangenheit, aus der sie kommen, jemals wirk­lich gewesen, als hätte sie jene Geborgenheit geboten oder auch nur versprochen, in der ein erfundenes Geschehen, bis zu seinem erfundenen Ende weiterentwickelt, irgendeiner Wirk­ lichkeit entspricht? Weshalb wollte ich mich selbst bezwingen, da mir doch die Frage warum immer im Gehirn stand? Nur weil der Zwang nicht nachließ? So blieb ich immer mein eigener Zuhörer, allerdings habe ich mir immer aufs Wort geglaubt. Niederschreiben um abzustreifen, das war das Experiment, ist es schon gemacht? Verstrickt, verknotet im Netz der Identifikationen.92

Der Erzähler intendiert, eine abgeschlossene Geschichte zu schreiben; es ist ihm jedoch nicht mög­lich. Es wird auch deut­lich, dass er keine Verbindung zu seiner vergangenen Identität schaffen kann. Der Ich-Erzähler unterstreicht, dass die Geschichten nicht die Wirk­lichkeit der Vergangenheit wiedergeben können. Durch seine isolierte Situation ist er der einzige Zuhörer seiner Geschichten, die er glauben will, da er sich sonst der Auflösung seiner Identität bewusst werden müsste. Er versucht, sich mit den Geschichten zu identifizieren, „verstrickt“ sich aber nur in ihnen. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Erinnerungsprozesse des Erzählers auf ungelöste traumatische Erfahrungen hinweisen, ist seine Isoliertheit. Daniel J. Siegel zufolge beeinflussen ungelöste traumatische Erlebnisse die „Art und Weise, wie jemand Beziehungen und Bindungen lebt.“93 Daher ist es nicht verwunder­lich, dass die Erinnerung an Vanessa – die Frau, die er augenschein­ lich geliebt hat – die bei Weitem fragmentarischste ist. Das Erzähl-Ich ist nicht in der Lage, Erinnerungsfragmente sinnstiftend zu ordnen; sie scheinen ihm gleichwertig, sodass sinnlose Details neben 91 Vgl. ebd., S. 167. 92 Hildesheimer: Masante, S. 345. 93 Siegel, Daniel J.: Entwicklungspsycholo­gische, interpersonelle und neurobiolo­gische Dimensionen des Gedächtnisses. Ein Überblick. In: Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hrsg. v. Harald Welzer und Hans J. Markowitsch. Stuttgart 2006. S. 19 – 49, hier S. 41.

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bedeutenden Erinnerungssplittern stehen. Bernhard Spies zufolge zeigt sich im Tynset-Masante-Komplex, dass die Reflexionen des Erzählers über seine Erinnerungen kein Ergebnis liefern und seine Erinnerung nicht leisten [kann], was das Bedürfnis nach Identität von ihr verlangen muß. Sie führt in eine Irre, die weder sicher sein kann, daß es irgendwo eine Wahrheit gibt, noch daß es sie nicht gibt. Das Rätsel ist unauflös­lich und bedeutet nichts als das, was es selber ist: Den Menschen in seiner Welt gibt es nicht, ebenso wenig existiert das mit sich selber identische Individuum, und nicht einmal diese negative Aussage läßt sich mit größerer Gewißheit als der eines subjektiven Fazits treffen.94

Demzufolge wird deut­lich, dass die Erinnerungen des Erzählers nicht zu einer Identitätssicherung führen können, da sie dafür unzureichend sind: Das ErzählIch kann sich nicht auf die ‚Wahrheit‘ seiner Erinnerungen besinnen und deswegen ist eine diachrone, gefestigte Identität nicht zu erreichen. V Ein intermediales Gesamtkonzept

Zweifellos stehen das literarische und das bildkünstlerische Schaffen Wolfgang Hildesheimers in einer Wechselbeziehung. Zum einen werden in Tynset die fragmentarischen Erinnerungen des Ich-Erzählers in der literarischen Collage versinnbild­licht, zum anderen entsteht erst neunzehn Jahre nach der Veröffent­ lichung des Textes seine Collage Dorthin. Die Anfertigung der Collage verweist darauf, dass Hildesheimer sich Tynset in Erinnerung gerufen haben muss, um die Thematik der Textpassage im bildkünstlerischen Werk zu verarbeiten. Darin zeigt sich auch, dass Erinnerung nicht nur in seinen literarischen Texten, sondern auch für seinen künstlerischen Schaffensprozess von großer Bedeutung ist: Hildesheimer betrachtet das Schreiben, Collagieren und Erinnern als sich bedingende Prozesse. Dass er sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf das Schreiben konzentriert, bedeutet keinesfalls einen vollständigen Abbruch des bildkünstlerischen Arbeitens, denn es sind auch während des Höhepunkts seines schriftstellerischen Wirkens Collagen, Grafiken und Illustrationen entstanden. Hildesheimers Gesamtwerk zeigt, dass sich Schreiben und bildkünstlerisches Arbeiten oftmals beeinflussen, sogar von einer wechselseitigen Inspiration ausgegangen werden kann.

94 Spies, Bernhard: „Ich bin eben immer wieder ein anderer.“ Identität als Fiktion bei Wolfgang Hildesheimer. In: Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945. Hrsg. v. Dieter Lamping. Berlin 2003. S. 90 – 103, hier S. 96.

206 Olga Blank

Außerdem weisen das Schreiben und das Collagieren Ähn­lichkeiten im Arbeitsprozess auf, da Hildesheimer die Verarbeitung von vorgegebenen Materialien in besonderem Maß reizt. Beim Collagieren verwendet er Ausschnitte von Reproduktionen bereits existierender Kunstwerke. In seinem literarischen Werk lassen sich Allusionen und Zitate aufzeigen. Hildesheimer studiert die Grenzen der beiden Arbeitsweisen und nutzt die Mög­lichkeiten der Medien entsprechend seiner Aussageabsicht. Er versucht, mediale Eingrenzungen aufzubrechen, indem er intertextuell und intermedial arbeitet. So ist die Verwendung von Buchstaben in seinen Collagen nicht nur als bildkompositorisches Mittel zu verstehen, sondern kann auch den Versuch darstellen, Klänge wieder­ zugeben. Dadurch erhält die Collage ein phonetisches oder auch musika­lisches Element. Es scheint, dass Hildesheimer die Ausweitung der medialen Grenzen anstrebt, um die von ihm empfundenen Unzuläng­lichkeiten der einzelnen Gattungen zu überwinden und somit – bewusst oder unbewusst – ein intermediales Gesamtkunstwerk zu schaffen.

Hannah Bölling

Der Schreibprozess als Erinnerungskonzept

Zum Motivzusammenhang in Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated Das Thema der Erinnerung ist in der Literaturwissenschaft in vielen Facetten vertreten und vielfach diskutiert worden. Aufgrund seiner umfangreichen Verknüpfungen, der unterschied­lich akzentuierten Umgangsformen und der vielen verschiedenen Abstufungen des Motivs sind die Untersuchungen der Kontroversen von Erinnerungs- und Erzähltheorie noch lange nicht erschöpft. Der Umgang mit der Vergangenheit – und damit verbunden Sinn und Richtung der literarischen Verarbeitung von Erinnerungen – ist der Grundstein für die verschiedensten Texte. Von der direkten Erzählung des Protagonisten über Tagebucheinträge bis hin zu Briefwechseln oder einer springenden Erzählpers­ pektive zwischen mehreren Figuren können die Ausrichtung der Narration und die Art des gewählten Mediums im Text dabei viele Formen haben. In Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated erreicht die Konstruktion von Erzählperspektiven und ihrer Wahrnehmung der Vergangenheit eine neue, übergeordnete Dimension. Ein gemeinsames Erlebnis wird zur Grundlage der schrift­lichen Verarbeitung. In Form von Brief, Erlebnisbericht und fantastischer, fiktiver Familiengeschichte, wird es den beiden Protagonisten ermög­licht, sich trotz der räum­lichen Distanz über die gemeinsame Erfahrung auszutauschen. Zentral ist dabei für die beiden jungen Männer die Suche nach ihrer Identität und nach der durch ihre Herkunft beeinflussten Selbstverortung im Kontext der Vergangenheit. Der besondere Aspekt des Werks liegt dabei in der hybriden Form fragmentarischer Erzählstile. Diese ermög­lichen nicht nur den Blick auf das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven, sondern zeigen auch durch ihre Verbundenheit eine Art Editionsprozess der geteilten Erinnerung auf. Dieser Beitrag untersucht im Folgenden, ­welche Rolle der Prozess des Schreibens einerseits in den Ebenen des Romans zur Gestaltung und Definition individueller Identität einnimmt und w ­ elche übergeordnete Verbindung sich andererseits durch die editionshafte Beeinflussung der Ebenen für die Frage nach der eigenen Identität und der gemeinsamen Wahrheit ergibt.

208 Hannah Bölling

I Die Verknüpfung der Erzählebenen

Betrachtet man den Aufbau der Erzählebenen des Romans, so wird schon hier der besondere Stellenwert des Geschriebenen deut­lich. Keine der drei Ebenen lässt sich in die klas­sische narrative Struktur eines Romans einordnen und keiner der Handlungsstränge wird von einer Figur direkt reflektierend präsentiert. Vielmehr liegen die Geschehnisse schon hinter den Figuren. Der Leser sieht sich mit drei verschiedenen Stufen der Verschrift­lichung konfrontiert, die allesamt auf dem aufbauen, was die Protagonisten Alex und Jonathan auf ihrer Reise durchlebt haben. Jede der Ebenen ist eine bewusst gewählte Form der Verschrift­lichung von Erinnerung. Sie erfüllen in ihrer Ausrichtung einen Zweck, beziehungsweise folgen in ihrer Ausrichtung einer Leitfrage. Zudem sind die verschrift­lichten Perspektiven eng miteinander verknüpft, nicht nur, weil sie sich auf die Basis des gemeinsam Erlebten stützen, sondern auch, weil sie sich direkt aufeinander beziehen. Alle Erzählstränge haben einen fragmentarischen Charakter. Es ist wichtig für die Untersuchung des Romans – und insbesondere für den thematischen Schwerpunkt des Schreibens als Instru­ment der Erinnerung – den kreislaufartigen Zusammenhang der schrift­lichen Ebenen darzustellen, die letztend­lich nur zusammen zur Erzählung des Geschehenen werden. Die erste der beiden von Alex gewählten schrift­lichen Ebenen ist der Briefwechsel mit Jonathan. Nach der gemeinsamen Reise durch die Ukraine schickt er regelmäßig Briefe nach Amerika, um die Erlebnisse mit Jonathan zu reflektieren und ihn über die Entwicklungen in seiner Familie zu unterrichten. Die Reflexion über das gemeinsam Erlebte basiert jedoch nicht allein auf der Erinnerung. Vielmehr bildet ihre persön­liche, primär schrift­ liche Aufarbeitung der Reise das Fundament für ihren Austausch. Durch diese Auswahl der Erzählformen und Perspektiven nutzt Foer das besondere ­Leistungsvermögen der Literatur als Kunstform zur Gedächtnisreflexion der beiden Prota­gonisten. Somit werden mehrere Perspektiven und Fokussierungen einbezogen, was einen weiteren Reflexionsrahmen schafft.1 Alex schreibt an einem Reise­bericht über die gemeinsame Suche nach ­Augustine. Sein Manuskript, welches die zweite Ebene bildet, schickt er Jonathan zusammen mit seinen Briefen zu. Jonathan wiederum schreibt eine Art fiktive Familiengeschichte, die ebenfalls auf seinen Erfahrungen während der Reise basiert,

1 Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin, New York 2005. S. 249 – 276, hier S. 265.

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diese jedoch auf eine gänz­lich andere Weise verarbeitet. Dieser fiktive Erzählstrang bildet die dritte Ebene des Romans. Alex bezieht sich in seinen Briefen auf Jonathans Briefe und seine Verbesse­ rungsvorschläge für sein Schreiben. Die Kommentare Jonathans bleiben jedoch nur in Alex’ Erwähnung präsent und sind selbst nicht Teil des Romans. Somit bleibt der Briefwechsel für den Leser asymmetrisch. Insgesamt setzt sich der Roman also aus den zwei Manuskripten zusammen sowie aus Alex’ brief­lichen Auseinandersetzungen darüber, die er an Jonathan schickt. Im Folgenden sollen die Ebenen sowohl in ihrer alleinstehenden Funktion als auch in ihrem Zusammenhang untersucht werden. Im Verlauf der Analyse werden die Theorien des ‚kulturellen‘ und des ‚kommunikativen Gedächtnisses‘ eine tragende Rolle ­spielen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Effekt und der Intention der Verschrift­lichung von Erinnerung. Welche Motivation haben die beiden Protagonisten jeweils, über das Erlebte zu schreiben? Wie wird der Prozess des Schreibens in den beiden Verschrift­lichungen aufgegriffen und dargestellt? Was sind die Fragen, die sie dabei für sich selbst verfolgen? Welche Verknüpfung besteht zwischen den Ebenen und w ­ elchen Effekt haben sie beziehungsweise hat der Austausch über das Schreiben und die daraus entstehenden Mög­lichkeiten aufeinander? Aufgrund der gewählten literarischen Formen der Ebenen müssen bei der Untersuchung der drei Abschnitte des Romans unterschied­liche Schwerpunkte gesetzt werden. Jonathans fiktive Geschichte des Shtetls greift den Aspekt der Verknüpfung von Schreiben und Erinnerung in anekdotischen und symbolhaften Erzählungen auf. Dieser Erzählstrang allein bietet aufgrund der facettenreichen Symbolik der fantastisch wirkenden Geschichte genug Stoff für mehrere Aufsätze. Deshalb werden im Folgenden nur ausgewählte Szenen aufgegriffen, die für den Themenkomplex von Schreiben und Erinnerung relevant und exemplarisch sind. In Alex’ Reisemanuskript finden sich keine expliziten Darstellungen dieser Art. Jedoch wird in ­diesem Teil des Romans der Schreibprozess Jonathans thematisiert. Zudem lassen sich hier einige Ansätze bezüg­lich der Frage nach der gemeinsamen Erinnerung und Identität – und insbesondere auch eine deut­ liche Diskrepanz in der Wahrnehmung der beiden jungen Männer – finden, die ebenfalls an ausgewählten Beispielen besprochen werden sollen. Alex’ Briefe, die alle an Jonathan gerichtet sind, bilden eine übergeordnete Ebene gegenüber den beiden Manuskripten. Er reflektiert über Jonathans Manuskript und dessen Anmerkungen zu seinem eigenen Werk. Alex thematisiert die Übernahme oder Verwerfung von Änderungsvorschlägen sowie das Schreiben selbst und stellt die Frage nach der Konstituierung von Wahrheiten durch die Transformation von Erinnerungen mittels Verschrift­lichung. Bei der Analyse dieser Ebene liegt der Fokus auf dem Editionsprozess und den direkten Aussagen über das Schreiben.

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II Schreiben und Erinnerung im Narrativ des ma­gischen Realismus

In der fiktiven Erzählung seiner Familiengeschichte lässt Jonathan viele Figuren auftreten, die über mehrere Generationen hinweg in Trachimbrod leben, beginnend bei seiner Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter Brod. Jonathans Erzählung besitzt trotz ihrer historischen Basis in ihrer Gestaltung viele fantastische Züge. Immer wieder wird der stark symbo­lische Charakter der Geschehnisse deut­lich. Dieses Narrativ kann in seiner Eigenart der Form des ma­gischen Realismus zugeordnet werden: „magical realism blends elements of magic and history seamlessly, speaking of the supernatural and the historical in the same ,­matter-of-fact‘ tone“2. Die Wahl dieser Form des literarischen Erzählens kann als Jonathans Reaktion auf die Herausforderung gesehen werden, eine Geschichte über seine Familie zu schreiben, ohne wirk­liche Informationen zu haben. Mit ­diesem Ansatz geht ebenfalls der Aspekt des unzuverlässigen Erzählens einher, der dem jungen Autor der Erzählung durchaus bewusst ist. Das thematisiert er direkt zu Beginn der Geschichte durch die Figur des wahnsinnigen Sofiowka.3 Dieser ist angeb­lich Augenzeuge des Unglücks, als Trachim mit seinem Wagen in den Fluss fährt. Die Dorfbewohner hinterfragen seine Glaubwürdigkeit und führen dabei als Grund bezeichnenderweise Sofiowkas verworrene Erinnerungsprozesse an. Einmal bindet er sich, um etwas Wichtiges nicht zu vergessen, einen Faden um den Finger, und um diesen Faden nicht zu vergessen einen weiteren um den nächsten Finger, dann einen um den Hals, bis er schließ­lich ganz in Fäden eingewickelt ist. „[H]e used his body to remember his body, but in the end he could only remember the string. Is that someone to trust for a story?“4 Zudem eröffnet Sofiowka in seinem Bericht mehrere mög­liche Verläufe des Geschehens 5, und schon der erste Satz von Jonathans Manuskript löst beim Leser ein gewisses Misstrauen aus, da die eröffnende Behauptung sofort revidiert wird: „It was March 18, 1791, when Trachim B’s doubleaxed wagon either did or did not pin him against the ­bottom of the Brod River.“6

2 Seiferth, Shannon Margaret: More premium than life: Expressing the Inexpressable in Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated. Michigan 2002. Online im Internet unter: http://deepblue.lib.umich.edu/bitstream/handle/2027.42/91782/seiferth.pdf?sequence=1, zuletzt eingesehen am 24. 08. 2014, S. 28. 3 Vgl. Foer, Jonathan Safran: Everything is Illuminated. New York, London 2002, S. 15. 4 Ebd. 5 Vgl. Seiferth: More premiun than life, S. 33. 6 Foer: Everything is Illuminated, S. 8.

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Der Verlauf der Geschichte wird hier in mehrere mög­liche Welten aufgelöst, es werden verschiedene, gleichwertige Wege der Handlung aufgezeigt, wodurch der problematische Charakter der Aneignung einer unklaren und wenig greifbaren Vergangenheit thematisiert wird.7 Die Relevanz der Verknüpfung d ­ ieser beiden Motive wird bereits in einem der ersten Kapitel der Geschichte des Shtetls anhand eines Erlebnisses von Yankel deut­lich, dem Mann, der ­Jonathans Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter Brod in der Erzählung adoptiert. Als Yankel eines Tages, lange bevor Brod geboren wird, nach Hause kommt, findet er auf der Fußmatte einen Zettel von seiner Frau, die ihn für einen anderen Mann verlassen hat: „I had to do it for myself.“8 Zunächst steht hier nun das geschriebene Wort als Transportmedium für Emotionen im Mittelpunkt. Der Kommunikationstheoretiker Marshall ­McLuhan definierte den Ausgangspunkt für diese Sicht auf zwischenmensch­ liche Kommunikation durch Medien bereits 1964 in seinem Buch Understanding Media: The Extensions of Men. Demnach ist die Information, die das geschriebene Wort direkt vermittelt, nur Nebensache, die von der eigent­lichen Botschaft, die durch das Medium vermittelt wird, ablenkt: „For the ,content‘ of a medium is like the juicy piece of meat carried by the burglar to distract ­ iesem Falle der Zettel mit der the watchdog of the mind.“9 Das Medium – in d geschriebenen Botschaft – hat also schon für sich betrachtet einen vermittelnden Charakter; entsprechend dem Credo der Medienwissenschaften „das Medium prägt die Botschaft“10 ist es ausschlaggebend, wie eine Nachricht übermittelt wird. Auch Yankel sieht mit dem Zettel von seiner Frau eine tiefe emotionale Botschaft verbunden. Doch bei seiner Konzentration auf das Medium muss er feststellen, dass die erhofften Spuren ausbleiben. It looked just like any other note she would leave him, like Could you try to fix the broken knocker? or I’ll be back soon, don’t worry. It was so strange to him that such a different kind of note – I had to do it for myself – could look exactly the same: trivial, mundane, nothing. He could have hated her for the plainness of it, a message without adornment, without any small clue to indicate yes, this is important, yes, this is the most painful note I’ve ever written, yes, I would sooner

7 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin, New York 2002. S. 149 – 178, hier S. 167. 8 Foer: Everything is Illuminated, S. 44. 9 McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Men. Massachusetts 1994, S. 18. 10 Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, S. 252.

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die than have to write this again. Where were the dried teardrops? Where was the tremor in the script?11

Für Yankel reicht dieser eine Satz seiner Frau, um zu verstehen, dass sie ihn verlässt. Dies ist auf ihre gemeinsame Vergangenheit zurückzuführen und damit auf ihre gemeinsamen Erinnerungen, ­welche diesen Satz für beide verständ­ lich machen. Doch das Medium selbst stimmt nicht mit der Botschaft überein. Das Papier ist nicht tränendurchnässt, sondern absolut sauber, die Schrift ist nicht wackelig und hastig, sondern gleichmäßig wie auf jeder anderen, beiläufigen Notiz. Die Einfachheit und augenschein­liche Trivialität der Notiz macht ­Yankel wütend, da sie nicht mit den Emotionen übereinstimmt, die dadurch bei ihm ausgelöst werden. Der so einfache und unauffällige Zettel wird im weiteren Verlauf für Yankel zu einer geradezu zwingenden Verbindung. „[H]e couldn’t bare to keep it, but he couldn’t bear to destroy it either. So he tried to lose it.“12 Der Zettel wird zum Symbol für den Umgang mit Erinnerungen. Es ist in den meisten Situationen nicht unsere Entscheidung, ob wir uns immer wieder an etwas Unangenehmes oder Schmerzhaftes erinnern oder nicht. Yankel versucht, den Zettel bewusst zu verlieren, doch der Zettel taucht immer wieder auf. Wie eine Erinnerung kehrt er immer wieder zurück. Bezeichnend ist hier, dass Yankel versucht, den Zettel zu verlieren, nicht, ihn zu vergessen. Der Zettel ist die materialisierte Erinnerung. Er folgt in seiner wiederkehrenden Natur denselben Prozessen, bis er schließ­lich zu einem Teil Yankels wird. „It stayed with him, like a part of him, like a birthmark, like a limb, it was on him, in him, him“13. Yankel hat keine Kontrolle über den Zettel, über die Erinnerung. Doch als Brod bei ihm aufwächst und als zusätz­liche Instanz beginnt, Fragen über ihre Mutter zu stellen, ist er es, der die Kontrolle über die Erinnerungen an eine Frau übernimmt, die er niemals kannte. Auch dies wird auf der schrift­lichen Ebene erreicht. Yankel schreibt einen detaillierten Briefwechsel zwischen ihm und seiner „never-wife“14. Dabei konstruiert er Erinnerungen an eine Vergangenheit, an die er selbst zu glauben beginnt. Das geschriebene Wort ist dabei erneut das Medium, das die Erinnerung konstruiert, sie greifbar macht. „At night he would read the letters that she had never written him.“15 Doch es ist ebenso das geschriebene Wort, das diese augenschein­liche Erinnerung 11 Foer: Everything is Illuminated, S. 44. 12 Ebd., S. 45. 13 Foer: Everything is Illuminated, S. 45. 14 Ebd., S. 48. 15 Ebd., S. 49.

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daran hindert, zu einer tatsäch­lichen Erinnerung Yankels zu werden, denn der Zettel seiner Frau ist wiederum der stetige Verweis auf die Realität und die tatsäch­liche, unangenehme Erinnerung. Unabhängig davon, wie viele Briefe er schreibt, können die konstruierten Erinnerungen, an die er damit glauben möchte, nicht gegen die tatsäch­liche Erinnerung, gegen den Zettel, den er verlieren möchte und der immer wiederkehrt, bestehen – „as if the note had a mind of its own, as if those seven scribbled words were capable of wanting to inflict reality.“16 III Der kollektive Schreibprozess als Medium der überdauernden Erinnerung

Dass Jonathan zur literarischen Reflexion seiner Vergangenheit eine fiktionale Erzählung wählt, ist ebenfalls bezeichnend. Die Konstruktion ­dieses Szenarios um Yankel ist mög­lich, da die Literatur hier in ihrer besonderen Eigenschaft Explorationsräume zur Verfügung stellt, die als fiktional gekennzeichnet sind und dem Werk somit einen anderen Kontext der Referentialität geben.17 Die Darstellung der Erlangung von Erinnerungen und der Umgang mit diesen, die Foer hier für seinen Protagonisten wählt, ist auf einer fast schon fantastischen Ebene mit dem geschriebenen Wort und dem Prozess des Schreibens verknüpft. Schreiben kann eigene Erinnerungen schaffen, und genauso kann die Notiz eines anderen zum Symbol einer ganzen gemeinsamen Vergangenheit werden. In welchem Maße der Prozess des Schreibens Erinnerungen definieren kann, zeigt sich auch in den weiteren Erzählungen um das Shtetl. Die Gemeinschaft von Trachimbrod pflegt mehrere Rituale, bei denen das Schreiben im Mittelpunkt steht, und bei denen die Erinnerung der antreibende Faktor ist. „The what, Didl said, is not so important, but that we should remember. It is the act of remembering, the process of remembrance, the recognition of our past“18. Die gemeinsamen Schreib- und Erinnerungsprozesse der Bürger Trachimbrods manifestieren sich in Büchern, die aus den Berichten jedes Einzelnen geschrieben werden, wie etwa das „Book of Antecedents“19 – das ‚Buch der Vorfahren‘. In ­diesem Buch werden unter anderem alle Träume der Shtetl-Einwohner festgehalten. Doch sie werden auch nach ihrer Nieder­ schrift wieder vorgelesen und wie eine Art Gebet kollektiv von den Dorfbewohnern angehört.

16 Ebd. 17 Vgl. Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 165. 18 Foer: Everything is Illuminated, S. 36. 19 Vgl. ebd.

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Somit beschränkt sich der Prozess des Erinnerns hier nicht nur auf seine internen Prozesse, sondern lastet durch die Nutzung mehrerer Ebenen das aus, worin Harald Welzer die volle Kapazität des mensch­lichen Gedächtnisses sieht. Durch die gemeinsame Niederschrift und die Wiederholung wird ein externes Netzwerk errichtet,20 welches alle Beteiligten durch ein ‚kommunikatives Gedächtnis‘ miteinander verbindet, und in dem der Fokus nicht nur auf der eigenen Person liegt, wodurch das Verständnis einer gemeinsamen Identität geschaffen wird.21 Doch nicht nur Träume werden schrift­lich festgehalten, auch Familienstammbäume, persön­liche Dokumente, die Tagebücher der Dorfbewohner und sonstige Berichte füllen ganze Editionen der Bücher. Ohne Pause wird immer weiter geschrieben, sowohl Definitionen wie etwa von ‚God‘ oder ‚Jews‘ über Geschehnisse im Shtetl wie ‚The first rape of Brod D‘ oder ,What Jacob R ate for breakfast on the morning of February 21, 1877‘, bis hin zu Berichten, die sich detailliert auf das beziehen, wonach Jonathan sucht, näm­lich auf die Geschichte seiner Familie und somit seiner Herkunft:22 „The five generations between Brod and Safran“23. Tatsäch­lich ähnelt dieser Vorgang des kollektiven Dokumentierens einem sogenannten ‚yizker bukh‘ einer Art Gedächtnisbuch, das nach dem Holocaust von Überlebenden gemeinsam verfasst wurde, um an ihre Gemeinschaft zu erinnern.24 Dieses Ritual des Aufschreibens der Geschehnisse geht soweit, dass, wenn einmal nichts geschieht, was berichtet werden kann, eben genau dies berichtet wird, „to keep the book moving, expanding, becoming more like life: We are writing… We are writing… We are writing…“25. Dieser Modus des Erinnerns, das gemeinsame Aufschreiben und Vorlesen von Erinnerungen, zeigt das Bedürfnis nach und die Notwendigkeit der Konstruktion der Vergangenheit, wie sie auch Astrid Erll bestimmt: „[T]he past is not given, but must instead continually be re-constructed and re-presented.“26 20 Vgl. Welzer, Harald: Communicative Memory. In: Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Hrsg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning in Zusammenarbeit mit Sara B. Young. Berlin, New York 2008, S. 285 – 300, hier S. 293. 21 Vgl. ebd., S. 285. 22 Vgl. Vökler, Virginie: The presence of memory in Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated. Akademische Schriftenreihe. Bd. V77523. 2007, S. 11. 23 Foer: Everything is Illuminated, S. 201 – 211. 24 Vgl. Propst, Lisa: „Making One Story“? Forms of Reconciliation in Jonathan Safran Foer’s Everything is Illuminated and Nathan Englander’s The Ministry of Special Cases. In: MELUS. Multi-Ethnic Literature of the U. S. 36. 1 (2011), S. 37 – 60, hier S. 45. 25 Foer: Everything is Illuminated, S. 196. 26 Erll, Astrid: Cultural Memory Studies: An Introduction. In: Media and Cultural Memory. Hrsg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin, New York 2008, S. 1 – 18, hier S. 7.

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Die hier gewählten Beispiele zeigen auf, wie deut­lich der Prozess des Erinnerns in der fiktiven Welt des Shtetls Trachimbrod mit dem geschriebenen Wort verknüpft ist. Die Vorstellung der Dorfgemeinschaft, die gemeinsam jedes Ereignis niederschreibt und wiederholt, ist natür­lich keine Abbildung eines realistischen Vorgehens zur systematischen Erlangung eines ‚kollektiven Gedächtnisses‘27 – vor allem, da in dieser Darstellung die Tatsache, dass sich Erinnerungen von Menschen an das selbe Ereignis unterscheiden können 28, nicht thematisiert wird. Doch zeigt sich sowohl an d ­ iesem Bild als auch an der Symbolik des wiederkehrenden Zettels und der Konstruktion nie erlebter Erinnerungen durch das Schreiben erneut eine weitere Qualität dieser fiktiven, beinahe fantast­sischen Erzählweise: Die Freiheit, sich nicht rechtfertigen zu müssen und somit eine gänz­lich andere und vielleicht sogar deut­lichere Sicht auf das ‚kommunikative Gedächtnis‘29 eröffnen zu können, als eine rein wissenschaft­liche Argumentation es zu tun vermag.30 IV „There was nothing“ – Alex’ Reflexion über Jonathans Schreibprozess

Im Gegensatz zu Jonathans fiktiver, ma­gisch-realistischer Ebene schreibt Alex eine Art Reise- und Erlebnisbericht. Da es sich wiederum um eine literarische Form handelt, hat auch diese keinen Anspruch auf eine wirk­lichkeitsgetreue Wiedergabe der Geschehnisse – vielmehr stellt sie eine nicht verbind­liche Wirk­ lichkeitsversion dar.31 Alex erläutert in seinen Briefen diese Abweichungen, worauf später noch einzugehen sein wird. Dennoch kann Alex’ Manuskript in vielerlei Hinsicht als Zeugnis der Erlebnisse der Reise gelten. Auch dieser Bericht beinhaltet erneut Motive, die einer genaueren Betrachtung bedürfen, wie etwa die besondere Beziehung zwischen Alex und seinem Großvater als Vertreter verschiedener Generationen 32 oder auch die Darstellung Jonathans 27 Das kollektive Gedächtnis ist nach Assmann ein geteilter Kader an Erinnerungen einer Wir-Gruppe, die auch Generationen überdauern und weitergegeben werden können und somit eine besondere Stabilität besitzen. Vgl. Assmann, Aleida: Soziales und kollektives Gedächtnis. Bundeszentrale für politische Bildung. Online im Internet unter http://www. bpb.de/system/files/pdf/0FW1JZ.pdf, zuletzt eingesehen am 24. 08. 2014, S. 2. 28 Vgl. Erll: Cultural Memory Studies, S. 7. 29 Das kommunikative Gedächtnis ist nach Welzer der Kader von Erinnerungen, auf den die Mitglieder einer Gruppe sich nachträg­lich einigen, verbunden mit einem identitäts­ spezifischen übergeordneten Narrativ und der gemeinsamen Bedeutung ihrer Vergangen­ heit. Vgl. Welzer: Communicative Memory. S. 285. 30 Vgl. ebd., S. 297. 31 Vgl. Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnis. S. 261. 32 Vgl. Foer: Everything is Illuminated, S. 111.

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als Vertreter der jüngeren jüdischen Generationen nach dem Holocaust.33 Die Beobachtungen von Alex über das Schreibverhalten Jonathans sowie die Herausbildung einer Dynamik zwischen den beiden jungen Männern, die auf unterschied­lichen Wahrnehmungen des gemeinsam Erlebten beruht, sind dabei zentral. Richtungsweisend ist dabei die dem Prozess des Schreibens übergeordnete Frage nach einer gemeinsamen Identität von Alex, Jonathan und auch Alex’ Großvater. Wurde in Alex’ Bericht durch die gemeinsame Reise und Suche nach der Vergangenheit eine s­ olche Identität zwischen den drei Männern geschaffen? Und wenn ja, bringt dies sie näher an die Erschließung ihrer Vergangenheit? Damit verbunden wird in der weiteren Bearbeitung, die sich auf Alex’ Briefe konzentriert, die Frage nach der Verknüpfung mit dem Prozess des Schreibens in Bezug auf die Frage nach Identität und Herausbildung von Erinnerungen eingehender erläutert. Dazu ist es zunächst jedoch zentral, die dargestellten Zusammenhänge und Strukturen der Gruppe zu verstehen. Alex beobachtet Jonathan, der ihm in mehrfacher Hinsicht fremd und seltsam erscheint, während der Reise eingehend. Jonathans geplanter Roman und seine Motivation zu schreiben ist dabei ein zentrales Thema zwischen den beiden, das Alex schon zu Beginn der Reise anspricht: „,A question.‘ ,Yes.‘ ,Do you write because you have something to say?‘ ,No.‘“34 Dennoch ist die Reise wichtig für Jonathans literarisches Vorhaben. Jonathan hält in seinem Notizbuch immer wieder Dinge fest, die er nicht vergessen möchte. „,Little things that I want to remember.‘ ,About Trachimbrod?‘ ,Yes.‘“35 Trachimbrod ist sowohl als realer Ort als auch symbo­lisch zentral für Jonathans Vergangenheit. Die Frage nach der Herkunft ist fester Bestandteil der Definition des Ich. Jan Assmann beschreibt das mensch­liche Selbst als eine diachronische Identität, die sich aus dem Gewebe der Zeit zusammensetzt.36 Gerade für die Nachkriegsgenerationen ist dies oftmals ein Problem, da das Schweigen über die Geschehnisse des Holocaust für viele Überlebende die teils mehr, teils weniger bewusst gewählte Methode im Umgang mit ihrer Vergangenheit war und ist. Für die nachfolgenden Generationen bedeutet dies oftmals ein Hindernis bezüg­lich des Wissens über ihre Herkunft und die 33 Vgl. Propst: „Making one Story?“, S. 38. 34 Foer: Everything is illuminated, S. 69. 35 Ebd, S. 159. 36 Vgl. Assmann, Jan: Communicative and Cultural Memory. In: Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Hrsg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning in Zusammenarbeit mit Sara B. Young. Berlin, New York 2008. S. 109 – 118, hier S. 109.

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Geschichte ihrer Familie; ­dieses Wissen bleibt im Dunkeln.37 Auch Jonathan sieht sich mit dieser Unwissenheit konfrontiert, wenn er versucht, sich selbst in seiner Familie und im historischen Verhältnis zur Welt einzuordnen.38 Das Foto, das ihm seine Großmutter gab, dient ihm dabei als einzige Verbindung zu seiner familiär-historischen Identität. Doch auch hier wird erneut die Unzugäng­lichkeit der Geschehnisse deut­ lich, denn Jonathans Großmutter, deren gesamte Familie in der Ukraine von den Nazis getötet wurde, ist aufgrund ihrer Verschlossenheit für Jonathan keine Ansprechperson: „No. We couldn’t ask her anything about it.‘ […] I couldn’t even tell her I was coming to the Ukraine. She still thinks I’m in Prague.‘“39 Das Konstruieren seiner Familiengeschichte, bei der Jonathan sich selbst als Erzähler positioniert, kann daher als therapeutischer und psycholo­gischer Prozess der Arbeit am Selbst gesehen werden.40 Ein wichtiger Aspekt, der dies verdeut­licht, ist die Tatsache, dass Jonathan die fiktiven Erinnerungen an die Geschichte seiner Familie und damit seiner Herkunft nicht etwa auf den wenigen Zeugnissen aufbaut, die er findet. Im Gegenteil scheint seine Arbeit an der Vergangenheit von Trachimbrod schneller fortzuschreiten, je weniger er darüber weiß: „I saw that he kept filling his diary. The less we saw, the more he wrote.“41 Dabei gibt es einige wenige Situationen, in denen Jonathan der Vergangenheit seiner Familie sehr nahe kommt. Als die Reisenden Listas Haus betreten, ist dort alles aufbewahrt, was noch von Trachimbrod übrig ist. Lista ist als Überlebende und Zeitzeugin, die Jonathans Großvater gekannt hat, eine direkte Verbindung zu der familiären Identität, die Jonathan gesucht hat. Alles, worüber seine Großmutter nie reden wollte, wird ihm nun durch Listas Erzählungen zugäng­lich. Doch sein Schreibprozess, seine literarische Arbeit an seiner Herkunft, die voranschreitet, je weniger er von der Vergangenheit findet, stagniert nun im Angesicht dieser neuen Informationen vollständig:

37 Vgl. Mintz, Alan: Popular Culture and the Shaping of Holocaust Memory in America. Washington 2001. S. 5. 38 Vgl. König im ­diesem Band. 39 Foer: Everything is Illuminated. S. 61. 40 Straub, Jürgen: Psychology, Narrative and Cultural Memory: Past and Present. In: ­Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Hrsg. von Astrid Erll und Ansgar N ­ ünning in Zusammenarbeit mit Sara B. Young. Berlin, New York 2008, S. 215 – 228, hier S. 218. 41 Foer: Everything is Illuminated, S. 115.

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It appeared that part of him wanted to write everything, every word of what occurred, into his diary. And a part of him refused to write even one word. He opened the diary and closed it, opened and closed it, and it looked as if it wanted to fly away from his hands.42

Obwohl Lista über die Einwohner und alltäg­lichen Vorkommnisse im Shtetl erzählt, scheint Jonathan bezüg­lich seiner Erzählung auf eine Blockade zu ­stoßen, die es ihm nicht mög­lich macht, die Überlieferung in seine literarische Konstruktion aufzunehmen. V Die Diskrepanz zwischen Wahrheit und Suche nach der eigenen Identität

Noch deut­licher wird diese Diskrepanz zwischen der Vorstellung zu einer mög­lichen, überlieferten Erinnerung, die nicht die eigene ist, und der Konfrontation mit dieser, wenn Lista die Gruppe auf das Feld führt, auf dem früher Trachimbrod gestanden hat. Als Lista beginnt, von dem Massaker der Nazis an den Juden des Dorfes zu berichten, weist Jonathan Alex nach einigen Sätzen an, nicht weiter für ihn zu übersetzen, da er nicht weiter zuhören möchte.43 Obwohl die Erinnerung durch Listas Zeugnis greifbar ist, entscheidet sich Jonathan bewusst dafür, sich nicht mit ihr zu konfrontieren. In dieser Situation zeigt sich bei Jonathan und Alex ein sehr unterschied­liches Verhalten, was den Umgang mit Erinnerung und ihrer Literarisierung betrifft.44 Jonathans Schreibprozess stagniert mit seiner Annäherung an die erzählte Erinnerung immer mehr, bis er beschließt, sie nicht einmal mehr aufnehmen zu wollen. Alex hingegen hört Lista zu, stellt während ihrer Erzählung Fragen und schreibt das ganze Gespräch in seinem Manuskript auf, er durchlebt es auf der literarischen Ebene Wort für Wort erneut. Auch wenn es zwischen ihnen unausgesprochen bleibt, sind sich die beiden jungen Männer doch im Klaren darüber, dass die Suche nach der Vergangenheit auch die Suche nach den Geschehnissen des Holocaust und der Rolle ihrer Familien darin bedeutet, und dass diese Geschehnisse sich auf ihre eigene Identität auswirken.45 Auch die Bedeutsamkeit der literarischen Verarbeitung des Themas ist erneut zentral, wenn Alex in seinem Manuskript in das Gespräch mit Lista einen

42 Ebd., S. 154. 43 Vgl. ebd., S. 186. 44 Vgl. Vökler: The presence of memory, S. 6. 45 Vgl. Propst: „Making one Story?“, S. 47.

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Hinweis für den jungen Autor einfügt: „Jonathan, if you still do not want to know the rest, do not read this. But if you do persevere, do not do so for curiosity. That is not a good enough reason.“46 Hier wird eine gewisse Akzeptanz deut­lich, die sich zwischen den beiden jungen Männern entwickelt hat. Zur Definition ihrer jeweiligen Identität auf Basis der gemeinsamen Erinnerung an die Reise erkennen sie die gegen­seitige Verantwortung an, die trotz ihrer Unterschiede aus ihrer Verbundenheit resultiert, „and this acceptance requires to listen to multiple voices.“47 Alex erkennt, dass der Bericht über das Shtetl für Jonathan nicht notwendig aufgenommen werden muss, während er selbst durch ihn motiviert wird. Jonathan sucht zwar nach den Geschehnissen, w ­ elche die schwarzen Flecken in seiner familiären Vergangenheit füllen können, doch die Erzählung Listas ist kein bloßer Bericht der Geschehnisse. Es ist eine sehr subjektive, fokussierte und bild­liche Erinnerung der Grausamkeiten, die den Zuhörer oder Leser in die Lage des Zeugen versetzt.48 „I will tell you what made this story most scary was how rapid it was moving. I do not mean what happened in the story, but how the story was told. I felt that it could not be stopped.“49 Beide Autoren brauchen das Schreiben, um sich ihrer Identität bewusst zu werden. Ihre Erzählungen stellen ein aktives Beschäftigen mit ihrer Vergangenheit dar, das ihnen helfen soll, ihre Identität zu definieren und zu verstehen und dadurch auch die Zukunft deut­licher zu machen.50 Für Alex, dessen Großvater in Bezug auf den Holocaust in die Grauzone zwischen Opfer und Kollaborateur einzuordnen ist,51 scheint die direkte Konfrontation mit Listas Erinnerung an die grausamen Geschehnisse essentiell zu sein, während Jonathan sich bewusst davon distanziert. Im Umgang mit den Eindrücken der Reise und bei der Gestaltung seiner fiktiven Familien­geschichte, in der die Zerstörung des Shtetls und die Ermordung der Bewohner thematisiert werden,52 verlässt er nicht die ma­gisch-realistische Ebene, die er für sich gewählt hat, um mit den unklaren Episoden seiner Herkunft umzugehen. Dort findet sich auch eine Formulierung, die deut­lich macht, wie sich die Erfahrung der Überlieferung für Jonathan gestaltet: „Memory was supposed to fill time,

46 Vgl. Foer: Everything is Illuminated, S. 186. 47 Propst: „Making one Story?“, S. 38. 48 Seiferth: More premium than life, S. 23. 49 Foer: Everything is Illuminated, S. 186. 50 Vgl. Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 156. 51 Vgl. Propst: „Making one Story?“, S. 43 52 Vgl. Foer: Everything is Illuminated, S. 259.

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but it made time a hole to be filled.“53 Die Lücke, ­welche der Holocaust und die daraus resultierende Unzugäng­lichkeit der Erinnerung in der Historie seiner Familie hinterlassen hat, sollte durch die Suche nach Erinnerungen an diese Zeit gefüllt werden. Doch die Erinnerung Listas bringt nicht die erhoffte Erleuchtung der Vergangenheit, sondern bringt Jonathan vielmehr dazu, sich weiter davon zu distanzieren – was natür­lich auch ein bewusster Schritt in der Definition seiner eigenen Identität ist. Alex wiederum nimmt die Erinnerung Listas voll und ganz auf. In seinem Manuskript findet sich ledig­lich eine Anmerkung, die darauf hinweist, dass auch er Modifikationen an der Erzählung vornehmen muss, um damit umzugehen: „,You should have died with the other‘ he said. (I will never allow that to remain in the story.)“54 Diese Einschränkung bezieht sich aber ledig­lich auf eine Aussage seines Großvaters. Auf die Problematik des Wahrheitsbegriffs und seiner Modifikation in Jonathans und Alex’ Manuskripten wird später noch einzugehen sein. Die Konfrontation mit der Erinnerung Listas und ihre konträre literarische Verarbeitung zeigen deut­lich die gewählten Wege der beiden Protagonisten im Umgang mit den Geschehnissen und der Bedeutung dieser für die Erkenntnis ihrer familiären Vergangenheit, die zur Findung ihrer Identität beiträgt. Jonathans Entscheidung, sich von den Geschehnissen auf einer persön­lichen Ebene zu distanzieren und sie literarisch in einer mythenhaften und symbo­ lischen Erzählung zu verschleiern, sollte dabei keineswegs als Flucht oder Verleugnung gesehen werden. Vielmehr zeigt diese Art des Umgangs mit den lebhaften und grausamen Erinnerungen einer Überlebenden des Holocaust eine der Grundproblematiken der nachfolgenden Generationen 55, die auch Lista formuliert: „It is not a thing you can imagine. It only is. After that, there will be no imagining.“56 Auf der gemeinsamen Reise lernen Jonathan und Alex einander kennen. Obwohl die Reise von Jonathan initiiert wurde und er Alex und seinen Großvater als Dolmetscher und Fahrer anstellt, verbindet sie nach der Reise mehr als eine bloße geschäft­liche Beziehung. Sie entwickeln sich im Laufe ihrer Suche zu einer Gruppe, die in mehrerlei Hinsicht ein ‚kollektives Gedächtnis‘ ausbildet.57

53 Ebd., S. 260. 54 Ebd., S. 153. 55 Vgl. Seiferth: More premiun than life, S. 21. 56 Ebd., S. 188. 57 Vgl. Vökler: The presence of memory, S. 8.

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In Alex’ Manuskript wird dies besonders deut­lich. Es ist wichtig, sich in ­diesem Kontext über die Hintergründe bewusst zu sein, aus denen die Prota­gonisten stammen. Alex und Jonathan haben teilweise unterschied­ liche Wissens­stände und Ansichten, was das Bild der Welt betrifft, in der sie leben. Besonders auf historischer Ebene wird dies zu einem Diskussionsthema ­zwischen den beiden, als sie zufällig auf einen historiografischen Konflikt 58 zu sprechen kommen: ,Look it up in the history books.‘ ,It does not say this in the history books.‘ ,Well, that’s the way it was. Ukrainians were known for being terrible to the Jews. So were the Poles. Listen, I don’t mean to offend you. It’s got nothing to do with you. We’re talking about fifty years ago.‘ ,I think you are mistaken.‘ ,I don’t know what to say.‘ ,Say you are mistaken.’ ,I can’t.‘ ,You must.‘59

Die angeeigneten Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs – hier wieder in Bezug auf eine schrift­liche Quelle – unterscheiden sich durch den kulturellen und familiären Hintergrund der beiden. Während für Jonathan der Holocaust eine grundlegende Rolle für die Entwicklung seiner Familie darstellt, erwähnt Alex bei der anfäng­lichen Beschreibung seiner Familie diese Zeit kein einziges Mal. Sie ist für ihn nur ein Kapitel in den Geschichtsbüchern, keine Familienangelegenheit. Hier zeigt sich deut­lich die individuelle Wahrnehmung von Vergangenheit. Der Rahmen zur Rezeption der Geschehnisse ist nicht der gleiche, es kommt also nicht nur darauf an, was erinnert wird, sondern auch darauf, wie es erinnert wird.60 Diese andersartige Geschichtswahrnehmung ist nur einer von vielen kulturellen Unterschieden zwischen den beiden jungen Männern, zwischen dem gebildeten jungen Autor aus den USA, der gezielt nach der Geschichte seiner Familie sucht, und dem proletarischen Russen, der mit mehreren Generationen seiner Familie unter einem Dach lebt. Dennoch wird im Laufe der Reise deut­lich, dass sie beide der gleichen Generation angehören, deren Suche nach

58 Propst: „Making one Story?“, S. 39. 59 Foer: Everything is Illuminated, S. 62. 60 Vgl. Erll: Cultural Memory Studies, S. 7.

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der eigenen Identität unweiger­lich von der Vergangenheit der Vorfahren zu Kriegszeiten geprägt ist. Durch die Reise wird Alex mit derselben Ungewissheit und Unzugäng­lichkeit der Erinnerungen konfrontiert, die Jonathan motivierten, in die Ukraine zu fahren: It was the first occasion that I had ever heard Grandfather speak of his parents, and I wanted to know very much more of them. What did they do during the war? […] But I felt that it was a common decency for me to be quiet on the matter. He would speak when he needed to speak, and until that moment I would persevere silence.61

Über die Vergangenheit wird geschwiegen, nicht nur von der aktiven Erinne­ rungsseite aus, auch Alex als Nachfahre hat das Gefühl, dass es eine Art kultureller Grundsatz ist, darüber zu schweigen. Durch diese fehlende Kommunikation geht etwas Entscheidendes verloren: das ‚kulturelle Gedächtnis‘.62 Dieses prägt über Zeitalter und Generationen hinweg unser Selbstverständnis und hilft dabei, durch Einordnung unserer Selbst Identität zu erlangen.63 ­Jonathan und Alex teilen die Erfahrung der Problematik, w ­ elche das Schweigen nach dem Holocaust für eben d ­ ieses ‚kulturelle Gedächtnis‘ aufwirft – sowohl auf historischer als auch auf familiärer Ebene. Die gemeinsame Suche nach Augustine und die daraus folgende Konfrontation mit dem absoluten Nichts durch ihre Abwesenheit einerseits und dem sehr emotionalen Holocaust­ bericht Listas andererseits eint die beiden Protagonisten und Alex’ Großvater auf einer weiteren Ebene zu einem Kollektiv. Auf ihrer Rückfahrt hat sich zwischen den Männern ein deut­lich übergreifender Bezugsrahmen gebildet. Obwohl sie alle ihre eigene Sichtweise auf die Erlebnisse der Reise haben – Jonathan als Nachfahre einer vertriebenen ­Familie, Alex als junger Ukrainer mit wenig persön­lichem Bezug zur histo­ rischen Vergangenheit des Landes und Alex’ Großvater als Opfer sowie auch als Kollaborateur –, schafft das gemeinsame Erleben der Suche und die Ausein­ andersetzung mit den Zeugnissen dieser Zeit, ­welche Lista ihnen mitgegeben hat, ein gemeinsames Gruppenverständnis. Dieses ist größtenteils beschränkt auf die Zeit der Reise selbst. Der s­ oziale Kader der Gruppe, der sich ausgestaltet hat, verbindet sie auf eine übergeordnete Weise.64 61 Foer: Everything is Illuminated, S. 111. 62 Das kulturelle Gedächtnis besteht aus symbo­lischen, mythenhaften, kulturellen Objektivierungen, die über die Zeit hinweg Werte und Vorstellungen des kulturellen Rahmens transportieren. Vgl. Assmann: Communicative and Cultural Memory, S. 110. 63 Vgl. Assmann: Soziales und kollektives Gedächtnis, S. 2. 64 Vgl. Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 158.

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Deut­lich wird dies etwa durch die sich wiederholende Szene der fallenden Kartoffel. Auf ihrem Weg nach Trachimbrod ist es für Alex und seinen Großvater mehr als befremd­lich, dass Jonathan kein Fleisch isst. Als ihm dann bei Tisch seine Kartoffel auf den dreckigen Restaurantboden fällt, ist dies eine pein­liche und bedrückende Situation für alle am Tisch. Alex’ Großvater hebt die Kartoffel schließ­lich auf seinen Teller und teilt sie unter ihnen auf. Darauf­ hin muss jeder von ihnen lange und laut lachen, „each of us was ­laughing for a different reason, for our own reason, and that not one of those reasons had a thing to do with the potato.“65 Als bei ihrem Besuch in Listas Haus eine Kartoffel auf den Boden fällt, lachen alle drei gemeinsam darüber. Ihre geteilte Erinnerung an d ­ ieses Ereignis und das gemeinsame Wiedererkennen des Motivs führt dazu, dass sie sich diesmal ihrer Zusammengehörigkeit in dieser Konstellation bewusst sind: „[W]hich made us laugh for reasons that a subtle writer does not have to illuminate.“66 In seiner Verschrift­lichung macht Alex deut­lich, dass der Zusammenhang und die geteilte Erfahrung der Gruppe in ­diesem Moment selbstverständ­lich sind. Die zu Boden fallende Kartoffel ist dabei für alle der ‚cue‘, ein Abrufhinweis.67 Durch die gemeinsame Erinnerung entsteht ihre Verbundenheit und daraus entsteht auch eine kollektive Identität.68 Lista hingegen ist in dieser Situation nicht der Gruppe zugehörig, sie hat einen anderen Bezugsrahmen zur Situation, die fallende Kartoffel bringt sie nicht zum Lachen, sondern sie kehrt für längere Zeit ihr Gesicht von den Männern ab. Später in ihrer Erzählung erfahren wir, wieso: „And then the General shot my sister. I could not look at her, but I remember the sound of when she hit the ground. I hear that sound when things hit the ground still. Anything.“69 Listas Erinnerung ist an dieser Stelle eine ganz andere als die der Männer, die ein gemeinsames Erlebnis damit verbinden. Allerdings bedeutet dies nicht, dass sich jeder von ihnen gleich an die Situation erinnert. Sie lachen zwar gemeinsam und jeder von ihnen fühlt sich in ­diesem Moment zu den anderen gehörig, doch die erinnerte Referenzsituation kann für jeden einzelnen mit anderen Inhalten belegt sein, da jeder von ihnen im Restaurant eine andere Wahrnehmung der Situation hatte.70 Im Prozess des Schreibens von Jonathan und Alex und in ihrem Austausch der Manuskripte manifestieren sich die Essenzen der gemeinsamen 65 Foer: Everything is Illuminated, S. 67. 66 Ebd., 149. 67 Vgl. Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, S. 256. 68 Vgl. Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 161. 69 Foer: Everything is Illuminated, S. 186. 70 Vgl. Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, S. 256.

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Erlebnisse und die Suche nach der Antwort auf die sie vereinenden Frage nach Herkunft und Identität. Aus verschiedenen Perspektiven heraus wird das Erlebte wiederholt und besprochen, es entsteht das, was Astrid Erll als ‚soziales Gedächtnis‘71 definiert – die, im Gegensatz zum ‚kulturellen Gedächtnis‘, zeit­lich konkret beschränkte, gemeinsame Erinnerungsbasis einer Gruppe. VI „We are being very nomadic with the truth“ – Schreiben und Selbstdefinition

Die Briefe, die Alex an Jonathan schreibt, sind den beiden literarischen Ebenen des Romans übergeordnet. Sie sind die direkte Reflexion des jungen Ukrainers über die Reise, das Manuskript von Jonathan und seinen eigenen Schreibprozess. Der zentrale Gegenstand in Bezug auf die Verknüpfung von Schreiben und Erinnerung zwischen den beiden ist die bereits erwähnte Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Erinnerung und der Bedeutung des Veränderns eben dieser Wahrheit durch ihre Verschrift­lichung. Die Frage nach Identität und ihrer Kon­ struktion durch das Schreiben wird zum wegweisenden Motiv des Briefwechsels. Jonathans Briefe sind dem Leser nicht bekannt. Doch von Alex erfahren wir viel über seine Sicht auf die Reise und besonders auf den Prozess des Schreibens und dessen Bedeutung, und nicht zuletzt auch über Jonathans Ratschläge und Verbesserungen. Die sprach­liche, geschriebene Ebene hat für die beiden einen besonderen Stellenwert. Zum einen ist Alex’ Eng­lisch sehr holprig und umständ­lich, Jonathan hilft ihm, in seinem Manuskript allzu seltsame Formulierungen zu vermeiden: „[A]s you counseled me to, when my words seem to petite or not befitting.“72 Zum anderen ist der schrift­liche Austausch zwischen den beiden ein besonderes Medium der kulturellen Kommunikation, da er ihnen ermög­licht, sich nicht nur über einen langen Zeitraum, sondern auch über eine weite räum­ liche Distanz hinweg über ihre gemeinsamen Erinnerungen auszutauschen.73 ­Zwischen den Briefen vergeht einige Zeit, es ist kein Austausch bei dem direkt auf den anderen reagiert werden kann. Dies eröffnet die Mög­lichkeit, den Ansichten des anderen (zumindest teilweise) distanzierter und weniger urteilend gegenüberzustehen.74 Hier wird der Schreibprozess erneut zum Werkzeug für die Herausbildung der eigenen Identität, nicht nur durch das eigene Schreiben,

71 Vgl. Assmann: Soziales und kollektives Gedächtnis, S. 2. 72 Foer: Everything is Illuminated, S. 23. 73 Vgl. Erll: Cultural Memory Studies, S. 526. 74 Vgl. Propst: „Making one Story?“, S. 44.

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sondern auch durch die Rezeption des Gegenübers, das wiederum den Schreiber selbst wahrgenommen und rezipiert hat. Besonders Alex benutzt die litera­ rische Ebene, um sich selbst zu definieren.75 So beginnt er auch sein Manuskript, das gleichzeitig das erste Kapitel des Romans ist, mit der Beschreibung seiner Namen, Vorlieben und Liebschaften. Dabei macht er die Beschreibung seiner selbst zu einem notwendigen Bestandteil des Geschehens: „This is where the story begins. But first I am burdened to recite my good appearance.“76 Das Selbstbild, das Alex von sich zeichnet, wirkt von Anfang an durchschaubar in seiner Überzogenheit. In einem späteren Brief erfahren wir, dass Alex’ Frauengeschichten alle erfunden sind.77 Er nutzt seine literarische Verar­ beitung der Geschehnisse, um ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln. Nach außen hin zeigt sich dadurch, wie er sich selbst sehen möchte. Durch den schrift­lichen Austausch mit Jonathan wird jedoch auch seine Außenwahrnehmung durch einen Dritten auf Papier festgehalten und er wird sich der Unterschiede bewusst. Doch auch Jonathans Charakter ist in seinem Manuskript nicht frei von Veränderungen – interessanterweise auf eigenen Wunsch hin: „I have made efforts to make you appear as a person with less anxiety, as you have commanded me to do on so many occasions. This is difficult to achieve, because in truth you are a person with very much anxiety.“78 Auch Jonathan ist sich seines Auftretens bewusst und möchte eine literarische Identität kon­ struieren, die seine tatsäch­lichen Schwächen ablegt. Durch die Reflexion Alex’ wird er mit der Wahrnehmung seiner Person durch andere konfrontiert, die von seinem Wunschbild abweicht. Im Briefwechsel erfahren beide Protagonisten eine Wahrnehmung ihrer selbst durch andere im Kollektiv bezüg­lich der Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit auf literarischer Ebene. Auch dies gehört noch zum Komplex der Herausbildung von und Suche nach der eigenen Identität in Verbindung mit der Vergangenheit. Durch den literarischen Austausch und den beidseitigen Editionsprozess der Manus­ kripte bildet sich eine weitere Besonderheit heraus: Alex und Jonathan teilen nicht nur die kollektive Erinnerung an ihre Reise und die dort gemachten Erfahrungen, auch die literarische Verarbeitung wird zu einem gemeinsamen Prozess. Es ist Alex, der diesen Zusammenhang in seinen Briefen thema­tisiert. Anfangs beschränkt er dies noch auf die rein praktische Ebene, indem er Jonathan anbietet, auch weiterhin für ihn Korrekturen an dessen Manuskript

75 Vgl. Vökler: The presence of memory, S. 9. 76 Foer: Everything is Illuminated, S. 3. 77 Vgl. ebd., S. 144. 78 Ebd., S. 142.

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vorzunehmen. Er kommentiert seine Hilfe: „But do not be d ­ istressed. I will not require that my name is on the cover. You can pretend that it is only yours.“ 79 Die Wahl des Wortes ‚pretend‘ weist hier deut­lich auf die Verbundenheit hin, die Alex in der literarischen Ebene sieht. Es ist zwar Jonathans Text, doch er sieht sich als produktiven Teil davon – und auch Jonathan akzeptiert diese Verbundenheit.80 Der Schreibprozess ist hier nicht auf eine singuläre Person beschränkt, sondern weitet sich als kollektive literarische Verarbeitung der gemeinsamen Erinnerungen auf Alex aus. Genauso sind jedoch auch J­ onathans Einfluss und seine Sichtweise der Dinge in Alex’ Manuskript enthalten, er schreibt ganze Passagen für Alex um, und dieser nimmt sie auf, womit er sich wiederum einer erweiterten Version seiner Identität zuwendet: „I can not say that I brooded those things, but I can say that I would covet to be the variety of person to have brooded those things. They were very beautiful, Jonathan, and I felt them as true.“81 Alex übernimmt Jonathans Worte und Sichtweise der Dinge, da sie sich für ihn richtig und wahr anfühlen. Ihm ist bewusst, dass sein literarisches Schaffen dadurch von Jonathan auf eine extreme Weise beeinflusst wird, doch er nimmt es wie einen Teil von sich auf, zusammen mit der Vorstellung des Schriftstellers, der er gerne wäre. In der Entwicklung des Romans geht diese Verschmelzung der Identitäten weiter in die Tiefe und über die rein korrigierende Ebene hinaus. Mit dem Voran­schreiten der Zeit wird der Briefwechsel der beiden jungen Männer thema­tisch intensiver und fünf Monate nach Beginn ihres Austauschs bittet Alex darum, dass sie die Manuskripte nicht mehr gegenseitig korrigieren. Diese Abwendung von Beurteilung und subjektiver Einordnung von Bedeutungen durch eine einzelne Person 82 ist eine entscheidende Stelle in der Entwicklung des Motivzusammenhangs von Schreiben, Erinnerung und Identität. Let us not praise or reproach. Let us not judge at all. We are outside of that already. We are talking now, Jonathan, together, and not apart. We are with each other, working on the same story, and I am certain that you can also feel it. Do you know that I am the Gypsy girl and you are Safran, and that I am Kolker and you are Brod, and that I am your grandmother and you are Grandfather, and that I am Alex and you are you, and that I am you and you are me?83

79 Ebd., S. 104. 80 Vgl. „Propst: Making one Story?“, S. 46. 81 Foer: Everything is Illuminated, S. 24. 82 Vgl. Seiferth: More premium than life, S. 25. 83 Foer: Everything is Illuminated, S. 214.

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Die Perspektiven auf die gemeinsamen Erlebnisse und die damit einhergehende Reflexion der Vergangenheit sollen nicht mehr korrigiert oder bewertet ­werden. Vielmehr ergibt sich daraus eine gemeinsame literarische Konstruktion der Vergangenheit, die durch ein komplexes Montageprinzip von Gedächtnisnarrativen, die auf den gemeinsamen Erinnerungen basieren, zu einem geteilten Bild der kollektiven Identität wird.84 Alex sieht sich und Jonathan in jeder der Figuren in Jonathans ma­gisch-realistischem Narrativ, genauso wie sie beide in seinem Manuskript präsent sind. Durch die Bemerkung, dass Jonathan auch Alex’ Großvater sei und er selbst wiederum Jonathans Großmutter, wird der historische und generationenübergreifende Gedanke dieser Idee deut­lich. Es geht um das große Ganze, um alle Prozesse, die Jonathan und Alex zu den Menschen gemacht haben, die sie sind, um jedes historische und private Ereignis, das in ihnen als Teil der kulturellen Erinnerungen verankert ist.85 Das ‚kollektive Gedächtnis‘ und die gemeinsame Reflexion führen erst zu einem kollektiven Schreibprozess und dann zu der Gestaltung einer kollektiven Identität, die über alle Ebenen hinausgeht. Allerdings birgt diese geteilte Identität auch hohes Konfliktpotenzial, denn Alex und Jonathan haben jeweils ihre eigenen Vorstellungen davon, warum sie schreiben und was ihre literarischen Prozesse für sie selbst bedeuten. Im Mittelpunkt ­dieses Konflikts steht die Frage nach der Wahrheit. Alex äußert mehrfach sehr deut­lich, worin er für sich und seine familiäre historische Vergangenheit den Sinn seiner literarischen Prozesse sieht: „With writing, we have second chances.“86 Sowohl die Literatur, die er selbst verfasst, als auch Jonathans Werk sind identitätsbildend für Alex. Sie machen ihn zwar nicht zu dem, was er auf diesen Ebenen ist, doch sie geben ihm ein Bild davon, wer er sein möchte und an ­welchen Punkten er eben dies nicht ist. Doch diese Modifizierungen von Alex verhindern auf eine gewisse Weise auch, dass er sich ehr­lich mit seiner Vergangenheit und ihrer Bedeutung für ihn und seine Familie auseinandersetzt – dabei wäre auf psychoanalytischer Ebene grade dies notwendig, um ihn dazu zu bringen, seine negative Selbstwahrnehmung in Akzeptanz seiner Selbst umzuwandeln, was notwendig zur tatsäch­lichen Definition seiner Identität ist.87 Die Unwahrheiten über sich, die Alex in seine Geschichte einbindet, erhält er auch in der Realität gegenüber seiner Familie seit langer Zeit aufrecht. „I think

84 Vgl. Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 64. 85 Vgl. Propst: „Making one Story?“, S. 38. 86 Foer: Everything is Illuminated, S. 144. 87 Vgl. Straub: Psychology, Narrative and Cultural Memory, S. 217.

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I manufacture these non-truths cause it makes me feel like a premium person. […] It makes it possible for me to be not like I am, but as I desire for Little Igor to see me.“88 Den gleichen Anspruch stellt er auch an Jonathan, der nach der Reise zwar eine fiktionale Geschichte schreibt, die jedoch in ihrer Symbolik und ihrer Bedeutung für Jonathan aus den Erfahrungen der Reise resultiert: „I beseech you to forgive us and to make us better than we are. Make us good.“89 Hier zeigt sich das deut­lich übergeordnete Verständnis einer ‚kulturellen Identität‘90. Wenn Alex darum bittet, dass Jonathan ‚us‘ besser machen soll, dann spricht er von sich und seinem Großvater, stellvertretend für die U ­ krainer zu Zeiten des Holocaust und seiner eigenen Generation, da er sich nun als Teil von beidem fühlt. Er sucht in der literarischen Verarbeitung der Reise nach Vergebung für etwas, das sein Volk vor vielen Jahren getan hat, und er sucht diese bei einem Nachkommen derer, die darunter leiden mussten. Doch ­Jonathan hat einen anderen Anspruch an seine literarische Verarbeitung der Reise. Die erfundene Lebensgeschichte seines Großvaters, der viele Affären hat und einige fragwürdige Entscheidungen trifft, versetzt Alex in eine regelrechte Empörung: „How can you do this to your grandfather, writing about his life in such a manner? Could you write in this manner if he was alive? And if not, what does that signify?“91 Die Entscheidung dazu, keinen seiner Vorfahren in seiner fiktiven Familien­ geschichte glück­lich werden zu lassen, obwohl er selbst die volle Freiheit des literarischen Schaffens besitzt, ist für Alex unverständ­lich.92 Es wirkt, als würde er Jonathan eine Art Schuld dafür zuweisen, dass er die Gelegenheit nicht nutzt, die Dinge besser zu machen. Jonathan schreibt keine auf Überlieferungen beruhende Familienhistorie, er erfindet seine eigene Familiengeschichte, um die nicht verfügbaren Erinnerungen zu ersetzen.93 Dennoch nutzt er dies nicht dazu, um Geschehnisse einzubinden, die seine Geschichte „more premium than life“94 machen. In Alex’ Augen spricht ihm das sogar

88 Foer: Everything is Illuminated, S. 144. 89 Ebd., S. 145. 90 Durch das kulturelle Gedächtnis entsteht eine identifikatorisch besetzte Rezeption der Gegenstände; der daraus resultierende Wissensvorrat zeichnet deut­liche Grenzen, was nach Assmann mit dem Gefühl der Zugehörigkeit verbunden ist. Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. Von Jan Assmann und Toni Hölscher. Frankfurt am Main 1988, S. 13. 91 Foer: Everyhing is Illuminated, S. 145. 92 Vgl. Seiferth: More premiun than life, S. 48. 93 Vgl. Propst: „Making one Story?“, S. 47. 94 Foer: Everything is Illuminated, S. 145.

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den Sinn des tatsäch­lichen Schreibens ab, er ist überzeugt von der Pflicht des Autors, seine literarische Macht zu n ­ utzen und die verschrift­lichte Welt zu einer besseren zu machen, als es die reale ist: „It is true, I am certain, that you will write very many books more than I will, but it is me, not you, who was born to be the writer.“95 Jonathans Antworten dazu sind nicht bekannt. Doch fließt die Familien­ geschichte weiter, und keines der Vorkommnisse bringt die gewünschte Besserung. Alex, der eigent­lich darum gebeten hatte, nicht mehr das gegenseitige literarische Schaffen zu kommentieren, wird geradezu wütend auf Jonathan. „Who is ordering you to write in such a manner? We have such chances to do good, and yet again and again you insist on evil.“96 Doch auch wenn Jonathan seine Familiengeschichte nicht auf der einzig greifbaren, aber grausamen Erinnerung des Holocaust basieren lassen möchte, so zeigen seine Ausführungen doch, dass er keine gänz­lich andere literarische Welt schaffen möchte.97 So fantastisch und unrealistisch seine Konstruktion der Geschichte des Shtetls auch sein mag, die Leitlinien der Realität bleiben erhalten. Auch das literarische Trachimbrod wird am Ende zerstört und seine Bewohner finden den Tod. Die literarische Vergebung, um die Alex ihn bittet, wird ebenfalls nicht gestattet. Vielmehr wird die historische Konstellation von Opfern und Tätern beibehalten.98 Jonathans Anspruch an die Verarbeitung der Suche nach seiner Identität durch die Reise in die Ukraine ist nicht die detaillierte Aufarbeitung des tatsäch­lichen Schicksals seiner Familie, aber genau so wenig möchte er eine gänz­lich losgelöste Handlung mit mög­lichst gutem Ausgang definieren.

95 Ebd. 96 Ebd., S. 240. 97 Vgl. Seiferth: More premium than life, S. 24. 98 Vgl. Propst: „Making one Story?“, S. 41.

Sascha Tuchardt

Erinnerung und Reproduktion von Gewalt in Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen und Die Ausgesperrten Elfriede Jelineks Romane handeln von sozialen Gefügen – Paaren, Familien, Eltern und Kindern –, die geprägt sind von Gewalt, Macht und Hierarchie. Im Folgenden wird gezeigt werden, in welchem Verhältnis Gewalt in Elfriede Jelineks Romanen Die Liebhaberinnen (1975) und Die Ausgesperrten (1980) zu Verdrängung und Erinnerung steht und welches Potenzial die Texte für die extratextuelle Erinnerungskultur besitzen. Im Mittelpunkt von Die Liebhaberinnen – Elfriede Jelineks Durchbruch und bereits mit sehr gemischten Reaktionen aufgenommen 1 – stehen die zwei Geschichten der jungen Frauen Brigitte und Paula, die beide jeweils versuchen, einen Mann an sich zu binden. Beide Handlungsstränge sind auf unterschied­ liche Weise geprägt von Gewalt und Hass. So wird in einem Handlungsstrang die 15-jährige Paula von ihrer Mutter traktiert, weil diese es nicht akzeptiert, dass die Tochter einen Beruf erlernen möchte. Sie sieht nicht ein, weshalb ihre Tochter es „besser haben“ solle als sie selbst, die „nie etwas besseres“ gewesen sei als ihre Mutter und deren Vater sie „erschlagen“ 2 hätte: Die Ablehnung der Mutter gegen die Ausbildung ist darin begründet, dass sie selbst keine machen durfte, da ihr Vater dagegen gewesen wäre, denn sie habe, wie es hier weiter heißt, der „mutta helfen und ihn bedienen“3 müssen. Dem setzt sie kurz darauf die Aussicht entgegen, dass sie, der Vater und der Bruder Paula „einmal wirk­lich das kreuz brechen [werden]“4. Als die Tochter vom Nachbarsjungen Erich schwanger wird, steigert das die Gewalt noch beträcht­lich. Explizit schildert der Text die Grausamkeit, mit der sowohl die Mutter als auch der Vater der schwangeren Tochter begegnen, deren Kopf „nur mehr an einem faden [hängt]“ und die „kaum einen heilen fleck am werdendemutterkörper [hat]“5. Die Mutter habe schon ihren Mann gehasst, „wegen der kinder in ihrem bauch, 1 Vgl. Janz, Marlies: Elfriede Jelinek. Stuttgart, Weimar 1995, S. 21. 2 Jelinek, Elfriede: Die Liebhaberinnen. Roman. Lizenzausgabe. Berlin 1978, S. 20. Die konsequente Kleinschreibung des Originaltexts wird übernommen. 3 Ebd., S. 20. 4 Ebd., S. 20 f. 5 Ebd., S. 116.

Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen und Die Ausgesperrten 231

wegen der mehrarbeit und dem ekelhaften geburtsvorgang, hat auch schon viele male die kinder in ihrem bauch und später die kinder außerhalb ihres ­bauches gehaßt“6, heißt es. Folg­lich richten sich Hass und Gewalt auch nicht nur gegen Paula, sondern ebenso gegen das ungeborene Kind. Mit „gute[r] kochendheiße[r] seifen­lauge aus guten sauberen bunten waschmittelpaketen mit viel gutem gift drinnen“7 versuchen Paulas Eltern gegen den Willen der Tochter, das Kind abzutreiben, was nicht gelingt.8 Diese „versuchte abtötung“ wird hier direkt verbunden mit der „abtötung von vatta und mutta“, die „vor vielen jahren schon erfolgt [ist]“9, was die Tat am Kind auf eine Tat oder Taten bezieht, die an den Eltern verübt worden sind. Weiter heißt es an dieser Stelle im Text: „viele enttäuschte leben und hoffnungen rächen sich nun gleichzeitig an paula“10, was bild­lich die Problematik des Abreagierens des eigenen Leids am Unterlegenen zusammenfasst. Die familiale Gewalt ist markiert als Folge etablierter Gewaltstrukturen der Vorfahren. Des Weiteren ist dies auch angelegt in Erichs Familie, die ihn als „produktives eigentum“ betrachtet, Paula vorwirft, seine „arbeitskraft sicher für ihre eignen dreckigen ziele ausbeuten [zu wollen], für ein häuserl, ein kinderl, ein paar kinderl und ein auto“ und ihren Kontakt zum Sohn rigoros und „schichtweise“11 unterbindet. Auch Erich wird von seinen – ihm hierarchisch überlegenen – Angehörigen ausgenutzt, unterdrückt und misshandelt. So heißt es an anderer Stelle: erich ist etwas wie paulas vater oder paulas bruder oder paulas schwager, etwas, das prügel austeilt und sich besäuft, wenn er bis jetzt auch kaum gelegenheit dazu gehabt hatte, weil er bisher selber nur geprügelt worden ist; wenn er aber jetzt bald eine gelegenheit dazu bekommen wird, eine frau näm­lich, was er noch nicht weiß.12

Die Gewalt, die Erich von seinen Mitmenschen erfährt, wird in der Ehe mit Paula also auch in ihm auslösen, selber Gewalt anzutun, indem er vom Unterdrückten zum Unterdrücker wird, denn „prügeln macht spaß, was erich noch nicht weiß.“13 6 Ebd., S. 115. 7 Ebd., S. 118. 8 Vgl. ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 95. 12 Ebd., S. 62. 13 Ebd.

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In einem zentralen Moment realisiert Erich, dass Paula „von ihm ABHÄNGIG“ und „ihm in gewisser weise AUSGELIEFERT“14 ist. Dass er aber nicht nur das bloße Gefühl, überlegen zu sein, mag, wird schon vorher klar, als es heißt, er traue sich nicht, die gewalttätigen Eltern zu erschlagen, würde aber „statt dessen ein hundchen, eine katze oder kleinkind […] quälen, wenn es niemand sieht.“15 Ein weiteres Mal ist im Text ein Kausalitätszusammenhang zwischen elter­licher Gewalt am Kind und der Gewalt des Kindes an Unterlegenen etabliert. Die Beziehung der beiden ist im Rest des Romans wiederholt charakterisiert als ehe­liches Machtverhältnis, in welchem Erich über Paula bestimmt und es auskostet, „end­lich macht über einen menschen [zu haben]“16. Paula hingegen scheint eine Entwicklung durchzumachen, die sie in eine Reihe mit den rest­lichen Frauenfiguren des Romans stellt, denn „es ist keineswegs liebe in paula. wenn etwas in paula ist, dann ist es der haß, der wächst und wächst.“17 Hass steht hier stellvertretend für das ungeborene Kind und ist also als dieselbe Art Hass markiert, die auch schon Paulas Mutter empfindet. Dass dieser aber ein gemachter Hass, also nicht etwa in Paula selbst veranlagt ist, wird direkt hinterhergeschoben, wenn es heißt, „diese gefühle [seien] nicht von selber in sie hineingekommen, da haben einige schwer dran arbeiten müssen.“18 In einer bitteren Pointe legt der Text hier an, dass Paula – bisher ausschließ­lich Opfer von Familie und Ehemann – in der eigenen Rolle als Mutter und damit als dem Kind Überlegene, selbst zur Täterin werden wird. Der zweite Erzählstrang handelt von Brigitte, die als Näherin in einer Fabrik für Büstenhalter arbeitet, aber hofft, „daß sie einmal durch heirat und kindesgeburt ausscheiden wird.“19 Jelineks Erzählinstanz lässt keinen Zweifel daran, dass ein Leben außerhalb der Institution der konventionellen Ehe für Brigitte nicht infrage kommt, dass jede Alternative zur Heirat und Aufgabe des Berufes ihr Tod wäre.20 Dass das Konzept ‚Liebe‘ in ­diesem Zusammenhang einen rein praktischen Nutzen hat, wird deut­lich, wenn es heißt, Brigitte müsse „heinz davon überzeugen, daß die liebe auch von seiner seite her kommt“21. Jelinek

14 Vgl. ebd., S. 126. Hervorhebungen stammen, wie auch im Rest des Aufsatzes, aus dem Originaltext. 15 Ebd., S. 108. 16 Vgl. ebd., S. 159, 177. 17 Ebd., S. 128. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 10. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd., S. 11.

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stellt die Situation nicht nur unromantisch dar, sondern reduziert die Hoffnung Brigittes, von Heinz geheiratet zu werden, auf die Aussicht, dass von ihm für sie (materiell) „angeschafft“ 22 wird. Brigid Haines hat unter Bezug auf Theo­ rien Luce Irigarays herausgearbeitet, dass der Roman deren These bestätige, das Patriarchat fuße auf dem „Tausch von Frauen“23. An ­diesem Punkt muss aber festgestellt werden, dass der Mann bei Jelinek eine passive Rolle spielt. Brigittes vehemente Beteuerungen, Heinz zu lieben und zu brauchen 24, werden in ­diesem Zusammenhang entlarvt, weil speziell das „Brauchen“ eine zweite Bedeutungsebene erhält, näm­lich die wirtschaft­liche, da Brigitte den Mann nicht emotional braucht, sondern zum sozialen Aufstieg – Jelinek „relativiert“, so Rosemarie Zeller, den „romantischen Diskurs von der großen und einzigen Liebe“, indem sie die wirtschaft­lichen Interessen der Figuren betont und die „Liebe als Geschäft“ 25 entlarvt.26 Marlies Janz schreibt, der Roman zeige die „Chancenlosigkeit von Frauen aus der Arbeiterklasse“27 auf, die privat wie beruf­lich nur ihre Körper vermarkten können.28 In ­diesem Zusammenhang ist aber gerade der Zynismus des Textes zu bemerken, wenn Brigitte als aktiver und aggressiver Faktor in der Beziehung zu Heinz dargestellt wird. Besonders deut­lich wird dies in den sexuellen Szenen zwischen den beiden, die für das Erreichen von Brigittes Ziel von essenzieller Bedeutung sind. So heißt es einmal, Brigittes Vagina „schnapp[e]“ gierig „nach dem jungen unternehmer“ und später, Brigitte „pflanz[e] sich hin und heinz auf sich drauf “, dass sie beide Hände frei haben müsse, um Heinz „festhalten zu können, um nicht loslassen zu müssen, um schön angefüllt zu werden.“29 Sie ist die treibende Kraft, die berechnet, den sozialen Aufstieg nur erreichen zu können, indem sie von Heinz schwanger und geheiratet wird.30 Rosmarie Zeller hat gezeigt, dass der Roman in hohem Maß satirisch ist, und

22 Ebd. 23 Vgl. Haines, Brigid: Beyond Patriarchy. Marxism, Feminism, and Elfriede Jelinek’s Die Liebhaberinnen. In: The Modern Language Review Vol. 92 (1997), H. 3. S. 643 – 655, hier S. 646. (Übersetzung Sascha Tuchardt) 24 Vgl. Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 26 25 Zeller, Rosmarie: Sprachspielerei, Kalauer, K­lischees, Intertextualität als Mittel der Satire. Elfriede Jelineks Romane. In: Österreich (1945 – 2000). Das Land der Satire. Hrsg. v. Jeanne Benay und Gerald Stieg. Bern et al. 2002. S. 183 – 206, hier S. 188. 26 Vgl. ebd. 27 Janz: Elfriede Jelinek, S. 23. 28 Vgl. ebd. 29 Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 67, 131. 30 Vgl. Janz: Elfriede Jelinek, S. 23.

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darauf hingewiesen, dass Brigittes „gnadenlose jagd“31 auf Heinz, wie auch schon der Romantitel „mit der ungewöhn­lichen femininen Form des Wortes ‚Liebhaber‘“, auf ein „Prinzip der Umkehrung“32 hinweist, indem es eben die Frau ist, die als sexuelle Eroberin des Mannes dargestellt wird, ­welche Sexualität ledig­lich zur Vermehrung des Besitzes nutzt.33 Außerdem sei hier daran erinnert, dass Brigitte möchte, dass für sie von Heinz „angeschafft“ wird, was analog die Rollen von Prostituierter und Zuhälter umkehrt. Wiederholt führt Jelinek gesellschaft­lich anerkannte Vorstellungen und Bilder vor. Der Hoffnung auf eine Ehe mit Heinz stellt Jelinek aber auch durchweg den Hass gegenüber, den Brigitte für ihren Partner empfindet. So heißt es beispielsweise: „es ist unglaub­lich, wie sehr man jemand hassen kann. brigitte braucht heinz nur anzuschauen und schon haßt sie ihn wieder.“34 Beim bloßen Gefühl des Hasses bleibt es nicht. Im Text finden sich auch Gewaltfantasien Brigittes, die stets im Zusammenhang mit Heinz und dem angestrebten gemeinsamen Eheleben stehen. Vom kurzen Gedanken, ihm während des Geschlechtsverkehrs „in die weichen zu treten wie einem pferd“35, steigert sich Brigittes Aggression dahin, dass sie sich vorstellt, sie könne „statt ihrer möse zum beispiel einen sack hinhalten, in dem innen lauter lange stacheln sind.“36 Der Text benennt das Problem Brigittes deut­lich: Der Sex mit Heinz ekele sie an, doch sie denke überhaupt nicht an die Mög­lichkeit, sich ihm zu widersetzen.37 Wenn Brigitte an anderer Stelle beteuert, ein Kind – das „ergebnis ihrer großen liebe“ – im Gegensatz zu Heinz sofort lieben zu können, da sie als Frau „mit babies viel anfangen kann“38, sind das erneut leere Phrasen und medial vermittelte Stereotype. Diese werden nicht nur ironisiert, da die Beziehung, wie bereits ausgeführt, eher durch Hass als durch Liebe gekennzeichnet ist, sondern auch von der Erzählinstanz als Lügen offenbart, denn „in wirk­lichkeit ekelt sich brigitte vor säuglingen.“39 Es folgt eine Passage, die deut­lich macht, dass Brigitte nicht nur ihren zukünftigen Ehemann hasst, sondern auch den gemeinsamen Nachwuchs:

31 Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 87. 32 Zeller: Sprachspielerei, Kalauer, K­lischees, Intertextualität als Mittel der Satire, S. 187. 33 Vgl. ebd., S. 187 f. 34 Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 64. 35 Ebd., S. 57. 36 Ebd., S. 66. 37 Vgl. ebd. 38 Ebd., S. 40. 39 Ebd., S. 41.

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in wirk­lichkeit würde sie ihnen am liebsten die zarten fingerknöchelchen brechen, die hilflosen kleinen zehen mit bambussplittern spicken und der frischangekommenen hauptperson einen dreckigen fetzen statt des geliebten nuckelschnullers ins maul stecken, damit sie end­lich einmal erfährt, was richtig schreien heißt.40

Hier ist neben der expliziten, imaginären Gewalt die Motivation bemerkenswert, ­welche am Ende des Zitats offenbar wird und in deut­licher Nähe zum Erzählstrang um Paula steht. Die Gewalttaten am Säugling werden verbunden mit dem Leiden der Mutter, die dem Kind zeigen möchte, „was richtig schreien heißt“. Der eigene Schmerz soll also auch hier an den Nachwuchs weitergegeben werden, der richtiges Leiden – das Leiden der Mutter – kennenlernen soll. Die bereits ausgeführten Aspekte des Romans sind in der Forschung im Zusammenhang mit dem Marxistischen Feminismus diskutiert w ­ orden. Während der Marxismus laut Haines ausführ­lich und überzeugend die Wirkungsweisen des Kapitalismus und zu einem gewissen Grad auch die Rolle der Frau im selbigen erkläre, liefere er kaum Erkenntnisse bezüg­lich des Ursprungs der Unterdrückung von Frauen. Dem Feminismus werde andererseits vorgeworfen, zu Ahistorizität und zum Essentialismus zu neigen.41 Der Marxistische Feminismus stellt eine entsprechende Symbiose dar. Nach Haines werde der Kapitalismus als System von Tauschbeziehungen und Machtverhältnissen – also als bestimmt von Warenwert und Ausbeutung – begriffen. Das Kapital spiele daher die vorderste Rolle in der Unterdrückung von Frauen als Arbeiterinnen, die Männer eine untergeordnete Rolle als sekundäre Unterdrücker.42 Rosemarie Tong hat als entscheidendes Merkmal des Marxistischen Feminismus ausgemacht, dass Frauen ermutigt werden sollten, ihre Unterdrückung, anstatt als Resultat bewusster Handlungen von Personen, als Produkt des Kapitalismus und seiner politischen, ­sozialen und ökonomischen Strukturen zu verstehen.43 Hieraus ergeben sich zwei Proble­matiken: der politische Komplex bezüg­lich des Kapitals und der feminis­tische bezüg­lich der Unterdrückung durch Männer. Elfriede Jelinek selbst hat die Ansicht geäußert, dass beide Komplexe nicht voneinander zu 40 Ebd. 41 Vgl. Haines: Beyond Patriarchy, S. 643. 42 Vgl. DeMerrit, Linda C.: A „Healthier Marriage“: Elfriede Jelinek’s Marxist Feminism in Die Klavierspielerin and Lust. In: Elfriede Jelinek. Framed by Language. Hrsg. v. Jorun B. Johns und Katherine Arens. Riverside 1994. S. 107 – 128, hier S. 107. 43 Vgl. Tong, Rosemarie: Feminist Thought. A Comprehensive Introduction. Boulder 1989, S. 39.

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trennen seien, der „politische Kampf [aber] Vorrang [habe], der Kampf aller Unterdrückten, ob Männer oder Frauen.“44 Indem sie den politischen Aspekt in den Vordergrund stelle, zeige sie – so Linda C. DeMerrit – die Brutalität ihrer männ­lichen Figuren gegenüber den weib­lichen als Symptom eines größeren Problems.45 Das ist in Die Liebhaberinnen unter anderem deut­ lich anhand des eingangs diskutierten Aspekts zu beobachten. Paulas Vater und Bruder sind Opfer der Ausbeutung durch den Kapitalismus, wie auch die weib­lichen Verwandten. Doch die Frustration und Wut, die aus ihrer Situation und der „dreckige[n] schwere[n] Arbeit“46 entstehen, richten sie auf Ehefrau und Tochter, die ihnen in der familiären Hierarchie unterstellt, schwächer und von ihnen abhängig sind.47 Die Frauen wiederum werden selbst zu Unterdrückerinnen und Täterinnen, wenn sie Gewalt über Unterlegene haben. Der Roman zeigt unterdrückte und misshandelte genauso wie unterdrückende und misshandelnde Frauen und mit Paula und Brigitte zwei Figuren, die bewusst in die ehe­liche Abhängigkeit drängen. Dies dürfte ein Grund sein, weshalb der Roman 1975 von der weib­lichen Leserschaft nicht mit dem Enthusiasmus aufgenommen worden ist, den andere Vertreter der damals „neuen Frauenbewegung im deutschsprachigen Bereich“ genossen haben, ­welche allerdings von Janz als „autobiographische Bekenntnis- und Geständnisliteratur“48 charakterisiert werden.49 Sowohl Paula als auch Brigitte sind stark geprägt von den Medien und den durch diese vermittelten Bilder der Liebe. Wenn Brigitte an einer Stelle ihre Liebe zu Heinz beteuert, dann heißt es, sie sage es „in der art ihrer lieblinge von film, funk, fernsehen und schallplatte“50, und Paula erfährt „meistens durch illustrierte hefte […] wie das zwischen männern und frauen vor sich geht.“51 Doch nur Brigitte folgt den Diskursen der Medien, die sie Heinz gegenüber gekonnt einzusetzen vermag, während Paula gegen sie verstößt.52 So heißt es, Paula wäre „nicht auf die bahn gekommen, die ihr untergang sein sollte“,

44 Münchner Literaturarbeitskreis: Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Mamas Pfirsiche. Frauen und Literatur (1978), H. 9/10. S. 170 – 181, hier S. 175. 45 Vgl. DeMerrit: A „Healthier Marriage“, S. 108. 46 Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 22. 47 Vgl. ebd., S. 110. 48 Janz: Elfriede Jelinek, S. 21. 49 Vgl. ebd. 50 Jelinek: Die Liebhaberinnen., S. 30. 51 Ebd., S. 33. 52 Vgl. Zeller: Sprachspielerei, Kalauer, K­lischees, Intertextualität als Mittel der Satire, S. 192.

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wenn sie „im sinne des fortsetzungsromans vernünftig geblieben wäre.“53 Beide Frauen benutzen, wie Annette Doll ausführt, Bilder aus den Medien, die sie „als Ausdruck individueller Empfindungen missverstehen“, um „ihre innere und äußere Welt zu gestalten“54. So hat Paula „einmal über bestimmte männer gelesen, die in einer gewohnten umgebung wie die panther in einem dschungel gewirkt haben“ und bezieht dies auf ihr Gegenüber: „wenn aber einer das [sein] könnte, dann erich, der panther.“55 Sie adaptiere, so Doll, ein „Wirk­ lichkeitsmuster“56, das sie fälsch­licherweise als Individualgeschichte verstehe.57 Dieser Prozess wird dem Leser durch Allegorien sichtbar gemacht, die statt mit der Metapher mit der Metonymie verbunden sind.58 Alexander von ­Bormann bezeichnet als Metonymie „eine künstlerische Bilddarstellung, in der das Dargestellte wört­lich/wirk­lich und zeichenhaft zugleich gemeint ist, wobei der Übergang von realer/realistischer zu zeichenhafter Bedeutung einsehbar/ nachvollziehbar gehalten wird“59 und verweist als Beispiel auf die Textstelle im Roman, an der es heißt: „paula […] bittet die liebe sofort herein und schenkt ihr eine gute tasse kaffee ein und legt ein großes stück kuchen dazu.“60 Dem Leser ist laut Bormann offensicht­lich, dass es sich bei der „liebe“ um Erich handelt. Für die Protagonisten sind „Abstraktion und Konkretheit identisch“, was der Leser durch die „Metonymisierung der Allegorie“61 nachvollzieht. Der Text lenkt den Blick des Rezipienten also auf den Medienkonsum der Figuren, welcher diese dahin gehend beeinflusst, aktiv Beziehungen einzugehen, die von Gewalt geprägt sind und sie zwangsläufig zur Unterwerfung führen, was zur steten Wiederholung und Weitergabe von Leid und Gewalt führt. Im Sinne von Paul Ricœurs dreistufigem Mimesis-Modell ist in diesen Passagen auffällig, wie Jelineks Text auf der extraliterarischen Realität und deren Kultur fußt, die ausgewählten Elemente und Referenzen auf der Textebene aber auf ganz spezielle Weise zusammenfügt, sodass bei der Rezeption ein angestrebter Effekt

53 Jalinek: Die Liebhaberinnen, S. 180. 54 Doll, Annette: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. Eine Untersuchung ihrer literarischen Intentionen. Stuttgart 1994, S. 130. 55 Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 49. 56 Doll, Annette: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek, S. 130. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. Bormann, Alexander von: Dialektik ohne Trost. Zur Stilform im Roman Die Liebhaberinnen. In: Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Hrsg. v. Christa Gürtler. Frankfurt (Main) 1990. S 56 – 74, hier S. 68. 59 Ebd. 60 Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 45. 61 Doll: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek, S. 130.

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erzielt wird, die Interpretation des Textes also idealerweise zu Erkenntnissen bezüg­lich der Realität des Lesers führt.62 Ein Kreislauf von familialer Gewalt ist auch in Die Ausgesperrten zu finden. Der Roman handelt von einer Gruppe krimineller Jugend­licher, deren Anführer die Zwillinge Rainer und Anna Witkowski sind. Den Kern macht die Familie Witkowski aus, deren Vater im Zweiten Weltkrieg Offizier bei der SS gewesen ist und die am Ende brutal von Rainer ermordet wird. Wie im Vorgänger-Roman zeigt Die Ausgesperrten einen gewalttätigen Familienalltag. Vor allem der Vater schlägt sowohl seine Frau als auch die gemeinsamen Kinder.63 Anders als in Die Liebhaberinnen ist diese alltäg­liche familiale Gewalt aber die Fortführung der Verbrechen des Vaters im Krieg. So heißt es zum Beispiel, die Prügel hätten „angeb­lich auf den Tag genau, als der Weltkrieg verloren war [begonnen], denn vorher prügelte der Vater fremde Menschen in wechselnder Gestalt und Form, jetzt hat er dafür nur immer die Gestalten von Mutter und Kindern.“ 64 Die Gewalt, die der Vater im Krieg ausübte, hat also mit dem Ende des Krieges nicht aufgehört, sondern sich in den privaten Raum der Familie verlagert.65 Damit stellt Jelinek die Gewalt hier in einen dezidiert historischen Zusammenhang. Konsequenterweise ist das Geschehen – anders als in dem vorher beschriebenen Roman – direkt im ersten Satz konkret im Wien der späten fünfziger Jahre angesiedelt.66 Weiter sind die Taten des Vaters in Verbindung mit seinen Kriegserfahrungen zu bringen; so zwingt Herr Witkowski 67 die Ehefrau unter andauernden Beschimpfungen zu Nacktaufnahmen, für die sie „angstvolle“ Gesichtsausdrücke machen soll, weil das Brechen von Widerständen „immer besonders geil“ sei und er im Krieg auch „oft Widerstände gebrochen und zahlreiche Personen rein persön­lich liquidiert“68 habe.69 Dass er Zustände 62 Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band 1: Zeit und historische Erzählung. ­München 1988, S. 88, 90 f, 94, 122, 126 f. 63 Vgl. Jelinek, Elfriede: Die Ausgesperrten. Roman. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 32 f, 34, 104, 177. 64 Ebd., S. 32. 65 Vgl. Bachmann, Ingeborg: Der Fall Franza. Unvollendeter Roman. In: Dies.: Werke, hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Band 3. München: 1978. S. 339 – 482, hier S. 341. Bachmann widerspricht hier dem Diktum der ‚Stunde Null‘ und attestiert das Fortbestehen von Faschismus und Gewalt nach Kriegsende. 66 Vgl. Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 7. 67 Die Vornamen von Herrn und Frau Witkowski sind zwar bekannt (Otto, Margarethe), doch die Erzählinstanz benennt die beiden hauptsäch­lich als Herr und Frau Witkowski beziehungsweise in ihrer Funktion als Vater und Mutter. 68 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 16. 69 Vgl. ebd.

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des Krieges und damit verbundene positive Gefühle durch die Behandlung der Frau zu reproduzieren versucht, gibt er also unumwunden zu. Genauso gesteht er ein, dass die Uniform ihm Erfolg bei Frauen einbrachte, und erinnert sich im nächsten Moment, wie er und andere „in polnischen Dörfern vielfach bis zu den Knöcheln unserer Reitstiefel in Blut wateten.“70 Auch die Zwillinge sind der Gewalt des Vaters ausgesetzt. An verschiedenen Stellen wird die phy­sische, aber auch emotionale Grausamkeit gegen Rainer und Anna von der Erzählinstanz erwähnt.71 Der Text beschreibt, wie die beiden während willkür­licher Attacken des Vaters „hilflos in der Luft herum [rudern]“, sich ihr „Kindesinhalt“ aber vom Körper „ein Stück höher hinauf [erhebt], von wo er bessere Sicht auf das grause Geschehen hat“72. Das hätten sich die beiden „so angewöhnt als Kinder“, heißt es weiter, und dass Anna und Rainer glauben, „sie sind immer noch oben und können auf die anderen hinunterschauen.“73 Das Bild beinhaltet die Abspaltung der ­Kinder von den Eltern und der gewaltvollen Szene. Dennoch beobachten sie das Geschehen und werden davon beeinflusst, entwickeln aus den Prügeln des Vaters ein Überlegenheitsgefühl; sie sind „überlegen im Unglück, weil sie sich von allem frei gemacht haben und tun was sie wollen.“74 Die Kinder verachten die Eltern und zeigen es ihnen auch. Den Vater, der im Krieg ein Bein verloren hat, treffen sie vor allem über seine körper­liche Versehrtheit, „indem sie jede seiner Bewegungen voller Ekel nachäffen, ihm die Krücken wegreißen, ihm ein Bein stellen (wo er doch nur das eine besitzt), ihm ins Essen spucken und ihm nicht bringen, was er gern möchte.“75 Gegen die Mutter, die in der Gegenwart der Erzählung keine Gewalt gegen die Kinder ausübt, sind Anna und Rainer dennoch kalt und bösartig. So verwehren sie ihr nach einer Attacke des Mannes Trost und Gemeinschaft,76 erklären ihr, „daß auch die Nichtexistenz dieser Mutter denkbar und mög­lich wäre“ und „verscheuchen“ sie darauf „wie eine Stubenfliege“77 – ein Bild, das Abwertung mit Entmensch­lichung verbindet und Frau Witkowski sozial wie emotional verletzt zeigt. Eine einzige Passage, ein Rückblick, zeigt die Mutter gewalttätig gegen die Kinder und hilft, das Verhalten von Rainer und Anna zu erklären: 70 Ebd., S. 16 f. 71 Vgl. ebd., S. 32, 34, 54, 177. 72 Ebd., S. 34. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 35. 76 Vgl. ebd., S. 35 ff. 77 Ebd., S. 41 f.

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Nach einem Sonntagsausflug uriniert Anna, noch ein kleines Kind, in der Straßenbahn, „die Mutterarme [dreschen]“78, Rainer versteckt sich „hinter zwei alte[n] Opis“, die Mutter „holt sich bei anderen Müttern Rat“ und kündigt der Tochter letzt­lich an, sie solle warten, „bis der Papa das erst erfährt, da geht das Abdreschen gleich weiter“79. Daraufhin legt die Erzählinstanz den Kindern die Ankündigung in den Mund: „[W]art nur, Mami, bis wir größer sind, dann machen wir dasselbe mit dir und noch ärger.“80 Jelinek entwirft eine Situation, in der alltäg­liche Gewalt explizit als Auslöser der späteren Gewalt eingesetzt ist. Der Unterschied zwischen dieser Szene und den Gewaltakten in Die Liebhaberinnen besteht darin, dass Jelinek hier das Geschehen aus dem Elternhaus in die Öffent­lichkeit verlegt. Das Dreschen der Mutter ist eine Erziehungsmaßnahme, andere Mütter sind Zeugen und Ratgeber, und die Situation des Sonntagsausflugs ist positiv konnotiert – die Gewalt, so trivial sie hier verg­lichen zum Martyrium Paulas auch wirkt, ist gesellschaft­lich sichtbar und anerkannt. Deshalb steht diese Szene auch in keinem Widerspruch zur rest­lichen Darstellung der Mutter, die hier schließ­lich ledig­lich Erziehungsarbeit zu leisten scheint. Auch die Sexualität der Eheleute Witkowski, die mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wird, ist, wie Annika Nickenig geschrieben hat, „verborgen unter einer geranienverzierten Fassade der gesellschaft­lichen Rehabilitierung.“81 Die Gewalt der Mutter gegen die Kinder ist öffent­lich als Form der Züchtigung legitimiert. Die Wirkung, die schon diese Behandlung auf die Kinder hat, ist dadurch nicht gemindert – sie drohen ihrerseits mit der späteren Rache. Der Text impliziert hier die Erinnerung der Figuren, sodass die Verrohung der Kinder der Mutter gegenüber in einem neuen Licht erscheint, indem sie als direkte Reaktion auf Grausamkeit eben Frau Witkowskis deutbar wird, die in der Gegenwart der Erzählung keine körper­liche Handhabe gegen die Kinder (mehr) hat, wohl aber auf anderer Ebene. So führt Elizabeth Snyder Hook aus, die Mutter unterdrücke die Zwillinge, indem sie sie großem Druck aussetze, durch schu­lische Leistungen und künstlerische Bildung stellvertretend ihre eigenen Jugendträume – die sie nach der Hochzeit aufgeben musste – zu erfüllen, und so die Kinder letzt­lich negativ beeinflusse, da die Familie jede 78 Ebd., S. 47. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Nickenig, Annika: Versehrte Körper. Sexualität und Zeugenschaft in Elfriede Jelineks Die Ausgesperrten und Die Kinder der Toten. In: Contested Passions: Sexuality, Eroticism, and Gender in Modern Austrian Literature and Culture. Hrsg. v. Clemens Ruthner und Raleigh Whitinger. New York 2011. S. 375 – 388, hier S. 378.

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ästhetische Inspiration verhindere.82 Weiter badet sie Rainer weit über seine Kindheit hinaus, seift ihm „den ganzen Körper“ ein, „damit er überall sauber wird“83, und seine Scham beantwortet sie mit dem Argument, sie sei doch die Mutter, habe ihn auf die Welt gebracht und „wenn es die eigene Mutter macht, dann ist es so, als ob du es selbst gemacht hast“84. Den jugend­lichen Sohn zu baden, ist ein starker Eingriff der Mutter in dessen sexuelle Entwicklung.85 Das Thema der familialen Gewalt und Unterdrückung hat Jelinek nach Die Liebhaberinnen hier deut­lich variiert. Trotzdem sind Vater wie Mutter Unterdrücker der Kinder und umgekehrt – Gewalt führt zu neuer Gewalt. Das Bild der familialen Verteilung von Gewalt als Prototyp eines totalitären Regimes, in dem die Mutter dem Vater unter-, doch den Kindern überstellt ist, hat Elizabeth Snyder Hook mit dem Werk der Psychologin und Autorin Alice Miller in Verbindung gebracht.86 Diese hat 1980 – im Veröffent­lichungsjahr von Die Ausgesperrten – in ihrem Buch Am Anfang war Erziehung das Konzept der ‚Schwarzen Pädagogik‘ aufgegriffen, welches wiede­rum 1977 durch eine von Katharina Rutschky herausgegebene Sammlung von historischen pädago­gischen Texten geprägt worden ist.87 Die ‚Schwarze Pädagogik‘ dient als Sammelbegriff für Erziehungsmethoden, die Mittel der Unterdrückung ­nutzen. Laut Alice Miller ist die ‚Schwarze Pädagogik‘ dadurch gekennzeichnet, dass die Erzieher gottgleich über die abhängigen Kinder „herrschen“88: Emotionalität und der Wille – das „Lebendige“ – des Nachwuchses seien eine Gefahr für den Erzieher und müssten bekämpft werden, unter anderem durch Manipulation, Lügen, Ängstigung, Verachtung, Spott und „Gewaltanwendung bis zur Folter“89. Mit dieser Behandlung werde so früh wie mög­lich begonnen, damit das Kind sich der Manipulation nicht bewusst ist und keine Rache an den Eltern nimmt. Außerdem würden mit weiteren Züchtigungsmaßnahmen auch die Reaktionen des Kindes, wie zum Beispiel Weinen, unterdrückt, wodurch das Kind zu Stummheit erzogen und gezwungen werde, sich und

82 Vgl. Snyder Hook, Elizabeth: Family Secrets and the Contemporary German Novel. Literary Explorations in the Aftermath of the Third Reich. Rochester 2001, S. 109. 83 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 180. 84 Vgl. ebd., S. 181. 85 Vgl. Snyder Hook: Family Secrets and the Contemporary German Novel, S. 110. 86 Vgl. ebd., S. 106, 109. 87 Rutschky, Katharina (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürger­lichen Erziehung. Frankfurt am Main et al. 1977. 88 Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt am Main 1980, S. 76. 89 Vgl. ebd., S. 76 f.

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seine Gefühle zu verleugnen.90 Miller weist auf weitreichende Folgen dieser Erziehung hin. So argumentiert sie, dass die Forderung nach Verhaltensweisen, die Kleinkinder nicht zu zeigen imstande seien, zu einer „lebenslangen Anstrengung“91 führe, die darin münde, dass der Mensch wiederum in der Erziehung der eigenen Kinder versuche, die Forderungen gnadenlos zu erzwingen und einzufordern.92 Sie weist also darauf hin, dass sich Erziehungsmethoden der ‚Schwarzen Pädagogik‘ von Generation zu Generation wiederholten. Dies gelte auch bei Schlägen: Gewalttätige Eltern würden gegenüber ihren Kindern um die Macht kämpfen, die sie gegenüber ihren eigenen Eltern nicht hatten, was unterbewusst ablaufe, da sie „das Bedrohtsein der ersten Lebensjahre“93 nicht erinnern könnten und bei den eigenen Kindern zum ersten Mal erlebten – das Schlagen der Kinder zu Erziehungszwecken sei daher unbewusst das Wehren gegen die eigenen Eltern.94 Dass die Eltern gegenüber dem Kind absolute Souveränität und gottgleiche Macht beanspruchen, mache die Demütigung jeder körper­lichen Züchtigung aus, weil sich die Kinder nicht wehren dürften. Die dem Kind verbotenen Gefühle und Reaktionen führen laut Miller zu einem „mehr oder weniger bewußten Hass gegen sich selbst oder gegen andere Ersatzpersonen“95 und in der Folge zu Gewaltakten wie Mord oder Terroranschlägen.96 Das betont die mög­lichen gesamtgesellschaft­ lichen und globalen Auswirkungen der Erziehung. Zugegebenermaßen bietet Die Ausgesperrten keine ergiebigen Hinweise, wie Herr und Frau Witkowski erzogen worden sind.97 Daher lässt sich nicht untersuchen, in welchem Verhältnis die Behandlung der Zwillinge zu der steht, die die Eltern erfahren haben. Doch es ist bereits gezeigt worden, dass sowohl Herr als auch Frau Witkowski repressive Maßnahmen in der Erziehung von Rainer und Anna anwenden. Betrachtet man nun noch einmal die Schilderung, wie Frau Witkowski ihren jugend­lichen Sohn badet, so zeigen sich Details, die deut­lich Charakteristika der ‚Schwarzen Pädagogik‘ entsprechen: Während sich Rainer abtrocknet, darf er beispielsweise nicht

90 Vgl. ebd., S. 21, 40 – 45. 91 Ebd., S. 23. 92 Vgl. ebd. 93 Ebd., S. 31. 94 Vgl. ebd. 95 Ebd., S. 80. 96 Vgl. ebd., S. 33, 77, 80, 84. 97 Der Vater ist allerdings in einen dezidierten Zusammenhang zum eigenen Vater gestellt, wenn dessen „Andenkenbajonett […] aus dem Ersten Weltkrieg“ (Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 205.) erwähnt wird.

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„an sich hinuntersehen, der Blick gehört geradeaus gerichtet.“ 98 Laut Alice ­Miller gehören zu den Mitteln gegen den Eigensinn der „systematisch gezüchtete Ekel vor dem eigenen Körper“ sowie die „Wirkung der Beschämung“99. Deshalb sind Rainer und Anna geplagt von Minderwertigkeitsgefühlen. Im Schwimmbad, wo sich die „kümmer­lichen“ Geschlechtsmerkmale der Geschwister „eher abzeichnen als unter der Alltagskleidung“, umklammern sie sich „wie im Orkan“100; Rainer hängt Pin-up-Fotos auf, aus denen Brüste und Körper ausgeschnitten sind, und schiebt auch sonst „den Gedanken an einen geschlecht­lichen Akt […] weit von sich fort“101. Rainer hat Probleme mit dem eigenen Körper wie auch den Körpern von Frauen. Dass es explizit heißt, er schneide Körper und Brüste aus, betont sein Ausblenden von Sexualität. Wendet man das Prinzip der ‚Schwarzen Pädagogik‘ auf den Text an, so kann Frau Witkowskis Verhalten gegenüber den Kindern als Versuch gelesen werden, durch Beschämung und Demütigung ihren Gehorsam zu erzwingen. Dem entspricht auch, wenn es während des Abtrocknens plötz­lich heißt, „alles, was man tu[e], [geschehe] zur Ehre eines höheren Wesens“102 – also der Mutter, die hier gottgleich bestimmt, was angebracht ist und was nicht.103 Doch Anna und Rainer sind Jugend­liche und keine Kleinkinder, während es laut der Theorie für Eltern unabdingbar ist, Kinder so früh wie mög­lich zu konditionieren, um keine Rache fürchten zu müssen.104 Betrachtet man erneut den Rückblick auf die Szene in der S-Bahn, in der die Mutter die Kinder aus erzieherischen Gründen schlägt und vorführt, dann erscheint die Drohung der Kleinkinder, sich später zu rächen, in einem neuen Licht. Sie offenbart, dass die Kinder die Behandlung sehr bewusst und direkt erleben und die Erziehungsmaßnahmen dahin gehend nicht funktionieren – und ist als Ausblick auf die gewalttätige Zukunft von Rainer und Anna zu verstehen. Denn es finden sich Anzeichen im Text, die zu Millers Auffassung passen, dass nicht direkt erlebte und artikulierte negative Gefühle an Ersatzpersonen abgeleitet werden. So meint die Erzählinstanz zum Beispiel an einer Stelle, Anna wolle „gleich etwas sprengen“105 (anstatt nur Geldbörsen zu stehlen) und kurz darauf heißt es, sie erinnere sich, wie ihr Vater einen Blumenstrauß, 98 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 181. 99 Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 64. 100 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 154. 101 Ebd., S. 156 102 Ebd., S. 181. 103 Vgl. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 77. 104 Vgl. ebd., S. 21. 105 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 53.

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den sie ihm als Kind geschenkt hat, die Toilette hinuntergespült hat.106 Wenn die Erzählinstanz dann suggestiv fragt, wie „sie jetzt nur darauf [komme]“107, stellt das eine schon plakative Verbindung zum kurz vorher geäußerten Aufruf zur Gewalt her: Annas kriminelle Energie ist Folge der Grausamkeiten des Vaters. In Verbindung mit Millers Theorie lässt sich argumentieren, dass die Problematik in der Geschichte der Erziehung verankert und gesellschaft­ lich verbreitet ist. Auslöser der familialen Gewalt ist in Die Ausgesperrten – zumindest oberfläch­lich – die nationalsozialistische Vergangenheit des Vaters. Tatsäch­lich sieht Miller die ‚Schwarze Pädagogik‘ mit ihrem Kern der „Verachtung und Verfolgung des schwachen Kindes sowie [der] Unterdrückung des Lebendigen, Kreativen, Emotionalen im Kind und im eigenen Selbst“108 als ein Charakteristikum faschistischer und auch anderer Ideologien.109 Dagmar C. G. Lorenz hat konstatiert, dass die Jugend­lichen im Roman mit ihrem fehlgeleiteten Elitismus, dem Hass gegen Autorität und anderen Mitteln der Rebellion einerseits der Elterngeneration, die sich seit dem Nationalsozialismus ideolo­gisch nicht verändert habe, mehr ähnelten als sie realisierten und autoritäre Strukturen der Vergangenheit wiederholen würden – dass sie aber andererseits durch die Nachkriegs-Bildung konditioniert seien, die totalitären Überzeugungen der Eltern, ob faschistisch oder kommunistisch, abzulehnen.110 Speziell Rainer ähnelt, trotz aller Abgrenzung von den Eltern, seinem Vater. Früh im Roman liefert die Erzählinstanz ein Bild Rainers, wie er an der Spitze einer Treppe aus Menschen steht und ein eigenes Gedicht rezitiert.111 Das erinnert an die bereits erwähnten Kriegserinnerungen des Vaters an „Leichenberge aus nackten Personen“112. Auch innerhalb der kriminellen Jugendbande spiegelt Rainer die Vergangenheit des Vaters, wenn erklärt wird, der Arbeiter Hans sei als bloßer „Empfänger von Botschaften, Mahnungen, Befehlen, Ermutigungen“113 bestimmt und ­Rainer sei „mehr das Hirn der Bande, Hans mehr die Hände“114. In dieser Haltung ­reproduziere

106 Vgl. ebd., S. 54. 107 Ebd. 108 Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 76 f. 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. Lorenz, Dagmar C. G.: Ideology and Criticism in the Novel and the Film Die Ausgesperrten [Wonderful, Wonderful Times]. In: Elfriede Jelinek. Writing Woman, Nation, and Identity. A Critical Anthology. Hrsg. v. Matthias Piccolruaz Konett und Margarete Lamb-Faffelberger. Madison 2007. S. 55 – 75, hier S. 56, 65. 111 Vgl. Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 20. 112 Ebd., S. 102. 113 Ebd., S. 53. 114 Ebd., S. 11.

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Rainer, so Lorenz, das Modell der Nationalsozialisten von Handlanger und Schreibtischtäter.115 Später lässt sich Rainer von der Schwester fotografieren, wie er mit dem „Andenkenbajonett“116 seines Großvaters aus dem Ersten Weltkrieg posiert.117 Rainer reproduziert hier die Rolle seines Vaters.118 Doch der Zusammenhang ist ein größerer, denn der Text deutet schließ­lich darauf, dass auch Herr ­Witkowski Teil einer Kette von Gewalt ist, nicht der Anfang. Es ist folg­lich nicht nur so, dass Rainer die Verbrechen seines Vaters wiederholt. Vielmehr kann er als Produkt einer Familie und Gesellschaft gesehen werden, aus der schon seit Generationen Menschen hervorgehen, die in der Lage sind, Massenverbrechen zu begehen. Alice Miller schreibt nicht nur, dass man durch richtige und frühzeitige Anwendung der ‚Schwarzen Pädagogik‘ Menschen erziehen kann, die in einer Diktatur leben könnten, ohne zu leiden und sich sogar mit ihr identifizierten 119 – sie geht so weit, zu argumentieren, dass Menschen, die aktiv am Holocaust teilnahmen, „vom Säuglingsalter an dazu erzogen worden waren, keine eigenen Gefühlsregungen zu spüren, sondern die Wünsche der Eltern als die eigenen zu erleben.“120 Außerdem sieht sie Folgen der repressiven, gewalttätigen und missbräuch­ lichen Erziehungsmethoden in der Geschichte des Dritten Reichs repräsentiert: Die „aufgestaute Ablehnung des Kind­lichen“ mache es begreifbar, dass „Männer und Frauen ohne auffallende Schwierigkeiten eine Million Kinder als Träger der gefürchteten eigenen Seelenanteile in die Gaskammer geleitet haben“, denn die konditionierten Bürger hätten durch das Misshandeln der Kinder den eigenen „frühkind­lichen Hass ableiten [können]“121 – und so die selbst erfahrene Grausamkeit an die jüdischen Opfer weitergegeben. Nach dieser Auffassung ist die Gewalt in Die Ausgesperrten in einem deut­lich größeren Rahmen zu sehen als nur dem Fortbestehen der nationalsozialistischen Ideologie in der Nachkriegsgeneration. Denn genau diese Ideologie, die Rainer unbeabsichtigt fortlebt, hat laut Alice Miller eine Grundlage in der ‚Schwarzen Pädagogik‘, die mindestens seit dem 17. Jahrhundert und – wenn auch in schwächerer und anderer Form – bis in die jüngere Vergangenheit 115 Vgl. Lorenz: Ideology and Criticism in the Novel and the Film Die Ausgesperrten [Wonderful, Wonderful Times], S. 58. 116 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 205. 117 Vgl. ebd., S. 205 f. 118 Vgl. Nickenig: Versehrte Körper, S. 378. 119 Vgl. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 59. 120 Ebd., S. 101. 121 Ebd.

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Einfluss habe.122 Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind dann keiner spontanen oder singulären Entwicklung geschuldet, sondern basieren auf einer weitverbreiteten Geisteshaltung, die durch Methoden der ‚Schwarzen Pädagogik‘ vervielfältigt wird und einer faschistischen Weltsicht und Ideologie den Weg ebnet. Das Massaker Rainers an seiner Familie liest man unter Berücksichtigung von Millers Theorie als Reaktion und Rache an denen, die ihn repressiv erzogen haben. Herrn und Frau Witkowski ist es nicht gelungen, die Kinder im Sinne der ‚Schwarzen Pädagogik‘ zu Untertanen zu erziehen, ohne sie die Manipulation und Unterdrückung bemerken zu lassen. Doch noch ein weiterer Aspekt ist von Bedeutung. Im letzten Teil des Romans macht Anna eine gravierende Entwicklung durch. Sie artikuliert ihre Probleme und öffnet sich Hans gegenüber – mit dem sie bis dahin eine rein sexuelle Beziehung hat – emotional, erfährt als Folge positive Gefühle, hilft abends der Mutter beim Abtrocknen, isst und hat „etwas Weiches in ihren Gesichtszügen, das heute früh noch nicht darin zu finden war“123. Das alles steht im deut­lichen Kontrast zum Rest des Romans, der Anna als verhärmt, abweisend gegen die Mutter und essgestört zeigt.124 Diese Probleme lösen sich nach der Artikulation ihrer Gefühle gegenüber dem Mann. Annika Nickenig weist allerdings darauf hin, dass „die Bilder, die Anna und Hans beim Sexakt im Kopf herumschwirren“ von der Erzählinstanz „in einen dezidiert nationalistischen Kontext […] in einen Zusammenhang mit Heimatgefühl und konservativen Geschlechterrollen [gestellt werden]“ und folgert, dass die beiden Jugend­lichen damit – parallel zur mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verbundenen Sexualität der Eltern – „im Kontext einer beschönigenden, dem Vergessen der Vergangenheit zuarbeitenden Ideologie [stehen]“125. Rainer hingegen macht keine s­ olche Entwicklung durch. An einer Stelle heißt es, er habe sich inner­lich „schon ganz von seiner Familie gelöst.“126 Damit ist ein entscheidender Moment im Roman markiert, der zum Massaker überleitet. Hat sich Rainer bisher in der Kleinkriminalität und in Gewaltfantasien gegen Mitmenschen 127 ergangen, leitet er seine Aggression und seine Emotionen nun direkt an seine Familie ab, er tötet die Eltern wie auch die Schwester. Rita Svandrlik schreibt, Rainer könne seine Situation nicht mehr ertragen, als 122 Vgl. ebd., S. 31; einer der ältesten Texte in Rutschkys Textsammlung stammt von 1667. 123 Vgl. Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 258 ff. 124 Vgl. ebd., S. 22 f. 125 Nickenig: Versehrte Körper, S. 381. 126 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 248. 127 Vgl. ebd., S. 22 f, 63 f, 111.

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die Schwester „den Weg zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse findet“128, doch wie bereits ausgeführt worden ist, entwickelt sich Anna im größeren Rahmen als nur ihrer Sexualität – und entspricht letzt­lich einem sozial transportierten und konventionellen Bild von Weib­lichkeit. Daher genügt es nicht, die Morde Rainers ausschließ­lich mit den Verbrechen des Vaters in Verbindung zu setzen, wie es zum Beispiel Sylvia Schmitz-­Burgard tut, wenn sie argumentiert, durch die Morde an Mutter und Schwester würde Rainer mit dem Vater konkurrieren.129 Seine „Verdrängung von Körper­lichkeit“ ist, wie Nickenig schreibt, „insbesondere eine Ablehnung der elter­lichen Sexualität, die er als gewalttätige kennt“ und darüber hinaus „auf der historischen Ebene lesbar als Verweigerung der Erinnerung an familiäre und nationale Gewalttaten.“130 Dass er seine Aggression gerade auch gegen die Schwester richtet, die nun in einer Reihe mit den Eltern steht, bedeutet eine Steigerung seiner Weigerung, sich mit seinen Erlebnissen und Gefühlen auseinanderzusetzen: Die Spiegelung der väter­lichen Gewalttaten – begründet in der extremen Ablehnung bei gleichzeitig fehlender Aufarbeitung – wird somit zur Pointe des Romans. Ulrich Baer hat bezüg­lich des „Problems der sekundären Zeugenschaft“ geschrieben, es ergänze „das Problem der unzureichenden Strafverfolgung der Täter und die letzt­lich unergiebige Frage nach der Kollektivschuld […] durch die Fragestellung über die Verantwortung der Zuschauer, der Dabeistehenden, der Zeugen.“131 Der letzte Satz des Romans und Rainers lautet „Jetzt wissen Sie alles über mich und können daher über mich verfügen“132 und weist dem Leser, wie Nickenig argumentiert, die Rolle eines Zeugen zu, der sich zumindest rückblickend der Anzeichen für Rainers Gewaltpotenzial gewahr werde.133 Schon in Die Liebhaberinnen blitzt das Thema des Vergessens des Zweiten Weltkrieges

128 Svandrlik, Rita: »Das Virus Verbrechen«: Täter und Opfer bei Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek (Unter Mördern und Irren, Die Ausgesperrten). In: Ingeborg Bachmann weiter lesen und weiter schreiben. Hrsg. v. Neva Šlibar. Ljubljana 2010. S. 72 – 84, hier S. 82. 129 Vgl. Schmitz-Burgard, Sylvia: Body Language as Expression of Repression. Lethal Reverberations of Fascism in Die Ausgesperrten. In: Elfriede Jelinek. Framed by Language. Hrsg. v. Jorun B. Johns und Katherine Arens. Riverside 1994. S. 194 – 228, hier: S. 212. 130 Nickenig: Versehrte Körper, S. 379. 131 Baer, Ulrich: Einleitung. In: »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hrsg. v. Ulrich Baer. Frankfurt am Main 2000. S. 7 – 31, hier S. 21. Hervorhebungen im Original. 132 Jelinek: Die Ausgesperrten, S. 266. 133 Vgl. Nickenig: Versehrte Körper, S. 381 f.

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auf.134 Hier nun kommentiert Jelinek die Nachkriegsgesellschaft und zeigt, wie Ideologie, Gewalt und Verbrechen reproduziert werden, wenn es statt zu einer Aufarbeitung nur zu Ablehnung und Vergessen kommt. Das Konzept der ‚Schwarzen Pädagogik‘ bietet (ähn­lich wie der Marxistische Feminismus für den Vorgänger-Roman) eine Perspektive, die es ermög­licht, die faschistischen Züge der Figuren als Folge sozialer Probleme zu erkennen. Der Faschismus der Nationalsozialisten ist eben nicht aus dem Nichts entstanden, sondern wurde durch ­soziale Strukturen begünstigt, die durch Erziehung im Kern der Gesellschaft – der Familie – entstanden sind, so wie auch die Gewalt in Die Liebhaberinnen von Tätern und Täterinnen verübt wird, die auch Opfer sind, aber unfähig oder -willig, selbst erlittene Gewalt zu verarbeiten. Die ­beiden Romane Jelineks zeigen, wie „die propagierte familiale Autoritätsstruktur auch die Autoritätsstruktur der herrschenden Sozialordnung reproduziert und stabi­lisiert“135, was die Leser, so Doll, im Gegensatz zu Jelineks Figuren durchschauen sollen.136 Deren Trugschlüsse, Verblendungen und fatalen Reproduktionen von Vergangenheit werden vorgeführt und bloßgestellt. In der Kritik einer vorherrschenden sozialen Kollektividentität entfalten die Romane eine Bedeutung, wie sie Birgit Neumann literarischen Texten zuschreibt: „Durch die Darstellung gesellschaft­lich verdrängter oder vergessener Aspekte der Kollektivvergangenheit […] werden diese erst erinnerbar gemacht und können so Einfluß auf nachfolgende kulturelle Selbstdeutungen nehmen.“137 Jelinek fügt den Problematiken der familialen Gewalt und der fortbestehenden faschis­ tischen Tendenzen der Nachkriegsgesellschaft Aspekte hinzu, die zu Neuperspektivierungen führen, da sie die Aggression erklärbar machen. Die Gewalt ist in beiden Romanen Folge von Frustration aus selbst erfahrenem Leid, die auf Unterlegene oder vermeint­liche Gegner projiziert wird. Durch diesen Kreislauf von Gewalt werden stets dieselben Zustände reproduziert, wie speziell Die Ausgesperrten mit dezidiert sozial-historischem Bezug zeigt.

134 Auf Seite 61 heißt es: „manchmal (selten) denkt erich auch an die kompliziert geschriebenen Hefte über den vergangenen weltkrieg. von vielen geschehnissen dort drinnen weiß man vielfach heute gar nichts mehr.“ 135 Doll: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek, S. 145. 136 Vgl. ebd. 137 Neumann, Birgit: Literatur als Medium (der Inszenierung) von kollektiven E ­ rinnerungen und Identitäten. In: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Hrsg. v. Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning. Trier 2003. S. 49 – 77, hier S. 71.

Felix Kampel

„Mein Onkel Günther“

Deutsche NS-Erinnerungskultur nach 1945 und Probleme der Aufarbeitung am Beispiel von Olga Grjasnowas Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt Die Unschuld findet nicht so viele Beschützer wie das Verbrechen. François de La Rochefoucauld

Am 6. Februar 2012 machte der Hanser Verlag Olga Grjasnowas Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt 1 auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt erstmals für eine potentielle Leseöffent­lichkeit zugäng­lich.2 In den Wochen und Monaten unmittelbar nach der Veröffent­lichung des Romans folgte in den deutschen Feuilletons ein virulenter und in Teilen kontrovers geführter Diskurs, dessen Breite besonders in den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen die Autorin offenbar selbst nicht erwartet hatte: „Ich war […] sehr überrascht darüber, dass das Buch so breit besprochen wurde“, konstatierte Olga Grjasnowa im Herbst 2012 in einem Essay in der Berliner Zeitung. „Mit so viel Aufmerksamkeit hätte ich niemals gerechnet.“3 Gemäß Grjasnowas eigenen Aussagen handelt ihr Werk von der zunächst in Frankfurt und später in Tel Aviv lebenden jüdischen Protagonistin Mascha,4 die in Aserbaidschan geboren wurde, „als Kind die Pogrome an den A ­ rmeniern 5 miterlebt hat“ und 1996 mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland kam. Zum Zeitpunkt der Handlung ist Mascha etwa Mitte zwanzig 6 und eine überdurchschnitt­lich begabte Studentin, die eine transnationale Dolmetscherkarriere bei der UN anstrebt. Seit einem Trauma, das Mascha als Sechsjährige im Verlauf der Pogrome durch den Anblick einer plötz­lich vor ihr auf dem Trottoir aufschlagenden Leiche erlitten hat, ist sie „stets auf der

1 Grjasnowa, Olga: Der Russe ist einer, der Birken liebt. München 2012. 2 Vgl. Grjasnowa, Olga: Niboko hat einen Plan. In: Berliner Zeitung. 18. 09. 2012. 3 Ebd. 4 Vgl. hierzu Grjasnowa, Olga: „Ich bevorzuge Gedrucktes.“ (Interview) In: Buchreport. Ball der Debütanten – Teil 6: Olga Grjasnowa. 03. 04. 2012. 5 Ebd. 6 Vgl. hierzu Baude, Sonja: Interview mit Olga Grjasnowa – Der Russe ist einer, der ­Birken liebt. In: Avia – Online Magazin für Frauen. 03. 04. 2012.

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Suche nach etwas, das ihr Stabilität bieten kann – sei es ein Ort oder eine Person, Mann oder Frau. […] Bei ihrem Freund Elias kommt Mascha end­lich zur Ruhe, doch er stirbt.“7 Nach Elias Tod infolge einer Sepsis tritt Maschas rastlose Suche nach Stabilität und Sicherheit im zweiten Teil des Romans in eine erweiterte Phase ein – wobei der Leser zunehmend differenzierte Einblicke in Maschas Trauerprozess, ihre Alltagsbewältigungsstrategien und besonders ihr kosmopolitisches Weltverständnis erhält. Im Zusammenhang mit Maschas neu entfachter Suche nach Sicherheit und Stabilität betont Grjasnowa besonders, dass ihre Protagonistin weder das emotionale Bedürfnis nach nationalen Identifikationsmög­lichkeiten zeige, noch das nach ‚Heimat‘ im Sinne eines rhetorisch oder pathetisch aufgeladenen Vaterlandsbegriffs: „Ich glaube, das wird immer nur dargestellt als ein Verlust, dass man angeb­lich eine Sprache, eine Heimat verliert. Ich weiß nicht, ob da so viel dahinter steckt, das hinterfrage ich.“8 Und Grjasnowas Heldin Mascha ist daher auch der Meinung, dass Nationalismus „in heutigen Metropolen nicht mehr aktuell [ist]: Mascha und ihre Freunde, junge Erwachsene mit Hochschulabschlüssen und ‚Migrationshintergrund‘, setzen eher auf Staatsbürgerschaften, Visa und Aufenthaltsgenehmigungen.“9 Zu Maschas engsten Bekannten in Frankfurt gehören neben Elias auch Maschas bester Freund Cem, dessen Eltern aus der Türkei stammen, und ihr Exfreund Sami, der im Libanon zur Welt kam und mit dem sich Mascha auch nach der Trennung gut versteht. Im Umfeld ­dieses multikulturellen Freundeskreises stellt Mascha darüber hinaus im Roman fest: „[D]er Begriff Heimat implizierte für mich stets den Pogrom. Wonach ich mich sehnte, waren vertraute Menschen, nur war der eine tot, und die anderen ertrug ich nicht mehr. Weil sie lebten“ (203). Nachdem Mascha im Anschluss an ihre erfolgreiche Abschlussprüfung an der Universität in einer nach wie vor desorientierten Lebenslage mit einem ihrer Professoren schläft, verschafft dieser ihr zwar nicht die angestrebte Stelle bei der UN, immerhin aber eine als Korrespondentin im „Auslandsbüro einer deutschen Stiftung in Tel Aviv“ (143). Die Romanteile drei und vier erzählen folg­lich nicht mehr von einem Leben in der deutschen Metropole Frankfurt, sondern von einem Leben in der israe­ lischen Metropole Tel Aviv. Da Maschas Arbeitsaufträge als Dolmetscherin häufig darin bestehen, mit Delegierten das Land und damit auch seine Krisenre­ gionen zu erkunden (vgl. 184 f.), ist sie als Reisende in Israel viel unterwegs und

7 Interview: Buchreport. 03. 04. 2012. 8 Interview: Avia. 03. 04. 2012. 9 Interview: Buchreport. 03. 04. 2012.

Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt 253

lernt den nationalen Sonderfall besser kennen. Doch auch hier wird Mascha ihre Vorbehalte gegen nationalstaat­liches Denken keineswegs hinter sich ­lassen oder vergessen. Im Gegenteil findet sie bis zuletzt keinen klaren, festen Standpunkt zu Israel. Gleichwohl sagt sie von sich selbst, dass sie im Falle einer in ihren Augen unverhältnismäßigen Kritik an der politischen Führung des Landes stets „schon wieder nah dran [war], eine Lebensform zu verteidigen, die ich ablehnte“ (226). Mit dem Geschwisterpaar Ori und Tal wird Mascha in Israel zwar sehr bald neue Freunde, nicht jedoch ihr see­lisches Gleichgewicht finden. Denn zuletzt sind es nicht aufzuhaltende, ständig wiederkehrende Reminiszenzen an ihren verstorbenen Freund Elias, die Mascha in Israel mit eskalierender Heftigkeit einholen (vgl. u. a. 180, 205, 250). Zunehmend steigert sich ihr Konsum von Medikamenten, Alkohol und Drogen. Eine explosive Mischung, die Mascha zum Ende des Romans völlig aus der anfangs streng fokussierten Bahn ihres Lebens wirft, sie selbst an ihrem eigenen Trauma und der daraus resultierenden, problematischen Lebensführung scheitern lässt: „[I]ch wollte […] mich häppchenweise verlieren und nie wieder aufsammeln“ (225). Im vierten Teil des Romans lernt Mascha schließ­lich den aus einem kommunistischen Elternhaus stammenden, israe­lischen Palästinenser Ismael kennen – und zwar „nur weil er E­lischa ähnelte und ich mich an ihn klammern wollte“ (267). Schon einen Tag später begleitet Mascha Ismael auf die Hochzeit seiner Cousine in Ramallah. Als Mascha sich nach kurzen Gesprächen mit Verwandten während der Hochzeit wegen ihrer jüdischen Abstammung zunehmend fehl am Platz fühlt (vgl. 277 f.), ergreift sie überstürzt die Flucht. Dabei verliert sie das Bewusstsein und findet sich plötz­lich auf einem freien Feld wieder. Von dort ruft sie ihren Ex-Freund Sami an, den sie um Hilfe bittet. Maschas Schicksal bleibt am Ende des Romans offen, doch nach Grjasnowas eigenen Angaben „scheitert [Mascha] zunehmend“ und in Ramallah damit zum letzten Mal an ihrer „ganz eigene[n] Grenze kultureller Übersetzbarkeit.“10 Olga Grjasnowa wurde 1984 in Aserbaidschan geboren. 1996 emigrierte die zu d ­ iesem Zeitpunkt zwölfjährige Tochter einer Klavierlehrerin und eines Anwalts – wie die Protagonistin ihres Romans – mit ihren Eltern als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland.11 Grjasnowas Familie zählt damit zu einer Gruppe von insgesamt 200.000 jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion.12 Das Ziel dieser 1991 durch das ­Bundesinnenministerium

10 Interview: Avia. 03.04 2012. 11 Vgl. Barthels, Gerrit: Rastlos in Kreuzberg. In: Der Tagesspiegel. 12. 02. 2012. 12 Vgl. ebd.

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i­ nitiierten Reintegrationsmaßname jüdischer Migranten bestand in der Intention, die nach 1945 durch die deutsche NS -Volksbewegung nahezu vollständig ausgelöschten jüdischen Gemeinden in Deutschland noch einmal zum Erstarken bringen zu können. Aufgrund wiederholter Nachfrage durch Presse und Öffent­lichkeit äußerte sich Olga Grjasnowa zu den wie immer mög­lichen, autobiografischen Überschneidungen zwischen Autorin und Protagonistin in der Berliner Zeitung vom 18. 09. 2012 wie folgt: Natür­lich gibt es gewisse Gemeinsamkeiten zwischen mir und Mascha, der Protagonistin, wie etwa das Alter oder die vermeint­liche Herkunft; doch ich habe nichts von all dem im Buch Geschilderten erlebt – weder den Tod eines geliebten Menschen, noch ein Trauma in der Kindheit und gewiss leide ich an keiner posttraumatischen Belastungsstörung.13

Den zitierten Aussagen Grjasnowas folgend geht es in der vorliegenden Untersuchung nicht um die Klärung autobiografischer Überschneidungen zwischen Protagonistin und Autorin. Im Zentrum der Untersuchung steht vielmehr die Frage, wie Grjasnowas Protagonistin Mascha, die dem Nationalismus kritisch gegenübersteht, im Roman konkret die Prozesse der Erinnerungen an die NS-Zeit derjenigen Romanfiguren wahrnimmt, die ausschließ­lich auf eine deutsche Familiengeschichte zurückblicken. Es geht also weniger um die Grenze kultureller Übersetzbarkeit Maschas, als vielmehr um die Grenze der kulturellen Übersetzbarkeit der deutschen Nebenfiguren, mit denen Mascha im Verlauf des Romans in ­soziale Interaktion tritt. Die erkenntnisleitende These der Untersuchung ist, dass Olga Grjasnowa in ihrem Roman konkrete Probleme der NS-Aufarbeitung in Deutschland zur Darstellung bringt, wie sie für die dritte Generation nach dem Holocaust in Deutschland heute als paradigmatisch betrachtet werden können. Ein Blick auf die empirische Holocaustforschung wird dabei zunächst zeigen, dass entgegen der öffent­lichen Version einer vermeint­lich gelungenen NS-Aufarbeitung in Deutschland nach 1945 diese Aufarbeitung in der Breite als gescheitert betrachtet werden muss – sofern über die Vernichtungspolitik überhaupt aktiv nachgedacht und gesprochen wird und werden kann.14 Zum 13 Grjasnowa: Niboko hat einen Plan. 18. 09. 2012. 14 Vgl. Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi.“ National­ sozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2012, S. 15. Die Autoren weisen bereits zu Beginn ihrer empirischen Untersuchungen ausdrück­lich darauf hin, dass sie es bei ihren Interviews von deutschen Familien „mit einer Auswahl von Familien zu tun haben, in denen über die nationalsozialistische Vergangenheit

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zentralen Problem gehört dabei, dass „öffent­liche Diskurse über den Holocaust oder über die Verbrechen der Wehrmacht“ gewöhn­lich in eine problematische „Alltagstheorie“ inkorporiert werden, „deren Kern darin besteht, dass Deutsche und Nazis zwei völlig verschiedene Personengruppen waren, die nur im pragmatischen Grenzfall zur Deckung kamen“15. Auf diese Weise werden besonders in der transgenerationalen Weitergabe von Erinnerungen an die NS-Diktatur „aus Mitläufern […] Widerstandskämpfer, aus aktiven Exekutoren nationalsozialistischer Politik kritische Geister, die schon immer dagegen waren, aus Profiteuren Opfer des Regimes.“16 Zu den am stärksten verzerrten Versionen vermeint­lich gelungener Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Deutschland gehören dabei paradoxale Fälle, in denen vorgegeben wird, „dass man nichts von Lagern gewusst hat, aber ständig davon bedroht war, ‚ins KZ zu kommen‘.“17 Aus d ­ iesem Grund wird zum allgemeinen Verständnis im Vorfeld von Grjasnowas Romananalyse zunächst ein kurzer historischer Abriss erforder­ lich sein, in dem die deutsche Bevölkerung als das auftritt, was sie zwischen 1933 und 1945 in der Mehrheit gewesen ist. Eine Gesellschaft aus Mitwissern, Mitläufern und Mittätern, die bis heute Versionen einer Vergangenheit weiter­ gibt, in denen das „riesige Ausmaß der persön­lichen Verstrickung fast aller erwachsenen Bundesbürger in die Untaten der NS-Zeit […] zugedeckt und bagatellisiert“18 wurde und wird. Im Fokus von Grjasnowas Romananalyse steht daraufhin zunächst Maschas Freund Elias, bei dessen Diskursverhalten Themen wie Nationalsozialismus, Holocaust oder Israelpolitik aufgrund einer schon im Elternhaus grundsätz­ lich nicht thematisierten NS-Vergangenheit systematisch unterbunden werden. Darüber hinaus soll am Beispiel von Maschas Kommilitonen Daniel gezeigt werden, dass diese Figur im Roman zunächst Züge eines Verhaltens aufweist, das von der Forschung als ‚Philosemitismus‘ bezeichnet wird, bevor Daniels Haltung an späterer Stelle im Roman plötz­lich in eine Haltung umschlägt, die unter dem Terminus ‚sekundärer Antisemitismus‘ zu fassen ist. Beide Figuren zeigen damit paradigmatische Muster einer defizitären und hochkontaminierten NS-Erinnerungskultur, wie sie gegenwärtig in Deutschland für das Diskursverhalten in der dritten und vierten Generation charakteristisch sind. gesprochen werden kann und gesprochen wird“ was „keineswegs in allen deutschen Familien der Fall“ ist. 15 Ebd., S. 205. 16 Ebd., S. 207. 17 Ebd., S. 208 f. 18 König, Helmut: Die Zukunft der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 2003, S. 70.

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I Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht mög­lich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen. Friedrich Nietzsche

Die anvisierte Ausrottung der europäischen Juden durch die deutsche NS-Volksbewegung zwischen 1933 und 1945 ist gescheitert. Gleichwohl fanden sechs Millionen Juden in einer gezielten und durch vorauseilenden Gehorsam organisierten Massenvernichtung den Tod.19 Als Opfer des Dritten Reichs sind die europäischen Juden damit kategorial von der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung Deutschlands zu unterscheiden. Denn die europäischen Juden waren spätestens seit 1933 Opfer eines bereits in der Weimarer Republik offen thematisierten Völkermords, mit dem zunächst erfolgreich Wahlkampf betrieben wurde.20 Dieser fand schließ­lich in der Wahl der NSDAP zur führenden Volkspartei in Deutschland sowie der sich unmittelbar anschließenden Implementierung der Rassengesetze seinen alles entscheidenden Ausgang. Entsprechend schrieb Adolf Hitler bereits 1925 in seinem zeitgenös­sischen Bestseller Mein Kampf: „Die große Masse war zu retten, wenn auch nur nach schwersten Opfern an Zeit und Geduld. Niemals aber war ein Jude von ­seiner Anschauung zu befreien. […] Nein. Je mehr ich den Juden kennenlernte, um so mehr mußte ich dem Arbeiter verzeihen.“21 Hitler also, der sich angesichts seines überzeugenden Wahlsiegs im März 1933 keineswegs zu Unrecht als Artikulator und Stimme des deutschen Volkes verstand und der gegenüber dem deutschen Wahlvolk aus seinem Antisemitismus vor 1933 kein Geheimnis gemacht hatte, teilte vielmehr seinen Volksgenossen bereits 1925 in Mein Kampf unverblümt mit: „Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder.“22 Und folg­lich wurde Adolf Hitler in Mein Kampf auch nicht müde, das Volk hinsicht­lich der ‚Judenfrage‘ restlos darüber aufzuklären, dass es künftig zumindest unter seiner Führung keine zweideutigen Arrangements geben werde: 19 Vgl. Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Erw. Aufl. 1. Band. Frankfurt a. M. 1991, S. 58 f. 20 Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus? München 2004, S. 110. 21 Hitler, Adolf: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. München 1943, S. 66 f. 22 Ebd., S. 225.

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Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. […] So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.23

Im scharfen Kontrast zur jüdischen Minderheit in Deutschland wurde die deutsche Bevölkerung hingegen zu einem deut­lich späteren Zeitpunkt ‚Opfer‘ eines ursprüng­lich vom Deutschen Reich selbst ausgehenden, aggressiven Eroberungskriegs. Dauerhaft und gezielt sollte dieser Eroberungskrieg in Europa für deutschen Lebensraum nament­lich im kommunistischen Osten sorgen. Doch wurde Hitlers Armee nach gravierenden Verlusten an der Front seit 1941 allmäh­lich und bis zur totalen Kapitulation hinter die ursprüng­lichen Grenzen Deutschlands zurückgetrieben. Bei der industriell durchgeführten Vernichtung der europäischen Juden durch Deutsche, die im Horizont des Zweiten Weltkrieges an der Ostfront ihren finalen Kulminationspunkt erreichte, handelte es sich ferner um eine gezielte Ausrottungsaktion, die durch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung so bereitwillig hingenommen wurde, wie das zuvor in der Weimarer Repu­blik durch eine demokratische Wahl legitimierte NS-Regime. Denn: „Ohne die überzeugte bis begeisterte Kriegs- und Mordlust einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung wäre das nationalsozialistische Regime nicht bis zum bitteren Ende aufrechtzuerhalten gewesen.“24 Wobei schon bei der Wahl der NSDAP zur führenden Volkspartei in Deutschland laut Hans-Joachim Maaz von einer ‚gesunden Volksentscheidung‘ nicht die Rede gewesen sein konnte: „Im deutschen Nationalsozialismus fanden die individuellen narzisstischen ­Störungen ihre kollektive Abwehr in einem Weltherrschaftswahn, der sogar Krieg und Völkermord rechtfertigte.“25 Das in Deutschland bis zuletzt fest etablierte NS-System wurde 1945 demnach auch keineswegs durch deutsche Revolutionäre oder Regimegegner gestürzt – wie es der Stauffenberg-Mythos, der Film Der Untergang (2004) oder andere Fiktionen vorgeb­licher Gegnerschaft der deutschen Mehrheitsbevölkerung bis heute nahelegen möchten. Sondern das Deutsche Reich musste 1945 durch die alliierten Kräfte buchstäb­lich bis zur bedingungslosen Kapitulation niedergerungen werden.

23 Ebd., S. 70. 24 Maaz, Hans-Joachim: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm. 4. Aufl. M ­ ünchen 2013, S. 61. 25 Ebd., S. 61.

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Es irrt sich allerdings, wer meint, über historische Sachverhalte dieser Art herrsche durch öffent­liche Aufklärungsarbeit in Deutschland heute ausreichend Klarheit. Und ein weiterer Irrtum besteht darin, zu glauben, dass Lehrer in der Schule historische Fakten dieser Art bis zum endgültigen Verdruss der Schüler unzählige Male durchgesprochen haben. Auch wenn die Schüler es mit aller Vehemenz behaupten. Denn empirischen Befunden zufolge existiert auf der Ebene der Vergangenheit in der Bundesrepublik eine ganz andere Version der Vergangenheit, die sich keineswegs um die Verbrechen, den Vernichtungskrieg und den Holocaust zentriert, sondern ganz im Gegenteil um die Leiden der deutschen Bevölkerung im Bombenkrieg, der Wehrmachtssoldaten im Partisanenkrieg oder in der Kriegsgefangenschaft, allgemein um die schlechte Zeit im Krieg und Nachkrieg.26

Nach Harald Welzer handelt es sich bei dieser Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft „milde gesagt, [um] tiefe Widersprüche in der deutschen Erinnerungskultur“27. Widersprüche, in denen also keineswegs die Täterschaft und Schuld der deutschen Mehrheitsbevölkerung als thematischer Schwerpunkt klar artikuliert wird, sondern Widersprüche, die „zwischen Bußfertigkeit und Aufrechnungsbedürfnissen“28 oszillieren. Empirische Befunde der letzten Jahre kommen analog dazu wiederholt zu dem Ergebnis, dass die „bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreiteten Varianten“ von Antisemitismus „jüdische Mitschuld an ihrer Verfolgung und das jüdische Ausnutzen der Erinnerung für heutige Interessen [postulieren]; sie verkehren Täter und Opfer und fordern ein Ende der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen.“29 Zu diesen Problemen ist ferner die durchaus verblüffende Einsicht hinzuzurechnen, dass Welzers Untersuchungen zufolge „die Befragten mit Abitur bzw. Hochschulabschluss diejenigen sind, die von der positiven Rolle ihrer Angehörigen in dunkler Zeit am meisten überzeugt sind.“30 Die häufig b ­ esonders

26 Welzer, Harald: Die Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen. Eine sozialpsycholo­gische Perspektive. In: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. 2. Aufl. Hrsg. v. Hartmut Radebold, Werner Bohleber, Jürgen Zinnecker, München 2009. S. 75 – 93, hier S. 76. 27 Ebd., S. 77. 28 Ebd. 29 Brähler, Elmar; Decker, Oliver; Kiess, Johannes: Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Bonn 2012, S. 75. 30 Welzer: Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen, S. 76.

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unter Intellektuellen vertretene Ansicht, dass etwa mit der Generation der 68er-Bewegung eine umfassende gesellschaft­liche Aufklärung über die deutsche NS-Vergangenheit stattgefunden habe, läuft demnach deut­lich ins Leere. Nicht nur, weil die deutsche Beteiligungslust während der NS-Zeit ein Thema ist, das in gebildeten Gesellschaftsteilen offenkundig gerne an andere adressiert wird. Sondern besonders auch deshalb, weil „man nicht genug darauf hinweisen kann, dass die 68er-Bewegung quantitativ nur einen geringen Teil der entsprechenden Alltagskohorte ausmacht.“31 Und im Klartext bedeutet das: „So viel Kritik, wie die Kriegsgeneration aus Sicht des Alltagsbewusstseins von ihren Kindern erfahren hat, hat es empirisch nie gegeben.“32 Eine weitere problematische Akzentuierung ergibt sich nach Jürgen ­Zinnecker vor dem Hintergrund familiensoziolo­gischer Befunde, denn: Innerhalb der Familie werden manche […] kulturellen Sektoren [wie Politik, Geschichte, Bildung oder Religion] gar nicht, andere nur sehr unvollkommen und idiosynkratisch repräsentiert sein. So gibt es Elternhäuser, in denen Politik und Geschichte nicht präsent sind; w ­ elche, in denen nicht gelesen wird; andere in denen keine religiöse Kultur sichtbar wird. Die Gefahr, dass es zu familialen Idiosynkrasien kommt, ist im Bereich des Familiengedächtnisses an die problematischen, von Schweigen und Mythen umgebenen ‚dunklen Zeiten‘ des Weltkriegs besonders groß.33

Auf individueller Ebene bleibt neben den familiären und gesellschaft­lichen Problematiken darüber hinaus zu bedenken, dass die „systematische Erarbeitung des historischen Wissensgebietes Zweiter Weltkrieg, Holocaust oder NS-Diktatur“ als „eine intellektuelle Leistung“34 aufgefasst werden muss, die sich keineswegs automatisch und von selbst auf die nächste Generation überträgt. Sie ist vielmehr immer wieder an die individuelle Bereitschaft des Einzelnen geknüpft, zu der allein aus kognitiven Gründen nicht jeder einfach in der Lage ist. Ferner erfordert die nicht nur ritualisierte, sondern tatsäch­lich emphatisch um ein Verstehen ringende Konfrontation etwa mit Bildern von Vernichtungslagern, in denen jüdische Leichen mit Baggern von amerikanischen Befreiern 31 Ebd., S. 80. 32 Ebd. 33 Zinnecker, Jürgen: Die „transgenerationale Weitergabe“ der Erfahrung des Weltkrieges in der Familie. Der Blickwinkel der Familien-, Sozialisations- und Generationenforschung. In: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. 2. Aufl. Hrsg. v. Hartmut Radebold u. a. München 2009. S. 141 – 154, hier S. 150. 34 Ebd., S. 146.

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zu Bergen aufgetürmt werden, zumindest den Willen, derartige Vorgänge für unser heutiges Verständnis von industrialisierter Zivilisation begreifbarer zu machen. Konstatiert wird dagegen vielmehr eine häufig aus diffusen Informationen resultierende Überforderung des Einzelnen, die ohne fundiertes Wissen zur Tabuisierung und Vermeidung der NS-Thematik führt und keineswegs zu ihrer systematischen Aufarbeitung.35 Und genau das erklärt, da ein zirkulärer Prozess sich hier zu schließen beginnt, weshalb in Deutschland heute bis in die dritte und vierte Generation nach dem Holocaust auf breiter gesellschaft­licher Ebene eine Abwehrhaltung konstatiert werden muss. Von einer systematischen und sach­lich angemessenen Erinnerung an die deutsche NS-Zeit kann faktisch nicht gesprochen werden. Lohnenswert scheint vor ­diesem Hintergrund daher ein Blick auf die Frage, ob und wie Probleme dieser hochgradig defizitären NS-Erinnerungskultur in der deutschen Gegenwartsliteratur repräsentiert werden. Als Jüdin wird man Olga Grjasnowas Protagonistin Mascha in dieser Hinsicht ein gesteigertes Differenzierungsvermögen unterstellen können. In Deutschland gehört sie heute zu einer religiösen Minderheit von ledig­lich 0,3 Prozent 36, die die Erinne­ rungsvorgänge an die NS -Zeit nicht als Enkelkind der Täter des Holocaust betrachtet, sondern als Enkelkind seiner potentiellen Opfer. II

Ganz anders als Mascha, von deren Sozialisationsprozess in Aserbaidschan einleitend kurz die Rede war, stammt ihr deutscher Freund Elias Angermann im Roman nicht aus einem Bürgerkriegsgebiet. Elias ist vielmehr in einem kleinen, nament­lich nicht genannten Dorf in Thüringen bei Apolda aufgewachsen (vgl. 141 und 148): „Horst und Elke“, Elias Eltern – die als Schankwirte aus soziolo­gischer Perspektive einer ständig vom sozialen Abstieg bedrohten Gruppe der unteren Mittelklasse zugeordnet werden müssen – „wohnten in einem pfirsichfarbenen Haus im mediterranen Fertigbaustil, das in der ostdeutschen Provinz verloren aussah. […] Hinter ihrem Haus hörte das Dorf auf “ (111). Um nicht unangenehm aufzufallen, lebt man im Hause A ­ ngermann lieber angepasst als Mitläufer in der Nachbarschaft und hält sich streng an die architektonischen und gestalterischen Spielregeln, die im eigenen Dorf 35 Vgl. Brähler, Elmar; Decker, Oliver; Kiess, Johannes: Mitte-Studie. 2012, S. 74, 76. Vgl. ferner Welzer u. a.: Opa war kein Nazi, S. 161. 36 Vgl. hierzu Brenner, Michael: Ein neues deutsches Judentum? In: Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft. Hrsg. v. Michael Brenner. München 2012. S. 419– 434, hier S. 419.

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vorherrschen: „Eine Eiche wuchs neben dem weiß gestrichenen Hauseingang, zugezogene Gardinen, akkurat geschnittener Rasen, Gartenhäuschen“ (111). Auch die Einrichtung der Innenräume, insbesondere das mit unzähligen Wanduhren geschmückte Wohnzimmer des Hauses, beschreibt Mascha bei ihrem Besuch der Eltern folg­lich als „ein einziges Ost-Biedermeier“ (112). Elias Sozialisationsprozess kann dabei in unmittelbarer Analogie zur verarmten Architektur und Inneneinrichtung des Hauses betrachtet werden: Besonders leidet Elias unter dem groben Erziehungsstil seines Vaters. Denn Horst Angermann ist aus pädago­gischer Perspektive eine schlechte und vollkommen ungeeignete Vaterfigur. Der Stil der Erziehung seines Sohnes ist besonders geprägt durch keineswegs vorbild­liches, undiszipliniertes Trunksuchtverhalten, das Horst Angermann immer wieder durch patriarcha­lisches Dominanzverhalten zu kompensieren versucht: „Horst ist alles andere als ein guter Vater gewesen. Er versoff die Wirtschaft seiner Frau und trainierte ab und zu die dörf­liche Fußballmannschaft“ (145). Als Elias nach seiner Fußballverletzung in der erzählten Zeit des Romans kurzzeitig aus dem Krankenhaus entlassen wird, kommt es zwischen ihm und Mascha in der gemeinsamen Wohnung zu einem vertrauten Gespräch, in dem Elias ein prägendes Kindheitserlebnis von sich preisgibt: Ich wusste nie, in welchem Zustand ich ihn [den Vater] antreffen würde. Meistens trank er abends, wenn Mutter arbeiten war. […] Sie arbeitete, ertrug wortlos seine Launen und seine Selbstherr­lichkeit. Gleich nach der Wende wurde er arbeitslos. Aber getrunken hatte er schon vorher. (90)

Während Elkes Mann Horst also die Wirtschaft seiner Frau versäuft, muss Elke bis in die tiefe Nacht die Bewirtung der Gäste in der Kneipe organisieren, in der „jeden Abend […] voller Betrieb“ (17) herrscht. Das äußere Erscheinungsbild des arbeitslosen Horst dagegen entspricht, bei aller Vorsicht hinsicht­lich physiolo­gischer Vorurteile, ganz den geschilderten inneren Charakterzügen des Erwerbslosen: „Eine breite Gestalt, ein grobes Gesicht und ein grausamer Zug um seinen Mund. Die Hände waren vor Wut zu Fäusten geballt, und in seinen Augen lag kompromissloser Hass. Ich [Mascha] hatte Angst vor ihm“ (152). Gewalt und Homophobie, keineswegs aber Gespräche über die deutsche NS -Vergangenheit, über Politik oder Gesellschaft prägen folg­lich den Erziehungsalltag des heranwachsenden Elias. Freiräume zur Entwicklung individueller Fähigkeiten sind nicht vorhanden: „E­lischa, der sich niemals im Sport hervorgetan hatte, wurde nach jedem Spiel verprügelt, der Sohn eines Sportfunktionärs sollte weder zu einem Waschlappen, noch zu einem Homosexuellen heranwachsen“ (145 f.). Problematisch ist das besonders dann, wenn an d ­ iesem

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Punkt das schon weiter oben angerissene Problem einkalkuliert wird, dass aus Sicht der Generationenforschung davon ausgegangen wird, dass „Familie als der primäre Ort“ verstanden wird, „wo das kulturelle Erbe einer Gesellschaft gelebt, inkorporiert, weitergegeben wird.“37 Denn die „Familie gibt zunächst einmal und an allererster Stelle die eigene Familienkultur weiter – und das ist ein eigenwilliger, keineswegs repräsentativer Ausschnitt aus der verfügbaren überlieferungswürdigen Kultur einer Gesellschaft.“38 Doch nach Anzeichen einer Aufarbeitung der NS-Zeit sucht man als Leser im für Deutschland durchaus repräsentativen Haus von Familie Angermann vergeb­lich. Trotz der sozialen Beschränkung ist Elias in gewisser Hinsicht jedoch ein intellektueller Aufsteiger. Denn ihm gelingt es allmäh­lich, sich von der familiären und provinziellen Enge aus dem hochpatholo­gischen Umfeld der väter­ lichen Gewalt zu emanzipieren: „Elias hatte lange gebraucht, um zu verstehen, dass Liebe nicht ausschließ­lich durch Schläge ausgedrückt werden kann“ (146). Tatsäch­lich bewältigt Elias ein Studium der Fotografie (vgl. 18). Im Anschluss arbeitet er in Frankfurt als Künstler. Gelegent­lich organisiert er dort auch Ausstellungen, wo Mascha ihn eines Tages besucht, bevor die beiden ein Paar werden (vgl. 106). Dennoch aber treten im Verlauf des Romans die intellektuellen und sozia­ len Mängel, unter denen der heranwachsende Elias im Haus seiner Eltern zu leiden hatte, bei seinem Diskursverhalten in aller Offenheit zutage. Und trotz seines jüdischen Vornamens erweist Elias sich bei genauer Lektüre des ­Romans als eine paradigmatische Persön­lichkeit im Deutschland nach 1945, die unfähig ist, sich erinnernd mit dem Thema der deutschen NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. So beispielsweise während des Krankenhausaufenthalts infolge seiner Fußballverletzung. Dort liegt Elias in einem Bett in der Mitte „von zwei weiteren Krankenbetten flankiert“ (17), in denen Patien­ten untergebracht sind, mit denen auch Mascha ihre eigenartigen Erfahrungen zu machen hat: Heinz hatte gedient und Rainer war Schlosser. Heute würden sie einiges anders machen. Nicht viel, natür­lich nicht viel. Der linke Bettnachbar räusperte sich und sagte, er müsse mir ein Kompliment machen, ich könne besser Deutsch als alle Russlanddeutschen, die er bisher auf dem Amt getroffen habe, dabei hatte ich noch fast gar nichts gesagt. Heinz fing von seiner Kriegsgefangenschaft an – bis Elias ihn bat, leise zu sein. Dann bat Elias auch mich, leise zu sein. (18)

37 Zinnecker, Jürgen: Erfahrung des Weltkriegs in der Familie, S. 141. 38 Ebd., S. 150.

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Während Mascha in ­diesem Fall aufmerksam hinhört, weil Heinz etwas von seiner Kriegsgefangenschaft erzählen möchte – nicht von den Vernichtungsvorgängen und Massenvergewaltigungen an der Ostfront – versagen bei Elias in dieser Situation die intellektuellen Kräfte vollkommen. Er verdammt die Anwesenden zum Schweigen. Doch wie sollte er auch gewinnbringend einen Beitrag zu einem Thema leisten können, über das er niemals aktiv nachgedacht oder sich ausgetauscht hat? Dabei handelt es sich bei dieser alltäg­lichen Krankenhausszene, in der Elias eine mög­liche Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit bereits im Keim erstickt, keineswegs um den einzigen Fall im Roman, in dem bei ihm die analytischen Fähigkeiten scheitern. Denn weiter konstatiert Mascha an einer späteren Stelle im Roman, dass Elias ganz allgemein beginnende Debatten über jüdische Fragestellungen in dogmatische Abbrüche zu treiben versucht, sobald man im Freundeskreis über entsprechende Fragen zu diskutieren beginnt: Sami und Cem hatten in meiner Küche die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als im Radio über Israels Siedlungspolitik gesprochen wurde. E­lischa hatte sich rausgehalten, Joints gedreht oder gekocht. Immer mit schnellen und präzisen Bewegungen, um uns deut­lich zu machen, dass es sich nicht lohnte, einen Streit anzufangen, denn das Abendessen oder Mittagessen wäre bald fertig. (172)

Statt also den Anlass zu n ­ utzen, sich in einer multikulturellen Gesprächsrunde an einer Debatte über Israel zu beteiligen, die natür­lich aufs engste mit der eigenen nationalen Geschichte und Vergangenheit verknüpft ist, verweigert der unpolitische Elias auch hier die erinnernde Auseinandersetzung. Vielmehr versucht er, die Runde durch gezielte Ablenkungsmanöver wie hektischen Arbeitseifer oder das Drehen von Joints so schnell wie mög­lich zum Schweigen zu bringen. Und mit La Rochefoucauld lässt sich dahin gehend in Erfahrung bringen: „Körper­liche Arbeit befreit von der Anstrengung des Geistes“39. Darüber hinaus: „Wenn die Faulen ihrer Faulheit genuggetan haben, treiben sie mehr als sonst jemand die anderen an, fleißig zu sein.“40 Folg­lich flüchtet sich Elias wie schon der Vater entweder in einen faulen Drogenrausch, in dem er jeder kritischen Konfrontation mit der NS-Zeit durch gezielte Betäubung und Stilllegung des Geistes aus dem Weg gehen kann. Oder Elias versucht eben

39 Rochefoucauld, François de La: Reflexionen oder Mora­lische Sentenzen und Maximen. In: Die Franzö­sischen Moralisten. La Rochefoucauld, Vauvenargues, Montesquieu, Chamfort. Hrsg. v. Fritz Schalk: Leipzig 1962. S. 60 – 139, hier S. 125. 40 Ebd., S. 133.

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durch den schon für die Großelterngeneration so charakteristisch-betäubenden Arbeitseifer die intellektuelle Auseinandersetzung mit Israel zu umgehen, die zunächst das nur schwer zu ertragende Eingeständnis von Schuld und damit verbundener Verantwortung natür­lich erforder­lich machen würde. Denn Elias fehlt es wie der Mehrheit der deutschen Bevölkerung auch in der dritten und vierten Generation einerseits an entsprechender Vorbildung aus dem Elternhaus. Andererseits fehlt ihm selbst der notwendige Wille (oder die Intelligenz) zur aktiven Aneignung eines intellektuellen Rüstzeugs, das zu einer anregenden Beteiligung am Diskurs frei­lich vorausgesetzt werden müsste. Damit ist der erste paradigmatische Fall in Grjasnowas Roman genauer in den Blick genommen, in dem die jüdische Protagonistin Mascha Defizite bei der erinnernden Aufarbeitung schildert, wenn es in der Gegenwart um eine angemessene Form der NS-Erinnerung in Deutschland geht. Ein etwas anders gelagerter, doch im gleichen Maß repräsentativer Fall defizitärer NS-Erinnerung kann am Fallbeispiel der Figur Daniel aufgezeigt werden. III

Maschas Kommilitone Daniel ist eine deutsche Nebenfigur im Roman, die Mascha erstmals über den Weg läuft, als sie mit ihrem besten Freund Cem eines Abends eine Houseparty besucht. Obwohl Daniel, ähn­lich wie Mascha, politisch links steht, ist er zugleich so etwas wie Maschas konzentriertes Feindbild: Daniel bezeichnete sich als antideutsch, womit er judophil, proamerikanisch und irgendwie linksradikal meinte. Er gehörte zu der Sorte von Leuten, die die Welt immerzu durch irgendein Projekt retten wollen: zuerst war es die Kernenergie, dann kam der Regenwald, der biolo­gische Anbau, und schließ­lich waren es die Juden. Auf die hatte er es besonders abgesehen. (62)

Gemäß der neueren Antisemitismusforschung handelt es sich bei dieser Haltung um den Versuch einer Annäherung an jüdische Mitbürger in Deutschland, der als ‚Philosemitismus‘ bezeichnet wird. Allgemein ist darunter eine übersteigerte Liebe zu allem Jüdischen zu verstehen. Eine Liebe, die aus dem Wissen um den Nationalsozialismus und der mit ihm verbundenen Schande als nachträg­licher Gewissensbiss resultiert 41, und der dadurch behoben werden soll, dass man es auf die Juden „besonders abgesehen“ hat. Doch was genau Daniel von Mascha eigent­lich will, bleibt unklar, obgleich der Kommilitone

41 Vgl. Brähler, Elmar u. a.: Mitte-Studie. S. 75.

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immer wieder dazu tendiert, Mascha auch in sexueller Hinsicht offensiv zu belästigen (vgl. 65). Mascha hingegen zeigt eher Anzeichen von Ekel, sobald Daniel ihr zu nahe kommt: „Er kam schnell auf mich zu, seine Schritte waren groß und ungelenk, die Hand griff nach meiner, ohne dass ich sie ihm entgegengestreckt hätte. […] [S]ein Atem roch nach Bier und schlechter Verdauung“ (63). Untereinander kennt man sich im Freundeskreis schon länger. So etwa aus Gruppenarbeiten an der Universität, bei denen es in der Vergangenheit auch schon einmal Streit zwischen Maschas libane­sischem Ex-Freund Sami und Daniel gegeben hat: Daniel hielt Sami für einen Antisemiten, Sami hielt Daniel für einen Philosemiten und beide hatten recht. Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten mich damit in Ruhe gelassen, doch während einer Gruppenarbeit an der Uni hatte Daniel gesagt, mein arabischer Liebhaber würde mich unterdrücken und aussaugen. Eine ägyptische Plage, so nannte er ihn. Daraufhin hatte ich Daniel einen Zahn ausgeschlagen und wäre beinahe exmatrikuliert worden, wenn Daniel nicht die ganze Schuld auf sich genommen hätte. Die er selbstverständ­lich auch trug und das nicht erst in der dritten Generation. Seit ihm ein Zahn fehlte, behandelte er mich als seinen persön­lichen Teddyjuden. Mein einziger Makel war, dass ich nicht geradewegs aus einem deutschen Konzentrationslager kam. (64)

Mascha wird auf diese Weise also ungewollt zur philosemitischen Projek­ tionsfigur,42 an der ihr Kommilitone Daniel seine familiären Schuldkomplexe abzuarbeiten versucht, wogegen Mascha sich durch das Austeilen von Faustschlägen wehrt. Ganz besonders deut­lich wird das in dem Augenblick, als Daniel auf der Party beinahe nebenbei die folgende Anmerkung macht: „Mein Onkel Günther, der wollte auch immer nur Juden morden, aber der meinte es nicht so, der hat nicht gekämpft, der war Sanitäter. Bei uns hat überhaupt niemand gekämpft“ (65). Das direkte und zugleich abgemilderte Schuldeingeständnis wird in dieser Szene typischerweise nicht in der unmittelbaren Abstammungslinie des eigenen Vaters oder Großvaters gesucht, sondern eben bei einem entfernten Onkel. Zum genaueren Verständnis der Szene bietet sich folgende Rechnung an, um diesen für einen intellektuellen Diskurs in Deutschland nach dem Holocaust paradigmatischen Fall in angemessener Weise zu beschreiben. Als konstitutive Annahme ist dabei zunächst der bereits von Hans-Joachim Maaz konstatierten Tatsache nachzugehen: „Ohne die überzeugte bis begeisterte Kriegs- und

42 Vgl. ebd.

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Mordlust einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung wäre das nationalsozialis­ tische Regime nicht bis zum bitteren Ende aufrechtzuerhalten gewesen.“43 In einem zweiten Schritt fügt man mit Harald Welzer hinzu, dass paradoxerweise heute in der „Gesamtbevölkerung weit überwiegend die Auffassung vorherrscht, dass eigene Familienangehörige keine Nazis waren; Antisemiten und Tatbeteiligte scheinen in deutschen Familien praktisch inexistent gewesen zu sein.“44 Zuletzt addiert man im Fall von Daniel dann noch den Umstand „dass die Befragten mit Abitur bzw. Hochschulabschluss diejenigen sind, die von der positiven Rolle ihrer Angehörigen in dunkler Zeit am meisten überzeugt sind.“45 Im Endergebnis bedeutet das: „Es gibt also, milde gesagt, tiefe Widersprüche in der deutschen Erinnerungskultur“46. Darüber hinaus ist der Fall Daniel deshalb so interessant, weil die antisemitischen Entgleisungen des Onkels hier noch durch ein typisch voluntaristisches Korrektiv – der Onkel sei bloß als Sanitäter zum Einsatz gekommen – kryptisch gerechtfertigt werden, wodurch schließ­lich das gesamte Familienporträt wieder in einen halbwegs geordneten, das heißt schuldfreien Kontinuitäts- und Kohärenzzusammenhang gerückt wird. Daniel kämpft gemäß seiner linken Grundhaltung daher, wie frei­lich seine Vorfahren auch, nicht an der Waffe. Wenn er überhaupt kämpft, dann nur in Form von verbalen Selbstinszenierungsprozessen und natür­lich auch nur auf der richtigen Seite: Ich will hier nicht mit abstrakten Allgemeinbegriffen einen totalitären Diskurs anfangen, versteh mich bitte nicht falsch. Es ist nun einmal einleuchtend, dass viele Juden Israel primär als ihren Zufluchtsort vor dem Genozid sehen. Und Auschwitz kann sich jederzeit wiederholen. Aber nun seid ihr da, die materialisierte Konsequenz der antisemitischen Vernichtungswut, ihre Exekutive, sozusagen. Die Juden müssen sich nach Auschwitz gegen die verteidigen können, die sie ermorden wollen. (65)

Tatsäch­lich aber handelt es sich bei diesen ambivalenten Konzessionen an „die Juden“ und „Israel“ um charakteristische Ausdrucksformen eines typisch deutschen Diskurses nach Auschwitz. In der modernen Antisemitismusforschung werden diese charakteristischen Ausdrucksformen auf folgende Weise beschrieben:

43 Maaz, Hans-Joachim: Narzisstische Gesellschaft, S. 61. 44 Welzer, Harald u. a.: Opa war kein Nazi, S. 247. 45 Welzer, Harald: Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen, S. 76. 46 Ebd., S. 77.

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[D]urch Gegenbewegungen wie den Philosemitismus und öffent­lichen anti-antisemitischen Meinungsdruck gibt es keinen homogenen Antisemitismus, sondern inhalt­lich-konkret recht unterschied­lich ausgestaltete judenfeindschaft­liche Differenzkonstruktionen, die in Einzelfragen sogar zueinander in Widerspruch stehen können, gleichwohl aber an der Stigmatisierung des Jüdischen festhalten.47

Zur Abtragung von Schuldkomplexen in der eigenen Familiengeschichte braucht auch Daniel Mascha als Projektionsfigur, um weiter „an der Stigmatisierung des Jüdischen festhalten“ zu können. Seine undifferenzierten Aussagen münden bei konkreten Einzelfragen jedoch geradewegs in Widersprüche. Heißt es doch einmal, sein Onkel habe auch immer Juden morden wollen. Zugleich auf der anderen Seite aber, er habe es nicht so gemeint und natür­lich so wenig wie der Rest der Familie für das deutsche Volk unter Hitler gekämpft. Und auch wenn Daniel weiter von sich selbst sagt, er wolle „hier nicht mit abstrakten Allgemeinbegriffen einen totalitären Diskurs anfangen“, so sind es doch gerade leere Phrasen von und über „die Juden“ und „Israel“, die Mascha auf der Party erst recht weiter gegen Daniel aufbringen: „Ich hatte wieder Lust, ihn zu schlagen, und hatte meine Hand schon zur Faust geballt, als Cem mich von ihm wegzog“ (66). Dennoch aber hat Mascha, zumindest bis sie Daniel sehr viel später in Israel rein zufällig noch einmal über den Weg laufen wird, zunächst in gewisser Weise eine sie selbst störende Achtung vor dem politisierenden Kommilitonen: „[E]s machte mich wütend, dass er einen festen Standpunkt hatte und ich nur Zweifel“ (63). Doch gerade in dem Augenblick, als Daniel später in Israel vollkommen unerwartet noch einmal vor Mascha auftaucht, zeigt sich, dass er entgegen seiner blendenden Rhetorik keineswegs einen „festen Standpunkt“ hat. Daniel erweist sich hier näm­lich als das, was er tatsäch­lich ist: Ein opportunistischer Charakter. Einer, der zur Orientierung im Leben ein klares und undifferenziertes Schwarz-Weiß-Schema braucht. Und einer, der daher die Ambivalenzen, Komplexitäten und häufig nur schwer verständ­lichen Vielschichtigkeiten des Nahostkonflikts nicht aushalten kann. Denn jetzt, in Tel Aviv, kommt Daniels im Grunde ständig vorherrschende antisemitische Latenz mit ganzer Kraft zum Vorschein: ‚Ich war gerade im Libanon, wollte mir ein Bild von der Lage machen. Irgendwie hattest du recht. Was Israel macht, ist wirk­lich nicht in Ordnung. Gerade jetzt wäre es doch eine schöne Geste, die besetzten Gebiete zurückzugeben.‘ […] Ich

47 Brähler, Elmar u. a.: Mitte-Studie, S. 75 f.

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unterbrach ihn: ‚Was soll das überhaupt? Eine schöne Geste? Die Juden nicht zu vernichten wäre auch eine schöne Geste. Und was hast du mit Palästina am Hut?‘ ‚Ich habe dort in einem Flüchtlingslager unterrichtet. Die haben mich total gemocht. Weißt du, manchmal haben wir über den Konflikt gesprochen. […] Wie schlimm das war. Mit Israel. Die ganzen Ungerechtigkeiten und die Kriege. Ich hatte ja keine Ahnung. Und aus dir konnte man ja auch nichts rauskriegen. Die haben mir erzählt, dass sie die Juden hassen. Ihnen den Tod wünschen. Aber ich habe sie berichtigt. Habe ihnen gesagt, dass es falsch ist, die Juden zu hassen. Dass man sie nicht über einen Kamm scheren dürfe. Das waren ja noch Kinder. Sechs-, Siebenjährige und so. Ich meinte zu ihnen, dass nicht die Juden schuld sind. Die Israelis, die können sie ruhig hassen. (218)

Nach den Erfahrungen im palästinen­sischen Flüchtlingslager ist Daniel mit ­seiner plötz­lich umgeschlagenen Auffassung inzwischen gegen „die I­ sraelis“ zum typischen Austräger eines besonders in Deutschland vorherrschenden Phänomens geworden. In der gegenwärtigen Antisemitismusforschung wird ­dieses Phänomen durch den Terminus des ‚sekundären Antisemitismus‘ angezeigt. Charakteristisch für diesen ‚sekundären Antisemitismus‘ ist unter ­anderem auch, dass Debatten um Israel und den Nahostkonflikt eine zentrale Rolle darin spielen: Das aus dem Nationalsozialismus und im Angesicht der mit ihm verbundenen Schande resultierende Bedürfnis nach Schuldabwehr verschafft sich Erleichterung und wird als sekundärer Antisemitismus bezeichnet. […] Die bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreiteten Varianten postulieren jüdische Mitschuld an ihrer Verfolgung und das jüdische Ausnutzen der Erinnerung für heutige Interessen; sie verkehren Täter und Opfer und fordern ein Ende der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Auch der Nahostkonflikt stellt einen Schauplatz dar, auf den sich diese Bedürfnisse projizieren lassen. Dies zeigt sich in der Übertragung antisemitischer Muster auf den Nahostkonflikt, nament­lich in einer exzessiven, mit antisemitischen Stereotypen agierenden Kritik an Israel oder in der Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus.48

48 Brähler, Elmar u. a.: Mitte-Studie, S. 75.

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IV

Am Beispiel von Olga Grjasnowas Debütroman Der Russe ist einer, der ­Birken liebt wurde die These plausibilisiert, dass in Deutschland bis heute erheb­ liche Erinnerungsdefizite konstatiert werden müssen, wenn eine sachgemäße Aufarbeitung der NS -Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die zwei deutschen Nebenfiguren in Grjasnowas Roman, die ihrer psycholo­gischen Konstitution zufolge interessanterweise für ein symptomatisches Paradigma stehen, zeigen, wie junge Erwachsene in der dritten und vierten Generation nach dem Holocaust heute Wege suchen und finden, um der Konfrontation mit der Schuld ihrer Vorfahren und einer daraus resultierenden Verantwortung durch die NS-Vergangenheit aus dem Weg zu gehen. Angesichts der Tatsache, dass es sich bereits bei der durch intellektuelle Minderheiten getragenen 68er-Bewegung quantitativ um einen nur geringen Teil der deutschen Bevölkerung handelte, darf in Deutschland trotz einer im Vergleich mit anderen Ländern vorbild­lichen Aufarbeitung aus guten Gründen nicht fehlerhaft davon ausgegangen werden, dass die Probleme eines hochdefizitären und kontaminierten Erinnerungsdiskurses im Blick auf die NS-Vergangenheit zugleich in breiten Teilen der Gesellschaft behoben wären. Neben dem politischen Engagement, das Grjasnowas Roman in dieser Hinsicht im Sinne einer nach wie vor notwendigen deutschen Selbstaufklärung auszeichnet, bleibt mit Blick auf die künftige Entwicklung in der Bundes­ republik abzuwarten, auf ­welche Weise die Nachkommen der Täter bereit oder weiterhin nicht bereit sein werden, das Erbe des Holocaust als einen integralen Bestandteil der eigenen historischen Vergangenheit anzuerkennen. Gerade den Vernichtungskrieg also als einen Teil der eigenen Volks- und Familiengeschichte zu erinnern, aus der frei­lich auch dann eine politische Verantwortung für die Zukunft resultiert, wenn man selber nicht unmittelbar mit Hand angelegt hat an ein im Kollektiv begangenes Menschheitsverbrechen. Ein Menschheitsverbrechen, das wir seit dem vergangenen Jahrhundert unter der Chiffre ‚Holocaust‘ in die Geschichtsbücher einer hochindustrialisierten und alphabetisierten Demokratie einschreiben müssen, wie sie die Weimarer Republik bereits gewesen ist.

Hannah Tzschentke

Motive der Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit in Katja Petrowskajas Vielleicht Esther Familien haben eigene Erzähltraditionen, innerhalb derer sie Geschichten von Generation zu Generation weitergeben – Familienmitglieder erkundigen sich nach Erinnerungen ihrer Vorfahren oder die Vorfahren selbst berichten von ihren Erfahrungen und Erlebnissen. Die Beschäftigung mit der Familien­ geschichte war vor allem im Zusammenhang mit den Ereignissen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges besonders ausgeprägt.1 Die ukrainische Autorin Katja Petrowskaja macht es sich zur Aufgabe, nicht nur die Geschichten festzuhalten, die ihre Eltern ihr erzählt haben, sondern ihre Familiengeschichte zu erforschen. Ihre Vorfahren haben beide Weltkriege miterlebt.2 Sie lebten in Polen und in der Ukraine und wurden wegen ihrer jüdischen Zugehörigkeit Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. In ihrem Buch Vielleicht Esther, das sie auf Deutsch geschrieben und für das sie im Jahr 2013 den Bachmann-Preis erhalten hat,3 beschreibt sie ihre realen Nachforschungen in Form eines Erinnerungsromans:4 Ihre Reisen führen sie nach Polen (Kalisz, Warschau), in die Ukraine (Kiew), und nach Russland (Moskau) – wie sie dort an Instituten nach Vorfahren recherchiert und Orte wie Babij Jar (Ukraine) oder das Konzentrationslager in Mauthausen (Österreich) besucht hat. Dabei folgen die „Geschichten“ keinem linearen Erzählstrang. Die Gegenwart und die Vergangenheit, ihre eigene Geschichte und die Geschichten der Familienmitglieder sind fragmentarisch angeordnet und 1 Für einen Überblick zum Umgang mit der deutschen Vergangenheit nach 1945 siehe: Assmann, Aleida; Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999; König, ­Helmut; Kohlstruck, Michael; Wöll, Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Opladen, Wiesbaden 1998; Grüner, Frank; Heftrich, Urs; Löwe, Heinz-Dietrich (Hrsg.): „Zerstörer des Schweigens“. Formen künstle­ rischer Erinne­rung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in ­Osteuropa. Köln 2006. 2 Vgl. Petrowskaja, Katja: Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin 2014. S. 18 f. 3 Bisky, Jens: Im Deutschen noch minderjährig. Bachmann-Preisträgerin Katja P ­ etrowskaja. In: Süddeutsche Zeitung, 07. 07. 2013. 4 Die Unterscheidung von Autorin und Erzählerin ist für Vielleicht Esther nicht aufrechtzuerhalten.

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greifen zeit­lich ineinander. Diesem Aufsatz liegt die Annahme zugrunde, dass sich Petrowskaja durch die Erforschung der Familiengeschichte auf die Suche nach ihrer eigenen Identität und ihrer Herkunft begibt. Dies wird anhand der Begründung der Autorin für ihre Nachforschungen gezeigt sowie an ausgewählten Motiven, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen. Petrowskaja recherchiert nach ihren Vorfahren. Dafür verwendet sie auch das Medium Google, das sich von anderen Suchmaschinen durch vielseitige Nutzungsmög­lichkeiten, eigene Werbestrategien und Personalisierungen unterscheidet. Die Anwendungsmög­lichkeiten des Internets sind für die sprach­liche Ausgestaltung der Geschichten ihrer Vorfahren relevant. Ihr Ziel ist es, die Ergebnisse der Recherche in einem Familienstammbaum abzubilden, um so ihren Stammbaum zu vervollständigen – auch, um ihre Familiengeschichte in der kollektiven Geschichte zu verorten. So steht beispielsweise die Geschichte ihrer Großmutter im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Sie hat kurz vor ihrem Tod ihre Erlebnisse aufgeschrieben. Mit dem Motiv des Ariadnefadens veranschau­ licht Petrowskaja, wie die Großmutter ihre Geschichte aufschreibt. Weil sich Petrowskaja an sie erinnert, sieht sie ihre Haarnadeln an verschiedenen Orten: Sie gelten als Wegweiser für das Vergangene in der Gegenwart. Ein Ort, an dem ihr die Ambivalenz von Vergangenheit und Gegenwart bewusst wird, ist Babij Jar. Einerseits beschreibt sie Babij Jar als kollektiven Ort der Erinnerung – dabei unterscheidet sie zwischen der Perspektive auf den Ort in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Andererseits geht es um die Erinnerung an ihre Vorfahren, die dort erschossen wurden. I Medien und Erinnerung

Die Ursache dafür, ihre Familiengeschichte zu erforschen, war ein „Gefühl des Verlusts“, das „ohne Vorwarnung in meine ansonsten fröh­liche Welt“ kam: „[E] s schwebte über mir, streckte seine Flügel aus, ich kriegte keine Luft und kein Licht, wegen eines Mangels, den es vielleicht gar nicht gab.“5 ­Petrowskaja spürt ein Gefühl, das sie als „Verlust“ beschreibt – ohne genau zu wissen, woher d ­ ieses Gefühl kommt und wem es gilt. Dieses Gefühl manifestiert sich. Eines Tages standen plötz­lich meine Verwandten – die aus der tiefen Vergangenheit – vor mir. Sie murmelten ihre frohen Botschaften vor sich hin in Sprachen, die vertraut klangen, und ich dachte, mit ihnen werde ich den Familienbaum blühen lassen, den Mangel auffüllen, das Gefühl von Verlust heilen, aber sie standen in einer

5 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 22.

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dicht gedrängten Menge vor mir, ohne Gesichter und Geschichten, wie Leuchtkäfer der Vergangenheit, die kleine Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen oder Begebenheiten, aber nicht sich selbst.6

Das Erscheinen ihrer Verwandten ist hier nicht als übersinn­liche Wahrnehmung zu verstehen, sondern als Bewusstwerden eines inneren Bildes, das dem Gefühl des Mangels entspricht. Petrowskaja erhofft sich, dass ihre Vorfahren ­dieses Gefühl beheben und dass sie mit ihren Geschichten den lückenhaften Stammbaum ergänzen kann.7 Dies ist für sie der Grund, die Geschichten ihrer Ahnen zu recherchieren. Ihre Reise beginnt Petrowskaja am Berliner Hauptbahnhof. Von dort aus fährt sie nach Polen. Am Bahnsteig spricht sie ein alter jüdischer Mann namens Samuel an. Er fährt ebenfalls nach Polen, in ein Dorf, in dem fast ausschließ­lich Juden gewohnt hatten. Die Umgebung und die ört­lichen Gegebenheiten hat Sam bei Google nachgesehen: „Und nun würden sie dorthin fahren, fünf Kilometer von der weißrus­sischen Grenze entfernt, Google sei Dank.“8 ­Petrowskaja vergleicht Google mit Gott. Das Sprichwort „Gott sei Dank“ wird abgeändert und „Gott“ durch „Google“ ersetzt. Nicht mehr Gott ist die schicksalhafte Fügung zu verdanken, wie es das Sprichwort besagt, sondern Google. „Google wacht über uns wie Gott, und wenn wir etwas suchen, dann gibt er uns nur unsere Reime darauf. […] Gott googelt unsere Wege, auf dass wir nicht herausfallen aus unseren Fugen.“9 Die Suchmaschine wird als Wächter beschrieben, der die Bedürfnisse und Sorgen der Menschen zu kennen scheint, so wie dies üb­licher­weise nur Gott zugeschrieben wurde: Befindet sich ein Mensch in einer schwierigen Lage und sucht nach einer Lösung, ergibt sich diese manchmal scheinbar wie von selbst. Für einen gläubigen Menschen lautet die Erklärung, dass die Lösung durch Gottes Unterstützung gefunden werden konnte. Nun aber scheinen die Wege durch Gott, der sie „gegoogelt“ hat, vorbestimmt zu sein. Die Textstelle wirkt ironisch, weil Gott auf die Funktionen der Suchmaschine zurückgreift, um Menschen den Weg zu zeigen. Google wird personifiziert und somit eine scheinbare Synthese von Gott und Google erzeugt, so als erinnere sich Google an die Suchbegriffe. Da Google – als Suchmaschine – zwar über eine Ansammlung von Wissen verfügt, sich aber nicht an das Wissen erinnert, sondern die gespeicherten Daten abruft, ist hier die Unterscheidung



6 Ebd., S. 25. 7 Vgl. ebd., S. 27. 8 Ebd., S. 11. 9 Ebd., S. 12.

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von Assmann zutreffend: „Unter Speichern soll ein mechanisches Verfahren der Einlagerung und Rückholung verstanden werden.“10 Dahingegen wird „beim psychischen Erinnern die Zeitdimension akut. Zeit und Identität greifen aktiv in den Gedächtnisprozess ein“ – Erinnern ist ein „unkontrollierbarer Prozeß, von dem das Subjekt selbst affiziert ist.“11 Google kann sich also nicht an etwas erinnern, sondern nur Gespeichertes abrufen. Im Warschauer Ghetto angekommen sucht Petrowskaja nach einem Haus. In Gesprächen über „Warschau“ und „Juden“ werde automatisch „Ghetto“12, wie in einer mathematischen Gleichung, hinzugefügt – so, als ergebe sich aus Warschau und Juden immer Ghetto. „Ghetto sagen die Historiker, Ghetto sagen meine Freunde, Ghetto bellt das Internet. Ich versuchte im Internet darüber zu klagen, als wäre das Internet die Klagemauer der Ungläubigen, stieß aber auch dort auf die Mauern des Ghettos.“13 Der Begriff der Klagemauer wird aus dem religiösen Kontext entnommen: Im Internet gebe es keine religiösen Gesetze oder Pflichten. Dennoch hat Petrowskaja selbst als eine der Ungläubigen dort angeklagt. Aber auch im Internet sei sie nur auf das Wort „Ghetto“ gestoßen. Die Stadt Warschau werde ausschließ­lich in unauflös­licher Verbindung mit dem Ghetto genannt. Alles, was sich zuvor und danach ereignet hatte, werde ausgeblendet. Warschau scheine nur im Kontext des Sammellagers bekannt zu sein, zu dem es die Nationalsozialisten gemacht haben, oder im Zusammenhang mit dem „Warschauer Aufstand“14. Einerseits wirkt Petrowskajas Aussage, als könne oder wolle sie sich nicht eingestehen, dass es ein Ghetto war und auch ihre Verwandtschaft dort festgehalten wurde. Andererseits ist es eine implizite Kritik daran, dass der Ort auf diesen Zeitabschnitt reduziert wird und die Zuschreibung des Ghettos fortbesteht: „Es gab 1905 kein Ghetto, und es gibt jetzt keins. Wo einmal ein Ghetto war, stehen Bankgebäude.“15 Ihre Suche nach dem Haus im Warschauer Ghetto erscheint ihr anachronistisch: „Sie [die polnischen Bürger] erledigten ihre Einkäufe, während ich mich mit der verschwundenen Welt beschäftigte.“16 Was bedeutet diese Welt für sie? Warum beschäftigt sie sich

10 Assmann, Aleida: Speichern oder Erinnern? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon. In: Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs. Die Systematisierung der Zeit. Hrsg. von Moritz Csáky, Peter Stachel. Wien 2001. S. 15 – 29, hier S. 15. 11 Ebd. 12 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 102. 13 Ebd. 14 Vgl. ebd., S. 104. 15 Ebd., S. 102. 16 Ebd., S. 104.

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mit ihr? Die Vergangenheit ihrer Verwandten ist von Petrowskaja weit entfernt, deshalb versucht sie, ihre flüchtigen Spuren festzuhalten und sich durch das Aufschreiben ihrer Geschichten in diese Vergangenheit einzugliedern. Petrowskaja kann das Haus ihrer Vorfahren nicht finden und fährt deshalb zum „Jewish Genealogy & Family Heritage Center“17. Dort recherchiert sie gemeinsam mit einer Mitarbeiterin nach Namen ihrer Vorfahren.18 Ein Mitarbeiter aus einer anderen Abteilung ersteigert alte Fotos auf Ebay.19 So findet er auch das Foto, auf denen das Haus zu sehen ist, in dem ihre Urgroßeltern Krzewins gelebt hatten.20 Zygmunt Krzewin und Hela ­Krzewina 21 wurden in Kalisz geboren. Zygmunt wurde deportiert und im Jahr 1943 erschossen, Hela wurde 1942 getötet.22 Petrowskaja wird der Kontext bewusst, in dem die Geschichte ihrer Vorfahren und damit auch ihre eigene steht: Auch ihre Verwandten wurden Opfer des nationalsozialistischen Regimes, und die jüdische Katastrophe ist ein Teil ihrer eigenen Vergangenheit. In ­diesem Moment realisiert sie, dass ihre Vorfahren getötet wurden, obwohl sie bereits Geschichten über ihre Vorfahren im Zweiten Weltkrieg kannte: „Ich verstand nicht mehr, wie ich mir jemals hatte einbilden können, ich sei verschont geblieben.“23 Die Verbindung von gegenwärtiger technischer und sozialer Entwicklung mit der Vergangenheit ist Gegenstand des Kapitels „Facebook 1940“24. Das (digitale) ­soziale Netzwerk Facebook gibt es seit dem Jahr 2004. „Facebook 1940“ bezieht sich auf die Generation aus dem Jahr 1940, die sich nun auf Facebook zusammenfindet. Dina, die zu dieser Generation gehört und eine ehemalige Nachbarin von Petrowskajas Mutter in Kiew war, rief Silvester im Jahr 2011 Petrowskajas Eltern an. Sie berichtete, wie es ihr nach dem Krieg ergangen war, und dass sie über Facebook ihre Klassenkameradin wiedergefunden hat.25 Wegen des Anrufs schwiegen alle „Anwesenden […], als wüssten sie Bescheid. Mein Vater war der erste, der kurz aufschluchzte.“26 Petrowskajas Eltern suchen nach Verwandten, Freunden und Bekannten, von denen sie durch den Krieg

17 Ebd., S. 106. 18 Vgl. ebd., S. 106. 19 Ebd., S. 108. 20 Vgl. ebd., S. 114. 21 Im Rus­sischen endet der Nachname der Frau auf ‚a‘. 22 Ebd., S. 106 ff. 23 Ebd., S. 109. 24 Ebd., S. 84. 25 Vgl. ebd., S. 85. 26 Ebd., S. 86.

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getrennt wurden. So ist es denkbar, dass sie ihre Recherche auch deshalb betreibt, weil sie, wie ihre Eltern, die Suche nach ihren Vorfahren fortführen möchte. Auf ihrer Reise nach Warschau wird ihr bewusst, dass sie die Sprachen ihrer Ahnen nicht gelernt hat. Die kulturelle und sprach­liche Distanz, die sie zu ihren Ahnen hat, beschreibt sie als fehlenden Bestandteil einer gemeinsamen Identität und einer geteilten Tradition. Als Nachkommin der Kämpfer gegen die Stummheit war ich einsatzbereit, aber sprachlos, ich beherrschte keine der Sprachen meiner Vorfahren, kein Polnisch, kein Jiddisch, kein Hebräisch, keine Gebärdensprache, ich wusste nichts über die Shtetl, ich kannte kein Gebet, ich war Anfängerin in all jenen Disziplinen, zu denen meine Verwandten sich berufen fühlten.27

Das Unterrichten von taubstummen Kindern war in ihrer Familie Tradition, bis sie durch die Kriegsereignisse zerstört wurde und damit auch nicht mehr an sie und ihre Mutter weitergeben werden konnte. Ihr war es als Nachfahrin nicht mög­lich, an dieser Gemeinschaft teilzuhaben. Petrowskaja hofft, dass sie „die Geister der Vergangenheit aufgestört, irgendwo eine zarte Membran berührt“ hat, „dort, in der untersten Himmelsschicht, an die ein Mensch noch gerade heranreichen kann.“28 Sie vermutet, dass ihre „Mutter, eine eigenwillige Lehrerin, sich schon immer in dieser Umgebung aufgehalten“29 haben musste. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass Petrowskaja ihre Nachforschungen aus dem Bedürfnis heraus betrieben hat, den Familienstammbaum zu vervollständigen. Sie ist in der Vergangenheit gewissermaßen verhaftet, weil sie dort nach den Geschichten, Spuren und Erinnerungen ihrer Vorfahren sucht. Ihr Bezug auf das Internet stellt eine künst­liche Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit dadurch her, dass sie diese Ebenen vermischt. Sie ordnet jedem Medium eine Eigenschaft zu: Google ersetzt Gott und Facebook dient als Netzwerk für die Generation aus dem Jahr 1940. Sie sind wie ein Fenster in die Vergangenheit. II Individuum und Kollektiv in der Geschichte

Konnten die Ergebnisse der Recherche ihr helfen, die fehlenden Familienmitglieder in die Metapher des Stammbaums einzubringen und die Familiengeschichte zu vervollständigen? Wie ging die Familie mit jenen Familienmitgliedern um,

27 Ebd., S. 101. 28 Ebd., S. 84. 29 Ebd.

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die keine Opfer, sondern Täter waren? Dem Kapitel „Familienbaum“ ist ein Zitat von Heinrich Heine vorangestellt: „Ein Fichtenbaum steht einsam.“30 Eine Deutungsmög­lichkeit ist, dass ihre Familie durch die jüdische Zugehö­ rigkeit – vor allem als Zuschreibung und nicht nur als Identität – einsam war wie die Fichte aus Heines Zitat. Dies lässt sich als Hinweis dafür lesen, in welchem Umfeld sie ihren Stammbaum verortet: Einerseits lebten ihre jüdischen Vorfahren in einem gesellschaft­lichen Umfeld, in dem sie zunehmend ausgeschlossen und verstoßen wurden. Andererseits ist es eine Charakterisierung der Ausgrenzung und Zerstörung jüdischer Familien durch die Folgen national­ sozialistischer Vernichtungspolitik. Petrowskaja fährt zur Recherche über ihren Großonkel Judas Stern nach Russland ins „Geheimdienstarchiv auf der Lubjanka in Moskau.“31 Dort versucht sie, weitere Anhaltspunkte über Stern zu erhalten. „Am 5. März 1932 hatte mein Großonkel Judas Stern mitten in Moskau auf den deutschen Botschaftsrat Fritz von Twardowski geschossen.“32 Von Twardowski, der „seit November 1922 als Angestellter in den Auswaertigen Dienst […] als politischer Referent in die Botschaft Moskau kam“33, überlebte das Attentat. Stern wurde verhaftet und angeklagt. Während des Prozesses äußerte Stern sich zu seinen Absichten: „Mit dem Attentat bezwecke ich die Hervorrufung von Spannungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland und dadurch eine Verschlechterung der internationalen Lage der Sowjetunion.“34 Stern hatte bewusst auf von T ­ wardowski geschossen, um die diplomatischen Vermittlungen zwischen den Staaten zu erschweren. Dafür wurde er verurteilt und hingerichtet. Die sowjetische Gesellschaft reagierte mit Empörung auf den Anschlag. In der Presse wurde Judas Stern als „Meuchelmörder“35 bezeichnet: „In den ersten Tagen nach dem Attentat war das ganze Land empört, denn Judas Stern, dieser Verräter, hatte sich am sowjetischen Frieden vergriffen.“36 Der deutsche Botschafter Herbert von Dirksen „war vor allem über die Schuldzuweisungen an Polen besorgt, die durch die sowjetische Presse flackerten und von deutschen kommunistischen Zeitungen übernommen wurden.“37

30 Ebd., S. 17. 31 Ebd., S. 148. 32 Ebd., S. 141. 33 Institut für Zeitgeschichte: Vernehmung des Herrn von Twardowski am 11. August 1947. München 1948, S. 2. 34 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 153. 35 Ebd., S. 152. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 154.

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Für die Familienmitglieder waren die Konsequenzen des Attentats schwerwiegend: „Es war lebensgefähr­lich, sich an Judas Stern zu erinnern. Er selbst hatte keine Sekunde lang über die Folgen seiner Tat für seine Angehörigen nachgedacht. Wie sollten sie ihn dann im Familiengedächtnis bewahren?“38 Dieses Ereignis war traumatisierend für ihre Vorfahren. Die Familie erinnerte sich an Stern mit widersprüch­lichen Gefühlen. Sie litt unter dem Verlust, aber ächtete ihn, weil sie durch sein Attentat in Gefahr geraten war. Weil „er verrückt war, konnte man nicht über seine Verantwortung sprechen, und so sperrten wir ihn weg in die Vergangenheit.“39 Die Vergangenheit wird zu Sterns Gefängnis, denn die Erinnerungen an ihn wurden nicht durch Geschichten und Anekdoten erhalten, sondern durch Verschweigen und Verdrängung. Die Familie konnte und wollte sich an ihn nicht erinnern, weil die Erinnerungen zu gefähr­ lich und zu schmerzhaft waren. Das Beispiel von Sterns Bruder, Petrowskajas Großvater Semjon, zeigt die Folgen des Attentats für die Familienmitglieder: „Die Angst, dass seine Kinder für das Attentat seines Bruders bezahlen ­müssten, hat aus meinem Großvater Semjon den schweigsamsten Menschen der Nachkriegszeit gemacht.“40 Petrowskaja unterhält sich mit ihrem Vater über den Zusammenhang der eigenen und der kollektiven Geschichte. Sie vertreten gegensätz­liche Meinungen. Ihr Vater setzt sich mit der Geschichte auseinander, distanziert sich aber gleichzeitig von dieser. Er ist der Ansicht, „dass man keine Verwandten brauche, um einen Bezug zur Geschichte zu haben.“41 Petrowskaja widerspricht der Auffassung ihres Vaters. Sie sieht einen Bezug zwischen ihrer Familie und der Geschichte. Auch wenn der Bezug entgegen ihren Erwartungen unerhoffte Zusammenhänge hervorbringt, vertritt sie dennoch die Auffassung, dass alles Teil eines großen Ganzen sei. Dies erklärt sie mit ihrer „Neigung, alles in ein großes Panorama zu stellen, als befänden wir uns selbst in der Windrose des Geschehens, wenn auch nur dank eines verrückten Verwandten, von dem wir nichts lernen konnten.“42 Die Frage nach ihrer Familiengeschichte bringt sie ein Stück weit an ihre eigene Identität heran und ermög­licht ihre eigene Verortung im Kontext der Geschichte. Die Nachforschungen haben nicht nur wünschenswerte Ergebnisse hervorgebracht, wie neben der Geschichte von Judas Stern weitere Geschichten zeigen:

38 Ebd., S. 143. 39 Ebd., S. 148. 40 Vgl. ebd., S. 145. 41 Ebd., S. 180. 42 Ebd.

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Die Vergangenheit betrog meine Erwartungen, sie entschlüpfte meinen Händen und beging einen Fauxpas nach dem anderen. Mein Stammvater, der die ruhm­reiche Geschichte meiner Familie erzählte, war ein unehe­liches Kind, doch das durfte ich nicht schreiben, außerdem war Ozjel gar nicht früh verwitwet, und dann noch ­dieser Adolf, damals ein gewöhn­licher Name, doch für mich ein alarmierender. Adolf bestätigte meine Befürchtungen, dass ich keine Macht über die Vergangenheit hatte, sie lebt, wie sie will, sie schafft es nur nicht zu sterben.43

Ihr wird bewusst, wie wenig sie die Vergangenheit kontrollieren und die Ergebnisse ihrer Nachforschungen beeinflussen kann. Dennoch hat sie weiter recherchiert und auch Sterns Geschichte aufgeschrieben. Petrowskaja kann, im Gegensatz zu ihren Großeltern, wegen ihrer eigenen emotionalen und zeit­lichen Distanz die Geschichte von Stern erzählen. Dass Stern „geschossen“ hatte und „einen Menschen töten“ wollte, hindere sie dennoch, „ihn zu verstehen.“44 Die Geschichten zeigen, wie sehr ganze Generationen von den Kriegserlebnissen gezeichnet sind und in welchem Maße das eigene Lebenskonzept durch den Krieg beeinflusst oder zerstört wird. Umgekehrt ist das Einzelschicksal der vom Krieg betroffenen Menschen für den Fortgang der Geschichte jedoch kaum von Bedeutung. III Mythologie und Erinnerung

Petrowskaja sieht an unterschied­lichsten Plätzen Haarnadeln, die sie an jene ihrer verstorbenen Großmutter Rosa erinnern: Ich finde Rosas Haarnadeln in allen Städten der Welt, in Hotels, auf modernen Bahnhöfen, in den Gängen von Zügen und in fremden Wohnungen, als hätte Rosa sich kurz vor mir an diesen Orten aufgehalten, als wüsste sie von meiner Verlorenheit und zeigte mir mit ihren Haarnadeln den Weg nach Hause – sie, die niemals ins Ausland gereist war.45

Sie stellt sich vor, dass ihre Großmutter eine Spur für sie ausgelegt hat, damit sie sich in der Welt zurechtfinden kann. Ihr Leben und die Welt als Ort scheinen wie ein Labyrinth, in dem sich Petrowskaja durch die Haarnadeln der Großmutter zurechtfinden kann – als wäre ihre Großmutter bereits vor ihr

43 Ebd., S. 133. 44 Ebd., S. 176. 45 Ebd., S. 61.

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an diesen Orten gewesen. Petrowskaja erinnert sich an ihre Großmutter und die Haarnadeln zeigen ihr, dass sie den richtigen Weg geht. Die Erinnerung an ihre Großmutter kurz vor ihrem Tod beschreibt Petrowskaja so: „In den letzten Lebensjahren schrieb Rosa unablässig und in großer Eile an ihren Memoiren, mit Bleistift auf weißem Papier.“46 Durch das Aufschreiben konnte sie sich ihre Erinnerungen vergegenwärtigen. Laut Aleida und Jan Assmann „bewahrt“ das Gedächtnis das, „was schon da ist, und reichert die Gegenwart mit Vergangenheit an, die Schrift fixiert Neues und öffnet die Gegenwart für die Zukunft.“47 Das Aufschreiben gibt der eigenen Geschichte eine Zukunft – das gilt auch dann, wenn die Großmutter verstorben ist. Die Funktion der schrift­lichen Fixierung hat Francis Bacon beschrieben. Er ging von dem „Bedürfnis nach Kontinuität und Dauer als einer anthropolo­gischen Universalie aus. Den Wunsch nach Unsterb­lichkeit erklärt Bacon zu den fundamentalsten mensch­lichen Anliegen und die Schrift zum hervorragendsten Medium seiner Verwirk­lichung.“48 Für ihre Großmutter Rosa hatte das Aufschreiben jedoch einen anderen Grund. Ihre Notizen hatten weder Seitenzahlen, noch waren die Blätter nummeriert: „Ahnte sie, dass es unnötig war, eine Reihenfolge festzulegen, wenn sich schon die Zeilen nicht entziffern ließen? Oft vergaß sie, ein neues Blatt zu nehmen, und schrieb mehrere Seiten auf dasselbe Papier. Eine Zeile ragte in die nächste hinein.“49 Sie erfüllte nicht mehr die phy­sischen Voraussetzungen, ihre Memoiren leser­lich geordnet aufzuschreiben. Aber sie waren „nicht zum Lesen gedacht“, so Petrowskaja, „sondern zum Festhalten.“50 Die Memoiren ihrer Großmutter waren „ein dick gedrehter, unzerreißbarer Ariadnefaden.“51 Der Ariadnefaden ist Gegenstand der griechischen Sage der Ariadne von Kreta: Theseus wollte auf Kreta in einem Labyrinth den Minotaurus töten. Ariadne, die Tochter des Königs Minos von Kreta verliebte sich in Theseus und gab ihm Garn, damit er aus dem Labyrinth wieder herausfinden konnte.52 Petrowskaja

46 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 61. 47 Assmann, Aleida; Assmann, Jan: Schrift und Gedächtnis. Nachwort. In: Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I. Hrsg. von Aleida und Jan Assmann, Christof Hardmeier. München 1983. S. 265 – 284, hier S. 268. 48 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4., durchgesehene Auflage. München 2009, S. 191. 49 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 61. 50 Ebd., S. 62. 51 Ebd. 52 Vgl. Grant, Michael; Hazel, John (Hrsg.): Ariadne. In: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München 1973. S. 72, hier S. 72; Rose, Herbert Jennings: Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München 1969. S. 259.

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interpretiert das Aufschreiben der Erinnerungen ihrer Großmutter so, dass es ihr nicht primär darum ging, ihre Erlebnisse für die Nachfahren greifbar und erzählbar zu machen, sondern Erinnerungen aufzuschreiben, um sich im materiellen Sinne daran festzuhalten – als Orientierung, um aus dem Labyrinth wieder herauszufinden. Die Großmutter erschreibt sich einen Ariadnefaden. Ihre Erinnerung wird nicht zu einem Textgeflecht, hat keine Struktur, die einem lesbaren Text gleicht, sondern bleibt in einem unentzifferbaren, vorschrift­lichen Zustand. Im Gegensatz zu Petrowskaja, die aus den Fragmenten der Geschichten ihrer Vorfahren ein Buch schreibt, hat ihre Großmutter die Memoiren notiert, nicht um sie den Nachfahren zugäng­lich zu machen, sondern um sich daran festzuhalten. IV Babij Jar im Spannungsfeld individueller und kollektiver Erinnerung

Während des Massakers an der Weiberschlucht von Babij Jar am 29. und 30. September 1941 töteten deutsche Einsatzkommandos über dreißigtausend jüdische Einwohner Kiews.53 „Diese Gräueltaten an der jüdischen Bevölkerung fanden nur wenige Tage nach der Einnahme der ukrainischen Hauptstadt durch die deutschen Truppen am 19. September 1941 statt.“54 Wohl auch wegen des Ausmaßes der „Kollaboration“ der „Bevölkerung mit der Besatzungsmacht“55 ­wurden in offiziellen Mitteilungen die jüdischen Opfer verschwiegen. „In der von der Sowjetführung verordneten neuen Sprachregelung“ durfte man nur noch von „Sowjetbürgern“ oder „fried­lichen Bürgern“56 sprechen. So wurde Babij Jar in „offizieller Lesart Ausdruck für die Grausamkeit des faschistischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion.“57 Petrowskaja, die Jahrzehnte später nach Babij Jar fährt, bemerkt, dass sich auf der Gedenktafel kein Hinweis auf die jüdischen Opfer findet: „Die Wörter Heldentum, Mut, Vaterland, Kühnheit prallten von 53 Grüner, Frank: Die Tragödie von Babij Jar im sowjetischen Gedächtnis. Künstlerische Erinnerung versus offizielles Schweigen. In: „Zerstörer des Schweigens“. Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa. Hrsg. von Frank Grüner, Urs Heftrich, Heinz-Dietrich Löwe. Köln 2006. S. 57 – 96, hier S. 58. „[V]or Beginn des Zweiten Weltkrieges“ war Kiew „ein bedeutendes kulturelles Zentrum der Juden in Osteuropa und gehörte mit Moskau, Leningrad und Odessa zu den vier Großstädten der Sowjetunion, in denen vor 1941 die größten jüdischen Gemeinden des Landes mit mehr als 200.000 Personen ansässig waren“ (vgl. ebd., S. 60). Fast ein Viertel von ihnen wurde in Babij Jar erschossen. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 66. 56 Ebd., S. 69. 57 Ebd., S. 70.

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mir ab wie Pingpongbälle. Kein Wort davon, dass hier auch die Juden von Kiew lagen.“58 Dies lässt sich durch den Umgang mit den Erschießungen seitens der sowjetischen Führung begründen. Ab 1942 war es „in offiziellen Stellungnahmen führender Politiker und Darstellungen der Massenmedien“ üb­lich „die Rolle der jüdischen Opfer in den zahlreichen Massentötungsaktionen der [deutschen] Besatzungsmacht herunterzuspielen und schließ­lich ganz zu verschweigen.“59 Die politische Führung hatte jeg­liche „Initiative aus den Reihen der Bevölkerung“ trotz „verschiedenster Bemühungen zur Errichtung eines Denkmals für die Opfer von Babij Jar“60 unterdrückt. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Babij Jar konnte die sowjetische Führung jedoch nicht unterbinden. Bereits in den 1940er Jahren schrieb man über die Massenhinrichtungen. Die Werke waren meist von Juden verfasst, die selbst Familienangehörige in Babij Jar verloren hatten.61 Das Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko, aus dem Jahr 1961, unterschied sich jedoch von den bisherigen: Er setzte Babij Jar in den Kontext der „jüdische[n] Tragödie“ und verband diese „vor allem mit seiner Kritik an dem sowjetischen Antisemitismus.“62 ­Entsprechend bewegt reagierten die Nachfahren der Opfer auf das Gedicht. Sie „weinten vor Glück, dass man über das Unglück nun end­lich öffent­lich sprach. Ein rus­sischer Dichter hatte sich der jüdischen Opfer angenommen.“63 Die Wirkung des Gedichts auf ihre Familie beschreibt Petrowskaja so: „Es schien, als wäre d ­ ieses Weltunglück nicht mehr obdachlos, als wäre die Ehre der Erinnerung wiederhergestellt worden.“64 Die „Ehre der Erinnerung“ bedeutet hier, dass die jüdischen Opfer nicht mehr verschwiegen, sondern in das kollektive Gedächtnis integriert w ­ urden, in dem bisher die Perspektive auf das Leid der sowjetischen Bevölkerung dominierte. Es ist denkbar, dass Petrowskaja Vielleicht Esther geschrieben hat, damit die Geschichte ihrer Vorfahren nicht mehr „obdachlos“ ist. Sechs Jahre nach Erscheinen des Gedichts wurde in Babij Jar ein „kleiner Gedenkstein niedergelegt.“65 Dies erfolgte jedoch in einer Entfernung von 1,5 km.66 Inwiefern hat sich dadurch auch der Umgang mit Babij Jar verändert?

58 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 187. 59 Grüner, S. 69. 60 Ebd., S. 72. 61 Vgl. ebd., S. 77. Zu den Phasen der literarischen Auseinandersetzung mit Babij Jar: Grüner, S.  77 – 92. 62 Ebd., S. 85. 63 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 189. 64 Ebd., S. 190. 65 Ebd. 66 Vgl. Grüner, S. 73.

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Petrowskaja schildert ihre Eindrücke von Babij Jar heutzutage: Menschen legen Blumen am Gedenkstein ab. Dies toleriert die Regierung auch gegenwärtig nicht und Milizen verhindern das Ablegen von Blumen. Manche Bewohner seien aus Kiew ausgewandert, „nicht nur, weil ihnen das Leben in der Gegenwart schwergemacht wurde, sondern auch, weil ihnen ihre Vergangenheit, ihre Trauer, ihre Orte gestohlen worden waren“67, so Petrowskaja. Babij Jar ist kein Ort, an dem durch Denkmäler an das Leid der Juden erinnert wird. Vielmehr zeigt sich, dass – der These von Ol’ga Anstej folgend – Babij Jar ein „traumatischer Ort“68 ist: Es fand und findet keine offizielle Aufarbeitung statt. Vielmehr ist Babij Jar ein Naherholungsgebiet für die Bevölkerung Kiews, was sich auch daran zeigt, dass der Ort an die Kiewer Infrastruktur angebunden ist. In unmittelbarer Nähe befindet sich „[e]ine Tuborg-Bude, ein Kiosk“ und daneben ein „Denkmal für die getöteten Kinder.“69 An die Massaker an der jüdischen Bevölkerung werde jedoch nicht erinnert. Petrowskaja fragt sich, ob „ein Ort derselbe Ort“ bleibt, wenn man an d ­ iesem Ort mordet, dann verscharrt, sprengt, aushebt, verbrennt, mahlt, streut, schweigt, pflanzt, lügt, Müll ablagert, flutet, ausbetoniert, wieder schweigt, absperrt, Trauernde verhaftet, später zehn Mahnmale errichtet, der eigenen Opfer einmal pro Jahr gedenkt oder meint, man habe damit nichts zu tun.70

Die beschriebenen Handlungen umschreiben die Erschießungen im September 1941. Die Leichen wurden aus Angst vor Bekanntwerden der Erschießungen ausgegraben und verbrannt. Man schwieg darüber, dass vor allem Juden erschossen wurden, und nahm den Trauernden ihren Erinnerungsort. Für das Blumenniederlegen wurden die Menschen verhaftet. Babij Jar wird zu einem Ort, an dem nicht angemessen an die Opfer erinnert werden darf. „Später zehn Mahnmale“ aufzustellen, suggeriert eine Abgeschlossenheit mit dem Thema. Wie ein Versuch, etwas halbherzig wiedergutzumachen. Es bedeutet jedoch nicht, dass Petrowskaja fordert, Mahnmale für die Opfer aufzustellen und weiter bedarf es keiner Handlungen, außer einmal im Jahr mit der Familie der Opfer zu gedenken. Vielmehr ist es so zu verstehen, dass sich offiziell mit den Folgen und dem Leid der jüdischen Familien auseinandergesetzt werden müsse und das Aufstellen von Mahnmalen nicht ausreichend sei.

67 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 190. 68 Grüner, S. 82. 69 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 183. 70 Ebd.

Katja Petrowskajas Vielleicht Esther 283

Es besteht insgesamt eine starke Diskrepanz zwischen dem Ort der Vergangenheit Babij Jar, an dem Menschen erschossen wurden, und dem gegenwärtigen Ort, an dem die „Wohnungen“ nicht „billiger als anderswo“ sind – für Petrowskaja ist Babij Jar ein „Park.“71 Aber um die Ehre der Erinnerung an die Opfer zu erhalten, wie sie dies an anderer Stelle formuliert hat, hätte in Babij Jar eine Gedenkstätte eingerichtet werden müssen. Ein Erinnerungsort wird nicht durch die Anzahl der Denkmäler zu einem solchen gemacht, sondern durch den angemessenen Umgang mit dem Ort, der gewisse Verhaltensregeln, wie sie auf einem Friedhof gelten, mit einschließt. Die Germanistin, Autorin und gebürtige Wienerin Ruth Klüger wurde als Kind in mehreren Konzentrationslagern festgehalten und berichtet in weiter leben von ihren Erfahrungen. Für die Diskrepanz zwischen einem Ort, der abhängig vom zeit­lichen Kontext in unterschied­lichen Formen existiert, erdachte sie sich den Begriff „Zeitschaften“ – das ist ein „Ort in der Zeit, die nicht mehr ist.“72 Generationen erleben unterschied­liche Formen des gleichen Ortes. Deshalb ist es die Aufgabe der Nachfahren, die die ursprüng­liche Existenzform eines Ortes nicht kennen, von den Leiden, die an dem Ort geschehen sind, zu berichten. Dabei steht weniger die Erhaltung des Ortes – hier bezogen auf Konzentrationslager – im Vordergrund, sondern vielmehr die Erinnerung an die Geschichten der Menschen, die dort eingesperrt und ermordet wurden. Das Fehlen einer Gedenkstätte, die die jüdische Perspektive in den Mittelpunkt stellt, ist das Symbol der fehlenden Auseinandersetzung und des mangelnden Bewusstseins für das, was in Babij Jar geschehen ist. Petrowskaja ist mehrmals mit ihren Eltern in Babij Jar gewesen. Zu ­diesem Zeitpunkt wusste sie jedoch nichts Genaues von d ­ iesem Ort, bis ihre Eltern erzählten, dass ihre Großeltern dort erschossen wurden.73 Die Geschichte der Urgroßmutter, der Großmutter von Petrowskajas Vater, ist ein zentrales Kapitel in Vielleicht Esther, für das sie den Bachmann-Preis erhielt. Das Einzige, was neben einem Foto von der Urgroßmutter überliefert wurde, war die Geschichte von ihrer Erschießung. Als Petrowskaja ihren Vater nach dem Namen ihrer Urgroßmutter fragte, antwortete er: „Ich glaube, sie hieß Esther […]. Ja, v­ ielleicht Esther.“74 An ihren genauen Namen konnte sich ihr Vater nicht erinnern, da sie nur „Babuschka“ genannt wurde. Petrowskaja behält den Zusatz „vielleicht“ bei und nennt sie im Folgenden „vielleicht Esther“75. So macht sie den Namen der Urgroßmutter zu einer Variablen. Dies deutet auf Fiktionalität hin. Sie 71 Ebd. 72 Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 79. 73 Vgl. Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 187. 74 Ebd., S. 209. 75 Ebd.

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macht bewusst, dass es alles auch nur eine Legende sein kann, und dass es insgesamt keine gesicherten Erkenntnisse von der Vergangenheit gibt. Dabei ist die Geschichte der Großmutter und der Urgroßmutter Vielleicht Esther eine Variable für die Geschichten, die andere Menschen dieser Generationen in ähn­licher Form erlebt haben könnten. Die Familie war „im August 1941 vor der deutschen Armee aus Kiew“76 geflohen. Doch die Urgroßmutter blieb alleine zurück, da sie nicht mehr gehen konnte und den Weg nicht geschafft hätte.77 Als die Deutschen die jüdischen Bewohner Kiews aufforderten, sich an der Schlucht zu versammeln, machte sich die Urgroßmutter auf den Weg, „weil sie die Ordent­lichkeit der Deutschen manisch anziehe.“78 Sie schaffte es zu gehen, doch war sie dabei so langsam, dass Petrowskaja für die Erzählung ihrer Geschichte den folgenden Vergleich gewählt hat: „Ihr ging entwickelte sich wie ein episches Geschehen, nicht nur weil Vielleicht Esther sich wie die Schildkröte aus den Aporien von Zenon bewegte, Schritt für Schritt langsam, aber sicher.“79 In den Aporien ist die Schildkröte immer schneller als der Hase, „auch wenn dem eine mathematisch falsche Annahme zugrunde liegt.“80 Die Diskrepanz zwischen der Gutgläubigkeit gegenüber den Deutschen und dem Massaker bringt eine weitere Textstelle in Vielleicht Esther zum Ausdruck: Petrowskajas Urgroßmutter Anna hatte zur Haushaltshilfe noch gesagt, als sie schon in der Reihe Richtung Babij Jar standen, „beruhige dich, zu den Deutschen hatten wir schon immer gute Beziehungen.“81 Ihre Urgroßmutter, die mittlerweile an der Schlucht angekommen war, bat einen Offizier um Informationen zum weiteren Verlauf. Der Offizier antwortete nicht und erschoss sie.82 Die Verwandten hatten die Geschichte so erzählt, dass der Tod der Großmutter hinausgezögert wurde.83 Petrowskaja schiebt den Tod der Großmutter erzählerisch hinaus – auch, indem sie scheinbar unvermittelt die Geschichte von Petrowskajas Vater Miron einfügt. Miron hat von der Evakuierung der Familie erzählt. Der Fikus, „als Symbol von Heim und Herd“84, wurde wieder

76 Ebd., S. 208. 77 Ebd. 78 Bachmann-Preis: Katja Petrowskaja. Jurydiskussion, http://bachmannpreis.eu/de/ news/4506, zuletzt eingesehen am 15. 06. 2014. 79 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 212. 80 Bachmann-Preis. 81 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 197. 82 Vgl. ebd., 220 f. 83 Vgl. Bisky. 84 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 217.

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aus dem Transporter geräumt, sodass Petrowskajas Vater einen Platz bekam. Sie erinnerte sich an diese Erzählung und fragte bei ihrem Vater erneut nach. Doch er wusste nichts mehr von dem Fikus.85 Ich war auf den Fikus fixiert, ich war fikussiert. Ich verstand nicht, wie man so etwas vergessen kann. Ich verstand nicht, was jemandem passiert sein musste, um so etwas zu vergessen. Der Fikus scheint mir die Hauptfigur, ja, wenn nicht der Weltgeschichte, dann meiner Familiengeschichte zu sein.86

Wäre der Fikus nicht weggestellt worden, hätte ihr Vater keinen Platz bekommen, und der Fahrer wäre weggefahren, ungeachtet dessen, ob jemand fehlte. Ihre Schlussfolgerung daraus ist, dass es sie dann vielleicht auch nicht gegeben hätte. Warum aber macht sie den Fikus zum Mittelpunkt der Weltgeschichte? Der Einschub der Geschichte vom Fikus verdeut­licht die Beliebigkeit der Erinnerung, und die Weltgeschichte wird so zur willkür­lichen Ansammlung von vorhandenen und vergessenen Erinnerungen. Die Gründe dafür, dass ihr Vater den Fikus vergessen hat, können vielfältig sein. An dieser Stelle bedeutet es aber, dass die Erinnerung ungenau und lückenhaft ist. Das, woran man sich heute erinnert, fällt einem morgen vielleicht schon nicht mehr ein. Bei dem Versuch der schrift­lichen Fixierung geht das Bildhafte der Erinnerung verloren, ebenso wie beim Aufschreiben eines Traumes. „Doch wenn selbst mein Vater sich nicht mehr an den Fikus erinnern kann, dann hat es ihn vielleicht nicht gegeben.“87 Dadurch, dass sich ihr Vater nicht erinnert, bezweifelt sie auch ihre eigene Erinnerung an die Erzählung des Vaters. „Es hat sich also herausgestellt, oder es könnte sich herausstellen, dass wir unser Leben einer Fiktion verdanken.“88 Die fragmentarische Anordnung der einzelnen Geschichten zeigt einerseits die Sprunghaftigkeit und Unvollständigkeit der Erinnerung und andererseits die Beziehung zwischen den einzelnen Geschichten und insgesamt den Zusammenhang der einzelnen Familienmitglieder. Hildegard Elisabeth Keller, Jurymitglied der Bachmann-Preis-Kommission, konstatiert, dass sich die scheinbar „unzusammenhängenden Einzelteile“ in Vielleicht Esther bei genauerem Hinsehen aufeinander beziehen. Sie verbinde damit die „wichtigsten Fragen des Lebens: ‚Wer bin ich, und sind wir überhaupt etwas anderes als eine Fiktion.‘“ 89 85 Vgl. ebd., S. 219 f. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 220. 89 Bachmann-Preis.

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Der Grund für ihre Recherche war die Sehnsucht nach Wiederherstellung der Erinnerung an die durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg zerstörte Familie. Sie wollte die Ahnen aus dieser Vergangenheit befreien und ihre Geschichten erzählen. „Während die Geschichte als Historie […] da beginnt, wo die Menschen verschwunden sind, werden in den Geschichten der Literatur Mög­lichkeiten zur Wirk­lichkeit.“90 In der kollektiven Geschichte treten die Erlebnisse einzelner Menschen hinter Daten und historischen Fakten zurück. Dadurch, dass die Erlebnisse von Individuen nacherzählt werden, wird aus der abstrakten eine persön­liche Geschichte. Petrowskajas Buch lässt sich als Plädoyer für die Weitergabe des Familiengedächtnisses verstehen und gleichzeitig dafür, Fragen nach der eigenen Identität zu stellen. Dabei bleibt die Mög­lichkeit bestehen, dass die Geschichten, die im Familiengedächtnis tradiert werden, vielleicht nur eine Fiktion sind, wie das Beispiel der Geschichte des Vaters und des Fikus zeigt. Sie gibt den Erlebnissen ihrer Ahnen, die beinahe ausnahmslos im Ersten und Zweiten Weltkrieg getötet wurden, in Vielleicht Esther einen Rahmen und ermög­licht es, sich somit selbst im Kontext der Familiengeschichte zu verorten. So schreibe sie nicht „gegen das Verschwinden, sondern gegen das Verschwinden des Verschwindens“ und „[g]egen das Spurenverwischen durch die Täter ebenso wie gegen ‚angemessene‘ Gedenkstätten und das obrigkeit­lich verordnete ‚Niemals vergessen!‘“91

90 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 220. 91 Moser, Samuel: Katja Petrowskajas Buch Vielleicht Esther. Auf der Schwelle von Mauthausen. In: Neue Zürcher Zeitung, 05. 04. 2014.

Sanna Schulte

Nestbeschmutzung als Konstituierung einer Theorie des Gedächtnisses

Wie immer: die das Nest schmutzig machen, zeigen empört auf einen, der ihren Schmutz bemerkt und nennen ihn den Nestbeschmutzer. Max Frisch

Dass österreichische Autoren wie Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, die sich der Auseinandersetzung mit der in die Gegenwart fortwirkenden Vergangenheit verschrieben haben, mit dem Vorwurf des Nestbeschmutzens konfrontiert werden, setzt ein ganz bestimmtes gesellschaft­liches Umfeld ­voraus. Es gehört zur paradoxalen Struktur des Vorwurfs der Nestbeschmutzung, dass „derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefähr­licher [gilt] als der, der den Schmutz macht.“1 Dieser Beitrag untersucht anhand der politischen Kategorien des nationalen und postnationalen Gedächtnisregimes 2 die Tendenzen der österreichischen Nachkriegsgesellschaft zur Heroisierung sowie Tabuisierung der eigenen Geschichte vor dem Hintergrund der dieser Richtung diametral entgegensteuernden Werke Jelineks und Bernhards. Es scheint, als sei eine wenig tolerante Gesellschaft ebenso unabdingbar wie das bereits beschmutzte Nest, um zu Meisterschaft in der Kunst der Provokation zu gelangen und sich den Vorwurf der Nestbeschmutzung einzuhandeln. Der Politikwissenschaftler Helmut König unterscheidet in Anknüpfung an die Definition der Nationen als Erinnerungsgemeinschaften nach Max Weber 3 zwischen dem nationalen und dem postnationalen Gedächtnis: Während das nationale Gedächtnis die Heroisierung einer großen gemeinsamen Vergangenheit betreibt, integriert das postnationale Gedächtnis auch die negativ bewertete Vergangenheit in das eigene Selbstbild und bindet die Ausbildung

1 Tucholsky, Kurt: An Herbert Ihering, 10. 08. 1922 (Brief 174). In: Tucholsky, Kurt: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. 17. Band: Briefe 1919 – 1924. Hrsg. v. Elfriede und Roland Links. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 203. 2 Vgl. König, Helmut: Politik und Gedächtnis. Weilerswirst 2008. 3 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Fünfte, revidierte Auflage. Besorgt von Johannes Winckelmann. Tübingen 1985.

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kollektiver Einheit an die Ausbildung einer Dauerreflektion, der die eigene Vergangenheit unterworfen wird.4

Auf der Grundlage dieser Definition ist der Vorwurf der Nestbeschmutzung notwendigerweise gebunden an eine Gesellschaft, die auf einem nationalen Gedächtnis beruht, da sich die kritisch betrachtete Nestbeschmutzung vor allem gegen die im nationalen Gedächtnisregime allgemein akzeptierte Tendenz zur Heroisierung und Tabuisierung der Vergangenheit wendet. Im postnationalen Gedächtnisregime erscheint der Vorwurf der Nestbeschmutzung dagegen kaum mög­lich, da die negativen Seiten der Vergangenheit reflektiert werden. Der Hinweis auf diese Schattenseiten ist gesellschaft­lich akzeptiert und gerade aufgrund seines kritischen Potenzials anerkannt; er wird daher nicht ablehnend betrachtet, sondern vielmehr als wichtiger Bestandteil der Selbstreflexion gewürdigt. Im nationalen Gedächtnisregime ist die Opposition von Politik und Literatur vorprogrammiert. Während die Politik die Vergangenheit zur Darstellung nationaler Größe instrumentalisiert, lässt sich die Literatur als „Anwalt des authentischen Gedächtnisses“5 charakterisieren. Laut Helmut König gehört es zu einer der wichtigsten Aufgaben der Literatur, dafür Sorge zu tragen, „daß die wirk­liche Vergangenheit nicht hinter den Konstruktionen von Tradition, Geschichte und öffent­lichem Gedächtnis im Niemandsland verschwindet, daß sie nicht durch nationale Mythen oder durch sch­lichtes Vergessen und Verdrängen verformt und verfälscht wird.“ 6 Mit dem Ziel eines authentischen Erinnerns und eines aufgeklärten Verhältnisses zur Vergangenheit protestieren die Literaten gegen gesellschaft­liche und poli­ tische Manipulationsversuche: Im ungleichen Kampf zwischen Gedächtnis und gesellschaft­licher Macht ist das Gedächtnis auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, und an prominentester Stelle der Kräfte, die sich auf die Seite des individuellen Gedächtnisses schlagen, stehen Literatur und Kunst. Sie sehen sich als Advokaten, die dem bedrohten Gedächtnis beispringen, ihm eine Stimme geben und es gegen die Übermacht gesellschaft­licher Kräfte in Schutz nehmen.7



4 König: Politik und Gedächtnis, S. 13. 5 Ebd., S. 87. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 86.

Nestbeschmutzung als Konstituierung einer Theorie des Gedächtnisses 289

Die Opposition der Autoren gegenüber dem national ausgerichteten Staat und seinen politischen und gesellschaft­lichen Kräften spiegelt sich im Vorwurf der Nestbeschmutzung wider. Durch den Vorwurf wird Kritik an dieser Opposition geübt, da durch sie die unreflektierte Zugehörigkeit zum Staat und die ungebrochene Sympathie für denselben in Frage gestellt werden. In den Rezensionen, in denen kritische Autoren als Nestbeschmutzer verunglimpft werden, fungieren nicht ohne Grund die Liebe zur Heimat und die Verehrung des Vaterlandes als absolute Gegenbegriffe zur Nestbeschmutzung. Die Zuschreibung der Nestbeschmutzung verweist „auf den Vorwurf mangelnder Loyalität einem zentralen Eigenen gegenüber, auf die Preisgabe von Werten an ein peripher Fremdes“8. Der starke Dualismus von Eigenem und Fremdem, der dem Vorwurf der Nestbeschmutzung zugrunde liegt, dient dem Gefühl von nationaler Zugehörigkeit als Fundament und wird in eben dieser Funktion von Elfriede Jelinek massiv kritisiert: Anläss­lich der Würdigung von Elfriede Gerstl, die sich als jüdisches Kind jahrelang vor den Nazis verstecken musste, entwirft Elfriede Jelinek 1993 in der FAZ den Dualismus von Eigenem und Fremdem als aggressiven Ausschlussmechanismus. In ­diesem Text mit dem Titel Ein- und Aussperrung verbindet und konfrontiert Elfriede Jelinek die Zugehörigkeits- und Heimatgefühle mit Gewalt- und Vernichtungsgeschehen: Sie bezweifeln nie, daß sie zu Hause sind, denn dort haben sie sich ihr Essen gekocht. Wo die Knochen auf den Boden gefallen sind, diesen bedeckend bis zu den Knöcheln in glänzenden Schuhen, dort, wissen sie, ist der heimische Herd, in dem sie immer wieder andere verheizt haben. Daher gehört ihnen alles mehr als den anderen. Sie sind mehr bei sich, denn nirgends ist es schöner als bei sich, um in sich bei sich zu sein, also doppelt zu sein. Das Eigene müssen sie nicht lernen, denn sie, nur sie haben es ja selbst hergestellt. Und daß sie d ­ ieses Eigene vor den Fremden behüten, macht sie, so denken sie, um so heimischer. Je mehr sie das denken, um so fester sitzen sie in sich, wie festgewachsen.9

Dieses Zitat lässt sich als Interpretation von Elfriede Gerstls Gedicht Wer ist denn schon lesen, das um die zentrale Frage „wer ist denn schon zu hause bei sich“10 kreist; Gerstl hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass man 8 Stüssel, Kerstin: Nachzügler und Nestbeschmutzer. Die Widerkehr des Limitierten am Beispiel der „Gender Studies“ in der Germanistik. In: http://www.germanistik2001.de. 1 (2002). S. 283 – 294, hier S. 287, zuletzt eingesehen am 28. 11. 2014. 9 Jelinek, Elfriede: Ein- und Aussperrung. In: FAZ.  26. 06. 1993. 10 Gerstl, Elfriede: Wer ist denn schon bei sich. In: Dies.: Behüte behütet. Werke 2. Band. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Christa Gürtler und Helga Mitterbauer in

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ihr in Wien, wo sie geboren wurde, die Mög­lichkeit, zu sprechen, ebenso vorenthalte wie die Mög­lichkeit, heimisch zu werden.11 Elfriede Jelinek übt hier darüber hinaus provokativ Gesellschaftskritik: Sich inmitten von Knochen heimisch zu fühlen, ist ein drastisches Bild für eine österreichische Gesellschaft, die sich einer Anerkennung der Mitschuld an den nationalsozialis­ tischen Verbrechen und einem aufklärenden Interesse an der Vergangenheit verweigert und an einer ausschließ­lich positiven Vorstellung von Österreich festhält. In der Konfrontation von Heimat und Verbrechen offenbart sich die Aggressivität der Ausschlussmechanismen, die nicht nur die Zeit des National­sozialismus charakterisieren, sondern in der Darstellung Jelineks bis in die Gegenwart hinein fortwirken und eine angemessene Rezeption der Texte Elfriede Gerstls verstellen: Ist ihre Stimme gerettet worden, nur damit später jeder behaupten kann, er hätte sie nicht gehört? Was für ein geschicktes Vaterland, das die einen in die Geschichte hineinschickt, damit sie verschwinden, nur ja nicht wieder zurückkehren, und die anderen, damit sie immer wieder aufs neue Geschichte zu machen versuchen, in der immer andere umkommen.12

In der medienwirksamen Auseinandersetzung Elfriede Jelineks mit der Freiheit­ lichen Partei Österreichs (FPÖ) Anfang der Neunziger Jahre sind Kommentare der Autorin zu finden, die noch sehr viel deut­licher einen Zusammenhang zwischen den NS -Verbrechen und der Politik der FPÖ herstellen. Die Ausgrenzung und Isolierung des Anderen sei der erste Schritt in die Katastrophe totalitärer Herrschaft, sagt Jelinek in ihrer Rede auf einer Demonstration gegen Fremdenhass am 8. November 1991:13 Überlebende der KZ-Greuel haben nachher oft gesagt, das erste Anzeichen kommenden Entsetzens sei ihre sukzessive, mit mörderischer Gründ­lichkeit betriebene Ausgrenzung aus dem damaligen ‚gesunden Volkskörper‘ gewesen. Als wären sie eine Krankheit gewesen.14

Zusammenarbeit mit dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien 2013, S. 106. 11 Vgl. Jelinek: Ein- und Aussperrung. 12 Ebd. 13 Vgl. Jelinek, Elfriede: An und selbst haben wir nichts. Die Rede von Elfriede Jelinek bei der Demonstration gegen Fremdenhaß. In: Salto. 22. 11. 1991. 14 Ebd.

Nestbeschmutzung als Konstituierung einer Theorie des Gedächtnisses 291

Jelineks Kritik an dem sogenannten ‚Ausländervolksbegehren‘, das von der FPÖ im November 1992 unter dem Motto ‚Österreich zuerst‘ ins Leben gerufen wurde und eine Beschränkung der Zuwanderung von Ausländern fordert, wird ebenfalls von dem Verweis auf den Faschismus begleitet und das Volksbegehren von Jelinek als „Volksvernichtungsbegehren“15 charakterisiert.16 Die zugespitzte Beurteilung der politischen Situation in Österreich und des Zuwachses der FPÖ kulminiert in einem Zeitungsartikel Jelineks mit dem Titel Die Österreicher als Herren der Toten, der international Aufmerksamkeit erfährt.17 Die zentrale These lautet, die österreichische Identität beruhe auf der Aufhebung fremder Identität.18 Als ausschlaggebende Ursache für die erfolgreichen rechtspopulistisch orientierten Wahlkampfmethoden Kurt Waldheims und Jörg Haiders und den sich zunehmend politisch manifestierenden Fremdenhass wird die unaufgeklärte Vergangenheit angeführt: Da wir unschuldig sind, müssen wir es auch immer gewesen sein. Das ist lo­gisch. Die österreichische Staatsdoktrin, also eine Lüge, lautet: wir sind das erste von H ­ itler besetzte Land gewesen, und daher können nicht wir es gewesen sein, die dort auf dem Heldenplatz gejubelt haben, denn wir waren ja die ersten Opfer, und diejenigen, die von uns zu Opfern gemacht worden sind, die zählen nicht. […] Jetzt genügt es also, dass wir einfach da sind, um die Anderen zu vertreiben. Und daß wir das schon einmal, und zwar in der brutalsten Katastrophe, die die Geschichte kennt, getan haben, spielt heute keine Rolle mehr.19

Es ist kaum verwunder­lich, dass eben dieser Angriff Elfriede Jelineks ihren Ruf als Nestbeschmutzerin weiter festigte. Sie kritisiert hier gerade die gesellschaft­ lichen Mechanismen, die die Grundlage für den Vorwurf der Nestbeschmutzung bilden: die Verdrängung der Vergangenheit und die Tendenz nationalis­ tischer Politik zur Ausgrenzung Fremder und Andersdenkender. Als problematisch werden außerdem die Publikationen des Artikels im Ausland betrachtet, durch die die Jelinek-Kritiker den Ruf ihres Landes beschmutzt sehen: „Ist denn der Haß in linken Kreisen schon so groß, daß man als 15 Jelinek, Elfriede: Volksvernichtungsbegehren. In: profil. 25. 01. 1993. 16 Vgl. Janke, Pia (Hg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich. Salzburg 2002. S.  73 – 77. 17 Der Artikel erscheint unter anderem in La Repubblica, The Guardian und in Libération. Vgl. Janke: Die Nestbeschmutzerin, S. 61. 18 Jelinek, Elfriede: Die Österreicher als Herren der Toten. In: Literaturmagazin 29 (1992). S. 23 – 26, hier S. 23. 19 Ebd., S. 24 f.

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Österreicherin im Ausland das eigene Nest in solcher Weise beschmutzt?“20, fragt eine Leserbriefschreiberin und führt als Replik auf Jelineks Charakterisierung Haiders als ‚pervers‘ weiter aus: „Mir erscheinen vielmehr die literarischen Werke von Elfriede Jelinek ganz d ­ iesem Genre zu entsprechen, ist es doch Mode geworden, daß uns diverse linksintellektuelle Künstler mit perversen Ergüssen beglücken.“21 Die Schreiberin kritisiert Elfriede Jelinek nicht nur aufgrund der poli­ tischen Stellungnahme, sondern bezieht in ihre Kritik auch die literarischen Arbeiten Jelineks ein. Besonders interessant ist, dass in den meisten Reaktionen auf den Artikel eine substanzielle Auseinandersetzung zum Beispiel mit der Frage nach den Konsequenzen der verweigerten Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit ausbleibt. Stattdessen werden einzelne Elemente der Kritik Jelineks – wie die Bezeichnung ‚pervers‘ – auf die Schriftstellerin umgemünzt. Ganz ähn­lich geht auch Jörg Haider in seiner Reaktion auf den Artikel vor. Während Jelinek – nicht nur aufgrund ihres Textes Die Österreicher als Herren der Toten –„eine Kriminalisierung des politischen Gegners unter dem Vorwand, die Demokratie zu s­ chützen“22, vorgeworfen wird, betreibt Haider selbst den Versuch, die kritischen linken Schriftsteller zu kriminalisieren: „Diesen Mitbürgern, die uns im Ausland verächt­lich machen, werden wir das Handwerk legen.“23 Die Auseinandersetzung um Jelineks Österreichkritik unterstreicht die These, dass zum Vorwurf der Nestbeschmutzung eine Gesellschaft gehört, die durch ein nationales Gedächtnis definiert ist und an nationalen Mythen festhält. Der typische Nestbeschmutzer beziehungsweise die typische Nestbeschmutzerin zeichnet sich dagegen durch eine kritische Haltung gegenüber diesen Mythen aus und versucht, den Tendenzen zur Heroisierung und Verdrängung der Vergangenheit durch Aufklärung entgegenzuwirken. In ­diesem Sinne trifft auch die Definition des Vorwurfs der Nestbeschmutzung als Empörung über mangelnde Loyalität zu, denn in der starren Trennung von Eigenem und Fremdem, die ausschlaggebend für die Herausbildung einer nationalen Identität ist und als Grundlage des nationalen Gedächtnisregimes angesehen werden kann, schlagen sich die nestbeschmutzenden Autoren auf die Seite des Unterdrückten und Ausgegrenzten. 20 Moser-Lanzenhofen, Marlene: Leserbrief. In: Kleine Zeitung (Ausgabe Kärnten). 20. 12. 1991. 21 Ebd. 22 Sichrovsky, Peter: Leserbrief. In: profil. 01. 02. 1993. 23 Jörg Haider zitiert nach: Kohl, Walter: Aschermittwoch à la Jörg: Wechselbad mit Drohungen. Vom Gleichklang der Gesinnung und von Scheinasylanten aus der eigenen Familie. In: Die Presse. 26. 02. 1993.

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Auffallend ist die deut­lich positivere Rezeption der Texte und der politischen Thesen von Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek in Deutschland. Anknüpfend an die Überlegung, dass die teilweise sehr negative Rezeption in Österreich auf das nationale Gedächtnis zurückzuführen ist, stellt sich die Frage, ob die Entwicklung eines postnationalen Gedächtnisses in der BRD die positive Rezeption der Arbeiten von Jelinek und Bernhard befördert. Laut Helmut König verläuft die Gedächtnisgeschichte der BRD vom anfäng­lichen kommunikativen Schweigen in den fünfziger Jahren über eine zunehmend kritischere Öffent­lichkeit in den Sechzigern und die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler zu einer Etablierung der Shoah im Zentrum des öffent­lichen Bewusstseins, die maßgeb­lich von der Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust beeinflusst ist.24 König definiert die BRD als postnationales Gedächtnisregime, in dem „die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und dem Holocaust keine Forderung von gesellschaft­lichen Außenseitern mehr ist, sondern von allen politisch relevanten Kräften der Gesellschaft geteilt wird.“25 In diesen Zusammenhang ist zu stellen, dass Stücke von Bernhard und Jelinek in Deutschland eher zur Aufführung kommen als in Österreich. Viele Theaterstücke Thomas Bernhards werden von Claus Peymann in Stuttgart oder Bochum uraufgeführt und in Deutschland außerordent­lich positiv rezipiert, während sie in Österreich außer Acht gelassen werden. Dass gerade die österreichkritischen Stücke in Österreich nicht aufgeführt werden und nicht erscheinen, erachtet Thomas Bernhard als „so typisch wie kein zweites Beispiel“26 und als Teil der Strukturen, gegen die er seine Kritik richtet. Als Heldenplatz unter der Regie von Claus Peymann im Wiener Burgtheater uraufgeführt ­werden soll, löst dies einen der größten Theaterskandale in Österreich aus: Noch vor der Aufführung werden einzelne provokative Textstellen der Öffent­lichkeit präsentiert, woraufhin Bernhard und Peymann – gemeinsam mit anderen kritischen Schriftstellern wie Elfriede Jelinek, Gerhard Roth und Peter Turrini – „als ‚Nestbeschmutzer‘ diffamiert [werden], deren ‚Verun­ glimpfungen Österreichs‘ und ‚Schmutzkampagnen […] durch gigantische Subventionen‘ finanziert würden.“27 Einer Meinungsumfrage der Vorarlberger Nachrichten zufolge sprechen sich die Leser mehrheit­lich gegen die Aufführung 24 Vgl. König: Politik und Gedächtnis, S. 532. 25 Ebd., S. 533. 26 Hofer, Brigitte: Das Ganze ist im Grunde ein Spaß. In: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Hrsg. v. Sepp Dreissinger. Weitra 1992. S. 49 – 62, hier S. 60. 27 Judex, Bernhard: Thomas Bernhard. Epoche – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Wilfried B ­ arner und Gunter E. Grimm. München 2010, S. 137 f.

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von Heldenplatz aus.28 Von „bewussten Österreichern“29, die ein „Wirundunser-­ Gefühl“30 erzeugen, sich darin aufgehoben sehen und aus dieser Position heraus sogenannte ‚Nestbeschmutzer‘, ‚avantgardistische Künstler‘ und ‚Ausländer‘ als Feindbilder entwerfen, werden Forderungen nach der Entlassung Peymanns, des Verbots des Stücks und der Ausweisung Bernhards laut.31 Mit seiner Österreichkritik prangert Thomas Bernhard eben jene Mechanismen der österreichischen Gesellschaft an, die auch als Ursache der massiven Kritik an seinem Stück auszumachen sind; die Kontroverse um Heldenplatz, in der die Freund-und-Feindbilder der österreichischen Öffent­lichkeit deut­lich zutage treten, kann als Bestätigung von Bernhards Kritik angesehen werden. Demzufolge ist es durchaus angemessen, dass Bernhard auf die Anfeindung nicht mit einer Abschwächung der Provokationen reagiert, wie ihm nahegelegt wird, sondern mit einer Zuspitzung derselben: „Aber nein! […] Ganz im Gegenteil! Ich hab‘ es noch verschärft!“32 Die unterschied­liche Rezeption von Thomas Bernhard in der Bundesrepublik und in Österreich kann auf die stark voneinander abweichende Erinnerungs­ politik beider Staaten zurückgeführt werden. Während das postnationale Gedächtnis in der BRD die Reflexion der Vergangenheit gerade vor dem Hinter­ grund ihres mög­lichen Fortwirkens in der Gegenwart befürwortet, wirkt das nationale Gedächtnis der Entmythologisierung entgegen und betreibt stattdessen die Bewahrung eines idealisierten Bildes der Vergangenheit und Gegenwart der Nation gegenüber jeg­licher Kritik. Heldenplatz ist die „konsequente Weiter­ führung und Zuspitzung“ der „Auseinandersetzung mit der unbewältigten Vergangenheit des Nationalsozialismus und seinem Weiterwirken in Form des gesellschaft­lichen Alltagsfaschismus“33. Darin liegt auch der Grund, dass eine substanzielle Kritik an Bernhards Stück nicht erfolgen kann, denn allein die Thematik ist – unabhängig von den auf ihr gründenden Österreich-­Beschimpfungen, die als Aufhänger in den Medien dienen – Anstoß genug: Das paradoxe Prinzip der Nestbeschmutzung beruht darauf, dass „derjenige, der auf den Schmutz

28 Vgl. Felderer, Brigitte: Uns ist nichts zu heiß. Ein Theaterbrand in der Neuen Kronen Zeitung. In: Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa. Hrsg. v. Wolfram Bayer unter Mitarbeit von Claude Porcell. Wien 1995. S. 211 – 228, hier S. 212. 29 Ebd., S. 214. 30 Ebd. 31 Vgl. ebd., S. 214 – 225. 32 Bischofberger, Conny; Sichrovsky: Der letzte Akt. In: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Hrsg. v. Sepp Dreissinger. Weitra 1992. S. 154 – 158, hier S. 155. 33 Judex: Thomas Bernhard, S. 138.

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hinweist, für viel gefähr­licher [gilt] als der, der den Schmutz macht“34, da „die Verdränger […] vor niemandem so große Angst [haben] wie vor denjenigen, die kommen und versuchen, die Verdrängung aufzuheben.“35 Für die Uraufführungen von Elfriede Jelineks Stücken lässt sich ebenfalls konsta­tieren, dass sie sich in der Bundesrepublik einer großen Beliebtheit erfreuen und besonders die sehr kritischen Stücke eher in der BRD uraufgeführt werden als in Österreich, obwohl die Österreichkritik nicht auf die unterstellte Diffamierung Österreichs im Ausland, sondern auf eine Selbstreflexion im Inland abzielt. Die Posse mit Gesang Burgtheater begründet Jelineks Ruf als Nestbeschmutzerin; sie selbst sagt, dass sie nicht glaube, dass man das Stück in Wien oder in einer anderen österreichischen Stadt spielen könne,36 und umreißt es wie folgt: Es ging mir darum, mit den Mitteln der Sprache zu zeigen, wie wenig sich die Propa­gandasprache der Blut-und-Boden-Mythologie in der Nazikunst vom Kitsch der Heimatfilmsprache in den fünfziger Jahren, einer Zeit der Restauration, unterscheidet. Dieser Sumpf aus Liebe, Patriotismus, Deutschtümelei, Festlegung der Frau auf die Dienerin, Mutter, Gebärerin und tapfere Gefährtin von Helden, auf die stets sich selbst Verneinende, dem Mann Gehorchende – ein Matsch, der nach dem Krieg nie richtig trockengelegt worden ist, war mein Material, das ich zu einer Art Kunstsprache zusammengefügt habe, weil es in seiner Kitschigkeit und Verlogenheit nicht mehr zu überbieten ist.37

Burgtheater wird in Bonn uraufgeführt, Stecken, Stab und Stangl in Hamburg. Nach den Reaktionen auf die Uraufführung von Raststätte am Wiener Burg­ theater sieht sich Elfriede Jelinek in der österreichischen Presse so grund­ legend missverstanden und angefeindet, dass sie ein Aufführungsverbot ihrer Stücke für Österreich ausspricht. Sigrid Löffler stellt sich die Frage, warum Jelinek, „die jahrelang in Österreich links liegengelassen wurde, deren Bücher in Deutschland verlegt und deren Theaterstücke immer noch hauptsäch­lich in Deutschland aufgeführt werden“38, im Ausland auf so viel Interesse stößt, während sie in Österreich als Hassfigur angeprangert wird: 34 Siehe Fußnote 1. 35 Ringel, Erwin: Die österreichische Seele. Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion. 4. Auflage. Wien 1984, S. 20. 36 Vgl. Ritter, Renate: Das wird der größte Theaterskandal. In: Neue Kronen Zeitung. 31. 03. 1981. 37 Jelinek, Elfriede: „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“. In: TheaterZeitSchrift 7 (1984). 38 Löffler, Sigrid: Bomben und Plakate. In: Süddeutsche Zeitung. 25. 10. 1995.

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Eine blöde Frage, gewiß. Weiß doch eh jeder, daß die Jelinek eine Nestbeschmutzerin ist, und eine Linke außerdem, die andauernd die alten Nazi-G’schichten aufwühlt und sogar eine berühmte Dynastie von Burgtheater-Lieblingen als alte Nazis verunglimpft haben soll, auf der Werkstatt-Bühne in Bonn oder sonstwo. Weiß doch jeder, daß gerade die Nestbeschmutzer unter den österreichischen Künstlern im Ausland am meisten gehätschelt werden. Auf nichts ruht es sich bequemer als auf einem dicken Ressentiments-Polster. Er wird auch jetzt wieder jede angemessene – das hieße: politisch-ästhetische – Auseinandersetzung mit dem neuen Jelinek-Stück verhindern. Denn Stecken, Stab und Stangl stierlt genau dort, wo die österreichische Volksseele (und deren Verlautbarungsorgan, die Kronen-Zeitung) am empfind­lichsten reagiert: näm­lich in der verdrängten Vergangenheit. Das Stück handelt von den österreichischen Sehstörungen auf dem rechten Auge. Zum Beweis zitiert es Original-Töne von Staberl-Kolumnen bis zu Prozeß-Aussagen Franz Stangls, des KZ-Chefs von Treblinka. […] Das Thema ist, wie immer bei der Jelinek, die Sprachkritik. Sprachkritisch vorgeführt wird, wie manche Medien, etwa die Krone und nament­lich Staberl, die den rechten Terror verleugnen und verharmlosen – vom Mord an den Juden bis zu den Morden von Oberwart. […] Man sieht schon: Dieses Stück ist Österreich ins Stammbuch geschrieben, genauso wie die Posse Burgtheater. Es müßte eigent­lich in Wien aufgeführt werden, denn hier trifft es den Nerv. Und deshalb will man hier von solchen Stücken nichts wissen, und von seiner Autorin erst rechts nichts.39

Die Unterscheidung zwischen Deutschland und Österreich, die hier von Sigrid Löffler vorgenommen wird, unterstreicht die elementare Unterscheidung zwischen dem nationalen und dem postnationalen Gedächtnis für die Rezeption der Texte, die über den Nationalsozialismus sowie seine Ursachen und Folgen aufklären. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, dass hier besonders die Akzeptanz des postnationalen Gedächtnisses im Kulturbetrieb ausschlagend für die Rezeption ist. Ob gerade die Literatur, auf die Königs Charakterisierung als „Anwalt des authentischen Gedächtnisses“ zutrifft, auch in der Öffent­lichkeit wahrgenommen und in ihrer wichtigen Funktion erkannt wird, hängt ganz stark von der Ausrichtung und den Interessen des Literatur- und Kulturbetriebs ab. In der Beschreibung ihrer Posse Burg­theater entwirft Elfriede Jelinek einen Vergleich des österreichischen und des deutschen Kulturbetriebs:

39 Löffler, Sigrid: „Stecken, Stab und Stangl“. In: Die Presse. 12. 04. 1996.

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Es geht dabei um diejenigen, die sich rechtzeitig aus der Geschichte herausgestohlen haben und denen es gelungen ist, sich als Unschuldige vor der Welt zu präsentieren. Es geht um die Verlogenen, die sich selber freigesprochen haben. Die Deutschen haben zumindest im Kulturbereich ununterbrochen Buße getan, zwar nicht innerhalb der Justiz und der Medizin, wo die entscheidenden Täter ein fried­liches Alter genießen konnten, aber im Kulturbereich haben sie viele kritische Filme, Fernsehspiele, Hörspiele etc. gemacht. In Österreich ist das alles ganz schnell unter den Teppich gekehrt worden.40

Dass Jelinek ebenso wie Peter Turrini oder Robert Schindel in der linksorien­ tierten Presse auch in Österreich sehr positiv rezipiert wird, spricht nicht unbedingt gegen die These, dass die Rezeption abhängig ist vom Gedächtnisregime, da die Empörung einer recht breiten Öffent­lichkeit über die Stücke oder einzelne Äußerungen der Autorin dem gegenübersteht. Vielmehr zeigt die Charakterisierung der Autoren als ‚linksradikal‘ oder ‚avantgardistisch‘, ähn­lich wie der Vorwurf der Nestbeschmutzung oder des Schmarotzertums, ihre gesellschaft­liche Randposition an und verortet damit auch die aufklärerische Haltung gegenüber der eigenen Vergangenheit jenseits des zentralen Interesses der Öffent­lichkeit. Ein stichhaltigeres Argument dagegen, dass das postnationale Gedächtnis als Ursache der positiven Rezeption von Nestbeschmutzern im Ausland gelten kann, verbirgt sich hinter der Tatsache, dass Nestbeschmutzer im Ausland natür­lich nicht als ­solche angesehen werden. Es stellt sich die Frage – Sigrid Löffler hat diesen Zusammenhang in dem obigen Zitat bereits angedeutet und als Ressentiment kennt­lich gemacht –, ob die positive Rezeption der Autoren, die sich kritisch mit ihrem Herkunftsland auseinandersetzen, im Ausland nicht wiederum auf Ressentiments gegenüber dem Herkunftsland dieser Nestbeschmutzer begründet ist. Ganz konkret: Werden Jelinek und Bernhard in Deutschland gerne gelesen, weil sie nicht Deutschland, sondern Österreich beschimpfen, und weil deutsche Rezipienten ihr Land von dem als rückständig dargestellten Österreich abgrenzen können, da man es sogar gerade im Hinblick auf die Aufarbeitung der Vergangenheit auch als vorbild­liches Beispiel begreifen kann? Tatsäch­lich ist eine positive Rezeption von Nestbeschmutzern im Ausland manchmal selbst wiederum von Vorurteilen geprägt und lässt nicht notwen­ digerweise auf eine dort etablierte Kritik an nationalen Mythen schließen. Eine

40 Heinrich, Jutta; Jelinek, Elfriede; Meyer, Adolf-Ernst: Sturm und Zwang. Schreiben als Geschlechterkampf. Hamburg 1995, S. 46 f.

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Untersuchung der Rezeption von deutschen und österreichischen Autoren in den Niederlanden zeigt eine Bestätigung der kritischen Haltung gegenüber Deutschland und Österreich durch die Lektüre der als Nestbeschmutzer charakterisierten Autoren: Die kritische Auseinandersetzung mit den Gespenstern der Vergangenheit, wie wir sie von Thomas Bernhard, Günther Grass und Heinrich Böll kennen, werden von den niederländischen und flämischen Kritikern interessanterweise nicht als Teil einer in Österreich und Deutschland stattfindenden Debatte über die Vergangenheit gesehen, sondern als ‚Zeugnisse der Anklage‘, als Bestätigung der Vorurteile über Österreichs und Deutschlands Umgang mit der Vergangenheit.41

Sie werden „nicht als Vorbilder […], von denen man einen kritischen Umgang mit der eigenen Gesellschaft lernen könnte, sondern ausschließ­lich als Lieferanten von Gegenbildern“42 rezipiert. Das Beispiel des kroatischen Schriftstellers Slobodan Šnajder zeigt, dass der kritische Entwurf eines Nestbeschmutzers nicht nur als Gegenentwurf wahrgenommen wird, sondern gar zur Etablierung eines Feindbildes beiträgt: Šnajder, der sich die Dekonstruktion n ­ ationaler kroatischer Mythen zur Aufgabe gemacht hat, wird in Serbien nicht nur positiv rezipiert, weil er einen kritischen Umgang mit jeg­licher Form des Nationa­ lismus nahelegt, sondern – ganz im Gegenteil – auch, weil sich seine Kritik am kroatischen Nationalismus mit Ressentiments gegenüber Kroatien von der Seite des serbischen Nationalismus deckt: Die Aversion gegen Šnajder erhöhte sich in Kroatien nament­lich im Zusammenhang mit der Belgrader Inszenierung des Kroatischen Faust, die – obwohl ästhetisch durchaus gelungen – mit dem Aufbruch des serbischen Nationalismus in den achtziger Jahren zusammenfiel und – vom dortigen Publikum mehrheit­lich als Bestätigung ärgster Vorurteile über die vermeint­lich faschistischen Kroaten verstanden – schließ­ lich auch zum Objekt politischer Manipulation wurde.43

41 Decloedt, Leopold R. G.: Über Sprachvirtuosen und Nestbeschmutzer. Niederländische Übersetzungen deutschsprachiger Literatur nach 1945. In: Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. 11 (2003). S. 97 – 103, hier S. 100. 42 Jušek, Karin: Het beeld van Oostenrijk in Nederland. In: Een broeierige idylle? Hrsg. v. Karin Jušek. Amsterdam 1997, S. 7 – 36, hier S. 30. Zitiert nach: Decloedt: Über Sprachvirtuosen und Nestbeschmutzer, S. 100. 43 Bobinac, Marijan: Bernhards Heldenplatz und Šnajders Kroatischer Faust. Zum Phäno­ men des „Nestbeschmutzers“ in der österreichischen und kroatischen Literatur. In: Thomas-Bernhard-Jahrbuch. Wien 2004. S. 141 – 148, hier S. 144.

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Auch die Inszenierung des Kroatischen Faust am Burgtheater 1993 wurde in ­Kroatien als Verbreitung von Vorurteilen wahrgenommen,44 was die dilemma­ tische Situation der internationalen Anerkennung von Nestbeschmutzern anzeigt. Eine gegenläufige Analyse der positiven Rezeption Šnajders im deutschsprachigen Raum erklärt das Interesse an dem Stück durch „das universale Thema der Beziehung zwischen Kunst und Ideologie, zwischen herausragender Intellektuellengestalt und totalitären politischen Systemen“ 45, das dem Publikum Analogieschlüsse auch im Hinblick auf Šnajders Dekonstruktion nationaler Mythen anbiete.46 Dass die Anerkennung der in ihrem Herkunftsland als Nestbeschmutzer verschrienen Autoren nicht nur auf Vorurteilen, sondern auch auf der Mög­lichkeit zur Selbstreflexion beruht, zeigt die Rezeption Herta Müllers in Deutschland. Die im Hinblick auf die rumänische Vergangenheit aufklärende und gegenüber der in Rumänien vorherrschenden Geschichtsschreibung sehr kritische Arbeit der Schriftstellerin wird in Rumänien bis heute oftmals äußerst negativ beurteilt, da sie der nationalen „Wunschphantasie eigener Stärke, Größe und Reinheit“47 gegenübersteht. Während Herta Müller in Rumänien – ähn­lich wie Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard in Österreich – als Nestbeschmutzerin charakterisiert und öffent­lich angefeindet wurde, sind ihre Texte in Deutschland anerkannt und werden zum Teil überschwäng­lich gefeiert; auch der Nobelpreis kann als ­­Zeichen internationaler Beachtung und Würdigung gelten. Dass sich hinter der positiven Rezeption keine Vorurteile verbergen, sondern diese auf das grundsätz­liche Interesse an einer kritischen Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart zurückzuführen ist, belegt die Tatsache, dass die positive Rezeption Herta Müllers auch dann anhält, wenn sich die kritische Reflexion der Autorin auf Deutschland bezieht. Nachdem Herta Müller 1987 ins Exil nach Deutschland geflüchtet ist, nimmt sie nicht nur in Debatten des Literaturbetriebs Stellung, sondern kommentiert und kritisiert auch politische Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland. Trotz der zum Teil sehr harschen Kritik, die in ihrer Empörung und ihrer Angriffslustigkeit (wenn auch nicht in ihrer breiten öffent­lichen Wahrnehmung) mit der Elfriede Jelineks oder Thomas Bernhards vergleichbar ist, bleibt die Wertschätzung ihrer literarischen und öffent­lichen Arbeit bestehen. Die nachstehend angeführte Textstelle ist nicht nur deshalb interessant, weil hier die Kritik an dem verschleiernden Umgang mit

44 Vgl. ebd. 45 Ebd. 46 Vgl. ebd. 47 König: Politik und Gedächtnis, S. 640.

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der Ceaușescu-Diktatur in Rumänien auf die politische und gesellschaft­liche Situation in Deutschland und das problematische Verhältnis zur DDR -Vergangenheit übertragen wird. Das Zitat leistet darüber hinaus einen Beitrag zum Verständnis der gesellschaft­lichen Zustände, die den Vorwurf der Nestbeschmutzung mög­lich machen: Herta Müller konstatiert starke Abwehrmechanismen bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und weist ebenso wie Tucholsky auf die Erfahrung hin, dass derjenige, der auf den Schmutz hinweist und Aufklärung fordert, im Gegensatz zu demjenigen, der sich schuldig gemacht hat, auf starken Widerstand stößt: Heute sehe ich die gleiche Reaktion in Deutschland: auf der einen Seite die Loyalität zu Manfred Stolpe und auf der anderen Seite der Haß auf Joachim Gauck. Mit Stolpe identifizieren sich viele, mit Gauck nur wenige. Und die Loyalen tun heute so, als wäre die Stasi nicht durch Stolpe, sondern erst durch Gauck unheim­lich geworden. So als hätte Gauck für Stolpe und seinesgleichen die Stasi erfunden. Dabei ist es umgekehrt: Wenn Stolpe und seinesgleichen anders gelebt hätten, wäre Gauck heute nicht bitter nötig.48

Die Kritik Herta Müllers an der mangelhaften Aufarbeitung der faschistischen und sozialistischen Vergangenheit in Rumänien wird in dem vorgestellten Zitat auf Deutschland umgemünzt. Gerade die Übertragbarkeit der Kritik zeigt, dass nicht die Bestätigung von Ressentiments die Grundlage dafür bildet, dass Nestbeschmutzer wie Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard oder Herta Müller in Deutschland so außerordent­lich positiv rezipiert werden. Vielmehr ist es die Mög­lichkeit zur Analogiebildung und Selbstreflexion, die den Reiz der Texte dieser Autoren ausmacht. Die Untersuchung der Aspekte, die als gesellschaft­liche Grundbedingungen für den Vorwurf der Nestbeschmutzung aufgefasst werden können, sowie der Rezeptionsmechanismen, mit denen Nestbeschmutzer konfrontiert werden, hat gezeigt, dass der in der Rezeption von Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard oftmals als irrational verschriene Österreichhass auf ein theoretisches Fundament gestellt werden kann. Während nun die gesellschaft­lichen und politischen Voraus­setzungen für eine massive Kritik seitens subversiver Schriftsteller und den darauf folgenden Vorwurf des Nestbeschmutzens geklärt sind, bleibt zu fragen, ­welche Eigenschaften nestbeschmutzende Autoren und ihre Texte ausmachen. Im Folgenden soll eine kleine Poetik des Nestbeschmutzens entworfen werden.

48 Müller, Herta: Das Ticken der Norm. In: Dies.: Hunger und Seide. Reinbek bei H ­ amburg 1995. S. 88 – 100, hier S. 92 f.

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Nestbeschmutzern ist zunächst einmal eine hohe Sensibilität bei der Beobachtung gesellschaft­licher und politischer Entwicklungen zu unterstellen, die im Prozess des Schreibens reflektiert und kontextualisiert werden. Die Kontextualisierung ist dabei eines der wichtigsten Merkmale, da gerade die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit ein notwendiges Instrument der Nestbeschmutzer ist, um Kontinuitäten ebenso wie Verdrängungen und Tabuisierungen aufzuzeigen. Der Nestbeschmutzer ist trotz seiner zum Teil sehr destruktiven und aggressiven Vorgehensweise als engagierter Schriftsteller zu charakterisieren, da sein Ziel die Aufklärung über die in die Gegenwart hineinreichende Vergangenheit ist, durch die die Voraussetzungen für ein umfassendes Bewusstsein der geschicht­lichen Situation und ein reflektiertes Handeln in der Gegenwart und Zukunft geschaffen werden. Gerade nestbeschmutzende Autoren verteidigen das authentische Gedächtnis gegen gesellschaft­liche Heroisierungen und Tabuisierungen der Vergangenheit. Der hohe Stellenwert der Erinnerung steht in der von Margarete und Alexander Mitscher­lich begründeten Tradition der Anwendung von psychoanalytischen Deutungsmustern auf die Geschichte und die Mög­lichkeit ihrer Wiederholung. Sie dient der Prävention, denn nur die Erinnerung kann ein unkontrolliertes Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft verhindern.49 Dahinter steckt die Überzeugung, daß die Macht der Vergangenheit nur negiert werden kann, wenn man ihr ins Auge blickt, wenn man sie vergegenwärtigt, aufdeckt, zutage fördert und der ungeschönten Erinnerung zugäng­lich macht. Nur die Offenlegung eröffnet die Chance, sich ihrer fortwirkenden Macht zu entledigen.50

Der Bann der Vergangenheit kann also nur durch Erinnerung, Reflexion, Aufarbeitung und Aufklärung gebrochen werden; die Nestbeschmutzer nehmen sich dieser Aufgabe an und betonen besonders die in der vorherrschenden gesellschaft­lichen Auffassung verdrängten Aspekte. Zu ihrem Repertoire gehört daher notwendigerweise die Provokation. Sie ist an das Anliegen des Autors gebunden. Auch die bewusste Selbstdarstellung und -positionierung eines Autors als Skandalautor ist in diesen Zusammenhang einzuordnen (und nicht notwendigerweise an finanzielle Interessen gebunden, wie in üb­lichen Reaktionen auf die Provokationen gerne unterstellt wird). Der Nestbeschmutzer ist nicht aus Versehen ein Nestbeschmutzer, sondern bricht Tabus bewusst und verletzt Grenzen systematisch. Er übertreibt seine Kritik mit dem Ziel

49 Vgl. König: Politik und Gedächtnis, S. 40. 50 Ebd., S. 39.

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der Bewusstmachung und fordert den Widerspruch der Gesellschaft absicht­ lich heraus, um in der Konfrontation die verdrängte Seite offen zutage treten zu lassen. Die öffent­lichen Auseinandersetzungen und provokativen Stellungnahmen gehören zu seinem Werk, und es ist kennzeichnend für den auf so umstrittene Weise erfolgreichen Nestbeschmutzer, dass im Gegensatz zu seinen Texten vor allem seine Person in das Zentrum des öffent­lichen Interesses rückt. In der Konfrontation inszeniert sich der Nestbeschmutzer als unabhängiger und kritischer Außenseiter, der gesellschaft­liche Zustände und politische Entwicklungen hinterfragt.51 Der Nestbeschmutzer zeichnet sich durch ein „Anschreiben gegen verkrustete Wert- und Normvorstellungen“52 aus. Für diese gesellschaftskritischen Reflexionen entwickelt jeder nestbeschmutzende Autor eigene literarische Strategien; bei Elfriede Jelinek beispielsweise funktioniert die Gesellschaftskritik vielfach über eine entlarvende Analyse der Sprache: Das klang­liche und semantische Potential des vorgegebenen Sprachmaterials wird dabei deformiert, verfremdet, erweitert, neu kontextualisiert und insofern zur Kennt­ lichkeit entstellt, als durch diese Verfahren seine Ideologiehaltigkeit zum Vorschein kommt.53

Elfriede Jelinek wird 2004 der Literaturnobelpreis verliehen, weil ihre Texte „mit einzigartiger sprach­licher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen K­lischees enthüllen“54. Die subversive Arbeit der Autorin wird – und das ist sowohl für die negative als auch für die positive Rezeption ausschlaggebend – als störend wahrgenommen, „weil Jelinek Konventionen jeg­ licher Art entlarvt statt sie einzuhalten“ und „weil sie gesellschaft­lich behauptete Positivitäten entmythologisiert und negiert.“55 Auch Herta Müller „zerstört in einer eindring­lichen Sprache […] die als heil geglaubte Welt“ und „legt den

51 Vgl. Billenkamp, Michael: Thomas Bernhard. Narrativik und poetolo­gische Praxis. Heidelberg 2008. S. 386 – 389. 52 Eke, Norbert Otto: Herta Müllers Werke im Spiegel der Kritik (1982 – 1990). In: Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller. Hrsg. v. Norbert Otto Eke. Paderborn 1991. S. 107 – 126, hier S. 112. 53 Janke, Pia: Die „Nestbeschmutzerin“. Elfriede Jelinek und Österreich. In: Praesent. Das österreichische Literaturjahrbuch (2002). S. 80 – 87, hier S. 81. 54 Die Schwedische Akademie: Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2004. Elfriede Jelinek. Pressemitteilung. 07. 10. 2004. 55 Caduff, Corina: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek – Theatertexte. Bern 1991, S. 39.

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Finger auf die Bruchstellen, die bereits offen zutage treten und nicht mehr zu kaschieren sind.“56 Für die Nestbeschmutzerinnen ist es noch mal schwieriger als für ihre männ­lichen Kollegen, sich im Literaturbetrieb zu behaupten, denn die Rolle einer weib­lichen Gesellschaftskritikerin sei – so Jelinek – gar nicht vorgesehen, es sei eine „Anmaßung, als Frau provokante Literatur zu schreiben“57. Festzuhalten ist, dass die Faszination, die von den nestbeschmutzenden Autoren und ihren Texten ausgeht, in der unnachgiebigen Reibung an den gesellschaft­lichen Zuständen besteht, die sich der praktizierten Umschreibung und Verleugnung des kollektiven Gedächtnisses verweigert und entgegenstellt. In dieser Verweigerung des Vergessens und dem Beharren auf Erinnerung liegen die künstlerische Provokation und das kritische Potenzial der bewusst opponierenden nestbeschmutzenden Literatur: Ich schreibe, um zu provozieren. […] Zorn und Verzweiflung sind meine einzigen Antriebe, und ich habe das Glück, in Österreich den idealen Ort dafür gefunden zu haben. Kennen Sie viele Länder, wo ein Minister sich extra bemüht, um die ‚Rückkehr in die Heimat‘ eines SS-Offiziers zu begrüßen, der für den Tod tausender Menschen verantwort­lich war?58

Thomas Bernhard bringt hier noch mal auf den Punkt, dass seine Arbeit sich über eine ständige kritische Auseinandersetzung mit Österreich definiert und demnach fast angewiesen ist auf die verkrusteten gesellschaft­lichen Strukturen, die ihm immer wieder Anlass zu „Zorn und Verzweiflung“ sind: „Ja, wirk­lich, wenn ­dieses Land sich ändern sollte, bliebe mir nichts anderes übrig als auszuwandern.“59 Mit ­diesem Satz reagiert Bernhard auf die Forderung empörter Leser, er solle auswandern, und stellt ihr die Notwendigkeit von Gesellschaftskritik angesichts der aktuellen Probleme, die auf einer verweigerten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beruhen, gegenüber.

56 Michelbach, Dieter: Herta Müllers Poetik der Nestbeschmutzung. In: Österreich und die Banater Schwaben. Festschrift an der Schwelle zum 100-jährigen Jubiläum des Verbandes der Banater Schwaben Österreichs (1907 – 2007). Hrsg. von Hans Dama. Wien 2005. S. 201 – 211, hier S. 203. 57 Elfriede Jelinek in einem Interview. Zitiert nach: Seiler, Christian: „Was man dem Mann als Kühnheit und Mut auslegt, ist bei einer Frau nur ekelhaft“. In: Sonntagszeitung. 03. 09. 1989. 58 Thomas Bernhard in einem Interview: Rambures, Jean-Louis de: Ich bin kein Skandal­ autor. In: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Hrsg. v. Sepp Dreissinger. Weitra 1992. S. 119 – 123, hier S. 122 f. 59 Ebd.

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Den Texten von Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard wird sowohl in der feuilletonistischen als auch in der wissenschaft­lichen Auseinandersetzung vorgeworfen, dass ihnen eine positive Perspektive fehle und Jelinek beispielsweise ihre Aufgabe „fanatisch-einseitig“ darin sehe, „die Bereiche mensch­lichen Fehlverhaltens zu plausibilisieren und in ihrer sozialen und politischen Gefähr­lichkeit offen zu legen.“60 Aufklärung und Selbsterkenntnis werden zwar als Antrieb ihres Schreibens ausgemacht, aber es fehle dennoch eine „Heilsbotschaft“61, da die Autorin keinen Ausweg wisse.62 Auch ­Thomas Bernhard würden „konkrete Verbesserungs- oder Änderungsvorschläge“63 fehlen. Dem Autor ist es gelungen, „den negativ besetzten Begriff der Tirade […] zur Kunstform zu entwickeln“64, doch betont gerade diese auch die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung und den „Pessimismus im Hinblick auf eine Verarbeitung der Vergangenheit“ 65. Es ist zwar aufgezeigt worden, dass Thomas Bernhards wütende Tiraden und Beschimpfungen „einen herausragenden Beitrag zur Analyse der gestörten individuellen und kollektiven Erinnerung an die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen“66 leisten, doch auch hier sind die Konsequenzen nicht klar umrissen, die aus der Analyse der Gegenwart folgen könnten. In den Texten Bernhards und ihrer Interpretation überwiegt die Betonung der Destruktion, beispielsweise wenn es von Bernhard heißt, er sei mit der Schrotflinte durch aufkommende Nationalgefühle gelaufen.67 Es stellt sich jedoch die Frage, ob in der hier von Robert Menasse angesprochenen radikalen Kritik des Nationalgedankens

60 Roloff, Hans-Gert: „Vorwürfe mache ich ja immer, das ist mein Markenzeichen.“ Die Jelinek und ihr Theater. In: Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-­ Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz. Olsztyn 2005. Hrsg. v. Claus Zittel und Marian Holona. Bern 2008. S.141 – 164, hier S. 156. 61 Ebd. 62 Vgl. ebd. 63 Billenkamp: Thomas Bernhard, S. 386. 64 Schmidt-Dengler, Wendelin: Vorwort. In: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Hrsg. v. Sepp Dreissinger. Weitra 1992. S. 13 – 18, hier S. 14. 65 Olenhusen, Irmgard Götz von: „Nazisuppe“ oder: Pathologien der Erinnerung. ­Thomas Bernhards Dramen und die Geschichtskultur. In: Politik und Medien bei Thomas ­B ernhard. Hrsg. v. Franziska Schößler und Ingeborg Villinger. Würzburg 2002. S. 230 – 245, hier S. 230. 66 Ebd., S. 231. 67 Robert Menasse über Thomas Bernhard. Zitiert nach: What would Thomas Bernhard do? Ein Gespräch von Robert Menasse und Bernhard Fetz am 19. Mai 2013 in der Kunsthalle Wien.

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und der Postulierung der Lächer­lichkeit der nationalen Idee für Österreich nicht auch konstruktive Elemente stecken, ob die Arbeiten von Jelinek und Bernhard in der Negativität verharren oder ob sie vielleicht doch Zukunftsperspektiven aufzeigen. Die literarischen Strategien der Nestbeschmutzer, mit denen Normvorstellungen konterkariert, systematisch Grenzen und Tabus verletzt und nationale Trugbilder demaskiert werden, entwerfen eine ganz eigene Vorstellung von Erinnerungskultur, die in Opposition zu der in Österreich vorherrschenden Geschichtsverdrängung und nationalen Mythisierung steht. Aufgrund des hohen Stellenwerts der Aufklärung und der Erinnerung lässt sich der Entwurf einer Erinnerungsgemeinschaft, in der Selbstreflexion und Geschichtsaufarbeitung als wesent­liche Bestandteile integriert sind, mit dem postnationalen Gedächtnis identifizieren. Der Nestbeschmutzer würde in einem postna­ tionalen Gedächtnisregime nicht mehr durch Provokation und Konfrontation auffallen; statt als Außenseiter wahrgenommen zu werden, würde er in die Mitte der Gesellschaft rücken: Seine Arbeit stünde im Einklang mit den gesamtgesellschaft­lichen Zielen der Aufklärung und Aufarbeitung, und seine Analysen könnten wegweisend sein. Wenn sich diejenigen, die von außen als Nestbeschmutzer betrachtet werden, selbst als Gesellschaftskritiker verstehen, ist damit auf die Diskrepanz in der Beurteilung ihrer Arbeit hingewiesen, die sich aus den unterschied­lichen Perspektiven des nationalen und des postnationalen Gedächtnisses ergibt. Der Nestbeschmutzer bezieht nicht nur in literarischen Texten, sondern auch durch politische Äußerungen Stellung, weil die Arbeit an einer authentischen Erinnerung die Bereiche Literatur und Politik verbindet. Nestbeschmutzer wie Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek sind – und damit ist nicht nur eine politische Einstellung, sondern ebenfalls die poetolo­gische Konzeption der literarischen Texte charakterisiert – Verfechter einer postnationalen Erinnerungskultur. Die Umdeutung des Nestbeschmutzers von einem negativ bewerteten Stören­fried zu einem gesellschaft­lich relevanten und politisch versierten Kritiker, die dieser Aufsatz anhand der Kategorien des nationalen und postnationalen Gedächtnisses vornimmt, entspricht einer positiven Konnotation des Begriffs der Nestbeschmutzung, die vermehrt anzutreffen ist. Aufgrund der paradoxalen Struktur des Vorwurfs der Nestbeschmutzung lässt sich mit dem Verweis auf die Notwendigkeit des Nestbeschmutzens auch die Kritikwürdigkeit der Gesellschaft anzeigen. Peter Turrini reagiert auf die aggressive Kritik an Elfriede Jelinek, durch die sie als Nestbeschmutzerin verunglimpft wird, mit einer Umdeutung, die den Nestbeschmutzer gar zum wahren Patrio­ ten macht: Die vermeint­lichen Österreich-Beschimpfungen seien genau das Gegenteil, näm­lich „der Versuch, Österreich, auch sein Ansehen im Ausland,

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vor seinen wahren Beschimpfern zu ­schützen“68. In ­diesem Zusammenhang ist es zu sehen, dass Elfriede Jelinek nach der Koalitionsbildung von FPÖ und ÖVP schreibt: „Ich werde mit Wonne mein Nest beschmutzen.“69 Die Kritikwürdigkeit, die mit dem Begriff des Nestbeschmutzens postuliert wird, verlagert sich vom Autor zur Gesellschaft. Der Nestbeschmutzer wird dagegen – das hat zum Beispiel sehr früh schon die neue Heimat- und Dialektdichtung erkannt, die sich damit neu positioniert und eine subversive Richtung auch in der Reflexion ihrer Tradition einschlägt – als Antrieb einer gesellschaft­ lichen Weiterentwicklung begriffen:70 „[M]ia brauchen auch / auch Neschtbeschmutza, / damet ma waidakommen.“71

68 Turrini, Peter: „Versuchte Existenz- und Menschenvernichtung“. In: Der Standard. 14. 10. 1995. 69 Jelinek, Elfriede: „Wie eine Schlange zustoßen“. In: Format. 07. 02. 2000. In einem anderen Kontext äußert Elfriede Jelinek in einem ähn­lichen Umschlag der Kritikwürdigkeit vom Autor zur Gesellschaft, dass sie den Vorwurf der Nestbeschmutzung schon zu oft gehört habe, „als daß ich noch für ein Nest halten könnte, worin ich sitze.“ Jelinek, Elfriede: Die Schweigenden. In: Der Standard. 16. 02. 1995. 70 Vgl. Wickham, Christopher J.: ‚Heimatdichter‘ as ‚Nestbeschmutzer‘. Entartete Mundart? In: Der Begriff „Heimat“ in der deutschen Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Helfried W. Seliger. München 1987. S. 183 – 197. 71 Gulden, Alfred: Naischt wii Firz em Kòpp. Gedichte im saarländischen Dialekt. Rothenburg ob der Tauber 1977, S. 61.

Die Autorinnen und Autoren Heng Barone, 1985 in Esch/Alzette (Luxemburg) geboren, studierte zunächst Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, seit 2009 dann Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft sowie Sprach- und Kommunikationswissenschaft an der RWTH Aachen. Seine Masterarbeit schrieb er zum Thema „Poetik der Einkreisung – Horst ­Bieneks Traumbuch eines Gefangenen, Die Zelle und Workuta im Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Geschichte“. Am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft betreut er das CAMPUS-Informationssystem. Zu seinen Forschungsinteressen zählen das Phänomen des Unheim­lichen in Literatur und Kultur sowie die kulturwissenschaft­liche Gedächtnisforschung. Olga Blank, 1989 in Semipalatinsk (Kasachstan) geboren, studierte an der RWTH Aachen Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft sowie English Studies. 2012 absolvierte sie einen Auslandsaufenthalt an der National University of Ireland Maynooth in Irland. Als wissenschaft­liche Hilfskraft für das Forschungsgebiet Europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte am Germanistischen Institut arbeitet sie an Prof. Dr. Stephan Braeses Forschungsprojekt „Wolfgang Hildesheimer: Briefe“ mit. Daneben gehören auch Literatur und Medien sowie die Nachkriegsliteratur in Deutschland zu ihren thematischen Schwerpunkten. Hannah Bölling, 1989 in Viersen geboren, studiert an der RWTH Aachen Ger-

manistische und Allgemeine Literaturwissenschaft sowie Politische Wissen­ schaft im Masterstudiengang. Sie arbeitet als studentische Hilfskraft am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft in einem Projekt zur interdisziplinären Erforschung des Wuppertaler Bundes für geistige Erneuerung. Zudem ist sie seit drei Jahren Tutorin für wissenschaft­ liches Arbeiten. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Editions- und Nachlassforschung (Forschungsaufenthalte im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar und im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien) sowie die Untersuchung der Verknüpfung und gegenseitige Beeinflussung von Literatur und Politik. Vera Heinen, 1987 in Würselen geboren, hat an der RWTH Aachen Germa-

nistische und Allgemeine Literaturwissenschaft sowie Soziologie studiert. Nach dem Abschluss des Masterstudiengangs strebt sie nun die Promotion im Fach Literaturwissenschaft an. Wissenschaft­liche Schwerpunkte sind Formen

308 Die Autorinnen und Autoren

von Fantastik und Fiktionalität in literarischen Texten, Literatursoziologie, Holocaust­literatur sowie Gedächtnis- und Erinnerungskonzepte in der Literatur. Till Hensen, 1987 in Aachen geboren, studiert an der RWTH Aachen Germa-

nistische und allgemeine Literaturwissenschaft und Sprach- und Kommunikationswissenschaft im Masterstudiengang. Seit 2010 arbeitet er als studentische Hilfskraft an der Fakultät für Bauingenieurwesen der RWTH Aachen. Seine literaturwissenschaft­lichen Interessen umfassen die Beschäftigung mit H ­ einrich Heine, der Literatur der Weimarer Republik und Großstadtliteratur sowie mit deutschsprachiger Nachkriegsliteratur.

Felix Kampel, 1984 in Linnich geboren, hat an der RWTH Aachen Allgemeine Literaturwissenschaft, Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und promoviert als Stipendiat der RWTH Graduiertenförderung zum Thema „Patrio­tismus als Problemhorizont deutsch-jüdischer Gegenwarts­ literatur. Robert Menasse, Maxim Biller, Lena Gorelik und Olga Grjasnowa als transnationale Akteure im Nachraum der WM 2006“. Als Mitarbeiter des Projekts Leonardo koordiniert er die Verknüpfung der unterschied­lichen wissenschaft­lichen Disziplinen an der RWTH. Zu seinen Interessensgebieten zählen die Literatur des Fin de Siècle, die Holocaustforschung sowie die Nationalismusforschung. Barbara Ewa König, 1988 in Myslowitz (Polen) geboren, studiert Sprach- und Kommunikationswissenschaft sowie Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft im Masterstudiengang. Sie hat zwei Jahre am Fraunhofer IPT als studentische Hilfskraft in der Presse- und Öffent­lichkeitsarbeit und Webredaktion gearbeitet und arbeitet aktuell im Bereich der PR und Studien­ koordination der Fachgruppe MuW der RWTH. Ihre wissenschaft­lichen Interessensgebiete sind die Erzähltheorie (darunter insbesondere das Konzept des unzuverlässigen Erzählers), Erinnerungsliteratur und der bis heute bestehende Antisemitismus in der polnischen Sprache. Andrea Kuchenbuch, 1990 in Würselen geboren, studiert an der RWTH Aachen

Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft sowie Sprach- und Kommunikationswissenschaft im Masterstudiengang. Neben einem großen Interesse an Georg Büchner und seinem Nachlass (Forschungsaufenthalt im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar) zählen zu ihren Forschungsschwerpunkten Storytelling und Social Media.

Die Autorinnen und Autoren 309

Christina Ripeanu, 1987 in Köln geboren, hat an der RWTH Aachen Germanis-

tische und Allgemeine Literaturwissenschaften sowie Soziologie studiert und arbeitet an einer interdisziplinär angelegten Dissertation mit dem Arbeitstitel „Visionen des Kreatür­lichen – Zur Entstehung von Welt in der Dichtung Paul Celans“. Von 2011 bis 2013 war sie studentische und wissenschaft­liche Hilfskraft am Lehrstuhl für Technik- und Organisationssoziologie des Instituts für Soziologie an der RWTH Aachen; seit 2013 ist sie Stipendiatin der RWTH Graduiertenförderung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die poetische Sprachentwicklung und die Identitätsbildung durch gesellschaft­liche Traumata. Sanna Schulte, 1985 in Münster geboren, hat an der RWTH Aachen Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Deutsche Philologie und Politische Wissenschaft studiert und arbeitet an einer literaturwissenschaft­lichen Dissertation mit dem Titel „Bilder der Erinnerung“, die die Strukturen von Trauma und Erinnerung in der literarischen Konzeption von Herta Müllers Reisende auf einem Bein und Atemschaukel untersucht. Sie arbeitet als wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft und koordiniert ein interdisziplinäres Projekt zum Wuppertaler „Bund – Gesellschaft für geistige Erneuerung“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen neben der Gegenwartsliteratur die kognitive Funktion von Literatur sowie die Editions- und Nachlassforschung. Sascha Tuchardt, 1986 in Prenzlau geboren, hat an der RWTH Aachen Ger-

manistische und Allgemeine Literaturwissenschaft sowie English Studies studiert und promoviert zum Thema „Österreichische Postmoderne bei Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard“. Er arbeitet als Wissenschaft­liche Hilfskraft am Germanistischen Institut sowie am Gießerei-Institut. Neben seinem Studium liefert er als freier Autor Beiträge für verschiedene Publikationen und Projekte. Hannah Tzschentke, 1987 in Nideggen/Muldenau geboren, studiert an der RWTH Aachen Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft und Politische Wissenschaft. Sie ist Hilfswissenschaft­liche Mitarbeiterin des interdisziplinären Projektes zum Wuppertaler „Bund – Gesellschaft für geistige Erneuerung“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen bei der Untersuchung literarischer und gesellschaft­licher Aufarbeitungsprozesse im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und der Untersuchung der Konzeption gesellschaftskritischer Werke im 19. Jahrhundert am Beispiel Georg Büchners (Forschungsaufenthalt im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar).

310 Die Autorinnen und Autoren Nikoletta Wassiliou, 1980 in Patras (Griechenland) geboren, hat an der RWTH

Aachen Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Philosophie und Kunstgeschichte studiert und promoviert im Fach Neuere Deutsche Literaturgeschichte mit dem Thema „Schillers philosophische Begründung der Poetik des Dramas. Ein Beitrag zum kritischen Verhältnis von Literatur und Philosophie.“ Ihre Dissertation wurde von der Graduiertenförderung der RWTH Aachen mit einem Stipendium unterstützt. Studienbegleitend war sie Hilfskraft am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Literatur der Klassik und Romantik, insbesondere die Gebiete der philosophischen Ästhetik und Dramentheorie.

A xel GellhAus

schreibenGehen liter Atur und FotoGr AFie en pAssAnt

In einer Folge von Essays untersucht Axel Gellhaus in seinem Buch das Ver­ hältnis der Dichtung zu den von ihr geschaffenen Räumen. Jeder Erzähl­ vorgang setzt nicht nur das Vorhandensein von Raum voraus, sondern schafft sich selbst, als Bewegung des Denkens, seine spezifische Räumlichkeit. Anhand verschiedener Beispiele aus der Literaturgeschichte – Rilkes Zeit/ Raum, Celans Wortlandschaften, Ransmayers letzter Welt u.a. – werden deren Grundphänomene analysiert. Es geht um die „Schwelle“ als Topos lite­ rarischer Selbstreflexion, den „Gang“ und seine verschiedenen Temperamente als Strukturmetapher des Erzählens, das „Vordringen“ ins Aporetische als Ende der Erzählbarkeit. Ergänzt werden die Texte durch zwei Fotosequenzen, die ihre Existenz ebenfalls dem Gehen verdanken. Beides, Texte und Bilder, sind auf ihre Weise anspruchslos: Zeugnisse eines Passanten, die den Leser zum Mit­ und Nachdenken einladen wollen über die verschiedenen Formen der Erschließung von Räumen. 2008. 210 x 210 mm. 162 S. mit 13 Duplex-FotograFien unD 5 S/w-abb. gb. mit Su. iSbn 978-3-412-20137-1

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