Ernst Juenger - Der Kampf als inneres Erlebnis (1926), Auf Den Marmorklippen (1939)

971 78 690KB

German Pages [265] Year 1939

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Ernst Juenger - Der Kampf als inneres Erlebnis (1926), Auf Den Marmorklippen (1939)

Table of contents :
Cover
Inhalt
1. Einleitung
2. Blut
3. Grauen
4. Der Graben
5. Eros
6. Pazifismus
7. Mut
8. Landsknechte
9. Kontrast
10. Feuer
11. Untereinander
12. Angst
13. Vom Feinde
14. Vorm Kampf

Citation preview

Ernst Jünger

Der Kampf als inneres Erlebnis

In seinen Kriegestagebüchern "In Stahlgewittern" (1920) und "Der Kampf als inneres Erlebnis" (1926) verklärte Jünger den Krieg als mythisches Naturereignis, aus dem er einen "neuen stahlharten Schlag des Menschen in die Gegenwart" treten sah. 1926 verlegt bei E. S. Mittler & Sohn Berlin Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Inhalt 1. Einleitung........................................................................ 3 2. Blut.................................................................................. 6 3. Grauen........................................................................... 11 4. Der Graben.................................................................... 19 5. Eros ............................................................................... 30 6. Pazifismus ..................................................................... 36 7. Mut ................................................................................ 45 8. Landsknechte ................................................................ 50 9. Kontrast ......................................................................... 58 10. Feuer............................................................................ 67 11. Untereinander.............................................................. 75 12. Angst ........................................................................... 85 13. Vom Feinde................................................................. 92 14. Vorm Kampf ............................................................... 99

1. Einleitung Zuweilen erstrahlt an den Horizonten des Geistes ein neues Gestirn, das die Augen aller Rastlosen trifft, Verkündung und Sturmsignal einer Weltwende wie einst den Königen aus dem Morgenlande. Dann ertrinken die Sterne ringsum in feuriger Glut, Götzenbilder splittern zu irdenen Scherben, und wiedereinmal schmilzt alle geprägte Form in tausend Hochöfen, um zu neuen Werten gegossen zu werden. Die Wellen solcher Zeit umbranden uns von allen Seiten. Hirn, Gesellschaft, Staat, Gott, Kunst, Eros, Moral: Zerfall, Gärung - Auferstehung? Noch flirren rastlos die Bilder vorüber, noch wirbeln die Atome in den Siedekesseln der Großstadt. Und doch wird auch dieser Sturm zerflattern, auch dieser Glutstrom zu Ordnung erkalten. Noch zerschellte jede Raserei an grauem Gemäuer oder es fand sich einer, der sie mit stählerner Faust vor seinen Wagen spannte. Warum ist gerade unsere Zeit an Kräften, vernichtenden und zeugenden, so überreich? Warum trägt gerade sie so ungeheure Verheißung im Schoß? Denn mag auch vieles unter Fiebern sterben, so braut zu gleicher Ze it die gleiche Flamme Zukünftiges und Wunderbares in tausend Retorten. Das zeigt ein Gang auf der Straße, ein Blick in die Zeitung, allen Propheten zum Trotz. Der Krieg ist es, der die Menschen und ihre Zeit zu dem machte, was sie sind. Ein Geschlecht wie das unsere ist noch nie in die Arena der Erde geschritten, um unter sich die Macht über sein Zeitalter auszuringen. Denn noch nie trat eine Generation aus einem Tore so dunkel und gewaltig wie aus dem dieses Krieges in das lichte Leben zurück. Und das können wir nicht leugnen, so gern mancher wohl möchte: Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind. Und immer, solange des Lebens -3-

schwingendes Rad noch in uns kreist, wird dieser Krieg die Achse sein, um die es schwirrt. Er hat uns erzogen zum Kampf, und Kämpfer werden wir bleiben, solange wir sind. Wohl ist er gestorben, sind seine Schlachtfelder verlassen und verrufen wie Folterkammer und Galgenberg, doch sein Geist ist in seine Fronknechte gezogen und läßt sie nie aus seinem Dienst. Und ist er in uns, so ist er überall, denn wir formen die Welt, nicht anders, Anschauende im schöpferischsten Sinne. Hört Ihr nicht, wie er aus tausend Städten brüllt, wie rings Gewitter uns umtürmen wie dama ls, als der Ring der Schlachten uns umschloß? Seht Ihr nicht, wie seine Flamme aus den Augen eines jedes einzelnen glüht? Manchmal wohl schläft er, doch wenn die Erde bebt, entspritzt er kochend allen Vulkanen. Indes: Nicht nur unser Vater ist der Krieg, auch unser Sohn. Wir haben ihn gezeugt und er uns. Gehämmerte und Gemeißelte sind wir, aber auch solche, die den Hammer schwingen, den Meißel führen, Schmiede und sprühender Stahl zugleich, Märtyrer eigener Tat, von Trieben Getriebene. Im Schoße versponnener Kultur lebten wir zusammen, enger als Menschen zuvor, in Geschäfte und Lüste zersplittert, durch schimmernde Plätze und Untergrundschächte sausend, in Cafés vom Glanze der Spiegel umstellt, Straßen, Bänder farbigen Lichtes, Bars voller schillernder Liköre, Konferenztische und letzter Schrei, jede Stunde eine Neuigkeit, jeden Tag ein gelöstes Problem, jede Woche eine Sensation, eine große überdröhnte Unzufriedenheit am Grund. Technisch noch produktiv, standen wir mit Ben-Akiba-Lächeln am Ende der Kunst, hatten die Welträtsel gelöst oder glaubten uns auf dem besten Weg dazu. Der Kristallisationspunkt schien erreicht, der Übermensch nahe herbeigekommen. So lebten wir dahin und waren stolz darauf. Als Söhne einer vom Stoffe berauschten Zeit schien Fortschritt uns Vollendung, die Maschine der Gottähnlichkeit Schlüssel, Fernrohr und Mikroskop Organe der Erkenntnis. Doch unter immer -4-

glänzender und polierter Schale, unter allen Gewändern, mit denen wir uns wie Zauberkünstler behingen, blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der Steppe. Das zeigte sich, als der Krieg die Gemeinschaft Europas zerriß, als wir hinter Fahnen und Symbolen, über die mancher längst ungläubig gelächelt, uns gegenüberstellten zu uralter Entscheidung. Da entschädigte sich der wahre Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte. da wurden seine Triebe, zu lange schon durch Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft. Und alles, was das Hirn im Laufe der Jahrhunderte in immer schärfere Formen gestaltet hatte, diente nur dazu, die Wucht der Faust ins Ungemessene zu steigern. Das liegt nun hinter uns, schwarz und unheimlich wie ein Wald, zur Nacht durchschritten. Wer könnte nicht verstehen, daß da der Atem schneller weht? Wir stürzten uns wie Taucher ins Erleben und kehren verändert zurück. Was ging am Grunde vor? Träger des Krieges und seine Geschöpfe, Menschen, deren Leben zum Kriege führen mußte und durch ihn in neue Bahnen, neuen Zielen zugeschleudert wurde - was waren wir ihm, und was war er uns? Das ist eine Frage, die heute mancher zu beantworten sucht. Damit beschäftigen sich auch diese Blätter.

-5-

2. Blut Das menschliche Geschlecht ist ein geheimnisvoller, verschlungener Urwald, dessen Kronen, vom Hauch freier Meere umglitten, sich immer mächtiger aus Dunst, Schwüle und Dumpfheit der klaren Sonne entgegenrecken. Sind die Gipfel mit Duft, Farbe und Blüten umhüllt, so wuchert in den Tiefen eine Wirrnis seltsamer Gewächse. Fällt, wenn die Sonne verglüht, in die Becher federnder Palmen eine Kette roter Papageien wie ein Geschwader königlicher Träume, so dringt aus der bereits in Nacht getauchten Niederung das widrige Durcheinander kriechenden, schleichenden Getiers, kreischender Aufschrei von Opfern, die der hinterlistige Überfall gieriger, mordgeübter Zähne und Krallen aus dem Schlafe, der Höhle, dem warmen Neste in den Tod reißt. So wie der Urwald immer ragender und gewaltiger zur Höhe strebt, seines Wachstums Kräfte aus dem eigenen Niedergange, seinen im schlammigen Boden verwesenden und zerfallenden Teilen saugend, so erwächst jede neue Generation der Menschheit auf einem Grunde, geschichtet durch den Zerfall unzähliger Geschlechter, die hier vom Reigen des Lebens ruhen. Wohl sind die Körper dieser Gewesenen, die zuvor ihren Ta nz geendet, vernichtet, im flüchtigen Sande verweht oder vermodert auf dem Grunde der Meere. Doch ihre Teile, ihre Atome werden vom Leben, dem sieghaften, ewig jungen, wieder herangerissen in rastlosem Wechsel und so erhoben zu ewigen Trägern lebendiger Kraft. So behält auch des Daseins Inhalt, jeder Gedanke, jede Tat und jedes Gefühl, das diese endlose Reihe von Vorgängern durch die Gefilde des Lebens schnellte, ewigen Wert. Wie der Mensch sich aufbaut auf dem Tier und seinen Bedingungen, so wurzelt er auc h auf allem, was seine Väter durch Faust, Hirn und Herz im Gang der Zeiten erschufen. Seine Geschlechter -6-

gleichen den Schichten eines Korallenstaates; kein Steinchen ist denkbar ohne die unzähligen schon längst erloschenen, auf die es sich gründet. Der Mensch ist der Träge, das ständig wechselnde Gefäß all dessen, was vor ihm getan, gedacht und empfunden wurde. Er ist auch der Erbe aller Sehnsucht, die vor ihm andere mit unwiderstehlicher Gewalt den fernen, in Nebel gehüllten Zielen zutrieb. Noch immer scha ffen die Menschen an einem Turmbau von unermeßlicher Höhe, zu dem sie ein Geschlecht, einen Zustand ihres Seins mit Blut, Qual und Sehnsucht auf den anderen schichten. Wohl schwingt sich der Turm in immer steilere Höhe, seine Zinnen erheben den Menschen immer mehr zum Überwinder, geben seinem Blick immer größere, reichere Länder preis, doch schreitet der Aufbau nicht in ruhigem Gleichmaß fort. Oft ist das Werk bedroht, Mauern stürzen und werden niedergerissen von Toren, Entmutigten, Verzweifelnden. Rückschläge längst bezwungen geglaubter Zustände, Ausbrüche elementarer Gewalten, die brodelnd kochten unter erstarrter Kruste, offenbaren die lebendige Macht uralter Kräfte. Aufgebaut aus unzähligen Bausteinen ist auch der Einzelne. Die endlose Kette der Ahnen schleift ihm am Boden nach; er ist gefesselt und gesponnen mit tausend Bändern und unsichtbaren Fäden an das Wurzelgeflecht des Urwaldsumpfes, dessen gärende Wärme seinen Urkeim gebrütet. Zwar hat sich das Wilde, Brutale, die grelle Farbe der Triebe geglättet, geschliffen und gedämpft in den Jahrtausenden, in denen Gesellschaft die jähen Begierden und Lüste gezäumt. Zwar hat zunehmende Verfeinerung ihn geklärt und veredelt, doch immer noch schläft das Tierische auf dem Grunde seines Seins. Noch immer ist viel Tier in ihm, schlummernd auf den bequemen, gewirkten Teppichen einer polierten, gefeilten, geräuschlos ineinandergreifenden Zivilisation, verhüllt in Gewohnheit und gefällige Formen, doch wenn des Lebens Wellenkurve zur roten -7-

Linie des Primitiven zurückschwingt, fällt die Maskierung; nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler in der ganzen Unbändigkeit seiner entfesselten Triebe. Das Erbteil seiner Väter flammt in ihm auf, immer wieder, wenn das Leben sich auf seine Urfunktionen einstellt. Das Blut, das im maschinenhaften Treiben seiner steinernen Gerüste, der Städte, kühl und regelmäßig die Adern durchfloß, schäumt auf, und das Urgestein, das lange Zeiten kalt und starr in verborgenen Tiefen geruht, zerschmilzt wieder in weiße Glut. Die zischt ihm entgegen, Lohe, Ansprung, vernichtender Überfall, immer, wenn er hinabsteigt in das Gewirr der Schächte. Von Hunger zerrissen, in der keuchenden Verschlingung der Geschlechter, in der Begegnung auf Leben und Tod ist er immer der alte. Im Kampfe, im Kriege, der alle Übereinkunft vom Menschen reißt wie die zusammengeflickten Lumpen eines Bettelmannes, steigt das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grunde der Seele auf. Da schießt es hoch als verzehrende Flamme, als unwiderstehlicher Taumel, der die Massen berauscht, eine Gottheit über den Heeren thronend. Wo alles Denken und alle Tat sich auf eine Formel zurückführt, müssen auch die Gefühle zurückschmelzen und sich anpassen der fürchterlichen Einfachheit des Zieles, der Vernichtung des Gegners. Das wird bleiben. solange Menschen Kriege führen und Kriege werden geführt, solange es noch Menschen gibt. Da spielt die äußere Form keine Rolle. Ob im Augenblick der Begegnung die Krallen gespreizt und die Zähne entblößt, ob roh gekantete Beile geschwunge n, hölzerne Bogen gespannt werden, oder ob sehr feine Technik die Vernichtung zu höchster Kunst erhebt, stets kommt der Punkt, wo aus dem Weißen im Auge des Feindes der Rausch des roten Blutes flammt. Immer löst der keuchende Ansprung, der letzte, verzweifelte Gang dieselbe Summe der Gefühle aus, ob nun die Faust die geschnitzte Keule oder die sprengstoffgefüllte Handgranate schwingt. Und immer auf den Gefilden, wo die Menschheit ihre Sache zur blutigen -8-

Entscheidung stellt, mag es der schmale Paß zwischen zwei kleinen Bergvölkern, mag es der weitgeschwungene Bogen moderner Schlachten sein, kann alles Grausige, alle Häufung raffiniertester Schrecken nicht so den Menschen mit Grauen durchtränken wie die sekundenlange Erscheinung seines Ebenbildes, das vor ihm auftaucht, alle Feuer der Vorzeit im verzerrten Gesicht. Denn alle Technik ist Maschine, ist Zufall, das Geschoß blind und willenlos, den Menschen aber treibt der Wille zu töten durch die Gewitter aus Sprengstoff, Eisen und Stahl, und wenn zwei Menschen im Taumel des Kampfes aufeinanderprallen, so treffen sich zwei Wesen, von denen nur eins bestehen kann. Den diese zwei Wesen haben sich zueinander in ein Urverhältnis gesetzt, in den Kampf ums Dasein in seiner nacktesten Form. In diesem Kampfe muß der Schwächere am Boden bleiben, während der Sieger, die Waffe fester in der Faust, über den Erschlagenen hinwegtritt, tiefer ins Leben, tiefer in den Kampf. So ist der Aufschrei, den solcher Anprall mit dem des Feindes vermischt, ein Schrei, der sich Herzen entringt, vor denen die Grenzen der Ewigkeit schimmern. Es ist ein Schrei, im Flusse der Kultur längst vergessen, ein Schrei aus Erkennen, Grauen und Blutdurst. Auch aus Blutdurst. Das ist neben dem Grauen das Zweite, was den Kämpfer mit einer Sturzflut roter Wellen überbrandet: der Rausch, der Durst nach Blut, wenn das zuckende Gewölk der Vernichtung über den Feldern des Zornes lastet. So seltsam es manchem klingen mag, der nie um Dasein gerungen: Der Anblick des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von schwerem, unerträglichem Druck. Das ist die Wollust des Blutes, die über dem Kriege hängt wie ein rotes Sturmsegel über schwarzer Galeere, an grenzenlosem Schwunge nur der Liebe verwandt. Sie zerrt schon im Schoße aufgepeitschter Städte die Nerven, wenn die Kolonnen im Regen glühender Rosen den Morituri-Gang zum Bahnhof tun. Sie schwelt in den Massen, die sie umrasen mit Jubelruf und -9-

schrillen Schreien, ist ein Teil der Gefühle, die auf die zum Tode Schreitenden Hektatomben niederschauern. Gespeichert in den Tagen vor der Schlacht, in der schmerzhaftem Spannung des Vorabends, auf dem Marsche der Brandung zu, in der Zone der Schrecknisse vorm Kampfe aufs Messer, lodert sie auf zu knirschender Wut, wenn der Schauer der Geschosse die Reihen zerschlägt. Sie ballt alles Streben um einen Wunsch: Sich auf den Gegner stürzen, ihn packen, wie es das Blut verlangt, ohne Waffe, im Taumel, mit wildem Griff der Faust. So ist es von je gewesen. Das ist der Ring von Gefühlen, der Kampf, der in der Brust des Kämpfers tobt, wenn er die Flammenwüste der riesigen Schlachten durchirrt: Das Grauen, die Angst, die Ahnung der Vernichtung und das Lechzen, sich im Kampfe völlig zu entfesseln. Hat er, eine durch das Ungeheure rasende kleine Welt in sich, die bis zum Platzen gestaute Wildheit in jäher Explosion, dem klaren Gedächtnis für immer verlorenen Augenblicken entladen, ist Blut geflossen, sei es eigener Wunde entströmend oder das des anderen, so sinken die Nebel vor seinen Augen. Er starrt um sich, ein Nachtwandler, aus drückenden Träumen erwacht. Der ungeheuerliche Traum, den die Tierheit in ihm geträumt in Erinnerung an Zeiten, wo sich der Mensch in stets bedrohten Horden durch wüste Steppen kämpfte, verraucht und läßt ihn zurück, entsetzt, geblendet von dem Ungeahnten in der eigenen Brust, erschöpft durch riesenhafte Verschwendung von Willen und brutaler Kraft. Dann erst erkennt er den Ort, an den ihn der stürmende Schritt verschlagen, erkennt das Heer von Gefahren, denen er entronnen, und erbleicht. Hinter dieser Grenze beginnt erst der Mut.

-10-

3. Grauen Auch das Grauen gehört zu dem Ring von Gefühlen, die seit langem in unseren Tiefen ruhen, um bei gewaltigen Erschütterungen mit Urkraft hervorzubrechen. Selten umflattern seine dunklen Schwingen die hohe Stirne des Modernen. Dem Urmenschen war es steter, unsichtbarer Begleiter auf seinen Wanderungen durch die Unermeßlichkeit öder Steppen. Es erschien ihm in der Nacht, in Donner und Blitz und warf ihn mit würgendem Griff in die Knie, ihn, unseren Ahnen, der, seinen armseligen Kieselstein in der Faust, allen Mächten der Erde gegenüberstand. Und doch hob gerade dieser Augenblick seiner größten Schwäche ihn über das Tier hinaus. Denn das Tier kann wohl Schreck empfinden, wenn plötzlich eine Gefahr es anspringt, es kann Angst empfinden, wenn es verfolgt und in die Enge getrieben wird, doch das Grauen ist ihm fremd. Es ist das erste Wetterleuchten der Vernunft. Auch der Wollust, dem Rausche des Blutes und der Lust des Spieles ist es nahe verwandt. Lauschten wir nicht alle als Kinder lange Winterabende unheimlichen Geschichten? Da bebten alle Fibern, man hätte sich in eine sichere Höhle verkriechen mögen und konnte doch nicht genug bekommen. Das war, als ob man, in Schilf und Schlamm verirrt, auf ein Nest gefleckter Schlangen gestoßen wäre und könnte nicht fliehen aus Lust, das scheußliche Geringel zu betrachten. An Stätten, wo das Volk gesteigertes Leben sucht, auf jedem Jahrmarkt, jedem Schützenplatz lockt auf bemalter Leinwand das Grauen in grellen Farben. Lustmorde, Hinrichtungen, Wachskörper, mit eitrigen Geschwüren besät, lange Reihen anatomischer Scheußlichkeiten, wer das zur Schau stellt, kennt die Masse und füllt die Tasche. Oft und lange stand ich vor solchen Buden und starrte in die Gesichter der Heraustretenden. Fast stets war da ein Lachen und klang doch so seltsam verlegen -11-

und gepreßt. Was sollte dieses Lachen verbergen? Und weshalb stand ich dort? War das nicht meine Lust am Grauen? Die Lust der Kinder und des Volkes ist keinem fremd. Wie das Kind in der Gesindeküche, der Ba uernbursche im Schreckenskabinett, so hockten in ihren Kasernenstuben junge Freiwillige um irgendeinen Älteren geschart, aus dessen Stimme noch das Grauen des Schlachtfeldes bebte. Wurden die Gesichter auch fahl, die Augen dunkel, so war doch kaum einer, der nicht noch brennender den Tag des Ausmarsches ersehnte. Jeden trieb es, der Gorgo ins Anlitz zu starren, mochte auch der Herzschlag darüber verstummen. Und die Stunde kam für jeden, wo es aufbraute, dunkel, unbestimmt, aus der Tiefe, gerade, wenn man am wenigsten daran gedacht. Wenn die Felder leer waren wie an hohen Festtagen, und doch ganz anders. Wenn das Blut durch Hirn und Adern wirbelte wie vor einer ersehnten Liebesnacht und noch viel heißer und toller. Wenn man dem tosenden Lärm da vorn immer näher und näher rückte, die Schläge immer dröhnender, immer hastiger sich jagten, wenn vor der Überfülle hetzender Gedanken rings die Ebenen erglühten, wenn man so Gefühl war, das Landschaft und Geschehen später nur dunkel und traumhaft der Erinnerung enttauc hten. Die Feuertaufe! Da war die Luft von so überströmender Männlichkeit geladen, daß jeder Atemzug berauschte, daß man hätte weinen mögen, ohne zu wissen warum. O, Männerherzen, die das empfinden können! Dann strich es die Kolonne entlang mit Fledermausschwung, daß Lachen und Zuruf im Munde erstarben. Am Wege zur Seite lag einer hölzern und steif mit spitzem, wachsgelbem Gesicht, aus dem die Augen so gläsern ins Leere starrten. Der erste Tote, ein unvergeßlicher Augenblick, der das Herzblut zu stockenden Eiskristallen zerfror. Da bäumte sich in jedem das Grauen auf als blasser, scheuender Gaul vor nächtlichem Abgrund. Und jedem bohrte sich für alle Zeiten ein anderer Eindruck ins Hirn. Dem einen die Hand, wie eine Kralle in Moos und Erde -12-

geschlagen, dem anderen die bläulichen Lippen über die Weiße des Gebisses, dem dritten die schwarze, blutige Kruste im Haar. Ach, man konnte noch so vorbereitet sein auf diesen Augenblick, alles zerschellte an dieser grauen Gestalt am Wegesrand, auf deren schmutzigem Gesichte die ersten blauen Fliegen spielten. Diese Gestalt und die unzähligen, die noch folgten, erschienen immer wieder in ihren tausend verzerrten Stellungen mit zerrissenen Körpern und klaffenden Schädeln, bleiche, mahnende Geister irrer Grabenbesatzungen in den Minuten vorm Sturm, bis der erlösende Schrei zum Angriff erscholl. Das Grauen ist in unserer Vorstellung unlöslich mit dem Tode verflochten; wir können es nicht von ihm trennen, wie es der Urmensch nicht trennen konnte vom Blitzstrahl, der neben ihm zur Erde flammte. Ob späte Geschlechter auch dieses Grauen überwinden und in derselben mitleidsvollen Rührung an uns zurückdenken werden, an uns und die Gefühle, die unsere Brust durchzitterten auf den Irrwegen durch die unendliche Einöde der Fronten? Auf diesen nächtlichen Gängen durch zuckende Wüsten war das Herz so einsam und verwaist, als ob es pendelnd über dem tödlichen Schimmer vereister Meere schwänge. Alle Wärme wurde verschlungen von lauernder Unerbittlichkeit rundum. Unzählige Male verhallte das klagende Geheul eines langsam Sterbenden in die Leere. Weiter, nur weiter, der sicheren Höhle zu! Obwohl man lange Jahre über das zerstampfte, narbenbesäte Gefilde geschritten war, fuhr man doch immer plötzlich auf, wie aus Wahnsinn und schrecklichen Träumen erwachend. Wo war man? Irgendwo auf den Kraterfeldern des Mondes? Ausgestoßen in die Tiefen eines Inferno? Das konnte doch keine irdische Landschaft sein, dieser höllische Tanzplatz des Todes, an den Rändern von gelblichen Flammen umfaßt! Keine Herdstätte blinkte ihr friedliches Licht in den Raum, nur die -13-

bunten Signale der Vernichtung fuhren aus irgendeinem Erdloch in die Luft als feuriges Vorspiel eines krachenden Gemetzels. Kein Strauch, kein winziges Hälmchen streifte den stolpernden Fuß. Fahle Nebel und giftige Gase umschwammen Inseln trauriger Bäume, schwarze, zerschlagene Gerippe. Manchmal tauchte ein Haus auf, verlassen und zerfallen wie ein Wrack am Grunde des Meeres. Was war es, das im ungewissen Lichte aus allen Winkeln mit schleimigen Fangarmen nach dem Herzen tastete? Das Grauen des Todes und der Verwesung. Die Verwesung. Manch einer zerging ohne Kreuz und Hügel in Regen, Sonne und Wind. Fliegen umschwirrten seine Einsamkeit in dichter Wolke, schwüler Dunsthauch umschwebte ihn. Unverkennbar ist der Geruch des verwesenden Menschen, schwer, süßlich und widerlich haftend wie zäher Brei. Nach großen Schlachten brütete er so lastend über den Feldern, daß auch der Hungrigste das Essen vergaß. Oft hielt ein Fähnlein eherner Gesellen sich endlose Tage im Gewölk der Schlacht, verbissen in ein unbekanntes Stückchen Graben oder eine Reihe von Trichtern, wie sich Schiffbrüchige im Orkan an zertrümmerte Masten klammern. In ihrer Mitte hatte der Tod seine Feldherrnstandarte in den Boden gestoßen. Leichenfelder vor ihnen, von ihren Geschossen gemäht, neben und zwischen ihnen die Leichen der Kameraden, Tod selbst in ihren Augen, die seltsam starr in eingefallenen Gesichtern lagen, diesen Gesichtern, die an die grausige Realistik alter Kreuzigungsbilder erinnerten. Fast verschmachtet hockten sie in der Verwesung, die unerträglich wurde, wenn wieder einer der Eisenstürme den erstarrten Totentanz aufrührte und die mürben Körper hoch in die Lüfte schleuderte. Was half es, daß sie die nächsten mit Sand und Kalk bestreuten oder eine Zeltbahn über sie warfen, um dem steten Anblick der schwarzen, gedunsenen Gesichter zu entgehen. Es waren zu viele; überall stieß der Spaten auf irgend etwas Verschüttetes. Alle Geheimnisse des Grabes lagen offen in einer -14-

Scheußlichkeit, vor der die tollsten Träume verblichen. Haare fielen in Büschen von Schädeln wie fahles Laub von herbstlichen Bäumen. Manche zergingen in grünliches Fischfleisch, das nachts durch zerrissene Uniformen glänzte. Trat man auf sie, so hinterließ der Fuß phosphorische Spuren. Andere wurden zu kalkigen, langsam zerblätternden Mumien gedörrt. Anderen floß das Fleisch als rotbraune Gelatine von den Knochen. In schwülen Nächten erwachten geschwollene Kadaver zu gespenstischem Leben, wenn gespannte Gase zischend und sprud elnd den Wunden entwichen. Am furchtbarsten jedoch war das brodelnde Gewühl, das denen entströmte, die nur noch aus unzähligen Würmern bestanden. Was soll ich eure Nerven schonen? Lagen wir nicht selbst einmal vier Tage lang in einem Hohlweg zwischen Leichen? Waren wir da nicht alle, Tote und Lebendige, mit einem dichten Teppich großer, blauschwarzer Fliegen bedeckt? Gibt es noch eine Steigerung? Ja: es lag dort mancher, mit dem wir manche Nachtwache, manche Flasche Wein und manches Stück Brot geteilt hatten. Wer darf vom Kriege reden, der nicht in unserm Ringe stand? Schritt nach solchen Tagen der Frontsoldat durch die Städte des Hinterlandes in grauen, schweigenden Kolonnen, gebeugt und zerlumpt, dann erstarrte sein Anblick selbst das gedankenlose Treiben der Sorglosen dahinten. "Wie aus dem Sarge genommen", flüsterte einer seinem Mädchen zu, und jeder erbebte, den die Leere der toten Augen streifte. Diese Männer waren vom Grauen durchsättigt, sie wären verloren gewesen ohne den Rausch. Wer kann das ermessen? Nur ein Dichter, ein poéte maudit in der wollüstigen Hölle seiner Träume. Et ditesmoi s´il est encore quelque torture Pour ce vieux corps sans âme et mort parmi les morts? Durchdringendes Grauen, in seinen feinen Ausstrahlungen nur Empfindsamsten zugänglich, lag im Kontrast, aufknisternd, wo Leben und Vernichtung in starker Verkörperung sich berührten. -15-

Es entquoll der Zerstörung, furchtbar in ihrer scheinbaren Zwecklosigkeit. Wie geschändete Grüfte gähnten wüste Dörfer in die Nacht, von weißem Mondlicht durchflutet, von Aasdunst umwittert, mit grasbedeckten Straßen, über die lautlose Rudel von Ratten schwirrten. Zögernd bog man um die Brandstätten reicher Höfe, in unbestimmter Angst, plötzlich auf die Geister friedlichem Dahinleben Entrissener zu stoßen. Konnte der Abbé nicht hinter der Ruine des Pfarrhauses auftauchen? Was mochte das Dunkel der Keller verbergen? Eine Frauenleiche mit strähnigem Haar auf schwarzen Grundwassern treibend? In den Ställen hingen Tierkadaver, immer noch an verkohltes Gebälk gekettet. Im geborstenen Torweg lag wie ein winziger Leichnam eine Kinderpuppe. Man zog ja über das Grausige hinweg mit genagelten Stiefeln, ehern und blutgewohnt, den François Villon und den Simplicius Simplicissimus im Tornister. Und doch fühlte man, wie etwas um die verwaisten Kamine strich und einem den Hals zuschnürte, so eisig, das man schlucken mußte. Man war ja ein Träger des Krieges, rücksichtslos und verwegen, hatte manchen umgelegt, über den man weitergeschritten war mit starken Gefühlen in der Brust. Doch dies war wie ein Kinderwimmern aus wilden Mooren, eine gespenstische Klage wie das Glockengeläut des versunkenen Vineta über Meer und Mittag. Gleich dem Untergange jener übermütigen Stadt spürte man das hoffnungslose Versinken einer Kultur, erscha uernd vor der Erkenntnis, im Strudel mit hinabgerissen zu werden. Zwischen Lachen und Wahnsinn liegt oft nicht mehr als Messers Schneide. Einmal, zu Beginn einer Offensive, durchschritt ich eine Stadt, aus der die Bewohner nur das nackte Leben gerettet hatten. Ein Begleiter stieß mich lächelnd an und deutete auf ein Haus, dessen Dach und Mauern schon von Rissen klafften. Ein Schaufenster hatte sich merkwürdig klar erhalten inmitten der beginnenden Zerstörung. Es barg ganze -16-

Reihen von Damenhüten. Wenige Tage zuvor hatte ich, am Spätabend einer Schlacht, einen gefallenen Freund suchend, die Körper einer Leichengruppe auseinandergezerrt. Plötzlich war mir aus dem zerrissenen Rock des einen eine gemästete Ratte entgegengesprungen. Trotzdem hat mich dieses Erlebnis nicht so gepackt wie der geisterhafte Kontrast zwischen der verödeten Straße und dem glänzenden Flitter aus lackiertem Stroh, Seide und bunten Federn, der so an Frauenhände and an die tausend Überflüssigkeiten erinnerte, die unser Leben erst farbig machen. Ein anderes Mal während endloser Nachtwache im dunklen Winkel einer Schulterwehr mit einem alten Krieger zusammen, fragte ich ihn im Laufe einer geflüsterten Unterhaltung nach seinem grausigsten Erlebnis. In kurzen Pausen erglühte seine Zigarette unterm Stahlhelm und bewarf das fleischlose Gesicht mit rotem Glanz. Er erzählte: "Im Beginn des Krieges stürmten wir ein Haus, das eine Wirtschaft gewesen war. Wir drangen in den verbarrikadierten Keller und rangen im Dunkel mit tierischer Erbitterung, während über uns das Haus schon brannte. Plötzlich, wohl durch die Glut des Feuers ausgelöst, setzte oben das automatische Spiel eines Orchestrions ein. Ich werde nie vergessen, wie sich in das Gebrüll der Kämpfer und das Röcheln der Sterbenden das unbekümmerte Geschmetter einer Tanzmusik mischte." Es gäbe noch viel zu berichten. Von Männern, die gellend und lange lachten, nachdem ein Geschoß ihnen den Schädel zertrümmert, von einem, der in einer Winternacht sich die Uniform vom Leibe riß und grinsend über blutige Schlachtfelder raste, vom satanischem Humor der großen Verbandplätze und manches andere. Doch sind wir Kinder der Zeit ja der nackten Tatsachen überdrüssig geworden. So überdrüssig. Es sind ja auch nicht die Tatsachen, sondern gerade das Ungewisse, das Unbeschreibliche, das dumpfe Ahnen, das manchmal hervorschwelt wie der Rauch eines verborgenen Schiffsbrandes. Vielleicht ist alles auch nur ein Hirngespinst. -17-

Und doch lag es wieder so greifbar, so bleiern schwer auf den Sinnen, wenn eine verlassene Schar unter dem Gewölbe der Nacht durch unbekanntes Gelände kreuzte, fern und näher von eisernen Wuchten umdröhnt. Entriß sich dann plötzlich in ihrer Mitte ein Glutstrahl der Erde, so trieb ein Schrei von erschütternder Erkenntnis ins Unendliche. Dann mochte den Hirnen im letzten Feuer der dunkle Vorhang des Grauens jäh emporgerauscht sein, doch was dahinter auf der Lauer lag, das konnte der erstarrte Mund nicht mehr verkünden.

-18-

4. Der Graben Der Graben. Arbeit, Grauen und Blut haben das Wort genietet zu stählerne m Turm, auf bangen Hirnen lastend. Nicht Wall und Bollwerk zwischen kämpfenden Welten allein, auch Wall und finstere Höhle den Herzen, die er in stetem Wechsel einsog und ausstieß. Glühender Moloch, der langsam die Jugend der Völker zu Schlacke brannte, ve rsponnenes Geäder über Ruinen und geschändeten Feldern, aus dem das Blut der Menschheit in die Erde pulste. Fernher schon war er Griff und kalte Faust bei Waffenprobe und Zechgelage in den Dörfern am Rande des Grauens, wo der Kämpfer wieder festen Fuß faste, wieder tags schaffte und nachts schlief. Rastlos hämmerten die Fenster, wenn der Wagen der Vernichtung die Front entlangdröhnte, achtlos und malmend. Kaum einer der Blutgewohnten, der das noch hörte. Nur manchmal, wenn das glühende Auge des Kamins in dunkle Zimmer glotzte und dem wandernden Hirn die Blüten der Welt sich erschlossen, grell und betäubend, Großstädte auf den Gewässern des Lichtes, südliche Küsten, an denen leichte, blaue Wellen zerschäumten, in Seide gegossene Frauen, Königinnen der Bouleva rds, dann erklirrte es, leise und scharf wie eine geschwungene Klinge, und schwarze Drohung rauschte durch die Scheiben. Dann rief man fröstelnd nach Licht und Wein. Machmal auch brodelte es auf, kochende Lava in riesigen Kesseln, im Westen biß dunkle Röte sich durch Morgennebel, oder Fahnen schmutzigen Rauches flatterten vor einer sinkenden Sonne. Dann standen bis weit ins Land alle auf dem Sprunge, bange Tieflandbewohner bei brüllender Sturmflut. Wie man dort Sandsäcke und Gebälk in den Rachen geborstener Stämme stopft, so schleuderte man Bataillone und Regimenter in die flammende Lücke zerrissener Gräben. Irgendwo stand einer am Telefon mit granitenem Gesicht über rotem Kragen und stieß -19-

den Namen einer Trümmerstätte aus, die einst ein Dorf gewesen war. Dann klirrten Befehle, und stählernes Rüstzeug, und dunkles Fieber schauerte aus tausend Augen. Doch auch, wenn das Walzwerk des Krieges ruhiger lief, hing stets des Todes geballte Knochenfaust über den Wüsteneien. In breitem Landsaum um die Gräben herrschte er mit Strenge, und es galt nicht Jugend, Demut und Talent, wenn seine bleierne Geißel auf Fleisch und Knochen prasselte. Zuweilen schien es sogar, als ob er den besonders schonte, der lachenden Mundes mit frecher Hand nach seiner Maske griff. Nacht für Nacht wanden sich dunkle Kolonnen dem Graben zu, von Gedanken in gierigen Rudeln umschwärmt. Manchmal verschwanden sie in Dörfern, schwarzen, gähnenden Wunden, durch deren Getrümmer der Fuß der Frontsoldaten schmale Schleichpfade getreten hatte. Da schwelte es aus aufgerissenen Häusern, nackte Sparren schnitten sich wie Gerippe in die Scheibe des Mondes, Aasdunst witterte aus Kellern, denen Schwärme pfeifender Ratten entglitten. So schaurig war diese erstarrte Vernichtung, daß die Phantasie auf blasen Gäulen hineinsprengte und Leben gestaltete, ein Leben zwar, wie es einem Goya den Pinsel geführt haben mochte, das aus allen Winkeln der Brandstätten kroch und zu einem scheußlichen Reigen sich verschmolz. Tauchten sie aus den Rändern des Zerstampften als graue Schatten, in endlose Laufgräben, so empfanden sie Erlösung von schwerem Druck. Denn nicht mehr wühlten sie sich durch den verwesenden Körper eines früheren Zustandes, nicht mehr durch Stätten, wo Brautbett und Wiege gestanden, auf Tischen reicher Höfe Wein und weißes Brot gelastet, demütige Altäre sich in bunter Sonne geneigt, abends von allen Türmen schwingendes Zufrieden-Sein auf Hütten, Ställe und Felder sich ergossen. Freier pfiff der Wind über zerwühlte Felder, hastiger wurde der Marsch, denn die dunk le Drohung gewann Form. Ganz nah erstrahlte das Silber zischender Leuchtbälle und rauschte mit -20-

kaltem Gefälle über die Kette geduckter Menschen. Gewehre zerrissen überall den Schleier der Nacht, flirrende Netze aus Stahl und spritzendem Blei überspannten das Land. Rings wanden sich die Horizonte in roten Krämpfen, eiserne Geschwader brausten zielwärts. Manchmal senkten sie sich jäh aus ihrer Steilheit, und ihre schrille Kurve ertrank in Explosion, zackigen Fetzen und lehmigem Gepolter. Da warf sich alles nieder, bang und betäubt wie vor einer allmächtigen Gottheit, und stürzte weiter, keuchend, flammengepeitscht, krachende Zermalmung im Ohr. Manch einer blieb liegen, unbeachtet, ein Stückchen Erde in starrer Faust, Erde im Mund und im schmutzigen Gesicht, ein trauriges Bündel, Sprungbrett den Folgenden, deren Herz erblaßte, wenn der Nagelstiefel im Weichen versank. Endlich waren sie am Ziel. Da starrten andere reglos wie eherne Pfeiler, auf ödes Vorland. Zum Flüstern zwangen sich die noch vom Feuerlauf Erregten, denn Ruhe war des Grabens erstes Gebot, Ruhe wie am Hochgericht und im Hause eines Toten. Schweigend und eilig verschwanden die Abgelösten, Erlösten im Dunkel gewundener Gänge. Nun waren sie umschlossen vom Graben, seine Herren und Sklaven zugleich, eine in Nacht verstoßene Schar, eine Schiffsbesatzung, von Eisbergen umtürmt. Sie kannten ihn; jede auf die Wälle geschleuderte Scholle war ihrer Hände Werk, jede Fußbreite seiner finsteren Winkel hatten sie tausendmal durchmessen. Sei kannten ihn, wenn nachts die Wolken als geheimnisbeladene Galeeren, am Monde vorüberschwammen und Postenstände, Schulterwehren, Stollenschächte ihnen im wechselnden Licht als fremde, feindliche Welt entgegenblinkten. Sie kannten ihn, wenn die Morgennebel durch Verhüllung die Schrecken der trostlosen Wüste steigerten und den Augen, aus denen durchwachte Nächte brannten, die starre Verdrahtung als ein bewegliches Heer wirrer Gestalten erschien. Sie kannten ihn, wenn mittags ein Himmel aus Glas ihn -21-

umzirkte, den wilden Blumen lastende Gerüche entströmten und die Einsamkeit des Hinterlandes sich weit dem spähenden Blick erschloß. Manchmal hockten sie abends beisammen vor den schwarzen Höhlen, plaudernd und Pfeife rauchend, während die laue Luft geschäftiges Hämmern und heimatliche Lieder zum Feinde trug. Spätröte umzog die Ruinen, aus Löchern und Winkeln quoll murmelnd die Nacht und drängte die Sonne von Zinne zu Zinne, bis sie von den Spitzen der Wälle in die Dunkelheit sprang. Dann gingen sie auseinander; ihr Geschäft begann. Der eine schlich als Jäger über den Draht ins Niemandsland, andere standen in Sappen lange Stunden auf schweigsamer Lauer oder schwangen die Picke gegen das Gestein der Schächte. So lastete täglich mit neuer Wucht der Graben auf seinen gebeugten Bewohnern. Gefr äßig schlang er Blut, Ruhe und männliche Kraft in sich ein, um sein schwerfälliges Getriebe zu erhalten. Zeiten kamen, wo die Arbeit hetzte, ohne Pause tageund nächtelang. Hatte Regen die Gräben verschwemmt, eiserner Wirbel sie umgepflügt, so galt es, sich in Schlamm und Erde zu wühlen, um ans Licht gezerrten Tieren gleich wieder im Boden zu verschwinden. Auch zu Zeiten der Trockenheit und wenn der Kriegsgott selten die stählerne Keule auf den Boden stampfte, waren hundert starre Augen auf das Vorland, auf die andere Seite gerichtet. Hundert Ohren hingen ewig an den wechselnden Stimmen der Nacht, dem Ruf eines einsamen Vogels, dem Klirren des Windes im Draht. Schlimmer als die schnellen Stunden offener Feldschlacht war diese ewige Bereitschaft, das Aufder-Lauer-Liegen, Anspannung aller Sinne, Erwartung mörderischen Begegnens, während Wochen, Monate versickerten. Von den Alpen zum Meer spannte sich die Kette erstarrter Männer über Äcker, Wälder, Sümpfe, Flüsse und Gipfel, Winter und Sommer, Tag und Nacht. Verwittert , zerschlissen, gedörrt, in lehmiger Kruste, leblos bis auf die -22-

Lichter, die in der dunklen Tiefe der Augen schimmerten, schienen sie in den Graben verwurzelt als Teil der Erde, die sie umschloß. Unendlich wie der eintönige Wellenschlag ferner umnachteter Ozeane ist die Summe der Gedanken, Wünsche, Flüche, Hoffnungen, die die Einsamkeit der ungezählten Stunden bewegte. Tanzte mittags kochende Luft über dem gelbem Sande und ließ die Fernen erzittern, dann enttauchten der Hitze Träume von goldener Ernte, Sensen blitzend vor Schwung, Rast unter den Schatteninseln einzelner Bäume im Feld. Wärme, Enge, Häuslichkeit, Weihnacht wurden glühende Vision, wenn weihin durch die Dünne eisiger Nächte das Gestampf erstarrter Füße klirrte und das Mondlicht den Stahl der Gewehre mit blauer Kälte bezog. Rauschte Regen wochenlang in gleichmäßiger Stärke, so tönte nur das Plätschern heranwatender Ablösungen, klatschender Aufschlag bröckelnder Erde und die Linien entlang ein unaufhörliches Husten, bis auch der letzte Wimpel des Mutes in den schlammigen Fluten versank. Doch stets, in Hitze, Nässe oder eisigem Wind, lag auf dem Grund ihres Seins gesenkt das Gefühl, im Kampfe zu stehen, Kämpfer zu sein. Wochenlang schien alles wie sonst, der Graben ein Ort wie jeder andere, an dessen Rändern Blumen blühten, und den die Nacht mit Ruhe überspannte. Doch manchmal, wenn vorn zwei Drähte aneinander schwangen, ein Steinchen rollte, ein Rauschen das hohe Gras durchglitt, zeigte sich, wie alle Sinne auf der Lauer lagen. Dann schärften Ohr und Auge sich bis zum Schmerz, der Körper duckte sich unterm Helm, die Fäuste umkrallten die Waffe. Stets war das Gewehr im Bereich des Armes: sprang plötzlich Feuer auf oder schallten wirre Rufe in die Tiefe der Stollen, so war nach ihm der erste Griff der noch vom Schlafe Trunkenen. Dieser Griff aus der Tiefe des Schlafes heraus zur Waffe war etwas, das im Blute lag, eine Äußerung des primitiven Menschen, dieselbe Bewegung, mit der der Eiszeitmensch sein Steinbeil packte. -23-

Das prägte dem Grabenkämpfe r den Stempel des Tierischen auf, das Ungewisse, das elementar Verhängnisvolle, die wie zur Urzeit von ständiger Drohung geladene Umgebung. Anderen starrten auch oft genug die leeren Augenhöhlen des Todes entgegen, doch nur für Stunden oder kurze Tage. Erhob sich der Flieger zur Entscheidung über die Heere, so war es nur zu kurzem Spiel ums Leben, das durchzufechten im weißen Kragen und mit gelassenem Lächeln dem Mutigen wohl ansteht. Ihm war der Kampf noch ein berauschender Trunk, im Becher des Augenblicks kredenzt, wie in den verschollenen Tagen wogenden Angalopps durch Feld und Tau, während die Morgensonne auf bunten Röcken und nackten Klingen tanzte, oder des Paradeangriffs der Infanterie hinter der Seide durchschossener Fahnen, umrauscht von der gebändigten Wut eherner Märsche. Früher wurde der Krieg von Tagen gekrönt, an denen Sterben Freude war, die sich erhoben über die Zeiten als schimmernde Denkmäler männlichen Mutes. Der Graben dagegen machte den Krieg zum Handwerk, die Krieger zu Tagelöhnern des Todes, von blutigem Alltag zerschliffen. Romantische Sage war auch das Gefühl beklommener Ahnung geworden, das den Soldaten beschlich am Vorabend, am Lagerfeuer, beim Ritt ins Morgenrot, und das ihm die Welt zu einem dunkelfeierlichem Dom, den vollen Atemzug zu schwerem Atemzug zum Abendmahl vor schwerem Gange wandelte. Zu lyrischem Sinnen, zur Ehrfurcht vor der eigenen Größe hatte der Graben keinen Raum. Alles Feine wurde zermahlen und zerstampft, alles Zarte überflammt von grellem Geschehen. Auch in den kurzen Tagen der Ruhe war keine Zeit zur Hingabe an solche Stimmungen. Da stürzte man sich ins Leben, packte es mit beiden Fäusten, jagte es durchs Hirn in geballten Räuschen, als ob man den Galeeren entronnen wäre. Da konnte man begreifen, warum eine sinkende Mannschaft die Pumpen verläßt, die Rumfässer zerschlägt und die Flamme der Sinne -24-

noch einmal bis an den Himmel schießen läßt. Zuzeiten wurde das Bedürfnis Zwang, die schwarzen Dämme zu sprengen, mit denen der Graben die Gewässer des Daseins umkesselte, und der ständig drohenden Hammerfaust im Rausche zu spotten. Auch in den Stollen, den Unterständen, die man sich zu Schutz und Ruhe gewühlt hatte, erblühten selten Stunden, in denen sich die Bahn des Lebens über ein träges Dämmern hinausschwang. Wie konnte man auch freier atmen in diesen Höhlen, deren holzverkleidete Wände ein gelblicher Schimmel zerfraß, auf deren Nebeln die kleinen, zitternden Lichter der Kerzen schwammen und das feuchte, grobrindige Gebälk mit glitzernden Mänteln behingen. Das waren enge Geniste eingehüllter, schmutziger Menschen voll Qualm, Dünsten und Tabaksrauch. Zuweilen stand einer auf, wortlos, nahm das Gewehr in die Faust und verschwand. Dann polterte ein anderer herunter, stumpf, verwacht und nahm den leeren Platz, ein kaum bemerkter Wechsel. Wortfetzen, abgerissen wie die kurzen Hiebe der draußen zerschellenden Geschosse, fügten sich zu eintöniger Unterhaltung. Man war so ineinander versponnen, so auf dasselbe Rad des Schicksals geflochten, daß man sich verstand, fast ohne zu sprechen. Jeder wanderte durch dieselbe nächtliche Landschaft des Gefühls, ein Seufzer, ein Fluch, ein Witzwort waren die Flammen, die für Augenblicke das Dunkel über dem Abgrund zerrissen. Wohl gab es Stunden, in denen Kameradschaft erglühte und die Ketten ze rschmolz, mit denen der Graben die Herzen umwand. Eben war noch jeder für sich gewesen, einer hatte in die Glut des winzigen Ofens gestarrt, einer von seinem Brot ein grobes Stück gehobelt, einer auf der Pritsche die Decke über den Kopf gezogen. Da hatte eine Stimme die Dumpfheit zerbrochen und erzählt von irgendeinem Dorfe, irgendwelchen Leuten, von Sonntag und Alltag, Ruhe und Arbeit. Da schlug in jedem Verwandtes, der kleine unbekannte Kreis, der doch ein ganzes Leben umschließt, das Blinken der Scholle unterm Pfluge, der -25-

Rauch über heimatlichen Dächern, das Schwingen der Festglocken über einsamen Feldern. Dann sprangen die Herzen vor Gemüt, Quellen loderten aus verborgenen Adern, die teilnahmslose Starre der Augen schmolz vor Glanz. So zärtlich, so unbeholfen bot jeder seine kleine Bedeutungslosigkeit dem anderen dar, daß die Welle seines Gefühls auch sie hoch über den Graben hinausriß. Das war eine der Augenblicke, in denen der Mensch die Wucht des Grabens von sich wälzte, und Menschlichkeit wie der flüchtige Leuchtkegel eines Scheinwerfers über das Grauen der Wildnis huschte. Wäre in solchem Augenblick draußen ein Schatzgräber des Gefühls über das zernarbte Land geschritten, so hätte die menschengefüllte Höhle ihm wie Gold aus der Tiefe emporgefunkelt. Doch rasch zerflockte diese Klarheit wieder n der Ewigkeit des Grabens. Maschinenmäßig nahmen sie wieder den Spaten zur Faust, bestiegen den Postenstand oder schlichen ins Ungewisse. Erschöpft, durchfroren, vor Aufregung zitternd kehrten sie zurück und warfen sich auf die Bretter des Lagers. Langsam verflackerte die Kerze, eine Ratte nagte am Stollenrahmen, unaufhörlich klapperten die Tropfen ihre einförmige Melodie. Schlossen sich endlich die brennenden Augen, so waren auch im Schlafe die Hirne noch von lauernden Schrecken umstellt. Rastlos wälzten sich die Körper auf harten Hölzern, oft genug krallte sich ein Ächzen, ein Aufschrei aus der Tiefe wilder Träume in das Dunkel des winzigen Raumes. So fliegt aus dumpfen Ställen Kettengeklirr und der klagende Ruf verlassener Tiere gespenstisch über Felder und einsame Höfe. War man doch auch hier im Schoße der Erde vom Grauen mit tausend Armen umstrickt. Irgendwo, ganz nah, neben einem, unter einem, konnte es in wirren Gängen schlürfen, wühlen, picken und Sprengstoff häufen, schleichend und heimlich beim Gloste der Grubenlichter. Irgendwo in den Löchern des Niemandslandes konnte eine flüsternde Schar, sprungbereit und -26-

waffenbehangen, darauf harren, sich zu jähem Gemetzel, zu kurzer Orgie in Feuer und Blut gegen den Graben zu werfen. Überall war der Umkreis durchwebt von verborgenem Huschen und Treiben, von schattenhaften, unter ihrer Waffenlast keuchenden Trägerketten, vom Tuscheln und Raunen gerüsteter Gestalten. Und dieser Druck, diese Schwere, über erstorbene Felder gewälzt, lastete auch wie eine bleierne Glocke über dem Herzen jedes einzelnen. Das zeigte sich, wenn draußen dumpf eine Scholle vom Grabenrande brach oder ein frierender Posten den Ruf nach Ablösung hinunterklingen ließ. Dann wurde das Band des Schlafes von grellem Erkennen zerrissen, der Schläfer schrak hoch in der Erwartung, vor dem dunkeln Tore irgendeines schrecklichen Ereignisses zu stehen. Und einmal, früher oder später, brach der Tag heran, der dieses dunkle Tor erflammen ließ, der alle Ahnung und alle Erwartung übergrellte im Blitze der Erfüllung. Meist sprangen diese brüllenden Gewitter die Besatzung an mit urplötzlicher Wut wie wilde Tiere aus dem Hinterhalt. Das Moment der Überraschung wurde das in den Vorschriften über den Kampf genannt. So kochte unvermutet der Kessel auf, wenn sich die schwarzen Bänder der Drahtverhaue aus der Dämmerung schälten und Truggestalten die schlafdurstigen Augen der Posten umwogten. Dann zerkrachten mit einem Male die Horizonte, die Morgennebel wurden trunken von brandigem Rot, über dem Graben wölbten sich Feuer, spritzende Erde und Qualm. Diese Wolke war der feurige Vorhang, unter dem die Männer des Grabens kämpften und starben, ein Vorhang, der alles auf ewig verhüllte, was diese Stunden gebaren an Mut und übermenschlicher Kühnheit, ein Vorhang, durch den der Tod herniederwuchtete auf Opfer, die seiner harrten, unsäglich verlassen in ihre traurigen Löcher verstreut. Unzählige sind so gefallen, einsam und menschheitsfern in dunklen Höhlen oder qualmigen Trichtern, ohne das der letzte, suchende Blick der glasigen Augen etwas anderes traf als nackte, zerrissene Erde -27-

rundum. Unzählige andere fielen auf den Körpern dieser Gefallenen auf den Gipfeln der Schlacht, wenn lange Menschenwellen den Gräben entfluteten. Da zeigte der Graben sein wahres Gesicht. Alles fiel von ihm, womit der Mensch, der die Verhüllung des Gräßlichen liebt, ihn geschmückt und verziert. Zermalmt, zerfetzt waren die Ruhebänke, die geschnitzten Bretter, der Blumenstrauß, vom Posten in eine Granathülse gepflanzt. Nur noch die steilen Wände, die Klötze der Schulterwehren standen als starre, schwarze Kulissen, vor denen in Feuer und Nebel sich eine Kette dramatischer Szenen jagte. Da hetzten in kämpfenden Rudeln die Auserlesenen von Nationen, furchtlose Stürmer durch den Dämmer, dressiert, auf Pfiff und kurzen Ruf sich in den Tod zu stürzen. Begegneten sich zwei Trupps von solchen Kämpfern in den schmalen Gängen der flammenden Wüste, so prallte die Verkörperung des rücksichtslosesten Willens zweier Völker zusammen. Das war der Höhepunkt des Krieges, ein Höhepunkt, der alles Grausige, das zuvor die Nerven zerrissen hatte, übergipfelte. Eine lähmende Sekunde der Stille, in der sich die Augen trafen, ging voran. Dann trieb ein Schrei hoch, steil, wild, blutrot, der sich in die Gehirne brannte als glühender unvergeßlicher Stempel. Dieser Schrei riß Schleier von dunklen, ungeahnten Welten des Gefühls, er zwang jeden, der ihn hörte, vorwärts zu schnellen, um zu töten oder getötet zu werden. Was hießen da erhobene Hände, was Pardon oder Kamerad? Da war nur eine Verständigung: die des Blutes. Zitternde Leuchtbälle hingen über dem Würgen, dessen Geist kein Bericht fassen kann, und das keinen Zuschauer hatte außer den in dunklen Winkeln Verblutenden, deren aufgerissenen Augen diese Wüstheit das letzte Bild war, das sie mit hinübertrugen in das große Schweigen. Kurze, rasende Fieber waren diese Orgien der Wut; waren sie verraucht, so ließen sie den Graben zurück wie das zerwühlte Bett eines an Krämpfen Gestorbenen. Blasse Gestalten mit -28-

weißen Verbänden starrten in das Wunder der aufgehenden Sonne, außerstande, die Wirklichkeit der Welt und des Erlebten begreifen zu können. In eintöniger Wiederholung stiegen und fielen die Schreie der Verwundeten, die im Zwischenfeld, in Trichtern oder in stachligen Drähten versponnen, langsam verloschen. Wieder zogen die Tage und Nächte über den Graben dahin, Schiffe, die immer gleiche Fracht in die Ewigkeit schleppten. Verwesung brütete über der Landschaft. Langsam zerfielen die Toten, vereinten sich ganz mit der Erde, ganz mit dem Graben, um den sie gekämpft. Irgendwo in Wind und Dämmern schwankten am Grabenrande zwei Weidenruten, die ein Kamerad zum Kreuze gebunden.

-29-

5. Eros Als der Krieg wie eine Fackel über das graue Gemäuer der Städte lohte, fühlte sich jeder jäh aus der Kette seiner Tage gerissen. Taumelnd, verstört durchfluteten die Massen die Straßen unter dem Kamme der ungeheuren Blutwelle, die sich vor ihnen türmte. Winzig wurden vor dieser Welle alle Werte, deren Ineinandergreifen die Zeit in immer rasenderen Touren geschwungen hatte. Das Feine, das Verwickelte, die immer schärfer geschliffene Kultur der Nuance, die ausgeklügelte Zersplitterung des Genusses verdampften im sprühenden Krater versunken geglaubter Triebe. Die Verfeinerung des Geistes, der zärtliche Kultus des Hirns gingen unter in der klirrenden Wiedergeburt des Barbarentums. Andere Götter hob man auf den Thron des Tages: Kraft, Faust und männlichen Mut. Dröhnte ihre Verkörperung in langen Kolonnen bewaffneter Jugend über die Asphalte, so hingen Jauchzen und ehrfürchtige Schauer über der Menge. Es entspricht dem Naturgeschehen, daß diese Wiederentdeckung der Gewalt, dieses auf die Spitze getriebene Mannestum auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern verändern mußte. Dazu kam ein heftigerer Wille, das Leben zu erfassen, ein innigerer Genuß am Sein im Eintagsfliegentanze über dem Schlunde der Ewigkeit. Jede Erschütterung der Grundlagen der Kultur löst jähe Ausbrüche der Sinnlichkeit. Der Lebensnerv, bislang isoliert und gepolstert mit allen Sicherungen, welche die Gemeinschaft bieten konnte, liegt plötzlich schutzlos da. Das Dasein, vom Menschen achtlos eingesogen wie die weite Luft, ist preisgegeben, die ungewohnte Nähe der Gefahr ruft traumhafte und verwirrende Gefühle hervor. Sorglich auf die Felder der Jahre verteilt, stand die Ernte des Genusses; versiegt der Urquell, so müssen die Früchte verdorren. Die Schätze in den -30-

Truhen, der Wein in den Kellern, alles, was früher Besitz und Fülle hieß, ist plötzlich seltsam überflüssig und beinahe zur Last geworden. Die Faust möchte die Dukaten umkrallen - wie lange wird man noch Zeit haben, sie zu genießen? Wie ist der Burgunder so köstlich! Wer wird dies Weinchen schlürfen, wenn man nicht mehr am Leben ist? Wird man warm, wenn der Erbe die Nase ins Glas senkt und die Blume kostet? Ach, daß man alle Fässer in einem einzigen, wilden Zuge leeren könnte! Nach uns die Sintflut, im Grabe gibt es keine Freuden mehr! O Leben du! Noch einmal, einmal noch, vielleicht das letzte! Raubbau treiben, prassen, vergeuden, das ganze Feuerwerk in tausend Sonnen und kreisenden Flammenrädern verspritzen, die gespeicherte Kraft verbrennen vorm Gang in die eisige Wüste. Hinein in die Brandung des Fleisches, tausend Gurgeln haben, dem Phallus schimmernde Tempel errichten. Soll der Schlag der Uhr auf ewig verstummen, so mögen die Zeiger noch rasch durch alle Stunden der Nacht und des Tages über das Zifferblatt schnurren. So lösten sich die Kräfte, die bisher als ein verwickeltes Räderwerk ineinandergegriffen hatten, aus ihrem gewohnten Gang, um sich zu einer gewaltigen Äußerung des sinnlichen Menschen zu vereinen. Das war unbedingte Notwendigkeit, zwar verborgen unter romantischen Schleiern und vom Geiste der Zeit in seine mehr oder minder gefälligen Formen gegossen, doch jener Rückschlag, der stets eintrat, stets eintreten wird, wenn der feste Boden der Existenz zu wanken beginnt. So flackerten die Lichter aus allen Kammerfenstern in die ungewisse Nacht, brausten die Straßen der Städte vor hastigem Gewühl, war die Luft bis zum Platzen von Werbung und Hingabe überspannt. Das ist ein Köstliches am Leben, daß es gerade, wenn der Tod am gierigsten würgt, in Krieg, Revolution und Pestilenz am buntesten und tollsten dahinflirrt. Und jede der unzähligen Umschlingungen, in die zwei Menschen im Gewitterausbruch der Weltenwende zueinander flüchteten, war -31-

ein Sieg des Lebens in seiner ewigen Kraft. Ganz dumpf fühlte das wohl jeder, auch der Verzagteste: Wenn sein Atem im Wirbel der Liebe erstarb, war er so vom Ich gelöst, so in das kreisende Leben versponnen, so eingegossen ins ewige All, daß für diesen Augenblick ihm der Tod in wahrer Gestalt, klein und verächtlich, erschien. Tief unten blieb er zurück, wenn die Kurve des Gefühls steil über die Besinnung hinausschoß. Zwei Gefühle treten uns so als Ursachen dieser Springflut sinnlicher Erscheinungen entgegen: Der Drang des Lebens, sich noch einmal gesteigert zu äußern und die Flucht in das Dickicht der Räusche, um in der Lust die drohenden Gefahren zu vergessen. Daneben schwingt natürlich viel anderes mit, doch unsere beschränkte Fragestellung wird dem Reiche der Seele ja immer nur kleine Provinzen entreißen können. Je länger der Krieg dauerte, desto schärfer prägte er die geschlechtliche Liebe in seine Form. Unter den Schlägen der rastlosen Hammerschmiede verlor sie bald Glanz und Politur wie alles, was der Mensch mit in den Kampf gebracht hatte. Auch sie wurde von dem Geist durchtränkt, der in den Kämpfern der großen Schlachten webte. Der Geist der Materialschlacht und des Grabenkampfes, der rücksichtsloser, wilder, brutaler ausgefochten wurde als je ein anderer, erzeugte Männer, wie sie bisher die Welt nicht gesehen hatte. Es war eine ganz neue Rasse, verkörperte Energie und mit höchster Wucht geladen. Geschmeidige, hagere, sehnige Körper, markante Gesichter, Augen in tausend Schrecken unterm Helm versteinert. Sie waren Überwinder, Stahlnaturen, eingestellt in den Kampf in seiner gräßlichsten Form. Ihr Anlauf über zersplitterte Landschaften bedeutete den letzten Triumph eines phantastischen Grausens. Brachen ihre verwegenen Trupps in zerschlagene Stellungen ein, wo bleiche Gestalten mit irren Augen ihnen entgegenstarrten, so wurden ungeahnte Energien frei. Jongleure des Todes, Meister des Sprengstoffes und der Flamme, prächtige Raubtiere, schnellten sie durch die Gräben. -32-

Im Augenblick der Begegnung waren sie der Inbegriff des Kampfhaftesten, was die Welt tragen konnte, die schärfste Versammlung des Körpers, der Intelligenz, des Willens und der Sinne. Natürlich waren es nur wenige Erlesene, in denen so gedrängt der Krieg sich ballte, doch wird der Geist einer Zeit ja immer nur von einzelnen getragen. Es ist klar, daß in allem, was sie trieben das Wesen dieser Männer der kurzen rücksichtslosen Tat hervorbrechen mußte. Wie sie den Alkohol in seinen starken, unverwässerten Formen am höchsten schätzten, mußten sie in rotem Ansprung gegen die Hürde jeglichen Rausches stürzen. Sich voll in den Taumel werfen, Leben trinken war die Parole in den kurzen Atempausen zwischen den Schlachten. Was schadete es, wenn sie die Morgensonne unterm Getrümmer des Zechtisches fand? Bürgerliches Reputationsgefühl lag weltenfern. Was war Gesundheit? Wichtig für Leute, die ein langes Alter erhofften. Scharfäugig und verwittert schritten sie über die Straßen fremder Städte, Landsknechte auch der Liebe, die nach allem die Hand ausstrecken durften, weil sie nichts zu verlieren hatten. Flüchtige Wanderer auf den Wegen des Krieges, griffen sie zu, wie sie es gewohnt waren, mit harter Faust und ohne viel Sentiment. Sie hatten keine Zeit zu langer Werbung, romanhafter Entwicklung, zum Drum und Dran, das auch dem kleinsten Bürgermädchen Bedürfnis bleibt. Sie forderten von der Stunde Blüte und Frucht. So mußten sie die Liebe suchen an Orten, wo sie sich ihnen ohne Schleier bot. Erglühten nicht Nacht für Nacht die Kreuzpunkte der modernen Heerstraßen im Zeichen Eros, des Entfesselten? Da paradierte in langen Reihen bereite Weiblichkeit, die Lotosblumen der Asphalte. Brüssel! Leben, unter tausend Schiffsschrauben zerschäumt. Wie war der Schwung des Lebens ungeheuer und doch so erschreckend mechanisch wie der Krieg selbst. Da konnte nur stählerne Eigenart bestehen, ohne im -33-

Strudel verschliffen zu werden. Reine Funktion waren diese liebesgewandten Körper, die rauschend sich in Aufforderung wiegten, mit Kleidern wie mit leuchtenden Plakaten behängt. Lange lehnte ich einmal an einer Laterne und trank immer wieder dasselbe Bild, das sich wiederholte wie der eintönige Aufschlag von Wellen am Strand. Immer wieder. Selbst die Sprache fehlte, sonst geeignet wie Tischtuch, Messer und Gabel das Tierhafte einer Mahlzeit zu mildern. Aus dunklen Ecken alter Stadtviertel glommen rote Augen von Laternen, Lockung zu einer hastigen Faust voll Genuß. Im Innern unscheinbarer Häuser schimmerten Spiegel, ertrank flutendes Licht in der Schwere roten Samts. Das war ein trunkenes Gelächter, wenn der metallische Griff in weißem Fleisch versank. Krieger und Mädchen, ein altes Motiv. Was ging in den Dörfern vor, die unzählig das Grauen umgürteten? Tot lagen sie im Dunkel, wenn man hindurchmarschierte, nur das Bajonett des Postens flimmerte auf dem Markt. Und doch grub fremde Rasse sich unauslöschlich in fremdes Land. Wenn das rote Leben gegen die schwarzen Riffe des Todes braust, setzten sich ausgesprochene Farben zu scharfen Bildern zusammen. Das sind - wir leben mitten darin - Epochen der Enthüllung, der Entfesselung, abhold allem Feinen, Zarten und Lyrischen. Überall ballt rückschnellendes Leben sich zu barbarischer Fülle und Wucht, nicht zuletzt in der Liebe und der Kunst. Da ist keine Zeit, seinen Werther tränenden Auges zu lesen. Zuweilen gewiß - sind wir nicht Prisma, das alle Farben splittert? Wer möchte sie auf eine Formel bringen? - erglomm selbst am Rande der Materialschlacht ein wärmerer Schimmer. Er zitterte vielleicht durch die geborstenen Fensterläden des ersten bewohnten Häuschens über das kalte Grauen der Nacht als suchender Arm eines Vorpostens des Gefühls. Da lagen in einer Bauernkammer zwei Menschen unter groben Linnen -34-

aneinander und fühlten sich für kurze Stunden geborgen an der Grenze der Vernichtung, wohl sicher wie zwei junge Vögel in der Höhe eines Baumes, wenn knarrend nächtliche Wälder im Sturmwind wiegen. Vielleicht ein Student und ein pikardisches Bauernmädchen, zusammengeschleudert an irgendeiner Klippe des Krieges. Nun waren sie ganz Empfindung, zwei Herzen ineinander brennend in einer eisigen Welt. Während die kleine Fensterscheibe im Hammertakt der nahen Front erbebte, streiften zwei Lippen des Mannes Ohr, eindringlich bemüht, die ganze Melodie der fremden Sprache in ihn hineinzugießen. Da mochte diese Minute eine Ahnung von der Seele ihres Landes in ihm zu entzünden, heller als die Weisheit aller Bücher und aller hohen Schulen zuvor. Denn was ist das Verständnis des Hirnes gegen das des Herzens? Solche Nacht war Entsühnung, Erlösung, mochte auch der Morgen in brüllendes Feuer zerspringen. Einer marschierte wohl in den Reihen der alten Landsknechte mit glänzenden Augen und leichtem Schritt. Verschanzte sich sein Herz auch nicht hinter trotzigen Liedern und harten Scherzen, so erbebte es doch minder unter heimlichen Schauern als die ihren. Klar stand er im Hagel der Geschosse, noch den Hauch der Küsse im Haar. Der Tod nahte als Freund, ein reifes Korn fiel unterm Schnitte.

-35-

6. Pazifismus Der Krieg ist die mächtigste Begegnung der Völker. Während sich in Handel und Verkehr, bei Wettkämpfen und Kongressen nur die vorgeschobenen Spitzen berühren, kennt im Kriege ihre gesamte Mannschaft nur ein Ziel, den Feind. Welche Fragen und Ideen auch immer die Welt bewegten, stets war es der blutige Austrag, der über sie entschied. Wohl wurden alle Freiheit, alle Größe und alle Kultur in der Idee, im Stillen geboren, doch nur durch Kriege erhalten, verbreitet oder verloren. Durch Krieg erst werden große Religionen Gut der ganzen Erde, schossen die tüchtigsten Rassen aus dunklen Wurzeln zum Licht, wurden unzählige Sklaven freie Männer. Der Krieg ist ebensowenig eine menschliche Einrichtung wie der Geschlechtstrieb; er ist ein Naturgesetz, deshalb werden wir uns niemals seinem Banne entwinden. Wir dürfen ihn nicht leugnen, sonst wird er uns verschlingen. Unsere Zeit zeigt starke pazifistische Tendenzen. Diese Strömung springt aus zwei Quellen, dem Idealismus und der Blutscheu. Der eine verneint den Krieg, weil er die Menschen liebt, der andere, weil er sich fürchtet. Dazu gehört auch der Ästhet. Der eine ist vom Schlage der Märtyrer. Er ist ein Soldat der Idee; er hat Mut: daher muß man ihn achten. Ihm gilt die Menschheit mehr als die Nation. Er glaubt, daß die wütenden Völker doch nur der Menschheit blutige Wunden schlagen. Und daß, wenn die Waffen klirren, der Bau des Turmes ruht, den wir bis in den Himmel treiben wollen. Da stemmt er sich zwischen die blutigen Wogen und wird von ihnen zerschmettert. Dem andern ist seine Person das Heiligste; daher flieht oder scheut er den Kampf. Er ist der Pazifist, der die Boxkämpfe besucht. In tausend schillernde Mäntel - besonders in den des Märtyrers - weiß er seine Schwäche zu kleiden, und mancher -36-

davon scheint nur allzu verlockend.. Darüber aber muß man sich klar sein: Treibt der Geist eines ganzen Volkes solcher Richtung zu, so ist das ein Sturmzeichen des nahen Unterganges. Eine Kultur mag noch so ragend sein - erlischt der männliche Nerv, so ist sie ein Koloß auf tönernen Füßen. Je mächtiger ihr Bau, desto fürchterlicher der Sturz. Da möchte jemand fragen: "Wohl mag der liebe Gott bei den stärksten Bataillonen sein, sind aber auch die stärksten Bataillone bei der höchsten Kultur?" Gerade deshalb ist es die heilige Pflicht der höchsten Kultur, die stärksten Bataillone zu haben. Es können Zeiten kommen, wo flüchtige Hufe von Barbarenrossen über die Trümmerhalden unserer Städte klappern. Nur der Starke hält seine Welt in der Faust, dem Schwachen muß sie in Chaos zerrinnen. Betrachten wir eine Kultur oder ihren lebendigen Träger, das Volk, als ständig wachsende Kugel, so ist der Wille, der unbedingte und rücksichtslose Wille zu wahren und zu mehren, das heißt: der Wille zum Kampf, das magnetische Zentrum, durch das ihre Struktur gefestigt und immer neue Teile herangerissen werden. Verliert dieses Zentrum seine Kraft, so muß sie in Atome zerrieseln. Beispiele aus der Geschichte sind billig. Bei jedem Zusammenbruch sehen wir Schwäche, die irgendein Stoß von außen plötzlich offenbart. Dieser Stoß kommt jedesmal mit unfehlbarer Sicherheit; das liegt in der Einrichtung der Welt begründet. Die Sucht zu zerstören ist tief im menschlichen Wesen verwurzelt; alles Schwache fällt ihr zum Opfer. Was hatten die Peruaner den Spaniern getan? Wer Ohren dafür hat, dem singen die Urwaldkronen, die heute über den Ruinen ihrer Sonnentempel federn, die Antwort. Es ist das Lied vom Leben, das sich selbst verschlingt. Leben heißt töten. Auf der Insel Mauritius lebte einst das Volk der Dronten, das friedlichste Volk, das man sich denken kann; waren sie doch sogar nahe Verwandte der Tauben. Sie hatten tatsächlich keinen -37-

Feind, konnten vor Unbeholfenheit kaum gehen und nährten sich von Pflanzen. Ihr Fleisch war ungenießbar; daher ihr Beiname "die Ekelvögel". Trotz alledem: Sie waren ausgerottet, nachdem man kaum ihr verlassenes Eiland entdeckt hatte. Ein Bild, das man sich so recht vorstellen kann: Das holländische Schiffsvolk, ohne Ermatten - in solchen Dingen ist der Mensch wirklich unermüdlich, keiner ist rastloser als der Jäger - Knittel und schwere Spieren schwingend, und die vielen tausend großen, schwerfälligen Vögel, die mit erstaunten Augen das Gemetzel betrachten, bis auch ihnen der Schädel zerbricht. "Nun immerhin, diese kleine Episode spielte noch vor dem Dreißigjährigen Kriege. Man dürfte doch annehmen, daß heute zur Zeit des Schulzwanges, der Tierschutzvereine usw., usw. - -" Im Jahre 1917 stand ich in einer Straße Brüssels vor einem erleuchteten Schaufenster. Es stapelten da ganze Berge von Porzellan, zierliche kleine Sachen aus Meißen, Limoges und Kopenhagen, farbige venetianische Kelche, große Schalen aus wasserklar geschliffenem Kristall. Ich liebe es, wenn ich durch größere Städte schlendere, lange Zeit vor diesen Museen luxuriöser Kleinkunst, die funkelnd im Lichte schwimmen, zu verweilen. Man empfindet dabei dasselbe Gefühl des Reichtums, der Schönheit und der Fülle, mit dem man die Alleen eines weiten, in vornehmer Herbstlichkeit erstarrten Parkes durchschreitet, unbeeinträchtigt durch den Gedanken, daß man ihn nicht besitzt. Für dieses Mal wurde ich jedoch gestört durch die Betrachtungen zweier Soldaten, die neben mir an der Messingstange lehnten. Sie waren unverkennbare Typen der Front; der Graben hatte ihre Mäntel gebleicht und verschlissen, Kampf die Messerprofile gemeißelt. Die Gesichter waren kühn und intelligent, um Augen und Mund lag versteinerte Spannung, von höchstgesteigerten Augenblicken hinter hämmernden Maschinengewehren geprägt. Trotzdem zeigten sich dem -38-

geschulten Blicke in Haltung und Anzug bereits die kleinen Anzeichen beginnender Ermattung. "Na, hier merkste auch noch nichts vom Krieg. ´s alles da!" "Junge, hier müßte mal so´n 38er Volltreffer reinhauen, so richtig hoch von oben." "Da würde der ganze Mist aber mal hochspritzen!" Man konnte ihnen die Wollust, mit der dieser Gedanke sie ausfüllte, deutlich vom Gesichte ablesen. Das kleine Blitzlicht gab mir zu denken. Das waren nun zwei Leute, die unbedingt vom Kriege "die Nase vollhatten", dennoch waren sie im Grunde ganz dieselben geblieben. Sie waren müde, zerschlagen durch mechanische Wirkung, zerprügelt; an sittlicher Erkenntnis hatten sie nicht das mindeste gewonnen. In diesem Augenblick erkannte ich mit Klarheit: Diese Menschen werden den Krieg niemals überwinden, denn er ist größer als sie. Wohl wird die erschöpfte Faust zuweilen sinken, wohl werden sie für Zeiten keuchend abseits stehen, wohl werden sie diesen oder jenen Krieg durch einen Frieden beenden, wohl werden sie manchmal sagen: dies sei der letzte Krieg gewesen. Aber der Krieg ist nicht tot, wenn keine Dörfer und Städte mehr brennen, wenn nicht mehr Millionen mit verkrampfter Faust im Feuer verbluten, wenn man nicht mehr Menschen als wimmernde Bündel auf die blanken Tische der Lazarette schnallt. Er wird auch nicht geboren von einigen Staatsmännern und Diplomaten, wie viele glauben. Das alles ist nur äußerlich. Die wahren Quellen des Krieges springen tief in unserer Brust, und alles Gräßliche, was zuzeiten die Welt überflutet, ist nur ein Spiegelbild der menschlichen Seele, im Geschehen sich offenbarend. Wie oft hat man sie in ihren Unterständen seufzen hören: "Es ist nicht gut, daß sich die Menschen töten." Sie meinten damit aber nur: "Es ist nicht gut, getötet zu werden." Und das waren doch sooft dieselben, die kaltblütig stachen und höhnisch dabei -39-

riefen: "Nix, Camerade!", wenn flehende Arme sich ihnen entgegenstreckten. --Einen ganzen langen Sommer hatten wir in derselben kahlen Hügellandschaft des Artois gelegen, ein Kampfregiment, ein verlorener Haufe, dem Treiben der Städte längst entfremdet. Seit Monaten hatten wir kein Weib gesehen, kein Glockenläuten, keinen Pfiff der Fabriken gehört. Die verwucherte, zernarbte Wildnis, die zu Gleichförmigkeit erstumpften Gesichter der Kameraden, die tausend Geräusche eines verborgenen, unaufhörlich arbeitenden Kampfes, das Gewölk der Geschosse bei Tage und das Flimmern der Leuchtkugeln bei Nacht: Das alles war uns so vertraut geworden, daß wir es kaum noch bemerkten. Jede neunte Nacht marschierten wir aus den Gräben in ein verwahrlostes Nest zurück, um auszuschlafen und unsere Gewehre zu reinigen. Das Gefilde vor uns war Wüste. Wir betrachteten es Tag für Tag, lange und scharf durch die schmalen Schlitze unserer Schießscharten, ergriffen von jenem neugierigen Grauen, das ein unbekanntes Land umweht. In stillen Nächten trug der Wind Stimmen, Husten, Klopfen, Hämmern und ein fernes, verworrenes Räderrollen zu uns herüber. Dann erfüllte uns ein ganz eigenartig banges und gieriges Gefühl, wie es der Jäger empfinden mag, der in einer Urwaldlichtung ein ungeheures, rätselhaftes Tier belauert. Mittags hockten wir oft in einem Sonnenfleck des Grabens beisammen, rauchend und schweigend, denn wir kannten uns schon so lange, daß wir uns nichts mehr zu sagen hatten. Durch unerbittliche Verhältnisse zusammengeschmiedet wie Galeerensklaven, waren wir meist mürrisch und mochten uns kaum mehr sehen. Manchmal schritt einer von denen dahinten an uns vorüber, sehr eilig, geschäftig, in der Hand eine Karte, von roten und bla uen Linien und Zeichen bedeckt. Sehr einfach, die blauen Striche waren wir und die roten der Feind. Wir sahen, daß er rasiert war, daß seine Stiefel glänzten, daß er für das, was uns ankotzte, Interesse hatte, und machten eine Reihe bitterer -40-

Witze darüber. Dann schloß uns das Gefühl der Front zusammen, jenes Gefühl einer tierischen Zusammengehörigkeit auf Leben und Tod, von dem sie in der Heimat soviel schrieben und sprachen, und unter dem sie anscheinend den rauschenden Einklang des Sturmschreis und das Vorwärts der Hörner im Morgenrot verstanden. Ach, wie lange schon hatten wir jenes Heldentumes schillernde Haut mit dem schmutzigen Kittel der Tagelöhner vertauscht. Fast jeden Tag wurde einer getroffen, zuweilen ganz dicht neben uns; zuweilen merkten wir es erst, wenn wir beim Durchschreiten des Grabens seinen schon erkalteten Körper auf einem Postenstande fanden. Meist hatten sie Kopfschüsse, verursacht durch ein verirrtes Geschoß, das eine Lücke zwischen den Sandsäcken gefunden hatte. Im Kopfe müssen sehr viel Adern liegen; wir staunten immer wieder über die Menge Blut, die einem Menschen entströmen kann. Manchmal wurde auch einer durch eine Granate oder Mine zerrissen, daß selbst sein bester Freund ihn nicht mehr erkennen konnte. Dann hoben wir die zerfetzte Leichenmasse mit unseren Schaufeln auf eine Zeltbahn, um sie einzuwickeln. An diesen Stellen zeigte der Lehm noch lange große, eingesprengte Rostflecke. Die Leichen trugen wir in der Nacht zurück und begruben sie auf einem Friedhof, der sich ständig vergrößerte. Der Tischler schnitzte ihnen ein eisernes Kreuz, der Feldwebel strich ihren Namen aus der Stammrolle, der Kompagnieführer unterschrieb. Bald hatten wir sie vergessen und behielten nur eine unklare Erinnerung an sie. Vielleicht sagte abends einmal einer: "Weißt du noch, der kleine Dicke mit den roten Haaren? Der sollte einmal Blindgänger verdrahten und hatte keinen Hammer mit. Was macht der Kerl? Nimmt die Blingänger und schlägt damit die Pfähle ein. Der Oberst ritt gerade vorbei und wäre vor Schreck fast vom Pferde gefallen. Das war ´ne Motte!" So lebten wir eintönig dahin, von Tod und Wildnis umzirkt. Längst hatte der Kampf sein Außerordentliches verloren: er war -41-

uns Zustand geworden, ein Element, mit dessen Erscheinungen wir uns abgefunden hatten wie mit denen des Himmels und der Erde. Unser früheres Leben war uns nur noch ein dumpfer Traum, mit dem wir immer mehr den Zusammenhang verloren. Schickten wir Briefe in die Heimat, so schrieben wir über Allgemeines oder schilderten das äußere Gesicht des Krieges, nicht seine Seele. Die wenigen von uns, die sich darüber klar waren, wußten wohl, daß die dahinten sie nie verstehen würden. Langsam wurde es Herbst. Da geschah etwas ganz Unerwartetes, etwas, das wir nie für möglich gehalten hätten. In einer stürmischen Nacht prasselte ein wilder Regen auf die Gräben herab. Frierend und naß standen die Posten im Winde und versuchten vergeblich, die erloschenen Pfeifen wieder zu entzünden. In Bächen gurgelte das Wasser an den Grabenwänden auf die Sohle herab, klatschend zerfiel eine Sandsackmauer, eine Schulterwehr nach der anderen in zähen Brei. Schlammbedeckt krochen die Besatzungen wie verscheuchte Rattenschwärme aus den Unterständen, in denen das Wasser immer höher stieg. Als langsam und traurig der Morgen hinter feuchten Schleiern dämmerte, erkannten wir, daß eine wahre Sintflut über uns hereingebrochen war. Schweigend und erstarrt kauerten wir auf letzten Vorsprüngen, die auch schon zu bröckeln begannen. Längst war der letzte Fluch erloschen, ein schlimmes Ze ichen. Was sollten wir tun? Wir waren verloren. Die Gewehre waren verkrustet. Bleiben konnten wir nicht, und sich über der Erde zeigen war sicherer Tod. Das wußten wir aus tausendfacher Erfahrung. Plötzlich scholl ein Ruf herüber. Jenseits der Drähte tauchten Gestalten auf in langen gelben Mänteln, sich kaum vom Hintergrunde der lehmigen Einöde abzeichnende. Engländer, die sich auch nicht länger in ihren Gräben halten konnten. Das war wirklich wie eine Erlösung, denn wir waren am Ende unserer Kraft. Wir schritten ihnen entgegen. -42-

Es waren seltsame Gefühle, die dabei in uns erwachten, so stark, daß unsern Augen die Gegend wie Rauch, wie ein Traum zerfloß. So lange hatten wir uns in der Erde verkrochen gehabt, daß es uns kaum noch denkbar schien, daß man am Tage auf offenem Felde sich noch bewegen könnte, und mit der menschlichen Sprache zueinander reden statt mit der Sprache des Maschinengewehrs. Und nun bewies eine höhere, eine gemeinsame Not, daß es ein ganz einfaches und natürliches Ereignis war, wenn man sich auf freiem Felde begegnete und sich die Hände schüttelte. Wir standen zwischen den Leichen, die das Zwischenfeld bedeckten und staunten über die immer neuen Scharen, die aus allen Winkeln der Grabensysteme auftauchten, wir hatten gar nicht geahnt, welche Menge von Menschen auf diesem so öden und toten Gelände verborgen gewesen war. Bald hatte sich in großen Gruppen eine rege Unterhaltung entwickelt, man tauschte Uniformknöpfe, Branntwein und Whisky, es hieß Fritz hier und Tommy da. Der große Kirchhof hatte sich in einen Jahrmarkt verwandelt, und bei dieser ganz unvorhergesehenen Entspannung nach einem monatelangen, erbitterten Kampfe tauchte eine Ahnung in uns auf von dem Glück und der Reinheit, die sich in dem Worte Frieden verbirgt. Es schien nicht undenkbar, daß eines Tages die beste Mannschaft der Völker aus den Gräben steigen würde, aus einem plötzlichen Antrieb, aus einer sittlichen Einsicht heraus, um sich die Hände zu reichen und sich endgültig zu vertragen wie Kinder, die sich lange gestritten haben. In diesen Augenblicken trattdie Sonne hinter den Regenschleiern hervor, und jeder mochte wohl etwas von dem beglückenden Gefühl, von der seltsamen Freude empfinden, mit welcher der vom Willen entspannte, nicht mehr unter einer Aufgabe stehende Geist sich dem Genusse des Lebens überläßt. Die Freude dauerte jedoch nicht lange, sie wurde jäh zerstört durch den scharfen Einsatz eines Maschinengewehrs, das auf -43-

einem nahen Hügel stand. Klatschend fuhr die Garbe der Geschosse in den fetten Boden oder stäubte in die Spiegel wassergefüllter Trichter. Wir warfen uns nieder, mancher versank getroffen in den schlammigen Löchern. Während wir langsam zurückkrochen und kaum die Hände aus dem zähen Dreck lösen konnten, fuhr immer wieder die zackige Säge der Einschläge durch unsere Reihen hindurch, bis wir eine Deckung erreichten, um uns bis zum Abend zu verbergen. Ja, wenn man so auf tellerflachem Felde liegt, und sich ganz schutzlos und verlassen fühlt, dann kann man nicht verstehen, daß ein anderer, der trocken und sic her sitzt, so ohne Mitgefühl und unbarmherzig das bequeme Ziel unter Feuer nehmen kann. Aber wenn man selbst voll Lust hinterm Maschinengewehr hockt, dann ist das Gewimmel da vorn nicht mehr als ein Mückentanz. Zum Dauerfeuer! Hei, wie das spritzt! Da kann gar nicht Blei genug aus der Mündung fliegen. Und nachher sitzen sie beisammen und erzählen: "Junge, das war schön! Das war wenigstens noch Krieg. Da lag einer neben dem andern, wie hingespuckt!" Und wenn man sieht, wie ihre Augen glänzen, wenn sie diese blutigen Phantome wieder heraufbeschwören, dann fühlt man: Das ist der Krieg, der nackte Krieg. Da sitzt das, was sie heute Militarismus nennen, und das sitzt tiefer als der Klang der Regimentsmärsche oder der Rausch in dem die Seidenfetzen zerschossener Fahnen flattern. Das ist nur das Bedürfnis des Blutes nach Festfreude und Feierlichkeit. In diesem Punkte treffe ich mich mit dem Pazifisten aus Überzeugung: Zuerst sind wir Menschen, und das verbindet uns. Aber gerade, weil wir Menschen sind, wird immer wieder der Augenblick kommen, wo wir übereinander herfallen müssen. Anlässe und Mittel des Kampfes werden sich ändern, der Kampf selbst aber ist eine von vornherein gegebene Lebensform, er wird immer derselbe bleiben.

-44-

7. Mut Der Mannesmut ist doch das Köstlichste. In göttlichen Funken spritzt das Blut durch die Adern, wenn man zum Kampfe über die Felder klirrt im klaren Bewußtsein der eigenen Kühnheit. Unter dem Sturmschritt verwehen alle Werte der Welt wie herbstliche Blätter. Auf solchen Gipfeln der Persönlichkeit empfindet man Ehrfurcht vor sich selbst. Was könnte auch heiliger sein, als der kämpfende Mensch? Ein Gott? Weil wir an seiner Allmacht zerschellen müssen wie an einer geschliffenen Kugel? O, immer widmete sich das edelste Empfinden dem Schwachen, dem Einzelnen, der das Schwert noch in erkaltender Faust zum letzten Hiebe schwang. Klingt nicht auch aus unserm Lachen Rührung, wenn Tiere sich uns zur Wehr setzen, so winzig, daß wir sie mit einem Finger zerdrücken könnten? Mut ist der Wind, der zu fernen Küsten treibt, der Schlüssel zu allen Schätzen, der Hammer, der große Reiche schmiedete, der Schild, ohne den keine Kultur besteht. Mut ist der Einsatz der eigenen Person bis zur eisernsten Konsequenz, der Ansprung der Idee gegen die Materie, ohne Rücksicht, was daraus werden mag. Mut heißt, sich als einzelner ans Kreuz schlagen lassen für seine Sache, Mut heißt, im letzten Nervenzucken mit verlöschendem Atem noch den Gedanken bekennen, für den man stand und fiel. Zum Teufel mit einer Zeit, die uns den Mut und die Männer nehmen will! Es fühlt ja auch ein jeder und sei es noch so dumpf. Der Mut hat etwas Unwiderstehliches, das im Augenblicke der Tat von Herz zu Herzen springt. Dem Gefühl für das Heroische kann sich so leicht keiner entziehen, wenn er nicht einen ganz verkommenen und niederträchtigen Charakter besitzt. Gewiß wird der Kampf durch seine Sache geheiligt; mehr noch wird eine Sache durch Kampf geheiligt. Wie könnte man sonst einen Feind achten? Das kann aber nur der Tapfere ganz verstehen. -45-

Der Kampf ist immer noch etwas Heiliges, ein Gottesurteil über zwei Ideen. Es liegt in uns, unsere Sache schärfer und schärfer zu vertreten, und so ist Kampf unsere letzte Vernunft und nur Erkämpftes wahrer Besitz. Keine Frucht wird uns reifen, die nicht in eisernen Stürmen hielt, und auch das Beste und Schönste will erst erkämpft sein. Wer so zu des Kampfes Wurzeln gräbt und echtes Kämpfertum verehrt, verehre es überall, auch beim Gegner. Daher sollte Versöhnung nach dem Kampf zuerst die Männer der Front umschließen. Ich schreibe als Krieger; das mag nicht in den Tag passen, aber warum sollten wir Krieger nicht versuchen, uns auf unserer Linie, auf der des männlichen Mutes, zu treffen? Größerer Mißerfolg als den Staatsmännern, Künstlern, Gelehrten und Frommen auf der ihren kann uns nie werden. Drückten wir nicht oft genug die Hände, die eben noch die Handgranate auf uns geschleudert hatten, als die dahinten noch immer tiefer sich ins Gestrüpp ihres Hasses verstrickten? Pflanzten wir nicht Kreuze auch auf die Gräber der Feinde? Immer noch die anständigsten waren wir, die jeden Tag aufs neue ins Blut griffen. Der Kampf ist eine Lebensform von vornherein, aber er läßt sich veredeln durch Ritterlichkeit. Und mit seiner mächtigsten Offenbarung, dem Kriege, ist es wie mit den Religionen. Die Menschheit betet zu vielen Göttern, in jedem Gott äußert sich die Wahrheit in einer besonderen Form. Der echte Ring ging nicht verloren, das ist ein demokratisches Geschwätz, solange es Eigenarten gibt, wird es auch verschiedene Ringe geben müssen. Und jeden, der bewußt in den schwirrenden Tod lief, trieb etwas anderes, aber jedes hatte seine Berechtigung. Wie man den Glauben eines jeden achtet, obwohl man ihn vielleicht bekämpfen muß, so soll man auch seinen Mut achten. Der Krieger setzt sich am schärfsten für seine Sache ein; das haben wir bewiesen, wir Frontsoldaten des Erdballs, ein jeder an seinem Platze. Wir waren die Tagelöhner einer besseren Zeit, -46-

wir haben das erstarrte Gefäß einer Welt zerschlagen, auf daß der Geist wieder flüssig werde. Wir haben das neue Gesicht der Erde gemeißelt, mögen es auch noch wenige erkennen. Vielen wird es noch unsichtbar sein unter dem Wolkenschatten des Geschehens: Die ungeheure Summe der Leistung birgt ein Allgemeines, das uns alle verbindet. Nicht einer ist umsonst gefallen. Denn das kann der Kämpfer, der in seinen Zielen aufgeht, nicht übersehen, und diese Erkenntnis besitzt für den Kampf auch gar keinen Wert, denn sie schwächt seine Wucht: Irgendwo müssen alle Ziele doch zusammenfallen. Der Kamp f ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung, und so kämpft nicht einmal der umsonst, welcher für Irrtümer ficht. Die Feinde von heute und morgen: sie sind in den Erscheinungen der Zukunft verbunden, das ist ihr gemeinsames Werk. Und es tut wohl, sich im Kreise jener harten europäischen Sittlichkeit zu fühlen, die über das Geschrei und die Weichheit der Massen hinweg, sich immer schärfer in ihren Ideen bestärkt, jener Sittlichkeit, die nicht nach dem fragt, was eingesetzt werden muß, sondern nur nach dem Ziel. Das ist die erhabene Sprache der Macht, die uns schöner und berauschender klingt als alles zuvor, eine Sprache, die ihre eigenen Wertungen und ihre eigene Tiefe besitzt. Und daß diese Sprache nur von wenigen verstanden wird, das macht sie vornehm, und es ist gewiß, daß nur die Besten, das heißt die Mutigsten, sich in ihr werden verständigen können. Wir aber haben in einer Zeit gelebt, in welcher der Mutige der Beste war, und sollte aus dieser Zeit nichts weiter hervorgehen als die Erinnerung an ein Geschehen, bei dem der Mensch nichts und seine Sache alles galt, so werden wir immer noch mit Stolz auf sie zurückblicken können. Wir haben in einer Zeit gelebt, in der man Mut haben mußte, und Mut zu besitzen, das heißt jedem Schicksal gewachsen sein, das ist das Schönste und stolzeste Gefühl. -47-

Immer wieder im flutenden Angriffswirbel riesiger Schlachten erstaunte man über die Steigerung der Kräfte, deren der Mensch fähig ist. In den Minuten vorm Sturm, wo einem seltsam veränderten Bewußtsein das Äußere schon im Rausch zerfloß, überglitt der Blick noch einmal die Reihe der in graue Gräben geduckten Gestalten. Da war der Knabe, der wieder und wieder am Sturmgepäck nestelte, der Mann, der stumpf gegen die lehmigen Mauern stierte, der Landsknecht, der seine letzte Zigarette verrauchte. Vor ihnen allen bäumte sich der Tod gierig auf. Sie standen vorm Letzten und mußten in der kurzen Zeit noch einen Abschluß finden. Noch einmal drängte sich Allereigenstes in ihnen zusammen, noch einmal rollte die bunte Welt im sausendem Film durchs Hirn. Aber es hatte etwas Erhabenes, daß, wenn der Pfiff zum Angriff schrillte, kaum einer zurückblieb. Überwinder waren es, die sich über den Grabenrand schwangen, daher auch die gleichmäßige Ruhe, mit der sie durchs Feuer schritten. Dann kam, nur den Rassigsten vergönnt, der Rausch vor der eigenen Kühnheit. Es gibt nichts Tathafteres als den Sturmlauf auf Feldern, über denen des Todes Mantel flattert, den Gegner als Ziel. Das ist Leben im Katarakt. Da gibt es keine Kompromisse; es geht ums Ganze. Das Höchste ist Einsatz, fällt Schwarz, ist alles verloren. Und doch ist es kein Spiel mehr, ein Spiel kann wiederholt werden, hier ist beim Fehlwurf unwiderruflich alles vorbei. Das gerade ist das Gewaltige. So taumelten die Krieger im Rausche der Schlacht dahin, Pfeile im Nebel vom Bogen geschnellt, Tänzer im Ungewissen. Doch hing über diesen klirrenden Schleiern, so oft im Feuer zerrissen, weit mehr als der Rausch der Sekunde. Der Mut ist dem Tanze vergleichbar. Die Person des Tänzers ist Form, ist Nebensache, wichtig allein, was unterm Schleier seiner Bewegung sich hebt und senkt. So ist auch Mut ein Ausdruck tiefsten Bewußtseins, daß der Mensch ewige, unzerstörbare Werte umschließt. Wie könnte sonst auch nur ein einziger -48-

bewußt dem Tode entgegenschreiten?

-49-

8. Landsknechte Alt sind wir geworden und bequem wie die Greise. Verbrechen wurde es, mehr zu sein oder zu haben als die andern. Den starken Räuschen entwöhnt, sind Macht und Männer uns zum Greuel geworden, Masse und Gleichheit heißen unsere neuen Götter. Kann die Masse nicht werden wie die Wenigen, so sollen die Wenigen doch werden wie die Masse. Politik, Drama, Künstler, Cafe, Lackschuh, Plakate, Zeitung, Moral, Europa von morgen, Welt von übermorgen: Donnernde Masse. Als tausendköpfige Bestie liegt sie am Wege, zertritt, was sich nicht verschlucken läßt, neidisch, parvenühaft, gemein. Wieder einmal unterlag der Einzelne, verrieten ihn nicht gerade seine geborenen Vertreter am meisten? Zu dicht hocken wir aufeina nder, schrotende Mühlsteine sind unsere großen Städte, Sturzbäche, die uns wie Kiesel aneinander zerschleifen. Zu hart ist das Leben; haben wir nicht unser Flimmerleben? Zu hart die Helden; haben wir nicht unsere Flimmerleinwand-Helden? Wie schön geräuschlos da alles gleitet. Man hockt im Polster, und alle Länder, alle Abenteuer schwimmen durchs Hirn, leicht und gestaltig wie ein Opiumtraum. Und der Mensch ist gut. Wie könnte man sonst so dicht aufeinanderhocken? Jeder erzählt es von sich. Keiner hatte angegriffen. Jeder war der Angegriffene. Man spickte den Krieg mit Phrasen, um ihn schmackhaft zu machen. Dem wahren Krieger, dem Manne beschränkter, doch gradliniger Tat war das bis ins Innerste zuwider. Ganz sicher erschien die Brutalität nie gemeiner als unter diesem Lumpengewande, dieser dünnen Tünche einer sogenannten Kultur. Gewiß, es hat Zeiten gegeben, die grausamer waren. Wenn asiatische Despoten, wenn ein Tamerlan das klirrende Gewölk seiner Horden über weite Länder trieb, lag vor ihnen Feuer, -50-

Wüste im Rücken. Die Bewohner riesiger Städte wurden lebendig begraben, oder blutige Schädel zu Pyramiden gehäuft. Mit tiefer Leidenschaft wurde geplündert, geschändet, gesengt und gesotten. Trotzdem: Diese großen Würger sind sympathischer. Sie handelten wie es ihrem Wesen entsprach. Töten war ihnen Moral, wie den Christen Nächstenliebe. Sie waren wilde Eroberer, doch ebenso geschlossen und rund in ihrer Erscheinung wie die Hellenen in der ihren. Man kann Genuß an ihnen empfinden wie an bunten Raubtieren, die mit kühnen Lichtern in den Augen durch tropische Dickungen brechen. Sie waren vollendet in sich. Die Vollendung. Das ist der springende Punkt. Scharfe Durchdringung bis an die Ränder des Vermögens, Gestaltung des Gegebenen in die eigene Form. Vollendet in diesem Sinne vom Standpunkt der Front - erschien nur einer, der Landsknecht. In ihm schlugen die Wellen der Zeit ohne Mißklang zusammen, Krieg war sein ureigenstes Element. Er trug den Krieg im Blute, wie ihn römische Legionäre oder mittelalterliche Landsknechte im Blute trugen. Daher stand er allein als feste Gestalt vor dem Hintergrunde aus Grau und Rot, formhaft und sicher umrissen. Scharf, wie von einer ganz anderen Rasse hob er sich ab von den in Waffen gesteckten Spießbürgern, dem in den Volksheeren, diesem militärischen Ausdruck der Demokratie, zuletzt überwiegenden Typ. Das waren Krämer oder Handschuhmacher, mehr oder minder soldatisch überschliffen, die Krieg ausübten als staatsbürgerliche Pflicht, brave Leute, die, wenn es sein mußte, auch Helden waren. Aber eins war ihnen Lebensbedingung : Ordnung. Das zeigte sich in seiner ganzen Schärfe beim Zusammenbruch, dieser Feuerprobe der verwegensten Männlichkeit. Da schlugen auf beiden Seiten andere los, der Bourgeois flatterte dazwischen wie ein vom Neste gestoßener Vogel, der die Augen schloß, weil er seine Welt versinken sah. -51-

Es gibt nur eine Masse, die nicht lächerlich wirkt: das Heer. Der Bourgeois machte auch noch das Heer lächerlich. Es gibt nur zwei Soldaten: den Söldner und den Freiwilligen..Der Landsknecht war beides zugleich. Er als Sohn des Krieges wurde auch nicht von jener Erbitterung befallen, die mehr und mehr den Körper der Heere zersetzte, und deren Ausdruck man zuletzt von den Bretterwänden jeder Feldlatrine lesen konnte. Er war zum Kriege geboren und hatte in ihm den Zustand gefunden, in dem allein er sich auszuleben vermochte. Trotzdem verkörperte der Landsknecht durchaus nicht das Heroenideal seiner Zeit. Er "machte sich keine Gedanken". Das war vielmehr der bewußte Kämpfer, der sich bemü hte, seine Aufgabe zu durchdringen, also auch ein vollendeter Typ, dessen äußere und innere Welt in Harmonie stehen sollten. Der wurde mit dem allgemeinen Ermatten der Kampfsittlichkeit immer seltener. Es ist auch fraglich, ob sich der Lebenswille eines Volkes klarer ausspricht durch eine Schicht von Kämpfern, die Recht und Unrecht zu unterscheiden streben, oder durch eine gesunde, kräftige Rasse, die den Kampf um des Kampfes willen liebt, oder mit Hegel ausgedrückt, ob der Weltgeist sich durch ein bewußtes oder durch ein unbewußtes Werkzeug am wuchtigsten vertritt. Jedenfalls blieb nur der Landsknecht sich immer gleich, in seiner ersten Schlacht wie in der letzten. "Alarm! Heute nacht 2 Uhr steht das Regiment verladebereit. Nach Flandern!" Die müden Gesichter wurden noch bleicher, das Gespräch verstummte, die Pfeifen erloschen. Irgendwo, von Träumen umflossen, schimmerte ein Dörfchen, eine unerreichbare Insel der Seligen. Schon wieder! Und eben noch dem brüllenden Rachen entronnen. Sich krank melden, desertieren! Nein. Kein Entrinnen, die Lappen sind gestellt, das neue Treiben beginnt. Mutter, ein Frauenlächeln, Wärme! Und mittags ein weißgedeckter Tisch. Leben, und sei es auf der kleinsten Scholle: Leben! Oder wenigstens schlafen, hindämmern wie ein Tier und manchmal zufrieden erwachen. -52-

Ach, es muß ja sein! Muß es denn wirklich sein? Nur einer saß in der Runde mit blitzenden Augen und scharfem Gesicht. Das war der Landsknecht, der geborene Kämpfer. Ja, irgendwo saßen sie noch wirklich, die alten Landsknechte. Wenn die Dämmerung aus erstorbenen Feldern in die Gräben floß, schimmerte an einer gottverlassenen Stelle der Front ein karges Licht aus einem halbzerfallenen Unterstande. Hatte man den Tag im Schoße der Erde verschlafen und wand sich mit erwachenden Instinkten wie ein nächtliches Tier durch die verwachsenen Stichgräben zur Kampfstellung, so trat man wohl bei ihnen ein, um sich an ihrem unbekümmerten Lärmen zu erfrischen. "In alter Frische", lautete eins der Schlagworte, die sie gern hörten, und es schien auch, kam man aus all dem Toten und der stummen Verzweiflung in ihren Kreis, als ob zu ihnen das unbekümmerte Leben sich geflüchtet hätte. Endlich befand man sich bei denen, die sich in dieser grausigen Landschaft zu Hause fühlten. Ihre Umgebung war die männlichste. Rohe Bretterwände, durch Balken und grobrindige Stempel gestützt, mit Gewehren behangen, Bänke und ein klobiger Tisch, eine Flasche mit hineingesteckter Kerze. So mochten rauhe Trapper in ihren Blockhäusern hausen oder die Kapitäne von Piratenschiffen in ihren Kajüten. So mochte in den Tavernen des Vaganten Villon, so im Wilden Schweinskopf zu Eastcheap tolle Urkraft sich vergeudet haben. Da hockten Sie im Engen, verwogene Brut, verwittert und zerschlissen, mit Gesichtern wie geschliffene Klingen, voll Sprung, Rasse und Energie. Ihre Sprache war kurz, von Schlagworten beherrscht, zerhackt und zerrissen wie die Feuerstöße ihrer Maschinengewehre, die Worte geprägt und voll Erdkraft. Überall, wo Männer im Ursprünglichen sich finden, entstehen solche Sprachen. Du lieber Gott, wie waren diese Kerle doch jenen Leuten überlegen, die in Genf und Zürich sich schriftlich über den Krieg entrüsteten und nachher behaupteten, dem wirklichen Pulsschlag der Zeit nahe gewesen zu sein! -53-

Es war merkwürdig: Wo immer sie beisammen waren, der Schnaps fehlte nie. Das war der Rausch, der zu ihnen paßte, gedrängt wie Explosion, kurz und brutal wie ein Schlag mit der Axtbreite. Da galt nur der Augenblick, der Tod stand an der Wand als unbeachteter Lakai. Wenn der Rausch die kantige Wirklichkeit in grelle Farben schmolz, erwachte in ihnen ein unbändiges Gefühl der Kraft, irgendein kühnes Erbe lohte im Blut, es mochte mancher Kreuzfahrer, Raubritter, Normanne oder Bundschuhträger auferstehen. Wurde das Gewirr draufgängerischer Stimmen immer toller und prasselten Schaller von Scherben an den Wänden nieder, so galt das Leben nicht mehr als eine Flasche Wein, gut, sich daran zu berauschen und gegen die nächste Wand zu feuern. Urwüchsige Gewalten, blindlings wie Sturm und Welle, drohten die Adern zu sprengen und zerflammten in Rausch, um im Bewußtlosen zu ertrinken. Oft trieb ihre Unrast sie in dunklen Nächten über den Draht. Ihnen, die das bunte Banner des Rausches auf ihres Lebens Zinnen gepflanzt hatten, lag auch ein eigenartig wilder Rausch darin, dieses Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn der Wind in den Drähten sang und durch spärliche Grasbüschel sauste, wenn seltsame Schatten im Nebel glitten, dann drang von allen Seiten das Grauen des Niemandslandes auf sie ein, so stark, daß auc h die Brust dieser Kühnsten in pfeifenden Stößen sich hob und senkte. Unermeßlich wuchs in ihnen das Gefühl der Einsamkeit, wenn vor und hinter ihnen die Grenzwälle der Völker als schwarze, drohende Bänder der Nacht entragten. Die Lust des Jägers und die Angst des Wildes mischten sich in ihrem Abenteurerblut und spannten die Sinne zu tierischer Schärfe. Es war nicht gut, vor den Gräben zu schanzen, wenn sie die Nacht durchstrichen. Manchmal, wenn alle Posten schon im Halbschlaf standen, ertönte in der Einöde vor ihnen eine Reihe von krachenden Stößen, rötlicher Glanz blitzte auf, und ein Schrei glitt schrill, lang und leicht über den Raum hinaus. Da wußte jeder - wie man im Traum etwas weiß, obwohl man es nie -54-

erfahren hat - daß dieser Schrei, der die Adern mit Eis durchgoß, nur ein letzter sein konnte. Alles sprang hoch, erregt und erwacht, wie in einsamen Urwalddörfern alles erwacht, wenn die Hütten im Geheul eines gierigen Raubtiers erbeben. Dann rasten die Gewehre, stiegen und fielen rastlos leuchtende Kugeln. Das war eine kurze, schaurige Leichenfeier, während der öde Landstrich leer und erstarrt als unheimliche Kulisse im weißen Lichte hing. War das Entsetzen verrauscht, dann lösten sich die Landsknechte aus dem schwarzen Schlagschatten eines Trichters und schlichen in den Graben zurück. Hastig beantworteten sie die Fragen der Besatzung und trennten sich vor einer Schulterwehr. Brach in diesem Augenblick der Mond hinter einer Wolke hervor, so starrten sie sich schaudernd an: Ihre Gesichter waren so blutleer und mager, daß sie im fahlen Lichte wie Knochen gleißten. Lange floh sie auf ihren Pritschen der Schlaf, ihre Hände zitterten hoch. So zittert der Spieler, wenn er im Morgengrauen durch leere Straßen schreitet, während noch das Schwarz und Rot der Kartenblätter vor seinen Augen tanzt. Was mochte sie immer wieder in die nächtliche Wüste hetzen? Das Abenteuer? Lust am Grauen? Oder waren sie Werwölfe, Menschen, die sich in Tiere verwandelten, um heulend über verlassene Felder zu rasen und sich an Kreuzwegen auf die Lauer zu legen? Manchmal schien es sogar, als ob sie im jagenden Geschehen noch nicht Genüge fänden, als ob sie selbst auf die Gipfel des schrecklichen noch ihren Trumpf setzen müßten. So wurde man zuweilen überrascht durch einen grausigen Humor, der sich in Vers und Bild an dem Gemäuer verwüsteter Dörfer angesiedelt hatte. Einmal, in einer hellen Septembernacht zogen wir dem fernen Leuchten einer Schlacht entgegen. Stumpf und schweigend fluteten die Massen über die staubige Landstraße, die gegen -55-

einen glühenden Horizont zielte. Alle Sinne wurden verschlungen, betäubt durch die Riesengewalt des immer näher rollenden Feuers. Mitten im Strome aber ritt gleichmütig einer, der sich ein Paar mächtige Stierhörner vor den Stahlhelm gebunden hatte, wie ein zum Streite ziehender Germanengott. Ein anderes Mal, als unter schwerster Beschießung das Städtchen Combles in sich zusammensank, von Stahl und Steinen überschauert, sahen wir zwei Leute in Frauenkleider maskiert mit roten Sonnenschirmen durch die wirbelnden Trümmer laufen. Diese Leute waren vom selben Schlage wie der Stoßtrupp, der einen Graben mit leeren Weinflaschen aufrollte, wie jene schottische Sturmmannschaft, die zum Angriff ihren Fußball gegen die feindliche Linie spielte, oder wie der deutsche Leut nant, von dem man an der Front erzählte, er hätte eine Art gefunden, die Stielhandgranate wie eine Fackel über seinem Kopfe zerschellen zu lassen, ohne daß ein Splitter ihn berührte. Mag mancher sich bekreuzigen bei solchen Beispielen göttlicher Frechheit; ich möchte sie nicht missen. Gerade in Stunden, wo die fürchterliche Wucht der Dinge die Seele weich zu hämmern drohte, fanden sich Männer, die achtlos darüber hinwegtanzten wie über ein Nichts. Und jene einzige Idee, die sich für Männer geziemt, daß die Materie nichts und der Geist alles ist, jene Idee, auf der allein die Größe des Menschen beruht, wurde durch sie ins Paradoxe überspitzt. Da empfand man, daß diese Häufung von Knalleffekten, diese brüllenden Stahlgewitter, mochten sie noch so gierig sich bäumen, doch nur Maschinerie, nur Theaterkulissen waren, die erst Bedeutung erlangten durch das Spiel, das der Mensch vor ihnen spielte. Es ist von sehr tiefer Bedeutung, daß gerade das kräftigste Leben sich am willigsten opfert. Besser ist es, unterzugehen wie ein zersprühendes Meteor, als zitternd zu verlöschen. Das Blut der Landsknechte schäumte immer unter den Schraubenflügeln des Lebens, nicht nur, wenn der Eisenrausch des Gefechtes sie -56-

von Welle zu Welle trug. Sie mußten Leben äußern und formen, wild und gewaltig, wie es ihnen ununterbrochen aus der Tiefe quoll. War männliche Tugend allein ihnen Rausch und Flamme, so fachten Kampf, Wein und Liebe sie zu weißer Glut, zu tollem Sterbenwollen an. Jede Stunde forderte Inhalt, bunt und heiß rannen ihnen die Tage durch die Hände wie Perlen eines glühenden Rosenkranzes, den sie herunterbeten mußten, um sich zu erfüllen. Aus einer Quelle lohte ihnen alles Sein, mochte es sich im vollen Glase, in den rasenden Augen des Gegners oder im sanften Lächeln eines Mädche ns spiegeln. Im Rausch erwachte das Überwindertum, auf den Gipfeln der Schlacht der Rausch, in den Armen der Liebe schmolz ihnen beides zusammen. Wie andere in der Kunst oder in der Wahrheit, so erstrebten sie im Kampfe Erfülluung. Unsere Wege sind verschieden, jeder trägt einen anderen Kompaß in der Brust. Jedem ist Leben etwas anderes, dem einen der Hahnruf am klaren Morgen, dem andern das Feld, das im Mittag schläft, dem dritten der Lichterschimmer im Abendnebel Dem Landsknecht war es die Gewitterwolke über nächtlicher Weite, die Spannung, die über dem Abgrund liegt.

-57-

9. Kontrast Ich erwache. Wo bin ich? Ach so! Tatsächlich, ich liege in einem Bett, in einem vorzüglichen Bett sogar. Das verstehen sie, die Franzosen. Sind überhaupt Lebenskünstler. Eigentlich recht gefällige Leute. Ich hasse sie nicht. Das will ich aber lieber keinem sagen. Solche passions nehmen sie sogar dem alten Fritz noch übel. Sie haben von ihrem Standpunkt aus nicht einmal Unrecht. Wenn man schon Krieg führt, soll man es ganz tun. Trotzdem gibt es auch unter uns Frontsoldaten Männer, die in einen französischen Graben brechen, Stahl und Sprengstoff in der Faust, und die im eroberten Unterstande Rabelais, Moliere und Baudelaire lesen. Noch eins. Was wären wir ohne diese verwegene und rücksichtslose Nachbarschaft, die uns alle fünfzig Jahre den Rost von den Klingen fegt? Europa als Flachland, grün und beweidet, soviel gutmütige Tiere darauf, als irgend fressen können: solange germanisches und gallisches Blut durch Herzen und Hirne kreist, wird dieser Kelch an uns vorübergehn. Und gar, in den Kampf zu schreiten, diese Erkenntnis der Notwendigkeit und des Wertes des Gegners im Hintergrunde, das bedeutet einen ritterlichen Genuß besonderer Art. Doch die Hochkultur des Kampfes ist lange dahin, auch am Spiel über Leben und Tod darf sich die Masse beteiligen, und sie hat ihre Instinkte nicht zu Hause gelassen. Wie kam der englische Oberleutnant, den wir neulich gefangennahmen, dazu mir seine Uhr und sein Zigarettenetui entgegenzustrecken? Er hatte sich geschlagen wie ein Gentleman und handelte wie ein Kuchenbäcker. Ach, es wird immer schwerer, immer gieriger packt der Krieg mit Polypenarmen alles klare Gefühl, um sich in seiner dunklen Höhle daran zu mästen. Das man Menschen tötet, das ist ja nichts, sterben müssen sie doch einmal, aber man darf sie nicht -58-

leugnen. Nein, leugnen darf man sie nicht. Uns ist es doch auch nicht das Schrecklichste, daß sie uns töten wollen, sondern das sie uns unaufhörlich mit ihrem Haß übergießen, daß sie nie uns anders nennen als Boches, Hunnen, Barbaren. Das erbittert. Es ist ja richtig, jedes Volk hat seinen üblen Typ, und gerade den pflegen die Nachbarn als Norm zu betrachten. Wir sind selbst nicht besser, jeder Engländer ist uns ein Shylock, jeder Franzose ein Marquis de Sade. Na ja, in hundert Jahren wird man vermutlich darüber lachen, wenn man nicht gerade wieder Krieg führen sollte. Zu jeder Betrachtung gehört eben Abstand. Abstand in Raum, Zeit und Geist. Jedenfalls, das Bett ist wirklich vorzüglich. Bald wie früher, wenn man in den Ferien nach Haus kam und in den lieben Tag hinein schlief, so recht jung und ohne Sorgen. Dann sprang man hoch, trank im Garten Kaffee und lief mit dem Bruder in die Wälder, frei wie ein Zugvogel und den Kopf voll großer Pläne. Einmal war auch Manöver. Wie gellte das Erz der Trompete über die weiten Felder, ein Lockruf, dem man atemlos lauschte, während seltsame Schauer den Knabenkörper durchstürzten. Das war die Männlichkeit, die dahinten rief, die Fahne, das stampfende Roß und die Klinge, die aus der Scheide drängte. Das war der ritterliche Gang vor Tau und Tag und das rote Blut, das aus brennender Wunde schoß. Das war der Kampf! Ach ja, wenn man das alles vorher gewußt hätte. Ein schönes Rittertum, dieses Umherkriechen zwischen Dreck und Verwesung. Den Bruder habe ich noch vor wenigen Tagen zerschossen durchs Feuer geschleppt, den Degen schon lange nach Hause geschickt. Es ist zweckmäßiger, sich zur Begrüßung ein Paket Dynamit vor die Füße zu schleudern, als elegant die Klingen zu kreuzen. Es muß draußen schönes Wetter sein..Die Herbstsonne streut spätes Gold in blanken Münzen durch die Vorhänge. Das spiegelglatte Parkett, die rosa Tapete, die Pendule, der Marmorkamin, alles glänzt so zierlich, daß man sich vor -59-

Behagen in den Kissen wälzen muß. Wie manchmal doch alles zur Freude wird! Jetzt fällt ein breiter, zitternder Sonnenfleck gerade auf das Bild im schmalem Goldrahmen, das mir gegenüber hängt. Ein Watteau! Die Farben schimmern fein und leicht wie der Schmelz eines Schmetterlingflügels, wie ein duftiges, hauchzärtlich getanztes Menuett. Ja, gibt es denn noch sowas? Gibt es das wirklich noch? Und gestern hockte man doch noch mit zwei andern in einem Erdloch, vor dem die Zeltbahn sich im nassen Winde blähte. Stumm und fröstelnd, die Pfeife zwischen den Zähnen zerkauend, dem gleichmäßigen Heulen und Bersten der Eisenklötze lauschend. Bruch! Brruch!! Brrruch!!! "Du sie kommen immer näher. Wollen wir nicht doch lieber nach rechts gehen?" "Ach was, so oder so kaput. Hast du noch etwas Tabak? Das wird ja immer toller. Paß auf, die greifen heute noch an." Ja, stundenlang starrte ich noch gestern steinern und nervös auf die zerfallene Lehmwand gegenüber. Ich habe sie noch ganz genau vor Augen, diese braune Wand, mit schwarzen Feuersteinen und Kreidebrocken durchsetzt, unten schon in Brei zerfließend, aus dem Patronenhülsen und rostige Handgranatenköpfe ragten. Ein Toter lag auch darin, man sah allerdings nur das eine Bein. Er mußte schon lange so gelegen haben. Der Fuß hatte den schweren Stiefel nicht mehr halten können und war im Knöchel abgefallen. Ganz deutlich konnte man den Knochen sehen, der sich aus dem braunen, brandigen Fleisch geschält hatte. Dann kam die grobe gestrickte Unterhose und die graue Hose, von der der Regen den Lehm schon wieder heruntergespült hatte. Eigentlich müßte man auch schon lange so liegen. Mit schwarzem Negerschädel, dem der Regen das Haar in Büscheln ausgerauft, und kleinen, vertrockneten Fischaugen in tiefen Augenhöhlen. Irgendwo im Felde von den Krähen, im verschütteten Unterstande von stinkenden Ratten oder im Niemandslande von rastlosen Kugelschwärmen zerfleischt. -60-

Nahe genug ist es immer daran gewesen. Gestern noch. Jeder Tag, den ich noch atme, ist ein Geschenk, ein großes, göttliches, unverdientes Geschenk, das genossen werden muß in langen, berauschenden Zügen wie köstlicher Wein. Ich springe auf und stecke den Kopf ins Wasser. Dem Handtuch, in dem ich mich abtrockne, entströmt ein ganz zarter Duft, irgendwie an die Hände schöner, gepflegter Frauen erinnernd. Das Überstreifen des Hemdes ist eine feierliche Handlung, eine Krönung meiner neuen Menschwerdung. Wie das weiße, knisternde Leinen den Körper streichelt, so beruhigend und anregend zugleich. Wie überreich ist doch das Leben an feinen Dingen, an Genüssen, die man jetzt erst zu würdigen weiß. Das verdanken wir dem Kriege, dieses Bedürfnis, jedes Fäserchen unseres Wesens ins Leben zu senken, um es in seiner ganzen Pracht zu fassen. Dazu muß man die Verwesung kennen, denn nur wer die Nacht kennt, weiß das Licht zu schätzen. Draußen auf der Straße frage ich einen Zivilisten nach dem Schwimmbade. Es macht mir Vergnügen, französisch zu sprechen. Ich habe dabei das Gefühl, als ob mich doch etwas verbindet mit dem Lande, dem ich Wunden schlage. Im Schwimmbade ist es herrlich. Die Sonne wirft durch das Glasdach zitternde Kringel auf den grünen Fliesenbelag. Ich gleite mit Inbrunst durch das Wasser. Vom Sprungbrett lachen mir einige nackte Gestalten zu. Die Kameraden sind auch schon da; ich habe sie zuerst gar nicht erkannt. Wenn man sie immer so gebückt und in erstarrten Dreck verkrustet durch die Gräben schleichen gesehen hat, erstaunt man über die straffen, schlanken Körper, deren Muskeln unter dem feuchten Glanze wie flüssiger Marmor spielen. Was sind sie doch für Prachtkerle! Fast alle haben rote Narbenmale, die ihnen im Kampfe springender Stahl aufs Fleisch glühte. Wenn sie von oben wie schwingende Pfeile sich ins Wasser schnellen, fühlt man instinktiv: Die haben Mut. -61-

Vom Schwimmbade schlendere ich zum Museum, das ganz in der Nähe liegt. Die frische Herbstluft macht das feuchte Gesicht kalt und glatt, die Augen glänzend. In den Bildersälen hängt ein Niederländer neben dem andern. Richtig, Flandern liegt ja ganz nah. Diese Fischmärkte, Dorfschenken, Bauerntänze atmen Gemütlichkeit, Lust und behäbigen Genuß. Da hat strömendes Leben den Pinsel geführt. Heute muß ich Wärme haben; für Goya könnte ich nichts empfinden. Auch eine Sammlung von japanischen Miniaturen steht dort unter Glas, von zierlichen Meisterwerken der Handarbeit, Schnitzereien in Ebenholz, Jade und Elfenbein, Figuren aus schwärzlichem Kupfer, mit Gold und Silber tauschiert. Ich betrachte lange den geringelten Arm eines Tintenfisches aus gelblichem Elfenbein mit hundert dunkleren Saugnäpfen besetzt, auf dem eine winzige metallgrüne Fliege sitzt. Ein flüchtiger Seitenblick während eines Ganges am Strande des Meeres muß diese Idee hervorgerufen haben. Auch Melonen sind da von Walnußgröße, in denen jeder einzelne Kern ausgeführt ist, kleine Schildkröten mit ornamentiertem Rückenpanzer und ein Äffchen, das die Trommel schlägt. Alles ist so vollkommen, daß man es sich, wenn man es einmal gesehen hat, gar nicht besser vorstellen könnte, und daß es jene reinste Freude erweckt, mit der sich der Betrachtende ganz in die Erscheinung versenkt. Am Nachmittage gehe ich wieder in die Stadt, von erwachendem Treiben umflutet. Mit der geschärften Witterung des Großstädters durchschreite ich den Trubel, während das Hirn leicht und präzise die Überfülle wechselnder Bilder zerschrotet. Schaufenster, Buchhandlungen, stampfende Straßenbahnen und Automobile, deutsche, französische, flämische Satzfetzen, Frauen, trotz völkertrennender Wälle immer noch von den Einflüssen der Stadt Paris umwiegt; das alles trifft und vereint sich zu einem strahlenden, tausendarmigen Bilde des Lebens. Und diese Flut verschiedenster Beziehungen zum Sein wirft ihre Wellen mir -62-

um so stärker entgegen, als ich noch vor vierundzwanzig Stunden ganz der Urmensch war, der in Höhlen haust und um das nackte Leben kämpft. Da fühle ich, daß Dasein Rausch ist und Leben, wildes, tolles, heißes Leben, ein brünstiges Gebet. Ich muß mich äußern, äußern um jeden Preis, damit ich erschauernd erkenne: Ich lebe, noch lebe ich. Ich tauche meine Blicke in die Augen vorüberschreit ender Mädchen, flüchtig und eindringlich und freue mich, wenn sie lächeln müssen. Ich trete in einen Laden und kaufe mir Zigaretten, die besten, bien entendu. Ich bleibe vor jedem Schaufenster stehen, Wäsche, zierliche Schmucksachen und Bücher betrachtend. Ich esse in einer kleinen Taverne, und nichts darf fehlen, auch nicht der Mokka und die Likörkaraffe zum Schluß. Dann schreite ich wieder über Straßen und Plätze, die nun in Lichtern schwimmen. Allmählich komme ich in eine Vorstadt, deren Häuserblöcke kahl und düster in den Abend ragen. Nur in weiten Zwischenräumen glimmen Laternen. Ich bleibe am Geländer einer Brücke stehen und starre in den schwarzen Spiegel eines Kanals. Ich bin traurig geworden, alles ist einsam und unbekannt. Der Wind reißt ganze Hände voll Blätter aus den herbstlichen Bäumen, treibt sie raschelnd vorüber und wirft sie ins Wasser. Ein Schleppkahn gleitet unhörbar unter der Brücke hervor wie ein langer, schwarzer Sarg. Wie feindlich das alles ist. Die Dinge schwanken im Nebel, bald sind sie wie Rauch, wie ein spukhaftes, unwirkliches Flattern, bald treten sie höhnisch in kalter Starrheit hervor. So fröstelt man, wenn man in irgendein fremdes Hotelzimmer verschlagen ist in einer unbekannten Stadt oder beim Lesen eines melancholisch irrsinnsnahen russischen Dichters. An dieses Eisengeländer gelehnt, das sich über ein Wasser spannt, von dem ich nicht weiß, woher es kommt und wohin es fließt, wird meine Seele von jener Wehmut überfallen, die zuweilen wie ein bleierner Nebel in uns aufsteigt und uns die Dinge leer und farblos macht, indem sie ihnen das Wesen raubt. Der Raum -63-

zergleitet in kalte Unendlichkeit, und ich empfinde mich als winziges Atom, von tückischen Gewalten rastlos umhergewirbelt. Ich bin so müde, so überdrüssig, daß ich wünschte, tot zu sein. Ein Landsknecht, ein fahrender Ritter, der manche Lanze zersplittert hat, und dessen Trugbilder in höhnisches Gelächter zerflieBen. Ich fühle mit unzweifelhafter Klarheit, daB irgendein fremder Sinn, eine furchtbare Bedeutung hinter allem Geschehen lauert. Das habe ich schon manchmal gewußt auf dem Grunde toller Räusche oder in würgenden Träumen, ich habe es nur im wogenden Leben wieder vergessen. Über solche Dinge pflegt man zu lachen, wenn man frisch und gesund im Lichte schreitet; treten sie an uns heran, so zersplittert im Nu alle Erkenntnis wie Glas und wie der Traum einer Nacht. Jeder hat Ähnliches erlebt, aber er vergißt es, weil er es vergessen muß. Da klingt ein leichter Schritt, halb vom Winde verweht. Eine Gestalt schreitet vorüber utnd streift mich mit flüchtigem Blick. Ich muß sie anreden, wie ich einen Menschen anreden müßte, der mir auf einer einsamen Insel begegnen würde. Sie scheint kaum erstaunt darüber, und wer kann es schlieBlich auch sein, der hier in dieser Vorstadt und zu dieser Stunde vorübergeht? Wahrscheinlich ein Straßenmädchen, aber ein Landsknecht ist nicht wählerisch, und ich verspüre ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Gesellschaft, selbst wenn es die allerschlechteste wäre. Nun erfahre ic) auch den Namen der Vorstadt. Mou1 Vaux heißt sie. Wohin der Kanal flieBt, weiß sie selbst nicht, vielleicht zur Deule. Das beruhigt mich etwas. Sie erzählt leicht und anspruchslos; ich höre gierig zu. Von früher, vor dem Kriege, als man glücklicher lebte als jetzt. Als man noch Wein hatte und weißes Brot, und als auf den Feldern vor den Toren bei Musik und Tanz fröhliche Feste gefeiert wurden. Ihr Mann ist Arbeiter, der seit langem auf der anderen Seite kämpft, jenseits der Front. Wo mag er sein? Vielleicht liegt er schon -64-

längst in einem der großen Friedhöfe, welche die Fronten säumen. Vielleicht geht er auch gerade jetzt in Paris zur Seite einer anderen? Ober vielleicht lauert er inmitten einer von Geschossen blitzenden Nacht zwischen den dunklen Wällen eines Grabens. Vielleicht, daß wir uns bald gegenüber liegen, ganz nah, ohne es zu ahnen. Nur unsere Kugeln werden uns am Schädel vorübersingen. "Aber was willst du, das ich tun soll? Aus den Monaten sind Jahre geworden, nie bekommst du eine Nachricht von drüben, und dieser verfluchte Krieg wird nie ein Ende nehmen. Du kannst nicht immer allein in der Wohnung sitzen. Der Krieg ist ein großes Unglück für mich, für dich und für alle Welt." Ihre Wohnung ist dürftig, eine Küche, einte Kammer, fichtene Möbel. An den Wänden Öldrucke und ein Brautbild. Sie im Schleier und er im Frack, beide gesperrt und unbeholfen mit Armen, vom Vorstadtphotographen an den Leib gelegt. Wir unterhalten uns leise und unaufhörlich, wir finden es beide gut, vor dem Kamin zu sitzen, in dem ein Reisigbündel aufflammt, und in Gesellschaft zu sein. Der Mensch ist sehr allein in dieser großen Landschaft, über die der Atem des Krieges weht. In einem Monat schon kann diese Stadt ein Schutthaufen sein, und morgen schon können dieses Herz und dieses Hirn, die sich dem Leben so eng verknüpfen möchten, den Schlag des Blutes nicht mehr zu spüren imstande sein. Wenn des Morgens die Sonne blinkt, sind wir mutig und fühlen den Glanz des Lebens in der Schlacht, aber abends haben wir den Wunsch, still und friedlich zusammen vor warmen Feuern zu sitzen. Als wir uns in der Haustür trennen, sagt sie, während der feuchte Wind durch den Flur streicht: "Je ne t'oublierai pas." Ich werde dich nicht vergessen. Das klingt echt. Ich gehe über die Brücke zur Stadt zurück, die Hände in den Manteltaschen, den Kopf gesenkt. Bei jedem Schritte klirren die Sporen. In der Rue de Lille kommt mir ein Kamerad entgegen. -65-

"Mensch, wo steckst du denn nur? Wir werden morgen früh verladen." "Verladen? Nein!? Wir kommen doch eben erst raus!" "Alte Sache. Komm mit, ich weiß ein kleines Estaminet, da läßt sich bildschön der Humpen schwingen. Es gibt da alten Portwein, eichene Sessel und flämische Kellnerinnen." Er hakt mich ein, und wir gehen ins Estaminet.

-66-

10. Feuer Obwohl es noch dunkelt, zeichnen sich unsere Gestalten ganz deutlich von den Kreidewänden des Laufgrabens ab, der als weiße Schlange die Nacht durchgleitet. Wir schreiten schweigend, behutsam hintereinander, Mann für Mann, ein jeder im Netz seiner Gedanken verstrickt. In einer Stunde werden wir, ein vor das Heer geschleuderter Haufe, tief in der feindlichen Stellung sein, die sich so lange vor unsern Blicken dehnte, weit und geheimnisvoll wie eine fremde, unheildrohende Küste. Um uns ist eine große, graue Nüchternheit. Erdwälle, Laufrosten, Wegschilder, Grabenkabel starren kalt, leblos und feindlich aus rieselnder Dämmerung, Objekte, zu denen wir jede Beziehung verloren haben. Wir nehmen die Dinge noch wahr, aber sie sagen uns nichts mehr, denn immer stoßweiser, flüchtiger tanzt das Wellenspiel unserer Gedanken im Hirn. Merkwürdig, solche Augenblicke bringen immer dieselbe Stimmung wieder. Wir haben unsere Jungfernschlacht längst hinter uns, haben hundert und aber hundert Male im Feuer gestanden, sind der ausgesuchte Stoßtrupp eines berühmten Sturmregiments und sind doch heute morgen alle so still und nachdenklich. Und sind doch eigentlich so glänzend vorbereitet. Drei ganze Wochen haben wir hinten an dem nach Fliegerbildern geformten Erdwerk trainiert, auch jeden Morgen um die Stunde der Dämmerung, mit scharfen Handgranaten, Sprengladungen und Brandröhren. Wir haben alles bedacht, vorausgesehen, miteinander besprochen, haben französische Rufe gelernt und mit ihren Nahkampfmitteln geübt; kurz, dieses Unternehmen ist uns vertraut wie ein unablässig gedrillter Gewehrgriff, der durch das entsprechende Kommando mit selbstverständlicher Präzision sich auslösen wird. Wir kennen uns auch schon lange als verwegene Draufgänger, -67-

haben uns an manchem heißen Tage an den Stellen rauchbehangener Schlachtfelder getroffen, an denen der Geist der Stunde eben immer wieder dieselben versammelt. Wir wissen, daß wir eine Auslese kraftvoller Männlichkeit verkörpern, und sind stolz in diesem Bewußtsein. Noch gestern saßen wir nach alter Sitte beim letzten Trunk zusammen und fühlten, daß der Wille zum Kampf, jene eigentümliche Lust, immer wieder vor die Front zu springen, wo man Freiwillige braucht, uns auch diesmal in alter Spannkraft der Gefahr entgegenwerfen würde. Ja, wenn es nur erst soweit wäre; wir sind von einer Rasse, die mit dem Augenblicke wächst. Trotzdem, dieses Unbehagen, dieses unbezwingliche Frösteln von innen heraus, diese ahnungsvollen Gedanken, die unsern Horizont wie unbestimmte, zerflederte Wolkenfetzen durchstürmen, können wir nicht bannen; auch nicht, wenn wir einen ganz langen Schluck Kognak trinken. Das ist stärker als wir. Ein Nebel, der in uns liegt und zu solchen Stunden über den unruhigen Gewässern der Seele sein rätselhaftes Wesen treibt. Nicht Angst - die können wir in ihre Höhle scheuchen, wenn wir ihr scharf und spöttisch ins fahle Gesicht starren - sondern ein unbekanntes Reich, in das die Grenzen unseres Empfindens sich schmelzen. Da merkt man erst, wie wenig man in sich zu Hause ist. Tief auf dem Grunde Schlummerndes, von rastlosen Tagewerken Überdröhntes, steigt empor und zerfließt, noch ehe es sich gestaltet, in dumpfe Traurigkeit. Was hilft es, sich drei Wochen lang für diese Stunde gestählt zu haben, bis man sich hart und ohne Blöße glaubte? Was hilft es, daß man zu sich sagte: "Der Tod? Ha, was ist das weiter? Ein Übergang, der sich doch nicht vermeiden läßt." Das hilft alles nichts, denn plötzlich ist man aus einem denkenden ein empfindendes Wesen geworden, ein Spielball von Phantomen, gegen die auch die Waffe der schärfsten Vernunft machtlos ist. Das sind Faktoren, die wir zu leugnen pflegen, weil wir mit ihnen nicht rechnen können. Aber im Augenblicke des -68-

Erlebnisses ist alles Leugnen umsonst, dann besitzt jenes Unbekannte eine höhere und überzeugendere Wirklichkeit als alle gewohnten Erscheinungen im Mittagslicht. Wir haben die vorderste Linie erreicht und treffen die letzten Vorbereitungen. Wir sind emsig und genau, denn wir spüren einen Drang, uns zu betätigen, die Zeit zu füllen, um uns selbst zu entfliehen. Die Zeit, die uns im Graben schon so unendlich gemartert hat, ein Begriff, der alle denkbare Qual umschließt, eine Kette, die nur der Tod zersprengt. Vielleicht schon in Minuten. Ich weiß, man empfindet bewußt, wie das entströmende Leben ins Meer der Ewigkeit verrauscht; ich habe schon manchmal an der Grenze gestanden. Es ist ein langsames, tiefes Versinken, mit einem Läuten im Ohr, friedlich und bekannt wie der Klang der heimatlichen Osterglocken. Man sollte nicht so grübeln und immer wieder gegen Rätsel anspringen, die man doch nie lösen wird. Es kommt ja alles zu seiner Zeit. Kopf hoch, laß die Gedanken im Winde zerflattern. Anständig sterben, das können wir, dem drohenden Dunkel entgegenschreiten mit Kämpferkühnheit und wagender Lebenskraft. Sich nicht erschüttern lassen, lächeln bis zuletzt, und sei das Lächeln auch nur Maske vor sich selbst : das ist auch etwas. Mehr als überwindend sterben kann der Mensch nicht. Darum müssen ihn selbst die unsterblichen Götter beneiden. Wir sind gut gerüstet für unsern Gang, behängt mit Waffen, Sprengstoff, Leucht- und Signalgerät, ein rechter , streitbarer Stoßtrupp, den Höchstforderungen des modernen Kampfes gewachsen. Nicht nur gewachsen durch freudiges Draufgängertum und brutale Kraft. Wenn man die Leute so im Dämmerlichte stehen sieht, schmal, hager und zumeist fast noch Kinder, möchte man ihnen wenig zutrauen. Aber ihre Gesichter, die im Schatten des Stahlhelms liegen, sind scharf, kühn und klug. Ich weiß, sie zaudern vor der Gefahr nicht einen Augenblick; sie springen sie an, schnell, sehnig und gewandt. Sie verbinden glühenden Mut mit kühler Intelligenz, sie sind die -69-

Männer, die im Wirbel der Vernichtung mit sicherer Hand eine schwierige Ladehemmung beseitigen, die rauchende Handgranate dem Gegner zurückschleudern, ihm im Ringen auf Leben und Tod die Absicht aus den Augen lesen. Es sind die Stahlgestalten, deren Adlerblick geradeaus über schwirrende Propeller die Wolken durchforscht, die in das Motorengewirr der Tanks gezwängt, die Höllenfahrt durch brüllende Trichterfelder wagen, die tagelang, sicheren Tod voraus, in umzingelten, leichenumhäuften Nestern halbverschmachtet hinter glühenden Maschinengewehren hocken. Sie sind die Besten des modernen Schlachtfeldes, von rücksichtslosem Kämpfertum durchflutet, deren starkes Wollen sich in geballtem, zielbewußtem Energiestoß entlädt. Wenn ich beobachte, wie sie geräuschlos Gassen in den Drahtverhau schneiden, Sturmstufen graben, Leuchtuhren vergleichen, nach den Gestirnen die Nordrichtung bestimmen, dann überkommt mich die Erkenntnis: Das ist der neue Mensch, der Sturmpionier, die Auslese Mitteleuropas. Eine ganz neue Rasse, klug, stark und Willens voll. Was hier im Kampfe als Erscheinung sich offenbart, wird morgen die Achse sein, um die das Leben schneller und schneller schwirrt. Nicht immer wird wie hier der Weg zu bahnen sein durch Trichter, Feuer und Stahl, aber der Sturmschritt, mit dem das Geschehen hier vorgetragen wird, das eisengewohnte Tempo, das wird dasselbe bleiben. Das glühende Abendrot einer versinkenden Zeit ist zugleich ein Morgenrot, in dem man zu neuen, härteren Kämpfen rüstet. Weit hinten erwarten die riesigen Städte, die Heere von Maschinen, die Reiche, deren innere Bindungen im Sturme zerrissen werden, den neuen Menschen, den kühneren, den kampfgewohnten, den rücksichtslosen gegen sich selbst und andere. Dieser Krieg ist nicht das Ende, sondern der Auftakt der Gewalt. Er ist die Hammerschmiede, in der die Welt in neue Grenzen und neue Gemeinschaften zerschlagen wird. Neue Formen wollen mit Blut erfüllt werden, und die Macht will -70-

gepackt werden mit harter Faust. Der Krieg ist eine große Schule, und der neue Mensch wird von unserem Schlage sein. Ja, er ist jetzt in seinem Element, mein alter Stoßtrupp. Die Tat, der Griff der Faust hat alle Nebel zerrissen. Schon schallt ein halblautes Witzwort über die Schulterwehr. Es ist zwar nicht geschmackvoll zu fragen: "Na, Dicker, hast auch dein Schlachtgewicht voll?", indes - sie lachen doch und der Dicke am meisten. Nur nicht gerührt werden. Gleich beginnt das Fest, und wir sind seine Fürsten. Ein Jammer ist es doch. Schlägt die Vorbereitung nicht durch, bleibt drüben nur ein Maschinengewehr intakt, so werden diese Prachtmenschen im Ansturm über das Niemandsland wie ein Rudel von Hirschen zusammengeknallt. Das ist der Krieg. Das Beste und Wertvollste, die höchste Verkörperung des Lebens ist gerade gut genug, in seinen unersättlichen Rachen geschleudert zu werden. Ein Maschinengewehr, nur ein sekundenlanges Gleiten des Gurtes - und diese 25 Mann, mit denen man eine weite Insel kultivieren könnte, hängen im Draht als zerfetzte Bündel, um langsam zu verwesen. Es sind Studenten, Fähnriche mit alten, stolzen Namen, Maschinenschlosser, Erben fruchtbarer Höfe, vorlaute Großstädter, Gymnasiasten, aus deren Augen der Dornröschentraum irgendeines altertümlichen Restes noch nicht ganz verweht ist. Bauernsöhne, unter einsamen Strohdächern Westfalens oder der Lüneburger Heide erwachsen, von uralten Eichen umrauscht, die ihre Vorfahren um die Ringmauer aus Feldsteinen pflanzten. Die sind so treu, daß sie ohne Besinnen für ihren Führer sterben würden. Beim linken Nachbarregiment braust ein Feuersturm los. Es ist ein Scheinmanöver, um die feindliche Artillerie zu verwirren und zu zersplittern. Gleich ist es so weit. Jetzt heißt es, sich sammeln. Gewiß, es ist vielleicht schade um uns. Vielleicht opfern wir uns auch für etwas Unwesentliches. Aber unseren Wert kann uns keiner nehmen. Nicht wofür wir kämpfen ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen. Dem Ziel entgegen, bis -71-

wir siegen oder bleiben. Das Kämpfertum, der Einsatz der Person, und sei es für die allerkleinste Idee, wiegt schwerer als alles Grübeln über Gut und Böse. Das gibt sogar dem Ritter von der traurigen Gestalt seinen ehrfurchtgebietenden Heiligenschein. Wir wollen zeigen, was in uns steckt, dann haben wir, wenn wir fallen, wirklich ausgelebt. Jetzt saust das Wetter auch auf uns herunter. Die Artillerie unserer Division schießt vorzüglich, der erste Einschlag stimmte auf die Sekunde. Immer dichter und vielstimmiger wird das Heranheulen der Eisenklötze, um drüben in einer ständig schwellenden Flut von bösartigen, reißenden, betäubenden Geräuschen zu ertrinken. Minen ziehen ihre perlenden Funkenbögen über uns und zerschellen in vulkanischen Explosionen. Weiße Leuchtbälle überschwemmen das blitzende Gewölk von Rauch, Gasen und Staub, das als kochender See über dem Gefilde brodelt, mit grellem Licht. Bunte Raketen hängen über den Gräben, in Sternchen zersprühend und plötzlich erlöschend wie die farbigen Signale eines riesigen Rangierbahnhofes. Sämtliche Maschinengewehre der zweiten und dritten Linie sind in höchster Tätigkeit. Das Brausen ihrer unzähligen, ineinander verschwimmenden Schüsse ist der düstere Hintergrund, der die winzigen Geräuschlücken des schweren Geschützes erfüllt. Nun erwacht auch die französische Artillerie. Zuerst eine Gruppe leichter Batterien, die unsern Graben mit schnellen Serien stählerner Fausthiebe betrommelt, aus blitzenden Schrapnells Bleikugeln wie mit Gießkannen auf uns niederschüttend. Dann folgen die schweren Kaliber, die mit wachsendem Fauchen wie ungeheure Raubtiere sich von ganz oben auf uns stürzen und lange Grabenstücke mit Feuer und schwarzem Qualm verschlingen. Ununterbrochen rasselt ein Hagel von Erdklumpen, Holzfetzen und matten Splittern auf unsere Helme, die dicht nebeneinander den rastlosen Tanz der Blitze spiegeln. Gewichtige Dreibein-Minen trümmern in -72-

zerstampfenden Mörserstößen nieder; Flaschenminen, die wie wirbelnde Würste durch Qualm und Dämmer fegen, springen gleich reihenweise in das Feuer der ersten. Leuchtspurgeschosse, die in Ketten glühender Funken hintereinander herrasen, werden zu Tausenden in die Luft gespritzt, um einen frühen Flieger, der etwa die Sperrfeuergeschütze erkunden will, zu verscheuchen. Wir aber stehen dicht gedrängt um die Ausfalltreppen. In den ersten Minuten hatten wir uns in die Fuchslöcher und Stollenhälse verkrochen. Für kurze Zeit nur, denn wir sind in der Schmiede der Schlachten zu gleichmütigen und feuerharten Naturen geglüht. Sind auch überzeugte Fatalisten und glauben, wen's treffen soll, den trifft's, und sei es der Blindgänger auf dem Grunde eines Zehnmeterstollens. Die Spanne zwischen Heranziehen und Explosion ist das schlimmste; da zucken selbst die Nerven des ältesten Kriegers noch. Zuviel entsetzliche Bilder, zuviel Blut und Gewimmer haben sich schon durch dieses flatternde Pfeifen angekündigt. Je länger man mitmacht, desto furchtbarer ist der Film der Erinnerungen, der in dieser Sekunde das Hirn durchflirrt. Dann kommt der Punkt, wo der Feuerstrudel die einzelnen Wahrnehmunge n einsaugt, die Sinne dem Anprall der Bilder erliegen, Erinnerung, Ichgefühl, damit auch Furcht und Hoffen wie flüchtiger Rauch verwehen. Dann zerbricht der Schwache und fällt zu Boden wie eine leere Patronenhülse, weil er den letzten Trieb, die Angst, verloren hat. Ihn richtet keine Bitte, kein Befehl und keine Drohung wieder auf Der Starke aber steht mit versteinertem Gesicht, ein berauschter Triumphator der Materie, im Gewitter. Er hat das Gleichgewicht in der veränderten Ebene des Geschehens gefunden, denn mag die Welt Kopf stehen, ein mutiges Herz hat seinen eigenen Schwerpunkt. Eine grüne Rakete steigt auf und bleibt mit langem, rieselnden Schweif über uns hängen. Das Signal! Wir stürzen hinaus und -73-

stürmen, eine dichte, dunkle Wolke ins Unbekannte.

-74-

11. Untereinander Endlos stehe ich schon im Graben. So endlos, daß ein Sinn nach dem andern in mir erloschen ist und ich ein Stück Natur geworden bin, das im Meere der Nacht verschwimmt. Nur zuweilen entzündet ein Gedanke eine Kette von Lichtern im Hirn und macht mich für kurze Zeit wieder zu einem bewußten Wesen. Ich lehne im Winkel einer Schulterwehr und starre den Wolkenschiffen nach, die ganz langsam am Monde vorübersegeln. Wie oft habe ich schon so gestanden! Genau so die rechte Hand auf der Pistolentasche und den Kopf mißmutig zurückgebogen. Viele Bände würden die Gedanken füllen, die auf einsamer Nachtwache durch die Mühlen des Hirnes liefen. Daß gerade die hungrigste Phantasie am tollsten läuft! Gibt es wohl Leute, deren Schritte jetzt auf den Asphalten großer Städte klirren? Bars mit abenteuerlich geschichteten Likören? Gab es Zeiten, wo man auf Dampfern reisen konnte, weit fort? Ganz weit? Ob es noch Inseln gibt in der Südsee, die nie ein Europäer betrat? - - - Glückselige Inseln! Wie oft habe ich schon so gestanden, an einer Stelle wie dieser! Ein kurzes Grabenstück liegt vor mir, ein winziger Teil der ungeheuren Front. Und doch, dieses schwarze Loch des Stolleneinganges, dieser Postenstand, ein Block, vollgesogen von Dunkelheit und Geheimnis, diese drei oder vier Drähte, die sich oben in den matten Himmel schneiden, sind eine ganze Welt, die mich umschließt, einfach und bedeutungsvoll wie die Szenerie eines gewaltigen Dramas. Der Posten oben hat seit zwei Stunden kein Glied gerührt. Er scheint ein Teil der Lehmwand geworden zu sein, an der er starr und schweigend steht wie ein indischer Säulenheiliger. Seit drei Jahren steht der Posten an dieser Stelle, Sommer und Winter, Tag und Nacht, in Wind, Regen, Hitze, Kälte und Feuer. -75-

Zuweilen wird er abgelöst, manchmal fällt er, aber das merkt man kaum. Die Persönlichkeiten gleiten durch eine feststehende Aufgabe dahin. Kommt man vorüber, steht immer einer da und meldet: "Posten Nummer fünf, auf Posten nichts Neues." Das ist furchtbar. wer steht da? Ein Posten, ein Gewehr, die niedrigste Kampfeinheit, eine Nummer. Viele sehen es gar nicht anders. Lesen von unseren braven Kriegern, die auf Posten stehen, gähnen und knipsen das Licht aus. Andere berichten über die gute Moral der Truppe. Darunter verstehen sie, daß wir es noch aushalten können. Wohlgemerkt, wir liegen in dieser Stellung, um uns zu erholen. Wir sind bald wieder "reif für den Großkampf". Sind ja auch bestes Material. Material, das ist der richtige Ausdruck. So ungefähr wie Kohle, die man unter die glühenden Kessel des Krieges schleudert, damit das Werk im Gange bleibt. "Die Truppe wird im Feuer zu Schlacke gebrannt", lautet ja auch eine elegante Formel der Kriegskunst. Man kann es ihnen nicht übel nehmen. Sie wissen von der Seele des Frontsoldaten so wenig wie der Reiche von der Armut. Ach, wir sind nicht nur Gewehre, wir sind nebenbei auch noch Menschen, Herzen, Seelen. Wenn wir Nacht für Nacht, Vieltausende hüben und drüben, auf den Folterbänken der Zeit uns winden, liegt unser Leben vor uns, unsäglich grausig wie das zerrissene Vorfeld, und unsere Gedanken sind wie die bläulich kalten Lichter der Raketen, die diese ganze Qual dem Dunkel entreißen. Ich muß mir Luft machen. Ich spreche: "Posten, unsere Zeit ist um." "Jawohl, Herr Leutnant." Herr Leutnant. Er hat sogar die Hacken zusammengeschlagen. Wie tief das sitzt. Diese Leute sind große Kinder. Man muß sie lieb haben. Manchmal hat mir schon einer gesagt, ganz leise und selbstverständlich: "Jetzt muß ich sterben, Herr Leutnant. Ich -76-

bin zu gut getroffen." In irrsinnigen Augenblicken der Schlacht umdrängen sie einen: "Was sollen wir tun? Wo sollen wir hin? Ich bin verwundet." Dann versucht man zu lächeln und fühlt sich im Grunde doch ebenso preisgegeben wie sie. Da sitzt man nun inmitten seiner hundert Leute und fühlt ihren Drang, sich anzuklammern. Zuweilen hört man aus einem Unterstande: "Ja, der Leutnant. Den hättet ihr mal sehen sollen bei Guillemont." Dann ist man doch ein wenig stolz und möchte mit keinem tauschen. Dann fühlt man sich unlöslich mit ihnen verkettet, und daß es etwas Gewaltiges ist, hundert Männern voranzuschreiten in den Tod. Die Ablösung braucht heute lange. Es ist merkwürdig, wie die Nacht die Sinne schärft. Man nimmt ein gewisses Fluidum wahr, das Dingen und Begriffen entstrahlt, und empfindet es als Ausdruck einer furchtbaren Bedeutung. Das war mir oft schon ganz klar in Träumen, in Räuschen und als Kind, wenn ich mich fürchtete. Später habe ich darüber gelacht. Als Sohn einer durchaus vom Stoffe überzeugten Epoche bin ich in diesen Krieg gezogen, ein kalter, frühreifer Großstädter, das Hirn durch die Beschäftigung mit Naturwissenschaften und moderner Literatur zu Stahlkristallen geschliffen. Ich habe mich sehr verändert durch den Krieg und glaube, daß es wohl der ganzen Generatio n so gegangen ist. Mein Weltbild besitzt durchaus nicht mehr jene Sicherheit, wie sollte das auch möglich sein bei der Unsicherheit, die uns seit Jahren umgibt. Ganz andere Kräfte sind es jetzt, von denen unser Handeln bewegt werden muß, sehr dumpfe und blutmäßige, aber man ahnt doch, daß es eine tiefe Vernunft ist, die im Blute steckt. Und man ahnt auch, daß alles, was uns umgibt, gar nicht so klar und zweckmäßig, sondern sehr geheimnisvoll ist, und diese Erkenntnis bedeutet schon den ersten Schritt in einer ganz neuen Richtung. Wir sind mit dem Boden wieder in Berührung gekommen, mögen wir wie jener mythische Riese unsere ganze Kraft durch diese Berührung wiederfinden. -77-

Der Kreideboden erklingt unter leichten Schritten. "Parole!" "Mackensen." Die Ablösung. Ich übergebe Handgranaten und Leuchtpistole. "Sperrfeuer rot, Vernichtungsfeuer grün, Feuer vorverlegen weiß mit Perlenschnüren. Eine weiße ist im Lauf. Die roten sind hinten gerillt. Bis jetzt war alles ruhig." Wir flüstern, als ob wir einen Mord verabredeten. Das Grauen hängt wie eine Wolke über dem Graben. Oben tuscheln die beiden Posten. Der eine scheint ein Neuling zu sein. "Von vier bis fünf ist eine eigene Patrouille vor, da darfst du nicht schießen. Wenn es da ganz links aufblitzt, mußt du Deckung nehmen, dann gibt's gleich Kademm." "Na, wird schon nicht so wild werden." Die Neuen sind meist sehr groß. Sie haben dem Tod noch nicht ins Auge gesehen. Die alten Krieger zeigen ihnen gegenüber eine väterliche Überlegenheit. Im Unterstande schlägt mir ein dichter Dunst von Menschen, Schimmel und Verwesung entgegen. Als wir ihn neulich vergrößern wollten, stießen unsere Spaten auf eine Erdschicht von entsetzlichem Gestank. Es scheinen dort Leichen oder eine zugeschüttete Latrine zu liegen. Beim Entzünden der Kerze sehe ich das schmelzende Stearin mit einer Schicht von Läusen bedeckt. Mein Bursche hat die Gewohnheit, seine Läuse an der Kerze zu verbrennen. Augenblicklich liegt er mit meinem Stellvertreter und dessen Burschen zusammen auf der Pritsche. Sie schlafen unruhig, röcheln, stöhnen, wälzen sich hin und her. Mit Widerwillen streift mein Blick die Stelle, an welcher der flatternde Kerzenschimmer über ihre verschwommenen Körper huscht. Welch ein Stall! Wie eng hockt man im Dreck zusammen. Das sieht in illustrierten Blättern ganz gemütlich aus, so nach Vollbart, Laubenkolonie und Pfeife, aber wenn man sich gegenseitig - von allem andern abgesehen - jeden Mittag schmatzen und jede Nacht schnarchen hört, denkt man wehmütig an die Zeiten der eigenen Wohnung, des eigenen Tellers und der eigenen Waschschüssel zurück. -78-

Ich schneide mir eine dicke Scheibe Brot und fahre mit meinem Taschenmesser in eine schmierige Konservendose, um sie mit breiigen Rindfleischfasern zu belegen. Meine Hände sind schmutzig und kalt, in meinem Schädel brennt das Feuer einer durchwachten Nacht. Das Hirn arbeitet matt und widerwillig und gebiert eine Reihe schattenhafter, wüster und quälender Bilder. Dann werfe ich mich auf die Pritsche neben die andern. Gegen Morgen wird mein Halbschlummer von klappernden Kochgeschirren und Spatenschlägen zerschnitten. Die Ordonnanzen kommen vom Kaffeeholen und beschäftigen sich mit dem winzigen Blechofen. Anscheinend haben Sie unterwegs Feuer bekommen. "Junge, das war wieder 'ne Tour; mein Kochgeschirr ist fast leer. Den Hohlweg hat der Tommy besonders gefressen, jeden Morgen gibts da eiserne Portion. Das eine Ding hat mir'n Erdklumpen in' Hintern gepfeffert, daß ich doch aus'n Gleichschritt gekommen bin. 's war wieder dichte bei!" Er hat ganz recht. 's war wieder dichte bei. Es ist eigentlich immer dichte bei. Daran gewöhnt man sich schließlich. Da sitzen die beiden auf ihrer Handgranatenkiste wie immer, nur ein bißchen außer Atem. Wenn sie nun nicht zurückgekommen wären? Ausgeweidet im Hohlweg lägen, die großen Röhrenknochen wie Strohhalme geknickt, versengt und zerrissen? Wir würden es schon morgen vergessen haben. Wir sind reine Vergeß-Maschinen. Allerdings, wenn man vor einem solchen Kapriccio nackter Zerstörung steht, durchfährt das Grauen als langsamer, kalter Messerschnitt die Seele. Dann sieht man weg und macht eine seltsame Anstrengung, die ich wohl einem Klimmzuge oder dem krampfhaften Schlucken, mit dem man ein Erbrechen zurückdämmen will, vergleichen möchte. Es ist das Aufbäumen gegen die Knochenfaust des Wahnsinns, deren Druck schon schwer und dunkel das Gehirn umspannt. Beim Weiterschreiten meint man, es wäre wohl nicht so schlimm -79-

gewesen. Nur einer murmelt noch wie im Traum: "Der Kopf. Hast du den Kopf gesehen?" Die beiden unterhalten sich weiter. Der andere sagt: "Einmal gehste doch kaputt. Wer gleich zu Anfang draufgegangen ist, hat's gut gehabt. Ich bin bloß neugierig, wie lange der Dreck noch dauern soll." Es entspinnnt sich nun eins jener endlosen Gespräche über den Krieg, die ich schon hundert und aber hundert Male bis zum Überdruß angehört habe. Es ist immer dasselbe, nur bie Erbitterung wird schärfer mit der Zeit. Mit religiösem Ernst gehen die Leute an diese Lebensfrage heran, um immer wieder mit dem Schädel gegen die Wälle ihres Horizont es zu rennen. Sie werden nie die Lösung finden, denn ihre Fragestellung schon ist eine verfehlte. Sie nehmen den Krieg als Ursache, nicht als Äußerung, und so suchen sie außen, was nur innen zu finden ist. Nur die Erscheinung, die grobe Oberfläche ist ihne n von Bedeutung. Indes: Man muß sie verstehen. Sie sind durchaus Materialisten, das höre ich, der ich nun schon Jahre unter ihnen lebe, aus jedem Wort. In der ersten Zeit war ich erstaunt über die Wichtigkeit, die sie Z. B. dem Essen beimaßen, und machte bald die Beobachtung, daß ihnen, den Männern der Muskelarbeit, Entbehrungen äußerst schwer fielen. Sie sind wirklich Material, Material, das die Idee, ohne daß sie es wissen, für ihre großen Ziele verbrennt. Das ist ihre eigentliche Bedeutung, deren Größe sie nicht zu erfassen vermögen, und das ist die Ursache ihrer Leiden. Danach müssen sie auch behandelt werden: Menschlich und mitfühlend, soweit sie Individuuen sind, hart, soweit ihr Dasein nicht der Persönlichkeit, sondern der Idee angehört. Ja, nur die Oberfläche ist ihnen von Bedeutung. Für sie ist ihre Fragestellung die einzig richtige. Haben sie den leitenden Faden gefunden, sich aus dem Labyrinth des Krieges zu tasten oder verzweiflungsvoll seinen gordischen Knoten zerhauen, so -80-

sind sie am Ziel ihrer Wünsche. Dann haben sie wieder das, dem sie stündlich nachjammern, das stille Weben im Engen, das Glück im kleinbürgerlichen Sinne. Sind sie in Sicherheit, liegt alles andere ihnen "weit in der Türkei". Daß sie durch einen Frieden oder durch eine Revolutio n sich dem eigentlichen Problem des Krieges nicht einen Schritt genähert haben, daß auch sie selbst die Vorbedingung des Krieges sind, wird ihnen nie klar zu machen sein. Sie sind Egoisten, und das ist gut so. Unzählige Male gehörte Satzfetzen dringen aus ihrem Geflüster zu mir. Wenn die dahinten mal einen Tag nach vorn kommen müßten, wär's gleich aus. Wie im Kino; hinten sind die besten Plätze, vorne flimmert's. Der Arme ist immer der Angeschmierte. Gleiche Löhnung, gleiches Essen, wär der Krieg schon längst vergessen. Wir kämpfen nicht für Deutschlands Ehre, nur für die dicken Millionäre. Was haben wir davon? Sie sollen bald Schluß machen, sonst spielen wir nicht mehr mit. Ein Schlagwort jagt das andere, die reinen Wilhelm Tells. Ihr Gespräch ist weder Ent wicklung noch Ergründung, sondern ein Sich- Zuwerfen abgegriffener Münzen, die irgendwo im Unterstand, auf Urlaub, in der Kantine, in den Klingelbeutel ihres Hirns gefallen sind und sich wie alles unablässig Wiederholte als Wahrheiten eingestanzt haben. Von Schlagworten betrunken sind sie in den Abgrund dieses Krieges gestürzt, an Schlagworten suchen sie sich wieder herauszuziehen. Innerlich bleiben sie stets dieselben trotz einer Art von Hintertreppen- oder Volksrednersittlichkeit, in der sich die Winkelpropheten unter ihnen zu äußern pflegen. Wer möchte es ihnen verübeln? Was sind die Versammlungen der Spitzen der Nation in Beratungen und Parlamenten anders als große Schlagwort-Bombardements, Ideologenkongresse? Was ist die Presse anders als ein rasselndes Hammerwerk, das unser Hirn mit Schlagworten zertrümmert und das Denken standartisiert, sozialisiert und proletarisiert? Der Schützengrabengeist ist kein Kriegserzeugnis, im -81-

Gegenteil. Klasse, Rasse, Partei, Nation, jede Gemeinschaft ist ein Land für sich, mit Wällen umzogen und dicht verdrahtet. Dazwischen Wüste. Überläufer werden erschossen. Zuweilen macht man einen Ausfall und schlägt sich die Schädel ein. Jetzt sind sie bei der Heimat angelangt. Das ist ihr zweiter großer Gesprächsstoff. Wie andere ihre Welt in Leben und Dichten, Hell und Dunkel, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Freude und Leid, teilen sie die ihre in Heimat und Krieg. Sagen sie "zu Hause" oder "bei uns", so denken sie dabei nicht an irgendeinen bunten Fleck der Landkarte. Heimat, das ist die Ecke, an der sie als Kinder spielten, der Sonntagskuchen, den die Mutter backt, das Zimmer im Hinterhaus, die Bilder überm Sofa, ein Sonnenstrahl durchs Fenster, das Kegelspiel an jedem Donnerstag, der Tod im Bett mit Zeitungsnachruf, Leichenzug und wackelnden Zylindern hinterher. Heimat, das ist kein Schlagwort; es ist nur ein kleines bescheidenes Wörtchen und doch die Hand voll Erde, in der ihre Seele wurzelt. Staat und Nation sind ihnen unklare Begriffe, aber was Heimat heißt, das wissen sie. Heimat, das ist ein Gefühl, das schon die Pflanze empfindet. Jetzt will ich doch aufstehen, denn sie sind im Begriff, die sexuelle Frage anzuschneiden. Sie pflegen dabei die Vorstellungskraft ausgehungerter Matrosen zu entwickeln. Ich gieße Wasser in einen Stahlhelm, wasche mich, trinke Kaffee und stecke die Pistole ein, um in den Graben zu gehen. "Der Kaffee schmeckt heute wieder wie an die Wand gespuckt. Das Beste werden sie in der Küche getrunken haben. Ich gehe jetzt raus, hoffentlich kommt ihr mit dem Essen besser über. Übrigens: ich möchte auch mal zwei Stunden in Ruhe schlafen. Wo haben sie das ganze Zeug überhaupt her, von den dicken Millionären usw.?" Ich verschwinde, ohne die Antwort auf meine rednerische Frage abzuwarten. Mit diesem dicken Fischhändler aus der Bremer Altstadt und dem vierschrötigen Oldenburger -82-

Moorbauern läßt sich arbeiten, trotz alledem. Das sind prächtige Kerle im Grunde, treu und fest wie eichene Balken, aus denen sich schon ein Gebäude zimmern läßt. Ob man nun einen Urwald rodet oder einen französischen Graben stürmt, diese Leute werden immer ihre Sache machen. Aha! Ich denke schon unter dem Einfluß der frischen Morgenluft! Die streichelt die Nerven, obwohl ich kaum geschlafen habe. Schien in der Nacht der Graben eine geheimnisvolle Höhle, so liegt er jetzt ganz regelmäßig und vernünftig im Licht. Überall hämmernde, grabende Gestalten. Ich ziehe ein Zentimetermaß aus der Tasche. Das Maschinengewehr der fünften Gruppe steht noch nicht flankierend genug, natürlich. Ob wir es am linken Flügel in die Sappe 2 einbauen? "Unser Graben ist jetzt aber fein in Ordnung, nicht?" "Na, den sollen sie uns so leicht nicht nehmen." "Der Kaffee war heute morgen nicht besonders?" "Nee, aber drei Zigarren für jeden sind mit raufgekommen, Marke Handgranate allerdings, einmal ziehen und wegwerfen!" Man sieht doch wie und was! Nein, unsere Graben sollen sie uns nicht nehmen. Wir wissen doch alle, wozu wir hier sind. Ich bin ganz vergnügt geworden, rauche die Marke Handgranate und besuche die benachbarten Zugfü hrer, mit denen ich endlose Gespräche anknüpfe, ganz so, wie die beiden Burschen vorhin, ein wenig gebildeter vielleicht. Politik, die verfluchte Etappe, der nächste Urlaub. Auch die sexuelle Frage wird angeschnitten. Was sollte man auch sonst den ganzen Tag anfangen, ohne verrückt zu werden? So wird es Mittag. Am Nachmittag besuche ich einen Freund, der den rechten Flügel des Nachbarregiments führt. Ich muß bis zu ihm zwölf Kompagnieabschnitte durchwandern. Vom Sechsten an muß ich meinen Ausweis vorzeigen, da mich die Leute nicht mehr kennen. Nach vielem Fragen erreiche ich den Kranichgraben, in dem er haust. Er hat Besuch, wir spielen polnische Lotterie und -83-

gießen uns aus einer Feldflasche Schnäpse ein. So vergeht die Zeit sehr schnell, und als wir gerade im besten Zuge sind, muß ich mich wieder verabschieden, da mir einfällt, daß ich um 9 Uhr Grabenwache habe. Ich wandere zurück durch den endlosen Kampfgraben, aus dessen Winkeln schon die Dämmerung braut. Um jeden Stolleneingang hockt eine Gruppe grauer Gestalten, fröstelnd und schweigsam. Eine frühe Leuchtkugel fährt zischend auf und sendet ihr Licht in silbernen, zitternden Wellen über die Wüste. Dann verflackert sie in erdrückender Stille. Die Nachtposten ziehen auf. Wieder ist ein Tag vorbei von den vie len, die wir hier noch zubringen werden. Wieder hat es kleine Kämpfe und Übereinstimmungen gegeben in dieser sonderbaren Gemeinschaft, wie überall, wo Menschen zusammenleben. Aber schließlich ist es doch ein großes Schicksal, das uns alle auf derselben Welle trägt. Hier sind wir einmal zusammen gewesen als Organismus der feindlichen Außenwelt gegenüber, als Menschen, die trotz ihrer kleinen Fragestellungen, Leiden und Freuden doch eine höhere Aufgabe umschloß. Hier streitet man sich, hier kommt man schlecht und recht miteinander aus, hier kämpft und leidet man zusammen und hadert mit seiner Zeit, die man nicht versteht, um später vielleicht einmal einzusehen, daß das alles im Sinne einer großen und folgerichtigen Vernunft geschah, die auch über dieser unheimlichen Landschaft ruht.

-84-

12. Angst So dunstig ist die Kreidehöhle, daß das Kerzenlicht sich zu dunkelroten, zitternden Bällen verdichtet. Man sollte kaum denken, daß soviel Menschen so eng zusammen hausen können. Ich sitze auf einer Handgranatenkiste dem KampftruppenKommandeur gegenüber, nur durch eine Karte von ihm getrennt. Er hat seit Tagen kaum geschlafen, rastlos tanzen die feinen Muskeln seines mageren Gesichtes. Ohne die Zigarette würde er sofort in sich zusammensinken. Wenn man so müde ist, tritt das Unheimliche an den Dingen stark hervor. Man hört in den Ecken ein höhnisches Tuscheln und Wispern, menschliche Gesichter nehmen einen boshaften, tückischen Ausdruck an. Man möchte weinen oder seine Faust in irgendeine hämische Fratze schlagen. "Also um 6.3O treten Sie an. Überraschend. Wenn Sie den zweiten Graben besitzen, können sie die Totenschlucht einsehen, in der starke Reserven liegen sollen. Es kommt darauf an, sie möglichst schnell unter wirksames Feuer zu bringen. Sollten Sie vorher auf starken Widerstand stoßen......" Wozu erzählt er das alles? Die reine Bosheit. Seine Worte feilen an meinen Nerven. Ich will schlafen, zu Hause im weißen Bett und mich um gar nichts mehr kümmern. "Alles klar oder ist noch eine Frage?" Ich wache auf. Taumle nach draußen. Die freie Nachtluft tut gut. Die Leute liegen bei den Gewehren. "Wir müssen angreifen. Nähere Befehle vorn. Gewehr in die Hand nehmen, ohne Tritt - Marsch!" Ohne Tritt. Die Leute sagen für dieses Kommando aus Scherz oft: "Ohne Zweck." Wahrscheinlich hat jetzt mancher auf mich dieselbe Wut, wie ich vorhin auf den Major. Diese Stille, verbissene Wut, in die man sich schweigend immer tiefer -85-

hineinfrißt, in die man sich verkriecht wie ein ratloses Tier in seine Höhle. Irgendeiner muß ja immer die Schuld haben. Wie der Mond auf den Gewehrläufen funkelt. Das ist gespeicherte Macht. Die beiden Gräben werden wir schon nehmen, energisch, fachmännisch und mit zielbewußter Technik wie immer. Dann liegt die Schlucht vor uns. Dann hageln hundertundfünfzig, nein, wahrscheinlich nur noch hundertundzwanzig Gewehre in die Reserven. Dann hämmern die Schlösser und keiner kann die Geschosse so schnell aus dem glühenden Lauf schleudern wie er möchte. Das ist eine große Sache, die vielleicht sogar im Heeresbericht stehen wird. Und wer davonkommt von diesem dunklen, murmelnden Schatten hinter mir, wird später erzählen: "Junge, damals, das war noch Sache. Stehend freihändig! Das machte Laune. Da war vielleicht was fällig. Das war noch Krieg!" Es ist auch unsäglich spannend, wenn Menschen im Kampf sich begegnen. Von diesen Augenblicken erzählen sie ihr Leben lang. Neulich fanden wir im Brief eines gefallenen Amerikaners: "Krieg ist sehr interessant. Noch interessanter als Tigerjagd." Hunting the tiger. Sehr treffend hat er damit etwas ausgedrückt, das zuzeiten wohl jeder ausgesprochene Mann empfindet, dieser Sohn einer jungen und kühnen Rasse, den wir vor kurzem eingeschaufelt haben mit zwanzig anderen zugleich. Der Kampf gehört zu den ganz großen Leidenschaften. Und noch keinen habe ich gesehen, den nicht der Augenblick des Sieges erschüttert hätte. Das wird uns auch morgen wieder packen, wenn wir nach kurzem Ringkampf auf Leben und Tod, nach einer Entfesselung raffiniertester Mittel, nach der riesenhaften Machtentfaltung, deren der moderne Mensch fähig ist, auf das fliehende Gewimmel in der Schlucht hinabstarren werden. Dann wird sich wieder dem aufgerissenen Munde eines jeden jenes irre, gedehnte Geschrei entringen, das uns so oft schon in den Ohren gellte. Das ist ein uraltes, furchtbares Lied aus unserer Morgenröte, von dem man nie gedacht hätte, daß es -86-

noch so in uns lebendig wäre. Morgen werden wir wieder einen dieser Augenblicke erleben, und vielleicht winden sich zu dieser Stunde auch auf der anderen Seite schon die kleinen Menschentrupps durchs Feuer, mit denen wir uns begegnen werden. Wir haben uns nie gesehen und besitzen doch füreinander dieselbe Wichtigkeit wie das Schicksal selbst. "Wie furchtbar muß es doch sein, Menschen zu töten, die man nie gesehen hat." Das hört man auf Urlaub oft von Leuten, die weit vom Schuß gefühlvolle Betrachtungen lieben. "Ja, wenn sie einem wenigstens etwas getan hätten." Das sagt alles. Sie müssen hassen, Sie müssen einen persönlichen Grund zum Töten haben. Daß man den Gegner achten kann und ihn trotzdem bekämpfen, nicht als Menschen, sondern als reines Prinzip, daß man für eine Idee einstehen kann mit allen Mitteln des Geistes und der Gewalt bis zum Flammenwurf und zum Gasangriff, das werden sie nie verstehen. Darüber kann man sich nur mit Männern unterhalten. Man tötet als denkender Mensch nicht ohne weiteres. Je mehr man sich dem Leben durch Muskel, Herz und Hirn verbunden fühlt, desto höhere Achtung empfindet man vor ihm. Aber einmal, früher oder später, erkennt man, daß Werden mehr ist als Leben. Das Gemurmel der Leute erstirbt. Die Lungen pfeifen unter den Tornisterriemen. Wir sind am Rande der Wüste. Vor uns schwirren die Peitschenschwünge des Todes, erblitzen seine krachenden Signale. Die Nacht zerschwimmt im Ungewissen, der Mond wirft Kalk auf die Gesichter, die Augen glänzen wie im Fieber. Wir sind gewohnte Wanderer der granatbestreuten Felder und doch immer wieder zitternde Fremdlinge vor den Toren des Todes. Starr und stählern sind diese Granaten und doch voll dämonischen Lebens, tückische, tastende Fäuste der Hölle. Sie sind wie ein seltsamer, unentrinnbarer Rausch, ein Summen, Wachsen, Schwellen und Branden, ein Wirbel, der das Hirn auf den Grund bewußtloser Tiefen reißt; rauschende Eisenvögel, -87-

brüllende Orkane und gierige Bestien. Ihre Sprache ist jedem verständlich. Schrille Gelächter rasen über uns hinweg, um in der Ferne zu zerklirren. Kurze Feuerwölkchen spritzen. Zuweilen zerschellt ein niederbrausender Ansturm in reißender, brüllender Wut. Dann fegen pfeifende Splitterschwärme die Luft, zackig und kantig. Das pflegen wir dicke Luft zu nennen. Ganz daran gewöhnen kann sich keiner, auch der Kühnste nicht. Mit tausend Gliedern erwacht die Angst in uns und verdichtet sich bald zu einem Gefühl von absoluter Stärke. wenn man ein Bild von ihr geben wollte, so könnte man kein besseres wählen als das dieser Landschaft: eine schwarze, traurige Ebene, unaufhörlich und schmerzhaft von feurigen Punkten durchbrannt. Dagegen hilft kein Mut, denn die Gefahr ist überall, sie läßt sich nicht erkennen, die ganze Landschaft scheint von ihr gesättigt zu sein. Das Ungewisse ist das Entsetzliche. Wann, wo, wie? Jeden Augenblick kann es aufschießen, ganz nah, malmend, knickend, zerreißend. Wen es trifft, der bleibt liegen, während die andern weiterhasten, ohne ihm einen flüchtigen Blick zu gönnen. Furchtbar sind die Rufe der einsam Sterbenden, sie aus dem Dunkel heraus in langen Pausen anschwellen und verklingen wie die von Tieren, die nicht wissen, warum sie leiden müssen. Immer wieder muß man sich fragen, was in dieser Finsternis, in der nur noch das Gefühl einer Angst herrscht, von der man sich keine Vorstellung machen kann, den Menschen eigentlich noch vorwärts treibt. Keiner läßt sich zu Boden gleiten, um heimlich zu entfliehen; taumelnd, keuchend und fluchend geht jeder voran. Welcher Antrieb ist es, der hier noch eine Bewegung hervorbringt, obwohl keine seelische Kraft mehr vorhanden ist? Die Lust am Kampf? Die wird uns morgen packen, wenn wir den Feind vor uns sehen als ein Wesen von Fleisch und Blut, aber was hier geschieht, das ist so nüchtern -88-

und mathematisch, als ob der Tod uns als Funktion in eine Gleichung eingesetzt hätte. Das ist eine furchtbare Wahrscheinlichkeitsrechnung, bei der die persönliche Kraft gar keine Rolle spielt. Aber vielleicht besteht dieser Antrieb in der Disziplin? Auch das kann nicht sein, denn hier ist jeder auf sich gestellt, der Mann und der Führer auch, und was diesen kleinen Trupp zusammenhält, das ist nur noch ein instinktiver Drang, wie er in einem Schwarm von Zugvö geln herrscht. Hier spielt die Disziplin gar keine Rolle mehr, weder im positiven noch im negativen Sinne, dazu ist die Lage viel zu ernst und beansprucht zu sehr die ganze Kraft. Wenn der Führer den Weg findet, und der Mann sich in seiner Nähe zu halten vermag, so ist das schon viel. Sich für oder wider die Disziplin einzusetzen, dazu ist nur Zeit, wenn man Ruhe hat. Dann ist doch wohl das Vaterland, das Gefühl der Ehre und der Pflicht das Bewegende? Aber wenn jetzt, gerade jetzt, wo uns die Granateinschläge wie ein Wald von feurigen Palmen umgeben, jemand uns diese Worte zurufen wollte, so würde er nur einen wilden Fluch zur Antwort bekommen. Hier ist kein Raum für Begeisterung, und, ja das muß wohl gesagt werden, hier findet eine Arbeit statt, die fast bewußtlos geleistet wird und insofern einen tierischen Charakter hat. Soweit der Mensch hier Individuum ist, ist er nur aus Angst zusammengesetzt. Aber gerade, daß er sich trotzdem bewegt, das beweist, das ein höherer Wille hinter ihm steht. Daß der Mensch ihn nicht empfindet, daß gerade alles Persönliche sich ihm widersetzt, das zeigt, daß dieser Wille sehr mächtig sein muß. Es ist die potentielle Energie der Idee, die sich hier in kinetische umsetzt, und die unbarmherzig ihre Anforderungen stellt. Sie weiß den Weg durch das Unbekannte zu finden und sie reißt uns zum Ziel, obwohl Angst uns erfüllt. Solange sie mächtig ist, wird sie immer ihre Werkzeuge finden, und wenn -89-

sie erlischt, dann ist alles vorbei. Und wenn wir später, wenn wir Zeit haben nachzudenken, aus dem, was hier geschieht, eine Heldentat machen, dann tun wir das mit Recht, denn es ist das Wesen des Helden, daß ihn die Idee über alle Hindernisse der Materie reißt. Angst empfinden wir, weil wir vergängliche Geschöpfe sind, aber wenn ein Unvergängliches in uns diese Angst besiegt, so können wir stolz darauf sein. Das zeigt, daß wir wirklich dem Leben, und nicht nur dem Dasein verbunden sind. So geht es voran, wir legen unseren Weg zurück als eine einsame, unbekannte Schar, die doch, ohne es zu wissen, inmitten dieser tödlichen Wüsten unsichtbar mit den großen Kraftströmen des Lebens verbunden ist. Wir überwinden auch den Hohlweg, diesen höllischen Riegel der vorderen Linie, Tag und Nacht vom Feuer überschüttet. Wir rennen. Hastiger, wuchtiger schmelzen die Einschläge ineinander, sich selbst im steigenden Gebrüll verschlingend. Der Boden rollt, in scharfen schweren Wellen schlägt stickige Luft uns ins Gesicht, von Gas und Verwesung gesättigt. Erdbrocken sausen mit dumpfem Prall auf die Helme, Splitter klirren gegen die Rüstung. Ganz deutlich hört man dazwischen, wenn ein Stück Eisen sich in weiches Menschenfleisch hackt. Vor unseren Füßen und an den Rändern des Hohlweges liegen die Toten, langer Monate Wegzoll, spukhafte Wachspuppen im fahlen Licht, die Glieder seltsam verrenkt. Ein Brustkorb sinkt weich wie ein Blasebalg unter meinem Nagelstiefel zusammen, Unaufhörlich schmettern Eindrücke ins Hirn, bläulich sirrende Schwerthiebe, glühende Hammerschläge. Soviel nimmt man wahr, daß man jetzt kaum noch die Angst empfinden kann, doch die Dinge, die man wahrnimmt, gleißen in den gespenstischen Farben eines schrecklichen Traumes. Als den Spießruten des Todes Entronnene erwachen wir in der vorderen Linie. Schweiß steht in den Stiefeln. Der Atem quält sich aus der Brust. Einer wächst vor mir aus dem Dunkel, mit -90-

verfallenem Totenkopf unter dem Helm. Mit jener übermenschlichen Selbstverständlichkeit, die auf diesen verwunschenen Inseln des Grauens herrscht, führt er mich zum Erdloche des Kompagnieführers. Der gießt aus seiner Feldflasche einen Kochgeschirrdeckel voll Schnaps, den ich in mich stürze wie ein Wilder. Dann hocken wir murmelnd zusammen. Unsere Stimmen sind klanglos wie Blech. Vor uns kauert eine unbewegliche Gestalt. Ist es ein Posten oder eine Leiche? Rundum glüht der Horizont. An meinem Handgelenke glimmen phosphorische Uhrziffern. Uhrziffern, ein seltsames Wort. Es ist 5. 30. In einer Stunde beginnt der Sturm.

-91-

13. Vom Feinde Dieses Gefühl hat man oft in den Nächten des Kampfes: Von einem sagenhaften Erlebnis zu träumen. Man geht durch den Graben wie im Traum, der ursächliche Zusammenhang ist dem Bewußtsein fern; schneidet ein Ereignis sich ins Hirn, so ist man kaum überrascht, als hätte man alles längst zuvor gewußt. Das scheint mir ganz verständlich. Zwei Stunden wälzt man sich im Halbschlaf auf der Drahtmatte des Unterstandes, zwei Stunden schleicht man übermüdet im Graben auf und ab; das wiederholt sich Nacht für Nacht. Da hält man zuletzt erregte Träume für Wirklichkeit und die Wirklichkeit für einen blassen Traum. Auch ist die Nacht heute so seltsam. Der Vollmond ist hinter schimmernden Nebeln verdeckt, die als seine Ausstrahlung über der Landschaft stehen. Sein wie durch Milchglas abgeblendetes Licht saugt die Wirklichkeit aus den Dingen, man sieht nichts und glaubt doch viel zu sehen. Die schwere Luft schluckt die Töne ein, man geht lautlos wie auf Meeresgrund. Das sind so Erklärungen, durch die man sich zu beruhigen sucht. Was man erklären kann, das braucht man nicht zu fürchten. Wir setzen unser Hirn in den Mittelpunkt und lassen es von allen Dingen umkreisen. Aber wenn man in solcher Nacht verlassen und einsam steht, dann ahnt man erst, wie oberflächlich diese ganze Fragestellung ist. Dann fühlt man sich ausgeliefert wie ein Kind, dann wird das Tollste Gewißheit wie in einem grausigen Traum. Wohl sagt man sich, daß Müdigkeit und eine spukhafte Nacht ihr Spiel mit den Nerven treiben, doch eine Beruhigung ist das ebensowenig wie der Trost des Vaters im Erlkönig: "Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif." Und dann dieses dumpfe Raunen: Es ist etwas los. Man möchte es gern im Hirn behalten, nicht daran denken, doch es -92-

kriecht heraus, es treibt sein Wesen, lauert hinter jeder Schulterwehr und schleicht aus jedem Erdloche wieder zurück. Ja, manchmal kann man dem, was in der Luft liegt, nicht widerstehen. Das merkt man, wenn man als Zelle im Körper eines Heeres lebt. Begeisterung, Grauen und Blutdurst packen zu, ohne daß man sich ihrer erwehren könnte. Das spüren alle, die hier im Dunkeln hocken. Es raunt. Es geht um. Man hat Gesichte. Die Landschaft hat Nerven. Zuweilen bricht ein Maschinengewehr in ein kurzes hysterisches Gelächter aus. Ein rastloses Geflacker von Leuchtkugeln verteilt sprunghaft Licht und Schatten. Oft zuckt es rot, gelb und grün: Zu Hilfe, wir haben Angst. Dann stampft nah oder fern ein Feuerstoß, die Nebel kochen auf von Brand und Gift. Jedes Ding hat seine Sprache, der Mechanismus des Kampfes arbeitet klirrend und überspannt die Menschen mit einem Netze aus Feuer und Stahl. Manchmal tauchen Schatten auf - drei Kisten Handgranaten - wo ist der Sanitätsunterstand - Gasalarm - man handelt und denkt an ganz andere Dinge. Das ist schwer zu beschreiben wie alles, was am Grunde geschieht. Einer kommt und flüstert: "Störungstrupp. Leitung zerschossen." Gewiß: Das Hirn denkt Telefon, Drähte zerrissen, Verbindung mit Führung wichtigste Aufgabe der Truppe, jawohl, jawohl. Kriegsschule, Felddienstordnung: oh, man weiß Bescheid. Aber plötzlich wird dieses Verstehen eine lächerliche Nebenerscheinung in einem geisterhaften Gespräch. Die Worte bekommen einen Untersinn, durchschlagen die Oberfläche und wirken unmittelbar in dem Verständnis ewig verschlossener Tiefen. Das Empfinden wallt um einen anderen Schwerpunkt, man tastet im Grauen. Jeder hat einmal einen entsetzlichen Traum gehabt, und wenn er sich besinnt, so wird er finden: das Tatsächliche daran war nichts gegen die unheimliche Kraft, die es bewegte. E. Th. A. Hoffmann ist der Dichter dieser Durchbrüche, aus seinen Hofräten und Spießbürgern gleißt unvermittelt das -93-

Gespenstische auf, der Anblick eines Türknaufs zaubert ein würgendes Erlebnis hervor. Auch Dostojewski kannte sie, sonst hätte er niemals das Fiebergespräch des Iwan Karamasoff mit dem alltäglich angezogenen Unbekannten schreiben können. Doch wie soll man das denen sagen, die nur zwischen den vier Wänden des Verständlichen zu Hause sind? Ich stehe neben dem Maschinengewehr am linken Flügel. Zuweilen schieße ich eine Leuchtkugel hoch und lade eine neue in die Pistole. Der Boden ist von leeren Papphülsen bedeckt. Jedesmal wenn das Gelände vor uns aus dem Dunkeln gerissen wird, blendet der Posten neben mir seine Augen mit der Hand ab, um besser sehen zu können. Manchmal spreche ich, damit er nicht denkt, ich hätte Angst, aber die Worte kommen so unsicher heraus. Es ist etwas los. Vor uns klickt und zurrt es am Draht. Wir kennen alle Geräusche der Nacht: dies ist nicht der Wind und auch kein nächtlicher Vogel im Niemandsland. Hier ist ein Mensch am Werke, es klirrt in Pausen, behutsam und fein, Metall an Metall. Der Posten gräbt seine Finger in meinen Arm. Leise, leise! Wir benutzen das Ausströmen des Atems, um dieses Wort zu formen. Wir sind nicht als Ohr, als ausgespanntes Trommelfell. Der Wind geht wie eine Ahnung über das Gras, im Nachbarabschnitt flattern Minen durch die Luft, um in einem Waldstück wie eiserne Tonnen zu zerbersten. Und dazwischen immer das feine, metallische Klickklick. Nun rauscht es, und ein Schatten hebt sich hoch. Das geschieht sicher leise, ganz leise, doch ist es wie ein Donner in unseren Ohren, diesen im Gestampf der Städte und im Lärm rasender Schlachten gehärteten Ohren. Die Sekunde zerbrennt weißglühend. Das Maschinengewehr spritzt, eine Handgranate zerschellt in Dampf und Krach. Wir schreien, Leute kommen durch den Graben gehastet, eine Leuchtkugel jagt die andere. Die Nacht wird elektrisch, Gewehre gehen los, eine Gruppe der zweiten Linie wirft Handgranaten, um ihre Angst zu übertönen, -94-

einer steckt kleine Minen auf einen Stock und schießt ins Blaue. In den Gräben schwelt süßlicher Pulvergeruch, der an ähnliche Erlebnisse erinnert. Ein Stoßtrupp erscheint, ein Rudel stämmiger Gladiatoren, an die Arbeit mit Messer und Sprengstoff gewöhnt. Lautlos springen sie heran, von Schulterwehr zu Schulterwehr, nur die Handgranaten klappern in den Sandsäcken. Diese Männer sind in der Mechanik des Grabenkampfes geschult: Wurf - Achtung - los! Das klappt motorenhaft ineinander, ohne den Gedanken einen Raum zu lassen. Diesmal sind sie umsonst gekommen, indes ihre Anwesenheit beruhigt, man fühlt die geschlossene Kraft. "Sind sie im Graben?" "Nur eine Patrouille vorm Draht." Ein kleines Zwischenspiel, eine rein infanteristische Angelegenheit. Nicht einmal die leichten Geschütze haben mitgesprochen. Das Feuer wird matt, prasselt noch einmal hoch und erlischt. Einer findet das richtige Wort: "Mensch, das war wieder mal´n Krampf." Ganz recht, ein schüttelnder Krampf, über den man erst nachdenkt, wenn er vorüber ist. Das scheint uns Denkgewohnten immer wieder erstaunlich. Und wenn wir später gefragt werden: "Ach bitte, erzählen Sie, was haben Sie eigentlich gedacht, so da draußen, das war doch gewiß furchtbar?", dann haben wir als Antwort nur ein verlegenes Lächeln. Nein, wir sind nicht die Wachspuppenhelden, die man so gern aus uns macht. Unser Blut wird von Leidenschaften und Gefühlen durchfegt, von denen man am Teetisch keine Ahnung hat. Was ist eigentlich geschehen? Wir haben eine Patrouille verscheucht. Im Stacheldraht hängt ein Bündel Mensch, von Geschossen und Splittern zersiebt. Das ziehen wir herein und legen es auf die Grabensohle. Wir stehen im Kreise darum und flüstern. Eine Taschenlampe blitzt auf. "So´n junger Kerl. Was für feine Stiefel er anhat, sicher ein Offizier." Der Posten erzählt: "Ich denke, komm erst mal ran. Und als er richtig hoch -95-

war, gab´s Saures. Und der Leutnant hat ihm noch ´ne Handgranate gezwitschert." Ja, ja, so war es. Wir hatten alles fein überlegt. Und wenn wir die Sache in zehn Jahren erzählen, so wird sie noch in ganz anderen Farben schillern, denn die Zeit ist der beste Romantiker. Und wenn wir in fünfzig Jahren noch leben, morgens am Stocke uns durch den Frühling tasten, bei großen Festen mit Ordensbändern am Rock als ehrwürdige Reliquien gezeigt werden, wenn das Blut fremd und matt durch unsere Adern rollt, dann werden diese in Kampf und Feuer zertobten Jahre wie eine ferne und stolze Insel zu uns herüberschimmern. Dann werden wir unsere Erinnerung tragen wie ein Ehrenkleid, und unsere Enkel werden uns darum beneiden. Dann ist wieder einmal jugendliche Kraft in Überfülle gespeichert, und auch der Funke wird nicht fehlen, der diese Sehnsucht zur Tat in sprühendes Feuerwerk zerschlägt. Vor diesem motorischen Rhythmus aus Spannung und Tat müssen alle warnenden Stimmen von der Suttner bis zu Kant wie ein kindliches Gemurmel vergehen. Das Blut hat seine eigenen, unabänderlichen Gesetze, vor denen alle Erfahrung versinkt. Die Ablösung. Ich gehe in den Unterstand und lege mich hin. Natürlich finde ich keine Schlaf. Die Nerven. Es huscht über die Haut, drückt den Magen, stichelt in den Haarwurzeln. Zuweilen döst man ein und wird durch einen zuckenden Schlag erweckt, als ob man von hoch oben auf das Lager gestürzt wäre. Und immer dieser Traum: Man geht durch den Graben, endlos, von Leuchtkugeln bestrahlt, von Geschossen umpfiffen und sucht eine Stelle, wo man schlafen könnte. Endlich, endlich findet man den Unterstand, steigt die Stufen hinab, schüttelt einen, der auf der Pritsche liegt, und weckt sich selbst. Das klingt sehr lächerlich, ich weiß, ich weiß. Immerhin: das kleine Erlebnis war eine Erleichterung. Wir haben etwas Greifbares aus dem Unbestimmten herausgerissen, wir haben in jenen Menschen unser Grauen zur Strecke -96-

gebracht. Sehr selten nur erscheint uns der Feind wie eben als Fleisch und Blut, obwohl nur ein schmaler, zerwühlter Ackerstreifen uns von ihm trennt. Wochen und Monate hocken wir in der Erde, von Geschoßschwärmen überbraust, von Gewittern umstellt. Da vergessen wir zuweilen fast, daß wir gegen Menschen kämpfen. Das Feindliche äußert sich als Entfaltung einer riesenhaften, unpersönlichen Kraft, als Schicksal, das seine Faustschläge ins Blinde schmettert. Wenn wir an den Tagen des Sturms aus den Gräben steigen, und das leere, unbekannte Land, in dem der Tod zwischen springenden Rauchsäulen sein Wesen treibt, vor unseren Blicken liegt, dann scheint es, als ob eine neue Dimension sich uns erschlösse. Dann sehen wir plötzlich ganz nah in erdfarbenen Mänteln und mit lehmigen Gesichtern wie eine gespenstische Erscheinung, die uns im toten Lande erwartet: den Feind. Das ist ein Augenblick, den man nie vergißt. Wie ganz anders hat man sich das zuvor gedacht. Ein Waldbrand im ersten Grün, eine blumige Wiese und Gewehre, die in den Frühling knallen. Der Tod als flirrendes Hin und Her zwischen zwei Schützenlinien von Zwanzigjährigen. Dunkles Blut auf grüne Halme gespritzt, Bajonette im Morgenlicht, Trompeten und Fahnen, ein fröhlicher, funkelnder Tanz. Aber hier hat man längst verlernt, auf den Knall der Gewehre zu achten. Nachts beschleicht man sich mit abenteuerlichen Waffen behangen in grausigen Wüsteneien, und die Tage verdämmert man im Gewirr der Schächte. Dieser Kampf ist kein Feuer, sondern ein schwelender Brand. Nur manchmal hat man eine dunkle Vorstellung, daß auf der anderen Seite auch noch Menschen leben. Daß auch dort die Nacht das Leben erweckt, daß Gespräche durch Telefondrähte blitzen, daß man in den Unterständen die Essenholer erwartet, daß Spaten schürfen und Posten in langen Reihen müde und fröstelnd ins Vorfeld starren. Sicher sind in den Ruheorten Paraden und Ansprachen wie bei uns, und weit hinten ist eine Etappe, die man verhöhnt und -97-

beneidet. Einer liegt vielleicht gerade auf dem Rücken und liest bei Kerzengeflacker zum drittenmal den Brief aus seinem normannischen oder schottischen Heimatsdorf, einer denkt an seine Frau, und ein Kompagnieführer kritzelt die Meldung, daß der Leutnant Wesson von seinem Patrouillengange nicht zurückgekehrt ist. Vor einem Angriff sind ihre Gräben von begeisterter Mannschaft durchflutet, und wenn unsere Sturmsignale hinüberblinken, machen sie sich zum Ringkampf um Grabenfetzen, Waldstücke und Dorfränder bereit. Doch wenn wir aufeinanderprallen im Gewölk von Feuer und Qualm, dann werden wir eins, dann sind wir zwei Teile von einer Kraft, zu einem Körper verschmolzen. Zu einem Körper - das ist ein Gleichnis besonderer Art. Wer es versteht, der bejaht sich selbst und den Feind, der lebt im Ganzen und in den Teilen zugleich. Der kann sich eine Gottheit denken, die diese bunten Fäden sich durch die Hände gleiten läßt - mit lächelndem Gesicht.

-98-

14. Vorm Kampf Also übermorgen! Am 21. März 1918. Das ist der Tag der Entscheidung, an dem wir den ungeheuren Gang mit einem Faustschlage zu Ende führen, die eisernen Ketten sprengen und unsere Sturmkolonnen mit letztem Schwunge zum Meere stoßen werden. Die Welle nach Westen, vier Jahre lang vor feurigen Dämmen gestaut und zerschlagen, wird endlich zum Ziele schäumen. Die Stunde des großen Durchbruchs und seiner Auswertung ist gekommen, wir werden eine Bresche in das Bollwerk schlagen, die niemand stopfen kann. Wir werden das stählerne Netz zerreißen, damit die Massen, die hinter uns harren, seine Enden ergreifen, sich in die offenen Flanken fressen, um aufrollend, verfolgend und vernichtend durch den Sieg, den klaren und vollständigen Sieg unseren unerschütterlichen Glauben an ihn zu heiligen. Keiner ist in unserem Kreise, der daran zweifelte. Vier Jahre lang haben wir diese Überzeugung von Schlachtfeld zu Schlachtfeld getragen, sahen Tausende stürzen im Wettrennen zur großen Verheißung, wurden während kurzer Urlaubstage als Vollstrecker heiliger Sendung gefeiert, haben Jugend und allen Schimmer der Welt in die dunkle Wagschale geworfen und so viel für unsere Ideale geopfert, daß ihr Untergang auch der unsere sein würde. Wir haben mit neun Jahren das dulce et decorum gelernt, zu Haus, in Schulen, Universitäten und Kasernen ist der Begriff "Vaterland" in die Nebelwelt unserer Anschauung als Mitte gesetzt wie die Sonne in das Planetensystem, wie der Kern in den Kraftwirbel eines Atoms. An den grauen Wänden der Kasernenflure kündeten goldene Lettern die Namen der in früheren Kriegen Gefallenen, und die Sprüche darunter mahnten uns, stets dieser Helden würdig zu sein. Die Denkmäler der Generale auf den Plätzen, das Studium der Geschichte, das uns -99-

zeigte, wie eng Größe und Niedergang eines Volkes mit seinen Kriegen verkettet sind, die ernsten Gesichter, mit denen Generationen von Offizieren von den Wänden unseres Kasinos auf uns niederblickten, blitzende Orden und zerschossene Fahnen, deren Seide nur an hohen Festtagen über der Menge wehte: das alles hatte uns den Krieg zu einer feierlichen und gewaltigen Sache gemacht. Wir fühlten uns als Erben und Träger von Gedanken, die durch Jahrhunderte von Geschlecht zu Geschlecht vererbt und der Erfüllung näher getragen wurden. Über allem Denken und Handeln stand eine schwerste Pflicht, eine höchste Ehre und ein schimmerndes Ziel: der Tod für das Land und seine Größe. So waren die Kräfte, die der Ausbruch des lange Erwarteten in uns befreite und hinausschleuderte, von einer Gewalt, die wir für mächtiger und unwiderstehlicher hielten als alles bisher. Familie, Liebe, Lust am bunten Lichtspiele des Lebens, alles wurde von ihnen überglüht, als sie in Rausch und Taumel uns über die Grenzen hinaus dem Siege entgegenstießen. War die Arbeit auch unermeßlich schwerer, als uns beim Losbruch geträumt, so stehen wir doch jetzt vorm Lohne, das letzte Ende der Bahn liegt vor uns, und übermorgen soll es bezwungen werden. Der Hauptmann hat eben geredet. Sind uns auch im Geschehen die einst so großen Worte von Ruhm und vom fröhlichen Tode der Ehre blaß und leer geworden, heute haben sie wieder Klang und Spannung wie einst; wir trinken auf den Sieg und lassen die Gläser an der Wand in Scherben zerspritzen. Er hat recht, das Bataillon wird seine Sache schon machen, wir sind stolz, als erste Welle über die zertrommelten Gräben brausen zu dürfen. Wie sind Kameraden, wie nur Soldaten es sein können, durch Tat, Blut und Gesinnung zu einem Körper und einem Willen verwachsen. Erprobte Vorkämpfer der Materialschlacht, wissen wir wohl, was uns bevorsteht, doch wir wissen auch, daß keiner in unserem Kreise ist, den heimlich die Angst vor der großen Ungewißheit würgt. Die Feiglinge halten -100-

sich nicht in unseren Reihen; wie wir den Weg zum Feinde, so wissen sie den sicheren Boden des Hinterlandes zu finden. Trotz Ärzten und Kommissionen lavieren sie meisterlich in Lazarette, Kurorte und Garnisonen, wo der blaue Rock und die weißen Manschetten den Soldaten vom Krieger unterscheiden. Oft ärgern wir uns, wenn sie aus Borkum und Pyrmont uns Karten "mit kameradschaftlichen Grüßen" senden; heute streift kein Gedanke in ihre Reviere der Gesellschaft, des guten Tones und der guten Weine. Als Erste im Kampf zu stehen: das halten wir noch immer für eine Ehre, der nur die Besten würdig sind. Heute sind der Mann und die Tat des Tages Inhalt, und übermorgen wird von der besten Mannschaft eines großen, kriegerischen Volkes der Meißel an das neue Gesicht der Erde gelegt. Das ist ein Tag wie die von Wahlstatt, von Wien und von Leipzig, da wird einem Volke und seinen Gedanken die blutige Gasse gebrochen. Ja, wir sind fröhlich und siegesgewiß. Diese Tage und Nächte vor dem Kampfe haben einen seltsamen Reiz. Alles Beschwerende sinkt ins Unwesentliche, der Augenblick wird köstlicher Besitz. Zukunft, Sorge, alles Lästige, mit dem uns trübe Stunden überschwemmten, wird wie ein ausgerauchtes Zigarettenende zur Seite geschleudert. In wenigen Stunden vielleicht wird jene verworrene Insel hinter uns verblassen, der wir als Robinsons unter vielen unseren Sinn zu geben versuchten. Das Geld, diese Quelle der Sorge, wird Überfluß und Unsinn, man vertrinkt den letzten Taler und sei es nur, um ihn loszuwerden. Eltern werden weinen, doch die Zeit nimmt alles hinweg. So viele Männer auc h fallen, das Mädchen wird immer noch einen finden, und ihre Liebe zu dem Toten wird mit der neuen zu einem Gefühle sich wandeln. Freunde, Wein, Bücher, die reiche Tafel süsser und bitterer Genüsse, alles wird mit dem Bewußtsein verflackern wie das letzte Kerzenlicht am Weihnachtsbaum. Man stirbt mit der Hoffnung, daß es der Welt gut gehe, und fühlt im letzten Zucken gerade noch, wie flüchtig -101-

man im Grunde an Menschen und Dingen vorübergeschritten ist. Der große Abend, Lösung, Vergessen, Untergehen und Rückkehr aus der Zeit in die Ewigkeit, aus dem Raum in das Unendliche, aus der Persönlichkeit in jenes Große, das alles im Schoße trägt. Ja, der Soldat in seinem Verhältnis zum Tode, in der Aufgabe der Persönlichkeit für eine Idee, weiß wenig von den Philosophen und ihren Werten. Aber in ihm und seiner Tat äußert sich das Leben ergreifender und tiefer, als je ein Buch es vermöchte. Und immer wieder, trotz allem Widersinn und Wahnsinn des äußeren Geschehens, bleibt ihm eine strahlende Wahrheit: Der Tod für eine Überzeugung ist das höchste Vollbringen. Er ist Bekenntnis, Tat, Erfüllung, Glaube, Liebe, Hoffnung und Ziel; er ist auf dieser unvollkommenen Welt ein Vollkommenes und die Vollendung schlechthin. Dabei ist die Sache nichts und die Überzeugung alles. Mag einer sterben, in einen zweifellosen Irrtum verbohrt; er hat sein Größtes geleistet. Mag der Flieger des Barbusse tief unter sich zwei gerüstete Heere zu einem Gott um den Sieg ihrer gerechten Sache beten sehen, so heftet sicher eins, wahrscheinlich beide einen Irrtum an seine Fahnen; und doch wird Gott beide zugleich in seinem Wesen umfassen. Der Wahn und die Welt sind eins, und wer für einen Irrtum starb, bleibt doch ein Held. Ich habe vom Lärm und Wein einen heißen Kopf bekommen. Seit zum ersten Male der leichte Rausch des Weines mich trug, habe ich immer wieder das Empfinden einer Befreiung. Vielen werden Farben, Töne und Erleben greller, wesentlicher, mir verschwimmen sie ins Bedeutungslose und treten angenehm und matt in einen weiten Hintergrund zurück, der mich und die lebendig werdenden Gedanken als Mittelpunkt umschließt. Dann sitze ich gern allein, um der Unterhaltung, die sprunghafter und lärmender die Runde zu einem geistigen Körper verbindet, in dem alle dasselbe fühlen und doch jeder nur sich allein hört, zu entgehen. Deshalb stehe ich auf und setze -102-

mich auf die Bank vor unserem Häuschen, in dem wir seit drei Wochen uns abends trafen und das uns heute zum letzten Male vor dem Ungewissen umschließt. Es liegt dicht an der Heerstraße, auf der auch unser Regiment nach Westen marschieren wird. Wir treten erst morgen nach Einbruch der Dunkelheit an, um noch einen Tag und eine Nacht, in Höhlen und Stollen verborgen, den Sturm zu erwarten. Seit drei Nächten schon wälzen sich mit Anbruch der Dämmerung ungezählte Tausende an unserem Häuschen, das wie eine Insel im Strome liegt, vorüber, schweigend, ohne Gesang, ohne Spiel, ohne Scherzwort und Lachen. Manchmal mischt sich ein Befehl, sachlich und unpersönlich in den brausenden Aufschlag der Nagelstiefel, in das Klirren der Gewehre am Helm, in das Klappern der Seitengewehre am Schanzzeug. Dann dröhnen wieder lange Artilleriekolonnen vorüber, von kleinen Feldgeschützen bis zu riesenhaften, von Motoren geschleppten Mörsern. Zuletzt bleibt dem Beschauer bei dieser finsteren Parade der Menschen, der Tiere und des Materials nur noch der Eindruck einer grauen, ungeheuren Kraft und eines Willens, der diese Kraft zum Ziele stößt. Was da in der Nacht als Strom vorüberflutet, um sich gigantisch vor den Grenzwällen zu speic hern, ist der Wille zum Siege, ist die auf ihre knappste Formel gebrachte Macht: das Heer. Das Heer: Menschen, Tiere und Maschinen, zu einer Waffe geschmiedet. Mit den Maschinen wollen wir den Gegner zerstampfen, blenden, ersticken, zu Boden hageln, mit Flammen bewerfen, auf den Grund der Granattrichter walzen. Mit ihnen wollen wir den Willen der wenigen Überlebenden durch eine solche Brandung entsetzlicher Eindrücke niederschlagen, daß unsere stürmende Mannschaft sie untätig und mit blödem Lächeln aus ihren Löchern zerren wird. Die Maschine ist die in Stahl gegossene Intelligenz eines Volkes. Sie vertausendfacht die Macht des einzelnen und gibt unseren Kämpfen erst ihr -103-

furchtbares Gepräge. Der Kampf der Maschinen ist so gewaltig, daß der Mensch fast ganz davor verschwindet. Schon oft, von den Kraftfeldern der modernen Schlacht umschlossen, schien es mir seltsam und kaum glaubhaft, einem weltgeschichtlichen Geschehen beizuwohnen. Der Kampf äußerte sich als riesenhafter, toter Mechanismus und breitete eine eis ige, unpersönliche Welle der Vernichtung über das Gelände. Das war wie eine Kraterlandschaft auf totem Gestirn, leblos und sprühend vor Glut. Und doch: Hinter allem steckt der Mensch. Er gibt den Maschinen erst Richtung und Sinn. Er jagt aus ihnen Geschosse, Sprengstoff und Gift. Er erhebt sich in ihnen als Raubvogel über den Gegner. Er hockt in ihrem Bauche, wenn sie feuerspeiend über das Schlachtfeld stampfen. Er ist das gefährlichste, blutdürstigste und zielbewußteste Wesen, das die Erde tragen muß. Immer hat es Kampf und Kriege gegeben, aber was hier dunkel und unaufhörlich vorüberzieht, das ist die furchtbarste Form, in die der Weltgeist bis jetzt das Leben gestaltet hat. Und gerade weil diese Massen so grau und eintönig sich voranwälzen, um sich vorn hinter den Dämmen zu einem Becken voll ungeheurer potentieller Energie zu speichern, gerade deshalb erwecken sie den Eindruck der reinen Macht, deren Idee sich wie ein elektrischer Strom auf den einsamen Zuschauer überträgt. Das ist ein Eindruck von einer berauschenden Nüchternheit, wie sie sich ähnlich nur in Zentren unsrer großen Städte oder in den Vorstellungen der Kraftfelder nach den Begriffen der modernen Physik offenbart. Hier steckt schon ein cäsarischer Wille, der den Ausmaßen der Masse gewachsen is t. Was sich hier vorbereitet, ist schon eine Schlacht im Sinne einer ganz neuen Zeit. Eben noch, als ich drinnen mit den Kameraden beisammensaß, deren Lachen verworren durch das abgeblendete -104-

Fenster klingt, war ich ganz der Sohn einer alten Zeit, und es schien mir, daß übermorgen alte und heilige Symbole neuen Zielen entgegengetragen werden sollten. Aber hier scheint der Seidenglanz der Fahnen zu verblassen, hier spricht ein bitterer und trockener Ernst, ein Marschtakt, der die Vorstellung von weiten Industriebezirken, Heeren von Maschinen, Arbeiterbataillonen und kühlen, modernen Machtmenschen erweckt. Hier spricht das Material seine eisenharte Sprache und der überlegene Intellekt, der sich des Materials bedient. Und diese Sprache ist entschiedener und schneidender als jede andere zuvor. Aber was sind das für Menschen, die sich ihrer Zeit nicht gewachsen fühlen? Wir schreiben heute Gedichte aus Stahl und Kompositionen aus Eisenbeton. Und wir kämpfen um die Macht in Schlachten, bei denen das Geschehen mit der Präzision von Maschinen ineinandergreift. Es steckt eine Schönheit darin, die wir schon zu ahnen imstande sind, in diesen Schlachten zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft, in denen der heiße Wille des Blitzes sich bändigt und ausdrückt durch die Beherrschung von technischen Wunderwerken der Macht. Und ich kann mir wohl vorstellen, daß später eine Einstellung möglich ist, die diesen Äußerungen einer mit einem mächtigen Tatsachensinn begabten Rasse gegenübersteht wie etwa eine prächtige Orchidee, die keiner anderen Berechtigung bedarf als ihrer Existenz. Alle Ziele sind vergänglich, nur die Bewegung ist ewig, und sie bringt unaufhörlich herrliche und unbarmherzige Schauspiele hervor. Sich in ihre erhabene Zwecklosigkeit versenken zu können wie in ein Kunstwerk oder wie in den gestirnten Himmel, das ist nur wenigen vergönnt. Aber wer in diesem Krieg nur die Verneinung, nur das eigene Leiden und nicht die Bejahung, die höhere Bewegung empfand, der hat ihn als Sklave erlebt. Der hat kein inneres, sondern nur ein äußeres Erlebnis gehabt. -105-

Hier fließt es vorbei, das Leben selbst, die große Spannung, der Wille zum Kampf und zur Macht in den Formen unserer Zeit, in unserer eigenen Form, in der trotzigsten und wehrhaftigsten Haltung, die man sich denken kann. Vor diesem mächtigen und unaufhörlichen Vorüberfluten zum Kampf werden alle Werke nichtig, alle Begriffe hohl, man empfindet die Äußerung eines Elementaren, Gewaltigen, das immer war und immer sein wird, auch wenn es längst keine Menschen und keine Kriege mehr gibt.

-106-

ERNST JÜNGER • AUF DEN MARMOR-KLIPPEN

Ernst Jünger AUF DEN MARMOR KLIPPEN

22. Tausend

HANSEATISCHE VERLAGS ANSTALT HAMBURG

Begonnen Ende Februar 1939 in Überlingen am Bodensee Beendet am 28. Juli 1939 in Kirchhorst bei Hannover Durchgesehen im September 1939 beim Heer

Gedruckt in der Hanseatischen Verlagsanstalt Akt.-Ges., Hamburg-Wandsbek Copyright 1939/1940 by Hanseatische Verlagsanstalt Aktiengesellschaft, Hamburg 36 Printed in Germany

1. Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender hervor; wir denken an sie wie an den Körper einer toten Geliebten zurück, der tief in der Erde ruht, und der uns nun gleich einer WüstenSpiegelung in einer höheren und geistigeren Pracht erschauern läßt. Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach. Dann will es uns scheinen, als hätten wir das Maß des Lebens und der Liebe nicht bis zum Rande gefüllt gehabt, doch keine Reue bringt das Versäumte zurück. Oh, möchte dieses Gefühl uns doch für jeden Augenblick des Glückes eine Lehre sein! Und süßer noch wird die Erinnerung an unsere Mond- und Sonnenjahre, wenn jäher Schrecken sie beendete. Dann erst begreifen wir, wie sehr es schon ein Glücksfall für uns Menschen ist, wenn wir in unseren kleinen Gemeinschaften dahinleben, unter ~5~

friedlichem Dach, bei guten Gesprächen und mit liebevollem Gruß am Morgen und zur Nacht. Ach, stets zu spät erkennen wir, daß damit schon das Füllhorn reich für uns geöffnet war. So denke ich auch an die Zeiten, in denen wir an der großen Marina lebten, zurück — erst die Erinnerung treibt ihren Zauber hervor. Damals freilich schien es mir, als ob manche Sorge, mancher Kummer uns die Tage verdunkelten, und vor allem waren wir vor dem Oberförster auf der Hut. Wir lebten daher mit einer gewissen Strenge und in schlichten Gewändern, obwohl kein Gelübde uns band. Zweimal im Jahre ließen wir indessen das rote Futter durchleuchten — einmal im Frühling und einmal im Herbst. Im Herbste zechten wir als Weise und taten den köstlichen Weinen, die an den Südhängen der großen Marina gedeihen, Ehre an. Wenn wir in den Gärten zwischen dem roten Laub und den dunklen Trauben die scherzenden Rufe der Winzer vernahmen, wenn in den kleinen Städten und Dörfern die Torkel zu knarren begannen, und der Geruch der frischen Trester um die Höfe seine gärenden Schleier zog, stiegen wir zu den Wirten, den Küfern und Weinbauern hinab und tranken mit ihnen aus dem bauchigen Krug. Auch trafen wir dort immer heitere Genossen an, denn das Land ist reich und schön, so daß unbekümmerte Muße in ihm gedeiht, und Witz und Laune gelten als bare Münze in ihm. ~6~

So saßen wir Abend für Abend beim fröhlichen Mahl. In diesen Wochen ziehen vermummte Wingerts-Wächter vom Morgengrauen bis zur Nacht mit Knarren und Flinten in den Gärten umher und halten die lüsternen Vögel in Schach. Spät kehren sie mit Kränzen von Wachteln, von gesprenkelten Drosseln und Feigenfressern zurück, und bald erscheint dann ihre Beute in mit Weinlaub ausgelegten Schüsseln auf dem Tisch. Auch aßen wir gern geröstete Kastanien und junge Nüsse zum neuen Wein, und vor allem die herrlichen Pilze, nach denen man dort mit Hunden in den Wäldern spürt — die weiße Trüffel, die zierliche Werpel und den roten Kaiserschwamm. Solange der Wein noch süß und honigfarben war, saßen wir einträchtig am Tisch, bei friedlichen Gesprächen, und oft den Arm auf die Schulter des Nachbarn gelegt. Sobald er jedoch zu arbeiten und die erdigen Teile abzustoßen begann, wachten die Lebensgeister mächtig auf. Es gab dann glänzende Zweikämpfe, bei denen die Waffe des Gelächters entschied, und bei denen sich Fechter begegneten, die sich durch die leichte, freie Führung des Gedankens auszeichneten, wie man sie nur in einem langen, müßigen Leben gewinnt. Aber höher noch als diese Stunden, die in funkelnder Laune dahineilten, schätzten wir den stillen Heimweg durch Gärten und Felder in der Tiefe der Trunkenheit, während schon der Morgentau sich ~7~

auf die bunten Blätter schlug. Wenn wir das Hahnentor der kleinen Stadt durchschritten hatten, sahen wir zu unserer Rechten den Seestrand leuchten, und zu unserer Linken stiegen im Mondlicht gleißend die Marmor-Klippen an. Dazwischen eingebettet streckten sich die Rebenhügel aus, in deren Hängen sich der Pfad verlor. An diese Wege knüpfen sich Erinnerungen an ein helles, staunendes Erwachen, das uns zugleich mit Scheu erfüllte und erheiterte. Es war, als tauchten wir aus der Lebenstiefe an ihre Oberfläche auf. Gleichwie ein Pochen uns aus unserm Schlaf erweckt, fiel da ein Bildnis in das Dunkel unseres Rausches ein — vielleicht das Bockshorn, wie es dort der Bauersmann an hohen Stangen in den Boden seiner Gärten stößt, vielleicht der Uhu, der mit gelben Augen auf dem Firste einer Scheuer saß, oder ein Meteor, das knisternd über das Gewölbe schoß. Stets aber blieben wir wie versteinert stehen, und ein jäher Schauer faßte uns im Blut. Dann schien es uns, als ob ein neuer Sinn, das Land zu schauen, uns verliehen sei; wir blickten wie mit Augen, denen es gegeben ist, das Gold und die Kristalle tief unter der gläsernen Erde in leuchtenden Adern zu sehn. Und dann geschah es, daß sie sich näherten, grau und schattenhaft, die uransässigen Geister des Landes, längst hier beheimatet, bevor die Glocken der Klosterkirche erklangen, und bevor ein Pflug die Scholle brach. Sie näherten sich uns zögernd, mit groben, ~8~

hölzernen Gesichtern, deren Miene in unergründlicher Übereinstimmung heiter und furchtbar war; und wir erblickten sie, mit zugleich erschrockenem und tief gerührtem Herzen. Zuweilen schien es uns, als ob sie sprechen wollten, doch bald entschwanden sie wie Rauch. Schweigend legten wir dann den kurzen Weg zur Rauten-Klause zurück. Wenn das Licht in der Bibliothek aufflammte, sahen wir uns an, und ich erblickte das hohe, strahlende Leuchten in Bruder Othos Gesicht. In diesem Spiegel erkannte ich, daß die Begegnung kein Trug gewesen war. Ohne ein Wort zu wechseln, drückten wir uns die Hand, und ich stieg ins Herbarium hinauf. Auch ferner war von solchem nie die Rede zwischen uns. Oben saß ich noch lange am offenen Fenster in großer Heiterkeit und fühlte von Herzen, wie sich der Lebensstoff in goldenen Fäden von der Spindel wand. Dann stieg die Sonne über Alta Plana auf, und leuchtend erhellten sich die Lande bis an die Grenzen von Burgund. Die wilden Schroffen und Gletscher funkelten in Weiß und Rot, und zitternd formten sich die hohen Ufer im grünen Spiegel der Marina ab. Am spitzen Giebel begannen nun die HausRotschwänzchen ihren Tag und fütterten die zweite Brut, die hungrig zirpte, als würden Messerchen gewetzt. Aus den Schilfgürteln des Sees stiegen Ketten von Enten auf, und in den Gärten pickten Fink und ~9~

Stieglitz die letzten Beeren von den Reben ab. Dann hörte ich, wie die Tür der Bibliothek sich öffnete, und Bruder Otho trat in den Garten, um nach den Lilien zu schauen.

2. Im Frühling aber zechten wir als Narren, wie es dortzulande üblich ist. Wir hüllten uns in bunte Narrenkittel, deren eingefetzter Stoff wie Vogelfedern leuchtete, und setzten die starren SchnabelMasken auf. Dann sprangen wir im Narrenschritte und die Arme wie Flügel schwingend hinab ins Städtchen, auf dessen altem Markte der hohe Narrenbaum errichtet war. Dort fand im Fackelschein der Masken-Aufzug statt; die Männer gingen als Vögel, und die Frauen waren in die Prachtgewänder vergangener Jahrhunderte vermummt. Sie riefen uns mit hoher, verstellter Spieluhr-Stimme Scherzworte zu, und wir erwiderten mit schrillem Vogelschrei. Schon lockten uns aus den Schenken und KüferKellern die Märsche der Feder-Innungen — so die dünnen, stechenden Flöten der Distelfinken, die schwirrenden Zithern der Mauer-Käuze, die röhrenden Baßgeigen der Auerhähne und die quiekenden Handorgeln, mit denen die Wiedehopf-Zunft ihre schändlichen Verse instrumentiert. Bruder Otho und ich gesellten uns den Schwarzspechten zu, ~ 10 ~

bei denen man den Marsch mit Kochlöffeln auf hölzerne Zuber schlägt, und hielten närrischen Rat und Gericht. Hier galt es behutsam zu trinken, denn wir mußten den Wein mit Halmen durch die Nüstern der Schnäbel aus dem Glase ziehen. Wenn uns der Kopf zu rauchen drohte, erfrischte uns ein Streifzug durch die Gärten und Gräben am Ringwalle, auch schwärmten wir auf die Tanzböden aus, oder wir schlugen in der Laube eines Wirtes die Maske auf und speisten in Gesellschaft eines flüchtigen Liebchens aus Buckel-Pfannen ein Gericht von Schnecken auf Burgunder Art. Überall und bis zum Morgengrauen ertönte in diesen Nächten der schrille Vogelruf— in den dunklen Gassen und an der großen Marina, in den Kastanien-Hainen und Weingärten, von den mit Lampionen geschmückten Gondeln auf der dunklen Fläche des Sees und selbst zwischen den hohen Zypressen der Friedhöfe. Und immer, wie sein Echo, hörte man auch den erschreckten, flüchtenden Schrei, der ihn erwiderte. Die Frauen dieses Landes sind schön und voll der spendenden Kraft, die der alte Pulverkopf die schenkende Tugend nennt. Wißt Ihr, nicht die Schmerzen dieses Lebens, doch sein Übermut und seine wilde Fülle bringen, wenn wir uns an sie erinnern, uns den Tränen nah. So liegt dieses Stimmen-Spiel mir tief im Ohre, und vor allem jener unterdrückte Schrei, mit dem Lauretta mir am Wall begegnete. Obwohl ein weißer, gold~ 11 ~

bordierter Reifrock ihre Glieder und die PerlmuttLarve ihr Gesicht verbarg, hatte ich sie an der Art, in der sie schreitend ihre Hüfte bog, im Dunkel der Allee sogleich erkannt, und ich barg mich listig hinter einem Baum. Dann erschreckte ich sie durch das Spechts-Gelächter und verfolgte sie, indem ich mit den weiten, schwarzen Ärmeln flatterte. Oben, wo der Römerstein im Weinland steht, fing ich die Erschöpfte ein, und zitternd preßte ich sie in den Arm, die feuerrote Maske über ihr Gesicht gebeugt. Als ich sie wie träumend und durch Zaubermacht gebannt so in meinem Griffe ruhend fühlte, faßte mich das Mitleid an, und lächelnd streifte ich die VogelLarve auf die Stirn empor. Da begann auch sie zu lächeln, und leise legte sie die Hand auf meinen Mund — leise, daß ich nur den Atem, der durch ihre Finger wehte, in der Stille noch vernahm.

3. Sonst aber lebten wir in unserer Rauten-Klause tagaus, tagein in großer Eingezogenheit. Die Klause stand am Rande der Marmor-Klippen, inmitten einer der Felsen-Inseln, wie man sie hier und dort das Rebenland durchbrechen sieht. Ihr Garten war in schmalen Bänken aus dem Gestein gespart, und an den Rändern seiner locker aufgeführten Mauern hatten sich die wilden Kräuter angesiedelt, wie sie ~ 12 ~

im fetten Weinbergland gedeihen. So blühte im frühen Jahr die blaue Perlen-Traube der MuskatHyazinthe, und im Herbst erfreute uns die Judenkirsche mit ihrer gleich roten Lampionen leuchtenden Frucht. Zu allen Zeiten aber säumten Haus und Garten die silbergrünen Rauten-Büsche, denen bei hohem Sonnenstande wirbelnd ein krauser Duft entstieg. Am Mittag, wenn die große Hitze die Trauben kochte, war es in der Klause erquickend kühl, denn nicht nur waren ihre Böden nach südlicher Manier mit Mosaiken ausgelegt, sondern es ragten manche ihrer Räume auch in den Fels hinein. Doch lag ich um diese Zeit auch gerne auf der Terrasse ausgestreckt und hörte halb im Schlaf dem gläsernen Gesänge der Zikaden zu. Dann fielen die Segelfalter in den Garten ein und flogen die Teller-Blüten der wilden Möhre an, und auf den Klippen sonnten die Perlen-Echsen sich am Stein. Und endlich, wenn der weiße Sand des Schlangen-Pfades in Hochglut flammte, schoben sich langsam die Lanzen-Ottern auf ihn vor, und bald war er von ihnen wie ein Hieroglyphen-Band bedeckt. Wir hegten vor diesen Tieren, die zahlreich in den Klüften und Schrunden der Rauten-Klause hausten, keine Furcht; vielmehr ergötzte uns bei Tage ihr Farbenglanz und nachts das feine, klingende Pfeifen, mit dem sie ihre Liebes-Spiele begleiteten. Oft schritten wir mit leicht gerafften Kleidern über sie ~ 13 ~

hinweg und schoben sie, wenn wir Besuch bekamen, dem vor ihnen graute, mit den Füßen aus dem Weg. Stets aber gingen wir mit unseren Gästen auf dem Schlangen-Pfade Hand in Hand; und oft bemerkte ich dabei, daß ein Gefühl der Freiheit und der tänzerischen Sicherheit, das uns auf dieser Bahn ergriff, sich ihnen mitzuteilen schien. Viel wirkte wohl zusammen, die Tiere so vertraut zu machen, doch hätten wir von ihrem Treiben ohne Lampusa, unsere alte Köchin, kaum geahnt. Lampusa stellte ihnen, solange der Sommer währte, Abend für Abend vor die Felsen-Küche ein Silber-Kesselchen voll Milch; dann lockte sie die Tiere mit dunklem Ruf herbei. Da sah man in den letzten Sonnenstrahlen überall im Garten die goldene Windung leuchten, über der schwarzen Erde der Lilien-Beete und den silbergrünen Rauten-Polstern, und hoch im Hasel- und Holunderstrauch. Dann legten die Tiere, das Zeichen des geflammten Feuer-Rades bildend, sich um das Kesselchen und nahmen die Gabe an. Bei dieser Spende hielt Lampusa schon früh den kleinen Erio auf dem Arm, der ihren Ruf mit seinem Stimmchen begleitete. Wie sehr erstaunte ich indessen, als ich eines Abends, kaum daß es laufen konnte, das Kind das Kesselchen ins Freie schleppen sah. Dort schlug es seinen Rand mit einem BirnholzLöffel, und leuchtend glitten die roten Schlangen aus den Klüften der Marmor-Klippen vor. Und wie ~ 14 ~

im Helltraum hörte ich den kleinen Erio lachen, als er zwischen ihnen auf dem gestampften Lehm des Küchen-Vorhofs stand. Die Tiere umspielten ihn halb aufgerichtet und wiegten über seinem Scheitel in schnellem Pendelschlage die schweren DreiecksKöpfe hin und her. Ich stand auf dem Altan und wagte meinen Erio nicht anzurufen, wie jemand, den man schlafend auf steilen Firsten wandeln sieht. Doch da erblickte ich die Alte vor der Felsen-Küche — Lampusa, die mit gekreuzten Armen lächelte, und es erfaßte mich das herrliche Gefühl der Sicherheit in flammender Gefahr. Seit jenem Abend war es Erio, der uns so das Vesper-Glöcklein läutete. Wenn wir den Klang des Kesselchens vernahmen, legten wir die Arbeit nieder, um uns am Anblick seiner Spende zu erfreuen. Bruder Otho eilte aus seiner Bibliothek und ich aus dem Herbarium auf den inneren Altan, und auch Lampusa trat vom Herd hinzu und lauschte dem Kinde mit stolzem, zärtlichem Gesicht. Wir pflegten uns dann an seinem Eifer zu ergötzen, mit dem es die Tiere in Ordnung hielt. Bald konnte Erio ein jedes bei Namen nennen und trippelte mit seinem Röckchen aus blauem, goldgefaßtem Sammet in ihrem Kreis umher. Auch achtete er sehr darauf, daß alle von der Milch bekamen und schaffte für die Nachzüglerinnen Raum am Kesselchen. Dann pochte er diese oder jene der Trinkerinnen mit seinem Birnholz-Löffel auf den Kopf, oder er packte sie, wenn ~ 15 ~

sie nicht schnell genug den Platz verließen, am Nacken-Ansatz und zerrte sie mit aller Kraft hinweg. Wie derb er sie indes auch fassen mochte, immer blieben die Tiere gegen ihn ganz sanft und zahm, selbst in der Häutung, wo sie sehr empfindlich sind. So lassen während dieser Zeit die Hirten ihr Vieh nicht bei den Marmor-Klippen auf die Weide gehen, denn ein gezielter Biß fällt selbst den stärksten Stier mit Blitzes Kraft. Vor allem liebte Erio das größte, schönste Tier, das Bruder Otho und ich die Greifin nannten, und das, wie wir aus Sagen der Wingerts-Bauern schlossen, seit alten Zeiten in den Klüften saß. Der Körper der Lanzen-Ottern ist metallisch rot, und häufig sind Schuppen von hellem Messing-Glanze in sein Muster eingesprengt. Bei dieser Greifin war jedoch der reine, makellose Goldschein ausgeprägt, der sich am Kopfe nach Juwelen-Art zugleich ins Grüne wandte und an Leuchtkraft steigerte. Auch konnte sie im Zorn den Hals zum Schilde dehnen, der wie ein goldener Spiegel im Angriff funkelte. Es schien, daß ihr die anderen Respekt erwiesen, denn keine rührte an das Kesselchen, bevor die Goldene ihren Durst gestillt. Dann sahen wir, wie Erio mit ihr scherzte, während sie, wie manchmal Katzen tun, den spitzen Kopf an seinem Röckchen rieb. Nach diesem trug Lampusa uns zur Vesper auf, zwei Becher des geringen Weines und zwei Scheiben vom dunklen, salzigen Brot. ~ 16 ~

4. Von der Terrasse schritt man durch eine Glastür in die Bibliothek. In schönen Morgenstunden stand diese Türe weit geöffnet, so daß Bruder Otho an seinem großen Tische wie in einem Teil des Gartens saß. Ich trat stets gern in dieses Zimmer ein, an dessen Decke grüne, laubige Schatten spielten, und in dessen Stille das Zirpen der jungen Vögel und das nahe Summen der Bienen drang. Am Fenster trug eine Staffelei das große Zeichenbrett, und an den Wänden türmten sich bis zur Decke die Bücher-Reihen an. Die unterste von ihnen stand in einem hohen Fache, das für die Folianten zugeschnitten war — für den großen Hortus Plantarum Mundi und mit der Hand illuminierte Werke, wie man sie nicht mehr druckt. Darüber sprangen die Repositorien vor, die sich durch Schübe noch verbreitern ließen — mit flüchtigen Papieren und vergilbten Herbarien-Blättern überdeckt. Auch nahmen ihre dunklen Tafeln eine Sammlung von in Stein gepreßten Pflanzen auf, die wir in Kalk- und Kohlengruben ausgemeißelt hatten, dazwischen mancherlei Kristalle, wie man sie als Zierat ausstellt oder auch bei sinnendem Gespräche in den Händen wiegt. Darüber stiegen dann die kleinen Bände an — ein nicht sehr ausgedehnter botanischer Bestand, doch lückenlos in allem, was je über die Lilien erschien. Auch strahlte dieser Teil der Bücherei noch in drei allgemeine Zweige aus — in ~ 17 ~

Werke, die sich mit der Gestalt, der Farbe und dem Duft beschäftigten. Die Bücher-Reihen setzten sich noch in der kleinen Halle fort, und sie begleiteten die Treppe, die nach oben führte, bis an das Herbarium. Hier standen die Kirchenväter, die Denker und die klassischen Autoren der alten und der neuen Zeit, und vor allem eine Sammlung von Wörterbüchern und Enzyklopädien aller Art. Am Abend traf ich mich mit Bruder Otho in der kleinen Halle, wo im Kamin ein Feuerchen aus dürrem Rebholz flackerte. Wenn über Tag die Arbeit gut gediehen war, dann pflegten wir uns durch jene lässigere Unterhaltung zu zerstreuen, bei der man aufgebahnten Wegen schreitet und Daten und Autoritäten anerkennt. Wir scherzten mit den Quisquilien des Wissens und mit dem seltenen oder das Absurde streifenden Zitat. Bei diesen Spielen kam uns die Legion der stummen, in Leder oder Pergament geschnürten Sklaven gut zupaß. Meist stieg ich früh in das Herbarium hinauf und setzte dort bis über Mitternacht die Arbeit fort. Bei unserm Einzug hatten wir den Boden gut mit Holz verschalen lassen und lange Reihen von Schränken in ihm aufgestellt. In ihren Fächern häuften sich zu Tausenden die Bündel der Herbarien-Blätter auf. Sie waren nur zum kleinsten Teil von uns gesammelt und stammten meist von längst verdorrter Hand. Zuweilen, wenn ich eine Pflanze suchte, stieß ~ 18 ~

ich sogar auf von der Zeit gebräunte Bogen, deren verblaßte Signatur vom hohen Meister Linnaeus selbst geschrieben war. In diesen Nacht- und Morgenstunden führte und vermehrte ich auf vielen Zetteln die Register — einmal den großen NamensKatalog der Sammlung und sodann die Kleine Flora, in der wir alle Funde im Gebiete der Marina sorgsam verzeichneten. Am andern Tage sah Bruder Otho dann an Hand der Bücher die Zettel ein, und viele wurden von ihm noch bezeichnet und koloriert. So wuchs ein Werk heran, das uns schon im Entstehen viel Genuß bereitete. Wenn wir zufrieden sind, genügen unseren Sinnen auch die kärgsten Spenden dieser Welt. Von jeher hatte ich das Pflanzenreich verehrt und seinen Wundern in vielen Wanderjahren nachgespürt. Und wohl war mir der Augenblick vertraut, in dem der Herzschlag stockt, wenn wir in der Entfaltung die Geheimnisse erahnen, die jedes Samenkorn in sich verbirgt. Dennoch war mir die Pracht des Wachstums niemals näher als auf diesem Boden, den ein Ruch von längst verwelktem Grün durchwitterte. Bevor ich mich zur Ruhe legte, schritt ich noch ein wenig in seinem schmalen Mittelgange auf und ab. Oft glaubte ich in diesen Mitternächten, die Pflanzen leuchtender und herrlicher als jemals sonst zu sehen. Auch spürte ich von fern den Duft der weißbesternten Dornen-Täler, den ich im WinterFrühling von Arabia deserta trank, und den Va~ 19 ~

nille-Hauch, der in der schattenlosen Glut der Kandelaber-Wälder den Wanderer erquickt. Dann wieder schlugen sich wie Seiten eines alten Buches Erinnerungen an Stunden des wilden Überflusses auf — an heiße Sümpfe, in denen die Victoria regia blühte, und Meeres-Haine, wie man sie auf bleichen Stelzen weit vor den Palmen-Küsten im Mittag schwelen sieht. Doch fehlte mir die Furcht, die uns ergreift, wo immer wir dem Übermaß des Wachstums gegenüberstehen wie einem Götterbild, das tausendarmig lockt. Ich fühlte, wie mit unseren Studien zugleich die Kräfte wuchsen, den heißen Lebensmächten standzuhalten und sie zu bändigen, so wie man Rosse am Zügel führt. Oft graute schon der Morgen, ehe ich mich auf das schmale Feldbett streckte, das im Herbarium aufgeschlagen war.

5. Lampusas Küche ragte in den Marmorfels hinein. Dergleichen Höhlen boten in alten Zeiten den Hirten Schutz und Unterkunft und wurden später gleich Zyklopen-Kammern in die Gehöfte eingebaut. Schon früh, wenn sie das Morgen-Süppchen für Erio kochte, sah man die Alte am Feuer stehen. Dem Herdraum schlossen sich noch tiefere Gewölbe an, in denen es nach Milch, nach Früchten und ausgetropften Weinen roch. Ich trat nur selten in diesen ~ 20 ~

Teil der Rauten-Klause ein, da mir Lampusas Nähe ein beklommenes Gefühl erweckte, das ich gern vermied. Dafür war Erio hier mit jedem Winkelchen vertraut. Auch Bruder Otho sah ich oftmals bei der Alten am Feuer stehen. Ihm war das Glück wohl zu verdanken, das mir mit Erio, dem Kind der Liebe von Silvia, Lampusas Tochter, zuteil geworden war. Wir taten damals bei den Purpur-Reitern Dienst im Feldzug, der den freien Völkern von Alta Plana galt, und der dann scheiterte. Oft, wenn wir zu den Pässen ritten, sahen wir Lampusa vor ihrer Hütte stehen und neben ihr die schlanke Silvia im roten Kopftuch und im roten Rock. Bruder Otho war neben mir, als ich die Nelke, die Silvia aus ihrem Haar genommen und in den Weg geworfen hatte, aus dem Staube hob, und warnte mich im Weiterreiten vor der alten und vor der jungen Hexe — spöttisch, und mit besorgtem Unterton. Doch mehr verdroß mich noch das Lachen, mit dem Lampusa mich gemustert hatte, und das ich als schamlos kupplerisch empfand. Und doch ging ich in ihrer Hütte bald ein und aus. Als wir nach unserem Abschied an die Marina wiederkehrten und in die Rauten-Klause zogen, erfuhren wir von der Geburt des Kindes und auch davon, daß Silvia es zurückgelassen hatte und mit fremdem Volke davongegangen war. Die Nachricht kam mir ungelegen — vor allem, da sie mich am Be~ 21 ~

ginne eines Abschnitts traf, der nach den Plagen der Kampagne den stillen Studien vorbehalten war. Daher erteilte ich Bruder Otho Vollmacht, Lampusa aufzusuchen, um mit ihr zu sprechen und ihr zuzubilligen, was ihm angemessen schien. Wie sehr erstaunte ich indessen, als ich erfuhr, daß er das Kind und sie sogleich in unseren Haushalt aufgenommen hatte; und doch erwies sich dieser Schritt sehr bald als für uns alle segensreich. Und wie man eine rechte Handlung insonderheit daran erkennt, daß in ihr auch das Vergangene sich rundet, so leuchtete auch Silvias Liebe mir in einem neuen Licht. Ich erkannte, daß ich sie und ihre Mutter mit Vorurteil betrachtet, und daß ich sie, weil ich sie leicht gefunden, auch allzu leicht behandelt hatte, wie man den Edelstein, der offen am Wege leuchtet, als Glas ansieht. Und doch kommt alles Köstliche uns nur durch Zufall zu — das Beste ist umsonst. Freilich bedurfte es, die Dinge so ins Lot zu bringen, der Unbefangenheit, die Bruder Otho eigentümlich war. Sein Grundsatz war es, die Menschen, die sich uns näherten, wie seltene Funde zu behandeln, die man auf einer Wanderung entdeckt. Auch nannte er die Menschen gern die Optimaten, um anzudeuten, daß alle zum eingeborenen Adel dieser Welt zu zählen sind, und daß ein jeder von ihnen uns das Höchste spenden kann. Er erfaßte sie als Gefäße des Wunderbaren und erkannte ihnen als hohen Bildern Fürsten-Rechte zu. Und wirklich ~ 22 ~

sah ich alle, die ihm nahe kamen, sich entfalten wie Pflanzen, die aus dem Winterschlaf erwachen — nicht daß sie besser wurden, doch sie wurden mehr sie selbst. Lampusa nahm sich gleich nach ihrem Einzug der Wirtschaft an. Die Arbeit ging ihr leicht vonstatten, und auch im Garten hatte sie keine dürre Hand. Während Bruder Otho und ich streng nach der Regel pflanzten, verscharrte sie die Samen flüchtig und ließ das Unkraut wuchern, wie es ihm gefiel. Und doch zog sie mit leichter Mühe das Dreifache von unseren Saaten und von unserer Frucht. Oft sah ich, wie sie spöttisch lächelnd auf unseren Beeten die ovalen Täfelchen aus Porzellan betrachtete, auf denen Art und Gattung zu lesen war, von Bruder Otho in feiner Etiketten-Schrift gemalt. Dabei entblößte sie wie einen Hauer den letzten großen Schneidezahn, der ihr geblieben war. Obwohl ich sie nach Erios Weise Altmutter nannte, sprach sie zu mir fast nur von WirtschaftsDingen, und oft recht närrisch, wie Schaffnerinnen tun. Auch Silvias Name fiel niemals zwischen uns. Trotzdem sah ich es ungern, daß Lauretta am andern Abend nach jener Nacht am Walle mich abzuholen kam. Und dennoch erwies sich gerade hier die Alte besonders aufgeräumt und holte eilig Wein, Morsellen und süße Kuchen zum Empfang. An Erio empfand ich den natürlichen Genuß der Vaterschaft, sowie den geistigen der Adoption. Wir ~ 23 ~

liebten seinen stillen, aufmerksamen Sinn. Wie alle Kinder die Geschäfte nachzuahmen pflegen, die sie in ihrer kleinen Welt erblicken, so wandte er sich früh den Pflanzen zu. Oft sahen wir ihn lange auf der Terrasse sitzen, um eine Lilie zu betrachten, die vor der Entfaltung stand, und wenn sie sich geöffnet hatte, eilte er in die Bibliothek, um Bruder Otho mit der Nachricht zu erfreuen. Desgleichen stand er in der Frühe gerne vor dem Marmor-Becken, in dem wir Wasser-Rosen aus Zipangu zogen, deren Blütenhüllen der erste Sonnenstrahl mit einem zarten Laute sprengt. Auch im Herbarium hatte ich ein Stühlchen für ihn stehen — er saß dort oft und schaute mir bei der Arbeit zu. Wenn ich ihn still an meiner Seite spürte, fühlte ich mich erquickt, als trügen durch die tiefe, heitere Lebensflamme, die in dem kleinen Körper brannte, die Dinge einen neuen Schein. Auch war es mir, als ob die Tiere seine Nähe suchten — so sah ich immer, wenn ich ihn im Garten traf, die roten Käfer um ihn fliegen, die beim Volke die Frigga-Hähnchen heißen; sie liefen über seine Hände und umspielten ihm das Haar. Sehr seltsam war auch, daß die Lanzen-Ottern auf Lampusas Ruf das Kesselchen im glühenden Geflecht umringten, während sie bei Erio die Figur der StrahlenScheibe bildeten. Bruder Otho hatte das zuerst bemerkt. So war es denn gekommen, daß unser Leben sich von den Plänen, die wir gesponnen hatten, unter~ 24 ~

schied. Doch merkten wir, daß dieser Unterschied der Arbeit günstig war.

6. Wir waren mit dem Plan gekommen, uns von Grund auf mit den Pflanzen zu beschäftigen, und fingen daher mit der altbewährten Ordnung des Geistes durch Atmung und Ernährung an. Wie alle Dinge dieser Erde wollen auch die Pflanzen zu uns sprechen, doch bedarf es des klaren Sinnes, um ihre Sprache zu verstehen. Wenngleich in ihrem Keimen, Blühen und Vergehen ein Trug sich birgt, dem kein Erschaffener entrinnt, so ist sehr wohl zu ahnen, was unveränderlich im Schreine der Erscheinung eingeschlossen ist. Die Kunst, sich so den Blick zu schärfen, nannte Bruder Otho „die Zeit absaugen“ — doch er meinte, daß die reine Leere diesseits des Todes unerreichbar sei. Nachdem wir eingezogen waren, bemerkten wir, daß unser Thema, beinahe gegen unseren Willen, sich erweiterte. Vielleicht war es die starke Luft der Rauten-Klause, die unserem Denken eine neue Richtung gab, gleichwie im reinen Sauerstoff die Flamme steiler und heller brennt. So schien es mir bereits nach kurzen Wochen, als ob die Gegenstände sich veränderten — und die Veränderung nahm ich zunächst als Mangel wahr, insofern als die Sprache mich nicht mehr befriedigte. ~ 25 ~

Eines Morgens, als ich von der Terrasse aus auf die Marina blickte, erschienen ihre Wasser mir tiefer und leuchtender, als ob ich sie zum ersten Male mit ungetrübtem Sinn betrachtete. Im gleichen Augenblicke fühlte ich, fast schmerzhaft, wie das Wort von den Erscheinungen sich löste, so wie die Sehne vom allzu straff gespannten Bogen springt. Ich hatte ein Stückchen vom Iris-Schleier dieser Welt gesehen, und von Stund an leistete die Zunge mir nicht mehr den gewohnten Dienst. Doch zog zugleich ein neues Wach-Sein in mich ein. Wie Kinder, wenn das Licht sich aus dem Inneren ihrer Augen nach außen wendet, mit den Händen tastend greifen, so suchte ich nach Worten und nach Bildern, um den neuen Glanz der Dinge zu erfassen, der mich blendete. Ich hatte nie zuvor geahnt, daß Sprechen solche Qual bereiten kann, und dennoch sehnte ich mich nach dem unbefangeneren Leben nicht zurück. Wenn wir wähnen, daß wir eines Tages fliegen könnten, ist der unbeholfene Sprung uns teurer als die Sicherheit auf vorgebahntem Weg. So erklärt sich wohl auch ein Gefühl des Schwindels, das mich oft bei diesem Tun ergriff. Leicht kommt es, daß auf unbekannten Bahnen uns das Maß verlorengeht. So war es ein Glück, daß Bruder Otho mich begleitete, und daß er behutsam mit mir vorwärtsschritt. Oft, wenn ich ein Wort ergründet hatte, eilte ich, die Feder in der Hand, zu ihm hinunter, und oft stieg er mit gleicher Botschaft ~ 26 ~

in das Herbarium herauf. Auch liebten wir, Gebilde zu erzeugen, die wir Modelle nannten — wir schrieben in leichten Metren drei, vier Sätze auf ein Zettelchen. In ihnen galt es, einen Splitter vom Mosaik der Welt zu fassen, so wie man Steine in Metalle faßt. Auch bei den Modellen waren wir von den Pflanzen ausgegangen und setzten immer weiter daran an. Auf diese Weise beschrieben wir die Dinge und die Verwandlungen, vom Sandkorn bis zur Marmor-Klippe und von der flüchtigen Sekunde bis zur Jahreszeit. Am Abend steckten wir uns diese Zettel zu, und wenn wir sie gelesen hatten, verbrannten wir sie im Kamin. Bald spürten wir, wie uns das Leben förderte, und wie uns eine neue Sicherheit ergriff. Das Wort ist König und Zauberer zugleich. Wir gingen vom hohen Beispiel des Linnaeus aus, der mit dem Marschallstab des Wortes in das Chaos der Tier- und Pflanzenwelt getreten war. Und wunderbarer als alle Reiche, die das Schwert erstritt, währt seine Herrschaft über BlütenWiesen und die namenlosen Legionen des Gewürms. So trieb auch uns die Ahnung, daß in den Elementen Ordnung waltet, an. Auch fühlt der Mensch den Trieb, die Schöpfung mit seinem schwachen Geiste nachzubilden, so wie der Vogel den Trieb zum Nester-Bauen hegt. Was unsere Mühen dann überreich belohnte, das war die Einsicht, daß Maß und Regel in den Zufall und in die Wirren dieser Erde unvergänglich eingebettet sind. Im Steigen nähern ~ 27 ~

wir uns dem Geheimnis, das der Staub verbirgt. So schwindet in den Bergen mit jedem Schritt, den wir gewinnen, das Zufalls-Muster des Horizontes ein, und wenn wir hoch genug gestiegen sind, umschließt uns überall, wo wir auch stehen, der reine Ring, der uns der Ewigkeit verlobt. Wohl blieb es Lehrlings-Arbeit und Buchstabieren, was wir so verrichteten. Und doch empfanden wir Gewinn an Heiterkeit, wie jeder, der nicht am Gemeinen haften bleibt. Das Land um die Marina verlor das Blendende, und trat doch klarer, trat more geometrico hervor. Die Tage flossen, wie unter hohen Wehren, schneller und kräftiger dahin. Zuweilen, wenn der Westwind wehte, spürten wir eine Ahnung vom Genuß der schattenlosen Fröhlichkeit. Vor allem aber verloren wir ein wenig von jener Furcht, die uns beängstigt, und wie Nebel, die aus den Sümpfen steigen, den Sinn verwirrt. So kam es denn, daß wir die Arbeit nicht im Stiche ließen, als der Oberförster in unserem Gebiet an Macht gewann, und als der Schrecken sich verbreitete.

7. Der Oberförster war uns seit langem als Alter Herr der Mauretania bekannt. Wir hatten ihn auf den Conventen oft gesehen und manche Nacht mit ihm beim Spiel gesessen und gezecht. Er zählte zu den Gestalten, die bei den Mauretaniern zu~ 28 ~

gleich als große Herren angesehen und als ein wenig ridikül empfunden werden — so wie man etwa einen alten Oberst der Landwehr-Kavallerie, der hin und wieder von seinen Gütern kommt, beim Regiment empfängt. Er prägte sich im Gedächtnis ein, schon weil sein grüner, mit goldenen Ilex-Blättern bestickter Frack die Blicke auf ihn richtete. Sein Reichtum galt als ungeheuer, und auf den Festen, die er in seinem Stadthaus feierte, regierte Überfluß. Es wurde dort nach alter Sitte derb gegessen und getrunken, und die Eichenplatte des großen Spieltischs bog sich unter goldener Last. Auch waren die asiatischen Partien, die er den Adepten in seinen kleinen Villen gab, berühmt. So fand ich oft Gelegenheit, ihn nah zu sehen, und mich berührte ein Hauch von alter Macht, der ihn von seinen Wäldern her umwitterte. Damals empfand ich auch das Starre an seinem Wesen kaum als störend, denn alle Mauretanier nehmen im Lauf der Zeit den automatischen Charakter an. Vor allem in den Blikken tritt dieser Zug hervor. So lag auch in den Augen des Oberförsters, besonders wenn er lachte, der Schimmer einer fürchterlichen Jovialität. Sie waren, wie bei alten Trinkern, von einem roten Hauche überflammt, doch lag in ihnen zugleich ein Ausdruck von List und unerschütterlicher Kraft — ja, zuweilen von Souveränität. Damals war seine Nähe uns angenehm — wir lebten im Übermute und an den Tafeln der Mächtigen der Welt. ~ 29 ~

Ich hörte später Bruder Otho über unsere Mauretanier-Zeiten sagen, daß ein Irrtum erst dann zum Fehler würde, wenn man in ihm beharrt. Das Wort erschien mir um so wahrer, wenn ich an die Lage dachte, in der wir uns befanden, als dieser Orden uns an sich zog. Es gibt Epochen des Niederganges, in denen sich die Form verwischt, die innerst dem Leben vorgezeichnet ist. Wenn wir in sie geraten, taumeln wir als Wesen, die des Gleichgewichts ermangeln, hin und her. Wir sinken aus dumpfen Freuden in den dumpfen Schmerz, auch spiegelt ein Bewußtsein des Verlustes, das uns stets belebt, uns Zukunft und Vergangenheit verlockender. So weben wir in abgeschiednen Zeiten oder in fernen Utopien, indes der Augenblick verfließt. Sobald wir dieses Mangels innewurden, strebten wir aus ihm hinaus. Wir spürten Sehnsucht nach Präsenz, nach Wirklichkeit und wären in das Eis, das Feuer und den Äther eingedrungen, um uns der Langeweile zu entziehen. Wie immer, wo der Zweifel sich mit Fülle paart, bekehrten wir uns zur Gewalt — und ist nicht sie das ewige Pendel, das die Zeiger vorwärtstreibt, sei es bei Tage, sei es in der Nacht? Also begannen wir, von Macht und Übermacht zu träumen und von den Formen, die sich kühn geordnet im tödlichen Gefecht des Lebens aufeinander zubewegen, sei es zum Untergange, sei es zum Triumph. Und wir studierten sie mit Lust, wie man die Ätzungen betrachtet, die eine Säure ~ 30 ~

auf den dunklen Spiegeln geschliffener Metalle niederschlägt. Bei solcher Neigung war es unvermeidlich, daß Mauretanier sich uns näherten. Wir wurden durch den Capitano, der den großen Aufstand in den Iberischen Provinzen erledigt hatte, eingeführt. Wer die Geschichte der geheimen Orden kennt, der weiß, daß sich ihr Umfang schwierig schätzen läßt. Desgleichen ist die Fruchtbarkeit bekannt, mit der sie Zweige und Kolonien bilden, so daß man, wenn man ihren Spuren folgt, sich bald in einem Labyrinth verliert. Das traf auch für die Mauretanier zu. Besonders seltsam war es für den Neuling, wenn er in ihren Räumen Angehörige von Gruppen, die sich tödlich haßten, im friedlichen Gespräche sah. Zu den Zielen der Mauretanier zählte auch die artistische Behandlung der Geschäfte dieser Welt. Sie verlangten, daß die Macht ganz ohne Leidenschaft und göttergleich gehandhabt würde, und entsprechend sandten ihre Schulen einen Schlag von klaren, freien und stets fürchterlichen Geistern aus. Gleichviel, ob sie innerhalb des Aufruhrs oder an der Ordnung tätig waren — wo sie siegten, siegten sie als Mauretanier, und das stolze „Semper victrix“ dieses Ordens galt nicht seinen Gliedern, sondern seinem Haupte, der Doktrin. Mitten in der Zeit und ihren wilden Läufen stand er unerschütterlich, und in seinen Residenzen und Palästen setzte man den Fuß auf festen Grund. ~ 31 ~

Doch es war nicht der Genuß der Ruhe, was uns gerne dort verweilen ließ. Wenn der Mensch den Halt verliert, beginnt die Furcht ihn zu regieren, und in ihren Wirbeln treibt er blind dahin. Bei den Mauretaniern aber herrschte unberührte Stille wie im Zentrum des Zyklons. Wenn man in den Abgrund stürzt, soll man die Dinge in dem letzten Grad der Klarheit wie durch überschärfte Gläser sehen. Diesen Blick, doch ohne Furcht, gewann man in der Luft der Mauretania, die von Grund auf böse war. Gerade, wenn der Schrecken herrschte, nahm die Kühle der Gedanken und die geistige Entfernung zu. Bei den Katastrophen herrschte gute Laune, und man pflegte über sie zu scherzen wie die Pächter einer Spielbank über die Verluste ihrer Klientel. Damals wurde es mir deutlich, daß die Panik, deren Schatten immer über unseren großen Städten lagern, ihr Pendant im kühnen Übermut der Wenigen besitzt, die gleich Adlern über dumpfem Leiden kreisen. Einmal, als wir mit dem Capitano tranken, blickte er in den betauten Kelch wie in ein Glas, in dem vergangene Zeiten sich erschließen, und meinte träumend: „Kein Glas Sekt war köstlicher als jenes, das man uns an die Maschinen reichte in der Nacht, da wir Sagunt zu Asche brannten.“ Und wir dachten: Lieber noch mit diesem stürzen, als mit jenen leben, die die Furcht im Staub zu kriechen zwingt. Doch ich schweife ab. Bei den Mauretaniern konnte man die Spiele lernen, die den Geist, den ~ 32 ~

nichts mehr bindet, und der selbst des Spottes müde wurde, noch erfreuen. Bei ihnen schmolz die Welt zur Karte ein, wie man sie für Amateure sticht, mit Zirkelchen und blanken Instrumenten, die man mit Genuß berührt. Daher schien es sonderbar, daß man in diesem hellen, schattenlosen und abstraktesten der Räume auf Figuren wie den Oberförster stieß. Dennoch werden immer, wenn der freie Geist sich Herrschafts-Sitze gründet, auch die Autochthonen sich ihm zugesellen, wie die Schlange zu den offenen Feuern kriecht. Sie sind die alten Kenner der Macht und sehen eine neue Stunde tagen, die Tyrannis wieder aufzurichten, die seit Anbeginn in ihren Herzen lebt. So entstehen in den großen Orden die geheimen Gänge und Gewölbe, deren Führung kein Historiker errät. So entstehen auch die feinsten Kämpfe, die im Inneren der Macht entbrennen. Kämpfe zwischen Bildern und Gedanken, Kämpfe zwischen den Idolen und dem Geist. In solchen Zwisten mußte mancher schon erfahren, wo die List der Erde ihren Ursprung hat. So war es auch mir ergangen, als ich, um nach dem verschollenen Fortunio zu suchen, in das Jagdgebiet des Oberförsters eingedrungen war. Seit jenen Tagen kannte ich die Grenzen, die dem Übermut gezogen sind, und vermied, den dunklen Saum der Forsten zu betreten, die der Alte seinen „Teutoburger Wald“ zu nennen liebte, wie er überhaupt in vorgespielter, schlingenreicher Biederkeit ein Meister war. ~ 33 ~

8. Als ich nach Fortunio suchte, war ich in den Nordrand dieser Wälder eingedrungen, während unsere Rauten-Klause unweit ihres Südpunkts lag, der das Burgundische berührt. Bei unserer Rückkehr fanden wir die alte Ordnung an der Marina nur gleich einem Schatten vor. Bis dahin hatte sie fast seit Carolus Zeiten unversehrt gewaltet, denn ob fremde Herren kamen oder gingen, immer blieb das Volk, das dort die Reben zieht, bei Sitte und Gesetz. Auch ließen Reichtum und Köstlichkeit des Bodens ein jedes Regiment sich bald zur Milde wenden, ob es auch hart begann. So wirkt die Schönheit auf die Macht. Der Krieg vor Alta Plana aber, den man führte, wie man gegen Türken kämpft, schnitt tiefer ein. Er heerte gleich einem Frost, der in den Bäumen das Kernholz sprengt, und dessen Wirkung oft erst nach Jahren sichtbar wird. So lief an der Marina das Leben im Kreislauf fort. Es war das alte, und war doch zugleich das alte nicht. Zuweilen, wenn wir auf der Terrasse standen und auf den Blütenkranz der Gärten blickten, verspürten wir den Hauch versteckter Müdigkeit und Anarchie. Und gerade dann berührte die Schönheit dieses Landes uns bis zum Schmerz. So leuchten, bevor die Sonne scheidet, die Lebensfarben noch gewaltig auf. In diesen ersten Zeiten hörten wir vom Oberförster kaum. Doch seltsam war es, wie er im gleichen Maße, in dem die Schwächung zunahm und die ~ 34 ~

Wirklichkeit entschwand, sich näherte. Zunächst vernahm man nur Gerüchte, wie eine Seuche, die in fernen Häfen wütet, sich dunkel anzukünden pflegt. Sodann verbreiteten sich Meldungen von nahen Übergriffen und Gewaltsamkeiten, die von Mund zu Munde gingen, und endlich geschahen solche Taten ganz unverhüllt und offenbar. So wie im Bergland ein dichter Nebel die Wetter kündet, ging dem Oberförster eine Wolke von Furcht voraus. Die Furcht verhüllte ihn, und ich bin überzeugt, daß darin seine Kraft weit mehr als in ihm selbst zu suchen war. Er konnte erst wirken, wenn die Dinge aus sich selbst heraus ins Wanken kamen — dann aber lagen seine Wälder günstig für den Zugriff auf das Land. Wenn man die Höhe der Marmor-Klippen erstieg, war das Gebiet, darin er die Gewalt erstrebte, in seinem vollen Umfang einzusehen. Um auf die Zinne zu gelangen, pflegten wir die schmale Treppe zu erklimmen, die bei Lampusas Küche in den Fels geschlagen war. Die Stufen waren vom Regen ausgewaschen und führten auf eine vorgeschobene Platte, von der man weithin in die Runde sah. Hier weilten wir manche Sonnen-Stunde, wenn die Klippen in bunten Lichtern strahlten, denn wo am blendend weißen Fels die Sickerwässer nagten, da waren rote und falbe Fahnen in ihn eingesprengt. Auch fiel in mächtigen Behängen das dunkle EfeuLaub von ihm herab, und in den feuchten Schrunden funkelten die Silberblätter der Lunaria. ~ 35 ~

Beim Aufstieg streifte unser Fuß die roten Brombeer-Ranken und schreckte die Perlen-Echsen auf, die sich grünleuchtend auf die Zinnen flüchteten. Dort wo der fette, mit blauem Enzian gesternte Rasen überhing, waren von Kristallen gesäumte Drusen in den Fels gebettet, in deren Höhlen die Käuzchen träumend blinzelten. Auch nisteten die schnellen, rostbraunen Falken dort; wir schritten so nah an ihrer Brut vorbei, daß wir die Nüstern in ihren Schnäbeln sahen, die eine feine Haut gleich blauem Wachse überzog. Hier auf der Zinne war die Luft erquickender als unten im Kessel, wo die Reben im Glaste zitterten. Zuweilen preßte die Hitze einen Windschwall hoch, der in den Schrunden sich melodisch wie in Orgelpfeifen fing und Spuren von Rosen, Mandeln und Melisse mit sich trug. Von unserem Felsensitze sahen wir das Dach der Rauten-Klause nun tief unter uns. Im Süden, jenseits der Marina, ragte im Schutze seiner Gletscher-Gürtel das freie Bergland von Alta Plana auf. Oft waren seine Gipfel vom Dunst, der aus dem Wasser stieg, verhüllt, dann wieder war die Luft so rein, daß wir die Zirbel-Hölzer unterschieden, die dort bis hoch in die Gerölle vorgeschoben sind. An solchen Tagen spürten wir den Föhn und löschten im Haus die Feuer über Nacht. Oft ruhte unser Blick auch auf den Inseln der Marina, die wir im Scherz die Hesperiden nannten, und an deren Ufern Zypressen dunkelten. Im streng~ 36 ~

sten Winter kennt man auf ihnen weder Frost noch Schnee; die Feigen und Orangen reifen in freier Luft, die Rosen tragen das ganze Jahr. Zur Zeit der Mandel- und der Aprikosenblüte läßt sich das Volk an der Marina gern hinüberrudern; sie schwimmen dann wie helle Blumenblätter auf der blauen Flut. Im Herbst dagegen schifft man sich ein, um dort den Peters-Fisch zu speisen, der in gewissen Vollmond-Nächten aus großer Tiefe zur Oberfläche steigt und überreich die Netze füllt. Die Fischer pflegen ihm schweigend nachzustellen, denn sie meinen, daß selbst ein leises Wort ihn schreckt, und daß ein Fluch den Fang verdirbt. Auf diesen Fahrten zum Peters-Fisch ging es stets fröhlich zu; und man versorgte sich mit Wein und Brot, da auf den Inseln die Rebe nicht gedeiht. Es fehlen dort die kühlen Nächte im Herbst, in denen der Tau sich auf die Trauben schlägt, und wo ihr Feuer durch eine Ahnung des Unterganges an Geist gewinnt. An solchen Feiertagen mußte man auf die Marina blicken, um zu ahnen, was Leben heißt. Am frühen Morgen drang die Fülle der Geräusche hier herauf — ganz fein und deutlich, wie man Dinge im umgekehrten Fernrohr sieht. Wir hörten die Glocken in den Städten und die Böller, die den bekränzten Schiffen in den Häfen Salut erwiesen, dann wieder die Gesänge frommer Scharen, die zu den WunderBildern wallten, und den Ton der Flöten vor einem Hochzeitszug. Wir hörten das Lärmen der Dohlen ~ 37 ~

um die Wetterfahnen, den Hahnenschrei, den Kuckucksruf, den Klang der Hörner, wie sie die Jägerburschen blasen, wenn es zur Reiher-Beize aus dem Burgtor geht. So wunderlich klang alles dies herauf, so närrisch, als sei die Welt aus buntem Schelmen-Tuch gestückt — doch auch berauschend wie Wein am frühen Tag. Tief unten säumte die Marina ein Kranz von kleinen Städten mit Mauern und Mauertürmen aus Römer-Zeiten, hoch von altersgrauen Domen und Merowinger-Schlössern überragt. Dazwischen lagen die fetten Weiler, um deren Firsten Tauben-Schwärme kreisten, und die von Moos begrünten Mühlen, zu denen man im Herbst die Esel mit den MalterSäcken traben sah. Dann wieder Burgen, auf hohen Felsen-Spitzen eingenistet, und Klöster, um deren dunkle Mauer-Ringe das Licht in Karpfenteichen wie in Spiegeln funkelte. Wenn wir vom hohen Sitze auf die Stätten schauten, wie sie der Mensch zum Schutz, zur Lust, zur Nahrung und Verehrung sich errichtet, dann schmolzen die Zeiten vor unserm Auge innig ineinander ein. Und wie aus offenen Schreinen traten die Toten unsichtbar hervor. Sie sind uns immer nah, wo unser Blick voll Liebe auf altbebautem Lande ruht, und wie in Stein und Ackerfurchen ihr Erbe lebt, so waltet ihr treuer Ahnen-Geist in Feld und Flur. In unserm Rücken, gegen Norden, grenzte die Campagna an; sie wurde von der Marina durch die ~ 38 ~

Marmor-Klippen wie durch einen Wall getrennt. Im Frühling dehnte dieser Wiesengürtel sich als ein hoher Blumen-Teppich aus, in dem die Rinderherden langsam weideten, wie schwimmend im bunten Schaum. Am Mittag ruhten sie im sumpfig kühlen Schatten der Erlen und der Zitter-Pappeln, die auf der weiten Fläche belaubte Inseln bildeten, aus denen oft der Qualm der Hirtenfeuer stieg. Auch sah man weit verstreut die großen Höfe mit Stall und Scheuer und den hohen Stangen der Brunnen, die die Tränken wässerten. Im Sommer war es hier sehr heiß und dunstig, und im Herbst, zur Zeit der Schlangen-Paarung, war dieser Strich wie eine Wüsten-Steppe, einsam und verbrannt. An seinem andern Rande ging er in ein Sumpfland über, in dessen Dickicht kein Zeichen der Besiedlung mehr zu spüren war. Nur Hütten aus grobem Schilf, wie sie zur Entenjagd errichtet werden, ragten hin und wieder am Ufer der dunklen Moorgewässer auf, und in die Erlen waren verdeckte Sitze wie Krähen-Nester eingebaut. Hier herrschte bereits der Oberförster, und bald begann der Boden anzusteigen, in dessen Grund der Hochwald wurzelte. Von seinen Säumen sprangen noch wie lange Sicheln Gehölze, die man im Volk die Hörner nannte, in die Weidestriche vor. So war das Reich, das um die Marmor-Klippen dem Blick sich rundete. Wir sahen von ihrer Höhe das Leben, das auf altem Grunde wohl gezogen ~ 39 ~

und gebunden wie die Rebe sich entfaltete und Früchte trug. Und wir sahen auch seine Grenzen: die Gebirge, in denen hohe Freiheit, doch ohne Fülle bei Barbaren-Völkern wohnte, und gegen Mitternacht die Sümpfe und dunklen Gründe, aus denen blutige Tyrannis droht. Gar oft, wenn wir zusammen auf der Zinne standen, bedachten wir, wieviel dazu gehört, bevor das Korn geerntet und das Brot gebacken wird, und wohl auch dazu, daß der Geist in Sicherheit die Flügel regen kann.

9. In guten Zeiten hatte man der Händel, die von je auf der Campagna spielten, kaum geachtet, und das mit Recht, da sich dergleichen an allen Orten wiederfinden, an denen Hirten und Weidesteppen sind. In jedem Frühjahr gab es Streitigkeiten um das noch ungebrannte Vieh, und dann die Kämpfe an den Wasserplätzen, sobald die Trockenzeit begann. Auch brachen die großen Stiere, die Ringe in den Nüstern trugen und den Frauen an der Marina bange Träume schufen, in fremde Herden ein und jagten sie den Marmor-Klippen zu, an deren Fuße man Hörner und Rippen bleichen sah. Vor allem aber war das Volk der Hirten wild und ungezähmt. Ihr Stand vererbte sich seit Anbeginn vom Vater auf den Sohn, und wenn sie in zerlump~ 40 ~

tem Kreis um ihre Feuer saßen, mit Waffen in der Faust, wie die Natur sie wachsen läßt, dann sah man wohl, wie sie sich von dem Volke unterschieden, das an den Hängen die Rebe baut. Sie lebten wie in Zeiten, die weder Haus, noch Pflug, noch Webstuhl kannten, und in denen das flüchtige Obdach aufgeschlagen wurde, wie der Zug der Herden es gebot. Dem entsprachen auch ihre Sitten und ein rohes Gefühl für Recht und Billigkeit, das ganz auf die Vergeltung zugeschnitten war. So fachte jeder Totschlag ein langes Rachefeuer an, und es gab Sippen- und Familienfehden, von deren Ursprung längst die Kunde erloschen war, und die doch Jahr für Jahr den Blutzoll forderten. Campagna-Fälle pflegten daher die Juristen an der Marina das grobe, ungereimte Zeug zu nennen, das ihnen unterlief; auch luden sie die Hirten nicht aufs Forum, sondern entsandten Kommissarien in ihr Gebiet. In anderen Bezirken übten die Pächter der Magnaten und Lehens-Herren, die auf den großen Weidehöfen saßen, die Gerichtsbarkeit. Daneben gab es noch freie Hirten, die reich begütert waren, wie die Bataks und Belovars. Im Umgang mit dem rauhen Volke lernte man auch das Gute kennen, das ihm zu eigen war. Dazu gehörte vor allem die Gastfreiheit, die jeden, der sich an seine Feuer setzte, einbezog. So kam es, daß man im Kreis der Hirten auch städtische Gesichter sehen konnte, denn allen, die aus der Marina wei~ 41 ~

chen mußten, bot die Campagna eine erste Zuflucht dar. Hier traf man vom Arrest bedrohte Schuldner und Scholaren, denen bei einer Zecherei ein allzu guter Stoß gelungen war, in der Gesellschaft von entsprungenen Mönchen und fahrendem Gelichter an. Auch junge Leute, die nach Freiheit strebten, und Liebespaare, die nach Art der Schäfer leben wollten, suchten gerne die Campagna auf. So wob zu allen Zeiten ein Netz von Heimlichkeiten, das die Grenzen der festen Ordnung überspann. Die Nähe der Campagna, in der das Recht geringer durchgebildet war, war manchem günstig, dessen Sache sich böse wendete. Die meisten kehrten wieder, nachdem die Zeit und gute Freunde für sie gewirkt, und andere verschwanden in den Wäldern auf Nimmerwiedersehn. Nach Alta Plana aber gewann, was sonst zum Lauf der Dinge zählte, unheilvollen Sinn. So dringt in den erschöpften Körper das Verderben oft durch Wunden, die der Gesunde kaum bemerkt. Auch wurden die ersten Zeichen nicht erkannt. Als die Gerüchte von Tumulten aus der Campagna drangen, schien es, daß die alten Blutrache-Zwiste sich verschärften, doch bald erfuhr man, daß neue und ungewohnte Züge sie verdüsterten. So ging der Kern von roher Ehre, der die Gewalt gemildert hatte, verloren; und die reine Untat blieb bestehen. Auch hatte man den Eindruck, daß in die Sippenbünde aus den Wäldern Späher und Agenten ein~ 42 ~

gedrungen waren, um sich ihrer zu fremden Diensten zu bemächtigen. Auf diese Weise verloren die alten Formen ihren Sinn. So etwa war seit jeher, wenn an einem Kreuzweg ein Leichnam mit vom Dolch gespaltener Zunge aufgefunden wurde, kein Zweifel, daß hier ein Verräter den auf seine Spur gesetzten Rächern erlegen war. Auch nach dem Kriege konnte man auf Tote stoßen, die solche Marke trugen, doch nunmehr wußte jeder, daß es sich um Opfer der reinen Meintat handelte. Desgleichen hatten die Bünde stets Tribut erhoben, doch hatten ihn die Grundherren gern gezahlt, die ihn zugleich als eine Art von Prämie auf den guten Stand des Weideviehs betrachteten. Nun aber schwollen die Forderungen unerträglich an, und wenn der Pächter den Erpresser-Brief am Pfosten leuchten sah, dann hieß es zahlen oder außer Landes gehen. Zwar hatte mancher auch auf Widerstand gesonnen, und in solchen Fällen war es zur Plünderung gekommen, die offensichtlich nach überlegtem Plane vor sich ging. Es pflegte dann Gesindel, das unter Führung von Leuten aus den Wäldern stand, nachts vor den Höfen zu erscheinen, und wenn der Einlaß ihm verweigert wurde, schränkte es die Schlösser mit Gewalt. Man nannte diese Banden auch die Feuer-Würmer, denn sie gingen die Tore mit Balken, auf denen kleine Lichter glühten, an. Von andern wurde dieser Name dahin ausgedeutet, daß sie nach geglücktem Sturme ~ 43 ~

den Leuten mit Feuer zuzusetzen pflegten, um zu erfahren, wo das Silber verborgen war. Auf alle Fälle hörte man von ihnen das Niederste und Unterste, des Menschen fähig sind. Dazu gehörte auch, daß sie, um Schrecken zu erregen, die Leichen der Ermordeten in Kisten oder Fässer packten; und solche unheilvolle Sendung wurde dann mit den Frachten, die aus der Campagna kamen, den Angehörigen ins Haus gebracht. Weitaus bedrohlicher erschien jedoch der Umstand, daß alle diese Taten, die das Land erregten und nach dem Richter schrien, kaum noch Sühne fanden — ja, es kam so, daß man von ihnen nicht mehr laut zu sprechen wagte, und daß die Schwäche ganz offensichtlich wurde, in der das Recht sich gegenüber der Anarchie befand. Zwar hatte man gleich nach Beginn der Plünderungen die Kommissarien entsandt, die von Piketts begleitet waren, doch hatten diese die Campagna bereits in offenem Aufruhr angetroffen, so daß es zur Verhandlung nicht gekommen war. Um nun scharf einzuschneiden, mußten nach der Satzung die Stände einberufen werden, denn in Ländern, die wie die Marina von alter Rechtsgeschichte sind, verläßt man ungern den richterlichen Weg. Bei diesem Anlaß zeigte sich, daß die von der Campagna auch in der Marina schon vertreten waren, wie denn seit jeher die zurückgekehrten Städter teils eine Klientel von Hirten beibehielten, ~ 44 ~

teils auch durch Bluts-Trunk sich in die Sippenbünde gliederten. Auch diese Bande folgten nun der Wendung zum Schlimmeren, und dort besonders, wo die Ordnung schon brüchig war. So blühten dunkle Konsulenten auf, die vor den Schranken das Unrecht schützten, und in den kleinen Hafenschenken nisteten die Bünde sich offen ein. An ihren Tischen konnte man nun Bilder wie draußen an den Weidefeuern sehen — da hockten alte Hirten, die Beine mit rauhem Fell umwunden, neben Offizieren, die seit Alta Plana auf Halbsold saßen; und alles, was zu beiden Seiten der MarmorKlippen an mißgelauntem oder auf Veränderung erpichtem Volke lebte, pflegte hier zu zechen und schwärmte wie in dunklen Stabs-Quartieren aus und ein. Es konnte die Verwirrung nur vermehren, daß auch Söhne von Notabeln und junge Leute, die die Stunde einer neuen Freiheit gekommen glaubten, an diesem Treiben sich beteiligten. So gab es Literaten, die begannen, die Hirtenlieder nachzuahmen, wie man sie bisher nur von den Ammen, die aus der Campagna kamen, an den Wiegen hatte lallen hören, und die man nun, anstatt in wollenen und leinenen Gewändern in Zotten-Fellen und mit derben Knüppeln auf dem Corso wandeln sah. In diesen Kreisen wurde es auch üblich, den Bau der Rebe und des Kornes zu verachten und den Hort der echten, angestammten Sitte im wilden ~ 45 ~

Hirtenland zu sehen. Indessen kennt man die leicht ein wenig qualmigen Ideen, die die Begeisterten entzücken, und man hätte darüber lachen können, wenn es nicht zum offenen Sakrileg gekommen wäre, das jedem, der nicht die Vernunft verloren hatte, ganz unverständlich war.

10. In der Campagna, wo die Weidepfade die Grenzen der Bezirke überschnitten, sah man häufig die kleinen Hirten-Götter stehen. Diese Hüter der Marken waren ungefüge aus Steinen oder altem Eichenholz geschnitzt, und man erriet sie schon von ferne am ranzigen Geruch, den sie verbreiteten. Die hergebrachte Spende nämlich bestand in heißen Güssen von Butter und Gekröse-Schmeer, wie ihn das Opfer-Messer zur Seite schiebt. Aus diesem Grunde sah man um die Bilder auch stets die schwarzen Narben von Feuerchen im grünen Wiesengrund. Von ihnen hegten die Hirten nach dargebrachter Gabe ein verkohltes Stengelchen, mit dem sie zur Nacht der Sonnen-Wende den Leib von allem, was trächtig werden sollte von Weib und Vieh, mit einem Male zeichneten. Wenn wir den Mägden, die vom Melken kamen, an solchem Ort begegneten, dann zogen sie das Kopftuch vors Gesicht, und Bruder Otho, der Freund und Kenner der Garten-Götter war, ging ~ 46 ~

nie vorüber, ohne ihnen einen Scherz zu weihen. Auch schrieb er ihnen ein hohes Alter zu und nannte sie Gefährten des Jupiter aus seiner Kinderzeit. Dann war da noch, unweit des Filler-Hornes, ein Vorgehölz aus Trauer-Weiden, in dem das Bildnis eines Stieres mit roten Nüstern, roter Zunge und rotbemaltem Gliede stand. Der Ort galt als verrufen, und die Kunde grausamer Feste war mit ihm verknüpft. Wer aber hätte glauben mögen, daß man den Schmalz- und Buttergöttern, die den Kühen die Euter füllten, nun an der Marina zu huldigen begann. Und das geschah in Häusern, wo seit langem über Opfer und Opferdienst gespottet war. Dieselben Geister, die sich für stark genug erachtet hatten, die Bande des alten Ahnen-Glaubens zu zerschneiden, wurden so vom Zauber barbarischer Idole unterjocht. Das Bild, das sie in ihrer Blendung boten, war widriger als Trunkenheit, die man am Mittag sieht. Indem sie zu fliegen wähnten und sich dessen rühmten, wühlten sie im Staub. Ein schlimmes Zeichen lag auch darin, daß die Verwirrung auf die Toten-Ehrung übergriff. Zu allen Zeiten war an der Marina der Stand der Dichter hoch berühmt. Sie galten dort als freie Spender, und die Gabe, den Vers zu bilden, wurde als die Quelle der Fülle angesehn. Daß die Rebe blühte und Früchte trug, daß Mensch und Vieh gediehen, die bösen Winde sich zerstreuten und heitre Ein~ 47 ~

tracht in den Herzen wohnte — das alles schrieb man dem Wohllaut zu, wie er in Liedern und Gesängen lebt. Davon war auch der kleinste Winzer überzeugt, und auch nicht minder davon, daß der Wohllaut die Heilkraft birgt. So arm war keiner dort, daß nicht das Erste und Beste, das sein Garten an Früchten brachte, in die Denker-Hütten und Dichter-Klausen ging. So konnte jeder, der sich berufen fühlte, der Welt im Geist zu dienen, in Muße leben — zwar in Armut, doch ohne Not. In Hin und Wider jener, die den Acker bauten und das Wort bestellten, galt als Vorbild der alte Satz: das Beste geben die Götter uns umsonst. Es ist ein Zeichen guter Zeiten, daß in ihnen die Geistesmacht auch sichtbar und gegenwärtig wirkt. So war es hier; im Wechsel der Jahreszeiten, des Götterdienstes und des Menschenlebens war kein Festtag möglich ohne das Gedicht. Vor allem aber stand dem Dichter bei den Totenfeiern, nachdem der Leichnam eingesegnet war, das Amt des Totenrichters zu. Ihm lag es ob, auf das entschwundene Leben einen göttergleichen Blick zu tun und es im Vers zu preisen, so wie ein Taucher aus der Muschel die Perle hebt. Seit Anbeginn gab es zwei Maße für die TotenEhrung, von denen das übliche das Elegeion war. Das Elegeion galt als Spende, die dem rechtlich in Bitterkeit und Freude zugebrachten Leben ziemte, ~ 48 ~

wie es uns Menschen zugemessen wird. Sein Ton war auf die Klage abgestimmt, doch auch voll Sicherheit, wie sie dem Herzen im Leiden Trost gewährt. Dann aber gab es das Eburnum, das im Altertume den Erlegern der Ungeheuer, die vor der Menschen-Siedlung in den Sümpfen und Klüften hausten, vorbehalten war. Das klassische Eburnum mußte in höchster, erlauchter Heiterkeit gehalten sein; es hatte in der Admiratio zu enden, während deren aus zerbrochenem Käfig ein schwarzer Adler in die Lüfte stieg. In dem Maße, in dem die Zeiten sich milderten, erkannte man das Eburnum auch jenen, die man die Mehrer oder Optimalen nannte, zu. Wer nun zu diesen zählte, dessen war das Volk sich stets bewußt gewesen, obgleich mit der Verfeinerung des Lebens sich auch die Ahnenbilder wandelten. Nun aber erlebte man zum ersten Male, daß um den Spruch der Totenrichter Streit entstand. Es drangen nämlich mit den Bünden auch die Blutrache-Fehden der Campagna in die Städte ein. Wie eine Seuche, die noch unberührten Boden findet, so schwoll auch hier der Haß gewaltig an. Nachts und mit niederen Waffen drang man aufeinander ein, und das aus keinem anderen Grunde, als weil vor hundert Jahren der Wenzel durch den Jegor erschlagen worden war. Doch was sind Gründe, wenn die Verblendung uns ergreift. So ging bald keine Nacht vorüber, in der die Wache nicht auf den Straßen und bei den Quartieren auf Tote stieß, und man~ 49 ~

chen traf man mit Wunden, die des Schwertes nicht würdig sind — ja selbst mit solchen, mit denen die blinde Wut den schon Gefallenen zerstückt. In diesen Kämpfen, die zu Menschenjagden, Hinterhalten und Mordbrand führten, verloren die Parteien jedes Maß. Bald hatte man den Eindruck, daß sie sich kaum noch als Menschen sahen, und ihre Sprache durchsetzte sich mit Wörtern, die sonst dem Ungeziefer galten, das ausgerottet, vertilgt und ausgeräuchert werden soll. Den Mord vermochten sie nur auf der Gegenseite zu erkennen, und dennoch war bei ihnen rühmlich, was dort als verächtlich galt. Während ein jeder die anderen Toten kaum für würdig hielt, bei Nacht und ohne Licht verscharrt zu werden, sollte um die Seinen das Purpurtuch geschlungen werden, es sollte das Eburnum klingen und der Adler steigen, der das Lebensbild der Helden und Seher zu den Göttern trägt. Freilich fand keiner von den großen Sängern, und ob sie goldene Lasten boten, zu solcher Schändung sich bereit. Da holten jene denn die Harfenisten, die auf der Kirchweih zum Tanze spielen, und die blinden Zither-Schläger, wie sie vor den Triklinien der Freudenhäuser die trunkenen Gäste durch Lieder von der Venus-Muschel oder vom Fresser Herkules erfreuen. So waren denn die Kämpen und die Barden einander wert. Nun weiß man aber, daß das Metron ganz unbestechlich ist. An seine unsichtbaren Säulen und ~ 50 ~

Tore reichen die Feuer der Zerstörung nicht hinan. So waren auch jene nur betrogene Betrüger, die wähnten, daß Opfer-Spenden vom Range des Eburnums käuflich seien. Wir wohnten nur der ersten dieser Totenfeiern bei, und was wir davon erwartet hatten, sahen wir geschehen. Der Mietling, der den hohen, aus leichtem Feuerstoff gefügten Bogen des Gedichtes beschreiten sollte, begann sogleich zu stammeln und verwirrte sich. Dann aber wurde die Sprache ihm geläufig und kehrte sich zu niederen Haß- und Rachejamben, die im Staube züngelten. Bei diesem Schauspiel sahen wir die Menge in den roten Festgewändern, die man zum Eburnum trägt, und auch die Magistrate und den Klerus im Ornat. Sonst herrschte, wenn der Adler aufstieg, Stille, diesmal aber brach wilder Jubel aus. Bei diesen Tönen ergriff uns Trauer, und mit uns manchen, denn wir fühlten, daß nun aus der Marina der gute Ahnen-Geist gewichen war.

11. So ließen sich noch viele Zeichen nennen, in denen der Niedergang sich äußerte. Sie glichen dem Ausschlag, der erscheint, verschwindet und wiederkehrt. Dazwischen waren auch heitre Tage eingesprengt, in denen alles wie früher schien. Gerade hierin lag ein meisterhafter Zug des Oberförsters: er gab die Furcht in kleinen Dosen ein, die ~ 51 ~

er allmählich steigerte, und deren Ziel die Lähmung des Widerstandes war. Die Rolle, die er in diesen Wirren, die sehr fein in seinen Wäldern ausgesponnen wurden, spielte, war die der Ordnungsmacht, denn während seine niederen Agenten, die in den Hirtenbünden saßen, den Stoff der Anarchie vermehrten, drangen die Eingeweihten in die Ämter und Magistrate, ja selbst in Klöster ein, und wurden dort als starke Geister, die den Pöbel zu Paaren treiben würden, angesehen. So glich der Oberförster einem bösen Arzte, der zunächst das Leiden fördert, um sodann dem Kranken die Schnitte zuzufügen, die er im Sinne hat. Wohl gab es in den Magistraten Köpfe, die dieses Spiel durchschauten, doch fehlte ihnen, es zu hindern, die Gewalt. An der Marina hatte man seit jeher fremde Truppen in Sold gehalten, und solange die Dinge in Ordnung waren, war man gut bedient. Als nun die Händel bis an die Ufer drangen, suchte ein jeder die Söldner zu gewinnen, und Biedenhorn, ihr Führer, stieg über Nacht zu hoher Geltung auf. Es konnte ihm wenig daran gelegen sein, auf eine Wendung einzuwirken, die ihm so günstig war; vielmehr begann er, den Schwierigen zu spielen, und hielt die Truppen zurück wie Geld, das man auf Zinsen legt. Er hatte sich mit ihnen in eine alte Festung, den Zwinger, eingeschanzt, und lebte dort wie die Maus im Speck. So hatte er im Gewölbe des großen Turmes ein Trinkgemach errichtet, wo er ~ 52 ~

behaglich zechend im Gemäuer saß. Im bunten Glase des Fensters erblickte man sein Wappen, zwei Hörner mit dem Spruche: „De Willekumm / Geiht um!“ In dieser Klause hauste er, voll jener jovialen List des Nordens, die man leicht unterschätzt, und hörte mit gut gespieltem Kummer die Kläger an. Im Zechen pflegte er sich dann für Recht und Ordnung zu ereifern — doch sah man nie, daß er zum Schlagen kam. Daneben verhandelte er nicht nur mit den Sippenbünden, sondern auch mit den Kapitänen des Oberförsters, die er auf Kosten der Marina in Saus und Braus bewirtete. Mit diesen Wald-Kapitänen spielte er den Gemeinden einen bösen Streich. Indem er sich hilfsbedürftig stellte, schob er ihnen und ihrem Waldgesindel die Aufsicht über die ländlichen Bezirke zu. Damit begann der Schrecken ganz und gar zu herrschen und nahm die Maske der Ordnung an. Die Kontingente, die den Kapitänen zur Verfügung standen, waren zunächst gering, auch wurden sie vereinzelt, wie Gendarmerie, ins Feld gebracht. Dies galt vor allem für die Jäger, die wir häufig um die Rauten-Klause streichen sahen, und die leider auch im Lampusas Küche vesperten. Das war das Waldgelichter, wie es im Buche steht, klein, blinzelnd und mit dunklen Hängebärten in den zerfressenen Gesichtern; ein Rotwelsch sprechend, das von allen Zungen das Übelste sich angeeignet hatte und wie aus blutigem Kot gebacken war. ~ 53 ~

Wir fanden sie mit minderen Waffen, mit Schlingen, Garnen und gekrümmten Dolchen, die sie Blutzapfer nannten, ausgerüstet; auch waren sie zumeist ringsum behangen mit niederem Getier. So stellten sie an unserer Marmorklippen-Treppe den großen Perlen-Echsen nach; sie fingen sie auf jene altbekannte Art, bei der man eine feine Schlinge mit Speichel netzt. Die schönen, goldgrünen und leuchtend weiß gesternten Tiere hatten unser Auge oft erfreut, besonders wenn wir sie im Brombeerlaub erblickten, das als ein rotes Rankenwerk die Klippen überspann. Die Häute waren bei den welschen Kurtisanen, die der Alte auf seinen Höfen aushielt, sehr begehrt; auch ließen seine Muscadins und Spintrier sich daraus Gürtel und feine Futterale fertigen. So wurden diese grünen Zauberwesen unbarmherzig verfolgt und schlimme Grausamkeiten an ihnen ausgeübt. Ja, diese Schinder nahmen sich nicht einmal die Mühe, sie zu töten, sondern beraubten sie noch lebend ihrer Haut und ließen sie als weiße Schemen die Klippen hinunterschießen, an deren Fuß sie unter Qualen verendeten. Tief ist der Haß, der in den niederen Herzen dem Schönen gegenüber brennt. Solche Aasjäger-Stückchen gaben indessen nur den Vorwand her, um bei den Höfen und Häusern zu spionieren, ob in ihnen noch ein Rest von Freiheit lebendig war. Dann wiederholten sich die BanditenStreiche, die man schon aus der Campagna kannte, und die Bewohner wurden bei Nacht und Nebel ab~ 54 ~

geführt. Von dort kam keiner wieder, und was wir im Volk von ihrem Schicksal raunen hörten, erinnerte an die Kadaver der Perlen-Echsen, die wir geschunden an den Klippen fanden, und füllte unser Herz mit Traurigkeit. Dann tauchten auch die Förster auf, die man oft an den Rebenhängen und auf den Hügeln bei der Arbeit sah. Sie schienen das Land neu zu vermessen, denn sie ließen Löcher in den Boden graben und pflanzten Stangen mit Runenzeichen und tierischen Symbolen auf. Die Art, in der sie sich in Feld und Flur bewegten, war noch bestürzender als die der Jäger, denn sie durchstreiften den altgepflügten Grund wie Heideland, indem sie weder Weg noch Grenze achteten. Auch zollten sie den heiligen Bildern nicht den Gruß. So sah man sie das reiche Land durchqueren wie unbestellte und ungeweihte Wüstenei. Aus solchen Zeichen ließ sich erraten, was von dem Alten, der tief in seinen Wäldern lauerte, noch zu erwarten war. Ihm, der den Pflug, das Korn, die Rebe und die gezähmten Tiere haßte, und dem die lichte Siedlung und das offene Menschen-Wesen zuwider waren, war es um Herrschaft über solche Fülle nicht zu tun. Ihm ging das Herz erst auf, wenn auf den Trümmern der Städte Moos und Efeu grünten, und wenn in den geborstenen Kreuzgewölben der Dome die Fledermaus im Mondstrahl flatterte. Die letzten seiner großen Bäume sollten die Wurzeln ~ 55 ~

an den Ufern der Marina baden, und über ihren Kronen sollte der Silber-Reiher auf den Schwarzstorch treffen, der aus den Eichenschlägen zum Sumpfe flog. Es sollten in der dunklen WeinbergErde die Eber mit den Hauern wühlen, und auf den Klosterteichen sollten die Biber kreisen, wenn auf verborgenen Pfaden das Wild zur Dämmerung in starken Rudeln an die Tränke zog. Und an den Rändern, wo die Bäume im Sumpf nicht Wurzel schlugen, sollte im frühen Jahr die Schnepfe streichen und spät im Herbst die Drossel an die rote Beere gehen.

12. Auch liebte der Oberförster weder Bauernhöfe, noch Dichter-Klausen, noch irgendeinen Ort, wo man besonnen tätig war. Das Beste, was auf seinen Territorien hauste, war noch ein Schlag von rüden Kerlen, deren Lebenslust im Spüren und im Hetzen ruhte, und die dem Alten ergeben waren vom Vater auf den Sohn. Dies waren die Weidgerechten, während jene niederen Jäger, die wir an der Marina sahen, aus sonderbaren Dörfern stammten, die der Alte im tiefen Tannicht unterhielt. Fortunio, der das Reich des Alten noch am besten kannte, hatte mir von ihnen berichtet als von Genisten altersgrauer Hütten — die Mauern aus Lehm und Häcksel-Schilf errichtet, und die spitzen Giebel ~ 56 ~

mit fahlem Moos gedeckt. Dort hauste wie in AlbenHöhlen in Vogelfreiheit eine dunkle Brut. Wenn dieses Volk auch fahrend war, so blieb in seinen Nestern und Spelunken doch immer ein Stamm zurück, so wie im Pfeffertopfe stets der letzte Grund als Würze zurückbehalten wird. In diese Waldes-Gründe hatte sich geflüchtet, was je in Kriegen oder Zeiten, in denen der Landfriede ruhte, der Vernichtung entronnen war — so Hunnen, Tataren, Zigeuner, Albigenser und ketzerische Sekten aller Art. Zu diesen hatte sich gesellt, was immer den Profossen und der Henkershand entsprungen war, versprengte Scharen der großen Räuberbanden aus Polen und vom Nieder-Rhein und Weiber, die keine Arbeit leisten als mit der Hand, darauf man sitzt, und die der Büttel aus dem Tore fegt. Auch schlugen hier die Magier und die Hexenmeister, die dem Scheiterhaufen entronnen waren, ihre Zauberküchen auf; und bei den Eingeweihten, Venedigern und Alchimisten zählten diese unbekannten Dörfer zu den Horten der schwarzen Kunst. In Fortunios Händen hatte ich ein Manuskript gesehen, das von dem Rabbi Nilüfer stammte, der, aus Smyrna ausgetrieben, auf seinen Wanderungen auch in den Wäldern zu Gast gewesen war. Man sah aus seiner Schrift, daß sich die Weltgeschichte hier wie in trüben Tümpeln, an deren Ufern Ratten nisten, spiegelte. Auch ruhte der Schlüssel zu man~ 57 ~

chem ihrer dunklen Fächer hier; so hieß es, daß Meister Villon nach der Vertreibung aus Perouard in einem dieser Tannicht-Nester Unterschlupf gefunden hatte, in denen, wie der Stammsitz vieler dunkler Zünfte, so auch jener der Coquillards gelegen war. Sie wechselten dann nach Burgund hinüber, doch blieb hier stets ein Zufluchtsort. Was immer aus der Welt in ihnen untertauchte, das gaben diese Wälder mit Zins und Zinseszins aus ihrem Schoß zurück. Aus ihnen zogen vor allem jene niederen Jäger, die sich erbieten, in Haus und Feld das Ungeziefer zu vertilgen — und wie Nilüfer meinte, war dies die Stätte, darinnen der Pfeifer von Hameln mit den Kindern verschwunden war. Mit diesen Scharen gingen Raub und Händel landaus, landein. Doch stammten aus den Wäldern auch die zierlichen Betrüger, die mit Wagen und Dienerschaft erscheinen, und die man selbst an Fürstenhöfen trifft. So floß von hier ein dunkler Blutstrom in die Bahnen der Welt. Wo immer Meintat und Neidingswerk geschahen, war einer von den schlimmen Zünften mit dabei — und mit im Reigen, wo auf den Galgenhügeln der Wind die armen Schelme zum Tanz aufführt. Für alle diese war der Alte der große Boß, den sie am Saume des roten Jagdrocks küßten oder am Stiefelschaft, wenn er zu Pferde saß. Er wiederum verfuhr mit diesem Volke nach Belieben und ließ zuweilten ein paar Dutzend wie Krammets-Vögel in ~ 58 ~

die Bäume knüpfen, wenn es sich allzu üppig zu vermehren schien. Sonst mochte es in seinen Gründen hausen und schmausen, wie es ihm gefiel. Als Schutzherr der Vaganten-Heimat war der Alte auch draußen in der Welt von großer, verborgener und weit verzweigter Macht. Wo immer die Gebäude, wie Menschen-Ordnung sie errichtet, brüchig wurden, schoß seine Brut wie Pilzgeflecht hervor. Sie wob und wirkte, wo Knechte dem angestammten Hause die Gefolgschaft weigerten, wo man auf Schiffen im Sturme meuterte, wo man den Schlachten-König im Stiche ließ. Allein der Oberförster war von solchen Kräften gut bedient. Wenn er in seinem Stadthaus die Mauretanier empfing, umgab ihn eine Fülle von Dienerschaft — von grün livrierten Jägern, von Lakaien in rotem Frack und schwarzen Eskarpins, von Hausbeamten und Vertrauten aller Art. Man spürte bei solchen Festen ein wenig von der Gemütlichkeit, wie sie der Alte in seinen Wäldern liebte; die weite Halle war warm und strahlend — nicht wie vom Sonnenlicht, doch wie von Flammen und wie vom Golde, das in Höhlen glänzt. Wie in den Tiegeln der Alchimisten der Diamant aus niederer Kohlenglut erstrahlt, so wuchsen in den Waldgenisten zuweilen Weiber von erlesener Schönheit auf. Sie waren, wie jeder in den Wäldern, dem Alten leibeigen, und auf seinen Reisen führte er stets Sänften im Gefolge mit. Wenn er in seinen ~ 59 ~

kleinen Häusern vor den Toren die jungen Mauretanier zu Gaste hatte und guter Laune war, dann kam es vor, daß er die Odalisken zur Schau ausstellte, wie andere seiner Kostbarkeiten auch. Er ließ sie in das Billardzimmer rufen, wo man nach schwerem Mahle beim Ingwer-Trunk versammelt war, und setzte ihnen dort die Bälle zur Partie. Dann sah man die enthüllten Körper, im roten Lichtschein auf das grüne Tuch gebeugt, sich langsam in den mannigfachen Posen biegen und wenden, die das Spiel verlangt. Aus seinen Wäldern hörte man in dieser Hinsicht Dinge, die gröber waren, wenn er nach langer Hetze auf den Fuchs, den Elch, den Bären auf der mit Waffen und Geweihen geschmückten Tenne zechte und im mit blutbetauten Brüchen besteckten Hochsitz saß. Daneben dienten solche Weiber ihm als Lockvögel feinster Sorte, wo immer in der Welt er in Geschäfte verwickelt war. Wer sich den trügerischen Blüten, die dem Sumpf entsprossen waren, nahte, verfiel dem Banne, der die Niederung regiert; und schon so manchen sahen wir in unseren Mauretanier-Zeiten untergehen, dem ein großes Schicksal winkte — denn in solchen Ränken verfängt am ersten sich der hohe Sinn. Derart war der Bestand beschaffen, der das Gebiet besiedeln sollte, wenn der Alte vollends über die Marina Herr geworden war. So folgen Stechapfel, Mohn und Bilsenkraut den edlen Früchten, wenn ~ 60 ~

die Gärten vom Feind verwüstet sind. Dann würden statt der Spender von Wein und Brot die fremden Götter auf den Sockeln sich erheben — so die Diana, die in den Sümpfen zu wilder Fruchtbarkeit entartet war und dort mit traubenförmigen Behängen von goldenen Brüsten prunkte, und so die Schreckensbilder, die mit Klauen, Hörnern und Zähnen Furcht erregen und Opfer fordern, wie sie der Menschen nicht würdig sind.

13. So standen die Dinge im siebten Jahre nach Alta Plana, und auf diesen Feldzug führten wir die Übel, die das Land verdüsterten, zurück. Zwar hatten auch wir beide daran teilgenommen, und das Gemetzel vor den Pässen bei den Purpur-Reitern mitgemacht — doch nur, um unsere Lehenspflicht zu leisten, und in diesem Stande lag es uns ob, zu schlagen, nicht aber, nachzugrübeln, wo Recht und Unrecht war. Doch wie man seinem Arme leichter als dem Herzen gebieten kann, so lebte unser Sinn bei jenen Völkern, die ihre angestammte Freiheit so wacker gegen jede Übermacht verteidigten, und wir erblickten in ihrem Siege mehr als Waffenglück. Auch hatten wir auf Alta Plana Gastfreundschaft gewonnen, denn vor den Pässen war der junge Ansgar, der Sohn des Wirtes von der Bodan-Alp in un~ 61 ~

sere Hand gefallen und hatte Geschenke mit uns getauscht. Von der Terrasse sahen wir ganz in der Ferne die Bodan-Alp als eine blaue Matte, die tief im Meer der Gletscher-Zacken verborgen war, und der Gedanke, daß auf ihrem Talhof zu jeder Stunde Sitz und Stätte wie für Brüder für uns bereitet war, verlieh uns Sicherheit. Als wir in unserer Vater-Heimat hoch im Norden die Waffen wieder in die Rüstkammer eingeschlossen hatten, erfaßte uns der Sinn nach einem Leben, das von Gewalt gereinigt war, und wir gedachten unserer alten Studien. Wir kamen bei den Mauretaniern um ehrenvollen Abschied ein und wurden mit dem schwarz-rot-schwarzen Bande in die Feierzunft versetzt. In diesem Orden hoch emporzusteigen, hatte es uns wohl nicht an Mut und Urteilskraft gefehlt. Doch war die Gabe uns versagt geblieben, auf das Leiden der Schwachen und Namenlosen herabzusehen, wie man vom Senatoren-Sitze in die Arena blickt. Wie aber, wenn die Schwachen das Gesetz verkennen, und so in der Verblendung mit eigener Hand die Riegel öffnen, die zu ihrem Schütze geschlossen sind? So konnten wir auch die Mauretanier nicht durchaus tadeln, denn tief war Recht und Unrecht nun vermischt; die Festen wankten, und die Zeit war für die Fürchterlichen reif. Die Menschen-Ordnung gleicht dem Kosmos darin, daß sie von Zeit zu Zeiten, um sich von neuem zu gebären, ins Feuer tauchen muß. ~ 62 ~

So taten wir wohl recht, den Händeln auszuweichen, bei denen Ruhm nicht zu gewinnen war, und friedlich an die Marina zurückzukehren, um an den leuchtenden Gestaden uns den Blumen zuzuwenden, in deren flüchtig bunten Zeichen das Unveränderliche ruht wie in geheimer Bilderschrift, und die den Uhren gleichen, auf denen stets die rechte Stunde zu lesen ist. Kaum waren aber Haus und Garten gerichtet und die Arbeit so gediehen, daß ihre ersten Früchte winkten, da glomm bereits der Mordbrand-Schimmer an der Campagna-Front der Marmor-Klippen auf. Als dann der Trubel auf die Marina übergriff, da waren wir gezwungen, Nachrichten einzuziehen, um mit der Art und Größe der Bedrohung vertraut zu sein. Auf der Campagna hatten wir den alten Belovar, den wir im Scherze den Arnauten nannten, und der häufig in Lampusas Küche zu treffen war. Er kam mit Kräutern und mit seltenen Wurzeln, die seine Frauen aus der fetten Erde der Weidegründe gruben, und die Lampusa für ihre Tränke und Mixturen trocknete. Aus diesem Grunde hatten wir uns mit ihm angefreundet und auf der Bank im KüchenVorhof manche Kanne Wein mit ihm geleert. Er war sehr zuverlässig in bezug auf alle Namen, mit denen das Volk die Blumen nennt, von denen es eine große Anzahl zu unterscheiden weiß; und wir horchten ihn gerne, um unsere Synonymik zu berei~ 63 ~

chern, darüber aus. Auch kannte er Standorte rarer Arten — wie der Riemenzunge, die in den Büschen mit Bocksgeruch erblüht, des Ohnhorns, dessen Lippe in Form des Menschenleibes gebildet ist, und einer Ragwurz, deren Blüte dem Panther-Auge glich. So kam es, daß wir uns oft von ihm begleiten ließen, wenn wir jenseits der Marmor-Klippen sammelten. Er wußte dort bis zu den Wäldern Weg und Steg; vor allem aber erwies sich, als die Hirten aufsässig wurden, sein Geleit als sicherer Schutz. In diesem Alten verkörperte sich das Beste, was die Weidegründe zu bieten hatten — freilich auf andre Art, als sie die Muscadins erträumten, die in dem Hirtenvolke den idealen Menschen entdeckt zu haben glaubten, den sie in rosafarbenen Gedichten feierten. Der alte Belovar war siebzigjährig, von hoher, hagerer Gestalt, mit weißem Barte, der zu dem schwarzen Haupthaar in sonderbarem Gegensatze stand. An seinem Antlitz fielen vor allem die dunklen Augen auf, die weithin spähend mit Falkenschärfe den Grund beherrschten, doch die im Zorne nach Wolfsart leuchteten. Der Alte trug goldene Ringe in den Ohren, auch schmückten ihn ein rotes Kopftuch und ein rotes Gürtelband, das Knauf und Spitze eines Dolches sehen ließ. Ins Holz des Griffes dieser alten Waffe waren elf Kerben eingeschnitten und mit Färberröte nachgebeizt. Als wir ihn kennenlernten, hatte der Alte eben seine dritte Frau genommen, ein Weibchen von ~ 64 ~

sechzehn Jahren, das er trefflich in Ordnung hielt, und wohl auch prügelte, wenn er betrunken war. Wenn er auf die Blutrache-Fehden zu sprechen kam, begannen seine Augen Glanz zu sprühen, und wir begriffen, daß das Herz des Feindes ihn anzog wie ein übermächtiger Magnet, solange es lebendig schlug; und daß der Nachglanz dieser Rachetaten ihn zu einem Sänger machte, wie es deren manche auf der Campagna gab. Wenn dort am Feuer zu Ehren der Hirten-Götter getrunken wurde, geschah es häufig, daß einer aus der Runde sich erhob und dann in eingegebener Rede den Totschlag rühmte, den er am Feind vollzog. Im Lauf der Zeit gewöhnten wir uns an den Alten und sahen ihn gerne, so wie man einen treuen Hund wohl leiden mag, obgleich die Wolfsnatur noch in ihm glüht. Wenn auch das wilde Erdfeuer in ihm lohte, so lebte doch nichts Schmähliches in ihm, und daher waren die dunklen Mächte, die aus den Wäldern in die Campagna drangen, ihm verhaßt. Auch merkten wir gar bald, daß dieses rohe Leben nicht ohne Tugend war; es brannte auch im Guten heißer, als man es in den Städten kennt. So war in ihm die Freundschaft mehr als ein Gefühl; sie flammte nicht minder unbedenklich und unbezähmbar als der Haß. Auch wir bekamen das zu spüren, als Bruder Otho in den ersten Jahren einen bösen Handel, in den die Konsulenten der Marina den Alten verwickelt hatten, vor dem Forum zum Besten wen~ 65 ~

dete. Da begann er, uns in sein Herz zu schließen, und seine Augen leuchteten, wenn er uns nur von ferne sah. Bald mußten wir uns hüten, in seiner Nähe einen Wunsch zu äußern, denn er wäre ins Nest des Greifen eingedrungen, um uns durch seine Jungen zu erfreuen. Wir konnten zu jeder Stunde über ihn verfügen wie über eine gute Waffe, die man in Händen hält; und wir erkannten in ihm die Macht, die wir genießen, wenn sich ein anderer völlig uns zu eigen gibt, und die im Laufe der Gesittung verlorengeht. So fühlten wir uns gegen die Gefahren, die von der Campagna drohten, allein durch diese Freundschaft gut gedeckt. So manche Nacht, da wir im Bücher-Zimmer und im Herbarium still an der Arbeit saßen, flammte der Mordbrand-Schimmer am Klippenrande auf. Oft lagen die Dinge uns so nahe, daß, wenn der Nordwind wehte, ihr Klang zu uns herüberdrang. Wir hörten dann die RammbockStöße an das Hoftor schlagen, und das Klagen des Viehes, das in Flammen-Ställen stand. Auch trug der Wind ganz leise das Gewirr von Stimmen herüber und den Ton der Glocken, die in den kleinen Hauskapellen läuteten — und wenn dies alles jäh verstummte, lauschte das Ohr noch lange in die Nacht. Doch wußten wir, daß unserer Rauten-Klause kein Unheil drohte, solange noch der alte Hirte mit seiner wilden Sippe in der Steppe lag. ~ 66 ~

14. An der Marina-Front der Marmor-Klippen hingegen durften wir auf Beistand eines ChristenMönches zählen, des Pater Lampros aus dem Kloster der Maria Lunaris, die man im Volk als die Falcifera verehrt. In diesen beiden Männern, dem Hirten und dem Mönche, trat die Verschiedenheit zutage, wie sie der Boden auf die Menschen nicht minder als auf die Pflanzen übt. Im alten Bluträcher lebten die Weidegründe, in die noch nie das Eisen einer Pflugschar eingeschnitten hatte, wie in dem Priester die Weinbergs-Krume, die in den vielen hundert Jahren durch die Sorge der Menschenhand so fein wie Sanduhr-Staub geworden war. Von Pater Lampros hatten wir zunächst aus Upsala gehört, und zwar von Ehrhardt, der dort als Kustos am Herbarium wirkte und uns mit Material für unsere Arbeiten versah. Wir waren damals mit der Art beschäftigt, in der die Pflanzen den Kreis aufteilen, mit der Axen-Stellung, die den organischen Figuren zugrunde liegt — und letzten Endes mit dem Kristallismus, der unveränderlich dem Wachstum Sinn erteilt, so wie dem Zeiger das Zifferblatt der Uhr. Nun teilte uns Ehrhardt mit, daß wir an der Marina ja den Autor des schönen Werkes von der Symmetrie der Früchte wohnen hätten — Phyllobius, unter welchem Namen der Pater Lampros sich verbarg. Da diese Nachricht uns begierig stimmte, machten wir dem Mönche, nachdem wir ihm ein ~ 67 ~

Zettelchen geschrieben hatten, im Kloster der Falcifera Besuch. Das Kloster lag uns so nahe, daß man von der Rauten-Klause die Spitze seines Turmes sah. Die Klosterkirche war Wallfahrtsort, und zu ihr führte der Weg durch sanfte Matten, auf denen die alten Bäume so herrlich blühten, daß kaum ein grünes Blättchen im Weiß erschien. Am Morgen war in den Gärten, die der Seewind frischte, kein Mensch zu sehen; und doch war durch die Kraft, die in den Blüten lebte, die Luft so geistig wirkend, daß man durch Zaubergärten schritt. Bald sahen wir das Kloster vor uns liegen, das weit von einem Hügel schaute, mit seiner Kirche, die im heitren Stile errichtet war. Von ferne hörten wir bereits die Orgel tönen, die den Gesang, mit dem die Pilger das Bild verehrten, begleitete. Als uns der Pförtner durch die Kirche führte, erwiesen auch wir dem Wunderbilde unseren Gruß. Wir sahen die hohe Frau auf einem Wolken-Throne, und ihre Füße ruhten wie auf einem Schemel auf dem schmalen Monde, in dessen Sichel ein Gesicht, das erdwärts blickte, gebildet war. So war die Gottheit dargestellt als Macht, die über dem Veränderlichen thront, und die man so als Bringerin und Fügerin verehrt. Am Claustrum nahm uns der Circulator in Empfang, der uns zur Bibliothek geleitete, die unter Pater Lampros’ Aufsicht stand. Hier pflegte er die ~ 68 ~

Stunden zu verbringen, die für die Arbeit vorgesehen waren, und hier, umringt von hohen Folianten, weilten wir oftmals im Gespräch mit ihm. Als wir zum ersten Male durch die Türe traten, sahen wir den Pater, der soeben aus dem Klostergarten gekommen war, im stillen Räume stehen, mit einer purpurroten Siegwurz-Rispe in der Hand. Er trug den breiten Castor-Hut noch auf dem Kopfe, und auf dem weißen Mantel spielte das bunte Licht, das durch die Kreuzgang-Fenster fiel. Wir fanden in Pater Lampros einen Mann, der etwa fünfzig Jahre zählen mochte, von mittlerer Gestalt und feinem Gliederbau. Als wir ihm nähertraten, faßte uns ein Bangen, denn Gesicht und Hände dieses Mönches kamen uns ungewöhnlich und befremdend vor. Es schien, wenn ich es sagen soll, als ob sie einem Leichnam angehörten, und es war schwer zu glauben, daß Blut und Leben sich darin befand. Sie waren wie aus zartem Wachs gebildet — so kam es, daß das Mienenspiel nur langsam an die Oberfläche drang und mehr im Schimmer als in den Zügen des Gesichtes lag. Auch wirkte es seltsam starr und zeichenhaft, wenn er, wie er es liebte, während des Gespräches die Hand erhob. Und dennoch webte in diesem Körper eine Art von feiner Leichtigkeit, die in ihn eingezogen war gleich einem Atem-Hauche, der ein Puppenbild belebt. Auch fehlte es ihm nicht an Heiterkeit. ~ 69 ~

Bei der Begrüßung sagte Bruder Otho, um das Bild zu loben, daß er in ihm den Liebreiz der Fortuna mit dem der Vesta in höherer Gestalt vereinigt finde — worauf der Mönch mit höflicher Gebärde das Gesicht zur Erde senkte, und es dann lächelnd gegen uns erhob. Es war, als nähme er das kleine Wort, nachdem er es besonnen hatte, als eine Opfergabe in Empfang. Aus diesem und vielen anderen Zügen erkannten wir, daß Pater Lampros die Diskussion vermied; auch wirkte er im Schweigen stärker als im Wort. So hielt er es auch in der Wissenschaft, in der er zu den Meistern zählte, ohne sich am Streit der Schulen zu beteiligen. Sein Grundsatz war, daß jede Theorie in der Natur-Geschichte einen Beitrag zur Genesis bedeute, weil der Menschengeist in jedem Alter die Schöpfung von neuem concipiere — und daß in jeder Deutung nicht mehr an Wahrheit lebe als in einem Blatte, das sich entfaltet und gar bald vergeht. Aus diesem Grunde nannte er sich auch Phyllobius, „der in den Blättern lebt“ — in jener wunderlichen Mischung von Bescheidenheit und Stolz, die ihm zu eigen war. Daß Pater Lampros den Widerspruch nicht liebte, war auch ein Zeichen der Höflichkeit, wie sie in seinem Wesen zu hoher Feinheit ausgebildet war. Da er zugleich die Überlegenheit besaß, verfuhr er so, daß er das Wort des Partners entgegennahm, und wiedergab, indem er es in einem höheren Sinne be~ 70 ~

stätigte. So hatte er Bruder Othos Gruß erwidert, und darin lag nicht nur Güte, wie sie der Kleriker im Lauf der Jahre erwirbt und steigert wie ein edler Wein — es lag darin auch Courtoisie, wie sie in hohen Häusern gezogen wird, und wie sie ihre Sprossen mit einer zweiten, leichteren Natur begabt. So lag auch Stolz darin—denn wenn man herrscht, besitzt man Urteil und läßt die Meinungen auf sich beruhn. Es hieß, daß Pater Lampros einem altburgundischen Geschlecht entstamme, doch sprach er niemals über die Vergangenheit. Aus seiner Weltzeit hatte er einen Siegelring zurückbehalten, in dessen roten Karneol ein Greifen-Flügel eingegraben war, darunter die Worte „meyn geduld hat ursach“ als Wappenspruch. Auch darin verrieten sich die beiden Pole seines Wesens — Bescheidenheit und Stolz. Bald weilten wir häufig im Kloster der Falcifera, sei es im Blumengarten, sei es in der Bibliothek. Auf diese Weise gedieh uns unsere Florula weit reicher als bisher, da Pater Lampros seit vielen Jahren an der Marina sammelte, und wir nie von ihm gingen ohne einen Stoß Herbarien-Blätter, die er mit eigener Hand beschriftet hatte, und deren jedes ein kleines Kunstwerk war. Auch wirkte dieser Umgang günstig auf unsere Arbeit über die Axen-Stellung ein, denn es bedeutet viel für einen Plan, wenn man ihn hin und wieder mit einem guten Geist erwägen kann. In dieser Hinsicht gewannen wir den Eindruck, daß der Pater ~ 71 ~

ganz unauffällig und ohne jeden Ehrgeiz auf Autorschaft an unserem Werke sich beteiligte. Nicht nur besaß er eine große Kenntnis der Erscheinungen, sondern er wußte auch die Augenblicke hohen Ranges zu vermitteln, in denen der Sinn der eigenen Arbeit uns wie ein Blitz durchdringt. So führte er uns eines Morgens an einem BlumenHange, an dem die Kloster-Gärtner in der Frühe gejätet hatten, zu einer Stelle, über die ein rotes Tuch gebreitet war. Er meinte, daß er dort der UnkrautHacke ein Gewächs entzogen hätte, um unser Auge zu erfreuen — doch als er dann das Tuch entfernte, erschien nichts anderes als eine junge Staude von jener Wegerich-Sorte, der Linnaeus den Namen major gab, und wie man sie auf allen Pfaden findet, die je ein Menschenfuß betrat. Indessen, als wir uns auf sie herniederbeugten und sie aufmerksam musterten, erschien es uns, als ob sie ungewöhnlich groß und regelmäßig gewachsen sei; ihr Rund war als ein grüner Kreis gebildet, den die ovalen Blätter unterteilten und zackig ränderten, in deren Mitte sich leuchtend der Wachstumspunkt erhob. Die Bildung schien zugleich so frisch und zart im Fleische, wie unzerstörbar im Geistesglanze der Symmetrie. Da faßte uns ein Schauer an; wir fühlten, wie die Lust zu leben und die Lust zu sterben sich in uns einten; und als wir uns erhoben, blickten wir in Pater Lampros’ lächelndes Gesicht. Er hatte uns ein Mysterium vertraut. ~ 72 ~

Wir durften die Muße, die uns Pater Lampros schenkte, um so höher schätzen, als sein Name bei den Christen in hohem Ansehn stand, und viele, die Rat und Trost erhofften, sich ihm näherten. Doch liebten ihn auch solche, die an den Zwölf Göttern hingen, oder die aus dem Norden stammten, wo man die Asen in weiten Hallen und umzäunten Hainen ehrt. Auch ihnen, wenn sie zu ihm kamen, spendete der Pater aus der gleichen Kraft, doch nicht in priesterlicher Form. Oft nannte Bruder Otho, der viele Tempel und Mysterien kannte, es an diesem Geiste das Wundersame, daß er so hohe Grade der Erkenntnis mit der strikten Regel zu vereinigen verstand. Bruder Otho meinte, daß wohl auch das Dogma die Grade der Vergeistigung begleite — wie ein Gewand, das auf den frühen Stufen mit Gold und Purpurstoff durchflochten ist und dann mit jedem Schritte an unsichtbarer Qualität gewinnt, indes das Muster sich allmählich im Licht verliert. Bei dem Vertrauen, das alle Kräfte, die an der Marina wirkten, dem Pater Lampros zollten, war er in den Gang der Dinge vollkommen eingeweiht. Er übersah das Spiel, das dort getrieben wurde, wohl besser als jeder andere, und daher kam es uns seltsam vor, daß er in seinem klösterlichen Leben sich nicht berühren ließ. Es schien vielmehr, daß in den gleichen Graden, in denen die Gefahr sich näherte, sein Wesen sich erheiterte und stärker leuchtete. ~ 73 ~

Oft sprachen wir darüber, wenn wir in unserer Rauten-Klause am Rebholz-Feuer saßen — denn in bedrohten Zeiten ragen solche Geister wie Türme aus dem schwankenden Geschlecht. Wir fragten uns zuweilen, ob die Verderbnis ihm schon zu weit fortgeschritten scheine, um sie zu heilen; oder ob Bescheidenheit und Stolz ihn hinderten, im Streite der Parteien aufzutreten, sei es in Worten, sei es mit der Tat. Doch traf wohl Bruder Otho den Zusammenhang am besten, wenn er sagte, daß für Naturen wie die seine die Zerstörung des Schrecklichen entbehre, und sie geschaffen seien, in die hohen Grade des Feuers einzutreten wie durch Portale in das Vaterhaus. Er, der gleich einem Träumer hinter Klostermauern lebe, sei von uns allen vielleicht allein in voller Wirklichkeit. Wie dem auch sei — wenn Pater Lampros die Sicherheit für sich verschmähte, so zeigte er sich doch getreu um uns besorgt. Oft kamen seine Zettel, die er als Phyllobius unterschrieb, und mahnten uns, hier oder dort nach einer seltenen Blume, die gerade blühe, auf Exkursion zu gehn. Wir ahnten dann, daß er uns zu bestimmter Stunde an entferntem Orte wissen wollte, und handelten danach. Er mochte diese Form wohl wählen, weil er vieles unter Siegeln, die unverletzlich sind, erfuhr. Auch fiel uns auf, daß seine Boten, wenn wir nicht in der Klause weilten, uns diese Briefe durch Erio, nicht aber durch Lampusa übermittelten. ~ 74 ~

15. Als die Vernichtung stärker an die MarmorKlippen brandete, lebten Erinnerungen an unsere Mauretanier-Zeiten in uns auf, und wir erwogen den Ausweg der Gewalt. Noch hielten die Mächte an der Marina sich so die Waage, daß geringe Kräfte den Ausschlag geben konnten, denn solange die Sippenbünde miteinander kämpften, und Biedenhorn mit seinen Söldnern sich zweifelhaft verhielt, verfügte der Oberförster über geringes Personal. Wir erwogen, mit Belovar und seiner Sippe nachts auf die Jäger Jagd zu machen und jeden, der uns ins Garn geriet, zerfetzt am Kreuzweg aufzuhängen, um so den Gäuchen aus den Tannicht-Dörfern in einer Sprache zuzusprechen, wie sie ihnen allein verständlich war. Wenn wir solche Pläne berieten, ließ der Alte vor Wonne den breiten Dolch in seiner Scheide hüpfen wie zum Liebes-Spiele und drängte, daß wir die Fangeisen schärfen sollten, und daß die Hetzer hungerten, bis ihnen die Blutwitterung die roten Zungen zum Boden hecheln ließ. Dann fühlten auch wir, daß uns die Macht des Triebes wie ein Blitzstrahl in die Glieder fuhr. Wenn wir indessen im Herbarium oder in der Bibliothek die Lage gründlicher besprachen, entschlossen wir uns immer fester, allein durch reine Geistesmacht zu widerstehn. Nach Alta Plana glaubten wir erkannt zu haben, daß es Waffen gibt, ~ 75 ~

die stärker sind als jene, die schneiden und durchbohren, doch fielen wir zuweilen wie Kinder in jene frühe Welt, in welcher der Schrecken allmächtig ist, zurück. Wir kannten noch nicht die volle Herrschaft, die dem Menschen verliehen ist. In dieser Hinsicht war der Umgang mit Pater Lampros uns von höchstem Wert. Wohl würden wir uns auch aus eigenem Herzen in jenem Sinne, in dem wir an die Marina zurückgekommen waren, entschieden haben; und doch wird uns vor solcher Wendung ein anderer zur Hilfe beigesandt. Die Nähe des guten Lehrers gibt uns ein, was wir im Grunde wollen, und sie befähigt uns, wir selbst zu sein. Daher lebt uns das edle Vorbild tief im Herzen, weil wir an ihm erahnen, weß wir fähig sind. So brach für uns an der Marina eine sonderbare Zeit heran. Indes die Untat im Lande wie ein Pilzgeflecht im morschen Holze wucherte, versenkten wir uns immer tiefer in das Mysterium der Blumen, und ihre Kelche schienen uns größer und leuchtender als sonst. Vor allem aber setzten wir unsere Arbeit an der Sprache fort, denn wir erkannten im Wort die Zauberklinge, vor deren Strahle die Tyrannen-Macht erblaßt. Dreieinig sind das Wort, die Freiheit und der Geist. Ich darf wohl sagen, daß die Mühe uns gedieh. An manchem Morgen erwachten wir in großer Heiterkeit, und wir verspürten auf der Zunge den Wohlgeschmack, wie seiner der Mensch im Stande der ~ 76 ~

höheren Gesundheit teilhaftig wird. Dann fiel es uns nicht schwer, die Dinge zu benennen, und wir bewegten uns in der Rauten-Klause wie in einem Raume, der in den Kammern magnetisch aufgeladen war. In einem feinen Rausch und Wirbel durchschritten wir die Gemächer und den Garten und legten zuweilen unsere Zettelchen auf den Kamin. An solchen Tagen suchten wir bei hohem SonnenStande die Zinne der Marmor-Klippen auf. Wir schritten über die dunklen Hieroglyphen der LanzenOttern auf dem Schlangen-Pfade und stiegen die Stufen der Felsentreppe an, die hell im Lichte schimmerten. Vom höchsten Grat der Klippen, der im Mittag blendend und fernhin leuchtete, sahen wir lange auf das Land, und unsere Blicke suchten sein Heil in jeder Falte, in jedem Raine zu erspähen. Dann fiel es uns wie Schuppen von den Augen, und wir begriffen es, so wie die Dinge in den Gedichten leben, im Glänze seiner Unzerstörbarkeit. Und freudig erfaßte uns das Wissen, daß die Vernichtung in den Elementen nicht Heimstatt findet, und daß ihr Trug sich auf der Oberfläche gleich Nebelbildern kräuselt, die der Sonne nicht widerstehn. Und wir erahnten: wenn wir in jenen Zellen lebten, die unzerstörbar sind, dann würden wir aus jeder Phase der Vernichtung wie durch offene Tore aus einem Festgemach in immer strahlendere gehn. Oft meinte Bruder Otho, wenn wir auf der Höhe der Marmor-Klippen standen, daß dies der Sinn des ~ 77 ~

Lebens sei — die Schöpfung im Vergänglichen zu wiederholen, so wie das Kind im Spiel das Werk des Vaters wiederholt. Das sei der Sinn von Saat und Zeugung, von Bau und Ordnung, von Bild und Dichtung, daß in ihnen das große Werk sich künde wie in Spiegeln aus buntem Glase, das gar bald zerbricht.

16. So denken wir an unsere stolzen Tage gern zurück. Doch sollen wir auch jene nicht verschweigen, in denen das Niedere über uns Gewalt gewann. In unseren schwachen Stunden erscheint uns die Vernichtung in schrecklicher Gestalt, wie jene Bilder, die man in den Tempeln der Rache-Götter sieht. So graute für uns gar mancher Morgen, an dem wir zagend durch die Rauten-Klause schritten, und freudlos sannen wir im Herbarium und in der Bibliothek. Dann pflegten wir die Läden fest zu schließen und lasen bei Licht vergilbte Blätter und Skripturen, die uns dereinst auf mancher Fahrt begleiteten. Auch sahen wir in alte Briefe und schlugen zum Troste die bewährten Bücher auf, in denen Herzen uns Wärme spenden, die seit viel hundert Jahren vermodert sind. So lebt die Glut der großen Erdensommer in dunklen Kohlen-Adern nach. An solchen Tagen, die der Spleen regierte, schlossen wir auch die Türen, die zum Garten führten, da ~ 78 ~

uns der frische Blumenduft zu feurig war. Am Abend schickten wir Erio in die Felsenküche, damit Lampusa ihm einen Krug von jenem Weine füllte, der im Kometenjahr gekeltert war. Wenn dann das Rebholz-Feuer im Kamine flammte, setzten wir nach einem Brauche, den wir uns in Britannien angeeignet hatten, die DuftAmphoren auf. Wir pflegten dazu die Blütenblätter einzusammeln, wie sie die Jahreszeiten brachten, und preßten sie, nachdem wir sie getrocknet hatten, in weite, bauchige Gefäße ein. Wenn wir zur Winterszeit die Deckel von den Krügen hoben, dann war der bunte Flor längst abgeblaßt und in den Farben vergilbter Seide und fahlen Purpurstoffs dahingewelkt. Doch kräuselte aus diesem Blüten-Grummet gleich der Erinnerung an Reseden-Beete und Rosengärten ein matter, wundersamer Duft empor. Auch brannten wir zu diesen trüben Festen schwere Kerzen aus Bienenwachs. Sie stammten noch aus der Abschieds-Gabe des Provencalen-Ritters Deodat, der längst im wilden Taurus gefallen war. Bei ihrem Scheine gedachten wir dieses edlen Freundes und der Abendstunden, die wir auf Rhodos’ hohem Mauer-Ringe mit ihm verplaudert hatten, indes die Sonne am wolkenlosen Himmel der Ägäis unterging. Mit ihrem Sinken drang ein milder Lufthauch aus dem Galeeren-Hafen in die Stadt. Dann mischte sich der süße Duft der Rosen mit dem Ruch der Feigenbäume, und in die Meeresbrise schmolz die ~ 79 ~

Essenz von fernen Wald- und Kräuterhängen ein. Vor allem aber stieg aus den Graben-Werken, auf deren Grund in gelben Polstern die Kamille blühte, ein tiefer, köstlicher Geruch empor. Mit ihm erhoben sich die letzten, honigschweren Bienen und flogen durch die Mauerschlitze und Zinnen-Scharten den Körben in den kleinen Gärten zu. Ihr trunkenes Schwirren hatte, wenn wir auf dem Bollwerk der Porta d’Amboise standen, uns so oft ergötzt, daß Deodat beim Scheiden uns eine Last von ihrem Wachse mit auf den Weg gegeben hatte — „daß ihr die goldenen Summerinnen der RosenInsel nicht vergeßt“. Und wirklich sprühte, wenn wir die Kerzen brannten, von ihren Dochten ein zartes, trockenes Arom nach Spezereien und nach den Blumen, die in Sarazenen-Gärten blühn. So leerten wir das Glas auf alte und ferne Freunde und auf die Länder dieser Welt. Uns alle faßt ja ein Bangen, wenn die Lüfte des Todes wehn. Dann essen und trinken wir im Sinnen, wie lange an diesen Tafeln noch der Platz für uns bereitet ist. Denn die Erde ist schön. Daneben bedrückte uns ein Gedanke, der allen, die an Werken des Geistes schaffen, geläufig ist. Wir hatten so manches Jahr beim Studium der Pflanzen verbracht und dabei Öl und Mühe nicht gespart. Auch hatten wir gern das väterliche Erbteil zugesetzt. Nun fielen die ersten reifen Früchte uns in den Schoß. Dann waren da die Briefe, die ~ 80 ~

Skripturen, Kollektaneen und Herbarien, die Tagebücher aus Kriegs- und Reisejahren und insbesondere die Materialien zur Sprache, die wir aus vielen tausend Steinchen gesammelt hatten und deren Mosaik schon weit gediehen war. Aus diesen Manuskripten hatten wir erst weniges ediert, denn Bruder Otho meinte, daß vor Tauben zu musizieren, ein schlechtes Handwerk sei. Wir lebten in Zeiten, in denen der Autor zur Einsamkeit verurteilt ist. Und dennoch hätten wir bei diesem Stande der Dinge gar manches gern gedruckt gesehen — nicht um des Nachruhms willen, der ja nicht minder zu den Formen des Wahnes als der Augenblick gehört, sondern weil sich im Druck das Siegel des Abgeschlossenen und Unveränderlichen verbirgt, an dessen Anblick sich auch der Einsame ergötzt. Wir gehen lieber, wenn die Dinge in Ordnung sind. Wenn wir um unsere Blätter bangten, gedachten wir oft der heiteren Ruhe des Phyllobius. Wir lebten doch ganz anders in der Welt. Uns schien es allzu schwer, daß wir uns von den Werken trennen sollten, in denen wir webten und wurzelten. Doch hatten wir zum Trost den Spiegel Nigromontans, an dessen Anblick wir uns stets, wenn wir in solcher Stimmung waren, erheiterten. Er stammte aus dem Nachlaß meines alten Lehrers, und seine Eigenschaft war die, daß sich die Sonnenstrahlen durch ihn zu einem Feuer von hoher Kraft verdichteten. Die Dinge, die man an solcher Glut entzündete, gingen ins Unver~ 81 ~

gängliche auf eine Weise, von der Nigromontanus meinte, daß sie am besten dem reinen Destillat vergleichbar sei. Er hatte diese Kunst in Klöstern des Fernen Orients erlernt, wo man den Toten ihre Schätze zu ewigem Geleit verbrennt. Ganz ähnlich meinte er, daß alles, was man mit Hilfe dieses Spiegels entflammen würde, im Unsichtbaren weit sicherer als hinter Panzertüren aufgehoben sei. Es würde durch eine Flamme, die weder Rauch noch niedere Röte zeige, in Reiche, die jenseits der Zerstörung liegen, überführt. Nigromontanus nannte das die Sicherheit im Nichts, und wir beschlossen, sie zu beschwören, wenn die Stunde der Vernichtung gekommen war. Wir hielten daher den Spiegel wert wie einen Schlüssel, der zu hohen Kammern führt, und öffneten an solchen Abenden behutsam das blaue Futteral, das ihn umschloß, um uns an seinem Funkeln zu erfreuen. Dann glänzte im Kerzenlichte seine Scheibe aus hellem Bergkristall, die rundum von einem Ring aus Elektron umgeben war. In diese Fassung hatte Nigromontan in Sonnen-Runen einen Spruch gegraben, der seiner Kühnheit würdig war. „Und sollte die Erde wie ein Geschoß zerspringen, Ist unsere Wandlung Feuer und weiße Glut.“ Auf der Gegenseite waren ameisenfüßig in PaliSchrift die Namen dreier Witwen von Königen ge~ 82 ~

ritzt, die singend beim Totenprunke den Scheiterhaufen bestiegen hatten, nachdem er von Brahmanen-Hand mit Hilfe dieses Spiegels entzündet war. Neben dem Spiegel lag noch eine kleine Lampe, die auch aus Bergkristall geschnitten und mit dem Zeichen der Vesta versehen war. Sie war bestimmt, die Kraft des Feuers für Stunden der Sonnenferne zu bewahren oder für Augenblicke, in denen Eile geboten war. Mit dieser Lampe, und nicht mit Fackeln, wurde auch der Scheiterhaufen bei Olympia entzündet, als Peregrinus Proteus, der sich dann Phoenix nannte, im Angesichte einer ungeheuren Menschenmenge ins offene Feuer sprang, um sich dem Äther zu vereinigen. Die Welt kennt diesen Mann und seine hohe Tat nur durch das lügenhafte Zerrbild Lukians. In jeder guten Waffe liegt Zauberkraft; wir fühlen uns schon im Anblick wunderbar gestärkt. So ging es uns auch mit dem Spiegel Nigromontans; sein Blitzen weissagte uns, daß wir nicht gänzlich untergehen würden, ja, daß das Beste in uns den niederen Gewalten unzugänglich war. So ruhen unsere hohen Kräfte unverletzlich wie in den Adler-Schlössern aus Kristall. Der Pater Lampros freilich lächelte und meinte, es gäbe Sarkophage auch für den Geist. Die Stunde der Vernichtung aber müsse die Stunde des Lebens sein. So konnte ein Priester sprechen, der sich vom ~ 83 ~

Tode angezogen fühlte wie von fernen Katarakten, in deren Wirbelfahnen die Sonnenbogen stehen. Wir aber waren in der Lebensfülle und fühlten uns der Zeichen sehr bedürftig, die auch das körperliche Auge erkennen kann. So glänzt uns Sterblichen erst in der Mannigfaltigkeit der Farben das eine und unsichtbare Licht.

17. Es fiel uns auf, daß jene Tage, an denen uns der Spleen erfaßte, auch Nebeltage waren, an denen das Land sein heiteres Gesicht verlor. Die Schwaden brauten dann aus den Wäldern wie aus üblen Küchen und wallten in breiten Bänken auf die Campagna vor. Sie stauten sich an den Marmor-Klippen und schoben bei Sonnenaufgang träge Ströme ins Tal hinab, das bald bis an die Spitzen der Dome im weißen Dunst verschwunden war. Bei solchem Wetter fühlten wir uns der Augenkraft beraubt und spürten, daß sich das Unheil wie unter einem dichten Mantel ins Land einschlich. Wir taten daher gut, wenn wir den Tag bei Licht und Wein im Haus verbrachten; und dennoch trieb es uns oft, hinauszugehn. Es schien uns nämlich nicht allein, daß draußen die Feuerwürmer ihr Wesen trieben, sondern als ob zugleich das Land sich in der Form verändere — als ob sich seine Wirklichkeit vermindere. Daher beschlossen wir oft auch an Nebel~ 84 ~

tagen, auf Exkursion zu gehen, und suchten dann vor allem die Weidegründe auf. Auch war es stets ein ganz bestimmtes Kraut, das zu erbeuten wir uns zum Ziele setzten; wir suchten, wenn ich so sagen darf, im Chaos uns an Linnaeus’ Wunderwerk zu halten, das einen der Säulen-Türme stellt, von denen der Geist die Zonen des wilden Wachstums überblickt. In diesem Sinne spendete ein kleines Pflänzlein, das wir brachen, uns oft großen Schein. Auch kam noch etwas anderes hinzu, das ich als eine Art von Scham bezeichnen möchte — wir sahen nämlich das Waldgelichter nicht als Gegner an. In diesem Sinne hielten wir stets darauf, daß wir auf Pflanzenjagd und nicht im Kampfe waren, und so die niedere Bosheit zu vermeiden hatten, wie man den Sümpfen und wilden Tieren aus dem Wege geht. So billigten wir dem Lemuren-Volke nicht Willensfreiheit zu. Nie dürfen solche Mächte uns in einem Maße das Gesetz vorschreiben, daß uns die Wahrheit aus den Augen kommt. An solchen Tagen waren die Treppenstufen, die auf die Marmor-Klippen führten, vom Nebel feucht, und kühle Winde sprühten die Schwaden über sie hinab. Obwohl sich auf den Weidegründen viel verändert hatte, waren uns doch die alten Pfade noch vertraut. Sie führten durch die Ruinen reicher Höfe, die nun ein kalter Brandgeruch durchwob. Wir sahen in den eingestürzten Ställen die Knochen des ~ 85 ~

Viehes bleichen, mit Huf und Horn und mit der Kette noch um den Hals. Im Innenhofe türmte sich der Hausrat, wie er von den Feuer-Würmern aus den Fenstern geworfen und dann geplündert worden war. Da lag die Wiege zerbrochen zwischen Stuhl und Tisch, und Nesseln grünten um sie empor. Nur selten stießen wir auf versprengte Trupps von Hirten; sie führten wenig und kümmerliches Vieh. Von den Kadavern, die auf den Weiden faulten, waren Seuchen aufgestiegen und hatten das große Sterben in die Herden eingeführt. So bringt der Untergang der Ordnung niemandem Heil. Nach einer Stunde stießen wir auf den Hof des alten Belovar, der fast allein an alte Zeiten erinnerte, denn er lag reich an Vieh und unversehrt im Kranze der grünen Weiden da. Der Grund lag darin, daß Belovar zugleich ein freier Hirte und Sippenführer war, und daß er seit Beginn der Wirren sein Gut von allem streifenden Gesindel sauber gehalten hatte, so daß seit langem kein Jäger und kein Feuer-Wurm sich traute, auch nur von ferne an ihm vorbeizugehn. Was er von diesen in Feld und Busch erschlug, das zählte er seinen guten Werken zu und schnitt aus solchem Grunde nicht einmal eine neue Kerbe in seinen Dolch. Auch hielt er streng darauf, daß alles Vieh, das ihm in seinen Marken zugrunde ging, tief eingegraben und mit Kalk beschüttet wurde, damit die böse Luft sich nicht verbreitete. So kam es, daß man zu ihm durch große Herden von roten und bunt ~ 86 ~

gescheckten Rindern ging, und daß sein Haus und seine Scheuern noch weithin leuchteten. Auch lachten die kleinen Götter, die seine Grenzen schützten, uns stets im Glänze frischer Spenden an. So liegt zuweilen im Kriege ein Außenfort noch unversehrt, wenn längst die Festung gefallen ist. In dieser Weise bot uns der Hof des Alten einen Stützpunkt dar. Wir konnten hier sicher rasten und mit ihm plaudern, indes Milina, sein junges Weibchen, uns in der Küche Wein mit Safran kochte und Kuchen im Butterkessel sott. Auch hatte der Alte noch eine Mutter, die fast an hundert Jahr alt war und dennoch aufrecht wie ein Licht durch Haus und Höfe schritt. Wir sprachen mit der Bestemutter gern, denn sie war kräuterkundig und kannte Sprüche, deren Kraft das Blut gerinnen macht. Auch ließen wir uns von ihrer Hand betasten, wenn wir Abschied nahmen, um weiter vorzugehn. Meist wollte der Alte uns begleiten, doch nahmen wir ihn nur ungern mit. Es schien, als zöge seine Nähe uns das Gelichter aus den Tannicht-Dörfern auf den Hals, so wie die Hunde sich rühren, wenn der Wolf um die Gemarkung streift. Das war wohl nach des Alten Herzen; wir aber hatten dort anderes im Sinn. Wir gingen ohne Waffen, ohne Knechte und zogen leichte, silbergraue Mäntel über, um im Nebel verborgener zu sein. So tasteten wir uns durch Moor- und Schilfgelände behutsam auf die Hörner und auf den Waldrand vor. ~ 87 ~

Sehr bald, wenn wir den Weidegrund verließen, bemerkten wir, daß die Gewalt nun näher und stärker war. Die Nebel wallten in den Büschen, und das Röhricht zischelte im Wind. Ja, selbst der Boden, auf dem wir schritten, kam uns fremder und unbekannter vor. Vor allem aber war es bedenklich, daß sich die Erinnerung verlor. Dann wurde das Land ganz trügerisch und schwankend und den Gefilden ähnlich, die man in Träumen sieht. So gab es immer Orte, die wir mit Sicherheit erkannten, doch gleich daneben wuchsen wie Inseln, die aus dem Meere tauchen, neue und rätselhafte Streifen an. Um hier die rechte und wahre Topographie zu schaffen, bedurfte es unserer ganzen Kraft. Wir taten daher wohl, die Abenteuer zu vermeiden, nach denen der alte Belovar begierig war. So schritten und weilten wir oft viele Stunden in Moor und Ried. Wenn ich die Einzelheiten dieses Werkes nicht beschreibe, so liegt das daran, daß wir Dinge trieben, die außerhalb der Sprache liegen, und die sich daher dem Banne, den Worte üben, entziehen. Indessen erinnert sich ein jeder, daß sein Geist, sei es in Träumen oder tiefem Sinnen, sich angestrengt in Regionen mühte, die er nicht schildern kann. Es war, als ob er sich in Labyrinthen zurechtzutasten suchte oder die Zeichnungen zu schauen, die im Vexierbild eingeschlossen sind. Und manchmal erwachte er wundersam gestärkt. In Solchem findet unsere beste Arbeit statt, und so schien es auch uns, daß uns im ~ 88 ~

Kampfe selbst die Sprache noch nicht genüge, sondern daß wir bis in die Traumes-Tiefe dringen müßten, um die Bedrohung zu bestehn. Und wirklich erschien uns, wenn wir einsam in Moor und Röhricht standen, das Beginnen oft wie ein feines Spiel mit Zug und Gegenzug. Dann brauten die Nebel stärker auf, und doch schien auch in unserem Inneren zugleich die Kraft zu wachsen, die Ordnung schafft.

18. Indessen ließen wir bei keinem dieser Gänge die lumen außer acht. Sie gaben uns die Richtung, so wie der Kompaß den Weg durch ungewisse Meere weist. So war es auch an jenem Tage, an dem wir in das Innere des Filler-Hornes drangen, und dessen wir uns später nur mit Grausen erinnerten. Wir hatten uns am Morgen, als wir die Nebel aus den Wäldern bis an die Marmor-Klippen kochen sahen, vorgenommen, nach dem roten Waldvögelein zu fahnden, und hatten uns, nachdem Lampusa das Frühstück zugerüstet, bald auf den Weg gemacht. Das rote Waldvögelein ist eine Blume, die vereinzelt in Wäldern und Dickichten gedeiht, und führt den Namen Rubra, den Linnaeus ihr verliehen, im Unterschiede zu zwei blassen Arten, doch blüht es seltener als sie. Da diese Pflanze die Stellen liebt, an denen die Dickungen sich lichten, meinte Bruder ~ 89 ~

Otho, daß sie vielleicht am besten bei Köppels-Bleek zu suchen sei. So nannten die Hirten einen alten Kahlschlag, der an dem Orte liegen sollte, an dem der Waldrand in die Sichel des Filler-Hornes mündet, und der verrufen war. Am Mittag waren wir bei dem alten Belovar, doch nahmen, da wir uns der vollen Geisteskraft bedürftig fühlten, wir keine Nahrung an. Wir streiften die silbergrauen Mäntel über, und da die Bestemutter uns, ohne Widerstand zu finden, abgetastet hatte, entließ der Alte uns getrost. Gleich hinter seiner Grenze setzte ein tolles Nebeltreiben ein, das alle Formen verwischte und uns bald Weg und Steg verlieren ließ. So irrten wir im Kreis auf Moor und Heide und machten zuweilen zwischen Gruppen von alten Weiden oder an trüben Tümpeln, aus denen hohe Binsen wuchsen, Halt. Die Ödnis schien an diesem Tage belebter, denn wir hörten im Nebel Rufe und glaubten Gestalten zu erkennen, die nah im Dunst an uns vorüberglitten, doch ohne uns zu sehn. Wir hätten in diesem Trubel gewiß den Weg zum Filler-Horn verfehlt, allein wir hielten uns an den Sonnentau. Wir wußten, daß dieses Kräutlein den feuchten Gürtel, der den Wald umringte, besiedelt hielt, und folgten dem Muster seiner glänzend grünen und rot behaarten Blätter wie einem Teppichsaum. Auf diese Weise erreichten wir die drei hohen Pappeln, die sonst bei klarem Wetter die Spitze des Filler-Hornes wie Lan~ 90 ~

zenschäfte weithin zeichneten. Von diesem Punkte tasteten wir uns an der Sichelschneide bis an den Waldrand vor und drangen dort in die größte Breite des Filler-Hornes ein. Nachdem wir einen dichten Saum von Schlehdorn und Kornellen durchbrochen hatten, traten wir in den Hochwald ein, in dessen Gründen noch nie der Schlag der Axt erklungen war. Die alten Stämme, die den Stolz des Oberförsters bildeten, standen im feuchten Glanz wie Säulen, deren Kapitale der Dunst verbarg. Wir schritten unter ihnen wie durch weite Vestibüle, und gleich dem Zauberwerk auf einer Bühne hingen Efeuranken und ClematisBlüten aus dem Unsichtbaren auf uns herab. Der Boden war hoch bedeckt mit Mulm und moderndem Geäst, auf dessen Rinde sich Pilze, brennend rote Becherlinge, angesiedelt hatten, sodaß uns ein Gefühl von Tauchern, die durch Korallengärten wandeln, überschlich. Wo einer dieser Riesenstämme vom Alter oder durch den Blitz geworfen war, da traten wir auf kleine Lichtungen hinaus, auf denen der gelbe Fingerhut in dichten Büscheln stand. Auch wucherten Tollkirschen-Sträucher auf dem morschen Grunde, an deren Zweigen die Blumenkelche in braunem Violett wie Toten-Glöckchen schaukelten. Die Luft war still und drückend, doch scheuchten wir mannigfache Vögel auf. So hörten wir das feine Zirpen, mit dem das Feuer-Hähnchen durch die ~ 91 ~

Lärchen streift, und auch die Warnungs-Rufe, mit denen die aufgeschreckte Drossel ihr Liedchen unterbricht. Mit Kichern barg sich der Wendehals im hohlen Erlenstamm, und in den Eichenkronen gaben uns die Pirole mit gaukelndem Gelächter das Geleit. Auch hörten wir in der Ferne den trunkenen Täuber girren und das Hämmern der Spechte am toten Holz. So pürschten wir langsam einen flachen Hügel an, bis Bruder Otho, der ein wenig im voraus war, mir zurief, daß die Rodung ganz nahe sei. Dies war der Augenblick, in dem ich das rote Waldvögelein, nach dem wir suchten, im Dämmer schimmern sah, und freudig eilte ich darauf zu. Das Blümlein machte seinem Namen Ehre, denn es schien einem Vögelchen zu gleichen, das heimlich im kupferbraunen Buchenlaube nistete. Ich sah die schmalen Blätter und die Purpur-Blüte mit der blassen Spitze der Honiglippe, durch die sie ausgezeichnet ist. Den Forscher, den so der Anblick eines Pflänzleins oder eines Tieres überrascht, ergreift ein glückliches Gefühl, als hätte die Natur ihn reich beschenkt. Bei solchen Funden pflegte ich, ehe ich sie berührte, Bruder Otho anzurufen, daß er die Freude mit mir teile, doch als ich eben den Blick zu ihm erheben wollte, hörte ich einen Klagelaut, der mich erschrecken ließ. So strömt nach Wunden, die uns tief verletzten, der Lebensatem langsam aus der Brust. Ich sah ihn wie gebannt dicht vor mir auf der ~ 92 ~

Hügelkuppe stehen, und als ich zu ihm eilte, hob er die Hand und lenkte meinen Blick. Da fühlte ich es wie mit Krallen mir nach dem Herzen greifen, denn vor mir ausgebreitet lag die Stätte der Unterdrückung in ihrer vollen Schmach.

19. Wir standen hinter einem kleinen Busche, der feuerrote Beeren trug, und schauten auf die Rodung von Köppels-Bleek hinaus. Das Wetter hatte sich geändert, denn wir erblickten von den Nebelschwaden, die uns seit den Marmor-Klippen begleitet hatten, hier keine Spur. Die Dinge traten vielmehr in voller Deutlichkeit hervor, so wie im Zentrum eines Wirbelsturmes, in stiller und unbewegter Luft. Auch waren die Vogelstimmen nun verstummt, und nur ein Kuckuck lichterte, wie es die Sitte seiner Sippschaft ist, am dunklen Waldrand hin und her. Bald nah, bald ferner hörten wir sein spöttisches und fragendes Gelächter Kuck-Kuck, Kuck-Kuck rufen, und dann sich triumphierend überschlagen, daß unser Blut ein Frösteln überlief. Die Rodung war mit dürrem Grase überwachsen, das nur im Hintergrunde der grauen KardenDistel, die man auf Abraum-Plätzen findet, wich. Von diesem trockenen Bestände hoben sich seltsam frisch zwei große Büsche ab, die wir beim ersten Blick für Lorbeer-Sträucher hielten, doch waren die ~ 93 ~

Blätter gelb gescheckt, wie man dergleichen in Fleischerläden sieht. Sie wuchsen zu beiden Seiten einer alten Scheuer, die weit geöffnet auf der Rodung stand. Das Licht, das sie beschien, war zwar kein Sonnenlicht, doch gleißend und schattenlos und hob den weißgetünchten Bau sehr scharf hervor. Die Mauern waren durch schwarze Balken, die auf drei Füßen standen, in Fächer eingeteilt, und über ihnen stieg spitz ein graues Schindeldach empor. Auch waren Stangen und Haken an sie angelehnt. Über dem dunklen Tore war am Giebel-Felde ein Schädel festgenagelt, der dort im fahlen Lichte die Zähne bleckte und mit Grinsen zum Eintritt aufzufordern schien. Wie eine Kette im Kleinod endet, so schloß in ihm ein schmaler Giebelfries, der wie aus braunen Spinnen gebildet schien. Doch gleich errieten wir, daß er aus Menschen-Händen an die Mauer geheftet war. Wir sahen das so deutlich, daß wir den kleinen Pflock erkannten, der durch den Teller einer jeden getrieben war. Auch an den Bäumen, die die Rodung säumten, bleichten die Totenköpfe, von denen mancher, dem in den Augenhöhlen schon Moos gewachsen war, mit dunklem Lächeln uns zu mustern schien. Es war ganz still bis auf den tollen Tanz, mit dem der Kuckuck um die Schädel-Bleiche lichterte. Ich hörte, wie Bruder Otho, halb träumend, flüsterte: „Ja, das ist Köppels-Bleek.“ ~ 94 ~

Das Innere der Scheune lag fast im Dunkel, und wir erkannten nur dicht am Eingang eine Schinderbank mit aufgespannter Haut. Dahinter schimmerten noch bleiche, schwammige Massen aus dem finstren Grund. Zu ihnen sahen wir in die Scheuer Schwärme stahlfarbener und goldener Fliegen schwirren wie in ein Bienenhaus. Dann fiel der Schatten eines großen Vogels auf den Platz. Er rührte von einem Geier, der mit ausgezackten Schwingen auf das Kardenfeld herniederstieß. Erst als wir ihn bis an den roten Hals langsam im aufgewühlten Grunde schnäbeln sahen, erkannten wir, daß dort ein Männlein mit der Hacke am Werke war, und daß der Vogel seine Arbeit begleitete, so wie der Rabe dem Pfluge folgt. Nun legte das Männlein die Hacke nieder und schritt, ein Liedchen pfeifend, auf die Scheuer zu. Es war in einen grauen Wams gekleidet, und wir sahen, daß es sich wie nach wackrem Werk die Hände rieb. Nachdem es in die Scheuer eingetreten war, begann ein Pochen und Schaben an der Schinderbank, dazu es in lemurenhafter Heiterkeit sein Liedchen weiterpfiff. Dann hörten wir, wie zur Begleitung, im Tannicht den Wind sich wiegen, sodaß die bleichen Schädel an den Bäumen im Chore klapperten. Auch mischten sich in sein Wehen das Schwingen der Haken und das Kraspeln der dürren Hände an der Scheuerwand. Das klang so hölzern und beinern wie im Reich des Todes ein Marionetten-Spiel. Zugleich trieb mit dem Winde ein zäher, ~ 95 ~

schwerer und süßer Hauch der Verwesung an, der uns bis in das Mark der Knochen erzittern ließ. Wir fühlten, wie in unserem Inneren die Lebens-Melodie auf ihre dunkelste, auf ihre tiefste Saite übergriff. Wir wußten später nicht zu sagen, wie lange wir diesen Spuk betrachtet hatten — vielleicht nicht länger als einen Augenblick. Dann, wie erwachend, faßten wir uns an den Händen und stürzten in den Hochwald des Filler-Horns zurück, indes der Kuckucks-Ruf uns höhnend geleitete. Nun kannten wir die üble Küche, aus der die Nebel über die Marina zogen — da wir nicht weichen wollten, hatte der Alte sie uns ein wenig deutlicher gezeigt. So sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich erheben, und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht —: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt. Dann schweigen die Musen, und die Wahrheit beginnt zu flackern wie eine Leuchte in böser Wetterluft. Da sieht man die Schwachen schon weichen, wenn kaum die ersten Nebel brauen, doch selbst die Krieger-Kaste beginnt zu zagen, wenn sie das Larven-Gelichter aus den Niederungen auf die Bastionen emporgestiegen sieht. So kommt es, daß Kriegesmut auf dieser Welt im zweiten Treffen steht; und nur die Höchsten, die mit uns leben, dringen bis in den Sitz des ~ 96 ~

Schreckens ein. Sie wissen, daß alle diese Bilder ja nur in unserem Herzen leben, und schreiten als durch vorgestellte Spiegelungen durch sie in stolze Siegestore ein. So werden sie durch die Larven gar herrlich in ihrer Wirklichkeit erhöht. Uns aber hatte der Totentanz auf KöppelsBleek im Innersten geschreckt, und schaudernd standen wir im tiefen Walde und lauschten dem Kuckucks-Ruf. Dann aber begann die Scham uns zu ergreifen, und es war Bruder Otho, der verlangte, daß wir uns gleich noch einmal an die Rodung zurückbegeben sollten, weil das rote Waldvögelein nicht in das Fundbuch eingetragen worden sei. Wir pflegten nämlich über alle Pflanzenfunde an Ort und Stelle Tagebuch zu führen, da wir erfahren hatten, daß uns in der Erinnerung viel entging. So dürfen wir wohl sagen, daß unsere Florula Marinae im Feld entstanden ist. Wir pürschten also, ohne uns an den KuckucksRuf zu kehren, wieder bis an den kleinen Hügel vor und suchten dann im Laube das Pflänzlein auf. Nachdem wir es noch einmal gut betrachtet hatten, hob Bruder Otho seinen Wurzelstock mit unserem Spatel aus. Dann maßen wir das Kraut in allen seinen Teilen mit dem Zirkel aus und trugen mit dem Datum auch die Einzelheiten des Fundorts in unser Büchlein ein. Wir Menschen, wenn wir so in den uns zugemessenen Berufen am Werke sind, stehen im Amt — und ~ 97 ~

es ist seltsam, daß uns dann sogleich ein stärkeres Gefühl der Unversehrbarkeit ergreift. Wir hatten das bereits im Feld erfahren, wo der Krieger, wenn die Nähe des Todes an ihm zu zehren droht, sich gern den Pflichten widmet, die seinem Stande vorgeschrieben sind. In gleicher Weise hatte uns die Wissenschaft gar oft gestärkt. Es liegt im Blick des Auges, der sich erkennend und ohne niedere Blendung auf die Dinge richtet, eine große Kraft. Er nährt sich von der Schöpfung auf besondre Weise, und hierin liegt allein die Macht der Wissenschaft. So fühlten wir, wie selbst das schwache Blümlein in seiner Form und Bildung, die unverwelklich sind, uns stärkte, dem Hauche der Verwesung zu widerstehn. Als wir dann durch das hohe Holz zum Waldrand schritten, war die Sonne hervorgetreten, wie man das zuweilen noch kurz vor ihrem Untergange an Nebeltagen sieht. In den durchbrochenen Kronen der Riesenbäume lag goldener Schein, und golden war auch der Glanz des Mooses, das unser Fuß betrat. Die Kuckucks-Rufe waren nun längst verstummt, doch in den höchsten, Wipfeldürren Zweigen waren unsichtbar die Sprosser aufgezogen, köstliche Sänger, deren Stimme die kühle Feuchte inniglich durchdrang. Dann stieg mit grünem Schimmer, wie aus Grotten, der Abend auf. Den GeißblattRanken, die aus der Höhe herniederhingen, entströmte tiefer Duft, und schwirrend stiegen die ~ 98 ~

bunten Abendschwärmer zu ihren gelben BlütenHörnern auf. Wir sahen sie leise zitternd und wie im Wollust-Traum verloren vor den Lippen der aufgereckten Kelche stehen, dann stießen sie vibrierend den schmalen und leicht gekrümmten Rüssel in den süßen Grund. xxx Als wir bei den drei Pappeln das Filler-Horn verließen, begann bereits die bleiche Sichel des Mondes sich in Gold zu färben, und die Sterne traten am Firmament hervor. Im Binsengrunde stießen wir auf den alten Belovar, der in der Dämmerung mit seinen Knechten und Hetzern auf unsere Spur gegangen war. Der Alte lachte, als wir ihm nachher beim Safran-Weine die rote Blume zeigten, die wir in Klöppels-Bleek erbeutet hatten; wir aber schwiegen und baten ihn beim Abschied, auf seinem schönen und unversehrten Hofe wohl auf der Hut zu sein.

20. Es gibt Erfahrungen, die uns von neuem zur Prüfung zwingen, und zu ihnen zählte für uns der Einblick in die Schinderhütte bei Köppels-Bleek. Zunächst beschlossen wir, den Pater Lampros aufzusuchen, doch ehe wir ins Kloster der Falcifera gelangten, brach schon die Katastrophe über uns herein. Am nächsten Tage ordneten wir lange Skripturen im Herbarium und in der Bibliothek und legten vieles schon brandgerecht. Dann saß ich noch ein ~ 99 ~

wenig bei Beginn der Dunkelheit im Garten auf der Terrassen-Brüstung, um mich am Duft der Blumen zu erfreuen. Noch lag die Sonnenwärme auf den Beeten, und doch stieg aus den Ufergräsern bereits die erste Kühlung auf, die den Geruch des Staubes niederschlug. Dann fiel der Hauch der Mondviolen und der hellen Nachtkerzen-Blüten kaskadisch von den Marmor-Klippen in den Garten der Rauten-Klause ein. Und wie es Düfte gibt, die sinken, und andere, die aufwärtssteigen, so drang durch diese schweren Wellen ein leichteres und feineres Arom empor. Ich ging ihm nach und sah, daß in der Dämmerung die große Goldband-Lilie aus Zipangu aufgesprungen war. Es war noch Licht genug, den goldenen Flammenstrich zu ahnen, und auch die braune Tigerung, durch die der weiße Kelch gar prächtig gezeichnet war. In seinem hellen Grunde stand wie der Klöppel in der Glocke das Pistill, um das sechs schmale Staubgefäße sich im Kreise ordneten. Sie waren mit braunem Puder wie mit dem feinsten Auszug von Opium bedeckt und von den Faltern ganz unbeflogen, sodaß die zarte Scheide in ihrer Mitte noch leuchtete. Ich beugte mich über sie und sah, daß sie an ihren Fäden zitterten wie Spielwerk der Natur: gleich einem Glockenspiele, das statt der Töne muskatische Essenz verströmen ließ. Für immer wird es ein Wunder bleiben, daß diese zarten Lebe-Wesen so starke Liebeskraft beseelt. ~ 100 ~

Indem ich so die Lilien beschaute, blitzte unten am Weinbergs-Wege ein feiner blauer Lichtstrahl auf und schob sich tastend am Rebenhügel vor. Dann hörte ich, wie unten vor der RautenklausenPforte ein Wagen hielt. Obgleich wir Gäste nicht erwarteten, eilte ich doch, der Lanzen-Ottern wegen, zum Tor hinab und sah dort einen starken Wagen stehen, der leise summte wie ein Insekt, das fast unhörbar schwirrt. Er trug die Farben, die der hohe Adel von Neu-Burgund sich vorbehalten hat, und vor ihm standen zwei Männer, von denen der eine das Zeichen schlug, mit dem die Mauretanier sich in der Dunkelheit verständigen. Er nannte mir seinen Namen, Braquemart, an den ich mich erinnerte, und stellte mich dann dem andern vor, dem jungen Fürsten von Sunmyra, einem hohen Herren aus neuburgundischem Geschlecht. Ich bat sie, in die Rauten-Klause einzutreten und faßte sie, um sie zu führen, bei der Hand. So schritten wir zu dritt im schwachen Scheine den Schlangenpfad empor, und ich bemerkte, daß der Fürst der Tiere kaum achtete, indessen Braquemart sie spöttisch und doch sehr aufmerksam vermied. Wir gingen in die Bibliothek, in der wir Bruder Otho trafen, und während Lampusa Wein und Gebäck aufsetzte, begannen wir mit unseren Gästen das Gespräch. Wir kannten Braquemart bereits von früher, doch hatten wir ihn immer nur kurz gesehen, da er häufig auf Reisen war. Er war ein kleiner, ~ 101 ~

dunkler, hagerer Geselle, den wir ein wenig grobdrähtig fanden, doch wie alle Mauretanier nicht ohne Geist. Er zählte zu jenem Schlage, den wir im Scherz die Tigerjäger nannten, weil man ihnen zumeist in Abenteuern, die exotischen Charakter trugen, begegnete. Er ging in die Gefahr, wie man zum Sport in kluftenreiche Massive steigt; ihm waren die Ebenen verhaßt. Er hatte ein starkes Herz von jener Sorte, die nicht vor Hindernissen scheut; doch leider gesellte sich dieser Tugend Verachtung zu. Wie alle Schwärmer von Macht und Übermacht verlegte er seine wilden Träume in die Reiche der Utopie. Er war der Meinung, daß es auf Erden seit Anbeginn zwei Rassen gebe, die Herren und die Knechte, und daß im Lauf der Zeiten zwischen ihnen Vermischung eingetreten sei. In dieser Hinsicht war er ein Schüler vom alten Pulverkopf und forderte wie dieser die neue Sonderung. Auch lebte er, wie jeder grobe Theoretiker, vom Zeitgemäßen in der Wissenschaft und trieb besonders die Archäologie. Er war nicht fein genug, zu ahnen, daß unser Spaten unfehlbar alle Dinge findet, die uns im Sinne leben, und er hatte, wie schon so mancher vor ihm, auf diese Weise den ersten Sitz des menschlichen Geschlechts entdeckt. Wir waren mit in der Sitzung, in der er über diese Grabungen berichtete, und hörten, daß er in einer fernen Wüste auf ein groteskes TafelLand gestoßen war. Dort wuchsen hohe PorphyrSockel aus einer großen Ebene empor — sie waren ~ 102 ~

von der Verwitterung ausgespart und standen wie Bastionen oder Felsen-Inseln auf dem Grund. Sie hatte Braquemart erstiegen und auf den Hochplateaus Ruinen von Fürstenschlössern und Sonnentempeln aufgefunden, deren Alter er als vor der Zeit bezeichnete. Nachdem er ihre Maße und ihre Eigenart beschrieben hatte, ließ er das Land im Bilde auferstehen. Er zeigte die fetten, grünen Weidegründe, auf denen, so weit das Auge reichte, die Hirten und die Ackerbauern mit ihren Herden saßen, und über ihnen auf den Porphyr-Türmen im roten Prunk die Adlernester der Urgebieter dieser Welt. Auch ließ er den längst versiegten Strom die Schiffe mit den Purpurdecks hinunterfahren; man sah die hundert Ruder mit insektenhaftem Regelmaß ins Wasser tauchen und hörte den Klang der Becken und der Geißel, die auf den Rücken der unglückseligen Galeeren-Sklaven fiel. Das waren Bilder für Braquemart. Er zählte zum Schlage der konkreten Träumer, der sehr gefährlich ist. Den jungen Fürsten sahen wir abwesend in ganz anderer Art. Er mochte zwanzig Jahr kaum überschritten haben, doch stand zu diesem Alter ein Ausdruck schweren Leidens, den wir an ihm bemerkten, in sonderbarem Gegensatz. Obwohl er hoch gewachsen war, hielt er sich tief gebeugt, als ob die Größe ihm Schwierigkeit bereitete. Auch schien er kaum zu hören, was wir verhandelten. Ich hatte den Eindruck, daß hohes Alter und große Jugend sich in ihm ver~ 103 ~

einigten — das Alter des Geschlechtes und die Jugend der Person. So war in seinem Wesen die Dekadenz tief eingeprägt; man merkte an ihm den Zug alt angestammter Größe, und auch den Gegenzug, wie ihn die Erde auf alles Erbe übt — denn Erbe ist Totengut. Ich hatte wohl erwartet, daß in der letzten Phase des Ringens um die Marina der Adel in Erscheinung treten würde — denn in den edlen Herzen brennt das Leiden des Volkes am heißesten. Wenn das Gefühl für Recht und Sitte schwindet, und wenn der Schrecken die Sinne trübt, dann sind die Kräfte der Eintags-Menschen gar bald versiegt. Doch in den alten Stämmen lebt die Kenntnis des wahren und legitimen Maßes, und aus ihnen brechen die neuen Sprossen der Gerechtigkeit hervor. Aus diesem Grunde wird bei allen Völkern dem edlen Blute der Vorrang eingeräumt. Doch hatte ich geglaubt, daß eines Tages aus den Schlössern und Burgen sich Bewaffnete erheben würden als ritterliche Führer im Freiheitskampf. Statt dessen sah ich diesen frühen Greis, der selbst der Stütze bedürftig war, und dessen Anblick mir vollends deutlich machte, wie weit der Untergang schon vorgeschritten war. Und dennoch schien es wunderbar, daß dieser müde Träumer sich berufen fühlte, Schutz zu gewähren — so drängen die Schwächsten und die Reinsten sich zu den ehernen Gewichten dieser Welt. Ich hatte schon unten vor der Pforte geahnt, was diese beiden mit abgeblendeten Laternen zu uns ~ 104 ~

führte, und auch mein Bruder Otho schien es zu wissen, ehe noch ein Wort gefallen war. Dann bat uns Braquemart um eine Schilderung der Lage, die Bruder Otho ihm bis ins einzelne erstattete. Der Art, in der sie Braquemart ergriff, war zu entnehmen, daß er über alle Kräfte und Gegenkräfte vortrefflich unterrichtet war. Auch hatte er schon mit Biedenhorn gesprochen, nur Pater Lampros war ihm unbekannt. Der Fürst hingegen verharrte in gebeugter Träumerei. Selbst die Erwähnung von Köppels-Bleek, die Braquemart in Laune versetzte, schien von ihm abzugleiten; nur, als er von der Schändung des Eburnums hörte, fuhr er zornig von seinem Sitz empor. Dann streifte Bruder Otho noch in allgemeinen Sätzen die Meinung, die wir von den Dingen hegten, und das Verhalten, das uns angemessen schien. Dem hörte Braquemart zwar höflich und doch mit schlecht verhehltem Spotte zu. Es war ihm von der Stirne abzulesen, daß er uns nur als schwächliche Phantasten betrachtete, und daß sein Urteil schon gebildet war. So gibt es Lagen, in denen jeder jeden für einen Träumer hält. Es mag nun wunderlich erscheinen, daß Braquemart in diesem Handel dem Alten entgegentreten wollte, obgleich doch beide in ihrem Sinnen und Trachten viel Ähnliches verband. Es ist jedoch ein Fehler, der uns im Denken häufig unterläuft, daß wir bei Gleichheit der Methoden auch auf die gleichen Ziele ~ 105 ~

schließen und auf die Einheit des Willens, der hinter ihnen steht. Darin bestand jedoch Verschiedenheit insofern, als der Alte die Marina mit wilden Bestien zu bevölkern im Sinne hatte, indessen Braquemart sie als den Boden für Sklaven und für Sklaven-Heere betrachtete. Es drehte sich dabei im Grunde um einen der inneren Konflikte unter Mauretaniern, den hier in seinen Einzelheiten zu beschreiben nicht tunlich ist. Es sei nur angedeutet, daß zwischen dem ausgeformten Nihilismus und der wilden Anarchie ein tiefer Gegensatz besteht. Es handelt sich bei diesem Kampfe darum, ob die Menschen-Siedlung zur Wüste oder zum Urwald umgewandelt werden soll. Was Braquemart betrifft, so waren alle Züge des späten Nihilismus an ihm sehr ausgeprägt. Ihm war die kalte, wurzellose Intelligenz zu eigen und auch die Neigung zur Utopie. Auch faßte er wie alle seinesgleichen das Leben als ein Uhrwerk auf, und so erblickte er in Gewalt und Schrecken die Antriebs-Räder der Lebensuhr. Zugleich erging er sich in den Begriffen einer zweiten und künstlichen Natur, berauschte sich am Dufte nachgeahmter Blumen und den Genüssen einer vorgespielten Sinnlichkeit. Die Schöpfung war in seiner Brust getötet und wie ein Spielwerk wieder aufgebaut. Eisblumen blühten auf seiner Stirn. Wenn man ihn sah, dann mußte man an den tiefen Ausspruch seines Meisters denken: „Die Wüste wächst — weh dem, der Wüsten birgt!“ ~ 106 ~

Und dennoch spürten wir eine leise Neigung zu Braquemart — nicht so sehr deshalb, weil er Herz besaß, denn wenn der Mensch sich den Gesteinen nähert, verringert sich auch das Verdienst, das auf dem Mut beruht. Es war vielmehr ein feiner Schmerz an ihm das Liebenswerte — die Bitterkeit des Menschen, der sein Heil verloren hat. Er suchte sich dafür an der Welt zu rächen, so wie ein Kind in eitlem Zorn den bunten Blumenflor zerstört. Auch schonte er nicht sich selbst und drang mit kaltem Mute in die Labyrinthe des Schreckens ein. So suchen wir, wenn uns der Sinn der Heimat verloren ging, die fernen Abenteuer-Welten auf. Im Denken suchte er das Leben nachzuzeichnen und hielt darauf, daß der Gedanke Zähne und Krallen zeigen muß. Doch glichen seine Theorien einem Destillate, in das die eigentliche Lebenskraft nicht überging; es fehlte ihnen das köstliche Ingrediens des Überflusses, das alle Speisen erst schmackhaft macht. Es herrschte Dürre in seinen Plänen, obgleich kein Fehler in der Logik zu finden war. So schwindet der Wohlklang der Glocke durch einen unsichtbaren Sprung. Es lag das daran, daß bei ihm die Macht zu sehr in den Gedanken lebte, und zu wenig in der Grandezza, in der angeborenen Désinvolture. In dieser Hinsicht war ihm der Oberförster überlegen, der die Gewalt wie einen guten, alten Jagdrock trug, der stets bequemer wird, je öfter er sich mit Schlamm und Blut durchtränkt. Aus diesem Grunde hatte ich ~ 107 ~

auch den Eindruck, daß Braquemart sich auf ein böses Abenteuer einzulassen auf dem Sprunge stand; bei solchen Treffen wurden die Ethiker noch immer von den Praktikern erlegt. Wahrscheinlich ahnte Braquemart von seiner Schwäche dem Alten gegenüber und hatte deshalb den jungen Fürsten mitgebracht. Uns schien indessen, daß dieser in ganz anderen Zusammenhängen webte, und so ergeben sich oft Bünde wunderlicher Art. Vielleicht war es der Fürst, der Braquemart benutzte, wie man ein Boot zur Überfahrt benutzt. In diesem schwachen Körper lebte ein starker Zug aufs Leiden zu, und wie im Traume hielt er, fast ohne Überlegung und doch mit Sicherheit, die Richtung ein. So raffen, wenn im Felde das Horn zum Angriff ruft, die guten Krieger sich sterbend noch vom Boden auf. Mit Bruder Otho dachte ich später oft an dies Gespräch zurück, das unter keinem guten Sterne stand. Der Fürst sprach kaum ein Wort, und Braquemart entfaltete die unduldsame Überlegenheit, an der man den Techniker erkennt. Man sah ihm an, daß er sich im Geheimen über unsere Bedenken lustig machte, und ohne daß er über seine Pläne ein Wort verloren hätte, fragte er uns nach der Lage der Wälder und der Weidegründe aus. Auch zeigte er sich begierig nach Einzelheiten über des Adepten Fortunios Abenteuer und Untergang. Wir sahen aus seinen Fragen, daß er dort zu erkunden oder auch zu operieren ~ 108 ~

plante, und ahnten, daß er das Übel verschlimmern würde wie ein schlechter Arzt. Es war doch schließlich kein Zufall und kein Abenteuer, daß der Alte mit dem Lemuren-Volke aus dem Wälder-Dunkel herauszutreten begann und Wirksamkeit entfaltete. Gelichter dieser Art ward früher gleich Gaudieben abgefertigt, und sein Erstarken deutete auf tiefe Veränderungen in der Ordnung, in der Gesundheit, ja, im Heile des Volkes hin. Hier galt es anzusetzen, und daher taten Ordner not und neue Theologen, denen das Übel von den Erscheinungen bis in die feinsten Wurzeln deutlich war; dann erst der Hieb des konsekrierten Schwertes, der wie ein Blitz die Finsternis durchdringt. Aus diesem Grunde mußten die einzelnen auch klarer und stärker in der Bindung leben als je zuvor — als Sammler an einem neuen Schatz von Legitimität. So lebt man doch schon auf besondere Weise, wenn man nur einen kurzen Lauf gewinnen will. Hier aber galt es das hohe Leben, die Freiheit und die Menschen-Würde selbst. Dergleichen Pläne freilich hielt Braquemart, da er dem Alten mit gleicher Münze heimzuzahlen gedachte, für eitlen Firlefanz. Er hatte die Achtung vor sich selbst verloren, und damit fängt alles Unheil unter Menschen an. So sprachen wir lange hin und her. Wenn wir uns in den Worten nicht verstanden, so ging uns doch im Schweigen vieles auf. Vor der Entscheidung treffen sich die Geister wie die Ärzte am Kran~ 109 ~

kenbett. Der eine möchte zum Messer greifen, der andere will den Kranken schonen, und der Dritte sinnt auf Mittel von besonderer Art. Doch was sind Menschenrat und -wille, wenn in den Sternen schon der Untergang beschlossen liegt? Indessen hält man Kriegsrat auch vor verlorener Schlacht. Der Fürst und Braquemart gedachten, noch in der gleichen Nacht die Weidegründe aufzusuchen, und da sie weder Führung noch Begleitung annehmen wollten, empfahlen wir ihnen den alten Belovar. Dann gaben wir den beiden bis an die Stufen der Marmorklippen-Treppe das Geleit. Wir nahmen förmlich Abschied, wie man es pflegt, wenn die Begegnung ohne Wärme und ohne Frucht verlief. Doch schloß sich daran noch eine stumme Szene, die mich verwirrte, an. Die beiden blieben im ersten Dämmerlichte an den Klippen stehen und musterten uns schweigend eine lange Zeit. Schon stieg die Morgenkühle auf, in der die Dinge für eine kurze Spanne dem Auge sichtbar werden, als ob sie sich aus ihrem Ursprung entfalteten, neu und geheimnisvoll. So standen auch der Fürst und Braquemart. Mir schien, daß Braquemart den überlegenen Spott verloren hatte und menschlich lächelte. Der junge Fürst hingegen hatte sich aufgerichtet und blickte uns heiter an — als ob er um die Lösung eines Rätsels wüßte, das uns beschäftigte. Das Schweigen währte eine lange Zeit, dann faßte Bruder Otho noch einmal nach des Fürsten Hand und beugte sich tief auf sie hinab. ~ 110 ~

Nachdem die beiden am Zinnenrande der Marmor-Klippen dem Blick entschwunden waren, suchte ich noch, bevor ich mich zur Ruhe legte, die Goldband-Lilie auf. Die feinen Staubgefäße waren schon beflogen, und die grüngoldene Tiefe des Kelches war mit Purpurstaub befleckt. Ihn hatten wohl die großen Nacht-Papilionen beim Hochzeits-Schmaus verstreut. So fließen aus jeder Stunde Süße und Bitterkeit. Und während ich mich über die betauten Blütenkelche beugte, ertönte aus fernen Vorgehölzen der erste Kuckucks-Ruf.

21. Den Vormittag verbrachten wir in Sorge, indes der Wagen verlassen vor unserer Pforte stand. Beim Frühstück reichte Lampusa uns einen Zettel von Phyllobius, aus dem wir sahen, daß der Besuch ihm nicht entgangen war. Er bat uns darin, den Fürsten dringend in das Kloster einzuladen; Lampusa hatte die Bestellung unheilvoll versäumt. Am Mittag kam der alte Belovar, um uns zu melden, daß der junge Fürst mit Braquemart in aller Frühe auf seinem Hofe erschienen war. Dort hatte ihn Braquemart, indem er ein bemaltes Pergament studierte, nach Punkten in den Wäldern ausgefragt. Dann waren sie wieder aufgebrochen, und der Alte hatte ihnen aus seiner Sippe Späher nachgesandt. ~ 111 ~

Die beiden waren in dem Striche zwischen dem Filler-Horne und dem Vorgehölz des roten Stieres in die Wälder eingetaucht. Die Nachricht lehrte uns, daß Schlimmes zu erwarten stand, und lieber hätten wir gesehen, daß die beiden mit den Knechten und Söhnen des Alten aufgebrochen wären, wie es ihnen angeboten war. Wir kannten den Grundsatz Braquemarts, niemand sei fürchterlicher als der einzelne von Rang, und hielten es für möglich, daß sie den alten Blutfürsten selbst auf seinem Prunkhof heimsuchen würden, um ihn zu bestehn. Dann aber gerieten sie in die Netze der Dämonen-Macht — wir ahnten, daß schon Lampusas Säumnis mit den Zugfäden dieser Netze in Beziehung stand. Wir dachten an Fortunios Schicksal, der doch ein Mensch von großen Gaben gewesen war, und der sich lange mit den Wäldern beschäftigt hatte, ehe er in sie vorgestoßen war. Es war wohl seine Karte, die nach manchem Umweg in den Besitz von Braquemart geraten war. Wir hatten nach Fortunios Tode lange nach ihr gefahndet und erfahren, daß sie in Schatzgräber-Hände gefallen war. So waren die beiden unvorbereitet und ohne hohe Führung in die Gefahr gegangen, wie man in bloße Abenteuer zieht. Sie gingen gleich halben Menschen — dort Braquemart, der reine Techniker der Macht, der immer nur kleine Teile und nie die Wurzeln der Dinge sah, und hier der Fürst Sunmyra, der edle Geist, der die gerechte Ordnung kannte, doch einem ~ 112 ~

Kinde glich, das sich in Wälder, in denen Wölfe heulen, wagt. Doch schien uns möglich, daß Pater Lampros beide auf eine tiefe Weise hätte ändern und einen können, wie es durch die Mysterien geschieht. Wir teilten ihm auf einem Zettel die Lage der Dinge mit und sandten Erio eilig zum Kloster der Falcifera. Seitdem der Fürst und Braquemart bei uns erschienen waren, fühlten wir uns beklommen, doch sahen wir die Dinge nun schärfer als bisher. Wir spürten, daß sie kulminierten, und daß wir würden schwimmen müssen, wie man im Strudel durch einen Engpaß schwimmt. Auch hielten wir es für an der Zeit, den Spiegel Nigromontans bereitzuhalten und wollten durch ihn das Licht entzünden, solange die Sonne noch günstig stand. Wir stiegen auf den Altan und flammten auf die vorgeschriebene Weise am Himmelsfeuer durch die kristallene Scheibe die Leuchte an. Mit hoher Freude sahen wir die blaue Flamme sich niedersenken und bargen Spiegel und Leuchte in der Nische, in der die Laren stehn. Noch waren wir beschäftigt, uns wieder umzukleiden, als Erio mit der Antwort des Mönches wiederkam. Er hatte den Pater im Gebet getroffen, der ihm sogleich, und ohne daß er unseren Zettel gelesen hätte, ein Schreiben übergab. So überreicht man Ordres, die seit langem versiegelt in Bereitschaft sind. ~ 113 ~

Wir sahen, daß die Botschaft zum ersten Male mit Lampros unterzeichnet war; auch war das Wappen mit dem Spruche „meyn geduld hat ursach“ ihr beigefügt. Zum ersten Male war auch von Pflanzen in ihr nicht die Rede, sondern der Pater bat mich in kurzen Worten, den Fürsten aufzusuchen und für ihn zu sorgen, auch fügte er hinzu, ich möchte nicht ohne Waffen gehen. Da galt es, eilig sich zu rüsten, und ich legte, mit Bruder Otho hastige Sätze wechselnd, den alten und langbewährten Jagdrock an, der jeder Dorne gewachsen war. Mit Waffen freilich war es in der Rauten-Klause schlecht bestellt. Nur über dem Kamin hing eine Flinte, wie man sich ihrer zur Entenjagd bedient, doch mit gekürztem Lauf. Wir hatten sie auf unseren Reisen hin und wieder benutzt, um auf Reptilien zu schießen, die harte Haut und zähes Leben vereinigen, und die ein grober Hagel weit sicherer als der beste Büchsenschuß erlegt. Wenn sie mein Auge streifte, rief die Erinnerung in mir die Moschus-Witterung hervor, wie sie im heißen Uferdickicht dem Jäger, der sich den Landungsplätzen der großen Echsen nähert, entgegenströmt. Für Stunden, in denen Land und Wasser in der Dämmerung verfließen, hatten wir auf den Lauf ein Silberkorn gesetzt. Dies war das einzige Gerät, das wir in unserem Hause Waffe nennen konnten; ich nahm es daher an mich, und Bruder Otho hing mir die große Ledertasche um, auf deren ~ 114 ~

Klappe Schlingen für erlegte Vögel gesponnen waren, indes im Inneren ein aufgenähter Gurt Patronen hielt. So greifen wir in der Eile nach dem ersten, was sich uns bietet; auch hatte Pater Lampros mir die Waffe wohl mehr zum Zeichen der Freiheit und der Feindschaft vorgeschrieben — so wie man als Freund mit Blumen kommt. Der gute Degen, den ich bei den Purpur-Reitern führte, hing hoch im Norden im Vaterhaus; doch hätte ich ihn zu solchem Gange nie gewählt. Er hatte in heißen Reiterschlachten, wenn die Erde unter dem Hufschlag donnert und die Brust sich herrlich weitet, im Sonnenschein geblitzt. Ihn hatte ich gezückt im leichten, wiegenden Angalopp, bei dem die Waffen erst leise und dann immer stärker klirren, indes das Auge im feindlichen Geschwader bereits den Gegner wählt. Auch hatte ich mich auf ihn verlassen in jenen Augenblicken des Einzelkampfes, in denen man im Getümmel die weite Ebene durchsprengt und viele Sättel schon ledig sieht. Da gab es manchen Hieb, der auf das Stichblatt fränkischer Rappiere und auf den Bügel schottischer Säbel fiel — doch manchen auch, bei dem das Handgelenk den weichen Widerstand der Blöße fühlte, an der die Klinge ins Leben schnitt. Doch alle diese, und selbst die freien Söhne der Barbaren-Stämme, waren edle Männer, die ihre Brust fürs Vaterland dem Eisen boten; und gegen jeden hätten wir beim Gelage das Glas erheben ~ 115 ~

können, wie man es Brüdern tut. Die Tapferen dieser Erde machen im Streite die Grenzen der Freiheit aus; und Waffen, die man gegen solche zückte, die führt man gegen Schinder und Schinder-Knechte nicht. In Eile nahm ich von Bruder Otho Abschied und auch von Erio. Ich faßte es als gutes Zeichen, daß der Knabe mich dabei mit heiterer Sicherheit betrachtete. Dann machte ich mich mit dem alten Hirten auf den Weg.

22. Als wir den großen Weidehof erreichten, brach schon die Dämmerung herein. Von weitem erkannten wir bereits, daß dort Unruhe herrschte; die Ställe leuchteten im Schein von Fackeln und dröhnten vom Gebrüll des Viehes, das hastig eingetrieben war. Wir trafen einen Teil der Hirten in Waffen und erfuhren, daß andere noch in entfernten Gründen der Campagna weilten, wo Vieh zu bergen war. Im Hof empfing uns Sombor, der erste Sohn des Alten, ein Riese mit rotem Vollbart und mit einer Geißel, an deren Riemen bleierne Kugeln hingen, in der Hand. Er meldete, daß um die Mittagsstunde in den Wäldern Unruhe aufgekommen war; man hatte Rauch aufsteigen sehen und Lärm gehört. Dann waren aus den Moor-Gebüschen entlang dem FillerHorne Scharen von Feuer-Würmern und von Jägern hervorgetreten und hatten eine Herde abgetrieben, ~ 116 ~

die dort im Vorwerk lag. Zwar hatte Sombor ihnen noch im Moore einen Teil der Beute wieder abgenommen, doch hatte er dabei auch Scharen von Förstern festgestellt, sodaß ein Unternehmen zu erwarten stand. Inzwischen hatten seine Späher auch an anderen Punkten, wie bei dem Vorgehölz des roten Stieres, und selbst in unserem Rücken, Streiftrupps und Einzelgänger ausgemacht. So hatte uns unser gutes Glück, noch eben ehe wir abgeschnitten wurden, bis auf den Hof gebracht. Bei diesem Stand der Dinge konnte ich nicht erwarten, daß Belovar mich bei dem Vorstoß in die Wälder begleiten würde, und fand es billig, daß er sich um sein Gut und um die Seinen kümmerte. Da kannte ich jedoch den alten Streiter noch immer nicht gut genug, und nicht den Eifer, des er für Freunde fähig war. Sogleich verschwur er sich, daß Haus und Stall und Scheuern bis auf den Grund verbrennen sollten, ehe er mich an diesem Tage auch nur für einen Schritt alleine ließe, und übertrug dem Sohne Sombor die Sorge um den Hof. Bei diesen Worten berührten die Weiber, die schon die Kostbarkeiten aus dem Hause schleppten, eilig Holz und drängten sich klagend an uns heran. Dann trat die Beste-Mutter auf uns zu und tastete uns mit den Händen von Kopf zu Füßen ab. An meiner rechten Schulter fanden die Finger Widerstand, doch glitten sie beim zweiten Male eben darüber hin. Als sie jedoch die Stirn des Sohnes berührte, faßte sie ~ 117 ~

ein Schrecken, und sie verhüllte ihr Gesicht. Da warf das junge Weibchen sich dem Alten an die Brust, mit schrillem Wehruf, wie man ihn bei der Totenklage hört. Dem Alten aber fehlte der Sinn für Weibertränen, wenn es ins Treffen ging, und wenn die erste Trunkenheit des Kampfes ihm schon im Blute lag. Er schaffte sich mit beiden Armen Raum, so wie ein Schwimmer die Wogen teilt, und rief mit lauter Stimme Söhne und Knechte namentlich zum Kampf. Er wählte nur eine Streifschar aus, indes er alle anderen dem Sohne Sombor zur Sicherung des Hofes überließ. Doch suchte er nur solche aus, die in den Sippen-Kämpfen schon ihren Mann getötet hatten, und die er seine Hähnchen nannte, wenn er bei Laune war. Sie kamen mit Lederkollern und Lederhauben und mit dem ungefügen Rüstzeug, wie man es in den Waffenkammern der Weidehöfe seit der Urväter Zeiten aufbewahrt. Da sah man im Fackelscheine Hellebarden und Morgensterne und schwere Stangen, die scharfe Äxte und Sägespieße trugen, auch Piken, Mauerreißer und angeschliffene Haken mannigfacher Art. Damit gedachte der Alte das Waldgelichter auszuputzen und auszufegen nach Herzenslust. Dann stießen die Hunde-Knechte die Zwinger auf, in denen heulend schon die Meuten lärmten — die schlanken Hetzer und die schweren Beißer, mit hellem und dunkelem Geläut. Hechelnd und knur~ 118 ~

rend schossen sie hervor, den Hof erfüllend, an ihrer Spitze der schwere Leithund Leontodon. Er sprang an Belovar empor und setzte ihm winselnd die Pranken auf die Schultern, obwohl der Alte ein Riese war. Die Knechte ließen sie reichlich trinken und gossen ihnen aus einer Metzelschüssel zum Lecken Blut auf den Estrich aus. Die beiden Meuten waren des Alten Stolz, und sicher war es zum guten Teile ihnen zu verdanken, daß das Gelichter aus den Tannicht-Dörfern in diesen Jahren seinen Grund in weitem Bogen mied. Für seine leichte hatte er den schnellen SteppenWindhund fortgezüchtet, mit dem der freie Araber sein Lager teilt und dessen Junge seine Frau aus ihren eigenen Brüsten trinken läßt. An diesen Windspiel-Körpern war jeder Muskelzug so sichtbar, als hätte ein Zergliederer sie abgewirkt, und die Bewegung war in ihnen so übermächtig, daß sie noch in den Träumen ein stetes Zittern überlief. Es gab von allen Läufern dieser Erde nur den Geparden, der sie überflügeln konnte, und auch dieser nur auf kurzer Bahn. Sie jagten die Beute zu Paaren, indem sie die Bogen schnitten, und machten sie an den Schultern fest. Doch gab es auch Solo-Fänger, die ihr Opfer am Halse niederrissen und hielten, bis der Jäger kam. In seiner schweren Meute zog der Alte die Molosser Dogge, ein herrliches, lichtgelbes und schwarz gestromtes Tier. Die Unerschrockenheit, die dieser ~ 119 ~

Rasse zu eigen ist, wurde durch eingekreuztes Blut der Tibet-Dogge noch erhöht, die man in römischen Arenen gegen Auerochsen und Löwen kämpfen ließ. Der Einschlag zeigte sich durch die Größe, die stolze Haltung und die Rute, die nach Standarten-Art getragen wurde, an. Fast alle diese Beißer trugen schwere Risse in den Decken — Denkzettel von Branten-Hieben auf der Bärenhatz. Der Großbär, wenn er auf die Weiden von Holze ging, mußte sich eng am Waldrand halten, denn wenn die Hetzer ihn erreichten und stellten, fleischten die Packer ihn zu Tode, noch ehe der Jäger Zeit ihn aufzuschärfen fand. Das war ein Wälzen und Knurren und Würgen im Innenhofe, und aus den roten Rachen funkelten uns die schrecklichen Gebisse an. Dazu das Sprühen der Fackeln, das Waffenklirren und die Klage der Weiber, die wie aufgescheuchte Tauben im Hofe flatterten. Das war ein Toben, wie es dem Alten Freude machte, der mit der Rechten wohlgefällig im Barte spielte, indes die Linke den breiten Dolch im roten Gürteltuche tanzen ließ. Auch trug er eine schwere Doppelaxt am Riemen um das Handgelenk. Dann stürzten die Knechte mit Lederstulpen, die bis an die Schultern reichten, sich auf die Hunde und koppelten sie mit Korallen-Riemen fest. So ging es mit verlöschten Fackeln aus dem Tore und über die letzten Marken den Wäldern zu. Der Mond war aufgegangen, und in seinem Scheine gab ich mich den Gedanken hin, die uns beschlei~ 120 ~

chen, wenn wir ins Ungewisse gehn. Erinnerungen herrlicher Morgenstunden stiegen in mir auf, in denen wir bei der Vorhut vor unseren Zügen ritten, und hinter uns in kühler Frühe der Chor der jungen Reiter klang. Da fühlten wir das Herz so festlich schlagen, und alle Schätze dieser Erde wären uns gering erschienen gegenüber der nahen Lust am scharfen und ehrenvollen Gang. Oh, welch ein Unterschied war zwischen jenen Stunden und dieser Nacht, in der ich Waffen, die den Krallen und Hörnern von Ungeheuern glichen, im bleichen Lichte glitzern sah. Wir gingen in die Lemuren-Wälder ohne Menschenrecht und -satzung, in denen kein Ruhm zu ernten war. Und ich empfand die Nichtigkeit von Glanz und Ehre, und große Bitterkeit. Doch war es mir ein Trost, daß ich nicht wie beim ersten Male, als ich Fortunio suchte, im Banne magischer Abenteuer kam, sondern in guter Sache und berufen durch hohe Geistesmacht. Und ich beschloß, mich nicht der Furcht anheimzugeben und nicht dem Übermut.

23. Noch in der Nähe des Hofes teilten wir zum Vormarsch ein. Wir schickten Späher aus und ließen ihnen die Hetzer-Koppeln folgen, während der Haupttrupp mit der schweren Meute den Zug beschloß. Das Mondlicht war so hell geworden, daß ~ 121 ~

man in seinem Schein Geschriebenes lesen konnte; daher behielten, solange wir noch auf den Weidegründen schritten, die einzelnen Abteilungen sich leicht in Sicht. Auch sahen wir zu unserer Linken wie schwarze Lanzen die drei hohen Pappeln und in der Front die dunkle Masse des Filler-Hornes, sodaß sich ohne Mühe die Richtung halten ließ. Wir schritten auf den Bogen zu, in dem die Sichel des Filler-Hornes dem hohen Holz entsprang. Ich hatte meinen Platz zur Seite des alten Bluträchers bei der leichten Meute, und wir behielten von dort die Spitze im Gesicht. Als sie den Schilfund Erlengürtel erreichte, der das Moor begrenzte, sahen wir sie stutzen, dann drang sie in eine Lücke ein. Kaum war sie unserem Blick entschwunden, da hörten wir ein böses, schwirrendes Schnappen wie von einem Eisen-Rachen und einen Todesschrei. Die Späher stoben aus den Büschen aufs Feld zurück, indes wir eilig vorwärts strebten, um sie aufzufangen und zu erfahren, was es gab. Wir fanden die Blöße, durch die die Späher eingedrungen waren, kniehoch mit Ginster und Heidekraut bestellt. Sie glänzte im Mondlicht, und in ihrer Mitte bot sich den Blicken ein schlimmes Schauspiel dar. Gleich einem Wildbret sahen wir dort einen von den jungen Knechten im schweren Eisenbügel einer Falle aufgehängt. Die Füße berührten kaum den Boden, und Kopf und Arme hingen rücklings ins Kraut hinab. Wir eilten zu ihm und erkannten, daß ~ 122 ~

ihn ein Gimpelfänger gegriffen hatte — wie der Alte die schweren Teller-Eisen nannte, die er auf Menschen-Pfaden verborgen stellen ließ. Der scharfe Rand des Bügels hatte ihm die Brust zerschnitten, und ein Blick genügte, um zu erfassen, daß Rettung nicht möglich war. Doch spannten wir mit vereinten Kräften die Feder, um den Leichnam aus der Umklammerung zu befreien. Wie fanden dabei, daß der Bügel nach Art der Haifisch-Kiefern mit spitzen Zähnen aus blauem Stahl bewaffnet war, und schlossen, nachdem wir den Toten auf die Heide gebettet hatten, den Rachen behutsam wieder zu. Es war wohl anzunehmen, daß Spürer die Falle überwachten, und wirklich hörten wir, als wir noch schweigend um das hingestreckte Opfer der niedern Waffe standen, ein Rauschen in den nahen Büschen und dann ein lautes, höhnisches Gelächter in der Nacht. Nun wurde es rege im Mooricht, wie wenn man Krähen am Schlafplatz stört. Es ging ein Brechen und Schleifen durch die Kiefernstücke und ein Rascheln entlang den dunklen Gräben, an denen der Alte die Entenhütten hielt. Zugleich ertönte das Moor von Pfiffen und wüsten Stimmen, als ob ein Rattenschwarm in ihm sein Wesen trieb. Wir hörten, wie das Gesindel sich ermutigte, so wie es im Schlamm der Gossen und der Bagnos sich erkühnt, wenn es der Mehrzahl sicher ist. Und in der Tat schien es in großer Übermacht, denn wir vernahmen die frechen Lieder der Schelmen-Zünfte nah und fern. So lärm~ 123 ~

ten dicht vor uns die von La Picousière. Sie stapften im Moor und quakten wie Wasserfrösche: „Catherine a le craque moisi, Des seins pendants, Des pieds de cochon, La faridondaine.“ Und aus dem hohen Besenginster, dem Schilficht und den Weidenbüschen schallte ihnen Antwort zu. In diesem Trubel sahen wir Irrlichter grünlich auf den Tümpeln tanzen, und Wasservögel streiften in scheuem Fluge ab. Inzwischen war auch der Haupttrupp mit der schweren Meute aufgelaufen, und wir bemerkten, daß vor diesem Spuk den Knechten das Zagen nahe kam. Da war es der alte Belovar, der seine Stimme mächtig erhob: „Drauf, Kinder, drauf! Die Lumpenwische halten nicht Stich. Doch nehmt euch vor den Fallen gut in acht!“ Damit begann er, ohne sich umzublicken, vorzugehen, indem er die Schneiden der Doppelaxt im Mondlicht blinken ließ. Da folgten ihm auch die Knechte und brannten, auf die Fallensteller loszugehen. Wir drückten in kleinen Rudeln durch Rohr und Busch und prüften, so gut es ging, den Grund. So suchten wir die Pässe zwischen Teichen, auf deren dunklen Spiegeln die Nixen-Rosen leuchteten, und schlichen durch dürres Schilf, von dessen schwarzen Kolben die Wolle blätterte. Bald hörten wir die ~ 124 ~

Stimmen ganz nahe und spürten, wie das Sausen von Geschossen uns um die Schläfen strich. Nun mußten die Hunde-Knechte die Hetzer schärfen, daß ihr Fell sich sträubte und ihre Lichter funkelten wie Kohlenglut. Dann wurde ihnen Lauf gegeben und freudig winselnd schossen sie wie bleiche Pfeile durch das dunkele Gestrüpp. Der Alte hatte zu Recht vorhergesagt, daß das Gelichter uns nicht trotzen würde — kaum daß die Hunde angeschlagen hatten, hörten wir Klageschreie, die sich flüchtend im Busch verloren, und hinter ihnen das Geläut der Meute, die auf den Spuren zog. Wir eilten im Sturmschritt nach und sahen, daß jenseits des Gestrüpps ein kleines Torfmoor lag, auf dem der Boden eben wie eine Tenne war. Auf diese Fläche hatte das Gesindel sich geflüchtet und strebte im Lauf ums Leben dem nahen Hochwald zu. Ihn konnte indessen nur gewinnen, wer von den Hetzern unbehelligt blieb. Wir sahen viele, die von den Hunden angefallen waren, und die sich stellen mußten — gleich bleichen Flammen im Reiche der Verdammten umkreisten die Tiere sie und sprangen gierig an ihnen hoch. Auch waren hier und dort die Fliehenden zu Fall gekommen und lagen am Boden wie gelähmt, denn knurrend hielten die Solo-Fänger sie am Hals. Nun koppelten die Knechte die schwere Meute los, und heulend stürmten die Bracken in die Nacht. Wir sahen, wie sie ihre Opfer im Ansprung fällten, ~ 125 ~

dann zerrten sie die Beute, die sie sich streitig machten, am Boden hin und her. Die Knechte folgten ihnen und teilten den Fanghieb aus. Da gab es, wie im Inferno, nicht Barmherzigkeit. Sie beugten sich auf die Hingestreckten nieder und warfen den Hunden ihr Jagdrecht zu. Dann schlossen sie mit großer Mühe die Bestien wieder an. So standen wir auf dem Moore wie auf dem Vorhof zum dunklen Tann. Der alte Belovar war guter Laune; er lobte Knechte und Hunde für ihr Werk und teilte Branntwein aus. Dann drängte er zu neuem Vorstoß, ehe der Wald durch das geflüchtete Gelichter in Aufruhr käme, und ließ mit Beilen eine Bresche in die schwere Hecke legen, die ihn randete. Wir waren nicht weit von jener Stelle, an der ich mit Bruder Otho, um das rote Waldvögelein zu suchen, eingedrungen war, und planten zunächst den Angriff auf Klöppels-Bleek. Bald war die Bresche breit wie ein Scheunentor. Wir steckten Fackeln an und traten wie durch einen dunklen Rachen in den Hochwald ein.

24. Wie rote Säulen glänzten die Stämme im Feuerschein; und senkrecht stieg der Rauch der Fackeln in feinen Fäden, die sich in großer Höhe zum Baldachin verwoben, in die unbewegte Luft. Wir schritten in breiter Ordnung, die sich durch die ~ 126 ~

gestürzten Stämme bald drängte und bald auseinanderzog. Doch hielten wir uns durch die Fackeln gut in Sicht. Zur Sicherung der Fährte hatte der Alte Säcke voll Kreide mitgenommen, aus denen er unseren Marsch durch eine helle Spur bezeichnen ließ. So trug er Sorge, daß uns der Ausschlupf nicht verlorenging. Die Hunde zogen in Richtung auf KlöppelsBleek, so wie sie immer der Ruch von Höllen und Schinder-Welten lockt. Durch ihre Führung gewannen wir schnell an Feld und kamen leise voran. Nur hin und wieder strich aus den Wipfel-Nestern mit schwerem Flügelschlag ein Vogel ab. Und lautlos kreisten Schwärme von Fledermäusen im Fackelschein. Bald glaubte ich den Hügel an der Lichtung zu erkennen; er glänzte im matten Widerstrahle einer Feuersglut. Wir machten halt und hörten nun auch Stimmen herüberdringen, doch nicht so prahlend wie vorhin im Moor. Es schien, daß dort Abteilungen von Förstern die Wälder sicherten, und Belovar gedachte, mit ihnen auf die gleiche Weise aufzuräumen wie mit dem Gaunervolk. Er zog die Hetzer vor und ließ sie wie zum Wettlauf in eine Linie stellen, dann sandte er sie wie leuchtende Geschosse in die Nacht. Indes sie hechelnd durch die Büsche fuhren, hörten wir drüben Pfiffe und dann ein Heulen, als ob der wilde Jäger selbst erschienen wäre, der sie empfing. Sie waren auf die Bluthund-Meute ~ 127 ~

aufgelaufen, die der Oberförster in seinen Zwingern hielt. Fortunio hatte mir über diese rüden Beißer und ihre Wut und Stärke einst Dinge, die an die Fabel streiften, mitgeteilt. In ihnen hatte der Oberförster die Cuba-Dogge fortgezüchtet, die rote Farbe und schwarze Maske trägt. Die Spanier hatten diese schwere Doggen vor Zeiten abgerichtet, Indianer zu zerreißen, und hatten sie in alle Länder ausgeführt, in denen es Sklaven und Sklaven-Halter gibt. Mit ihrer Hilfe hatte man auch die Schwarzen von Jamaika, die ihren Aufstand mit der Waffe bereits gewonnen hatten, ins Joch zurückgeführt. Ihr Anblick wird als fürchterlich beschrieben, denn die Empörer, die das Eisen und das Feuer verachtet hatten, boten, kaum daß die Sklavenjäger mit den Koppeln gelandet waren, die Unterwerfung an. Das Leittier der roten Meute war Chiffon Rouge, dem Oberförster teuer, weil er in gerader Linie von dem Bluthund Becerillo stammte, dessen Name mit der Eroberung von Cuba so unheilvoll verbunden ist. Es wird berichtet, daß sein Herr, der Hauptmann Jago de Senazda, seinen Gästen zum Augenschmause gefangene Indianerinnen von ihm in Stücke reißen ließ. So kehren in der menschlichen Geschichte stets die Punkte wieder, an denen sie in reines DämonenWesen abzugleiten droht. Bei diesen fürchterlichen Rufen erkannten wir, daß unsere leichte Meute, noch ehe wir Hilfe schicken ~ 128 ~

konnten, verloren war. Sie mußte um so schneller vernichtet werden, als sie aus reinem Blute stammte, das bis zum Tode kämpft, anstatt zurückzugehn. Wir hörten die roten Koppeln, nachdem sie angeschlagen hatten, packen; und in dem Maße, in dem ihr Heulen lechzend in Fell und Fleisch verstummte, erstickte winselnd der helle WindspielRuf. Der alte Belovar, der seine edlen Tiere im Nu geopfert sah, begann zu toben und zu maledeien, und durfte doch nicht wagen, ihnen noch die Molosser nachzuwerfen, denn diese blieben jetzt unsere stärkste Karte im Ungewissen Spiel. So rief er den Knechten zu, sich wohl zu rüsten, und diese rieben Brust und Lefzen der großen Tiere mit BilsenBranntwein ein und halsten ihnen zum Schutz die Stachelgurte um. Die anderen steckten zum Kampf die Fackeln an tote Äste auf. Das war im Nu geschehen, und schon, kaum daß wir wieder Stand gefaßt, brach wie ein Wetter die rote Meute über uns herein. Wir hörten sie durch die dunklen Büsche brechen; dann sprangen die Bestien in den Umkreis, auf dem der Fackelschein wie Kohlen-Schimmer lag. Die Spitze hielt Chiffon Rouge, um dessen Hals ein Fächer von scharfen Klingen funkelte. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ die Zunge geifernd am Boden wehen; die Lichter blinkten spähend von unten her. Von weitem sah man die gebleckten Reißer blenden, von denen das un~ 129 ~

tere Paar gleich Hauern die Lefzen überstand. Das Ungeheuer sprang trotz seiner Schwere in leichten Sätzen vor — in queren, tänzelnden Fluchten, als ob es im Übermaß der Kraft verschmähte, uns in gestrecktem Laufe anzugehen. Und hinter ihm erschien in schwarz und roter Zeichnung die Bluthund-Meute im Fackelschein. Bei diesem Anblick erschollen Schreckens-Schreie, und Rufe nach den Molossern wurden laut. Ich sah den alten Belovar voll Sorge nach seinen Packern blicken, doch zogen die stolzen Tiere, die Augen scharf nach vorn gerichtet und die Ohren hoch aufgestellt, in unerschrockener Haltung die Koppel an. Da lachte der Alte mir zu und gab das Zeichen, und wie von einer scharf gespannten Sehne abgeschossen, flogen die gelben Doggen auf die roten zu. An ihrer Spitze stürzte sich Leontodon auf Chiffon Rouge. Nun gab es unter den Riesenstämmen im roten Lichte ein Heulen und Frohlocken, als ob das wilde Heer vorüberzöge, und heiße Mordgier breitete sich aus. In dunklen Massen wälzten und zerrten die Tiere sich am Boden, und andere, die einander hetzten, umfuhren unseren Stand in weitem Kreis. Wir suchten in das Gemetzel, dessen Tosen die Luft erfüllte, einzugreifen, doch war es schwierig, die roten Doggen mit Stichen und Schüssen zu erreichen, ohne auch die Molosser zu beschädigen. Nur dort, wo uns die Jagd gleich einer Ringelbahn umkreiste, gelang ~ 130 ~

es die Figuren getrennt aufs Korn zu bringen und krumm zu machen, wie man auf Flugwild schießt. Hier zeigte sich, daß ich mit meiner Waffe, ohne es zu ahnen, die beste Wahl getroffen hatte, die möglich war. Ich suchte abzukommen, wenn das Auge über dem Silber-Korne die schwarze Maske sah, und war dann sicher, daß sich das Tier im Feuer streckte, ohne noch einen Zuck zu tun. Aber auch drüben, auf der anderen Seite, sahen wir Schüsse blitzen und errieten, daß man dort die Molosser aus der Hetzbahn schoß. Auf diese Weise glich das Scharmützel einem Jagen, das sich ellipsenförmig um zwei Feuerpunkte schloß, indes die große Meute auf der kurzen Achse im Kampfe lag. Die Bahn erhellte sich im Verlauf des Treffens durch Feuersäulen, denn wo die Fackeln zu Boden fielen, da flammte lohend das dürre Buschwerk auf. Bald zeigte sich, daß die Molosser dem Bluthund überlegen waren, zwar nicht an Stärke des Gebisses, wohl aber an Schwere und Angriffskraft. Doch waren die roten Doggen in der Überzahl. Auch schien es, daß von drüben noch frische Koppeln in das Treiben geworfen wurden, denn es fiel uns immer schwerer, den Hunden beizustehn. Der Bluthund nämlich war sorgsam abgerichtet, den Menschen aufzusuchen, den der Oberförster als bestes Wild bezeichnete; und als die Anzahl der Molosser nicht mehr genügte, lenkte die Sorge für unsere Sicherheit die Blicke vom Jagen ab. Bald aus den dunklen ~ 131 ~

Büschen, bald aus dem Qualm der Feuerbrände schoß eins der roten Tiere auf uns zu, und Schreie kündeten es an. Da mußten wir eilig sorgen, daß es im Ansprung auf der Strecke blieb — doch wurde manches erst von den Spießen der Knechte aufgefangen, und auf manches sauste die Doppelaxt des alten Belovar hernieder, wenn es schon lechzend auf dem Opfer lag. Schon sahen wir die ersten bösen Risse leuchten; auch schien es mir, als ob die Rufe der Knechte heftiger und aufgeregter würden — in solchen Lagen kündet ein Unterton wie leises Weinen, daß die Verzweiflung sich zu nähern droht. In diese Rufe mischte sich das Geheul der Meuten, das Knallen der Schüsse und das Geistern der Flammen ein. Auch hörten wir aus dem Tannicht ein mächtiges Gelächter schallen, ein röhrendes Joho, das uns verkündete, daß nun der Oberförster mit im Treiben war. In diesem Lachen erklang die fürchterliche Jovialität, die ihm zu eigen war; der Alte gehörte noch zu den großen Herren, die hoch frohlocken, wenn man ihnen trotzt. Auch war der Schrecken sein Element. In diesem Trubel begann mir heiß zu werden, und ich fühlte, daß die Erregung auf mich übersprang. Doch tauchte, wie schon oft in solchen Lagen, das Bildnis meines alten Waffenmeisters van Kerkhoven in meinem Geiste auf. Dieser, ein kleiner Flame mit rotem Barte, der mich im Fußdienst abgerichtet ~ 132 ~

hatte, pflegte oft zu sagen, daß ein gezielter Schuß zehn andere überwiege, die man zu hastig aus dem Laufe wirft. Auch prägte er mir ein, an jenen Punkten des Gefechtes, an denen der Schrecken sich verbreiten würde, den Zeigefinger gestreckt zu halten und ruhig Luft zu schöpfen — denn jener sei am stärksten, der gut geatmet hat. Dieser Kerkhoven also tauchte vor mir auf— denn jede echte Lehre ist Geistes-Sache, und die Ebenbilder der guten Lehrer stehn uns im Drangsal bei. Und wie dereinst im Norden vor dem Scheibenstande, setzte ich ab, um langsam durchzuatmen, und fühlte, wie sogleich der Blick sich klärte, und die Brust mir freier ward. Mißlich vor allem, als das Treffen sich zum Bösen wandte, war, daß der Qualm uns immer mehr das Schußfeld nahm. So wurden die Kämpfer vereinzelt, und die Dinge tauchten ins Ungewisse ein. Auch brachen die roten Doggen aus immer kürzerer Entfernung vor. So sah ich mehr als einmal Chiffon Rouge an meinem Stand vorüberwechseln, doch suchte das kluge Ungeheuer, sowie ich in Anschlag gehen wollte, die Deckung auf. Da faßte mich die Jagdgier, und der Eifer, die Lieblings-Dogge des Oberförsters zu erlegen, verführte mich, ihr nachzuspringen, als ich sie wieder im Qualm verschwinden sah, der wie ein breiter Bach an mir vorüberfloß.

~ 133 ~

25. Im dichten Rauche glaubte ich hin und wieder das Untier schattenhaft zu sehen, doch stets zu flüchtig zum wohlgezielten Schuß. Auch narrten mich Trugbilder in den Wirbeln, sodaß ich endlich lauschend im Ungewissen stehen blieb. Da hörte ich ein Knistern, und mich packte der Gedanke, daß die Bestie einen Haken geschlagen haben könnte, um mich von hinten anzugehn. Um mich zu sichern, kniete ich mit vorgehaltener Flinte nieder und wählte zur Rücken-Deckung einen Dornenbusch. Wie sich in solchen Lagen unser Auge oft an geringe Dinge heftet, so sah ich an der Stelle, an der ich kniete, im toten Laub ein Kräutlein blühen und erkannte in ihm das rote Waldvögelein. Ich mußte mich also an dem Ort befinden, zu dem ich mit Bruder Otho vorgestoßen war, und damit dicht vor der Hügelspitze bei Köppels-Bleek. Und wirklich gelang es mir, mit wenig Schritten die kleine Kuppe zu erreichen, die sich wie eine Insel aus dem Rauch erhob. Von ihrem Rücken sah ich die Rodung bei Köppels-Bleek im matten Scheine leuchten, doch wurde zugleich mein Blick fern in die Wäldertiefe auf einen Feuerpunkt gelenkt. Dort sah ich winzig, und wie aus rotem Filigran gebildet, ein Schloß mit Zinnen und runden Türmen in Flammen stehen; und ich entsann mich, daß auf Fortunios Karte diese Stelle als „südliche Residenz“ bezeichnet war. Die Feuers~ 134 ~

brunst verriet mir, daß der Angriff des Fürsten und Braquemarts bis an die Stufen des Palastes gelangt sein mußte; und wie immer, wenn wir die Wirkung kühner Taten sehen, hob ein Gefühl der Freude mir die Brust. Zugleich indessen fiel mir das triumphierende Gelächter des Oberförsters ein, und eilig spähte mein Blick auf Köppels-Bleek. Dort sah ich Dinge, die mich erblassen ließen in ihrer Schändlichkeit. Die Feuer, die Köppels-Bleek erhellten, waren noch glühend, doch wie mit Silber-Kuppen von einer weißen Aschenschicht bedeckt. Ihr Schimmer fiel auf die Schinder-Hütte, die weit geöffnet stand, und färbte den Schädel, der am Giebel grinste, mit rotem Licht. Aus Spuren, die sowohl den Boden um die Feuerstätten als auch das Innere der üblen Höhle zeichneten, und die ich nicht schildern will, war zu erraten, daß die Lemuren hier eines ihrer schauerlichen Feste abgehalten hatten, dessen Nachglanz noch auf dem Orte lag. Wir Menschen blicken mit angehaltnem Atem und wie durch Spalten auf solchen Spuk. Nur so viel sei verraten, daß mein Auge unter all den alten und längst entfleischten Köpfen auch zwei neue, an Stangen hoch aufgesteckte entdecken mußte — die Köpfe des Fürsten und Braquemarts. Sie blickten von ihren Eisenspitzen, an denen sich Haken krümmten, auf die Feuersgluten, die weiß verblätterten. Dem jungen Fürsten war nun das ~ 135 ~

Haar gebleicht, doch fand ich seine Züge noch edler und von jener höchsten, sublimen Schönheit, die nur das Leid erzeugt. Ich fühlte bei diesem Anblick die Tränen mir in die Augen schießen — doch jene Tränen, in welchen mit der Trauer uns herrlich die Begeisterung ergreift. Auf dieser bleichen Maske, von der die abgeschundene Haut in Fetzen herunterhing, und die aus der Erhöhung am Marterpfahle auf die Feuer herniederblickte, spielte der Schatten eines Lächelns von höchster Süße und Heiterkeit, und ich erriet, wie von dem hohen Menschen an diesem Tage Schritt für Schritt die Schwäche abgefallen war — so wie die Lumpen von einem König, der als Bettler verkleidet ging. Da faßte mich ein Schauer im Innersten, denn ich begriff, daß dieser seiner frühen Ahnen und Bezwinger von Ungeheuern würdig war; er hatte den Drachen Furcht in seiner Brust erlegt. Da wurde mir, woran ich oft gezweifelt hatte, gewiß: es gab noch Edle unter uns, in deren Herzen die Kenntnis der großen Ordnung lebte und sich bestätigte. Und wie das hohe Beispiel uns zur Gefolgschaft führt, so schwur ich vor diesem Haupt mir zu, in aller Zukunft lieber mit den Freien einsam zu fallen, als mit den Knechten im Triumph zu gehn. Die Züge von Braquemart dagegen sahen ganz unverändert aus. Er blickte spöttisch und mit leisem Ekel von seiner Stange auf Köppels-Bleek und mit erzwun~ 136 ~

gener Ruhe wie jemand, der einen starken Krampf empfindet, doch das Gesicht bewahrt. So wäre ich kaum erstaunt gewesen, in diesem Antlitz noch das Einglas wahrzunehmen, das er im Leben trug. Auch war sein Haar noch schwarz und glänzend, und ich erriet, daß er zur rechten Zeit die Pille eingenommen hatte, die jeder Mauretanier am Körper führt. Es ist dies eine Kapsel aus buntem Glase, die man zumeist im Ringe und in den Augenblicken der Bedrohung im Munde führt. In dieser Haltung genügt ein Biß, die Kapsel zu zermalmen, in die ein Gift von ausgesuchter Wirkung eingeschlossen ist. Dies ist die Prozedur, die in der Mauretanier-Sprache als die Berufung an die dritte Instanz bezeichnet wird — entsprechend dem dritten Grade der Gewalt, und sie gehört zum Bilde, das man in diesem Orden von der Würde des Menschen hegt. Man hält die Würde durch den gefährdet, der niedere Gewalt erduldet; und man erwartet, daß jeder Mauretanier zu jeder Stunde zum tödlichen Appell gerüstet sei. Das also war das letzte Abenteuer von Braquemart. Ich sah das Bild in der Erstarrung, und ohne zu wissen, wie lange ich vor ihm weilte — wie außerhalb der Zeit. Zugleich verfiel ich in ein waches Träumen, in dem ich die Nähe der Gefahr vergaß. In solchem Stande gehen wir wie schlafend durch die Bedrohung — zwar ohne Vorsicht, doch dem Geist der Dinge nah. So trat ich auf die Rodung von KöppelsBleek, und wie im Rausche schienen die Dinge mir ~ 137 ~

deutlich, doch nicht außer mir. Sie waren mir wie im Kinderland vertraut, und rings die bleichen Schädel an den alten Bäumen sahen mich fragend an. Auch hörte ich Geschosse auf der Lichtung singen — sowohl das schwere Schwirren der ArmbrustBolzen, als auch den scharfen Büchsenschuß. Sie fuhren so nah vorüber, daß sich mir die SchläfenHaare hoben, doch achtete ich ihrer nur wie einer tiefen Melodie, die mich begleitete und mir das Maß für meine Schritte gab. So kam ich im Schein der Silbergluten bis an die Schreckens-Stätte und bog die Stange, die das Haupt des Fürsten trug, zu mir herab. Mit beiden Händen hob ich es von der Eisenspitze und bettete es in die Ledertasche ein. Indem ich kniend dieses Werk verrichtete, spürte ich an der Schulter einen harten Schlag. Es mußte mich eines der Geschosse getroffen haben, doch fühlte ich weder Schmerzen, noch sah ich Blut an meinem Lederrock. Nur hing der rechte Arm gelähmt herab. Wie aus dem Schlaf erwachend, blickte ich mich um und eilte mit der hohen Trophäe in den Wald zurück. Die Flinte hatte ich am Fundort des roten Waldvögeleins zurückgelassen, auch konnte sie mir nicht mehr dienlich sein. So strebte ich sogleich dem Orte, an dem ich die Kämpfenden verlassen hatte, zu. Hier war es ganz still geworden, und auch die Fackeln leuchteten nicht mehr. Nur wo die Büsche gelodert hatten, lag noch ein Schimmer von roter ~ 138 ~

Glut. In ihm erriet das Auge am dunklen Boden die Leichen vom Kämpfern und erlegte Hunde; sie waren verstümmelt und fürchterlich zerfleischt. In ihrer Mitte, am Stamme eines alten Eichbaums, lag Belovar. Ihm war der Kopf gespalten, und der Blutstrom hatte den weißen Bart gefärbt. Vom Blut gerötet waren auch die Doppelaxt an seiner Seite und der breite Dolch, den seine Rechte noch fest umschloß. Zu seinen Füßen streckte sich der treue Leontodon, mit ganz von Schüssen und Stichen zerfetzter Haut, und leckte im Sterben ihm die Hand. Der Alte hatte gut gefochten, denn um ihn lag ein Kranz von Männern und Hunden hingemäht. So hatte er den angemessenen Tod gefunden, im vollen Trubel der Lebensjagd, wo rote Jäger rotes Wildbret durch Wälder hetzen, in denen Tod und Wollust tief verflochten sind. Ich sah dem toten Freunde lange in die Augen und legte ihm mit der Linken eine Handvoll Erde auf die Brust. Die große Mutter, deren wilde, blutfrohe Feste er gefeiert hatte, ist solcher Söhne stolz.

26. Um aus dem Dunkel des großen Waldes auf die Weidegründe zurückzufinden, brauchte ich nur der Spur zu folgen, die wir beim Kommen gezogen hatten, und sinnend schritt ich den weißen Pfad entlang. ~ 139 ~

Es schien mir seltsam, daß ich während des Gemetzels mich bei den Toten befunden hatte, und ich faßte es als ein Sinnbild auf. Auch stand ich immer noch im Banne der Träumerei. Der Zustand war mir nicht völlig neu; ich hatte ihn auch früher an Abenden von Tagen erfahren, an denen der Tod mir nahe gewesen war. Wir treten dann mit der Geisteskraft ein wenig aus dem Körper aus und schreiten gleichsam als Begleiter neben unserem Ebenbilde her. Doch hatte ich die Lösung dieser feinen Fäden noch nie so stark empfunden wie hier im Wald. Indem ich träumend die weiße Spur verfolgte, erblickte ich die Welt im dunklen Schimmer des Ebenholzes, in dem sich elfenbeinerne Figürchen spiegelten. Auf diese Weise durchquerte ich auch das Moor am Filler-Horne und trat unweit der hohen Pappeln in die Campagna ein. Hier sah ich mit Schrecken, daß der Himmel von Feuersbrünsten unheilvoll erleuchtet war. Auch herrschte ein böses Treiben auf den Weidegründen, und Schatten eilten an mir vorbei. Es mochten Knechte, die dem Gemetzel entronnen waren, darunter sein; indessen vermied ich, sie anzurufen, denn viele schienen in trunkener Wut. Auch sah ich solche, die Feuerbrände schwangen, und hörte die Sprache der von La Picousière. Von diesen strebten Scharen, die mit Beute beladen waren, schon wieder den Wäldern zu. Das Vorgehölz des roten Stieres war hell erleuchtet; dort mischten sich Weiberschreie in das Gelächter eines Triumph-Gelages ein. ~ 140 ~

Voll böser Ahnung eilte ich dem Weidehofe zu, und schon von weitem mußte ich erkennen, daß inzwischen auch Sombor mit den Seinen dem Waldgelichter erlegen war. Die reiche Siedlung stand in hellen Flammen, die schon von Haus und Stall und Scheuer den Dachstuhl abgehoben hatten, und Feuerwürmer tanzten heulend um die Glut. Die Plünderung war schon in vollem Gange; sie hatten bereits die Betten aufgeschnitten und füllten sie wie Säcke mit Beute an. Auch sah ich Gruppen, die vom Gut der Vorrats-Häuser praßten, sie hatten von gefüllten Fässern die Deckel eingeschlagen und schöpften mit den Hüten ihren Trunk. Die Mörder waren im Taumel der Völlerei, und dieser Umstand war mir günstig, denn ich wandelte, fast wie im Schlafe, durch ihren Kreis. Vom Feuer, vom Mord und von der Trunkenheit geblendet, bewegten sie sich wie Tiere, die man am Grund von trüben Tümpeln sieht. Sie streiften dicht an mir vorüber, und einer, der einen Filz voll Branntwein schleppte, hob ihn mit beiden Armen gegen mich empor, und trollte sich fluchend, als ich ihm den Willkomm weigerte. So schritt ich unangefochten durch sie hindurch, als ob mir die vis calcandi supra scorpiones zu eigen sei. Als ich die Trümmer des Weidehofes verlassen hatte, fiel mir ein Umstand auf, der meinen Schrecken noch steigerte. Es schien mir nämlich, als ob im Rükken die Glut der Feuersbrunst verblaßte — doch ~ 141 ~

weniger infolge der Entfernung, als vor einer neuen und grimmigeren Röte, die sich vor mir am Firmament erhob. Auch dieser Teil der Weidegründe war nicht ganz unbelebt. So sah ich versprengtes Vieh und Hirten auf der Flucht, und vor allem vernahm ich in der Ferne das Geläute der roten Meute, das sich zu nähern schien. Daher beeilte ich meine Schritte, obwohl mein Herz zugleich ein Bangen vor dem fürchterlichen Flammenringe spürte, dem ich entgegenging. Schon sah ich dunkel die MarmorKlippen ragen, wie schwarze Riffe am Lava-Meer. Und während ich die Hunde im Rücken hörte, erklomm ich hastig die schroffe Zinne, von deren Rande unser Auge so oft in hohem Rausche die Schönheit dieser Erde in sich eingetrunken hatte, die ich nun im Purpur-Mantel der Vernichtung sah. Nun war die Tiefe des Verderbens in hohen Flammen offenbar geworden, und weithin leuchteten die alten und schönen Städte am Rande der Marina im Untergange auf. Sie funkelten im Feuer gleich einer Kette von Rubinen, und kräuselnd wuchs aus den dunklen Tiefen der Gewässer ihr Spiegelbild empor. Es brannten auch die Dörfer und die Weiler im weiten Lande, und aus den stolzen Schlössern und den Klöstern im Tale schlug hoch die Feuersbrunst empor. Die Flammen ragten wie goldene Palmen rauchlos in die unbewegte Luft, indes aus ihren Kronen ein Feuer-Regen fiel. Hoch über diesem Funken-Wirbel schwebten rot an~ 142 ~

gestrahlte Taubenschwärme und Reiher, die aus dem Schilfe aufgestiegen waren, in der Nacht. Sie kreisten, bis ihr Gefieder sich in Flammen hüllte, dann sanken sie wie brennende Lampione in die Feuersbrunst hinab. Als ob der Raum ganz luftleer wäre, drang nicht ein Laut herauf; das Schauspiel dehnte sich in fürchterlicher Stille aus. Ich hörte dort unten nicht die Kinder weinen und die Mütter klagen, auch nicht das Kampfgeschrei der Sippenbünde und das Brüllen des Viehes, das in den Ställen stand. Von allen Schrecken der Vernichtung stieg zu den Marmor-Klippen einzig der goldene Schimmer auf. So flammen ferne Welten zur Lust der Augen in der Schönheit des Unterganges auf. Auch hörte ich nicht den Schrei, der meinem Mund entstieg. Nur tief in meinem Inneren, als ob ich selbst in Flammen stünde, hörte ich das Knistern der Feuerwelt. Und nur dies feine Knistern konnte ich vernehmen, während die Paläste in Trümmer fielen und aus den Hafen-Speichern die Getreidesäcke hoch in die Lüfte stiegen, um glühend zu zersprühn. Auch flog, die Erde spaltend, der große Pulverturm am Hahnentore auf. Die schwere Glocke, die seit tausend Jahren den Belfried zierte, und deren Klänge Unzählige im Leben und im Sterben geleitet hatten, begann erst dunkel und dann immer heller aufzuglühen und stürzte endlich, den Turm zermalmend, aus ihrem Lager ab. Auch sah ich die ~ 143 ~

Giebelfirste der Säulentempel in roten Strahlen leuchten, und von den hohen Sockeln neigten sich mit Schild und Speer die Götterbilder nieder und sanken lautlos in die Glut. Vor diesem Feuermeere faßte mich zum zweiten Male, und stärker noch, die Traumes-Starre an. Und wie wir in solchem Stande vieles zugleich durchschauen, so hörte ich auch, wie die Meute und hinter ihr das Waldgelichter sich unablässig näherten. Schon hatten die Hunde fast den Klippenrand erreicht, und ich vernahm in Pausen den tiefen Anschlag von Chiffon Rouge, den seine Meute heulend begleitete. Doch war ich in dieser Lage nicht fähig, nur den Fuß zu heben, und ich fühlte, wie mir der Schrei im Munde blieb. Erst als ich die Tiere bereits erblickte, gelang es mir, mich zu bewegen, doch blieb der Bann bestehn. So schien es mir, als ob ich sanft die Marmorklippen-Treppe hinunterschwebte; auch hob ich mich in leichtem Schwünge über die Hecke, die den Garten der Rauten-Klause friedete. Und hinter mir im dichtgedrängten Rudel hetzte polternd die wilde Jagd den schmalen Felsenpfad hinab.

27. Im Sprunge war ich in dem weichen Boden der Lilien-Beete halb zu Fall gekommen, und mit Staunen sah ich, daß der Garten wundersam erleuchtet war. Die Blumen und die Büsche strahlten im ~ 144 ~

blauen Glanze, als wären sie auf Porzellan gemalt und dann durch Zauberspruch belebt. Oben im Küchen-Vorhof standen Lampusa und Erio, in den Anblick der Feuersbrunst vertieft. Auch Bruder Otho sah ich im festlichen Gewande auf dem Altan der Rauten-Klause; er lauschte in der Richtung der Felsentreppe, auf der nun wie ein Gießbach das Waldgelichter mit den Hunden herunterbrach. Schon huschte es an der Hecke wie ein Rattenschwarm, und Fäuste rüttelten am Gartentor. Da sah ich Bruder Otho lächeln, indem er prüfend die bergkristallene Lampe, auf der ein blaues Flämmchen tanzte, vor die Augen hob. Er schien kaum wahrzunehmen, wie indessen unter den Streichen der Hundehetzer die Pforte barst und wie das dunkle Rudel frohlockend in die LilienBeete brach, an seiner Spitze Chiffon Rouge, um dessen Hals die Klingen funkelten. In dieser Not erhob ich meine Stimme, um Bruder Otho anzurufen, den ich noch immer wie lauschend auf dem Altane stehen sah. Doch schien er mich nicht zu hören, denn er wandte sich unbewegten Blickes und trat mit vorgestreckter Leuchte in das Herbarium ein. So hielt er sich als hoher Bruder — da er im Angesichte der Vernichtung dem Werke, dem wir unser Leben gewidmet hatten, die Weihe geben sollte, fehlte ihm das Auge für meine körperliche Not. So rief ich denn Lampusa an, die mit vom Feuerschein erhellter Miene vor dem Eingang der Felsen~ 145 ~

küche stand, und sah sie flüchtig, mit gekreuzten Armen, indes ein grimmes Lächeln ihren Zahn entblößte, in das Gewimmel schaun. Da wußte ich, daß von dieser kein Mitleid zu erwarten stand. Solange ich ihren Töchtern Kinder zeugte und mit dem Schwertarm die Feinde schlug, war ich willkommen; doch war ihr jeder Sieger als Eidam gut, so wie sie jeden in der Schwäche verachtete. Da, als schon Chiffon Rouge im Ansprung stand, war es mein Erio, der mir zu Hilfe kam. Der Knabe hatte das Silber-Kesselchen ergriffen, das von der Schlangenspende noch im Vorhof stand. Er schlug es, nicht wie sonst mit seinem Birnholz-Löffel, sondern mit einer erzenen Gabel an. So rief er aus dem Becken einen Ton hervor, der einem Lachen glich und Mensch und Tier erstarren ließ. Ich spürte, wie unter dem Fuß der Marmor-Klippen die Klüfte bebten, dann erfüllte ein feines Pfeifen hundertfach die Luft. Im blauen Glänze des Gartens brach ein helles Leuchten auf, und blitzend schossen die Lanzen-Ottern aus ihren Schrunden vor. Sie glitten durch die Beete wie blanke Peitschen-Schnüre, unter deren Schwunge ein Wirbel von Blütenblättern sich erhob. Dann stellten sie, am Boden einen goldenen Kreis beschreibend, sich langsam bis zur Manneshöhe auf. So wiegten sie das Haupt in schweren Pendelschlägen, und ihre zum Angriff vorgestellten Fänge blinkten tödlich wie Sonden aus gekrümmtem Glase auf. Zu diesem Tanze durch~ 146 ~

schnitt ein leises Zischen, als ob sich Stahl in Wasser kühlte, die Luft; auch stieg ein feines, hörnernes Klappern, wie von den Kastagnetten maurischer Tänzerinnen, von der Fassung der Beete auf. In diesem Reigen stand das Waldgelichter vor Schreck versteinert, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen vor. Am höchsten war die Greifin aufgerichtet; sie wiegte sich mit lichtem Schilde vor Chiffon Rouge und kreiste ihn wie spielend mit den Figuren ihrer Serpentinen ein. Das Untier folgte den Schwüngen ihrer tänzerischen Windung bebend und mit gesträubtem Fell — dann schien die Greifin es ganz leicht am Ohr zu streifen, und vom Todeskrampf geschüttelt, die Zunge sich zerbeißend, wälzte der Bluthund sich im Lilienflor. Das war das Zeichen für die Schar der Tänzerinnen, die sich mit goldenen Ringen auf ihre Beute warf, so dicht verflochten, daß nur ein Schuppenleib die Männer und die Hunde zu umwinden schien. Auch schien es nur ein Todesschrei, der diesem prallen Netz entstieg, und den die schnürend feine Kraft des Giftes sogleich erdrosselte. Dann löste sich die blinkende Verflechtung, und die Schlangen zogen in ruhiger Windung wieder in ihre Klüfte ein. Inmitten der Beete, die nun dunkle und vom Gift geblähte Kadaver deckten, hob ich den Blick zu Erio. Ich sah den Knaben mit Lampusa, die ihn stolz und zärtlich führte, in die Küche treten, und lächelnd winkte er zurück, indes das Felsentor sich ~ 147 ~

knarrend hinter ihnen schloß. Da spürte ich, daß das Blut mir leichter in den Adern kreiste, und daß der Bann, der mich ergriffen hatte, gewichen war. Auch konnte ich die Rechte wieder frei bewegen, und eilig trat ich, da mich um Bruder Otho bangte, in die Rauten-Klause ein.

28. Als ich die Bibliothek durchschritt, fand ich die Bücher und die Pergamente in strenger Ordnung, wie man sie schafft, wenn man auf eine lange Reise geht. Die runde Tafel in der Halle trug die Laren-Bilder — sie waren mit Blumen, Wein und Opferspeise wohl versehen. Auch dieser Raum war festlich hergerichtet und strahlend von den hohen Kerzen des Ritters Deodat erhellt. Ich fühlte mich in ihm so heimisch, als ich ihn feierlich gerüstet fand. Indem ich so sein Werk betrachtete, trat Bruder Otho oben aus dem Herbarium, dessen Türe er weit geöffnet ließ. Wir fielen uns in die Arme und teilten uns, wie einstmals in den Pausen des Gefechtes, unsere Abenteuer mit. Als ich erzählte, wie ich den jungen Fürsten angetroffen hatte, und meine Beute aus der Ledertasche zog, sah ich Bruder Othos Antlitz erstarren — dann, mit den Tränen, zog ein wundersames Leuchten in ihm auf. Wir wuschen mit dem Wein, der bei den Opferspeisen stand, das Haupt vom Blut und Todesschweiße rein, dann ~ 148 ~

betteten wir es in eine der großen Duft-Amphoren, in der die Blätter von weißen Lilien und SchirasRosen welkten, ein. Nun füllte Bruder Otho zwei Pokale mit dem alten Weine, die wir, nachdem wir die Libation vergossen hatten, leerten und dann am Sockel des Kamins zerschmetterten. So feierten wir Abschied von der Rauten-Klause, und mit Trauer verließen wir das Haus, das unserem Geistesleben und unserer Bruderschaft zum warmen Kleide geworden war. Doch müssen wir ja von jeder Stätte weichen, die uns auf Erden Herberge gab. So eilten wir, unser Gut verlassend, durch die Gartenpforte dem Hafen zu. Ich hielt in beiden Armen die Amphore, und Bruder Otho hatte den Spiegel und die Leuchte an seiner Brust verwahrt. Als wir die Biegung erreichten, an welcher der Pfad sich in den Hügeln zum Kloster der Falcifera verliert, verweilten wir noch einmal und blickten auf unser Haus zurück. Wir sahen es im Schatten der Marmor-Klippen liegen, mit seinen weißen Mauern und dem breiten Schieferdache, auf dem sich matt der Schimmer der fernen Feuer spiegelte. Gleich dunklen Bändern zogen sich um die hellen Wände die Terrasse und der Altan. So baut man in den schönen Tälern, in denen unser Volk am Südhang wohnt. Indem wir so die Rauten-Klause betrachteten, erhellten sich ihre Fenster, und aus dem Giebel fuhr eine Flamme bis zur Höhe des Marmorklippen~ 149 ~

Randes auf. Sie glich an Farbe dem Flämmchen auf der Leuchte Nigromontans — tief dunkelblau —, und ihre Krone war gleich dem Kelche der Enzian-Blüte ausgezackt. So sahen wir die Ernte vieler Arbeits-Jahre den Elementen zum Raube fallen, und mit dem Hause sank unser Werk in Staub. Doch dürfen wir auf dieser Erde nicht auf Vollendung rechnen, und glücklich ist der zu preisen, dessen Wille nicht allzu schmerzhaft in seinem Streben lebt. Es wird kein Haus gebaut, kein Plan geschaffen, in welchem nicht der Untergang als Grundstein steht, und nicht in unseren Werken ruht, was unvergänglich in uns lebt. Dies leuchtete uns in der Flamme ein, doch lag in ihrem Glänze auch Heiterkeit. So eilten wir mit frischen Kräften den Pfad entlang. Noch war es dunkel, doch aus den Rebenhügeln und Uferwiesen stieg schon die Kühlung des Morgens auf. Auch schien es dem Gemüt, als ob die Feuer am Firmament ein wenig von ihrer unheilvollen Kraft verlören; es mischte sich Morgenröte ein. Am Bergeshange sahen wir auch das Kloster der Maria Lunaris in Gluten eingehüllt. Die Flammen schlugen am Turm empor, sodaß das goldene Füllhorn glühte, das auf dem Knauf als Wetterfahne schwang. Das hohe Kirchenfenster an der Seite des Bild-Altares war schon zersprungen, und wir sahen im leeren Rahmen den Pater Lampros stehn. In seinem Rücken glomm es wie aus dem Feuer-Ofen, und wir eilten, um ihn zu rufen, bis an den Kloster~ 150 ~

graben vor. Er stand im Prunk-Ornate, und auf seinem Antlitz sahen wir ein unbekanntes Lächeln leuchten, als ob die Starre, die uns sonst an ihm erschreckte, im Feuer dahingeschmolzen sei. Er schien zu lauschen, und doch hörte er unsere Rufe nicht. Da hob ich das Haupt des Fürsten aus der DuftAmphore und streckte es mit der Rechten hoch empor. Bei seinem Anblick faßte uns ein Schauer, denn die Feuchte des Weines hatte die Rosenblätter angezogen, sodaß es nun im dunklen Purpur-Prunke aufzuleuchten schien. Doch war es noch ein anderes Bild, das uns, als ich das Haupt erhob, ergriff — wir sahen im grünen Glänze die Rosette strahlen, die in noch unversehrter Rundung den Fensterbogen schloß, und ihre Bildung war uns wundersam vertraut. Uns schien, als hätte uns ihr Vorbild in jenem Wegerich geleuchtet, den Pater Lampros uns einst im Klostergarten wies — nun offenbarte sich die verborgene Beziehung dieser Schau. Der Pater wandte, als ich ihm das Haupt entgegenstreckte, den Blick zu uns, und langsam, halb grüßend und halb deutend, wie bei der Consecratio, hob er die Hand, an welcher der große Karneol im Feuer glomm. Als hätte er mit dieser Geste ein Zeichen von schrecklicher Gewalt gegeben, sahen wir die Rosette in goldenen Funken auseinandersprühen, und mit dem Bogen stürzten wie ein Gebirge Turm und Füllhorn auf ihn herab. ~ 151 ~

29. Das Hahnentor war eingefallen; wir bahnten uns über seine Trümmer einen Weg. Die Straßen waren von Mauer-Resten und Balkenwerk bedeckt; und rings im Brandschutt lagen Erschlagene verstreut. Wir sahen finstere Bilder im kalten Rauch, und dennoch lebte eine neue Zuversicht in uns. So bringt der Morgen Rat; und schon die Wiederkehr des Lichtes nach dieser langen Nacht erschien uns wunderbar. In diesem Trümmerfelde erschienen die alten Händel so sinnlos wie Erinnerungen an einen schlechten Rausch. Nichts als das Unglück war zurückgeblieben, und die Kämpfer hatten Fahnen und Zeichen abgelegt. Noch sahen wir plünderndes Gelichter in den Seitengassen, doch zogen nun die Söldner in Doppel-Posten auf. Am Zwinger trafen wir Biedenhorn, der sie verteilte und sich ein großes Ansehn gab. Er stand in goldenem Küraß auf dem Platze, doch ohne Helm, und rühmte sich, schon Tannen-Bäume aufgeputzt zu haben — das heißt, er hatte die Erstbesten ergreifen lassen und in die Ulmen am Walle aufgehängt. Nach martialischer Gewohnheit hatte er sich während der Tumulte gut verschanzt gehalten — nun, da die ganze Stadt in Scherben lag, trat er hervor und spielte den Wundermann. Im übrigen war er gut informiert, denn auf dem runden Turm des Zwingers wehte schon die Standarte des Oberförsters, der rote Eberkopf. ~ 152 ~

Es schien, daß Biedenhorn schon scharf getrunken hatte; wir trafen ihn in der grimmig guten Laune, die ihn zum Liebling seiner Söldner machte, an. Ganz unverhohlen lebte in ihm das Ergötzen, daß es den Schreibern, Versemachern und Philosophen der Marina nun ans Leder ging. Auch war ihm, wie der alte Bildungsduft, der Wein und seine Geistigkeit verhaßt. Er liebte die schweren Biere, die man in Britannien und den Niederlanden braut, und sah das Volk an der Marina als Schneckenfresser an. So war er ein wilder Stößer und Zecher und glaubte felsenfest, daß jeder Zweifel auf dieser Erde durch rechtes Einhaun zu entscheiden sei. Auf diese Weise besaß er Ähnlichkeit mit Braquemart — doch war er insofern viel gesünder, als er die Theorie verachtete. Wir schätzten ihn ob seiner Unbefangenheit und seines guten Appetites, denn wenn er auch an der Marina fehl am Platze war, so darf man doch den Bock nicht tadeln, den man zum Gärtner macht. Zum Glück gehörte Biedenhorn zu denen, welchen der Frühtrunk die Erinnerung belebt. So brauchten wir ihn nicht an jene Stunde vor den Pässen zu gemahnen, in der er mit seinen Kürassieren ins Gedränge geraten war. Dort war er zu Fall gekommen, und wir sahen die freien Bauern von Alta Plana schon beschäftigt, ihm den Panzer aufzumeißeln — so wie man beim Prunkmahl einem Hummer, den die Kunst des Koches vergoldete, die Schale bricht. Schon kitzelte der Fugenstecher ~ 153 ~

ihn am Halse, da schafften wir ihm und seinen Söldnern mit den Purpur-Reitern wieder Luft. Dies war die Diversion, bei welcher der junge Ansgar uns in die Hand gefallen war. Auch kannte uns Biedenhorn aus unseren Mauretanier-Zeiten, und so kam es, daß er sich, als wir ihn um ein Schiff ersuchten, nicht lumpen ließ. Gilt doch die Stunde der Katastrophe als die Stunde der Mauretanier. Er stellte uns die Brigantine zur Verfügung, die er im Hafen hielt, und teilte uns zum Geleite eine Gruppe von Söldnern zu. Die Straßen, die zum Hafen führten, waren von Flüchtlingen erfüllt. Doch schien es, daß nicht alle die Stadt verlassen wollten, denn wir sahen aus den Ruinen der Tempel bereits den Rauch von Opfern steigen, und aus den Trümmern der Kirchen hörten wir Gesang. In der Kapelle der Sagrada Familia dicht am Hafen war die Orgel verschont geblieben, und mächtig führten ihre Klänge das Lied, das die Gemeinde sang: „Fürsten sind Menschen, vom Weib geboren, Und kehren um zu ihrem Staub; Ihre Anschläge sind auch verloren, Wenn nun das Grab nimmt seinen Raub. Weil denn kein Mensch uns helfen kann, Rufen wir Gott um Hülfe an.“ Am Hafen drängte sich das Volk, das mit den Resten seiner Habe beladen war. Doch waren die ~ 154 ~

Schiffe nach Burgund und Alta Plana schon überfüllt, und jeden der Segler, den die Knechte mit ihren Stangen vom Kai abstießen, verfolgte ein lautes Wehgeschrei. Inmitten dieses Elends schaukelte, wie unter Tabu, die Brigantine Biedenhorns an der Dückdalbe, die schwarz-rot-schwarz gezeichnet war. Sie glänzte in dunkelblauem Lack und kupfernen Beschlägen, und als ich Order zur Abfahrt gab, zogen die Knechte die Persenning von den roten Lederpolstern der Ruhebänke fort. Indes die Söldner mit ihren Piken die Menge in Achtung hielten, gelang es uns, noch Frauen und Kinder aufzunehmen, bis unser Deck kaum eine Handbreit über Wasser schwamm. Dann ruderten die Knechte uns aus dem Hafenbecken, das in die Mauer eingeschlossen war, und draußen erfaßte uns sogleich ein frischer Wind und trieb uns auf die Berge von Alta Plana zu. Noch lag das Wasser in der Morgenkühle, und die Wirbel zogen auf seinem Spiegel Schlieren wie auf grünem Glas. Doch schob sich schon die Sonne über die Zacken der Schnee-Gebirge vor, und blendend tauchten die Marmor-Klippen aus dem Dunste der Niederungen auf. Wir blickten auf sie zurück und ließen die Hände im Wasser streifen, das sich im Sonnenlichte ins Blaue wandte, als drängen Schatten in seine Tiefe ein. Auch hielten wir die Amphore in guter Hut. Noch kannten wir nicht das Schicksal dieses Hauptes, das wir mit uns führten, und das wir den Christen ~ 155 ~

überlieferten, als sie den großen Dom an der Marina aus seinen Trümmern errichteten. Sie fügten es in seinem Grundstein ein. Doch vorher, im Pallas der Stammburg der Sunmyras, sprach Bruder Otho es im Eburnum an.

30. Die Männer von Alta Plana waren an den Marken aufgezogen, als die Feuersbrunst den Himmel zeichnete. So kam es, daß wir den jungen Ansgar schon vor der Landung am Ufer sahen; und freudig winkte er uns zu. Wir rasteten ein wenig bei seinen Leuten, während er Boten zu seinem Vater sandte, dann stiegen wir langsam zum Talhof auf. Als wir die Pässe erreichten, verweilten wir an dem großen Heroon, und auch an manchem der kleinen Male, die dort auf dem Gefilde errichtet sind. Wir kamen dabei auch an die Enge, an der wir Biedenhorn mit seinen Söldnern herausgehauen hatten — an dieser Stelle reichte Ansgar uns von neuem die Hand und sagte, alles, was teilbar sei von seiner Habe, gehöre von nun an uns zur Hälfte mit. Am Mittag erblickten wir den Hof im alten Eichenhaine, der ihn umschloß. Als wir ihn sahen, wurde uns heimatlich zu Mute, denn wie bei uns im Norden fanden wir unter seinem tiefen Dache die Scheuern, Ställe und die Menschenwohnung, alles ~ 156 ~

in einem, wohl geschirmt. Auch gleißte vom breiten Giebel der Pferdekopf. Das Tor war weit geöffnet, und die Tenne blinkte im Sonnenschein. Über die Raufen schaute das Vieh in sie hinein, das heute an den Hörnern den goldenen Zierat trug. Die große Halle war feierlich gerichtet, und aus dem Kreise der Männer und der Frauen, die vor ihr harrten, trat zum Empfang der alte Ansgar auf uns zu. Da schritten wir durch die weit offenen Tore wie in den Frieden des Vaterhauses ein.

~ 157 ~