Erinnerungen und Erörterungen
 3112305345, 9783112305348

Table of contents :
INHALT
Vorwort Des Herausgebers
Erinnerungen Und Erörterungen
Inhalt
I. Vorfahren Und Jugend
II. Sturm Und Drang
III. In Der Österreichischen Sozialdemokratie (1875-1880)
IV. Bei Höchberg
V. Die „Neue Zeit" Als Monatsschrift
Erinnerungen
Personenregister
Familientafel

Citation preview

KARL KAUTSKY ERINNERUNGEN UND

ERÖRTERUNGEN

Q U E L L E N UND U N T E R S U C H U N G E N ZUR G E S C H I C H T E DER D E U T S C H E N UND Ö S T E R R E I C H I S C H E N A R B E I T E R B E W E G U N G HERAUSGEGEBEN

INTERNATIONAAL

VOM

INSTITUUT

SOCIALE GESCHIEDENIS, DIREKTOR:

PROF.

DR.

A. J.

VOOR

AMSTERDAM C.

RUTER

III

MOUTON

& CO

-

i960

-

'S-GRAVENHAGE

Karl Kautskv W i e n 1882

ERINNERUNGEN UND

ERÖRTERUNGEN VON

KARL KAUTSKY

HERAUSGEGEBEN

VON

DR. B E N E D I K T K A U T S K Y

M O U T O N & CO -

i960 -

'S-GRAVENHAGE

©

COPYRIGHT

P R I N T E D IN THE N E T H E R L A N D S

RESERVED

BY M O U T O N 4

CO, P R I N T E R S ,

THE

HAGUE

INHALT

Vorwort des Herausgebers Nachgelassenes Manuskript einer Selbstbiographie von Karl Kautsky, umfassend: Die Familiengeschichte, Die Jugendzeit, Den Eintritt ins politische Leben, Die Gründung der „Neuen Zeit"

5

ERINNERUNGEN UND ERÖRTERUNGEN.

21

ERINNERUNGEN

543

Personenregister

573

VORWORT DES

HERAUSGEBERS

In dem vorliegenden Band kann ich zwei autobiographische Arbeiten Karl Kautskys der Öffentlichkeit vorlegen. Obwohl beide zum grössten Teil denselben Lebensabschnitt behandeln, sind sie untereinander völlig verschieden. Das ergibt sich aus der Zwecksetzung, die bei jeder der Biographien eine andere war. Die kürzere, im Anhang abgedruckte Arbeit, die Karl Kautsky einfach „Erinnerungen" betitelte (im Inhaltsverzeichnis des Heftes, in das sie eingetragen wurde, lautet der Titel genauer „Erinnerungen aus meiner Jugend"), ist aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, ohne dass er irgendwelches Material zur Hilfe genommen hätte. Solches hätte ihm bei der Abfassung dieser Memoiren gar nicht zur Verfügung gestanden, denn sie fällt in die Zeit kurz nach der Rückkehr meiner Eltern von ihrer Reise nach Georgien, als sie 1921 in Wien Station machten und einige Monate in der Wohnung meines Bruders Karl lebten. Die Veranlassung zu dieser Niederschrift bildete die Geburt ihres ersten Enkelkindes, der Tochter Hilde meines Bruders Karl, die am 31. Oktober 1920 das Licht der Welt erblickte. Als Karl Kautsky Anfang 1921 nach Wien kam, bedeutete ihm dieses Enkelkind eine ausserordentliche Freude, und er beschäftigte sich mit ihm ebenso liebevoll und eingehend wie mit jedem seiner Kinder und seiner späteren Enkel. Da er sich als Grossvater schon verhältnismässig alt vorkam — er stand damals im 67. Lebensjahr — befürchtete er, dass seine Enkel von ihm kein deutliches persönliches Bild bekommen könnten. Infolgedessen entschloss er sich, zumindest seine Jugenderlebnisse niederzuschreiben, zwanglos, ohne literarische Ansprüche und vor allem nur für familiäre Zwecke bestimmt. Ganz anders sind die „Erinnerungen und Erörterungen" aufgebaut, die den Hauptteil dieses Bandes ausmachen und ihm ihren Titel gegeben haben. Karl Kautsky hat sie in seinen letzten Lebensjahren in Angriff genommen; — ein Vermerk am Anfang weist darauf hin, dass sie am 27.9.1936 begonnen wurden — und er hat zu ihrer Abfassung das sehr umfangreiche Material verwendet, das er über seine 5

eigene Jugend und über die Geschichte seiner Familie besass — Material, das sich, soweit ich es überprüfen konnte, vollständig erhalten hat und sich jetzt im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam befindet. Mit dieser Arbeit, deren Umfang beträchtlich grösser werden sollte, verfolgte er vor allem den Zweck, seinen Werdegang zu schildern und darzulegen, wie er zu seinen politischen und wissenschaftlichen Anschauungen gekommen war. Während also die umfangreiche Autobiographie zu einer weiteren Öffentlichkeit sprechen sollte, war die zuerst abgefassste kürzere Schrift nur für die Familie bestimmt. Wahrscheinlich glaubte Karl Kautsky, sich für familiäre Zwecke mit einer Darstellung seiner Jugend begnügen zu können. Das Manuskript bricht im Jahre 1870 ab, umfasst also nur die Anfänge seiner Hinwendung zum Sozialismus und zur Politik überhaupt. Sie endet an einem entscheidenden Punkt, nämlich mit dem Hinweis auf den Einfluss der Pariser Commune auf seine geistige Entwicklung. Warum Karl Kautsky die Arbeit nicht weiter führte, ist nirgends zu ersehen. Ich vermute, dass es zum Teil äussere Gründe waren, die ihn daran verhinderten. Er konnte sich im Jahre 1921 nicht dazu entschliessen, ständig in Wien zu bleiben, sondern kehrte noch einmal nach Berlin zurück. Er hoffte immer noch, innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, deren Einheit er herbeisehnte und nach Kräften herbeizuführen trachtete, als Herausgeber einer neuen theoretischen Zeitschrift, einer Nachfolgerin der „Neuen Zeit", wirken zu können. Erst als nach der vollzogenen Einigung von der neuen geeinten Partei an die Herausgabe einer solchen Zeitschrift geschritten, aber nicht er, sondern Rudolf Hilferding mit ihrer Redaktion betraut wurde, entschloss er sich endgültig zur Übersiedlung nach Wien, wo damals seine drei Söhne lebten. Aber ich glaube, dass es nicht nur diese Gründe waren, die ihn von der Weiterführung der Arbeit abhielten. Seine Rückkehr nach Berlin führte ihn mitten hinein in das politische Getriebe, das ihn wie stets gefangen nahm und ihm immer wichtiger war als die Beschäftigung mit seiner eigenen Person. Auch kam er in Berlin wieder in die gewohnte Umgebung, vor allem zu seinen geliebten Büchern und sonstigen Manuskripten, so dass er in seine alte Arbeitsweise zurückfiel. Wir müssen daher dieses Manuskript als die Frucht der kurzen Mussezeit ansehen, die er in Wien genoss; sie blieb das Produkt einer liebenswürdigen Laune und hat ihren Zweck, der Familie Aufschluss über die Jugend ihres Oberhauptes zu bringen, schon zu seinen Lebzeiten erfüllt. Die Umwelt, in der die grössere Selbstbiographie entstand, hatte nichts mehr von der Idylle an sich, die den Rahmen der ersten Arbeit 6

bildete. Wohl verfügte er im Jahre 1936 wieder wie 1921 über eine gewisse Müsse, aber sie war im Gegensatz zu der früheren Zeit unfreiwilliger Natur, weil er in den Jahren nach 1934 infolge der Zustände in Österreich keine Möglichkeit mehr sah, die gewohnte öffentliche Tätigkeit zu entfalten. So wenig sein Interesse für die politischen Vorgänge in der Welt jemals zu seinen Lebzeiten nachliess, so wenig Gelegenheit boten sie ihm nunmehr, handelnd in sie einzugreifen. Die beiden Parteien, in deren Rahmen er sein ganzes Leben gewirkt hatte, die deutsche und die österreichische Sozialdemokratie, waren zerschlagen, und ihre im Exil wirkenden Leitungen waren für ihn nicht nur schwer erreichbar, sondern auch in der Politik, die sie verfolgten, durchaus nicht auf der gleichen Linie wie er. Wohl erhob er in Artikeln und Broschüren seine warnende Stimme gegen die Überschätzung der Gewalt, aber er musste erkennen, dass er im Augenblick keine Erfolge seiner Arbeiten und Ansichten zu erwarten hatte. Er hat niemals daran gezweifelt, dass sich sein Standpunkt schliesslich durchsetzen werde, denn bei aller Bescheidenheit war er viel zu sehr von der Richtigkeit seiner Anschauungen durchdrungen, als dass er sich in geistigen Fragen jemals einer Autorität gebeugt hätte, die ihn nicht zu überzeugen verstand. Dafür gibt es keinen besseren Beweis, als den Briefwechsel mit einem ihm wie dem ganzen Hause Kautsky zeitweilig sehr nahestehenden jüngeren russischen Sozialisten, Gregor Bienstock, der 1955 in New York verstorben ist und dessen Witwe mir freundlicherweise die nachgelassenen Briefe übermittelt hat. Bienstock schrieb am 30.12.1933 aus Prag an Karl Kautsky: Ich habe Ihre letzte Abhandlung schon längst gelesen und wollte schon die ganze Zeit an Sie schreiben, aber es hat mich etwas davon abgehalten. Manchmal ist es so, dass, wenn man zu viel zu sagen hat, gar nichts herauskommt. Ich will nun versuchen, allerdings nicht „Stellung zu nehmen" — Gott behüte mich davor! — sondern einige Gedanken zu äussern, die ich bei der Lektüre Ihrer Schrift gehabt habe. Um es vorwegzunehmen: ich glaube nicht, dass wir zu einer Ansicht kommen können, dass irgendwelche Missverständnisse wegzuräumen sind, damit eine solche gemeinsame Anschauung entsteht. Ich glaube sogar, dass es höchst verhängnisvoll wäre, wenn wir zur Übereinstimmung gelangen könnten. Zuerst müssen die Standpunkte in ihrer absoluten Reinheit, ja fast möchte ich sagen, mit vollkommener Brutalität herausgearbeitet werden, erst dann wird vielleicht die Zeit kommen — wir werden sie beide nicht erleben — wo diese Standpunkte einander angenähert werden können. Ich weiss nicht, ob Sie recht haben, das interessiert mich auch relativ wenig, ich weiss aber bestimmt, dass Ihre Ansichten nicht in unsere Zeit hineinpassen, dass sie keinen Nutzen heute bringen können.

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Am 15.1.1934 antwortete ihm Kautsky: Aber freilich, Sie behaupten ja nicht, dass ich unrecht habe, sondern dass meine Ansichten nicht in unsere Zeit hineinpassen. Was ist „unsere Zeit"? Das letzte Jahr oder die letzten hundert Jahre? Und gewiss passt der Nüchterne nicht in die Gesellschaft Betrunkener. Indes, wenn diesen ihre sinnlose Wut die Kraft gibt, in dem Hause, das sie bewohnen, alles zu zertrümmern, sind diese „Erfolge" für mich kein Grund, meine Methoden den ihrigen anzupassen. Meine Zeit wird wieder kommen, davon bin ich fest überzeugt. Zu denen zu sprechen, die gleich mir denken, halte ich für meine wichtigste Pflicht. Sollte aber Ihnen ein grösserer propagandistischer Erfolg beschieden sein als mir, dann kann ich im Interesse des arbeitenden Volkes nur wünschen, dass Sie damit alle die praktischen Erfolge erzielen, die Sie erhoffen. Aber obwohl Karl Kautsky von der Unwiderlegbarkeit seiner Anschauungen überzeugt war, war er nicht gesonnen, den besten Teil seiner Arbeitskraft, die er allmählich schwinden fühlte, für die Niederschrift von Artikeln zu verwenden, deren augenblickliche Wirkungslosigkeit ihm nicht verborgen blieb. Wohl arbeitete er den grössten Teil der Jahre nach 1934 an seinem Werk über den Krieg, aber nach der Vollendung des Bandes „Sozialisten und Krieg" 1 fühlte er, dass er den ursprünglichen umfassenden Plan dieses Werkes nicht mehr werde ausführen können. E r konnte auch nicht voraussehen, in welche Situation es im Falle seiner Fertigstellung kommen werde, so dass er daran zweifelte, ob es die erhoffte Wirkung üben würde. Vor allem aber war es die Rücksicht auf seine schwindende Gesundheit, die ihn dazu bewog, von neuem an die Arbeit an seinen Memoiren zu gehen. Diesmal freilich begann er sie von vornherein in einer völlig anderen Form und in grösserem Umfang als im Jahre 1921. E r wollte ein wohldokumentiertes Bild seines Lebens, seiner perönlichen Entwicklung und der Umgebung, in der er aufgewachsen war, entwerfen. Material für diese Aufgabe stand ihm in reichem Masse zur Verfügung, denn das Familienarchiv ist von erstaunlicher Reichhaltigkeit. Es zeigt sich, dass die Leichtigkeit des Schreibens, die Karl Kautsky in seinem ganzen Leben bewies, ein Erbgut ist, das er von seiner Mutter und deren Vater übernommen hat. Aber ebenso erstaunlich wie die Schreibseligkeit dieser Familie ist ihr Bestreben, deren Produkte zu bewahren. Das Familienarchiv, das Karl Kautsky von seiner Mutter übernahm und durch viele Jahrzehnte getreulich aufhob, enthält eine Fülle von Familienbriefen, Gedichten, Tagebüchern, Entwürfen zu Romanen und Artikeln, Niederschriften sonstiger Art, die bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts 1

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Erschienen 1937 in Prag; das Vorwort ist datiert „Wien, Juni 1937".

zurückreichen. Jeder Forscher, der in Hinkunft eine Biographie Karl Kautskys zu schreiben unternimmt, wird es mit grossem Gewinn benützen können. Für Karl Kautsky war die Beschäftigung mit seiner eigenen Frühgeschichte und mit der Geschichte seiner Familie eine lebhafte Freude. Ich entsinne mich noch deutlich, wie er in den Jahren 1936 bis 1938 immer wieder mit dem einen oder anderen Stück aus seinem Archiv kam, das er aufgestöbert hatte, um es uns vorzulesen. Besonders lebhaft ist meine Erinnerung an die Briefe, die er von seinem ersten Aufenthalt in Blovic im Jahre 1868 (Teil 1, Kapitel 17) an seine Eltern schrieb und in denen er seinen starken Bierkonsum schilderte; fast jeder Absatz dieser Briefe schliesst etwa mit den Worten: „Und dann tranken wir Bier." Er empfand ersichtlich die Erinnerung an seine Jugend als ein Glück in einer düsteren Gegenwart und als einen Beweis dafür, dass diese Gegenwart nicht ewig dauern, sondern wieder besseren Zuständen Platz machen werde. Die Memoiren befassen sich im wesentlichen mit drei Problemkreisen. Der erste, der in der sehr breit angelegten Einleitung geschildert wird, ist die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit auf dem Hintergrund der Familiengeschichte; besondere Aufmerksamkeit widmet Karl Kautsky vor allem der Schilderung der Zustände in den von ihm besuchten Schulen. Diese Darstellung ist mit der Schilderung der Theaterzustände in den Jahrzehnten verwoben, in denen er vom Jüngling zum Mann heranreifte. Schliesslich geht er zur Darlegung der Frühgeschichte der österreichischen Sozialdemokratie über, in der er nach der Schilderung Ludwig Brügels in seiner „Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie" zeitweise eine führende Rolle spielte, der die Polizei gebührende Aufmerksamkeit zuwendete. Im allgemeinen sind die Darlegungen so klar, dass ich glaube, auf Kommentare und Fussnoten verzichten zu können. Ich war bestrebt, nur Karl Kautsky selbst zu Wort zu lassen, ohne die Stellungnahme des Lesers irgendwie zu beeinflussen. Die Anforderungen, die an seine Kenntnisse gestellt werden, gehen über eine allgemeine Kenntnis der geschichtlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts und der Arbeiterbewegung dieser Zeit nicht hinaus. Wohl werden zahlreiche Persönlichkeiten erwähnt, deren Namen und Lebensumstände der Gegenwart nicht allzu geläufig sind. Ich habe mich deshalb bemüht, das Personenregister so ausführlich wie möglich zu gestalten, damit wenigstens die wichtigsten Daten über die Persönlichkeiten, die auf die Entwicklung Karl Kautskys in der einen oder anderen Weise einen Einfluss ausübten, wiedergegeben werden. Allerdings versagte mein Bemühen in vielen Fällen, namentlich bei 9

den zahlreichen Repräsentanten des Theaterlebens. Gilt das schon von dem Mimen, dem nach dem von Karl Kautsky zitierten Schillerwort die Nachwelt keine Kränze flicht, so trifft das in verdoppelten Mass auf das Theatervolk zu, das dem Schauspieler das Auftreten auf der Bühne ermöglicht, den Regisseuren und Direktoren, den Theatermalern und, nicht zu vergessen, den Theateragenten. Trotz eifrigen Bemühens ist es mir nicht gelungen, auch nur die Geburtsdaten mancher dieser Personen festzustellen, namentlich dann, wenn es sich um Theater in der österreichischen Provinz handelt. Dabei macht sich naturgemäss die Unterbindung des normalen Verkehrs mit der Tschechoslowakei unangenehm fühlbar, denn wenn auch in den Wiener Bibliotheken über Prag manches zu finden ist, so gilt das schon nicht mehr für Brünn oder Olmütz. Wie sehr unterscheidet sich die Gegenwart auf dem Gebiet der nationalen Verständigung von der Jugendzeit Karl Kautskys, in der sich der Verkehr zwischen Deutschen und Tschechen viel ungezwungener vollzog. Manche der von ihm erwähnten Prager Schauspieler wirkten gleichzeitig auf der deutschen und der tschechischen Bühne und etwa der ältere der Gebrüder Kolar, von denen in den Memoiren die Rede ist, sah seine Lebensaufgabe darin, die beiden Kulturen einander näher zu bringen. Bieten die „Erinnerungen und Erörterungen" schon auf dem Gebiet des Theaterwesens dem Erforscher des kulturellen Lebens Österreichs zwischen 1850 und 1870 mancherlei Material, so gilt das auch für die Beschreibung der Schulzustände, denen ein ziemlich breiter Raum gewidmet wird. Karl Kautsky hat den Unterschied zwischen dem Stift Melk und dem Akademischen Gymnasium in Wien persönlich als wohltätig empfunden, ohne viel darüber nachzudenken, ob sich nicht gerade in dieser Zeit auch ein Umschwung im Schulwesen durchgesetzt hat. Das Melker Stiftsgymnasium wurde ersichtlich noch ganz im alten Geist geführt. Nach einer mir freundlicherweise von Herrn Dr. P. E. Kummer aus dem Stift Melk zugesendeten Auskunft geht die Verschlechterung der Lernerfolge aus den Zeugnissen mit Deutlichkeit hervor.1 i Die wichtigsten Punkte der Zeugnisse der vier Semester, die Karl Kautsky in Melk verbrachte, sind aus der folgenden Zusammenstellung zu ersehen: 1865 1866 1. Sem. 2. Sem. 1. Sem. 2. Sem. Sittliches Betragen sehr lobenswert sehr lobenswert sehr lobenswert sehr lobenswert Aufmerksamkeit rege rege wenig teilziemlich teilnehmend nehmend Fleiss sehr lobenswert sehr lobenswert genügend befriedigend Religionslehre recht gut gut recht gut befriedigend

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Das g e r a d e entgegengesetzte Bild bieten die Zeugnisse des Akademischen Gymnasiums Wien, aus denen mir der heutige Direktor dieser Anstalt, Dr. E r n s t Mayer, freundlicherweise einen Auszug anfertigen liess. Aus ihm, den wir untenstehend veröffentlichen, geht hervor, dass Karl Kautsky, der die fünfte Klasse wiederholen musste, von da ab eine stetige Verbesserung in allen F ä c h e r n aufwies, und w ä h r e n d er sich n a c h der Rangordnung in d e n ersten J a h r e n e t w a in der Mitte der Klasse hielt, rückte er später weiter vor; die Zahlen lassen erkennen, wie scharf die Auslese unter den Schülern war, denn w ä h r e n d die fünfte Klasse im Jahre 1 8 6 9 / 7 0 n o c h 6 6 Schüler zählte, g a b es in der achten Klasse im J a h r e 1 8 7 3 / 7 4 deren nur noch 25. 1 Lateinische Sprache

vorzüglich

sehr gut

Deutsche Sprache

recht gute Kennt-lobenswert nis der Grammatik, befriedigende Anwendung

vorzüglich

vorzüglich

gut im Mündli- recht gut clien, schriftlich sehr gut

sehr gut sehr gut

recht gut sehr gut

recht gut genügend

sehr gut

befriedigend

hinreichend

hinreichend gut

lobenswert gut

genügend ganz gut

genügend anständig

wenig sorgfältig wenig sorgfältig

Geographie u. Geschichte sehr gut Mathematik recht gut Naturwissenschaften vorzüglich Französische Sprache lobenswert Zeichnen genügend Böhmische Sprache gut Äussere Form anständig Versäumte Lehrstunden 20 Lokationsnummer Vorzug, der 4.

76 Vorzug, der 7.

1. (Klassifikationsklasse) Nro 9

1. (Klassifikationsklasse) Nro 11

Über die Persönlichkeiten der in der Autobiographie erwähnten Lehrer sagt die Auskunft Dr. Kummers, dass Pater Vinzenz ein guter Naturwissenschafter gewesen sei, der sich namentlich um die Sammlungen des Melker Stifts und um die Erforschung der Flora und Fauna der Umgebung verdient gemacht habe; er sei als milder Lehrer bekannt gewesen. Das Gegenteil berichtet er vom Pater Placidus, dessen Strenge überliefert worden ist. Zu den Lehrgegenständen ist noch zu bemerken, dass Französisch, Böhmisch und Zeichnen Freigegenstände waren. 1 G+ B F R L G D Gg M Nat. Phil. Lok. 4 — 24/45 1868/69 4. Klasse 3 4 4 4 3 5 5 5 1869/70 5. Klasse 3 4 3 5 5 5 5 6 5 — 29/66 1870/71 5. Klasse 3 3 2 5 4 4 4 — 22/52 5 5 1871/72 6. Klasse 2 3 2 5 4 4 5 5 5 — 28/37 1872/73 7. Klasse 2 2 2 4 4 3 5 5 5 4 14/29 1873/74 8. Klasse 2 2 2 4 4 4 3 4 3 13/25 5

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Die Daten, die mir Dr. Mayer über die erwähnten Lehrer zur Verfügung gestellt hat, bieten ein ganz anderes Bild als die des Stiftsgymnasiums Melk. Es ist auffallend, dass die meisten von ihnen im Jahre 1868, also gerade in der Zeit, da Karl Kautsky in die höheren Klassen dieses Gymnasiums kam, an dieses versetzt wurden, und zwar fast alle in einem Alter von ungefähr 30 Jahren. Es war eine ganz junge Generation, die hier nachrückte, und das zeitliche Zusammenfallen mit dem grossen Umschwung im österreichischen Schulwesen, der sich um die gleiche Zeit vollzog, ist sicherlich kein Zufall. Das österreichische Reichsvolksschulgesetz stammt aus dem Jahre 1867 und ist ein Zeichen dafür, in welchem Geist Österreich nach den Niederlagen von 1859 und 1866 seine Schulen zu reformieren trachtete. So kurzlebig diese liberale Ära auch sein mochte, so engstirnig sich die herrschenden Liberalen dieser Zeit der sozialen Frage und der sich regenden Arbeiterbewegung gegenüber erweisen mochten — auf dem Gebiet der Kulturpolitik hat sich ihr Einfluss doch stark bemerkbar gemacht, und zwar gerade in der Zeit, in der Karl Kautsky die letzten Jahre des Gymnasiums durchmachte. Wenn er den wohltätigen Unterschied zwischen dem Akademischen Gymnasium in Wien und dem Stiftsgymnasium in Melk so stark empfand, so lag das nicht nur an seiner persönlichen Einstellung, sondern auch an den objektiven Umständen, die sich gerade in den für seine geistige Entwicklung so bedeutsamen Jahren wesentlich veränderten. Seine Schilderung der jungen österreichischen Arbeiterbewegung ist ungemein plastisch und ergänzt die archivmässige Darstellung Brügels aufs beste. Wenn die „Erinnerungen und Erörterungen" auch keine wesentlichen Tatsachen ans Licht fördern, so sind sie als Stimmungsbild und als Material zur Beurteilung einzelner Persönlichkeiten sehr wertvoll. Vor allem scheint mir dies für die Darstellung der Persönlichkeit und der Rolle Kaler-Reinthals zu gelten, in der Karl Kautsky von Brügel nicht unerheblich abweicht. Aber auch eine Reihe anderer Persönlichkeiten aus der Frühgeschichte der österreichischen Arbeiterbewegung wird sehr lebendig geschildert; leider ist es mir nur bei wenigen gelungen, ihre Lebensumstände genauer festzustellen. Die meisten von ihnen legten keinen Wert darauf, in den Vordergrund zu treten, so dass häufig nur ihre Geburtsdaten aus den Notenskala: Betragen: Fleiss: Fortgangsnoten:

musterhaft, lobenswert, entsprechend, minderentsprechend. ausdauernd, befriedigend, hinreichend, ungleichmässig, gering. ausgezeichnet, vorzüglich, lobenswert, befriedigend, genügend, nicht genügend. B = Betragen; F = Fleiss; R = Religion; L = Latein; G = Griechisch; D = Deutsch; G + G g . = Geschichte Geographie; M = Mathematik; Nat. = Naturgeschichte; Phil. = Philosophie; Lok. = Lokation d.h. Platz unter den Schülern, z.B. in der 4. Klasse der 24. von 45 Schülern.

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Anklageschriften in verschiedenen Prozessen festzustellen waren. Die Darstellung des geistigen Werdegangs Karl Kautskys legt die Vermutung nahe, dass es ihm darauf ankam, die vielfältigen Wurzeln seiner Entwicklung möglichst genau darzustellen. Sie bietet insofern fast ein Gegenstück zu dem zeitlich vorangehenden Werk „Aus der Frühzeit des Marxismus",1 in dem er seine Hinwendung zum Marxismus schildert. Unzweifelhaft hat ihn seine Arbeit an den Briefen von Friedrich Engels überhaupt dazu angeregt, sich mit seiner eigenen Vergangenheit stärker zu beschäftigen. Aber wollte er in der „Frühzeit" das darlegen, was ihn mit dem Marxismus verband, so sucht er in dem vorliegenden Werk die Vorgeschichte dieser Entwicklung zu erzählen. Es mag sein, dass es ihn besonders reizte, der Welt mitzuteilen, welche vielfältigen Anregungen er, der früher einmal spöttisch als der „Papst des Marxismus" bezeichnet worden war, empfangen hatte, bevor er überhaupt den Namen Marx, geschweige denn den Inhalt seiner Lehre, kennen lernte. Es liegt im Zuge dieser Darstellung, dass er das künstlerische Element besonders betont; mancher, der ihn in seinem späteren Leben nur als Theoretiker oder gar als trockenen Stubengelehrten anzusehen gewöhnt war, wird erstaunt sein, wenn er hört, dass der gleiche Mann jahrelang geschwankt hat, ob er Maler oder Dramatiker werden sollte, und dass er schliesslich nur durch eine Reihe glücklicher Umstände in die Laufbahn gedrängt wurde, in der er volle geistige und seelische Befriedigung fand. Wie in der „Frühzeit des Marxismus" hebt Karl Kautsky auch in den „Erinnerungen und Erörterungen" die ausschlaggebende Rolle hervor, die Karl Höchberg in seinem Leben dadurch spielte, dass er Kautsky als wissenschaftlichen Hilfsarbeiter engagierte und ihm jahrelang ein Leben ermöglichte, das nur dem Studium und der wissenschaftlichen Arbeit gewidmet sein durfte. Durch diese Grossherzigkeit, für die ihm Karl Kautsky zeit seines Lebens dankbar blieb, hat Höchberg dem jungen Anfänger das Schicksal vieler wissenschaftlich begabter Sozialisten erspart, die gezwungen waren, sich ilir Brot mit ihrer Feder zu verdienen, und die infolgedessen niemals dazu kamen, ihr Talent durch intensives Lernen zu vertiefen. Vielleicht hat gerade dieses glücklichere Geschick, das ihm beschert war, Kautsky dazu bewogen, Kaler-Reinthal so verständnisvoll zu beurteilen, der eine Zeitlang neben ihm die bedeutendste wissenschaftlich gebildete Persönlichkeit des österreichischen Sozialismus war und der an der Härte des Lebens zerbrach. Das Manuskript bricht bei der Schilderung der ersten Jahre seiner 1

Erschienen 1935 in Prag.

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Redakteurstätigkeit an der „Neuen Zeit" ab. Glücklicherweise verfügen wir in der „Frühzeit" über eine nahezu lückenlose Fortsetzung der „Erinnerungen und Erörterungen" — zumindest bis zum Jahre 1895 — und ich bin deshalb doppelt glücklich darüber, dass es mir vergönnt war, die im Nachlass Karl Kautskys aufgefundenen Briefe an Engels gemeinsam mit dem ursprünglichen Text des Werkes neu als ersten Band der gleichen Serie herauszugeben,1 als deren dritter nunmehr die „Erinnerungen und Erörterungen" erscheinen. Wohl würde für eine Biographie Karl Kautskys die spätere Zeit noch genügend Stoff bieten, aber über die Entwicklung seiner Persönlichkeit wissen wir nunmehr aus dem veröffentlichten Material genügend Bescheid; bei Engels' Tod war er bereits eine international angesehene fertige Persönlichkeit, deren Rolle und Bedeutung aus ihrem Werk zu erkennen ist, so dass wir die autobiographischen Betrachtungen leichter entbehren können. Die herausgeberische Tätigkeit konnte sich bei den beiden Arbeiten, die den Inhalt dieses Bandes bilden, auf ein Minimum beschränken. Zwischen ihnen besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied. Die Jugenderinnerungen finden sich in einem mit braunen Kalikodeckeln versehenen linierten Schreibheft, das von beiden Seiten her angefangen worden ist. Auf der einen finden sich Auszüge aus dem Buch Paul Hoffmanns „Die deutschen Kolonien in Transkaukasien", Berlin 1905, das Kautsky vermutlich für seine Georgienreise studierte, und Exzerpte aus dem Marx-Engels-Archiv, erster Band, Engels' „Noten zum Antidühring". Es folgen einige Anmerkungen zu Franz Oppenheimer „System der Soziologie", zweiter Band, „Der Staat", 1926 und eine Seite „Material zu Erinnerungen", deren Inhalt wir wegen seines Zusammenhangs mit der vorliegenden Schrift im folgenden abdrucken: Bebel an mich 22/2.1885. 16/2.85. 18/10.84. 13/9.84. 16/10.85. >> >> >>

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9/12. „ 14/3.86. i

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Liebknecht stellt sich auf Seite Schramms. über Schäffle. billigt (eine) Übersiedlung nach London. „ (einen) Artikel gegen Schramm. Kongress in Aussicht, Ede (Bernstein) erwartet s(eine) Absetzung. B(ebel) will gegen Schippel polemisieren, wegen s(eines) Rodbertusianismus. Schramm gegen mich bei Viereck. B(ebel) u. Dietz gegen Schramm u. Viereck. Schramm gemein und rachsüchtig.

Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, Wien 1955.

„ „ „ „ „ „ 26/12.85. 3/11.83. 8/9.99.

Jaich

19/2.97. 17/3.97. 24/11.99'. 22/2.61.

ich gegen Hyndman z(u) schroff. Weltzusammenbruch -d(es) Kap(italismus) nahe. über Bahr. Krieg bringt Revol(ution). M(eine?) Broschüre gegen Ede (Bernstein) famos. Zusammenarbeiten m(it) ihm unmöglich, vgl. 24/9.98. 9/9.98. Mehring. Mehring u. Liebkn(echt) über Schweitzer. Luxemburg will Redaktion d(es) Vorw(ärts). war nach Krakauergasse gezogen Nr. 13339.

Mit Ausnahme der letzten Notiz, die mit Bleistift geschrieben ist, ist die ganze Seite mit Tinte geschrieben. Wann Karl Kautsky diese Notizen machte, ist nicht mehr festzustellen, doch glaube ich, aus der Art seiner Schriftzüge darauf schliessen zu dürfen, dass sie erst sehr spät niedergeschrieben wurden, vermutlich in einem seiner letzten Lebensjahre. Sie sind ein Beweis dafür, dass Kautsky das Material für seine Memoiren bereits viel weiter durchgearbeitet hatte, als er mit ihrer Niederschrift kam, denn während diese im Jahre 1883 abbricht, reichen die exzerpierten Briefe von Bebel bis Ende der neunziger Jahre. Diese Art der Auszüge hat Karl Kautsky auch sonst gebraucht, denn ich fand in seinem Nachlass ähnliche Notizen unter den Briefen Höchbergs. Auf der anderen Seite des Heftes befinden sich drei Seiten mit Notizen über seine Reise nach Georgien, vor allem eine Schilderung der Seereise von Rom bis Konstantinopel. Sie endet mit den Worten: ,Jch schliesse, um die Delphine zu beobachten, die dem Schiff folgen." Eine Fortsetzung ist nicht vorhanden. Sechs weitere Seiten enthalten Notizen über „Bolschewistisches", darunter Aufzeichnungen über La Commune de Paris . . . Préface de G. Zinoviev... Petrograd 1920 und Lenin, Le Communisme de Gauche, Petrograd 1920; darauf folgen die Erinnerungen, die auf den durchnumerierten Seiten 10 bis 66 niedergeschrieben sind. Das Manuskript der „Erinnerungen und Erörterungen" existiert nicht mehr, sondern nur vier gleichlautende Abschriften, die mit der Schreibmaschine gemacht wurden. Diese wurden nach dem Tod Kautskys, der am 17. Oktober 1938 in Amsterdam starb, angefertigt, und zwar von Frau C. Hageman-van Brederode, der sie Karl Kautskys Frau, Luise, aus dem Manuskript in die Maschine diktierte. Dies geschah im Winter 1939/1940, und zwar noch vor dem Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Holland, denn zwei Exemplare der Niederschrift wurden an meine Brüder in die Vereinigten Staaten 15

geschickt, wo sie sich jetzt noch befinden. Das muss also vor dem Mai 1940 geschehen sein. Frau Hageman war damals die Stenotypistin Sam de Wolfis, des alten Freundes der Familie Kautsky; nach seiner Flucht von Wien im März 1938 wohnte Karl Kautsky die ersten Monate in dessen Haus in Amsterdam. Hier sind auch die letzten Seiten des Manuskripts niedergeschrieben worden. Sam de Wolff, der selbst auf dem Gebiet des theoretischen Marxismus gearbeitet hat, war Kautsky durch jahrzehntelange Freundschaft verbunden; ebenso wie wir ihm die Rettung seiner Briefe an Engels verdanken, (siehe mein Vorwort zu „Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky"), so hat er sich auch darum bemüht, die Memoiren der Nachwelt zu erhalten. Frau Hageman schildert in einem Brief an Sam de Wolff die Vorgangsweise, die Luise Kautsky beim Diktat einhielt, wie folgt: „Frau Kautsky sass am Tisch mit dem geschriebenen Manuskript vor sich und korrigierte oft das eine oder andere im Text, mit Beziehung auf die Noten von Kautsky, die dieser selbst am Rande des Textes gemacht hat. Wenn der Text ihrer Meinung nach in Ordnung war, diktierte sie, wobei sie oft im Zimmer auf und ab ging. Ihr Diktat übernahm ich sofort in die Maschine und es geschah nur selten, dass später noch etwas korrigiert werden musste." Luise Kautsky scheint die Abschrift niemals systematisch durchgesehen zu haben; wohl fanden sich in meinem Exemplar an einigen wenigen Stellen Bleistiftkorrekturen in ihrer Handschrift, aber eine ganze Reihe von Fehlern, wie sie bei einer derartigen Vorgangsweise des Kopierens unvermeidlich sind, blieb unbeachtet. Sam de Wolff vermutet überdies, dass sie das abdiktierte Manuskript vernichtet hat, wahrscheinlich in der Sorge, dass es in unbefugte Hände kommen könnte, und in der Überzeugung, dass es ausreiche, wenn die Abschriften an mehreren Orten verfügbar seien. Frau Hageman fügt in ihrem Brief hinzu: „Was mich stets wunderte, war die Arbeitskraft und die ausserordentliche Klarheit, womit sie mir diktierte. Stets wurde in schnellem Tempo gearbeitet. Oft hatte ich den Eindruck, dass sie fürchtete, mit der Arbeit nicht mehr fertig zu werden, aber trotz alledem war ihr Benehmen ruhig and beherrscht." Die letzten Worte beziehen sich wohl darauf, dass sich im Winter 1939/40 die Kriegswolken bereits so drohend zusammenzogen, dass niemand wusste, was die nächste Zukunft bringen werde. Luise Kautsky war unzweifelhaft bestrebt, so rasch wie möglich mit dem Diktat fertig zu werden. Die Abschrift ist, wie schon erwähnt, mit kleinen Fehlern durchsetzt, von denen jedoch nur wenige den Sinn zu stören vermögen. 16

Ich habe sie korrigiert, ohne das in jedem Einzelfall kenntlich zu machen. Dort, wo irgendein Zweifel an der Treue des Textes möglich war, habe ich den Wortlaut entweder stehen lassen und meine Korrektur in einer Anmerkung gebracht, oder umgekehrt den Text selbst korrigiert und den Wortlaut der Abschrift in die Anmerkung gesetzt. Fehlende Worte habe ich ergänzt, indem ich meine Einfügungen in eckige Klammern gesetzt habe. Meine Anmerkungen habe ich alle mit meinen Initialen gezeichnet, um sie von den wenigen Noten Karl Kautskys zu unterscheiden. Ich habe überall die moderne Rechtschreibung und Interpunktion durchgeführt, da infolge des Verlustes des Originals nicht mehr festzustellen ist, wie Karl Kautsky sie gehandhabt hat. In einem Punkt habe ich die Abschrift für den Druck eingerichtet: Ich habe zahlreiche Absätze gemacht, um die Darstellung besser zu gliedern. Ich hielt mich dazu für berechtigt, weil ich weiss, dass Karl Kautsky eine solche Gliederung stets für unumgänglich notwendig hielt und sie wahrscheinlich in seinem Manuskript schon vorgesehen hatte; sie ist wohl beim Diktieren nicht beachtet worden. Mit dieser Ausnahme habe ich die Abschrift in ihrer ursprünglichen Form übernommen, auch dort, wo der Autor selbst zweifellos noch Änderungen angebracht hätte. Das Manuskript weist kaum Spuren der Feile auf, die Kautsky sonst allen seinen Schriften ausgiebig angedeihen liess; es finden sich Wiederholungen sowohl einzelner Worte wie ganzer Stellen, die Satzstellung weist Eigentümlichkeiten auf — kurz, das Manuskript, das an sich die Breite eines Alterswerks erkennen lässt, das überdies in seinem Schlussabschnitt unter dem Einfluss der tödlichen Krankheit stand, zeigt in manchen Partien nicht den Glanz des Stils und die sorgfältige Durcharbeitung wie die meisten anderen Werke. Aber gerade dadurch erhält der Leser einen Einblick in die Arbeitsweise des Verfassers: zuerst den Stoff zusammenzutragen, dann einen ersten Entwurf niederzuschreiben, der später nicht nur stilistisch, sondern häufig auch in der Disposition weitgehend umgearbeitet wurde. Diese Schlussredaktion konnte Karl Kautsky bei seinen Erinnerungen nicht mehr vornehmen. Man fühlt an manchen Stellen förmlich die Ungeduld des Greises, der den Tod vor Augen hatte und bestrebt war, möglichst viel niederzuschreiben, ohne Rücksicht auf die formale Seite zu nehmen. Lediglich im letzten Kapitel waren einige herausgeberische Schwierigkeiten zu überwinden. Die Bemerkung an seinem Beginn, dass es im März 1938 in Amsterdam niedergeschrieben worden sei, stammt zweifellos von Luise Kautsky; sie dürfte sich im übrigen in der Zeit geirrt haben, denn im März wird Karl Kautsky, der erst am 13. März von Wien abfuhr und sich unterwegs in Pressburg und Prag noch

17

einige Zeit aufhielt, kaum dazu gekommen sein, die Arbeit neu aufzunehmen. Sam de Wolff, den ich befragte, vermutet, dass es sich um den Monat Mai gehandelt hat. Die Handschrift wies schon damals die Spuren der schweren Krankheit auf, der Kautsky wenige Monate später — am 17. Oktober 1938 — erliegen sollte. Sie wurde immer kleiner und zittriger und dadurch schwer lesbar, während sie früher durch ihre Klarheit ausgezeichnet war. Vermutlich hat Luise Kautsky deshalb manche Worte entweder überhaupt nicht entziffern können oder falsch gelesen, doch war es auch hier weitgehend durch Heranziehung der „Neuen Zeit" möglich, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Schliesslich ist es mir eine angenehme Verpflichtung, allen jenen zu danken, die mir bei meiner Herausgeberarbeit geholfen haben. An erster Stelle gebührt mein Dank dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte und seinem Direktor Prof. Dr. A. J. C. Rüter; ohne seine Initiative würde diese Arbeit nicht erscheinen können. Er hat sie überdies in allen ihren Phasen mit regem Interesse und sachverständigem Rat begleitet. Herr Werner Blumenberg, der Vorstand der deutschen Abteilung des Instituts, hat seine Aufmerksamkeit allen editorischen Fragen gewidmet; er hat sich überdies auch darum bemüht, schwer zugängliche Daten für das Personenregister zu ermitteln. Diese Aufgabe war fast die schwierigste in der gesamten Arbeit des Herausgebers. Ich hätte sie nicht ohne die Mithilfe zahlreicher Personen und Institutionen dürchführen können. In dankenswerter Weise haben sich um ihr Gelingen bemüht: Das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich und sein Leiter Dr. E. Steinemann, die Wiener Stadtbibliothek und ihr Direktor Dr. Albert Mitringer, das Theaterwissenschaftliche Institut der Universität Wien, der Direktor des Akademischen Gymnasiums Wien Dr. Ernst Mayer, Herr Dr. P. E. Kummer vom Stiftsgymnasium Melk a.d. Donau; Angaben über einzelne Persönlichkeiten verdanke ich so vielen Freunden und Stellen, dass ich ausserstande bin, sie alle namentlich anzuführen. Ein besonderer Dank gebührt dem alten Freund Karl Kautskys, S. de Wolff, ohne dessen tatkräftige Mitwirkung die Abschrift nicht zustande gekommen wäre, nach der die Veröffentlichung erfolgt. Er hat mir überdies wertvolle Fingerzeige über die Vorgänge bei der Herstellung dieser Abschrift und über zeitliche Zusammenhänge gegeben, die ohne sein Urteil kaum zu klären gewesen wären. Wenn ich meine Frau unter den Personen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, an letzter Stelle nenne, so gewiss nicht deshalb, weil ihr Anteil an der Veröffentlichung der geringste gewesen wäre. Sie hat mich vielmehr durch die Anfertigung von Abschriften, durch das 18

Lesen von Korrekturen und durch mannigfache Ratschläge wirksam unterstützt; lebte sie doch in den Monaten, in denen die Abschrift entstand, in Amsterdam in der Nähe meiner Mutter, so dass sie über manche Vorgänge besser Bescheid weiss als ich. Wien, im November

1959.

D R . BENEDIKT KAUTSKY

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ERINNERUNGEN UND

ERÖRTERUNGEN

E R I N N E R U N G E N UND

ERÖRTERUNGEN

I. VORFAHREN UND JUGEND

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

Einleitung Die Bedeutung des Stammbaumes Die Grosseltern Kautsky Der Urgrossvater Jaich Der Grossvater Jaich Als der Grossvater die Grossmutter nahm . Minna Jaichs Anfänge Als der Vater die Mutter nahm Mein Eintritt in die Welt Mein erster Aufenthalt in Wien Wieder in Prag Nochmals nach Wien Adolph Chlumsky Melk Der Krieg von 1866 Nochmals Chlumsky Blovitz im Jahre 1868 Kienberger Der Deutsch-Französische Krieg

.

.

.

25 28 34 39 43 51 64 72 76 79 84 102 109 112 128 137 152 158 174

II. STURM UND DRANG 1871-1875

1. Die Pariser Commune 2. Sozialistische Anfänge

184 189

a. Erzählungen 189 — b. Abhandlungen 200 — c. Intemationalität 206 - d. Materialismus 209

23

III. IN DER ÖSTERREICHISCHEN SOZIALDEMOKRATIE 1875-1880

1. Mein Beitritt zur Partei

223

2. Versuch der Erwerbstätigkeit

234

a. Jurist 234 - b. Maler 237 - c. Dramatiker 241 - Atiantique Pacifique 251 - e. Regisseur 264 - f. Die Erbschaft 274

3. Parteitätigkeit in Wien

284

a. Mein letzter Roman 284 — b. Die Schicksale meines letzten Romanes 297 — c. Parteispaltung: Scheu-Oberwinder 304 — d. Meine ersten Parteifreunde 314 — e. Emil Kaler-Reinthal 323 — f. Parteisitzungen 334 — g. Vorträge 337 — h. Parteijournalistik 339 - i. Johann Most 354

4. Theoretische Arbeiten

365

a. Meine erste theoretische Abhandlung im „Volksstaat" 365 — b. Redaktionsunarten des „Volksstaat " 370 — c. Meine erste Geschichtsauffassung 375 — d. Mein erstes Buch 386 — e. In der Sackgasse 395

IV. BEI HÖCHBERG

In Zürich 1880-1881

401

a. Karl Höchbergs Anfänge 401 — b. Die Anfänge des Sozialistengesetzes 407 — c. Meine Tätigkeit bei Höchberg 420 — d. Die deutsche Emigration in Zürich 1880 432 — e. Schweizer und Slaven 450 — f. Der Wydener Kongress 456 — g. Wie ich nach England kam 462

V. VON LONDON BIS ZUR „NEUEN ZEIT'

475

a. Die Fahrt nach London 475 — b. London 479 — c. Es knistert im Zürcher Gebälk 490 — d. Der Wiener Radikalismus 505 — e. Mein Projekt 514 — f. Eine missglückte Promotion 517 — g. Die Gründung der „Neuen Zeit" 523 — h. Neue Freundschaften 526

VI. „DIE NEUE ZEIT" ALS MONATSSCHRIFT

Die Anfänge der Redaktion .

24

532

Begonnen

29/9/1936.

I VORFAHREN UND

1.

JUGEND

EINLEITUNG

Schon seit Jahren werde ich gedrängt, meine Erinnerungen zu Papier zu bringen, die so vieles enthalten, das der heutigen Generation fremd und doch für das Verständnis des demokratischen Sozialismus höchst wichtig ist, der auf den Gedankengängen von Marx und Engels beruht. Doch Gegenwart und Zukunft beschäftigten mich mehr als die von mir erlebte Vergangenheit, ich kam nie dazu, meine Erinnerungen ausführlicher und wohl dokumentiert darzulegen. Nun, die Gegenwart ist augenblicklich so intensiv von schweren Kämpfen erfüllt wie nur je und mein Interesse dafür nicht gemindert. Doch die Bedingungen, unter denen ich lebe, gestatten mir weder, den Gang und die Ursache dieser Kämpfe genau zu verfolgen, noch in sie mit meiner Feder einzugreifen. Nachdem ich mein Buch über die Stellung der Sozialisten zum Krieg beendet, bleibt mir nur zu viel Zeit, meine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Allerdings, der Zeitraum, den sie umfassen, ist ein ungeheuer grosser. Zwei Menschenalter lang — augenblicklich 62 Jahre — bin ich im Dienst des proletarischen Emanzipationskampfes tätig. Aber ich will in meiner Darstellung noch weiter zurückgehen. Wohl soll sie hauptsächlich meiner Partei gelten, nicht meiner Persönlichkeit. Aber ganz von ihr kann ich selbstverständlich nicht absehen. Und das Darlegen ihres Werdeganges wird Streiflichter auf die Kulturgeschichte der Jahre und des Landes werfen, in denen ich erwuchs und meine Familie mich bildete. Die Geschichte meiner Familie lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Dadurch wird das Feld für die Arbeit, an die ich hier gehe, zu einem höchst umfassenden. Dabei werde ich mich nicht immer auf die Darstellung beobachteter oder mitgeteilter Tatsachen beschränken. Ebensosehr wie das Erforschen der Tatsachen hat mich stets auch der Drang beschäftigt, sie zu einem widerspruchslosen Gesamtzusammenhang meiner Theorie zu vereinigen. Die theoretische Arbeit ist wohl der wichtigste Teil meiner Tätigkeit für den Sozialismus geworden. So werde ich auch meine Erinnerungen nicht schrei25

ben können, ohne dabei von Zeit zu Zeit zu theoretischen Betrachtungen angeregt zu werden. Ich kann sie um so weniger unterdrücken, als ich unter dem Eindruck schreibe, dass es nun das letzte Mal sei, dass ich zu meinen Lesern und Freunden spreche. Ich werde keine Gelegenheit mehr haben, das, was ich jetzt verschweige, später in einer anderen Form, in einem anderen Zusammenhang vorzubringen. Und das theoretische Interesse beherrscht mich immer noch in erster Linie, wie vor 60 Jahren. Ich gedenke also nicht bloss meine Erinnerungen zu geben, sondern auch manche Erörterung einer der Streitfragen unserer Zeit an sie zu knüpfen, was den Umfang der Arbeit sicher nicht verkleinert. Doch sollen die Erörterungen nicht überwiegen. Bismarck betitelte seine Selbstbiographie „Gedanken und Erinnerungen". Er setzt die Gedanken vor die Erinnerungen. Und doch war er ein Mann der Tat, mit einem sehr beschränkten Ziel: der Vergrösserung der Macht der Dynastie, der er diente. Es bedurfte keiner umfassenden Gedankenarbeit, sich dieses Ziel zu setzen, das ihm als Tradition bereits überliefert wurde. Nicht seine Gedanken, sondern seine Erinnerungen geben seinem Lebensbild seine Bedeutung, die Erinnerungen an seine Taten, die so Gewaltiges hervorbrachten. Meine Leistungen, wie hoch oder niedrig man sie einschätzen mag, lagen vornehmlich auf jenem Gebiet, dessen Gebilde leicht beieinander wohnen, dem der Gedanken. Ich gehöre nicht zu den „Männern der Tat". Wohl hat mich mein Denken zum Marxisten gemacht, zu einem jener Sozialphilosophen, die sich nicht bloss die Aufgabe stellen, die Welt zu begreifen, zu „interpretieren", sondern auch die, die Welt zu verändern. Das hat mich davor bewahrt, ein Stubengelehrter zu werden. Aber das mich beherrschende Streben ist doch mein Leben lang das nach Wahrheit gewesen, nach dem Erkennen und Verkünden der Wahrheit. Mein Handeln habe ich stets diesem Streben untergeordnet, es stets abgelehnt, die Sache, der ich diente, durch eine Lüge fördern zu wollen. Ich glaube darin mit meinen Meistern' Marx und Engels vollkommen übereinzustimmen, denen auch die Erkenntnis und die Verbreitung der Wahrheit über alles ging, die nichts mehr hassten als das Züchten und Verkünden von Illusionen, mochten diese noch so begeisternd wirken. Die richtigen Männer der Tat fühlen sich mitunter veranlasst, zur Waffe der Lüge zu greifen, um einen Augenblickserfolg zu erzielen. In der Kriegführung wird die Lüge, die Täuschung des Gegners und oft auch der eignen Truppen über die wirklichen Verhältnisse gelegentlich ein unerlässliches Mittel des Erfolgs. Je militärischer ein Politiker denkt, desto eher wird er zur Lüge greifen, wenn sie ihm sein Tun erleichtert. Hat er sie einmal gebraucht, dann wird er auch 26

in der Aufzeichnung seiner Erinnerungen vor Unwahrheiten nicht zurückschrecken, um sein Tun zu rechtfertigen. Mancher meint, in einer Autobiographie dürfte man auf vollständige Wahrheit nicht rechnen. Eine jede sei die Verteidigungsrede eines Angeklagten, eine jede verschweige belastende Momente oder suche sie doch zu beschönigen. Wie die Goethesche Selbstbiographie, sei auch jede andere „Wahrheit und Dichtung". Aber dies Werk schuf Goethe als Dichter, nicht als Historiker. Ein Dichter hat das Recht, einen historischen Roman zu schreiben, auch über sich selbst. Er kann damit ein hohes Kunstwerk produzieren, aber als historische Quelle wird es für sich allein nicht gelten können. Wer einen Beitrag zur Geschichte der Zeit oder der Organisation, in der er tätig war, liefern will, ist zu vollster Wahrhaftigkeit verpflichtet. Ich wenigstens bin von dieser Pflicht durchdrungen. Es grassiert heute eine poetische Abart der Geschichtsschreibung ä la Ricarda Huch, die sich gestattet, alle Lücken in den Quellen ohne weiteres durch eigene Erfindungen auszufüllen — ohne diese als solche zu kennzeichnen. Das kann die Belletristik brauchen, nicht die Geschichtsschreibung. Man wird mir freilich entgegnen, dass der Besitz der absoluten Wahrheit niemand gegeben sei. Niemand erkennt das mehr an als wir Marxisten. Jede Wahrheit ist nur relativ. Unser Erkenntnisvermögen ist begrenzt, die Welt unendlich. Wir werden sie nicht ganz erkennen können. Und unser Erkennen wird stets ein Verhältnis sein zwischen dem erkennenden Subjekt und der Umwelt, in der es lebt. Das gilt nicht bloss für das Erkennen der Umwelt, sondern auch für das des erkennenden Subjekts, seines geistigen Wesens. Der Mensch kommt zum Erkennen seiner selbst nur durch sein Wirken auf die Aussenwelt. Er kann sich über sich selbst als Bürger der „intelligibeln Welt" täuschen wie über die Aussenwelt, die Welt der „Erscheinungen". Niemand darf daher beanspruchen, im Besitz absoluter Wahrheit zu sein. Aber das Bereich und die Art dessen, was jeder als Wahrheit erkennt, ist für jedes Individuum durch die Art seines Erkenntnisvermögens und seiner Umwelt bestimmt. Diese so bestimmte Wahrheit ist jene, für die er einzutreten, die er zu bekennen hat. Jedes Abweichen von dieser Wahrheit ist eine Lüge für ihn. Wir müssen stets bereit sein, das, was wir als Wahrheit erkannt haben, von neuem zu prüfen, wenn neue Erkenntnisse auftauchen, die mit unserem bisherigen Wissen nicht restlos harmonieren. Aber solange wir dabei nicht eine neue Wahrheit gefunden haben, sind wir verpflichtet, an dem von uns als Wahrheit Erkannten streng festzuhalten. Nur dadurch können wir selbst zu konsequentem, zweckmässigem, fruchtbarem Handeln kommen und solches bei anderen verursachen. Blosser

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Skeptizismus führt zu Entschlusslosigkeit, Haltlosigkeit, die Lüge aber führt irre, das bewusste Aussprechen von Sätzen, die man selbst für falsch hält. Auch in der Geschichtsschreibung führt die Lüge irre, wird verderblich, mag der Zweck ein noch so guter sein. Ich werde natürlich in folgendem keine bewusste Unwahrheit niederschreiben, aber auch danach trachten, Irrtümer zu vermeiden. Das ist nicht immer leicht, denn das Gedächtnis täuscht oft sehr, wenn es nicht durch Behelfe, namentlich Dokumente, gestützt wird. Wo ich über solche nicht verfüge, nur auf das Gedächtnis bauen kann, werde ich es angeben. Eine absichtliche Irreführung wird der Leser bei mir auf keinen Fall finden. Eine solche liegt mir um so mehr fern, als ich eine Rechtfertigung meines Handelns nicht zu brauchen glaube. Ich schreibe die folgenden Seiten nicht, um mich gegen etwaige Vorwürfe zu verteidigen, sondern um begreiflich zu machen, wieso die Entwicklung meiner Persönlichkeit und dann die der Partei, der ich seit über sechzig Jahre diene, die Richtung eingeschlagen und die Eigenart gewonnen hat, die sie annahm. Marx wendete einmal gegen David Urquhart ein, er wisse die Gegenwart nur zu be- und zu verurteilen, nicht zu begreifen. Ich schreibe hier, um dazu beizutragen, die geschichtliche Entwicklung zu begreifen, soweit ich an ihr beteiligt gewesen bin. Ich beabsichtige nicht, sie zu beurteilen, weder um mich zu rechtfertigen, noch auch, um meine Gegner zu verdammen. So frei wir in unserem Bewusstsein uns der Zukunft gegenüber zu sein dünken, die Vergangenheit liegt hinter uns als etwas, das notwendig die Formen angenommen hat, die es erlangte. Es ist etwas Unabänderliches, lässt uns aber trotzdem nicht gleichgültig, denn es bildet die Basis, auf der wir unsere Zukunft zu erbauen haben. Das werden wir um so leichter und zweckmässiger bewirken, je besser wir die Vergangenheit begreifen, je richtiger wir über sie informiert sind. Also in der Geschichtsschreibung: Wahrheit über alles.

2. D I E B E D E U T U N G D E S S T A M M B A U M E S

Ich bin in dem Zeitpunkt, in dem ich diese Arbeit beginne, 82 Jahre alt. Bei dem grossen Umfang, den sie annehmen muss, darf ich nicht erwarten, sie zu Ende zu bringen. Ich will daher nicht viel Zeit dazu aufwenden, ein abgerundetes, sorgfältig gefeiltes Werk abzufassen, sondern kunstlos alles niederschreiben, was ich weiss und andere nicht wissen und was mir interessant erscheint. Gelingt es mir, so das Rohmaterial zu einem Geschichtswerk zu liefern, so mag einer meiner Nachfahren daraus etwas Druckfertiges und Druckwürdiges

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gestalten, wenn er der Meinung sein sollte, dass der Gegenstand auf Beachtung rechnen kann. Augenblicklich sind die Aussichten für die Sozialdemokratie sehr trübe, aber die Welt ist rund und muss sich drehen und die Zeit wird wieder kommen, in der das Proletariat das augenblickliche Stadium von Zersplitterung, Demoralisation, Verwirrung vieler seiner Schichten überwindet und so fähig wird, demokratische Rechte zu erringen, festzuhalten und erfolgreich zu benutzen, Staat und Gesellschaft im Sinne seiner Emanzipation umzugestalten. Dann wird auch grosses Interesse für die Geschichte der proletarischen Demokratie, der Sozialdemokratie wieder erstehen, um so mehr, als die Traditionen ihrer Anfänge schon heute beginnen, in Vergessenheit zu geraten und unter den gegebenen Verhältnissen immer mehr im Bewusstsein der Massen versinken werden. Da wird ein Buch, wie das vorliegende, ein Bedürfnis werden. Ich erwarte und hoffe, dass meine Nachfahren das Glück haben werden, diese Zeit zu erleben. Zu ihrem Gebrauch und zur Bearbeitung durch sie schreibe ich zunächst das Folgende nieder, ohne viel Mühe und Zeit auf Stil und Aufbau zu verwenden. Nur die Richtigkeit darf ich nicht der Fixigkeit opfern. Die meisten Autobiographien beginnen mit der Darstellung der Familie des Autors, mit seinem Stammbaum. Ich will keine Ausnahme dabei machen, halte es jedoch angesichts des heute grassierenden Rassenblödsinns für notwendig, darauf hinzuweisen, dass es nicht biologisches Interesse ist, das mich veranlasst, meinem Stammbaum nachzuspüren. Menschliche Stammbäume scheinen mir für die biologische Forschung recht wenig Wert zu besitzen. Das habe ich schon in meiner Schrift über „Rasse und Judentum" gezeigt, die gerade vor dem Weltkrieg (Juni 1914) fertiggestellt, jedoch wegen seines Ausbruchs erst im Oktober 1914 gedruckt worden war mit einer Vorrede, in der ich gegen diejenigen zu Felde zog, die den begonnenen Krieg als „Rassenkampf" auffassten. Ich wies dort darauf hin, dass der Begriff der Rasse nicht so einfach sei, als er den Rassenpolitikern erscheine. Man müsse unterscheiden zwischen Rassen der Haustiere, der wilden Tiere, der Menschen. Für jede dieser drei Arten von Organismen bedeute die Rasse etwas Besonderes. Für sie alle ist wohl die Rasse ein Produkt der Vererbung organischer Eigentümlichkeiten. Aber diese Vererbung spielt bei jeder der drei Gruppen eine andere Rolle. Die Rassen der Haustiere sind vom Menschen nach seinen Bedürfnissen und seiner Einsicht geschaffen. Sie beruhen darauf, dass er imstande ist, ihre Paarung zu regeln in einer Weise, dass entweder durch Kreuzung oder durch Steigerung von Variationen vermittels der Paarung bestimmter Individuen neue „Rassen" geschaffen und 29

durch Inzucht erhalten werden. Die Züchtung neuer Haustierrassen geht ununterbrochen vor sich, deren Organismen dienen immer weniger den Bedürfnissen ihrer Selbsterhaltung als denen des sie anwendenden und ausbeutenden Menschen. Je mehr das der Fall, desto „edler" erscheint dem Menschen die Rasse, aber desto unfähiger ist sie, sich durch eigene Kraft zu erhalten und desto geringer ist ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber den Einflüssen der Natur. Ganz verschieden von den Rassen der Haustiere sind die der wilden Tiere. In der Natur dient der Organismus nur einem Zweck: der Erhaltung des Individuums und der Art. Diesem Zweck ist jede Art angepasst, ihre Verschiedenheiten rühren von Verschiedenheiten der Umwelt her, in der sie leben, Verschiedenheiten ihrer Anforderungen und Einwirkungen, ihrer Lebensweise und Lebensbedingungen. Sobald eine Art diesen Bedingungen angepasst ist, entwickelt sie sich nicht weiter, solange die Umwelt sich nicht ändert, also in der Regel nur in geologischen Zeiträumen. Für jeden Verbreitungsbezirk einer Art gibt es eine besondere, seinen besonderen Bedingungen entsprechende Abänderung der Art, eine besondere Rasse, aber in jedem dieser Bezirke nur eine Rasse. Veranlassungen zu Rassenkreuzungen und damit zur Bildung neuer Rassen kommen da in normalen Zeiten nicht vor. In historischer Zeit können wir die Bildung massenhafter neuer Rassen unter den Haustieren verfolgen, dagegen ersteht in diesem Zeitraum keine einzige neue Rasse unter den wilden Tieren. Verschieden, sowohl von den Haustieren wie von denen im Zustand der Wildheit, sind wieder die Rassen der Menschen. Diese Rassen gehen ebenso wie die der Haustiere von den ursprünglichen wilden Rassen aus, den geographischen Rassen. Aus deren Abänderungen bilden sich neue Menschenrassen, aber in ganz anderer Weise als die Rassen der Haustiere. Die Rassen der Haustiere sind das Ergebnis planmässigen Eingreifens des Menschen in die Paarung der Tiere, die er völlig beherrscht und bestimmten Zwecken dienstbar macht. Die Menschen unterliegen keiner solchen höheren Macht, die ihre Paarung zielbewusst leiten könnte. Die Sklaven geraten allerdings in eine Abhängigkeit von ihren Herren, die der der Haustiere ähnlich wird. Doch gerade die Sklaverei bringt Zustände mit sich, die der Aufzucht von Nachkommen sehr im Wege stehen. So wie es keine neuen Rassen unter den Elefanten gibt, die sich in der Gefangenschaft und als Haustiere nur selten fortpflanzen, sind auch aus der Sklaverei nirgends neue von den Sklavenbesitzern gezüchtete Rassen hervorgegangen. Was den Menschen vom Tiere scheidet, ist seine Technik, die Schaffung und Anwendung von Werkzeugen und Waffen. Sie be30

fähigt den Urmenschen, über die ursprünglichen Verbreitungsbezirke seiner tierischen Ahnen hinauszugehen und sich unter ganz neuen Lebensbedingungen zu behaupten. Schon unter den Affenmenschen kam es wahrscheinlich zu Wanderungen und infolgedessen zur Spaltung in verschiedene Rassen. Diese Spaltungstendenz wächst mit dem technischen Fortschritt und damit der Verbreitung des Menschengeschlechts über die Erdkugel. Daneben kommt mit der Zeit noch eine andere Tendenz auf, die sich schliesslich als die stärkere erweist. Die Menschen kommen durch ihre Höherentwicklung nicht nur in die Lage, neue Landstriche aufzusuchen, die bis dahin menschenleer waren. Sie werden jetzt auch sehr oft gedrängt, in Landstriche einzudringen, die bereits von Menschen bewohnt sind. Völkerwanderungen, Handelsverkehr, Eroberungen bringen nun Menschen der verschiedensten Rassen in Berührung miteinander, die Kreuzungen der Rassen hören von diesem, sehr früh eintretenden Stadium der Vorzeit an nicht mehr auf, sie häufen sich immer mehr im Fortgang der Entwicklung. Diese Kreuzungen sind ganz anderer Art als die der Haustiere. Sie werden nicht von einer höheren, über den sich paarenden Organismen stehenden Macht geleitet und ihre Ergebnisse nicht durch spätere systematische Inzucht festgehalten. Regellos gehen sie vor sich. Sie wirken dahin, die strengen Grenzen zwischen den ursprünglichen Rassen immer mehr zu verwischen, nicht neue Rassen zu bilden, sondern die Rassen immer unbestimmter zu machen, sie immer mehr aufzulösen, indem jedes einzelne menschliche Individuum zu einem Gemisch der mannigfaltigsten Rassenmerkmale wird. So genau man die Rassen der Haustiere und der wilden Tiere zu unterscheiden vermag, so unzweifelhaft ihre Merkmale feststehen und so allgemein sie anerkannt sind, so unklar und umstritten sind die Rassen der Menschen. Über ihre Abgrenzungen und Merkmale gibt es unter den Fachgelehrten die mannigfachsten Anschauungen, von denen jede auf lebhafte Gegnerschaft stösst und bisher jede abgeändert oder gewechselt wurde. Darüber aber ist die Wissenschaft wohl einig: dass jedes Kulturvolk ein Rassengemisch darstellt. Nichts naiver als die Erwartung, es werde gelingen, durch planmässige Kreuzung eine Rasse von Ubermenschen zu erzielen. Sie setzt ja einerseits das Bestehen von Übermenschen schon voraus, die die Kreuzung herbeiführen und anderseits die Degradierung der Menschenmasse auf das Niveau etwa von Zuchtschweinen. Ist es heute schon unmöglich, ein höher entwickeltes Volk nach körperlichen Merkmalen als eine bestimmte Menschenrasse von den anderen Völkern zu unterscheiden, so ist es noch weit weniger möglich, dies nach geistigen Merkmalen des Charakters oder der 31

Intelligenz zu tun, denn diese gehören zu den kompliziertesten, variabelsten und am schwersten genau zu erkennenden Eigenschaften schon der niedrigen Tiere, geschweige des Menschen. Innerhalb jeder Tierart weisen Individuen, die sich körperlich kaum voneinander unterscheiden, in ihrem geistigen Wesen die grössten Verschiedenheiten auf. Um so mehr ist dies bei den Menschen der Fall, nicht nur wegen ihrer Rassenmischung, sondern auch wegen der so mannigfaltigen und so wechselnden Lebensbedingungen unter ihnen, die das geistige Leben auf tiefste beeinflussen. Manches Volk weist in verschiedenen Jahrhunderten seines Daseins sehr verschiedene geistige Charaktere auf: Heute ist es servil und verzagt, morgen dagegen trotzig und rebellisch, heute unternehmend, kühn, kriegerisch, ästhetisch, morgen wieder in trägem Genussleben versunken, heute von stärkstem Forscherdrang und kritischem Scharfsinn beseelt, morgen von gedankenlosem Wunderglauben erfüllt und willenloser Gleichschaltung ergeben usw. Welchen Erkenntniswert können da Stammbäume besitzen? Sie erhalten grosse Bedeutung für den Menschen, aber sie ist nicht biologischer Art. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch seine Technik, durch die künstlichen Organe, die er schafft und seinen natürlichen hinzufügt. Das Tier vererbt seinen Nachkommen bloss seine natürlichen Organe. Der Mensch kann ihnen auch künstliche Organe vererben. Diese Organe, anfangs sehr unscheinbar, erreichen schliesslich ungeheure Dimensionen. Das Streben nach dem Besitz und der Beherrschung dieser Organe durch einzelne Individuen und Organisationen von Individuen wird immer mehr zur grundlegenden Triebkraft der Menschheitsgeschichte. Mit diesem Streben eng verbunden ist die Regelung der Vererbung der künstlichen Organe. Eheschliessungen, Verwandtschaftsorganisationen, Stammbäume werden dabei sehr wichtig, aber nicht für die Vererbung von Rassenmerkmalen, sondern für die von Geld und Gut und Macht. Oberflächliche Betrachtung setzt leicht die Stammbäume von Haustieren denen einzelner Menschengruppen gleich, namentlich privilegierter Klassen, die jede Vermischung mit der Volksmasse verpönen, weil besondere Machtmittel und Rechte aufhören, Privilegien zu sein, wenn sie nicht Monopole kleiner Kreise bleiben. Wie man unter den Rassen der Haustiere besondere Edelrassen von den weniger den menschlichen Bedürfnissen angepassten, dem Naturzustand näherstehenden Rassen unterscheidet, vermeinen auch privilegierte Verwandtschaftsorganisationen und Familien über besondere Rassenqualitäten zu verfügen, von edlerem Blute zu sein als ihre Mitmenschen. Aber soweit man ihren Mitgliedern nicht die Freiheit der Paarung lässt, sondern sie zwangsweise paart, geschieht dies nicht nach biologischen 32

Gesichtspunkten, sondern nach Gesichtspunkten des Besitzes und der Macht. Und überdies wird die Vererbung der natürlichen Qualitäten dieser Herrschaften noch immer wieder durch geheime Ehebrüche durchbrochen. Der Stammbaum eines Haustieres zeigt deutlich an, welche Rassenmerkmale das Individuum von seinen Vorfahren erbt und wieder weiter zu vererben verspricht. Der Stammbaum eines Aristokraten oder Dynasten zeigt dagegen nur an, welche Güter und Privilegien er zu beanspruchen und weiter zu vererben vermag. Es ist vollendete Gedankenlosigkeit, Stammbäume von Haustieren und solche von Menschen auf eine Stufe zu stellen und hier wie dort Unterscheidungen zwischen Edelrassen und gemeinem Vieh zu machen. Die Gedankenlosigkeit erreicht ihren Gipfel dort, wo nicht eine geschlossene, beschränkte Verwandtschaftsorganisation, sondern ein Volk von vielen Millionen zu einer Edelrasse erhoben werden soll, die ihre Stammbäume sorgfältig zu hegen hat. Die Gedankenlosigkeit wird idiotisch, wenn sie, wie es bei den Haustierrassen geschieht, nach bestimmten Rassenmerkmalen sucht, die für die Volksrasse bestimmend sein sollen. Da es ganz ausgeschlossen ist, biologische Merkmale dieser Art zu finden, hat man sich im Dritten Reich dazu entschlossen, die Konfession als Rassenmerkmal festzusetzen. Den Charakter des Rassenmässigen sucht man ihr dadurch zu geben, dass es nicht die Konfession der jetzigen Generation sein soll, die für die Rassenzugehörigkeit bestimmend wird, sondern die ererbte Konfession. Dass ein Nichtchrist seine Rasse nicht wechselt, wenn er sich taufen lässt, muss man zugeben. Aber ganz anders soll die Sache stehen, wenn schon die Grosseltern sich taufen liessen. Haben die jungen Leute von heute von ihnen einen Taufschein geerbt, dann erscheint damit ihre Rassenzugehörigkeit unzweifelhaft festgestellt. Er gehört zu den unveränderlichen Rassenmerkmalen — auch ein Beitrag zu der Theorie von der Vererbung erworbener Eigenschaften. Dem ganzen Unsinn wird dann ein wissenschaftliches Mäntelchen umgehängt, indem man ihn mit modern-naturwissenschaftlichen Phrasen versieht, von denen die Rassenpolitiker dieser Art irgendwann etwas läuten gehört haben. Unangreifbar gegen wissenschaftliche Argumente wird er dadurch, dass er starken Bedürfnissen nach Monopolvorteilen entspricht, die durch ihn gestützt werden sollen und die eine andere Stütze im Denken nicht finden. Mit dieser Rassenpolitik habe ich natürlich nicht das mindeste zu tun, wenn ich mich zunächst daran mache, die Spuren meiner Vorfahren zu verfolgen, wobei ich leider nicht weit zu kommen vermag, denn meine Ahnen gehörten zu keinem aristokratischen Geschlecht, legten keinen Wert auf ihren Stammbaum. Nicht aus rassenpoli33

tischen, sondern aus anderen Gründen ist es für jeden von uns und auch für die Wissenschaft wichtig, seine Vorfahren näher zu kennen. Löst sich auch die Bestimmtheit der Menschenrassen immer mehr auf, so bleiben doch die Gesetze der Vererbung der Rassenmerkmale für den Menschen ebenso wirksam wie für Tier und Pflanze. In den Nachkommen kann man vielfach bestimmte Eigenschaften der Vorfahren, wenigstens der nächsten, wiederfinden. Das kann schon bekannte Gesetze der Vererbung bestätigen oder einen Anstoss zur Feststellung noch unbekannter Gesetze dieser Art erteilen. Noch wichtiger jedoch als die biologische ist die soziale Bedeutung der Erforschung der Vorgänge. Die biologischen Eigenschaften eines Menschen unzweifelhaft festzustellen, ist schon schwer, wenn man ihn vor sich hat, ihn beobachten kann. Wieviel schwerer erst, wenn man ihn nur aus Beschreibungen kennt. Und die so weit vorgeschrittene Rassenmischung macht es fast unmöglich, eindeutig herauszufinden, was das einzelne Individuum von diesem oder jenem besonderen Vorvater ererbt hat, was überkommene Rasseneigenschaft ist. Besonders schwierig aber ist es, bei einem Individuum genau zu scheiden, was an ihm angeborene Anlage ist und was Produkt der Erziehung und der Lebensbedingungen, denen es unterworfen wird. Auf jeden Fall aber wird man das Wesen eines Menschen um so leichter erkennen, je mehr man nicht bloss die angeborene Eigenart der Voreltern in Betracht zieht, sondern auch die sozialen Verhältnisse, in denen sie wirkten und er aufwuchs. Das kann Aufschluss geben nicht nur über ein einzelnes Individuum, sondern über die ganze Zeit, die ganze Gesellschaft, in der er lebte. Wenn ich in folgendem so ausführlich, als die mir zur Verfügung stehenden Dokumente erlauben, von meinen Grosseltern spreche, geschieht es hauptsächlich, weil ich damit einen Beitrag zur Kulturgeschichte Österreichs, namentlich Wiens und Prags, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu geben hoffe. 3. D I E G R O S S E L T E R N

KAUTSKY

Von meinen Voreltern, von denen ich meinen Familiennamen überkommen habe, vermag ich verhältnismässig nur wenig zu sagen. Kein grosser Verwandtenkreis umgab sie und sie waren nicht sehr literarisch gestimmt. Von der Grossmutter Kautsky sind nur wenige Briefe erhalten, jeder nur ein paar Zeilen umfassend. Mein Wissen über die Grosseltern Kautsky beschränkt sich daher auf Erinnerungen an Erzählungen meines Vaters aus seiner Jugendzeit und auf Mitteilungen in den Memoiren, die meine Mutter abzufassen begonnen hatte. Sie reichen nur bis zur Zeit ihrer Eheschliessung. An der Fortsetzung 34

hinderte sie der Tod. Darüber hinaus besitze ich nur ein Dokument über meine Abstammung von väterlicher Seite, den Taufschein meines Vaters. Er nennt als dessen Vater den „bürgerlichen Schneidermeister Wenzl Kautzcky (sie), ehelichen Sohn des Georg Kautszky, Maurer in Krinetz, der Mutter Katharina, geborene Hartmann". Als die Gattin des Wenzel wird genannt „Josepha Samler, eheliche Tochter des verstorbenen Johann Samler, k.k. Gubernialtürsteher, und der Mutter Eva, geborene Roznuzek (sie) aus Prag." Der Türsteher, wenn auch einer des „Guberniums", der Landesregierung, war ein Proletarier, doch auch der Maurer aus Krinec (in Nordböhmen, zwischen Podiebrad und Jicin gelegen) dürfte nicht mehr gewesen sein. Er war sicher ein richtiger Tscheche. Seine Frau Katharina Hartmann kam vielleicht, dem Namen nach, aus einer deutschen Familie. Die Grenze des deutschen Sprachgebiets im nördlichen Böhmen lag in der Tat nicht weit entfernt von Krinec. Anderseits weist auch der Namen Samler der Grossmutter auf deutschen Ursprung hin. Allerdings nur väterlicher Seite. Denn die Mutter der Grossmuttter führte den sicher nicht deutschen Namen Roznuzek (Roznicek?). Die Namen im Taufschein sind fast alle unkorrekt geschrieben. Nach Andeutungen meines Vaters, deren ich mich erinnere, war Frau Eva polnischen Ursprungs. Dieses Durcheinander deutscher und slavischer Familiennamen in der gleichen Familie ist in Böhmen etwas sehr Häufiges. Man sieht daraus, wie wenig der Gebrauch einer Sprache die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse beweist, wie sinnlos es ist, etwa von deutschsprechenden Menschen ohne weiteres zu behaupten, sie seien „deutschen Blutes". Als Umgangssprache wurde in der Familie meines Grossvaters Kautsky jedenfalls nur das Tschechische gebraucht. Doch war vor einem Jahrhundert Prag noch eine deutsche Stadt. Die Bourgeoisie sprach nur Deutsch und die Handwerker und Lohnarbeiter sahen sich dort gezwungen, im Verkehr mit zahlungsfähigen Kunden auch die deutsche Sprache zu gebrauchen. Der Damenschneider Kautsky machte keine Ausnahme. Doch nicht durch seine Sprachkenntnisse machte er sein Glück, sondern durch dieselben Künste, denen das Kaiserhaus der Habsburger seinen Aufstieg verdankte: Tu felix Austria (und Wenzeslaus) nube. Als armer Schneidergeselle kam er nach Prag, da starb der Meister, bei dem er arbeitete, und hinterliess eine wohlhabende Witwe, die Tochter des Gubernialtürstehers. Ob schon dessen Trinkgelder genügt hatten, ihr eine ansehnliche Mitgift in ihre Ehe mitzugeben, oder der Wohlstand nur vom Schneiderhandwerk herrührte, ist nicht mehr festzustellen. Allerdings verfügte Frau Josefa nicht nur über einiges Geld, sie war auch reich an Jahren und mit Töchtern gesegnet,

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als der junge Geselle in ihrer Werkstatt begann, ihr sein Interesse zu bezeugen. Er widerlegte durch die Tat die Irrlehre der Sozialisten, dass der Proletarier durch eigene Kraft nicht zu höherem Wohlstand aufzusteigen vermöge. Ihm gelang es. Er heiratete die Meisterin. Die Damenschneiderei gedieh, und den Kindern aus erster Ehe folgten bald mehrere aus zweiter Ehe. Doch von ihnen allen erreichte nur eines das Alter der Reife, der am 14. September 1827 geborene Johann, der mein Vater werden sollte. Die Ehe, die von Wenzel Kautsky wohl nur aus Berechnung geschlossen worden war, hatte keinen Bestand. Ewiger Zank und Streit herrschte zwischen den Eheleuten, ihr gegenseitiger Hass wuchs von Tag zu Tag und erreichte den Gipfel, als in ihre Dienste ein hübsches, energisches Mädchen trat, das bald die Gunst des Gatten gewann. Nun ging das Paar auseinander. Es hatte seine Ehe katholisch geschlossen — ich darf mich zweier katholischer Grossmütter und zweier katholischer Grossväter rühmen. Eine Trennung des Ehebandes ging also nicht an. Man ging einfach auseinander, jeder der beiden Partner lebte für sich allein. Ihre Mittel erlaubten es ihnen. Die Grossmutter Josefine blieb in ihrem Hause auf der Kleinseite, dessen Zinserträgnis ihr ein erträgliches Auskommen sicherte. Der Grossvater Wenzel gab die Schneiderei auf und erwarb ein Landgut in Dvorec bei Podol, einem Dorf bei Prag. Die Landwirtschaft war nicht ganz klein, sie beschäftigte zwei Knechte und einige Mägde, sowie zwei Pferde. Doch habe ich meinen Grossvater nie mit einem landwirtschaftlichen Gerät in der Hand gesehen. Der ganze Betrieb, nicht bloss der Haushalt, wurde von der Geliebten geleitet, der Resi, die etwas von Landwirtschaft zu verstehen schien und die wahrscheinlich die Ursache gewesen war, warum Wenzel die Stadt verliess und sich dem Landbau zuwandte. Doch bildete dieser nicht seine einzige Einnahmequelle. Dicht hinter dem Bauernhaus erhoben sich hohe Kalkfelsen, die zu dem Gut gehörten. Sie lieferten reiches Rohmaterial für die Kalköfen, die Wenzel in Betrieb setzte und deren Produkte er an Baumeister in Prag verkaufte. Ausser dem Besitz in Dvorec nannte er noch ein Haus in der Josefstadt Prags (dem Ghetto) sein eigen. Es waren da nicht die Christen, die unter der Zinsknechtschaft eines Juden seufzten, sondern das Umgekehrte fand statt. Dieses Haus des Wenzel Kautsky in der Prager Judenstadt gab wohl Veranlassung zu der mitunter in reaktionären deutschen Blättern wiedergegebenen „Enthüllung", ich sei ein Kind des Prager Ghetto. Träfe das zu, es würde mich nicht kränken. So mancher tüchtige Mann ist aus der Prager Judenschaft hervorgegangen. Nicht um mich schön zu machen, sondern nur um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich meine rein katholische 36

Abstammung feststellen — mein katholisches „Blut", um den Jargon der Rassenpolitiker zu gebrauchen. Unter sehr trostlosen Familienverhältnissen wuchs mein Vater auf. Und doch sollte der Gegensatz zwischen Vater und Mutter für ihn eine gute Seite bekommen. Wie die meisten Väter wollte auch Wenzel aus seinem Sohn etwas „Besseres" machen, als er selbst war. Er war ein unwissender Kleinbürger. In der Zeit der Reaktion vor 1848 imponierte ihm am meisten die staatliche Bureaukratie. Beamter werden, das erschien ihm gleichbedeutend damit, ein Herr zu werden, vor dem sich alles beugte. Sein Sohn sollte die Laufbahn eines Beamten einschlagein, so dekretierte er. Dazu musste Johann das Gymnasium absolvieren. Doch das hatte seinen Haken. Wohl war mein Vater eine eifrige Leseratte, doch der Schulbetrieb ödete ihn an. Er wurde ein miserabler Schüler. Dabei aber entwickelte er ein grosses Interesse für Zeichnen und Malen. Die Ferien musste er bei seinem Vater verbringen, in dessen Haus kein Buch zu finden war. Bei den Bauernbuben in Dvorec fand der Gymnasiast auch keinen Anschluss. Da blieb ihm als einzige Beschäftigung die Beobachtung und die Wiedergabe der Natur, in der er herumschlendern durfte. Er verschaffte sich einen Bleistift und fing an zu zeichnen. Und bald wurde dies zu einer Leidenschaft bei ihm. Schliesslich stand es bei ihm fest: er müsse ein Künstler werden, ein Maler. Damit kam er aber bei seinem Vater schön an. Als der beschränkte, verbauerte Kleinbürger, der er war, sah er in einem Künstler nur einen Bettler, der von den Abfällen der Tafeln der Reichen lebte und sich bemühe, sie zu amüsieren, um Spenden von ihnen zu ergattern. Alles in der Welt, nur kein Künstler. Sei es mit dem Studium und der Beamtenschaft schon nichts, dann lieber ein solides Handwerk mit goldenem Boden. Der Knabe Johann wurde aus der Schule genommen, ehe er das Untergymnasium absolviert hatte. Der Vater Wenzel glaubte schon dem künstlerischen Streben seines Sohnes entgegenzukommen, wenn er ihn in Betrieben unterbrachte, die mit Farben zu tun hatten. Zuerst wurde er zu einem Lackierer gegeben, und als es Johann dort nicht aushielt und davonlief, zu einem Schildermaler. Doch auch dem brannte der Lehrling durch: dass er ein unverbesserlicher Tagedieb und Taugenichts sei, stand nun für meinen Grossvater fest. Die wildesten Konflikte spielten sich zwischen ihm und seinem halberwachsenen Sohn ab. Da griff die Mutter Josefine ein. Sie war aus weniger grobem Stoff gebaut als ihr Gatte. Etwas Sinn und Interesse für geistiges Streben dürfte im Hause des Guberniums bis in die Loge des Türstehers gedrungen sein. Natürlich waren es nicht Ideen eines Voltaire oder 37

Lessing, die dort am Ende des 18. Jahrhunderts Eingang fanden, in der Zeit, in der die Grossmutter heranwuchs. Prag, ehedem ein Zentrum des Protestantismus und freiesten Geisteslebens, war seit 1620, seit der Schlacht am Weissen Berg, von den Habsburgern zu einem Zentrum der Gegenreformation und eines fanatischen Katholizismus gemacht worden. In den Kreisen, denen meine Grossmutter entstammte, fand alles Denken und Fühlen, das über den gröbsten ethischen Materialismus hinausging, nur eine Form der Betätigung: die religiöse. Grossmutter Josefa war sehr fromm, ganz im Gegensatz zu ihrem Gatten. Der zählte wohl nicht zu den Freidenkern, denn über das, was nicht greifbar vor ihm lag, dachte er überhaupt nicht nach. Aber eben deshalb blieb ihm alle Religion höchst gleichgültig. Nie ging er zur Kirche, nie äusserte er zu mir einen religiösen Gedanken. Seine Frau dagegen habe ich nie ohne Rosenkranz gesehen. Der Zwist mit dem Gatten, die Trennung von ihm verschärften sicher noch ihre religiöse Inbrunst. Die katholische Kirche hat sich aber mit den Künsten stets sehr gut vertragen, es verstanden, sie aufs wirksamste sich dienstbar zu machen. Das dürfte am meisten dazu beigetragen haben, dass die Grossmutter für das Streben ihres Sohnes das Verständnis und Interesse gewann, das der Grossvater ihm versagte. Und da die beiden Elternteile getrennt wohnten und die Grossmutter über die nötigen Mittel verfügte, beendigte sie den Konflikt eines schönen Tages damit, dass sie ihrem Johann die Möglichkeit bot, ohne den Vater und im Gegensatz zu ihm die künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Johann hatte, seitdem er dem Handwerk entlaufen, eifrig als Autodidakt an seiner künstlerischen Fortbildung gearbeitet. Eines Tages — das Datum ist leider nicht überliefert — nahm seine Mutter eine dicke Mappe, gefüllt mit seinen Zeichnungen und Malereien und zog damit zum Landschafter Haushofer, der seit 1844 Professor an der Prager Kunstakademie war. Dieser interessierte sich für den jungen Mann und bewirkte, dass er an der Prager Kunstakademie aufgenommen wurde. Direktor der Akademie war seit 1841 der Historien- und Genremaler Rüben, der dann 1852 zum Leiter der Wiener Akademie wurde. Unter der Leitung dieser beiden Künstler arbeitete nun der Jüngling fleissig und gewissenhaft und widerlegte den Vorwurf der Tagedieberei, den der Vater gegen ihn erhoben. Er studierte nicht bloss die Technik, sondern auch die theoretischen Grundlagen seiner Kunst, betrieb Kunstgeschichte, Anatomie, Perspektive. Und er beschränkte sich nicht auf seine Kunst. Ein allgemeiner Wissensdrang erfasste ihn und er fand zahlreiche Mittel und Anregungen, ihn zu befriedigen in den intellektuellen Kreisen, in die er nun kam und die ihn weit über die Beschränktheit nicht bloss des väterlichen, sondern 38

auch des mütterlichen Heims hinaushoben. So sehr Prag durch den Dreissigjährigen Krieg und die Gegenreformation gelitten hatte, es war neben Wien das bedeutendste Kulturzentrum Österreichs geblieben. Und gerade die Jahre vor 1848 waren von starkem geistigen Ringen erfüllt. Besonders gefördert wurde mein Vater, als es ihm gelang, die schwarzgelben Grenzpfähle zu überschreiten und für ein halbes Jahr auf der damals so bedeutenden Düsseldorfer Akademie zu arbeiten. Zu seinen Lehrern gehörte dort der grosse Landschafter Johann Wilhelm Schirmer, der Maler stiller Waldeinsamkeit, deren Darstellung meinen Vater ebenfalls am meisten beschäftigte, nicht nur in seiner Jugend, sondern sein Leben lang. Der Akademie entwachsen, zog es ihn mächtig nach dem Böhmerwald, in dessen südlichem Teil er 1852 einige Monate zeichnete und malte und tiefe Eindrücke gewann, in den Gegenden um Oberplan herum, wo Adalbert Stifter geboren wurde, der sie so meisterhaft beschrieb in den vierziger Jahren. Mein Vater lernte Stifters Schriften allerdings erst ein Vierteljahrhundert später kennen und schätzen. Rasch errang der junge Maler Ansehen in seiner Vaterstadt. Die Bilder, die er ausstellte, wurden nicht nur gelobt, selbst in den Zeitungen, sondern sogar verkauft. Das erfüllte nicht nur die Mutter mit Stolz, es erweichte auch das harte Herz des Vaters. Die Prager Baumeister, denen er Kalk verkaufte, sprachen mit Anerkennung von seinem Sohn, weissagten ihm eine erfolgreiche Zukunft. Es kam zu einem Modus vivendi zwischen Vater und Sohn, der schwere Konflikt schien sich, wenn auch nicht in Wohlgefallen, so doch in gegenseitigem Abfinden aufzulösen, da tat sich ein neuer tiefer Riss zwischen Vater und Sohn auf. Und das war um so bedenklicher und schmerzlicher, als sich diesmal auch die Mutter mit voller Schärfe gegen den Sohn wendete. Denn dieser verlobte sich 1853 mit einem Mädchen, das nicht bloss blutarm war, sondern auch der Kirche nicht die mindeste Reverenz erwies. Es war die älteste Tochter des Prager Theatermalers Anton Jaich. 4. D E R URGROSSVATER J A I C H

Über die Familie Jaich liegen weit mehr Zeugnisse, namentlich Briefe vor, als über die Familie des Wenzel Kautsky, die zur Zeit, als mein Vater heiratete, nur drei Mitglieder, Vater, Mutter und Sohn umfasste. Die Jaichs waren dagegen eine sehr zahlreiche Familie. Und mein Grossvater Peter Anton Jaich beherrschte das geschriebene Wort und zeigte sich von grosser Schreiblust beseelt. Und dabei wollte es das Geschick, dass er oft und lange von seinen Lieben getrennt leben

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musste. Für diese Periode verfügen wir über zahlreiche Briefe von ihm und an ihn, die wohl zumeist bedeutungslosen Kleinkram betreffen, dabei aber auch manche Feststellung ermöglichen, die uns heute wichtig erscheint. Und ähnliches gilt auch von seinem Vater, Johann Jaich, von dem wir Briefe schon aus dem Jahr 1798 besitzen. Uber die Familiengeschichte der Jaichs vor diesem Jahre wissen wir allerdings nichts Bestimmtes. Nur auf mündlicher Überlieferung beruht die Mitteilung, dass die Familie aus Ungarn nach Wien gekommen war. Doch kann ich mich nicht erinnern, einen Hinweis darauf gehört zu haben, wann, von wem und wie diese Wanderung vollzogen wurde. Die bestimmte Mitteilung der Herkunft aus Ungarn — zu dem Kroatien gehörte — veranlasst mich zu einer Hypothese, zu einer Deutung des Wortes Jaich. In Ungarn wie in Kroatien wurde noch im vorigen Jahrhundert der Laut tsch (c) mit ch ausgedrückt: Jelatschitsch schrieb sich Jelachich. Jaich wurde dort also wie Jaitsch ausgesprochen. Einen solchen Namen gibt es in Kroatien und Slavonien nicht, dagegen ist dort der Namen Jagich (Jagitsch) sehr häufig. Das G wird unter Umständen von der deutschen Zunge gern in ein J (Jot) verwandelt. So ist z.B. das ursprüngliche „gäh" oder „gaach" völlig durch das Wort „jäh" verdrängt worden. Von Jagich ist es aber nicht weit zu Jaich. Wenn eine Familie aus einem Gebiet in ein anderes wandert, in dem eine andere Sprache als die des Auswanderlandes gesprochen wird, dann muss die Familie notgedrungen früher oder später die neue Sprache zu ihrer Umgangssprache machen, vielfach schon in der zweiten, fast stets schon in der dritten Generation wird in der neuen Umgebung die ursprüngliche Familiensprache vergessen. Die alten Familiennamen aber bleiben. Doch auch sie können sich dem Einfluss des neuen gesellschaftlichen Milieus mit anderer Sprache nicht entziehen. Sie werden dem neuen Sprachgeist angepasst, nicht nur ihre ursprüngliche Bedeutung, sondern auch ihre ursprüngliche Aussprache wird vergessen oder verderbt. So kann man in Wien eine Unzahl von Familiennamen feststellen, die sicher ehemals slavisch waren, nun aber „germanisiert" wurden, sowohl in der Schreibung wie in der Aussprache. So nehme ich an, bedeutet das Jaich nur eine Germanisierung des Wortes Jagitsch. Mehr als eine Hypothese ist das allerdings nicht. Die Jaichs, die ich kennenlernte, erwogen nicht einmal die Möglichkeit, dass ihr Familienname in Ungarn jemals anders geklungen habe, als sie ihn schrieben und aussprachen, und dass sie nicht von jeher gute Deutsche gewesen seien. Johann Jaich, der erste dieses Namens, von dem die uns erhaltenen schriftlichen Zeugnisse Kunde geben, war jedenfalls von einem Urwiener nicht zu unterscheiden. Im Jahre 1797, aus dem

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sein erster Brief stammt, lebte seine Mutter noch, doch erfahren wir nichts Näheres über sie. Von seinem schon toten Vater spricht er überhaupt nicht. Von Beruf betrieb er die Wachsbossiererei, die „Kunst der Wachsarbeit", wie ein Buch sie nennt, dessen Anzeige ich unter den Papieren meines Grossvaters gefunden habe. Es gab die „Anleitung menschliche Figuren und alle Gegenstände des Tier- und Pflanzenreiches so wie die Produkte der Kunst in Wachs bildlich dazustellen". Es war eine Art Plastik, verschieden von der Bildhauerei. Unter anderm unterschied sich der Bossierer von dem Bildhauer dadurch, dass er in der Regel nicht so frei bei seinem Schaffen war wie dieser. Er hatte vornehmlich getreu ein Original nachzubilden, nicht seiner Phantasie die Zügel schiessen zu lassen. Insofern stand er unter dem Künstler. Aber gerade wegen der Genauigkeit seiner Nachbildungen konnten diese wissenschaftlichen Zwecken dienen. Solange das Studium der Anatomie an Leichen gehemmt war, ersetzten für die Studenten der Medizin Wachsmodelle die Naturformen der menschlichen Organe. Zu diesem Zweck musste aber der Bossierer wissenschaftlich weit besser unterrichtet sein als der eigentliche bildende Künstler. Im 18. Jahrhundert war die Wachsbossiererei eine sehr geachtete Kunst. Die meisten Höfe förderten sie. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sie an Bedeutung sehr verloren. Heute arbeiten die Wachsbildner nur noch für Wachsfigurenkabinette, nicht für dynastische Höfe und wissenschaftliche Institute. Johann Jaich fühlte sich noch vollständig als Künstler, zeigte sich von grösstem Künstlerstolz beseelt. Doch nicht bloss als bildender Künstler betätigte er sich, sondern auch als Dichter. Im Jahre 1798 verfasste Johann Jaich eine „deutsche Geschichte" „Karl Stelheim und Klementine von Rosenfee", eine höchst rührselige, tränenreiche Erzählung von einem Liebespaar, das sich gefunden und durch die Intrigen eines teuflischen Weibes auseinandergerissen wird. Als Bossierer trat Johann in den Dienst des Wiener Hofs, der ihn nach Florenz schickte, damit er sich dort künstlerisch fortbilde. Da im Dezember 1797 überraschte ihn eine Zuschrift „Seyner Mayesteth des Kaysers", in der er gefragt wurde, ob er mit seinem Studium schon fertig sei, denn „Seyne Mayesteth" sei gesonnen, ihn anzustellen. So berichtete Johann Jaich in einem Brief vom 9. November 1797, in dem er diese Berufung nach Wien bitter beklagt. Er sollte Italien verlassen, ohne Rom und Neapel gesehen zu haben. Und überdies, was ihn vielleicht noch mehr kränkte, er sollte eine Florentinerin verlassen, die er liebgewonnen, die Tochter der Frau, in deren Kosthaus er seine Mahlzeiten eingenommen hatte, also eine filia hospitalis. Die Frau stammte aus Deutschland, hiess Högner, aber die Tochter war in Italien aufgewachsen, war ganz italianisiert. Ob er infolge der 41

kaiserlichen Mahnung sofort Florenz verliess, wissen wir nicht. Der nächste Brief, den wir von ihm haben, ist vom November 1799 datiert, aus Wien an Theresia Högner gerichtet, den „liebenswürdigsten Engell", den er duzt und als Braut betrachtet. Doch mit dem Heiraten hatte es gute Wege, denn erst im April 1801 hielt Johann bei der Mutter um die Hand der Tochter an. Mangel an Geld hatte bis dahin Johann am Heiraten gehindert. Er arbeitete in Schönbrunn, sein Laboratorium war im botanischen Garten (Brief vom März 1801). Ein Jahr vorher (28. April 1800) schreibt er. „Wir haben täglich Besuch von sehr geschickten, verständigen und ansehnlichen Männern, welche alle unsere Arbeit besehen und von denen wir Beifall erhalten. Den 17. April hatten wir auch die hohe Gnade gehabt, von fünf kaiserlichen Brüdern besucht zu werden, sie hielten sich ziemlich lange bei uns auf und wir erhielten auch sehr grossen Beifall. Sonst haben wir sehr viel zu tun und es bleibt uns wenig Zeit zum Spazieren gehen. Nicht so als wie in Florenz." Die Wertschätzung der Leistungen Johanns bestand nicht bloss in seiner Einbildung, sie beruhte nicht auf einer Selbsttäuschung. Das bezeugt eine Bemerkung, die seine Tochter Therese in einem Brief macht am 25. November 1848, den sie von Wien aus an ihren in Prag lebenden Bruder Anton richtet. Sie beschreibt darin die Schreckenstage, die das von Windischgrätz und Jellatschitsch belagerte Wien vom 20. Oktober bis 2. November durchzumachen hatte. Bei dem Bombardement der Stadt war auch ein Trakt der Hofburg in Brand geraten, nämlich ein Teil der Hofbibliothek und des daran anstossenden Naturalienkabinetts. Therese bemerkt dazu: „Ob die Kunstwerke unseres guten seligen Vaters gelitten haben, die sich in dem Trakt befanden, konnte ich nicht ermitteln. Auf jeden Fall wären diese unersetzlich." Welcher Art diese „Kunstwerke" im Naturalienkabinett waren, erfahren wir nicht. Doch auf jeden Fall erschienen sie würdig, in die kaiserliche Sammlung aufgenommen zu werden, und noch 1848 waren sie dort zu finden. Trotz des Ansehens, das die Werke des Hofbossierers gewannen, war die Bezahlung, die ihm zuteil wurde, nicht sehr ansehnlich: 600 Gulden im Jahr. Und in der Zeit seiner Werbung und Verehelichung vermochte er nicht einmal über diese Summe frei zu verfügen. Er hatte Schulden abzutragen, die er in Florenz gemacht. Ausserdem aber musste er, sobald er seine Arbeit in Wien aufnehmen wollte, seine Werkzeuge und Behelfe auf eigene Kosten anschaffen. Der Hof des Kaisers Franz hatte dafür nichts übrig. „Als wir angestellt waren, verlangten wir bei seiner Majestät, dem Kaiser, Geld für alles Zugehör zum Werkzeug und sonstige nötige Einrichtung (er schreibt: „für alle zugeher zur Werkzeug und sonstigen

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nädlichen einrichtung") und wir erhielten nichts und mussten uns selbst auf unsere Unkosten alles herbeischaffen und 400 Gulden waren weg wie nichts." Wie sollte man da heiraten mit 600 Gulden im Jahr? Die Mutter Thereses besass nichts. Die Mutter Johanns war allerdings wohlhabend, doch scheinen auch bei ihr die Kinder zahlreicher gewesen zu sein als die Gelder. Da kam auf den einen nicht viel. Aussicht auf eine Aufbesserung des Gehalts bestand nicht. Staat und Hof steckten selbst in Schulden. Es war die Zeit des zweiten Koalitionskrieges der legitimistischen Monarchen Europas gegen das revolutionäre Frankreich, bei dem die Hauptlast Österreich zufiel, die Zeit der Schlacht bei Marengo. Durch Warten war nichts zu gewinnen. In einem Brief vom 4. März 1801 setzt Johann seiner Therese auseinander, dass 600 Gulden jährlich freilich nicht viel seien für einen Künstler, besonders wenn die Frau sich als eine Künstlersgemahlin zeigen will, aber ich denke, es wäre doch daraus zu kommen, da doch viele Kanzlisten („vülle Canselisten") nicht mehr haben und doch nicht schlecht leben, wenn sie anders wirtschaften und nicht bei allen Unterhaltungen dabei sein wollen. Immerhin wurde es Mai, bis er um Thereses Hand anhielt. Er wollte eine stille Hochzeit, denn er habe zu viele Geschwister und Freunde, die alle zu bewirten ihm das Geld fehle. Er war auch nicht in der Lage, seine Braut aus Florenz zu holen. Mehr als das Reisegeld für sie vermochte er nicht aufzubringen. Viele Geld- und Passschwierigkeiten waren zu überwinden, auch eine vertrauenswürdige Reisegefährtin zu finden, ehe das in Italien aufgewachsene Mädchen die Reise nach dem Norden antreten konnte. Am 29. August 1801 kündigte Magdalena Högner ihrem Wiener Schwiegersohn die Abreise Thereses an und spricht die Hoffnung aus, die Tochter werde nach achtzehn Tagen in Wien glücklich eintreffen. Sie erteilt dem Paar ihren Segen und fügt hinzu, „die Frau Gräfin sende auch ihre Gratulation". Deren Namen wird nicht genannt. Die Ehe begann als echte Künstlerehe. Die Eheschliessenden waren sehr arm an Mitteln, aber reich an Beziehungen zu den höheren Schichten der Gesellschaft, die allerdings allem Anschein nach mehr Verpflichtungen als Vorteile mit sich brachten. 5. D E R GROSSVATER J A I C H

Nach der Verehelichung Johanns mit Therese versiegt die Quelle des Briefwechsels zwischen beiden. Wir erfahren nichts mehr über ihre weiteren Schicksale. Nur das wissen wir, dass Johann im Sommer 1802 Vater eines Mädchens wurde, das nach der Mutter den Namen Therese erhielt. Der 4. Juni 1804 brachte ihnen einen Knaben, dem

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sie den Namen Peter Anton gaben. Er wurde mein Grossvater. Die weiteren Kinder waren alle Mädchen. Im Jahr 1820 lebte Johann Jaich noch. In diesem Jahr heiratete seine älteste Tochter einen Beamten, Nigris, der als „Haushofmeister" im Dienste des Fürsten Clary stand und es schliesslich bis zum Vermögensverwalter des Fürsten brachte. Die Sommermonate brachte Nigris meist im Gefolge des Fürsten in Teplitz zu. Von dort aus richtete 1820 die Neuvermählte mehrere Briefe an ihre Eltern, der eine vom 5. Juni war adressiert: A Monsieur Jean de Jaich, abzugeben auf der alten Wieden in der Gemeindegasse, dem Gemeindehaus gegenüber im ersten Stock zu Vienne. Dieses sonderbare Gemisch deutscher und französischer Brocken gehörte damals im österreichischen Postverkehr offenbar zum guten Ton. Dabei wurde die wienerische Höflichkeitsfloskel des „Herr von" zu einer adeligen Titulatur. Dieser und ein weiterer Brief vom 16. August war an die Eltern gerichtet, die also beide noch lebten. Der nächste Jaischsche Brief, den wir besitzen, vom 4. Oktober 1824 rührt vom Sohn Anton her. Er war nur noch an seine Mutter gerichtet, die seit mehreren Jahren als Wittfrau mit zahlreichen Kindern, von denen nicht alle erwachsen, in Mödling von einer kleinen Pension lebte, sehr kümmerlich, ewig mit Schulden kämpfend. Der Vater Johann dürfte also bald nach 1820 verstorben sein. Die Briefe, die Anton von Wien aus an seine Mutter richtete, reichen bis zum März 1826. Da ist von schwerer Krankheit der Mutter die Rede. Ihr dürfte sie erlegen sein. Die nächsten Briefe Antons, die uns erhalten sind, stammen aus dem Jahr 1828. Sie sind an seine Schwester Nigris gerichtet. Von der Mutter wird nicht gesprochen. Sie dürfte 1826 gestorben sein. Seine weiteren Familienbriefe gehen nur noch an die älteste Schwester Therese Nigris und die 1806 geborene Minna. Diese behütete nun ihre jüngeren Schwestern. Therese Nigris preist einmal in einem Brief vom Dezember 1840 an ihren Bruder das „makellose Betragen unserer Schwestern, die sich von früher Jugend allein überlassen waren". Mit den jüngeren Schwestern stand Anton in keiner Korrespondenz, nicht mit Amalie, Kathi, Leopoldine. Die Kathi scheint schon 1828 gestorben zu sein, sie wird damals als schwer krank beklagt. Später ist von ihr nicht mehr die Rede. Sicher bezeugt ist es, dass die Schwester Amalie im November 1841 starb. Kurz vorher hatte Leopoldine ihrem Dasein als ein Fräulein Jaich in anderer Form ein Ende gesetzt durch ihre Vermählung mit dem reichen Mödlinger Seifensieder Kostka. Da blieb nur noch Minna übrig, die schon fast zehn Jahre mit einem Maler, Altmann, verlobt war. Es dauerte fast noch ein halb Dutzend Jahre, bis er in die Lage kam, sie heiraten zu können. Bestimmte Daten darüber besitze ich nicht. Soviel über den

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weiblichen Teil der Familie. Mehr hat uns der einzige Mann in diesem Weiberstaat zu beschäftigen, Peter Anton Jaich. Leider wissen wir über seinen Bildungsgang gar nichts Bestimmtes mitzuteilen. Er wollte wohl in die Fusstapfen des Vaters treten. Sicher ist es, dass er sich auf Wachsbossiererei verstand und die Wiener Kunstakademie besuchte, um sich im Zeichnen und Malen zu vervollkommen. Daneben muss er auch eine höhere Schule besucht haben, und zwar mit Erfolg, sonst hätte er nicht mit zwanzig Jahren die Stelle als Erzieher des Sohnes eines reichen, vornehmen Hauses erhalten. Vielleicht hätte er gern die Universität bezogen, an wissenschaftlichem und namentlich philosophischem Interesse fehlte es ihm nicht. Aber der frühe Tod seines Vaters, den er wohl mit 17 Jahren verlor, und die Armut der Mutter hinderte ihn daran. Er musste bald trachten, Geld zu verdienen, seiner Mutter nicht zur Last zu fallen, eher sie zu unterstützen. Er war 20 Jahre alt, als er das erreichte. Im Herbst 1824 vermochte er sich vom Mödlinger Haushalt der Mutter loszulösen, da es ihm gelungen war, eine Stellung bei dem reichen Hofrat Czerny als Erzieher seines damals neunjährigen Sohnes Ferry (ungarische Form für Franz) zu erhalten, was bei seinem Mangel an Protektion unmöglich gewesen wäre, wenn er nicht glänzende Zeugnisse über seinen Bildungsgang aufzuweisen gehabt hätte. Die Briefe, die Anton von Wien aus von 1824 bis 1826 an seine Mutter in Mödling richtet, gewähren einen guten Einblick in das Leben und Treiben der damaligen Zeit. Czerny war reich, wohnte prächtig in Wien und hatte vornehmsten Umgang. Er wurde 1824 Hofrat betitelt, muss aber vorher Armeeoffizier gewesen sein. Anton berichtet am 9. Januar 1825, er sei mit dem alten Czerny und seinem Sohn in einer Ausstellung gewesen, wo die Schlacht von Aspern zu sehen war. Man hatte 5000 kleine Figuren aus Wachs aufgestellt. „Wir sahen hier alle merkwürdigen Generäle und Feldherren und der Czerny zeigte mir, wo er selbst in der Schlacht gestanden war". Als gemeiner Soldat wird der Herr Hofrat dort nicht gestanden sein. Anton gibt einmal die Liste der Personen, die bei einem Gastmahl (Diner) im Hause Czerny versammelt waren. Er nennt: „Seine Exzellenz der General Baron von Stipschitz, seine Frau, die Baronin, Baron Stipschitz sein Sohn, Major mit Schnurrbart. Die Fräuleins Lotte, Johanna, Minna, drei schöne Blondinen, seine Töchter. Baron Schweiger, Kammerherr, ein junger blonder Mann, ohne Schnurrbart mit Backenbart. Herr Major von Zwick, ein sehr grosser junger Mann mit einem grossen schwarzen Schnurr- und Backenbart. Die Frau von Arbter, Landrechts (Landesgericht?) Präsidentin. Herr Rittmeister Haas, Adjutant des Generals, mit einem

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grossen Schnurrbart. Herr Hofsekretär von Satorius ohne Schnurrbart. Die Grossmama. Der Herr von Czerny mit Schnurrbart. Die Frau von Czerny ohne Schnurrbart. Der Ferry ohne Schnurr- und Backenbart." Mit Ferry war auch sein Erzieher geladen. Über dessen Barttracht berichtet er nichts. Er nahm jedenfalls an, sie sei den Lesern des Briefes bekannt. Anton wurde als zur Gesellschaft gehörend behandelt, nicht als Lakai. Die anwesenden Herren waren überwiegend grosse oder vielmehr lange Männer, da kam jemand auf die Idee, sie zu messen. Da tat der junge Jaich mit. Er wurde als der viertgrösste befunden, als der kleinste der Czerny, „obwohl ein grosser Mann". Besonders glänzend war ein Festmahl im Hause Czerny, über das Anton Jaich am 1. Dezember 1824 berichtet. Da ihm der Prunk noch ganz neu war, beschreibt er ihn ausführlich. Zu dem Mahl war unter anderm geladen der Fürst Esterhazy und der Feldmarschall Bellegarde. Letzterer ein hoher Herr, allerdings auch ein recht alter, wenn es der Feldmarschall war, der von 1756 bis 1845 lebte. Fürst Esterhazy wieder war so reich und mächtig, dass ihm Napoleon 1809 die ungarische Krone antrug. Der Fürst lehnte sie ab. Sie wäre eine Dornenkrone geworden. Mein Grossvater hatte das Vergnügen, neben einer liebenswürdigen Komtesse zu sitzen. Der Fürst brachte vier Bediente mit, die neben vier Bedienten des Hauses Czerny bei Tisch zu servieren hatten. Nicht weniger als sechzehn Gänge wurden aufgetragen und fünf Weinsorten, darunter Champagner, „welcher in Gläsern, die beinahe eine halbe Elle lang sind, aufgetragen wird." Dieses Wohlleben war nicht auf wenige Tage beschränkt. Immer wieder berichtet Anton seiner Mutter von Gastereien, Bällen und anderen Festlichkeiten im Winter, von Landpartien und Praterfahrten im Sommer. Man wundert sich, wann der Erzieher Zeit fand, mit seinem Zögling zu studieren. Er lebte in einer Atmosphäre, die ganz der glich, in der ein Jahrzehnt vorher der Wiener Kongress das neue Europa herbeitanzte. In krassem Gegensatz dazu stand die ewige Geldnot der Mödlinger Familie, die durch Antons und der Therese Beihilfe nur wenig gemildert wurde. Auch Bittschriften der armen Witwe des ehemaligen Hofangestellten an den Kaiser nützten nicht viel. Trotz alledem verzagt das Mödlinger Völkchen nicht. Mutter Therese gibt mit ihren bescheidenen Mitteln noch Tanzunterhaltungen und Schwester Minna glänzt auf Bällen. Das war die Zeit, in der die Bezeichnung der Wiener als „Phäaken" aufkam. So behaglich der junge, lebenslustige, gesunde Anton in dem Meer von Vergnügen herumplätscherte, auf die Dauer konnte dieses Dasein den strebsamen, idealistischen und wissensdurstigen Jüngling nicht 46

befriedigen. Es ist bezeichnend, dass ihn damals am meisten eine jüdische Familie interessierte, die er in Döbling kennenlernte, wo die Czernys den Sommer 1825 verbrachten. Er berichtet am 22. Mai 1825 aus Döbling, er habe „viele vergnügte Stunden zugebracht, allein nicht mit der Czernyschen Familie", sondern mit einer anderen. „Diese Familie, von der ich spreche, sind Juden, sind aber, so wie (ich) grösstenteils unter dieser Nation gefunden habe, sehr gute, herzliche und liebenswürdige Menschen und ich bin mit ihnen schon so bekannt, als wenn wir uns schon zwanzig Jahre kennen würden". Am 27. Juni schreibt er wieder von vergnügten Stunden, die er in der „schätzungswürdigen Familie zugebracht". Und am 30. Juni berichtet er von einem Ausflug, den die jüdische Familie machte, an dem er nicht teilnehmen konnte, an seinen Zögling gefesselt. „Da beim Hoffmann (dem Juden) alle fort waren, so waren wir ganz allein und der Tag verging daher, wie gewöhnlich, sehr fad". Die Czernys waren also sicher sehr reich, sehr vergnügungssüchtig, auch sehr gutmütig, denn in jenen Tagen des gefrorenen aristokratischen und offizierlichen Dünkels liessen sie den armen bürgerlichen Anton an allen ihren Veranstaltungen als Gleichberechtigten mittun. Aber sie erwiesen sich als „fad", als geistlos und borniert. Dazu kam die stete Fesselung an den Zögling, die Anton beengte, wohl auch bei seinen künstlerischen Arbeiten hemmte. Seine anscheinend so glänzende Stellung, um die mancher ihn beneidete, fing an, ihn zu bedrücken. Schon am 3. August 1825 schrieb er seiner Mutter: „Über das, dass ich zuweilen nicht aufgelegt bin, lustige Dinge zu schreiben, darf man sich gar nicht wundern und man wird über mein grosses Glück ganz andere Gedanken bekommen, wenn man an die Worte eines berühmten Schriftstellers denkt, welcher sagt: „gebet dem Menschen alles, nur die Freiheit nicht und ihr habt ihm nichts gegeben'." Anton selbst unterstreicht diesen Satz. Er lässt erkennen, welch glühendes Freiheitsverlangen ihn beseelte. Und er liess es nicht bei platonischer Sehnsucht bewenden. Schon anfangs März 1826 kündigte er bei Czernys seine Stelle. Man ging in aller Freundschaft auseinander. Anton hatte dem Hofrat auseinandergesetzt, es drohe ihm die Gefahr, dass er bei seiner „gemächlichen Lebensweise" nie die Fähigkeit erlangen werde, sich auf eigenen Füssen erfolgreich zu behaupten. „Vom 1. April werde ich meine frühere, aber wie ich zu Gott hoffe, nicht so armselige Lebensweise wieder anfangen". Leider trog ihn diesmal und noch oft später sein Gottvertrauen. Zunächst allerdings waren seine Aussichten nicht ungünstig. Ferry fuhr fort, Zeichenunterricht bei ihm zu nehmen, auch eine andere Zeichenlektion war ihm zugesagt. Sein Nachfolger bei Ferry war ein Dr. Becher, der später am Poly47

technikum Weltgeschichte lehrte, wie Therese Nigris am 22. August 1836 ihrem Bruder schrieb. Ihr Sohn Justus hörte bei ihm. Schon die Auswahl dieses Nachfolgers beweist, dass die Czernys hohe Anforderungen stellten, also Anton sehr gute Leistungen im höheren Schulwesen aufzuweisen hatte. Bis 1830 blieb Anton Ferrys Lehrer. Zwischen beiden bestand grosse Anhänglichkeit. Noch am 10. Oktober 1835 schrieb Ferry, bereits angehender Lieutenant, zwanzig Jahre alt, seinem früheren Lehrer, der sich kurz vorher verlobt hatte: „Seien Sie überzeugt, dass mich Ihr Schreiben sehr erfreute, da ich daraus ersehe, dass Sie sich besser, wo nicht glücklicher befinden. Ich freue mich auf den Augenblick, wo Sie wieder in den Armen Ihres Ferry, so nennt man mich noch immer, ruhen können. Sie werden wohl den Knaben zum halben Mann entsprossen (sie) sehen und ich freue mich der Stunden, in denen wir wieder kosen und plaudern werden. Seien Sie überzeugt, dass eine baldige Antwort sehr erfreuen wird den, der sich mit unverminderter Liebe nennt Ihren wahren Freund Ferry". Dieses herzliche Erinnern an den früheren Lehrer ist sicher eine seltene Ausnahme bei einem Schuljungen. Es ist ehrenvoll für beide. Die Lebensläufe der beiden gingen ganz auseinander, und doch sollten sie sich noch einmal treffen: Im Jahr 1871 in Linz, wo Anton Jaich als Dekorationsmaler des Landestheaters tätig war. Sein ehemaliger Zögling übersiedelte dorthin, um als Major im Ruhestand seine Pension zu verzehren. Anton schreibt seiner Tochter Minna mehrmals über ihn, unter anderm in einem Brief vom 6. August 1871, aus dem wir erfahren, dass Ferry fast ein halbes Jahrhundert nach Antons Lehrtätigkeit noch die alte Anhänglichkeit an den früheren Lehrer bewahrte und dass beide sich duzten. Eine seltene Vertraulichkeit in einer Zeit, in der die Kinder noch zu den Eltern „Sie" sagten. Nicht lange, nachdem Anton seine Stelle als Ferrys Erzieher gekündigt, wird die Mutter Therese gestorben sein. Die Pension, die sie vom Hof bezogen, hörte auf. Ihre unverheirateten, zum Teil noch kleinen Töchter in Mödling dürften in höchste Not geraten sein. Wiederholte Eingaben der Mädchen an den Kaiser um eine Gnadengabe bezeugen das. Vielleicht hätte Anton Hilfe bringen können, als er eine Stellung erhielt. Freilich war sie recht zweifelhafter Natur. Am 30. September 1828 schreibt er seiner Schwester Nigris: „Es ist wieder einer meiner Wünsche in Erfüllung gegangen und dadurch die Bahn zu einer erfreulichen Zukunft eröffnet. Durch die Protektion des Vizepräsidenten Stipsitz bin ich vom Hofkriegsrat förmlich als praktizierender Wachsbossierer im K.K. Josephinum aufgenommen. Ich weiss wohl, dass du auf Wachsbossiererei wenig Vertrauen setzest und dir also von diesem meinen Unternehmen wenig versprechen 48

wirst; allein ich verspreche mir um so mehr und ich glaube, ich werde mich nicht betrogen haben". Dieser Brief weckt in mir einige biographische Zweifel. Meine Tanten Jaichscher Seite und meine Mutter selbst hatten mir mit voller Bestimmtheit erzählt, dass ein Teil der in Wachs wiedergegebenen anatomischen Präparate des Josephinums von meinem Urgrossvater Johann Jaich stammen. Das Josephinum nannte man die vom Kaiser Joseph II. 1784 in Wien begründete medizinisch-chirurgische Akademie zur Heranbildung von Militärärzten. Sollte eine Verwechslung vorliegen und Anton das geleistet haben, was seinem Vater zugeschrieben wurde? Das erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Die Angaben der Schwestern und der Tochter des Vaters lauten zu bestimmt. Unbestreitbar ist nur eines: der Sohn Anton versuchte die Laufbahn seines Vaters einzuschlagen. Doch misslang das bereits im ersten Anfang. Das Josephinum hatte einige Jahrzehnte lang sehr geblüht, war dann vernachlässigt worden, es verlor seine Bedeutung neben der medizinischen Fakultät der Wiener Universität, die im Beginn des 19. Jahrhunderts einen starken Aufschwung nahm. Und noch mehr als das Josephinum, das 1848 als entbehrlich vollständig geschlossen wurde, verfiel die Wachsbossiererei. Therese Nigris hatte ganz recht, wenn sie 1828 schon in die Wachsbossiererei „wenig Vertrauen" setzte. Antons Optimismus erwies sich als völlig unbegründet. Von dem so jubelnd begrüssten Erfolg der gnädigen Protektion des Herrn Vizepräsidenten beim Hofkriegsrat — wohl bewirkt durch Czernys Fürsprache — ist in den weiteren Briefen Jaichs nicht mehr die Rede. Die Periode der Wachsbossiererei ist für die Familie Jaich abgeschlossen. Bald danach eröffnete sich für Anton jedoch eine neue Laufbahn, die zur derjenigen seines Lebens wurde. Sie ging hervor aus jugendlichem Spiel, das damals, in der Zeit des Absolutismus sehr lebhaft betrieben wurde, als einzige Gelegenheit, die enthusiastischen Gemütern gegeben war, sich leidenschaftlich zu betätigen. Die besten Geister des deutschen Volkes wendeten sich von Lessing bis Goethe, der 1832 starb, der dramatischen Dichtung zu. Ein neues Theaterstück, ein neuer Schauspieler wurden in jeder grösseren Stadt zu Ereignissen, die die ganze Bevölkerung, namentlich aber ihren gebildeten Teil, auf tiefste bewegten. Nicht jeder hatte das Zeug, als Berufsschauspieler zu glänzen, aber jeden von Idealen beseelten jungen Menschen drängte es, Theater zu spielen, um von der Bühne herab in die Welt hinausrufen zu können, was in ihm nach Ausdruck rang. Seitdem es ein Theater und Berufsschauspieler gibt, gibt es auch Dilettanten. Shakespeare verhöhnte die Liebhabertheater seiner Zeit in seinem „Sommernachtstraum", den er in die Zeit des Theseus 49

„Herzog von Athen" verlegte. Vielleicht hatten die alten Griechen auch schon Dilettantenbühnen. Aber deren Zahl war vielleicht noch nie so gross, wie in den Ländern deutscher Zunge nach den Stürmen der Revolution und der Revolutionskriege, in der Zeit bleiernen Schweigens, das nachher den erregten Deutschen aufgezwungen worden war. Die einen wandten sich den Liebhabertheatern zu, um mit Schillerschem Pathos die Forderung der Gedankenfreiheit in die Welt hinauszudonnern, die anderen, um mit Nestroys ätzender Satire sich über den Zustand, in dem sie lebten, lustig zu machen, oder sich ohne alle tieferen Nebengedanken über das Elend der Welt hinwegzulachen oder -zuträumen. Wie in so vielen anderen Orten Österreichs bildete sich auch in Mödling nach 1830 ein Liebhabertheater. Anton, der seinen Wohnsitz wieder in Mödling aufgeschlagen hatte, und seine Schwester Minna taten eifrig mit. Minna lernte dabei den Maler Altmann kennen, mit dem sie sich bald verlobte zu einem sehr langdauernden Brautstand, wie wir gesehen. Über Antons Leistungen als Schauspieler sind uns Mitteilungen nicht bekannt. Sie werden nicht sehr grossartig gewesen sein, denn auf den Theatern, die ihn beschäftigten, bekam er die verschiedensten Rollen zu spielen, nie aber eine bedeutende. Indes braucht ein Theater nicht bloss Schauspieler, sondern auch Dekorationen. Zu deren Schaffung war unter den Mitgliedern der Mödlinger Bühne neben dem akademischen Maler Altm'ann der Akademiker, Zeichenlehrer und Wachsbossierer Jaich besonders befähigt. Die beiden machten sich daran, Theaterdekorationen zu malen. Für Altmann blieb das lose Spielerei neben der Staffeleimalerei, die er betrieb. Jaich dagegen gewann solches Interesse für die Arbeit, er wusste ihre eigenartige Technik bald zu meistern, dass die Theaterwelt auf ihn aufmerksam wurde. Eine Reihe kleiner Theater um Wien herum liess sich von ihm Dekorationen malen. Sie zahlten ganz schön dafür. Nicht mehr von der Wachsbossiererei, sondern von der Theatermalerei her winkte nun dem bis dahin so armen Jaich eine Quelle lohnenden Erwerbs. Von da an bis zu seinem Lebensende blieb er Theatermaler. Es war die Liebhaberbühne, die ihm den Weg dazu zeigte. Am 24. Juni 1842 schrieb er seinem Freund, dem Schauspieler Heinrich Strampfer — dem Vater des später sehr" bekannt gewordenen Theaterdirektors Friedrich Strampfer. Heinrich selbst fiel im Oktober 1848 im Kampfe Wiens gegen Windischgrätz auf einer Barrikade. In dem Brief Jaichs lautet ein Satz: „Das Andenken an mein Haustheater in Mödling kann ich wohl nicht leicht verwischen, da es mir manches Weh bereitet hat und mich zuletzt auf die Bahn warf, auf der ich jetzt mein Brot erringe". Im Jahr 1833 war Jaich als Dekora50

tionsmaler schon so bekannt, dass er eine Anstellung als solcher bei dem Landestheater in Brünn erhielt, wo er drei Jahre lang verblieb. Er war dort unter dem Namen Kolmar tätig. Bald, nachdem er sich in Brünn sesshaft gemacht hatte, bereitete sich ein nicht minder wichtiger Abschnitt seines Lebens vor. Er glaubte nun, seine Zukunft sei so gesichert, dass er es wagen dürfte, eine Lebensgemeinschaft einzugehen. 6. A L S

DER

GROSSVATER

DIE

GROSSMUTTER

NAHM

Am 30. Dezember 1834 schrieb Minna Jaich von Mödling an ihren Bruder nach Brünn: „Was uns den Winter noch erträglich macht, ist, dass wir die Bekanntschaft der Familie Weiss machten. Ihr (der Witwe Weiss) Mann war Hofrichter in Heiligenkreuz. Nach seinem Tode zog sie nach Mödling. Sie lebt mit ihrer Familie sehr eingeschränkt von der ihr ausgeworfenen Pension, weshalb sie auch recht gut zu uns passt." Das ist alles, was uns an Mitteilungen über die Herkunft der Familie Weiss erhalten ist. Woher der Hofrichter kam, von dem nicht einmal der Taufnamen berichtet wird, woher seine Frau Eleonore, wissen wir nicht. Dem Familiennamen nach, der nicht immer gleich geschrieben wird, einmal mit s und einmal mit ss, stammte Herr Weiss aus einem deutschen Sprachgebiet. Vielleicht entsprach er vollständig den Anforderungen der „Blubopolitik", war rein deutschen Stammes. Bei seiner Frau ist das weniger sicher. Sie hatte eine Schwester Marie und noch andere Verwandte in Prag. Als Frau Eleonore Witwe wurde, hatte sie ihrem Gatten bereits zahlreiche Kinder geboren. Ich weiss nicht mehr ihre genaue Zahl, ich glaube, es waren 16 oder sogar 18. Doch was für den „Kindersegen" jener Zeit überhaupt galt, traf für den der Familie Weiss in besonders hohem Masse zu. Er war gleichbedeutend mit dem Fluch einer hohen Kindersterblichkeit. Nur wenige der Kinder erreichten das Alter der Reife, und auch von diesen erwiesen sich wenige als lebenskräftig. Ich habe von den Weiss'schen nur vier Mitglieder persönlich kennengelernt, die anderen waren bereits ins Grab gesunken. Von diesen vieren starben noch zwei vor ihrer Mutter. An dem Sarg standen nur noch zwei ihrer Kinder. So wenig lebenstüchtig diese sich erwiesen hatten, so lebenszäh war Mutter Eleonore. Sie wurde 95 Jahre alt. In unseren Tagen hätte sie gewiss einen Preis für ihre ausserordentliche Fruchtbarkeit bekommen. Und doch bezeugte das Endresultat nur, wie kurzsichtig und gedankenlos die Diktatoren von heute sind, die aufs eifrigste die sittliche Pflicht predigen, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen, wie immer die Verhältnisse für die Nachkommenschaft liegen mögen. Sonderbarerweise zählen zu den eifrigsten 51

Predigern Zölibatäre sowohl der katholischen Kirche wie auch sehr weltliche Herren, die kein Eid, sondern eher unnatürliche Neigung von Ehe und Kinderzeugen fernhält. Wie viele Frauen durch Geburten, wie viele Männer durch Überarbeit und Sorge für eine zahlreiche Familie vorzeitig erschöpft, wie viele Kinder dieser erschöpften Menschen lebensunfähig geboren, wie vielen von ihnen durch eine Überzahl von Geschwistern die Lebensrationen zu Hungerrationen herabgesetzt werden, das alles kümmert die Geburtenfanatiker nicht. Zahlreiche Krüppel und Särge machen ihnen nichts aus, wenn nur gleichzeitig recht viele Wiegen gezählt werden. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wusste man freilich noch recht wenig von Mitteln zur Empfängnisverhütung. Die Kinder wurden von Gott gesandt, solche Sendungen zu verhüten, hätte geheissen, Gott in den Arm zu fallen. Heute bietet die ärztliche Technik eine Fülle von Mitteln zur Empfängnisverhütung. Aber politisch und sozial sind wir über die Zeit von vor hundert Jahren nicht hinausgekommen, nicht in der Praxis, nicht im Denken weiter Kreise, sondern eher dahinter zurückgegangen. Die Mädchen der Mödlinger Familien Jaich und Weiss schlössen sich im Winter 1834 eng aneinander an. Zu ihnen gesellte sich für einige Tage im Frühjahr der Bruder Anton, der einen Osterurlaub zur Reise von Brünn nach Mödling benutzte. Ehe er Brünn verlassen, hatte er Abschied für immer von einer jungen Schauspielerin Marie genommen, die vom Brünner Theater abging. Ein Jahr lang hatte er für sie geschwärmt und hatte sie ihm Hoffnungen gemacht, um ihm schliesslich zu sagen, sie könne ihm nicht angehören. Doch versicherte sie ihm zum Trost, er werde an der Hand eines braven Mädchens glücklich werden. Und in der Tat sollte er den verheissenen Trost bald finden und die beglückende Hand erlangen. In Mödling lernte er die Weiss'schen Mädchen kennen. Er war für sie kein ganz Unbekannter. In mancher Winternacht, wenn sie mit den Jaich'schen Mädchen zusammensassen, hatte Minna einen Roman vorgelesen, den ihr Bruder verfasst hatte. Dieses Manuskript hat sich nicht erhalten. Ihrem Bericht darüber fügt Minna hinzu: „Alle deine Gedichte wurden schon mehrmals vorgelesen, nämlich die ich habe. Sie freuen sich so, dich kennenzulernen, dass sie mit Ungeduld Ostern erwarten". Nun war Ostern gekommen und der gefühlvolle Dichter auch. Er enttäuschte die Weiss'schen Mädchen nicht. Aber auch ihm blieben sie nicht alle gleichgültig, obwohl ihm sein Urlaub nur wenige Tage Zeit gab, sie kennenzulernen. Wieder was es eine Marie, die sein Herz gewann. Als er nach Brünn zurückgekehrt war, wollte sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen und ebensowenig er ihr. Schon am 28. Mai gestand er seiner Schwester Minna seine heisse 52

Liebe in einem Brief, den Marie zu lesen bekam. Am 20. Juni schrieb er ihr selbst. Und am 3. Juli wendete Anton sich bereits an Mutter Eleonore und bat sie um die Hand ihrer Tochter. Von „ganzem Herzen" erteilte ihm diese am 10. Juli ihren mütterlichen Segen. Das alles ging brieflich vor sich, Anton weilte ja in Brünn. Doch sah er sich bereits nach einer günstigeren Stellung um. Der Komiker Scholz, der besonders in Nestroyschen Stücken glänzte, gastierte in Brünn, sah dort die Leistungen des Herrn „Kolmar", und sie fanden so sehr seinen Beifall, dass er den Wiener Direktor Carl anregte, den Brünner Dekorateur aufzufordern, er möge an sein Theater in Wien übersiedeln, vgl. Brief vom September 1835. Der Zufall wollte, dass gleichzeitig auch Direktor Pellet aus Graz ein Angebot machte, das günstiger war. Anton Jaich — nicht mehr Kolmar — nahm dieses an im November. Doch erst zu Ostern 1836 lief sein Vertrag mit Brünn ab; da erst durfte Anton nach Graz übersiedeln. Und noch länger musste er warten, bis er heiraten konnte, was damals keine einfache Sache war. Eine Menge Hindernisse der weltlichen wie der kirchlichen Bürokratie waren zu überwinden, ehe die Eheschliessung gestattet wurde. Am 20. Juni 1836 schreibt ihm seine Marie, er solle nicht vergessen, zur Trauung von seinem Pfarrer ein Zeugnis mitzubringen, dass er in Religion geprüft sei. Endlich am 6. Juli 1836 konnte die Vermählung stattfinden. Das junge Paar reiste gleich nach Graz ab. Am 11. Juni 1837 kam schon das erste Kind zur Welt, ein Mädchen. In der Taufe erhielt es die Namen Wilhelmine Eleonore Anna. Rasch folgte ihr ein zweites Mädchen, am 19. Juni 1838. Man nannte es Flora. Und im nächsten Jahr, 25. Dezember 1839 kam als Christbescherung ein drittes Kind, diesmal ein Knabe Viktor. Ein wahres Wunder, dass es bis 1841 dauerte, bis das vierte Kind kam, das dritte Mädchen, Mitte Juli. Es wurde auf den Namen Luise getauft. Doch damit war der Kindersegen nicht abgeschlossen. Im April 1843 gab es abermals ein Kind, den Knaben Julius. Ihm folgte, ich glaube 2 Jahre später, wieder ein Knabe, Oskar, dann 1846 ein Mädchen Marie. Und endlich im Revolutionsjahr, am 28. Juni 1848 kam der jüngste meiner Onkel zur Welt, der nach seinem Vater Anton genannt wurde. Acht Kinder binnen 12 Jahren, das war zu viel für den zarten Organismus meiner Grossmutter, deren Gesundheit überdies durch stete Geldsorgen unterminiert wurde, die mit der Geburt jedes neuen Sprösslings zunahmen, trotz des unerschütterlichsten Vertrauens zu Gott, der nicht nur die Kinder sende, sondern auch die Mittel, sie zu ernähren. Sie hatte viel an Krankheiten zu leiden, die wieder die Geldsorgen erhöhten. Schliesslich zeigten sich alle Anzeichen von Tuberkulose, der sie 1859 erlag. 53

Merkwürdig nun, dass die Söhne alle in dieser Beziehung nach der Mutter schlugen. Zwei von ihnen, Julius und Oskar, starben noch als Kinder, die beiden anderen, Viktor und Toni, wuchsen wohl zu Männern heran, doch war Viktor schon von früher Jugend an schwächlich, skrofulös gewesen. 1871 starb er. Am ältesten unter den Söhnen wurde Toni, obwohl auch er tuberkulös war. Immerhin überlebte er seinen älteren Bruder um drei Jahrzehnte. Weit lebenskräftiger erwiesen sich die Mädchen, wenigstens die älteren. Die jüngste, Marie, wurde nur wenige Wochen alt. Von den drei älteren Schwestern dagegen beschritt 1 jede das siebzigste Lebensjahr. Meine Mutter wurde wohl ebenfalls von der Tuberkulose befallen, und zwar sehr früh, schon mit etwa 23 Jahren, doch erfreute sie sich einer so robusten Konstitution, namentlich war ihr Magen so kräftig, dass sie sich durch mehr als sieben Jahrzehnte nicht nur am Leben, sondern arbeitsfähig erhielt trotz immer wieder sich erneuernden Bluthustens, der zu wiederholten Malen so intensiv auftrat, dass die Ärzte sie aufgaben. Als ständige Todeskandidatin erreichte sie ein Alter von 75 Jahren. Es scheint, als habe sich die Lebenskraft des Vaters, der 71 Jahre alt wurde, auf seine Töchter, die Schwächlichkeit und Kränklichkeit der Mutter auf die Söhne vererbt. Nun ist es aber bemerkenswert, dass diese Art der Vererbung nicht für alle ererbten Merkmale der Nachkommen gilt. Grossvater und Grossmutter Jaich hatten beide schwarze Haare und dunkle Augen. Wie ihre Eltern beschaffen waren, weiss ich nicht. Dass ihre Kinder auch schwarzhaarig und dunkeläugig waren, ist nicht zu verwundern. Wohl aber, dass sich unter ihnen eine Ausnahme fand, die blonde und helläugige Luise. Und wieder anders gestaltete sich die Vererbung der geistigen Eigenschaften. Wir finden auf der einen Seite den künstlerisch hochbegabten, dabei von stetem Drang nach Erkenntnis beseelten Anton Jaich und auf der anderen Seite seine Frau Marie, die höchst liebenswürdig und pflichtgetreu dasteht, von der aber kein Zug von künstlerischem Streben und Wissensdrang berichtet wird. Ihre Kinder teilten sich in dieser Beziehung in zwei Gruppen, die jedoch mit der Einteilung in Knaben und Mädchen nicht zusammenfielen. Künstlerisch hochbegabt zeigten sich Minna und Luise, sowie Viktor. Doch deren Begabung war nicht einheitlich. Luise und Minna hatten hohe Begabung für die Bühne. Viktor auch, doch leistete dieser vielleicht noch mehr als Zeichner und Maler, während sich die beiden Mädchen in dieser Beziehung als ganz unbegabt erwiesen. Flora und Toni wieder gerieten geistig der Mutter nach. Unter den künstlerisch Begabten wieder nahm Minna eine einzigartige Stellung So in der Abschrift; es soll wohl heissen „überschritt". B. K.

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ein. Sie allein erbte vom Vater den unersättlichen Wissensdurst, den Drang nach steter Höherbildung. Und sie allein erbte von ihm auch den Drang, allem, was sie bewegte, in eigenen Schöpfungen Ausdruck zu geben. Man sieht, die Mendelschen Vererbungsgesetze, die so einfach bei Hühnern und Hülsenfrüchten erscheinen, gestalten sich sehr kompliziert bei Menschen, wenigstens beim Kulturmenschen mit seinen so weit getriebenen Rassenmischungen und seinen so differenzierten Lebensbedingungen. Man kann den Gang der Vererbung nach rückwärts mit einiger Sicherheit verfolgen, aber man ist nicht so weit, wird vielleicht nie so weit kommen, jedem Ehepaar bei seiner Hochzeit schon mit Bestimmtheit vorhersagen zu können, wie beschaffen seine Kinder sein werden. Die Gelehrten des Dritten Reichs wollen zwar in seinem Bereich nur echt deutsche Menschen züchten — ohne zu verraten, was sie sich unter diesem Wort vorstellen — und jede anders geartete Nachkommenschaft dort verhindern. Aber diese Wissenschaft des Dritten Reichs ist erst mit Hitler aufgekommen, reicht nur so weit wie seine Kommandogewalt über die Gelehrten, und mit Hitler wird diese neue Wissenschaft wieder verschwinden, ohne Spuren irgendeines Fortschritts zu hinterlassen. Neben den vererbten Naturanlagen der Eltern wurden für die Gestaltung der Familienverhältnisse auch die ökonomischen Verhältnisse entscheidend, in die das Ehepaar Jaich geriet. Wir haben schon bemerkt, dass sie sehr armseliger Art waren. Auch sie waren ererbt, sowohl von dem Wachsbossierer Johann, wie von dem Heiligenkreuzer Hofrichter und ihren Witwen mit den dürftigen Pensionen. Wo immer Anton hinkam, sein Gehalt blieb stets klein, reichte kaum zur Befriedigung der unerlässlichsten Bedürfnisse, gestattete keine Ersparnisse. Das wirkte um so verheerender, als Antons Bleiben, wie das der meisten Theaterleute, nirgends ein dauerndes war. An den Theatern, an denen er wirkte, wechselten immer wieder die Direktoren und mit ihnen Schauspieler und Theatermaler. Das bedeutete nicht viel für Theaterleute ohne Kinder. Für Familienväter mit zahlreichen Familien wurde jeder Umzug zu einer Katastrophe. Der Anlass zu Schulden und Entbehrungen. Die Ubersiedlung des Junggesellen von Brünn nach Graz 1836 war natürlich ohne Schwierigkeiten vor sich gegangen. Aber ganz anders gestalteten sich die Dinge, als Anton Jaich mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern 1839 von Graz nach Linz übersiedeln musste. Keine Eisenbahn führte dahin, die Strassen waren stellenweise miserabel und die Reise ging im Februar vor sich. Am 10. morgens wurde sie angetreten und erst am 14. mittags war das Ziel erreicht. Von da an blieb die Familie drei Jahre lang in Linz, im April 1842 hiess es 55

wieder wandern, diesmal mit vier Kindern. Doch ging es diesmal schneller und bequemer, zuerst mit dem Dampfschiff die Donau abwärts nach Wien, dann von dort über den Semmering mit einem Lohnkutscher binnen zwei Tagen nach Graz. Doch dort behagte es Jaich gar nicht und gerne ergriff er eine Gelegenheit, die sich ihm 1844 bot, nach Prag an das „KöniglichBöhmische ständische Theater" als Dekorationsmaler zu kommen. Das schien endlich eine Dauerstellung werden zu sollen. Er konnte in Prag tatsächlich bis Anfang 1862 bleiben. Mit Ausnahme der zwei schon im zartesten Alter verstorbenen sind alle Kinder dort herangewachsen, sie wurden ihrer geistigen Eigenart nach Prager. Zwei von ihnen sind aus Böhmen nur vorübergehend herausgekommen. Viktor nicht, der in Prag einen Erwerb fand, und ebenso Luise nicht, die 1860 einen tschechischen Apotheker heiratete. Auch Minna, meine Mutter, fand ihren Gatten in Prag, wovon noch mehr zu sagen sein wird. Die Grossmutter Marie ist dort gestorben, ebenso Viktor und schliesslich Luise. Anton Jaich aber musste Prag wieder verlassen. Der Transport der Familie hatte sich gegen früher vereinfacht, nur ein Sohn Toni begleitete ihn. Flora, die versuchte, sich als Schauspielerin zu betätigen, folgte ihm bald. Leider befand sich das Wiener Theater in der Josefstadt, an dem Anton 1862 eine Stelle gefunden hatte, in sehr desolaten Verhältnissen, wurde bankrott. Daher hiess es 1866 wieder weiter wandern, diesmal nach Klagenfurt. Doch dort war es erst recht trübselig, im April 1867 finden wir ihn wieder woanders, in Linz. Noch war der jüngste Sohn Toni bei ihm. Doch auch der verliess ihn bald, um anderswo sein Brot zu suchen. Im November 1867 ging er schon nach Prag zu Viktor, um als Photograph, namentlich durch Retouchieren und Bemalen von Portraits, angeleitet von seinem Bruder, sein Brot zu verdienen. Flora trat an Stelle Tonis, doch nicht gleich. Erst 1868. Sie hatte als Schauspielerin keine Seide gesponnen, aber dann auch die verschiedensten anderen Verdienstmöglichkeiten ohne dauernden Erfolg versucht, so als Gesellschafterin bei einer alten Dame oder Kassiererin in einem Frauenbad (Pyrawarth). Eine Zeitlang war der arme Anton völlig allein — bereits 65 Jahre alt. Damals wohl dichtete er: „Des Einsamen Klage und Trost": Keinen aus der fremden Menge Kümmert des Verwaisten Sein, Und im buntesten Gedränge Steht er einsam und allein. 56

Jeder Baum hat seine Stätte, Jeder Vogel hat sein Nest, Und in ihrem eignen Beete Wurzelt jede Blume fest. Er nur weilt an fremdem Herde Und zieht heimatlos herum, Denn nicht eine Scholle Erde Nennet er sein Eigentum. In des Alters siechen Tagen, Wenn der Körper abgenützt, Lauscht kein Ohr auf seine Klagen, Naht kein Arm sich, der ihn stützt. Nur einen Trost weiss er: das Bewusstsein, nie jemand ein Leid verursacht zu haben. Und kein traurig Leidgestöhne Folgt ihm in die Grube nach. Die Einsamkeit wurde gemildert, als Flora zu ihm kam. Aber geistige Anregung bot sie ihm ebensowenig, als sie ihm durch Toni geboten worden. Gerade von den drei noch lebenden Kindern, die ihm am kongenialsten waren, sollte er getrennt bleiben, bis an sein Lebensende. Und so nahe es rückte, noch war ihm ruhiges Bleiben nicht beschieden. Die Direktion des Linzer Theaters ging 1873 in neue Hände über. Der Wechsel versprach nichts Gutes. Inzwischen war Viktor gestorben, und der in Prag allein zurückgebliebene Toni hatte eine Stellung in Brünn angenommen. Er riet seinem Vater, an den dortigen Theaterdirektor Dr. Fränkel zu schreiben, der brauche einen Maler. Anton befolgte den Rat und schon am 4. März 1873 konnte er melden, er habe mit Fränkel abgeschlossen. Nicht mit leichtem Herzen, denn in Linz hatte er sich schon eingewöhnt. In der Tat fand er bald die Brünner Verhältnisse unleidlich. Doch hatte er dort seine letzte Leidensstation erreicht. Vor weiterem Wandern bewahrte ihn der Tod. Sein letzter Brief an seine Tochter Minna war vom 26. Januar 1875 datiert. Der Brief atmete noch höchsten Wissensdurst. Er liess mich bitten, ihm die Bücher von Darwin bald zu schicken, die ich ihm versprochen. Damit würde ihm „ein sehnlicher Wunsch erfüllt". Er sei darauf gespannt, wie sich die Deszendenztheorie mit seiner Philosophie vereinbaren lasse. Er sei Pantheist. Mitten im Schaffen, mit ungebrochenem Geist, unvermutet ereilte

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ihn der Tod. Sein Scheiden war sanft und schmerzlos. Nur seine Tochter Flora weilte an seinem Sterbebett. Toni, der ihn veranlasst hatte, nach Brünn zu kommen, war im April 1874 nach Flensburg übergesiedelt, wo ihm eine Stelle winkte. Man sollte meinen, dass die wachsende Einsamkeit, die zunehmende Verkleinerung seiner Familie und seines Haushaltes wenigstens einen Vorteil mit sich gebracht hätte: finanzielle Entlastung, vermehrten Wohlstand. Doch der blieb ihm sein Leben lang versagt. Die Dürftigkeit, in der die Witwen Jaich und Weiss, meine Urgrossmütter, gelebt hatten, sie wurde als unverlierbares Erbteil vom Sohn und Schwiegersohn Anton übernommen. Geldmangel, Geldsorgen bilden seit jeher den ewigen Inhalt seiner Briefe. Das änderte sich nicht, als zwei der Töchter heirateten, der eine Sohn selbständig wurde, die Krankheiten der Gattin ein Ende nahmen, allerdings nur durch ihren Tod. Die Einnahmen wuchsen nicht, indes gleichzeitig seit der Uberwindung der Reaktion im Jahr 1859 Liberalismus, Grossindustrie, modernes Verkehrswesen in Österreich eindrangen. Damit setzte auch ein starkes und stetes Steigen der Preise ein, verderblich für alle Menschen mit fixem Geldeinkommen oder ohne die Fähigkeit zu einem Lohnkampf. Diese Fähigkeit fehlte meinem Grossvater vollkommen. E r war eine weiche, aber auch noble Natur, die jeder Streit in Geldangelegenheiten anwiderte. Nur ungern entschloss er sich zu Geldforderungen. Und seine Arbeit entfremdete ihn allen Bedingungen des Zusammenschlusses mit Gleichgesinnten und Gleichstrebenden. Seit 1866 war er stets in kleine Städte verbannt ohne jegliches Kunstleben, und in seinem Malersaal arbeitete er ganz allein. Anton Jaichs Position wurde nicht verbessert, wenn er bei landständischen Theatern angestellt war, wo er zwei Herren hatte, die Stände (oder die Provinzialverwaltung) und den Theaterdirektor. Von jedem erhielt er einen besonderen Gehalt, wobei sich einer um den andern nicht kümmerte, jeder aber auf den andern ausredete. Welche Gehälter dabei herauskamen, zeigt z.B. ein Brief Antons aus Linz vom 17. April 1867. E r war eben von Graz hingekommen. Die Stände hatten ihm einen Jahresgehalt von 375 Gulden versprochen. „Heute war ich bei Hüss und er zeigte mir den Vertrag, der schon zur Unterschrift für mich bereit lag. Aber ich wurde sehr unangenehm überrascht, als ich daraus ersah, dass ich von dem Jahresgehalt von 375 Gulden auch das Farbenmaterial, Pinsel und Farbenreiber aus eigenem beizustellen habe. Ich erklärte dem Hüss, dass, wenn ich dem Farbenreiber monatlich nur 8 Gulden bezahle und vielleicht nur um 8 Gulden Farbe verwende, mir nur 15 Gulden Gehalt verblieben, mit denen man doch unmöglich leben könne. E r zeigte mir aber, dass es mein Vorgänger auch nicht anders gehabt habe. E r sah

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recht gut ein, dass der es leichter tun konnte, da er auch eine Gage vom Direktor bezog, auf die ich vorläufig nicht rechnen k ö n n e . . . Ich habe doch überall Pech, und wenn ich meine Anforderungen noch so gering stelle, so scheint man sie noch zu hoch zu finden. Ich sagte dem Hüss, dass, wenn ich fleissig male, ich in einem Monat mehr als 30 Gulden für Farben und Farbenreiber brauchen würde." Diese Befürchtung glaubte der saubere Vertreter der Stände mit dem Hinweis darauf zu zerstreuen, dass die Stände kein Holz für die Beheizung des Malersaals bewilligten, es werde also im Winter monatelang überhaupt nicht gemalt werden! Neben den Ständen hatte es Jaich noch mit dem Direktor zu tun. Der wollte auch nichts Ordentliches zahlen. Noch am 9. Juni 1867 schrieb der Grossvater von Linz an meine Mutter: „Ich habe 50 Gulden Monatsgage verlangt, aber ich fürchte, es wird ihm auch das noch zu viel sein". Sie waren ihm wirklich zu viel. Mehr als 30 Gulden wollte er nicht zahlen. Am 22. Juni schreibt der Grossvater: Er habe die 30 Gulden akzeptiert. Sein Vorgänger hatte von der Direktion nur 16 Gulden bekommen. Doch mit der Herabdrückung auf 30 Gulden war die Schäbigkeit des Direktors nicht erschöpft. Wir erfahren in einem Brief vom 15. Februar 1869, dass er einen Unterschied zwischen seinen Mitgliedern machte, da im Theater während des Sommers nicht gespielt wurde. Nur einige Kräfte wurden für das ganze Jahr engagiert, die meisten nur für den Winter. Zu denen gehörte auch Jaich. „Ich kann mir durch fünf Monate die Sonne in den Magen scheinen lassen, um etwas Warmes zu haben". Dabei wurde für Jaich sein künstlerisches Gewissen verhängnisvoll. Bei seinem Malen dachte er stets nur an die ästhetische Wirkung seiner Arbeit, nicht an die Farbenrechnung, deren Bezahlung der tückische Vertrag ihm zuwies. Diese Rechnung schwoll gerade dann, wenn der Grossvater am fleissigsten arbeitete, bedrückend an. Am 2. Oktober 1868 schreibt Jaich seiner Tochter in der Tat von einer Theaterdekoration, die sehr gefiel, ihm einen Hervorruf verschaffte. Direktor Thoma hatte von dieser Dekoration gar nichts gewusst und war um so angenehmer überrascht, „weil sie ihn auch nichts gekostet hat". Doch darf man meines Grossvaters ewige Geldnöte nicht bloss seinem weichen, gütigen Charakter und seiner Abneigung gegen jeden Streit um Geld zuschreiben. Sie entprossen zum grossen Teil aus dem Charakter der Theaterwelt. Die Bühne als Geschäft betrieben ist stets ein Hazardspiel, bei dem viel gewonnen, aber auch viel verloren werden kann. Die Stimmung des Publikums ist unberechenbar, manches grandiose Werk, manches, das ein Kassenstück wurde, ist bei seiner ersten Aufführung durchgefallen, so Richard Wagners „Tannhäuser" 1861 und Bizets „Carmen" 1875 in Paris, Grillparzers „Weh 59

dem, der lügt" 1834 in Wien. Wie jeder Hazardeur, gelangt auch ein Theaterdirektor leicht an den Abgrund des Bankerotts. Das drängt ihn zu grösster Sparsamkeit, ja Schmutzerei — man behauptet sich am ehesten als Direktor, wenn man ein Schmutzian ist. Auch Anton Jaich musste so manches Mal erleben, dass sein Direktor die Gagen reduzierte, um der Pleite zu entgehen und ihr schliesslich doch verfiel, was nun völligen Stillstand jeder Gehaltszahlung bedeutete. So schreibt z.B. Anton Jaich aus Wien 28. April 1862 über das Josefstädter Theater, damals unter der Direktion Hoffmann: „Von der Märzgage habe ich bis heute 25 Gulden zusammengebettelt, in einigen Tagen ist die Aprilgage fällig, aber nicht die geringste Aussicht, dass wir die vom März erhalten... Wie hier verlautet, will sich Hoffmann am 1. Mai insolvent erklären, und dann will Pohl das Geschäft in die Hand nehmen und die Gagen der Mitglieder reduzieren." Doch die Reduzierung half nichts. Am 22. August 1862 schrieb Anton seiner Tochter: „Viele Mitglieder haben die Junigagen nicht erhalten. Ich war so glücklich, mir die halbe Juligage zu erbetteln." In dem gleichen Brief berichtet er über ein Verhalten von Behörden, die auch den armen Theaterleuten ihren redlich erworbenen Arbeitslohn vorenthielten: „Ich war von der Pokornyschen Kridamasse mit (dem Maler) Grünfeld zum Dekorationsschätzmeister ernannt worden. Dafür verlangten wir jeder 100 Gulden. Da diese Schätzung bereits seit einem Monat vorüber ist, so hoffe ich von Tag zu Tag dieses Geld zu erhalten, aber leider kam noch immer nichts und wie ich jetzt gehört habe, kann es noch lange dauern, bis diese Schätzungsgebühren bezahlt werden." Ein Arbeiter, der nicht über Protektion verfügte, hatte lange zu warten, ehe die Behörden ihre Schlamperei und Gefühllosigkeit überwanden und ihm den fälligen Lohn auszahlten. Bei den Theatermenschen wurde die Lohndrückerei oft dadurch erleichtert, dass viele von ihnen einen Nebenerwerb hatten, namentlich die kleinen Leute. Die Statisten betrieben sogar meist ein Hauptgewerbe ausserhalb des Theaters. Die Choristen und Darsteller kleiner Rollen waren dazu in der Regel nicht imstande. Doch fanden auch sie Zeit, neben der Bühnenarbeit noch eine andere bezahlte Tätigkeit zu verrichten. Und gar von den weiblichen jungen und hübschen darstellenden Mitgliedern fand es der Direktor selbstverständlich, dass jede einen wohlhabenden Freund hatte. In der Tat kam gar manches lebenshungrige Mädchen, auch wenn es kein Talent hatte, zum Theater, weil dort die beste Möglichkeit es erwartete, die eignen Reize einem zahlungsfähigen Publikum zu annoncieren und ihren Glanz und damit auch ihren Preis zu erhöhen. Für diese Mitglieder spielte die Höhe des Gehalts keine Rolle, ihre Konkurrenz drückte aber auch die Gagen der sittenstrengen Schauspielerinnen oder Sängerinnen 60

herab. Fanden sie nicht einen Rückhalt bei einem Ehegatten oder bei wohlhabenden Eltern, dann wurde ihre Lage verzweifelt, wenn sie nicht begabt und energisch genug waren, die Darstellung erster Rollen zu erlangen. Und selbst diese wurden oft miserabel bezahlt. Nach dem bereits erwähnten Brief meines Grossvaters vom 28. April 1862 erhielt in dem Theater in der Josefstadt die erste Liebhaberin jahrelang eine Monatsgage von 20 Gulden. Auch bei den Dekorationsmalern bestanden viele Gelegenheiten zu einem Nebenerwerb, und mit dem rechneten die Direktoren und bemassen danach die Gehälter. Die Herstellung von Theaterdekorationen ist nicht ein Prozess, der sich gleichmässig stets in demselben Tempo vollzieht. Kommt eine Novität, die neue Dekorationen braucht, dann wird fieberhaft gearbeitet. Später kann es dann Pausen von Wochen, ja Monaten geben, in denen nichts zu tun ist. Wir haben gesehen, wie in Linz der Vertreter der Stände den winzigen Gehalt damit erklärte, dass im Winter der Malersaal nicht geheizt werde. Und im Sommer sperrte wieder der Direktor, dem das Theater verpachtet war, den Betrieb völlig und zahlte dem Maler überhaupt kein Gehalt. Diese Pausen konnte und sollte der Dekorationsmaler zu Arbeiten für andere Personen und Institutionen als die regelmässigen „Brotgeber" benutzen. Er konnte an seinem Wohnort Säle mit Wandmalereien oder festlichem Schmuck versehen, er konnte auch, und das kam vor allem in Betracht, für fremde Theater malen, die zu klein waren, sich den Luxus eines eigenen Malers gestatten zu können. Der Maler sucht entweder dieses Theater auf und malt dort oder fertigte die Dekorationen in seinem Wohnort an und verschickte sie dann. So hat Jaich von Graz aus wiederholt Olmütz und Troppau besucht und die dortigen Theater mit neuen Dekorationen ausgestattet. Von Linz aus arbeitete er für Salzburg, Wels, Ischl. Doch diese Tätigkeit erheischte eine gewisse Rührigkeit und Beweglichkeit, die dem greisen Anton im letzten Jahrzehnt seines Lebens immer mehr fehlte. Dabei machte sich gerade in diesem Zeitraum eine neue schwere Konkurrenz stärker bemerkbar: der Grossbetrieb besonderer, von jedem Theater unabhängiger Ateliers von Theatermalern. In Grossstädten gelegen, mit allen ihren künstlerischen Anregungen, Behelfen, mit einer Reihe von Gehilfen, die sich spezialisieren konnten, zeigten sich solche Unternehmungen immer mehr den Malerateliers namentlich in den Kleinstädten überlegen, wo ein vereinzelter Maler ohne Anregungen und Behelfe im Dienste eines Theaters schaffen sollte. Seit dem Ende der fünfziger Jahre war im vorigen Jahrhundert wie in Deutschland so auch in Österreich der Kapitalismus mit Macht hereingebrochen, hatte alle alten Traditionen überwunden und neuen Auffassungen auch in der Kunst Bahn gebrochen. Die naive Bieder61

meierei hörte auf, das Publikum wurde anspruchsvoll auch im Theater, nicht in bezug auf den Ideengehalt der Stücke, wohl aber in Beziehung auf ihre Ausstattung. In Kostümen und Dekorationen forderte man einerseits möglichst viel Prunk, auf der anderen Seite möglichst grosse historische oder geographische Treue. Die Meiningerei war einer der Gipfelpunkte dieser Entwicklung, wenigstens in Deutschland. Gerade in dieser Zeit kam mein Vater in die Lage, dieser neuen Richtung Rechnung tragen zu können, mit Geschick, Wissen und Energie. Es gelang ihm, in Wien 1871 einen Grossbetrieb der Theatermalerei ins Leben zu rufen, der gedieh. Der Grossvater dagegen, 23 Jahre älter, müde, in kleine Nester verbannt, war nicht imstande, diesen Weg einzuschlagen. Die Grossbetriebe haben die Alleinbetriebe der Provinztheater teils umgebracht, teils herabgedrückt. Aber Jaich glaubte, es nur in einem stillen provinziellen Kleinbetrieb noch aushalten zu können. Zum Kapitalisten taugte er absolut nicht, dagegen wehrte sich sein Freiheitsdrang mit aller Macht dagegen, etwa als Gehilfe in einem Grossbetrieb zu arbeiten, sich fremder Leitung unterzuordnen. In Linz wurde ihm am 1. Januar 18621 gekündigt. Da wandte er sich an meinem Vater am 2. Januar mit der Bitte, ihm irgendwo ein Plätzchen als Dekorationsmaler zu verschaffen. Er wiederholte diese Bitte am 27. Januar und wies darauf hin, dass ihm in Linz angeboten sei, als Dekorationsmaler zu bleiben, jedoch sollte das Gehalt des Landesausschusses und das des Direktors vereint werden. Beide zusammen hatten bis dahin 71 Gulden monatlich betragen. Diese Summe sollte künftighin auf 50 Gulden herabgesetzt werden. Dafür sollte Jaich neben der Stelle eines Dekorationsmalers auch die eines Theatermeisters versehen. „Der Theatermeister hat 40 Gulden, somit käme ja der Maler nur auf 10 Gulden." Gegen diese grausame Schamlosigkeit bäumte sich sogar die Lammsgeduld meines Grossvaters auf. Er bat meinen Vater „inständigst", seiner „eingedenk" zu sein. Das tat dieser auch, doch gab es keine Aussicht auf eine selbständige Stellung ausserhalb Wiens. Leider ist der Brief nicht erhalten, den er von Wien darüber erhielt. Wir haben nur Jaichs Antwort vom 18. Februar. Da heisst es: „Der gute Kautsky gibt sich so viele Mühe, mir in Wien ein Unterkommen zu verschaffen, und ich bin ihm dafür zum wärmsten Dank verpflichtet. Aber offen gestanden, trenne ich mich ungern von Linz, wo man mich kennt, achtet und schätzt, um in Wien, wo ich, abgesehen von meinen Verwandten, fast ein Fremdling bin, wieder eine neue Lebensweise zu beginnen. Mit dem Alter verliert sich die Lust am Wechsel und man sehnt sich nach Stabilität, bis man 1 So in der Abschrift. Es soll wohl, wie aus dem folgenden Text hervorgeht, 1872 heissen. B.K.

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endlich das letzte Haus bezieht." Er führt dann aus, dass er sich in Wien nie wohl befunden, dass er für das Gewühl einer Grossstadt nicht taugt. „Ich habe überhaupt eine Art Scheu vor Wien, da es mir in dieser schönen Stadt nie gut gegangen ist." Er habe daher mit der Direktion abgeschlossen, nehme die 50 Gulden Monatsgehalt an, doch übernehme er neben der Malerei nur die Überwachung von Proben und Vorstellungen bei grösseren Stücken. Den Weg nach Wien hatte er sich damit versperrt. War es wirklich nur die Scheu von der Grossstadt, die ihn veranlasste, keine Stellung dort zu übernehmen? Ich glaube, da muss noch ein wichtigeres Moment mitgespielt haben. Was mein Vater dem Grossvater anbieten konnte, war kaum etwas anderes als eine Stellung als Maler in seinem eigenen Grossbetrieb, den er 1871 gegründet hatte. Und dagegen lehnte sich Antons Selbständigkeitsdrang auf. Das wollte er wohl dem Schwiegersohn nicht sagen. Solange er beim Theater tätig war, hatte er als Künstler, als Maler nie unter fremder Leitung gestanden. Und jetzt sollte er sich einem anderen unterordnen? Die Freiheit stand ihm immer noch höher als alles. Derselbe Freiheitsdrang, der ihn 1825 getrieben hatte, die glänzende Stellung bei Czernys, die ihm eine bequeme Laufbahn zu eröffnen versprach, aufzugeben, hielt ihn jetzt ab, nach Wien zu gehen. Allerdings war es sein Schwiegersohn, mit dem er als Leiter seiner Tätigkeit zu tun bekommen hätte, aber gerade das mochte seine Ablehnung der in Aussicht stehenden Stellung verstärken. Er malte noch in alter Weise, hätte sich jetzt in eine ganz neue Malart einarbeiten müssen, die ihm nicht sympathisch war. Lag dabei nicht die Befürchtung nahe, er könne mit seinem Schwiegersohn in Konflikt geraten, mit der Familie, die ihm unter allen seinen Nachkommen am meisten am Herzen lag? Da nahm er lieber die grössten Entbehrungen auf sich, um sich die Freiheit und die Liebe der Seinen zu erhalten. Freilich nützte sein Opfer nicht viel. Er konnte sich in Linz nicht behaupten, musste bald (1873) nach Brünn, das ihm höchst unsympathisch war. Seine persönliche Lage dort wurde bald unerträglich. Doch um seine Person kümmerte er sich immer am wenigsten. So hoffnungslos die Zukunft vor ihm lag, er blieb bis ans Ende seiner Tage Optimist, voll Zutrauen zu dem menschlichen Geist, dem es trotz aller Schwierigkeiten schliesslich gelingen werde, dem Menschengeschlecht ein besseres Dasein zu schaffen. Und ein ungebrochener Soldat der Freiheit. In seinem letzten Brief bezeugte er sein Interesse dafür, dass ich auf dem Arbeiterball Januar 1875 mit der Sozialdemokratie in Verbindung getreten war, und rief mir zu: „Jeder muss den Uberzeugungen seiner Vernunft und seines Herzens folgen, der blinde Autoritätsglaube kann nur für Nichtdenker einen Wert haben". 63

Die besten meiner Anlagen habe ich von meinem Grossvater Jaich geerbt. Doch hätten sie sich vielleicht wenig entwickelt, wenn nicht seine Tochter Minna sie von ihm übernommen und verstärkt hätte. 7. M I N N A J A I C H S

ANFÄNGE

Von den Kindern Anton Jaichs war das Töchterchen Minna die Erstgeborene. Aber nicht nur in dieser Beziehung nahm sie unter seiner Nachkommenschaft den ersten Rang ein. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass sie sie alle übertraf durch ihren Lerneifer, ihre Intelligenz, ihre Willenskraft. Diese letztere Eigenschaft äusserte sich zunächst allerdings nur in starkem Eigensinn. Anton war darüber nichts weniger als entsetzt. Am 9. Oktober 1839 schrieb er seiner Frau: „Dass Minna noch immer etwas eigensinnig oder eigenwillig ist, hat nicht viel zu sagen, wenn man nur Sorge dafür trägt, dass es nicht in Bosheit ausartet. Alle Kinder von lebhaftem Temperament und geistigen Fähigkeiten zeigen viel eigenen Willen und bekunden dadurch ihre künftige Selbständigkeit und Herrschaft über schwächere Menschen". In demselben Brief entschuldigt er sich, dass er Minna vor ihrer jüngeren Schwester Flora bevorzuge: „Dass ich mich mit Minna mehr abgebe, macht, weil sie schon älter ist als Flora und mehr an mich gewöhnt ist". Doch auch in späteren Lebensjahren hatte Anton seinem ältesten Kinde stets mehr zu sagen als seinen anderen. Minna allein interessierte sich für alles, was ihr Vater ihr zu sagen hatte, was ihn bewegte. Noch nicht vier Jahre alt konnte sie schon lesen, und es dauerte nicht lange, so erscholl schon die Klage der Mutter darüber, dass ihre Minna so ganz anders sei als ihre anderen Kinder und stets in irgendeinem Buche stecke. Die Schule bereitete ihr keine Schwierigkeiten, bald verlangte sie nach mehr Wissen, als die dürftigen Schulen vor einem Jahrhundert in Österreich einem Mädchen boten. Schon im Dezember 1842 berichtet ihr Vater, Minna bitte ihn „fast täglich", sie eine fremde Sprache lernen zu lassen. Das Italienische vermochte er ihr selbst beizubringen, da er es von seiner florentinischen Mutter erlernt hatte. In Prag ermöglichte er es ihr dann, das Französische zu erlernen. Sie nahm dort auch Unterricht im Englischen, Klavierspielen, Zeichnen, doch da waren die Ergebnisse nicht besonders. Gehör und Zeichentalent fehlte. Die tschechische Sprache lernten die Jaichschen Kinder von selbst ohne Lehrer von ihrer Umgebung. Die Grosseltern Jaich dagegen brachten es nie so weit, die Sprache des Volkes in Prag zu verstehen. Neben Wissensdrang äusserte sich aber früh auch der künstlerische Drang in Minna, das Verlangen, durch künstlerische Ausbildung und Gestaltung der erworbenen Fähigkeiten auf ihre Umgebung zu wirken, sie zu be64

geistern, zu entzücken, zu erheben. Den Kindern der Theaterfamilie lag die Anregung, Theater zu spielen, sehr nahe. Ausser dem Jüngsten, Toni, der stotterte, haben sie alle früher oder später einmal die Bühne betreten, sogar die unbegabte Flora. Am frühesten aber zeigte sich das Verlangen danach bei Minna. Es trieb sie merkwürdigerweise zuerst zum Tanz, nicht zum gesprochenen Wort. In der Theaterfamilie galt es als selbstverständlich, dass die Kinder zu Theateraufführungen früher gebracht wurden, als zur Schule, schon vor dem erreichten sechsten Jahr. Einmal in Graz, 1843, bekam sie dabei die Fanny Elssler zu sehen, die unter anderm eine Cachucha (spr. Katschutscha) tanzte, einen spanischen Tanz. Meine Mutter berichtet darüber in ihren Erinnerungen: „Es war ein Ereignis für alle, für mich war es eine Offenbarung. Unbeschreiblich, wie es auf mich wirkte. Schönheit, Grazie, Leidenschaft waren hier verkörpert. Keine Worte, nur Bewegung. Von diesem Tage an war ich eine Tänzerin. Ich tanzte immer und überall, sobald ich Musik hörte, und mein kleiner Körper erlangte Geschmeidigkeit und Elastizität. Mit erhöhter Fertigkeit erhöhte sich die Lust daran." Was sie in Graz begonnen, setzte sich in Prag fort, wohin die Familie März 1845 übersiedelte. Wo immer Minna Musik hörte, tanzte sie, ob in einem Restaurationsgarten oder auf der Strasse nach dem Klang etwa einer Drehorgel, öfter auch im Hofe des Wohnhauses. Da erregte sie einmal grosses Aufsehen durch ihre Vorführung. Die Leute von der Strasse kamen sie anzusehen, man applaudierte ihr. Sie war glückselig. Um so schmerzlicher traf es sie, dass die Mutter, die von einem Fenster aus zugesehen und sie vergeblich gerufen hatte, nicht nur nicht ebenfalls begeistert war, sondern die junge Künstlerin mit einer Strafpredigt empfing wegen ihres frivolen Tuns, vor dem Publikum der Strasse zu tanzen. Hiermit nahm die Ballettlaufbahn meiner Mutter ein Ende, nicht aber der Drang, auf ein Publikum zu wirken. Dabei vergrub sie sich mehr noch als bisher in alle Bücher, die ihr zur Hand kamen. Und unter denen gab es nicht wenige Theaterstücke. Neben den gelesenen wirkten aufgeführte Dramen, die Minna zu sehen bekam. Was man auf der Strasse nicht durfte, probierte man nun in der elterlichen Wohnung. Die Geschwister wurden herangezogen und mit ihnen ganze Dramen aufgeführt, teils Nachbildungen solcher, die man im Theater gesehen, teils Dramatisierungen von Märchen, die man gelesen. Als die Mutter Jaich das dramatische Tohuwabohu in der Wohnung nicht mehr duldete, flüchtete Minna auf eine Kiste in einer Scheune des Hofs. Auf diesem erhabenen Podium deklamierte sie nun Monologe und Dialoge — bei denen sie beide Personen verkörperte. Doch auch diese Art theatralischer Betätigung dauerte nicht lange. Sie wurde schon in ihren Anfängen 65

gestört durch die Revolution, die am 13. März 1848 in Wien ausgebrochen war und bald nach Prag übergriff. Minna stand dem Wesen der Revolution verständnislos gegenüber. War ihr Vater selbst als Politiker sehr naiv, wie dann erst seine elfjährige Tochter. Sie hatte wohl zugehört, wenn der Vater der Mutter aus Eugen Sues „Ewigen Juden" vorlas und daraus erfahren, welch abscheuliche Menschen die Jesuiten waren. Begeistert tat sie also mit, wenn gerufen wurde: „Nieder mit den Jesuiten". Und da der Vater die Konstitution verfocht, tat es auch die Tochter, obwohl sie von dieser nicht viel klarere Vorstellungen haben mochte als jene russischen Soldaten, die sich 1825 in Warschau für die Konstitution erhoben und meinten, das sei die Frau des Grossfürsten Konstantin. Selbstverständlich interessierte sich das Kind vor allem oder überhaupt nur für die Äusserlichkeiten der Revolution. Eine der ersten Aufgaben der Aufständischen bestand in dem Organisieren einer Nationalgarde. Der Prager Künstler- und Schriftstellerverein „Concordia" stellte eine eigene Legion mit besonderer Uniform auf. Zu ihren Mitgliedern gehörten sowohl der bekannte 44-jährige Theatermaler Anton Jaich, wie der noch unbekannte 21-jährige Landschafter Johann Kautsky. Ob die beiden einander schon damals näher kennenlernten, ist ungewiss. Jedenfalls aber hatte Jaichs Tochter Minna damals nur Augen für den vergötterten Vater, der „in der schmucken Uniform imposant und herrlich aussah", wie Minna in ihren Erinnerungen berichtet. Jaich fühlte sich damals begeistert zu einem Gedicht an die Concordia, dessen erste Strophen lauteten: „Frisch auf, ihr Männer, zaudert nicht, Erfasst die Bruderhand! Sonst wird der Freiheit Morgenlicht Zum wilden Zwietrachtbrand. Auf, lasst uns fest zusammen stehen, Denn die Gefahr ist nah, Hoch soll der Eintracht Banner wehen! Vivat Concordia! Die Eintracht hat das höchste Gut, Die Freiheit uns gebracht, Sie hat des Volkes heil'ge Glut Zur Flamme angefacht. Drum wer der Zwietracht Flamme schürt, Steht als Verräter da, Nicht wert, dass er im Munde führt, Das Wort Concordia."

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Jaich hatte richtig erkannt, dass die Revolution nur gesiegt hatte durch die Einmütigkeit der Volksmassen gegen das bestehende Regime und dass die Revolution aufs ärgste bedroht war, wenn Zwiespalt innerhalb der Masse eintrat. Er sah auch sehr gut den Faktor, der in Prag solchen Zwiespalt herbeiführen konnte. In der dritten Strophe weist er darauf hin, dass nicht alle der gleichen „Sprache Band" verknüpft und er beschwört Tschechen und Deutsche, darob „dem Hass nicht Raum" zu geben und „brüderlich Hand in Hand" zu gehen. Alle Ermahnungen dieser Art fruchteten bekanntlich nichts. Im Fortgang der Revolution flammten in Österreich die nationalen Gegensätze hoch auf und jede der Nationalitäten der Monarchie kam dabei früher oder später in eine schiefe Position, in der sie die Sache der Demokratie schädigte. Die Kämpfe der Nationen gegeneinander gingen eben nicht aus Unterschieden der Grammatiken und Lexika der Sprache hervor, sondern aus tiefgehenden sozialen Gegensätzen, die durch die Revolution nicht überwunden, sondern blossgelegt und angestachelt wurden. Ich kann mir einen Exkurs darüber hier ersparen, da ich schon vorher öfters darüber gehandelt habe, z.B. in zwei Kapiteln meines Buches über „Krieg und Demokratie" (S. 412-433). In den Bezirken Böhmens, in denen die Tschechen die Mehrheit bildeten, gehörte zu ihnen die Volksmasse, die arbeitende Klasse. Die Oberschicht dagegen, die Männer von „Besitz und Bildung" zählte sich zu den Deutschen. Die Tschechen waren daher zumeist stürmische Revolutionäre, die Deutschen Prags dagegen flüchteten, um sich ihrer zu erwehren, bald unter den Schutz der kaiserlichen Bajonette, die damals unter dem Kommando des ebenso unfähigen wie blutdürstigen Windischgrätz standen. Der Hass zwischen den beiden Nationalitäten wuchs in den ersten Monaten der Revolution unter den Pragern masslos an. Die Familie Jaich kam dadurch in eine sehr bedrängte Lage. Anton und Marie Jaich waren aus Deutschösterreich gekommen, verstanden kein Tschechisch, sie wurden also zu den Deutschen gerechnet. Sonderbarerweise machte man unter den Kindern der Familie Unterschiede. Nur Minna galt als Deutsche und wurde als solche von den Nachbarkindern im Hause gemieden, sogar beschimpft. Ihre jüngeren Geschwister wurden dagegen den Tschechen zugezählt. Minna hatte ihren Umgang hauptsächlich unter Büchern gesucht, und zwar deutschen Büchern. Sie sprach schlecht Tschechisch. Ihre jüngeren Geschwister hatten sich nur wenig mit Büchern abgegeben, mehr mit der Jugend der Nachbarhäuser und der Strassen. Sie sprachen fliessend Tschechisch in einer Weise, dass sie von geborenen Pragern nicht zu unterscheiden waren. Anfangs Juni stiegen die nationalen Gegensätze in Prag zur Siedehitze, ge67

schürt durch die Offiziere der kaiserlichen Armee, die sich der tschechischen Zivilbevölkerung gegenüber die frechsten Beschimpfungen und Herausforderungen erlaubten. Am 12. Juni fand auf dem Rossmarkt (später Wenzelsplatz genannt) eine grosse Demonstration der Tschechen statt, die Windischgrätz mit Waffengewalt auseinanderjagte. Die Tschechen erhoben sich zur Abwehr, Barrikaden wurden gebaut, blutige Strassenkämpfe brachen aus, schliesslich ging das Militär dazu über, die Stadt von den benachbarten Höhen aus zu bombardieren. Das war etwas ganz Neues im Strassenkampf. Selbst von den brutalsten Schlächtern der Reaktion hatte bisher keiner gewagt, eine Hauptstadt des eigenen Landes in Brand zu schiessen. Die Methode war niederträchtig, sie erregte wildeste Erbitterun'g der Bevölkerung gegen die Staatsgewalt, aber zunächst brachte sie Erfolg. Die tschechische Erhebung wurde niedergeschlagen (16. Juni). In der Strasse, in der Anton Jaich damals wohnte, war auch eine Barrikade errichtet worden. Das Abenteuerliche dieses Baues erfüllte die Kinder mit Wonne, die ein grosses Vergnügen daran fanden, das Verkehrshindernis zu überklettern. Die Mädchen bekamen dazu Anlass genug, denn ihre Mutter stand dicht vor ihrer Entbindung und konnte sich auf abenteuerliche Expeditionen nicht mehr einlassen. Alle für den Haushalt notwendigen Einkäufe mussten Minna und Flora besorgen. Das Abenteuer gewann noch an Reiz, als das Bombardement begann, die feurigen Geschosse über die Stadt flogen. Aber die Vorbereitungen, die der Vater traf, um Weib und Kind vor den Folgen eines Treffers möglichst zu schützen, gaben doch zum Nachdenken Anlass und stimmten ängstlich. Und die Angst wuchs, als an der Moldau beschossene Mühlen zu brennen begannen und der Feuerschein die Nacht schaurig erhellte. Dazu kam die Raserei der erregten Bevölkerung gegen die Deutschen. Siebenundsechzig angesehene Deutsche hatten eine Adresse an den Fürsten Windischgrätz gerichtet, in der sie ihn ihrer loyalen Gesinnung versicherten und ihn um Schutz gegen den Mob baten. Anton Jaich wurde beschuldigt, einer der „Siebenundsechzig" zu sein, die durch das Bombardement aufs äusserste erregten tschechischen Nachbarn bedrohten ihn darob an Leib und Leben. Er- wurde durch den Acheron ebenso bedroht, wie durch die superi, die kommandierenden Gewalten. Um was der Kampf ging, hatten die Kinder nicht begriffen. Es war auch keine sehr einfache Sache. Aber als der Lärm der Waffen und die Erregung der Masse vorüber war, atmeten die Kinder doch auf, ohne viel darüber nachzudenken, was Sieg und Niederlage in diesem Fall bedeuteten. Minna hatte in alle dem Wirrwarr nur eines klar gesehen: Die Mutter 68

war in einer hilflosen Lage. Der ältesten Tochter lag es nun ob, für sie und die jüngeren Geschwister zu sorgen. Zu tun gab es genug. Am 20. Juni gebar Marie Jaich einen Knaben, der Anton getauft wurde. Er war ein Kind der Revolution, und doch sollte er unter seinen Geschwistern am wenigsten kritische oder revolutionäre Anlagen entwickeln. Die Niederlage der Revolutionäre Prags im Juni leitete den Niedergang der Revolution in ganz Österreich ein, doch kam die Bewegung nicht mit einem Male zum Stillstand. Die Oktobertage in Wien und der Aufstand der Ungarn bedeuteten kraftvolle Abwehrversuche der revolutionären Elemente gegen die Allmacht des Hofs, des Militärs, der Bureaukratie. Bis in den August 1849 kämpften die rebellischen Ungarn. Bloss mit Hilfe des Zaren wurde Franz Josef ihrer Herr. Bis dahin belebte nach wie vor das politische Interesse auch Leute, die sich vor den Märztagen nur wenig mit Politik abgegeben hatten. Zu ihnen gehörte Anton Jaich. Im Jahr 1849 erschien in Prag ein tägliches Blatt oder vielmehr Blättchen „Die Wage", ein liberales Organ, dessen Kopf eine Waage darstellte. Auf der einen Waagschale lag eine Krone und ein Szepter, auf der anderen zwei Papiere mit der Aufschrift „Konstitution und freie Presse". Leider zeigte keine der beiden Waagschalen ein Übergewicht über die andere. Der Text der Zeitung wurde auch durch das gleiche vorsichtige Abwägen aller politischen Faktoren bestimmt. Sie zog gegen die Extremnationalen im deutschen wie im böhmischen Lager los, die Gegensätze zu versöhnen war ihre Tendenz. Dabei kam aber unter den gegebenen Verhältnissen meist die Sache der Revolution zu kurz. Der Verfasser einer Artikelserie über den Fürsten Windischgrätz rief wohl in schönem Enthusiasmus aus: „Lieber ein freier Türke, als ein politisch geknechteter, national begünstigter Deutscher". (Nr. vom 8. Febuar 1849). In der nächsten Nummer aber begeisterte sich der Verfasser für des Fürsten Windischgrätz „Milde und Grossherzigkeit", findet seine „neue ehrenvolle Sendung", Wien im Oktober 1848 niederzuwerfen, vollständig gerechtfertigt, entrüstet sich aber darüber, dass tschechische Patrioten jetzt für diesen Windischgrätz auch Worte des Lobes übrig haben. Die Lage der liberalen Deutschen war in Österreich überall zwiespältig, und die Verhältnisse vor der Revolution hatten politisches Denken schwer aufkommen lassen, am wenigsten bei Theaterleuten. Und am wenigsten in Prag. Der Wiener Dramatiker Grillparzer zeigte gänzliche Verständnislosigkeit für die politische Situation. Das gleiche galt von dem Prager Theatermaler Jaich. Er sah nicht die Haltlosigkeit des Liberalismus der „Wage", er wurde einer ihrer eifrigsten Mitarbeiter. Bald, schon am 10. März 1849, trat er in die Redaktion selbst ein, in einem gefähr69

liehen Moment. Eben hatte Radetzky die italienischen Armeen besiegt, die Reaktion fühlte sich wieder sicher im Sattel. Am 4. März löste sie den Reichstag auf und oktroyierte eine neue Verfassung. Jaich blieb in der Redaktion, wenigstens bis zum 30. Juni 1849. Weiter geht das in meinem Besitz befindliche Exemplar der Zeitung nicht. Nebenbei: in ihrer vorletzten Nummer brachte sie noch einen guten politischen Witz. Ein Herr beschwert sich in einer Kirche zu seiner Nachbarin, dass der Priester auffordere, für die wegen Pressvergehens Verhafteten zu beten. „Wieso?", fragte die Dame. „Haben Sie nicht gehört? Er verlangt ein Vaterunser für die Presshaften." Mit der Kapitulation der Ungarn in Vilagos (13. August 1849) war die Revolution und überhaupt jedes freiere Geistesleben in Österreich erledigt. Wieder, wie vor den Märztagen von 1848 trat das Theater in den Vordergrund der geistigen Interessen, und die Teilnahme der Völker an der Politik konnte nur noch kümmerlich im Verborgenen ein klägliches Dasein fristen. Da wurde der durch die Revolution unterbrochene private Theaterbetrieb in der Familie Jaich wieder mit erneuter Intensität aufgenommen. Jetzt aber auf einer höheren Grundlage. Minna Jaich war älter geworden, hatte viel erfahren und gelernt. Jetzt widerfuhr ihr aber auch zum ersten Mal das Glück, Freundinnen aus intellektuell hochstehenden Familien zu gewinnen. Diese Freundinnen standen alle mehr oder weniger mit dem Theater in Verbindung. Unter ihnen war auch ein älteres Fräulein Hampel, das mit grosser Begeisterung an einem Liebhabertheater spielte, dem sogenannten „Niklastheater", das als Übungsbühne einen guten Ruf hatte. Es hiess so, weil es im Gebäude des Nikolausklosters untergebracht war, das (wohl von Josef II.) aufgelöst und weltlichen Zwecken zugeführt worden war. Es lag in der Altstadt, an der Grenze der Judenstadt. Seit 1816 wurde einer der Säle des Gebäudes als Liebhaberbühne benutzt. Um die Mitte des Jahrhunderts war es ein reicher Mann, namens Schwestka, der dort den Mäzenas spielte auf eine Weise, die nicht viel kostete. Er stellte den Saal, über den er verfügte, jungen Leuten umsonst zur Benutzung frei, die sich zur Bühne vorbereiten oder auch ohne solche Absichten als blosse Liebhaber ihren schauspielerischen Drang austoben wollten. Sein Sohn Karl spielte selbst mit und funktionierte als Direktor und Regisseur, wenn es sein musste, als Dekorateur und Kulissenschieber. Ihn unterstützte ein Beirat junger Berufsschauspieler, Literaten und Maler — Deutsche wie Tschechen. Ihre Freundin Hampel erzählte der jungen Minna Jaich von diesem Theater, und in Minna erstand der heisse Wunsch, auch dort spielen zu dürfen. Sie bat die Hampel, sie dort einzuführen. Die Freundin versprach es, rührte aber keinen Finger. Vielleicht erschien ihr Minna noch zu jung — diese hatte eben das vierzehnte 70

Lebensjahr erreicht. Aber die ungeduldige Kunstenthusiastin zeigte durch die Tat, dass sie bereits die nötige Reife erreicht habe. Ohne Vorwissen der lässigen Freundin, aber auch der Eltern, entschloss sie sich eines Tages, auf eigene Faust in Schwestkas Haus zu gehen und um Zulassung zu seiner Bühne zu bitten. Von ihrer Schwester Flora begleitet, wendete sie sich an die Frau des Sohnes Karl, der gerade mit seinem Beirat zusammensass. Die beiden Mädchen kamen noch ganz als Kinder nach der damaligen Mode gekleidet, mit kurzem Röckchen und langem weissen Höschen. Minnas Begehren erschien der Gesellschaft zuerst sehr komisch. Man wies sie jedoch nicht gleich ab, liess sich in ein Gespräch mit ihr ein, und dabei entwickelte die Kleine, nachdem die erste Schüchternheit überwunden, soviel Geist, dass sie interessierte und schliesslich siegte. Neben Karl Schwestka und seiner Frau wohnten der Sitzung die beiden tschechischen Schauspieler Kolar und Schamberg bei und die beiden Maler Ferdinand Laufberger und Johann Kautsky. Beide waren ausserhalb Prags noch wenig bekannt. Doch sollten sie bereits ein Jahrzehnt später in Wien zu künstlerischem Ansehen kommen. Wie bei Schwestkas ging es auch zu Hause gut. Nach einigem Kopfschütteln genehmigten die Eltern den Staatsstreich der energischen Tochter. Diese trat bald im Niklastheater auf, und zwar mit Erfolg. Doch nicht bloss im Liebhabertheater betätigte sich Minna Jaich. Neben künstlerischem Drang trieb sie auch ökonomische Notwendigkeit zur Bühne. Die Einnahmen des Vaters Jaich vermehrten sich nicht, wohl aber stellten sich notwendigerweise immer höhere Ansprüche an seine Geldbörse ein, je grösser seine Kinder wurden. Dem Vater nach Möglichkeit zu helfen, selbst Geld zu verdienen, wurde früh ein heisser Wunsch seiner Tochter Minna, bald auch der Luisens, die gleich jener schauspielerisch ungemein begabt war. Es lag nahe, dass sie sich um Kinderrollen bei dem Theater bewarben, bei dem ihr Vater angestellt war und an dessen Leben sie von früh an eifrigen Anteil genommen hatten. Als das Landestheater im Herbst 1852 Müllners Schicksalsdrama „Die Schuld" zur Aufführung vorbereitete, suchte man eine Darstellerin der schwierigen und wichtigen Knabenrolle, die das Stück enthielt. Anton Jaich brachte Minna in Vorschlag, und nach einer Probe wurde sie akzeptiert. Mit Erfolg spielte sie die Rolle. Seitdem wurde sie öfter zur Darstellung von Kindern und jungen Leuten herangezogen. Im Unterschied von der Tätigkeit im Schwestkatheater wurde ihr Wirken im Landestheater bezahlt. Dafür war es auf ein Rollenfach beschränkt, das nur höchst selten verlangt wurde. Bei Schwestka dagegen gab es stets zu tun, und nicht bloss in Episodenrollen, sondern in Hauptpartien. So jung Minna war, bei Schwestka trat sie bereits als erste Liebhaberin auf. 71

Bald fühlte sie sich zu alt, im Landestheater Kinder darzustellen. Als man ihr das Ansinnen stellte, im Wilhelm Teil den kleinen Walter zu spielen, lehnte sie das ab und wies auf ihre jüngere Schwester Luise hin. Diese wurde akzeptiert und entledigte sich ihrer Aufgabe mit grossem Erfolg. Bald fühlte sich Luischen auf der Bühne wie zu Hause. Einmal wäre ihr allerdings fast ein komisches Malheur passiert. Bei einer Macbeth-Aufführung spielte sie das gekrönte Kind, das mit einem Baumzweig in der Hexenhöhle Macbeth erscheint und ihm seine Zukunft prophezeit. Sie kam von unten aus der Versenkung auf die Bühne, und diese ungewohnte Art des Erscheinens brachte sie wohl aus der Fassung. Sie vergass ihre Rolle, begann mit den Worten: „Sei ein Löwe!" und wusste nicht weiter. Ratlos sah sie sich um. An ihren Platz gebannt, durfte sie sich dem Souffleur nicht nähern. Noch einmal begann sie nach einer Pause: „Sei ein Löwe!" Und wiederum Schweigen. Da endlich flüsterte ihr eine der Hexen die nächsten Worte zu, nun wurde ihr die Rolle wieder gegenwärtig. Noch einmal begann sie: „Sei ein Löwe!", aber nun fuhr sie beglückt fort: „Keinen scheue, wer auch murre, wer dir dräue" usw. Die erfahrenen Theaterbesucher hatten wohl bemerkt, dass die Pausen, die Luise gemacht, keine Kunstpausen waren. Und da Prag noch eine kleine Stadt war, begegnete Luise gar oft Herren, die der Vorstellung beigewohnt hatten, namentlich Offizieren. Die vergnügten sich sehr damit, dem Mädchen nachzurufen: „Sei ein Löwe!". Das nahm Luise in keiner Weise übel. Sie hatte ebensoviel Humor wie Temperament. Viel intensiver als im Landestheater war Minnas Tätigkeit bei Schwestka. Und nicht nur ihre Bühnenlaufbahn begann dort, sondern eine für mich noch weit wichtigere, ihre Ehelaufbahn.

8. A L S D E R VATER D I E M U T T E R

NAHM

Wir haben gesehen, dass zu dem Beirat, der sich dafür aussprach, dass Minna Jaich am Schwestkatheater auftreten dürfe, der Maler Johann Kautsky gehörte. Nicht nur als künstlerischer Beirat war er dort tätig, sondern auch als Schauspieler. Als solcher hatte er öfters mit Minna zusammenzuwirken, nicht immer zu ihrem Entzücken, denn er war nur ein mittelmässiger Mime und wirkte anfangs auf sie bloss komisch, obwohl er ein schöner stattlicher Mann war. Das bezeugt heute noch das Portrait, das sein Studiengenosse Jaroslav Tschermak von ihm malte. Ich habe Tschermak persönlich nicht kennengelernt. Bald nachdem er die Prager Malerakademie verlassen, ging er zu seiner weiteren Ausbildung nach Paris 1858, wo er ein angesehener Historienmaler wurde. Um vier Jahre jünger als mein Vater, starb er jedoch schon 1878. Weit mehr als Minna für Johann 72

interessierte sich dieser für sie, das schöne, lebhafte, begabte Mädchen. Doch als sie ihn näher kennenlernte, gewann er auch ihr Respekt und Interesse ab. Sein Beruf machte ihn zu einem intensiven Beobachter der Natur, zu einem Kenner der Kunstgeschichte. Fleissiges Lesen nicht bloss belletristischer, sondern wissenschaftlicher Werke hatte ihm einen tüchtigen Fonds allgemeiner Bildung verschafft. Da konnte er der allzeit wissbegierigen Minna eine Fülle neuer Einsichten beibringen. Gerne lauschte sie ihm, wenn er sie auf dem Weg vom Theater nach dem Familienheim begleitete. Und das geschah immer öfter, ohne dass die Eltern des Mädchens daran Anstoss nahmen, obwohl sie es ihren Töchtern im allgemeinen verboten hatten, sich von Herren begleiten zu lassen. Aber Johann war für den Vater Jaich kein Fremder. Er war Kollege nicht nur der Tochter, sondern auch des Vaters und mit ihm eng befreundet. Bei Schwestka hatte er angefangen, sich für die Theatermalerei zu interessieren, war dadurch in nähere Beziehungen zum Maler des Landestheaters gekommen. Herzliche Freundschaft erwuchs aus der Zusammenarbeit des 1852 fünfundzwanzigjährigen Johann Kautsky mit dem damals achtundvierzigjährigen Anton Jaich. Aber auch die Mutter Jaich wusste Kautsky für sich zu gewinnen. Schliesslich waren die beiden Eltern weder erstaunt noch entrüstet, als ihnen der junge Mann anvertraute, dass die Tochter es ihm angetan habe und dass er glücklich wäre, sie als seine Frau heimführen zu dürfen. Seiner Werbung um die Gunst des Mädchens wurde kein Hindernis in den Weg gelegt. Und schliesslich sagte auch Minna nicht nein, als ihr Johann an einem schönen Maientage 1853 seine Liebe gestand und sie um ihre Hand bat. Sie hatte sich nicht entschliessen können, ihm sofort ihr Jawort zu geben. Der Antrag beglückte sie und erfüllte sie doch mit Furcht. Als aber ihr Verehrer am 28. Mai, ihrem Namenstage, ihr ein schönes Ölbild einer Dorfidylle zum Geschenk brachte, da war sie darüber so entzückt, dass die Sechzehnjährige ihre mädchenhafte Scheu überwand und dem Schöpfer des Kunstwerks ihr Lebensschicksal anvertraute. Es schien, als hinge nun dem jungen Brautpaar der Himmel voller Geigen. Wohl besassen beide weder Geld noch Gut oder ein festes Einkommen, doch waren sie jung, gesund, in ihren Berufen hochbegabt, mit vollem Vertrauen zu sich selbst und zu ihrer Zukunft. Etwas nüchterner hätten die Eltern Jaich denken können. Doch rechnen war nie die starke Seite Anton Jaichs gewesen und, wie mir scheint, auch nicht seiner Frau. Der Optimismus der Kinder steckte auch sie an. Und doch ballten sich dunkle Wetterwolken für das Brautpaar zusammen, auf zwei Seiten, die sehr erheblich in Betracht kamen: sowohl in Podol, wo Wenzel Kautsky Milch und Kalk produzierte, wie auf der Kleinseite, wo seine Gattin Josefa hauste. 73

Wenn auch knurrend und murrend, hatte sich Wenzel Kautsky schliesslich doch darein ergeben, dass sein Sohn den Malerberuf ergriffen. Er begann sogar eine gute Seite darin zu finden, als seine Prager Baumeister ihm dartaten, dass einem Künstler die höchsten Kreise der Gesellschaft offenstünden und dass er sich von dort eine Gattin holen könne. Eine reiche Heirat für Johann, das wurde nun sein Ziel. Sie konnte alles gutmachen, was die brotlose Kunst verbrochen. Und da Johann keine Miene machte, sich selbst um eine Lebensgefährtin mit ausreichender Mitgift umzusehen, unternahm es Wenzel, das Schicksal des Sohnes wieder einmal in die eigene Hand zu nehmen. Wie es ihm schien, war ihm das Glück hold. In seinem Gesichtskreis tauchte ein reicher Mann mit einer heiratsfähigen Tochter auf, einem üppigen, lustigen Mädel. Dass der Vater sein Vermögen im Branntweinhandel gewonnen, konnte doch kein Ehehindernis sein. Der Branntweiner zeigte sich nicht abgeneigt, es mit dem Maler zu versuchen. Dieser selbst aber erschrak gar sehr, als der Vater ihm das Mädchen mit der reichen Mitgift lockend präsentierte. Sein Herz gehörte bereits der armen Minna. Doch wagte er noch nicht, das offen zu gestehen. Er wollte nicht die Gunst des Vaters von neuem verscherzen, der sich ihm so gnädig genähert. Er versicherte daher, er denke nicht ans Heiraten, er wolle sich nicht fesseln. Das war ein Gesichtspunkt, den der Alte wohl begriff. Um so grösser aber sein Zorn, als er schliesslich erfahren musste, dass der Sohn doch heiraten wolle, aber eine Bettlerin. Auf ein besseres Ergebnis rechnete Johann bei seiner Mutter. Sie war weniger geldgierig, stand idealem Streben verständnisvoller gegenüber. Ihr vertraute sich Johann an, ihr stellte er seine Braut vor. Diese selbst kam der künftigen Schwiegermutter mit grösster Begeisterung und Verehrung entgegen. War es doch die Mutter gewesen, die für den Sohn alle Hindernisse niedergebrochen und ihm den Weg zur Künstlerschaft gebahnt hatte. Ach, wie sehr täuschten sich diesmal nicht nur Minna, sondern auch Johann! In den Kreisen, in denen die Tochter des Gubernialtürstehers aufgewachsen war, nahm alles ideale, über den gröbsten Egoismus hinausgehende Streben religiöse, ja kirchliche Formen an. Die Kirchenfrömmigkeit bei Frau Josefa wuchs, je mehr ihre Enttäuschungen in der Ehe, die Treulosigkeit des Mannes und der Tod aller Kinder ausser dem einzigen Johann und je mehr fortschreitendes Alter sie selbst die kargen Freuden verachten liessen, die ihre Einsamkeit noch gestattet hätte. Sie wurde eine finstere Frömmlerin, aus deren Händen der Rosenkranz nicht wich. Ihren Sohn vergötterte sie freilich zu sehr, als dass sie ihm irgendwelchen Zwang auferlegt hätte. Auch nicht den zur Frömmigkeit. Es mochte sie bekümmern, dass er, der in

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seinem Herzen religiös völlig indifferent war, nie zur Messe ging. Sie tröstete sich, mit der Zeit werde er schon fromm werden. Von jungen Männern dürfte man nicht zu viel kirchliche Zucht verlangen. Aber anders stand es mit einer Frau. Sie war verpflichtet, in jedem Alter intensivster Frömmigkeit ergeben zu sein. Sonst taugte sie nichts. Das forderte Frau Josefa auch von dem Mädchen, das ihr Sohn heimführen wollte. Das hatte er selbst nicht erwartet. Dass er eine Schauspielerin heiraten wollte, erregte sie bereits aufs höchste. Theaterleute, die waren doch alle leichtfertig und liederlich von vornherein! Es war schon eine grosse Konzession an den Sohn, dass sie der neuen Tochter nicht direkt feindselig entgegentrat. Aber herzlich begrüsste sie das Mädchen nicht, das ihr vertrauensvoll entgegenkam, sondern mit eisiger Kälte. Bei näherer Bekanntschaft wich diese Kälte nur, um zorniger Empörung über die Ungläubige Platz zu machen, die kein Gebetbuch hatte, zur Beichte vor der Hochzeit nur deshalb ging, weil das eine Vorbedingung der Eheschliessung war. Nicht die Mutter, wohl aber den Vater Kautsky hatte Minna gefürchtet. Mit dem wurde es jedoch zunächst nicht so schlimm, als sie erwartet. Der Mangel an Kirchengläubigkeit bei der neuen Schwiegertochter genierte ihn zunächst nicht. Sein Zorn galt dem Sohn. Der Gedanke an die Schauspielerin schien ihn zunächst nur zu amüsieren. Bezeichnend ist der Ort, an dem Johann dem Vater seine Braut vorstellte. Er fürchtete eine Roheit, wenn sie seine Wohnung betrat. Daher veranstaltete er eine Zusammenkunft in einem Podoler Wirtshaus, wo der Vater Kautsky öfters mit seinen Freunden zusammentraf. In deren Gegenwart werde er sich wohl einen Zügel anlegen. Das Wirtshaus war ein beliebter Ausflugsort für die Prager, die der schöngelegene Garten an der Moldau anlockte, nicht minder aber der Kellner, ein Original. Er behauptete, grosse Reisen gemacht zu haben und bis nach Persien vorgedrungen zu sein, wo er die Bevölkerung durch seine Gesangskunst so begeisterte, dass sie ihn zum Sängerfürsten von Ispahan ernannte. Das drollige Gehaben des Mannes verschaffte dem Wirtshaus reichen Zuspruch, dem Kellner reichliche Trinkgelder. Unter den Fittichen dieses Sängerfürsten vollzog sich die erste Zusammenkunft Minnas mit ihrem Schwiegervater. Er empfing sie nicht unfreundlich. Aber nach einigen scherzhaft gemeinten Worten gab er ihr ohne weiteres zu verstehen, sie irre sich, wenn sie meine, einen wohlhabenden Mann gekapert zu haben. Johann besitze nichts und werde nie etwas besitzen. Von ihm, dem Vater, dürfe er nichts erwarten. Wenn Wenzel glaubte, Minna durch diese Eröffnung abgeschreckt zu haben, irrte er sich natürlich gründlich. Weiter als zu diesem Abschreckungsversuch verstieg er sich jedoch nicht. Seinen Sohn kannte er zu gut, um nicht zu wissen, dass Zureden 75

oder Drohen bei ihm nichts helfe. Das hatte er schon erprobt, als Johann Maler wurde. Diesmal war die Situation allerdings eine andere. Damals hatte der Sohn sich dem Vater gegenüber auf die Mutter stützen können. Jetzt aber hielten Vater und Mutter gegen den Sohn zusammen. Das beugte diesen nicht, beraubte ihn aber jeder materiellen Stütze, die er bis dahin gehabt. Hatte er doch bei der Mutter gelebt, für die Lebensnotdurft nicht zu sorgen gebraucht. Doch die jungen Leute bauten auf sich und liessen sich nicht einschüchtern. Am 18. Januar 1854 fand die Hochzeit statt, anscheinend bei voller Einmütigkeit der beiden beteiligten Familien. Zum erstenmal fanden sich Anton und Marie Jaich dabei mit Wenzel and Josefa Kautsky zusammen — zum ersten, aber auch zum letzten Male. Über dem Hochzeitsmahle schwebte eine bedrückte Stimmung, die nicht dadurch gebessert wurde, dass Minna an furchtbaren Zahnschmerzen litt. Mit geschwollener Backe war sie vor den Altar getreten. Beim gemeinsamen Mahle wich die gegenseitige Spannung erst, als Luischen sich meldete und einige der vielen lustigen Gedichte zum besten gab, die sie kannte und mit glänzendem Humor vortrug. Dadurch versetzte sie selbst den grimmigen Wenzel in heitere Stimmung. Die Mutter Josefa dürfte auf diese „Leichtfertigkeiten" weniger erfreut reagiert haben. Immerhin, die Hochzeit vollzog sich friedlicher als jene, die ehedem die Lapithen mit den Kentauren gefeiert hatten und die mit blutigem Kampf der beiden Stämme endete. „Die Seufzer und die Tränen, die kamen hintennach". 9. M E I N E I N T R I T T IN D I E WELT

„Ich hab' mein Sach auf nichts gestellt, Juchhe! Drum ist so wohl mir in der Welt, Juchhe!" So dichtete 1806 der alternde Goethe, inmitten von Geld und Gut. Wohl aber entsprachen diese Verslein vollständig der Verfassung, in der sich 1854 das junge Paar Kautsky befand. Sie besassen nichts, hatten von niemand eine Unterstützung zu erwarten und fühlten sich doch herrlich in ihrer jungen Liebe und dem kraftvollen Vertrauen, das jeder der beiden zu sich selbst und zu seinem Partner hegte. Vertrauen zu den Fähigkeiten, aber auch zu dem Arbeitseifer der beiden. Von dem Ertrag der Gelegenheitsarbeiten auf dem Gebiet der Malerei —Staffeleibilder und Theaterdekorationen — konnte das Paar allein nicht leben. Noch war die Ehe nicht geschlossen und schon war Minna bemüht, ein festes Engagement als Schauspielerin zu finden. Leider gab es in Prag selbst keine freie Stelle. Sie musste 76

sich entschliessen, diese Stadt zu verlassen, in der alle ihre Lieben weilten. Sie schloss mit Friedrich Blum ab, der den pompösen Titel führte: Direktor des königlichen Nationaltheaters in Olmütz und der Stadttheater in Troppau und Karlsbad. Doch hatte sie nur in Olmütz zu spielen. Ihre Gage belief sich im Sommer auf die erstaunliche Summe von 20 Gulden monatlich. Im Winter sollte sie auf 36 Gulden steigen. Der Vertrag begann am 1. Mai und dauerte bis zum Palmsonntag 1855. Ein grosser Schmerz war es für Minna, dass sie nicht nur dem Elternhaus Adieu sagen, sondern sich auch vom geliebten Gatten trennen musste, der gerade im Frühjahr einen Auftrag zur Anfertigung von Theaterdekorationen erhielt, den er nicht von der Hand weisen durfte. Doch sollte die Trennung nicht längere Zeit dauern. Sobald der Auftrag erledigt war, wollte Johann nach Olmütz eilen. Staffeleibilder konnte er dort ebensogut malen, wie in Prag. Einstweilen wurde Minna von ihrer Schwester Flora begleitet. Noch war sie nicht lange in Olmütz, da musste sie schon ihrem Gatten ein süsses Geständnis machen, das auf ihre Bühnenlaufbahn bald sehr erheblich zurückwirken sollte: Sie erwartete ein Kind, war aber dabei selbst noch so kindlich, dass sie in dem gleichen Briefe an ihren Mann, in dem sie ihm das mitteilte, (20. Mai) anfragte, ob sie sich nicht firmen lassen solle. Wenn das wünschenswert sei, dann müsse es sofort geschehen. Doch niemand in der Familie — Frau Josefa Kautsky wurde nicht gefragt — verlangte nach der Firmung der werdenden Mutter. Schlimmer war es, dass Minna bald anfangen musste, sich zu schnüren, um ihren Zustand zu verbergen, in dem sie unmöglich ihre Lieblingsrollen spielen konnte, etwa die Luise Millerin, die Ophelia, die Jungfrau von Orleans. Schon damals bekam sie zu verspüren, dass Kindersegen für eine Schauspielerin ein arges Hemmnis werden kann. Auf die Dauer liess sich der Zustand meiner Mutter nicht verheimlichen. Sie hatte erwartet, ihre Entbindung werde gleich einer gewöhnlichen Krankheit betrachtet werden, nach deren Überstehung sie wieder weiter spielen könne. Sie berichtet später darüber: „Man erzählte mir Geschichten von Schauspielerinnen, die abends gespielt, in der Nacht entbunden hatten und nach zehn Tagen wieder aufgetreten waren. Ich glaubte, ich würde es auch so machen können, und mein Mann war derselben Meinung. Anders dachte der Direktor. Er erklärte, eine schwangere Frau könne er schon einige Zeit vor der Entbindung nicht als jugendliche Liebhaberin oder Heldin die Bühne betreten lassen. Und komme sie in die Wochen, dann lasse sich nicht absehen, wie lange das dauere. Er wolle nur Schauspieler beschäftigen, auf die er sich jederzeit verlassen könne. Der Kontrakt enthielt die schöne Bestimmung, dass die Schauspielerin ihn auf keinen Fall 77

kündigen dürfe, dem Herrn Direktor dagegen stand dies Recht unter allen Umständen zu". So musste meine Mutter ihr Bündel schnüren, ehe sie noch in die Lage gekommen war, auch nur einmal die erhöhte Wintergage zu beziehen. Ende September verliess das Ehepaar Kautsky die Festungsstadt Olmütz. Natürlich wendete es sich nach Prag, aber ohne dort Wohnung gefunden zu haben. Ein teueres Hotel kam nicht in Frage. Einen vorübergehenden Unterschlupf fand es im „alten Ungeld", einem Gebäude, das aus dem Mittelalter stammte und dem Namen nach — das Wort Ungeld bezeichnete eine Steuer — ein städtisches Steueramt gewesen war. Diese Funktion hatte es längst verloren, es war zu einem blossen Einkehrwirtshaus herabgesunken. In meinem Taufschein wird mein Geburtshaus als „Prag, N.C. 640/1" bezeichnet. Früher, als meine Eltern erwartet, kam ich dort zur Welt, am 16. Oktober 1854. Der Arzt, der zur Wöchnerin gerufen worden war, redete ihr zu, sie solle sich mit dem Neugeborenen nicht sehr bemühen. Er sei nicht lebensfähig, werde nicht drei Tage überleben. Er leide an Dürrsucht. Was das für eine Krankheit war, das gelang mir nie herauszufinden. Jedenfalls aber habe ich meine kritische Natur schon damals bekundet, indem ich der ärztlichen Prognose ein Schnippchen schlug und den dritten Tag überlebte. Allerdings neigte ich zeitlebens zu einer Schlankheit, die man mitunter als „Dürre" bezeichnen konnte. Ein Kraftmeier bin ich auch nie geworden, und zur Zeit meiner Geburt soll ich tatsächlich höchst erbarmungswürdig ausgesehen haben. Doch Eltern und Grosseltern glaubten an meine Lebenskraft, trotz aller Kassandrarufe. Und mein Grossvater Jaich gab mir einen zwar düstern, aber doch komischen Beinamen. In Olmütz befand sich gegenüber dem Hause, das meine Eltern bewohnten, der Laden eines Fleischselchers, der Gallus Finsterle hiess. Dieser Name amüsierte sie höchlichst und ebenso die Familie Jaich, der er mitgeteilt wurde. Nun kam ich am Gallustag zur Welt. Daher verlieh mir Grossvater Jaich den Spitznamen: Gallus Finsterle. Ich hoffe, der Prognose, die in diesem Namen liegt, habe ich ebenso ein Schnippchen geschlagen wie der ärztlichen und bin nie ein galliger Finstermann geworden. Allerdings, gegen die Finsterlinge sollte mir öfter die Galle überlaufen. Am 21. Oktober wurde ich in der Teynkirche getauft auf die Namen Karl Johann. In Österreich wird gewöhnlich der Kardinal Borromäus als der Schutzheilige der Karle betrachtet, auf den 4. November ihr Namenstag verlegt. Der fanatische Protestantenverfolger konnte meinen Eltern nur unsympathisch sein. Sie nannten mich nach Karl dem Grossen, dessen Tag im katholischen Kalender der 28. Januar ist. Aber auch der Frankenkaiser wird sie wenig angezogen haben. Sie 78

wählten den Namen Karl wohl aus rein ästhetischen Rücksichten. Vielleicht in Hinblick auf den edlen Räuber der böhmischen Wälder, den Schiller unsterblich gemacht hatte und der die deutsche Jugend im vorigen Jahrhundert lange begeisterte. Die Vergrösserung der Familie durch mich brachte mehr Auslagen, wenn auch zunächst für nicht viel mehr als für Kinderwäsche und Seife. Die Notwendigkeit der erhöhten Einnahmen wuchs. Aber meine Mutter fand kein Engagement in Prag, und mit dem Säugling in die Fremde zu gehen, fiel ihr ebenso schwer, wie sich von ihm zu trennen, ihn etwa bei den Grosseltern zu lassen. Indes, Not kennt kein Gebot. Schon am 20. Dezember 1854 war meine Mutter daran, mit Maurice, dem Direktor des Hamburger Thaliatheaters, für die Zeit vom 15. Januar 1855 bis 15. Januar 1856 einen Vertrag abzuschliessen, der ihr erheblich bessere Bedingungen bot, als vorher Olmütz: die Riesensumme von 40 Talern (120 Mark) im Monat. Der Vertrag war schon in ihren Händen, doch im letzten Moment konnte sie sich nicht entschliessen, ihn zu unterschreiben. Ich fuhr fort, als Hindernis ihrer künstlerischen Laufbahn zu wirken. Bald sollte sich ein zweites, gleichartiges Hemmnis zu mir gesellen. Ein zweites Kindchen war unterwegs und erblickte am 26. Januar 1856 das Licht der Welt: meine Schwester Minna. Jetzt war erst recht für absehbare Zeit an ein Theaterspielen nicht zu denken, wenigstens an ein solches getrennt von Mann und Kindern. Die Not der Familie wuchs bedenklich an. Eine Last von Schulden begann sich aufzuhäufen. Da, in der äussersten Bedrängnis kam eine rettende Wendung, diesmal durch den Vater. Es gelang ihm, ein festes Engagement an einem Wiener Theater zu erhalten. Dahin wanderte nun die Familie Johann Kautskys. 10. M E I N ERSTER A U F E N T H A L T IN W I E N

Es war das Theater in der Josefstadt, das meinen Vater engagierte. Sein Direktor Hoffmann, voll von Unternehmungsgeist, hatte überdies ein neues grosses, für die Zeit des Sommers berechnetes Theater im „Grünen", vor den Linienwällen Wiens gebaut, das Thaliatheater in Neu-Lerchenfeld. Da gab es für einen Dekorationsmaler genug zu tun. Mein Vater war mit Hoffmann bald im reinen. Dieser bewilligte ihm eine Jahresgage van 1000 Gulden, ein märchenhafter Reichtum, verglichen mit dem Einkommen des Grossvaters Jaich und mit dem eigenen Einkommen des Johann Kautsky bisher. Anfangs Mai verliess er Prag. Sobald in Wien alles geregelt und eine Wohnung gefunden war, sollte Minna mit den Kindern nachkommen. Leider war Johann so naiv gewesen, zur Unterstützung Minnas in seiner Abwesenheit

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seine Mutter heranzuziehen. Er meinte, zwischen den beiden habe sich ein erträgliches Verhältnis angebahnt. Das war jedoch nur dem Umstand zuzuschreiben, dass Mutter Minna und Grossmutter Josefa einander ferngeblieben waren. Sobald sie einander nähertraten, kam sofort die tiefe Kluft zwischen ihnen zum Vorschein. Diesmal nicht wegen der Religion, sondern wegens uns, den Kindern. Wir schrieen zuviel, wurden zu wenig zur Ruhe geprügelt. Namentlich ich war schlecht erzogen. Darob gab es zunächst viel Herzeleid und schliesslich einen lauten Zusammenstoss. Minna schrieb darüber ihrem Mann: „Sie verfluchte mich und meine Kinder, sie bat den lieben Gott, er solle mich keine Freude an ihnen erleben lassen und sie sollen mich quälen und martern, so wie ich sie (die Mutter Josefa) quäle und martere." Entsetzt über diesen Fluch, brach die arme Minna zusammen und bat die Schwiegermutter um Verzeihung. „Wofür", fragte sie selbst in ihrem Bericht. „Sie aber schrie: Nein nimmermehr! O mein armer Sohn ist in solchen H ä n d e n . . . Sie betete fortwährend: Ach du mein Gott, warum lebe ich in dieser elenden Welt, auch du meine heilige Mutter Gottes, nimm mich doch zu dir." Meine Mutter verliess das Zimmer, doch war es 10 Uhr nachts. Ein Auseinandergehen schwer möglich. Erst am folgenden Morgen trennten sich Schwiegermutter und Schwiegertochter, ruhig, aber unversöhnt. Auf die Anfrage, ob sie vor der Abreise nach Wien noch die Kinder sehen wolle, antwortete die zärtliche Grossmutter mit der kühlen Gegenfrage: „Wozu?" Auf denselben Ton gestimmt war ein undatiertes Schreiben der Frau Josefa an ihren Sohn, das ich unter seinen Papieren fand. Es schob die Schuld an der elterlichen Notlage auf eine Verschwendungssucht meiner Mutter, die nie bestand und bestehen konnte, da der Vater die Kasse führte. Der Brief endete mit den Worten: „Für deine schöne Frau Gemahlin würdest du mit 10.000 Gulden jährlich nicht genug haben. Es wird ihr einmal recht übel gehen. Der liebe Gott wird sie strafen mit Elend." Welch rührendes Gottvertrauen! Die kriegerische Auseinandersetzung mit der zärtlichen Schwiegermutter im Juni 1856 hatte zum Glück keine schlimmen Folgen für die Familien, nicht einmal für die kleine Minna, die noch damals von der Mutterbrust ernährt wurde. Johann stellte sich auf die Seite der Gattin. Und die kommende Übersiedlung nach Wien beschäftigte meine Mutter zu sehr, als dass sie hätte trüben Gedanken nachhängen können. Sie sollte jetzt kommerzielle Talente entwickeln, einen Käufer für das letzte Bild ihres Gatten finden und die paar Möbel, die sie besassen, möglichst günstig verldopfen. Dann kam der grosse Moment der Reise nach der Residenz. Unerwartet bekam sie eine Reisegefährtin, ihre Schwester Luise. Diese war, glücklicher als ihre Schwester, ein mehrfach beschäftiges 80

Mitglied des Landestheaters geworden. Neben Kinderrollen hatte man dem heranwachsenden Mädchen auch schon manche naive Liebhaberin anvertraut. Aber das wurde ihr zum Verhängnis, es erregte ihre Hybris, ihren Übermut, ihre Überheblichkeit. Sie sollte wieder einmal einen Schusterbuben spielen. Über diese Zumutung war sie empört. Sie könne nicht gleichzeitig Schusterjungen und Liebhaberinnen spielen. Nun war es wieder Direktor Stöger, der sich über die Arbeitsverweigerung entrüstete. Er statuierte ein Exempel, entliess sie Knall und Fall. Die übermütige Range machte sich gar nichts aus dieser Katastrophe. Sie sah darin nur einen Wink, mit der Schwester nach Wien zu gehen und dort ein Engagement zu suchen. Dazu musste doch die Grossstadt viel mehr Gelegenheiten bieten als das kleine Prag. Sie kam mit uns und wurde von Johann willkommen geheissen, nicht minder von der zahlreichen Verwandtschaft ihrer Eltern. In Prag war der Kreis der Verwandten sehr beschränkt gewesen. Die Grosseltern Kautsky hatten dort keine Verwandten und die Familie Jaich auch nicht, abgesehen von einer Schwester der Mödlinger Ahne Weiss, Gattin eines Prager Kaufmanns namens Hauptmann. In Wien und Umgebung befanden sich die Schwestern Anton Jaichs, Minna Altmann, Leopoldine Kostka und Therese Nigris, letztre Grossmutter mit zahlreicher Familie. Überdies lebten noch in Mödling die Mutter meiner Grossmutter, die Urgrossmutter Eleonore Weiss und nicht weniger ihrer Kinder, obwohl sie schon eine ganze Reihe durch den Tod verloren hatte. An Tanten und Cousinen der veischiedensten Grade mangelte es nicht. Von ihnen allen wurden wir auf das herzlichste begrüsst. Ausser der Verwandtschaft aber fanden meine Eltern und Tante Luise in Wien auch eine flotte Künstlerschaft vor, Maler wie Schauspieler, zumeist sehr arm, aber trotzdem noch lebenslustiger und übermütiger, als sonst die Künstlerschaft überall zu sein liebt. In Wien kam noch die phäakische Note dazu, die sich nicht stets, wohl aber in Zeiten polizeilicher Unterdrückung alles ernsten geistigen Strebens in der Residenz der Habsburger sehr stark geltend machte. Es war eine Zeit steten Frohsinns, die damals meine Eltern durchmachten, obwohl sie in Wien immer noch nicht im Gelde schwammen. Wohl bezog der Vater einen festen Gehalt, aber er hatte der Regel zu gehorchen: „Mensch, bezahle deine Schulden, lang ist deine Lebensbahn, und du musst noch öfter pumpen, wie du schon so oft getan." Er hatte in Prag Schulden hinterlassen, die abzuzahlen waren. Noch war das nicht völlig gelungen, da nahm schon Johann Kautskys Stellung in Wien ein Ende. Die Sehnsucht nach Prag wurden er und seine Leute nie recht los. Es war zum grossen Teil eine Sehnsucht 81

nach der Familie Jaich. Nicht nur bei den Töchtern, sondern auch beim Schwiegersohn. Dieser hatte sich in Prag an seinen Lehrer und väterlichen Freund so eng angeschlossen, beide waren einander so viel geworden, dass sie einander schwer entbehrten, ein Verhältnis zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn, wie es sich wohl nur selten bildet. Es ist geradezu rührend, in ihrem damals sehr regen Briefwechsel die immer wieder erneuten Beteuerungen nachzulesen, wie sehr jeder von ihnen den anderen braucht. So schrieb Johann z.B. am 5. Juni 1856 zum Schlüsse eines ellenlangen Briefes an den Schwiegervater: „Obgleich ich hier einen sehr schönen Malersaal habe (den schönsten in Wien), so ist es doch traurig darin, denn ich bin allein, ohne dich." (Von Kautsky selbst unterstrichen). In gleicher Weise seufzte Anton Jaich in einem Brief vom 7. September 1856 an seinen Schwiegersohn: „Wie sehr mir deine Gesellschaft hier abgeht, kannst du nicht glauben. Ich gehe wie ein Verwaister herum, da ich gar niemand habe, mit dem ich mich unterhalten und meine Gedanken austauschen könnte." Im November 1856 eröffnete sich dem Vater eine ganz neue Aussicht. Die Theaterdirektion in Pressburg wurde frei und man (ich weiss nicht wer) trat mit der Anfrage an ihn heran, ob er nicht geneigt sei, sich um die Direktion zu bewerben. Angesichts seiner Geldlosigkeit verwarf Johann diesen Plan als ganz unsinnig. Doch war es zu verlockend, einmal sein eigener Herr werden zu können. Er wälzte den Gedanken in seinem Kopfe und kam schliesslich zu dem Ergebnis, die Sache liesse sich machen mit einem Geldmann als Kompagnon. Als solchen ersah er sich seinen Onkel Nigris aus, den reichen Güterverwalter des Fürsten Clary. Als Mitdirektor aber wollte er den Schwiegervater haben. Am 11. November 1856 berichtete er diesem über das Pressburger Projekt und fügte hinzu: „Ich wäre froh, wenn wir wieder beisammen und Vorstände eines Institutes sein könnten. Du fehlst mir überall." Weitere Nachrichten über den Pressburger Plan finde ich nicht. Wahrscheinlich war Nigris ein zu vorsichtiger Geldmann, sich auf das waghalsige Abenteuer einzulassen. Dass die Töchter erst recht wieder mit dem Vater vereinigt sein wollten, versteht sich von vornherein. Sie hatten in Wien nicht das gefunden, was sie erhofft. Wohl war Minna als Schauspielerin von Hoffmann engagiert worden, aber sie wurde selten beschäftigt. Er pflegte die grosse Oper, daneben Ritterstücke und derbe Possen. Da bekam sie wenig zu tun. Mehr wurde Luise beschäftigt, aber auch meist in Rollen, die ihr nicht lagen, aus denen sie nichts machen konnte. Schon im November 1856 schrieb Luischen nach Prag an Stöger und zeigte Reu und Leid, bat ihn, sie wieder spielen zu lassen. Und schliesslich liess sich dieser erweichen. Im April trat sie schon wieder in Prag auf, 82

mit grossem Erfolg. Ich aber vermisste in Wien sehr meine Tante Dase, wie ich sie nannte, an der ich mit grosser Innigkeit hing. Doch sollte unsere Trennung nicht lange dauern. Die Direktion Hoffmann machte schlechte Geschäfte. Sie hatte sich wohl übernommen, namentlich durch die Kultivierung der grossen Oper, die riesige Kosten verursachte und doch der Konkurrenz der Staatsoper (im „Kärnthnerthortheater") nicht gewachsen war. Hoffmann geriet in finanzielle Nöte und in schlechte Laune, die er an seinen Leuten ausliess, unter anderm auch an meinem Vater. Dieser war nicht der Mann, einen Insult ruhig hinzunehmen. Darob ein Krach. Mein Vater kündigte mit sechswöchentlicher Kündigung, erhielt seine Entlassung schon nach vierzehn Tagen. Ende August 1857 spielte sich der Konflikt ab bei der ersten Aufführung des „Tannhäuser' in Wien. Anfangs Oktober waren wir wieder in Prag, gerade vor der dritten Feier meines Geburtstages. Dass mein erster Aufenhalt in Wien nicht die mindeste Erinnerung in mir zurückliess, ist nicht verwunderlich. Was ich über mein Personellen aus dieser Zeit weiss, entnehme ich Erzählungen und Briefen meiner Eltern. Dass sie von mir begeistert waren, übrigens fast noch mehr von meiner Schwester Minna, will nichts besagen. Es müssen schon sehr missratene Kinder sein, die in ihrer ersten Jugend nicht das Entzücken der Eltern hervorrufen. Und mit Recht. Denn die Entfaltung der menschlichen Seele in ihren Anfängen ist eine so hinreissende Erscheinung, sie bringt jeden Tag so viel überraschende, bezaubernde Kundgebungen hervor, dass die Eltern, die Gelegenheit haben, diesen Entwicklungsgang zu beobachten, stets von neuem dadurch gefesselt und erhoben werden. Da sie derartiges nur an den eigenen Kindern genau beobachten können, liegt die Versuchung nahe, diese als besondere Wunder zu betrachten, was auch der Eitelkeit der Eltern wohltut, die vermeint, das kindliche Wesen sei ausschliesslich ihr Produkt. Als ob dessen ererbte Eigenschaften nicht der Niederschlag unzähliger vorhergegangener Generationen wären und als ob neben der Vererbung nicht auch die Umwelt eine Rolle spielte, die natürliche wie die soziale, deren Gestaltung die Eltern nicht willkürlich beeinflussen können. Neben den Eigenschaften, die wohl alle normalen Kinder aufweisen, hoben meine Eltern nur zwei an mir hervor: Einmal eine körperliche, eine ungemein grosse Ausdauer im Marschieren, und eine geistige, eine Neigung zur Ernsthaftigkeit. Am 2. Juli 1857 schrieb meine Mutter ihrem Vater: „Mein kleiner Bub scheint die Eigenschaft zu haben, niemals müde zu werden. Es ist erstaunlich, was das Kind für Märsche macht, z.B. letzthin ging er vom Belvedere bis zu uns nach Haus (Josefstadt), ohne auch nur einmal zu sagen: „Ich bin müde". Am 13. Januar 83

schrieb sie der Mutter: „Karl wächst jetzt stark. Es wird ein sehr hübscher Bub, nur ist er mir zu wenig heiter." Doch ein Kopfhänger bin ich nie geworden. 11. W I E D E R IN P R A G

Als die Eltern im Oktober 1857 den Boden Prags von neuem betraten, verfügten weder Vater noch Mutter über irgendein festes Einkommen. Das alte Elend erneuerte sich, wenn möglich, in erhöhtem Masse. Denn am 9. Dezember 1857 gesellte sich der Familie Kautsky ein neuer Kostgänger zu, mein Bruder Fritz. Da war es zunächst für meine Mutter ausgeschlossen, ein Engagement ausserhalb Prags anzunehmen, es sei denn, die ganze Familie ging mit. Dem Vater aber gelang es trotz eifrigsten Suchens nicht, irgend eine Stellung zu finden, obwohl er nicht bloss in Österreich eifrig nach einer solchen suchte, sondern auch im übrigen Deutschland — damals gehörte Westösterreich noch zum Deutschen Bund. Gleichzeitig gestaltete sich auch die finanzielle Lage der Familie Jaich noch trostloser, als sie bis dahin schon gewesen, durch die schwere Erkrankung der Mutter Marie, deren Tuberkulose sie fast dauernd bettlägerig machte. Nicht nur ihre ehedem unermüdliche Arbeitskraft fehlte jetzt dem Haushalt. Neben dem Dienstmädchen, das seit 1856 gehalten werden musste, verursachten nun Ärzte und Apotheker erhöhte Kosten. Die allgemeine Not beider Familien trieb sie schliesslich (1858 oder 1859) so weit, dass sie ausserhalb Prags Wohnung suchten, in dem Dorf Vrsovice (damals germanisiert Werschowitz), wo die Mieten viel billiger waren. Für jene Mitglieder der Familien, die in Prag zu tun hatten, war dies mit starken Unbequemlichkeiten verknüpft. Für uns Kinder aber brachte die Übersiedlung eine unerhörte Freiheit. Bis dahin hatten wir das Zimmer nicht verlassen dürfen, ausser an der Hand der Mutter. Wohl wohnten wir stets in der Nähe der Stadtmauer, die damals noch Prag umgab. Die Basteien waren in gepflegte Gartenanlagen verwandelt und dorthin führte uns die Mutter jeden Tag spazieren, wenn das Wetter es erlaubte. Aber in Vrsovice stand das Haus, in dem wir lebten, in einem Garten, den wir von der Wohnungstür aus erreichen konnten. Es war kein Ziergarten, sondern ein Obstbaumgarten, in dem wir herumtollen durften, soviel wir wollten. Und noch gab es auf den Strassen keine Automobile, ja, in der Dörfern kaum einen Verkehr schnell fahrender Wagen. Bald wurden wir Kinder so kühn, uns auf die Strasse zu wagen und frei durch das Dorf zu schlendern, sogar auf die Felder hinaus. Ermutigt 84

wurden wir durch den Onkel Toni, der besser die Schule besucht hätte. Doch vor 1867 nahm man es mit dem Schulzwang nicht so genau. Toni zog es vor, sich mit gleichgesinnten Kameraden herumzutreiben und Unfug zu stiften, etwa arme Singvögel auf Leimruten zu fangen, um sie zu verzehren. Seinem Vater redete er ein, dass er sich für Landwirtschaft interessiere, und der arglose Mann glaubte es ihm. In einem Stall, der zur Jaichschen Wohnung gehörte, wurden eine Ziege und einige Hühner untergebracht. Auch mir knöpfte Onkel Toni einige Kreuzer aus meiner Sparbüchse ab, um dafür drei Küken zu kaufen, die mir gehören sollten. Begeistert sah ich sie herumlaufen. Doch schon am Abend des ersten Tages war das eine verendet, das zweite folgte ihm am nächsten Tag, und das dritte hielt es auch nur einige Stunden länger aus. Ob Toni, der erfahrene Landwirt, ihnen das richtige Futter gegeben oder vielleicht überhaupt vergessen hatte, sie zu füttern, weiss ich nicht. Jedenfalls vergoss ich bittere Tränen, als der gemütlose Toni die kleinen Kadaver über die Gartenmauer warf, den Nachbarskatzen zum Frass. Die Ziege erwies sich als zäher. Aber auch sie scheint nicht übermässig viel Futter bekommen zu haben. Immer wieder kam einer der Nachbarn mit der Ziege, die in seinen wohl schlecht verwahrten Garten eingebrochen war und ihm einige Sträucher kahl gefressen hatte. Der Vater Jaich in seinen Geldnöten sollte auch noch den Schaden bezahlen, den die Ziege angerichtet. Schliesslich fand selbst der langmütige Anton, das landwirtschaftliche Lehrgeld seines Sohnes komme zu hoch. Die Landwirtschaft in seinem Hause wurde eingestellt, nach wie vor aber bewunderten wir Kinder den kühnen, unternehmungslustigen Onkel und folgten gern den Bahnen, die er uns führte. Sonderbarerweise nahm er bei seinen Ausflügen lieber meinen erst etwa dreijährigen Bruder Fritz mit als mich, der ich schon sechs Jahre zählen mochte. Ich war ihm schon zu sehr „Bücherwurm". Bücher flössten ihm Abscheu ein. Meine Mutter konnte diese Entwicklung ihrer Kinder in der Freiheit nur zum Teil verfolgen. Bald nachdem wir nach Vrsovice übergesiedelt waren, hatte sie sich entschlossen, um der steigenden Not abzuhelfen, ein Engagement in der Ferne anzutreten und sich von ihren Kindern zu trennen, so bitter sie das kränkte. Erleichtert wurde ihr der Entschluss einesteils durch die innige Verbundenheit der beiden Familien Kautsky und Jaich, wodurch es ermöglicht wurde, dass die Tanten nach uns sahen, nicht minder aber durch den günstigen Umstand, dass in unserem Hause ein vorbildliches Dienstmädchen waltete, das namentlich auf unser leibliches Wohl ganz mütterlich bedacht war. Für unser geistiges konnten Vater Johann und die Jaichs sorgen. Den Familiennamen unserer Vizemutter habe ich nie gehört. Und jetzt, wo ich ihn wissen möchte, liegen alle im Grabe, die ich befragen könnte. 85

Für uns war sie einfach die Kathi. Sie blieb bei uns, bis sie heiratete. Ihr erstes Kind nannte sie Minna. Seitdem Mutter verreist war, wurde in unserem Hause nur noch Tschechisch gesprochen. Aber auch Onkel Toni zog diese Sprache der deutschen vor, da sie die Sprache der Bauernbuben, seiner Kameraden, war. Das führte so weit, dass mein jüngerer Bruder das bisschen Deutsch, das er schon gekonnt, vollständig verlernte. Als die Mutter wieder heimkam, konnte sie sich mit ihrem Sohn ohne Dolmetsch nicht verständigen! Das führte oft zu komischen Situationen. So kam Fritz eines Tages in die Wohnung und wünschte, die Mutter solle ihm eine der Weidenruten abschneiden, die am Bachesrand vor unserem Garten wuchsen. „Maminko, dej mi prut", rief er. Mutter hatte keine Ahnung davon, was ein prut ist, hielt es für selbstverständlich, dass das Söhnchen immer Hunger habe, und gab ihm, durch die Wortähnlichkeit verführt, ein Stückchen Brot. Das wies dieser zornig zurück. Nicht chleb wolle er, sondern prut. Erst meine Intervention beseitigte das Missverständnis. Das Verlangen nach prut wurde aber zu einem geflügelten Wort in unserer Familie. Mutters Tätigkeit im Ausland führte sie zuerst nach Sondershausen, wo sie im Januar 1860 gastierte und engagiert wurde. Die Stadt liegt in Thüringen, ein kleines Nest, das 1860 etwa 5000 Einwohner zählte, aber Residenzstadt war für das Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, mit rund 60.000 Einwohnern. So viele Schäden die deutsche Kleinstaaterei mit sich brachte, für manche der kleinen Residenzen hatte sie den Vorteil, dass der „ H o f dort auf jeden Fall ein Hoftheater haben musste, was allerdings die Gesamtbevölkerung des Zwergstaates recht teuer zu stehen kam. Meine Mutter spielte dort mit viel Erfolg. Schliesslich kam ihr der Vater nach, März 1860, und bekam Gelegenheit, für das Hoftheater einige Dekorationen zu malen, die gefielen. Doch den Hofbeamten gegenüber liess er es an der nötigen Unterwürfigkeit fehlen. Mit einem der Kammerherren, der in die Theaterdinge dreinredete, kam er in Konflikt, worauf er des Landes verwiesen wurde. Er erklärte sich bereit, sofort von der Residenz aus den Fussmarsch zur Grenze anzutreten und sie binnen einer Stunde zu überschreiten. Das war nicht schwer zu machen, da die Entfernung bloss 5 Kilometer betrug. In Wirklichkeit verliess er Sondershausen natürlich nicht zu Fuss, sondern mit der Post. Die Eisenbahn von Nordhausen nach Erfurt, an der Sondershausen liegt, war damals noch nicht einmal geplant, geschweige gebaut. Johann Kautsky fuhr mit seiner Gattin. Wir Kinder begrüssten mit Jubel wieder unsere Mutter, doch nur auf kurze Zeit. Denn schon im Mai 1860 erhielt sie ein neues Engagement für den Winter, wieder an ein kleines Hoftheater, nach 86

Mecklenburg-Strelitz. Dabei hatte sie jedoch Pech. Gerade, als die Theatersaison begann, anfangs September 1860, starb der Grossherzog von Mecklenburg-Strelitz. Daher Hoftrauer, das Hoftheater durfte längere Zeit nicht spielen. Damit die Truppe nicht unbeschäftigt bleibe, liess man sie in Güstrow auftreten, in Mecklenburg-Schwerin gelegen, wo man nicht so stark trauerte. Ausserdem umschloss Güstrow mehr Einwohner wie die Residenzstadt Neustrelitz. Diese zählte 1871 (frühere Zahlen habe ich nicht zur Hand) 8.470, Güstrow dagegen 10.575, also über 2000 mehr! Eine Reihe von Güstrower Zeitungen vom September und Oktober 1860 verzeichneten grosse schauspielerische Erfolge meiner Mutter. Trotzdem sollte ihre Tätigkeit in Mecklenburg bald ein Ende finden. Sie wurde plötzlich heiser, konnte nicht auftreten, und als das sich nicht rasch besserte, entliess sie der Direktor ohne weiteres. Das war seine Rache dafür, dass meine Mutter seine frechen Annäherungsversuche energisch zurückgewiesen hatte. Unter dieser Direktion weiter zu arbeiten, wäre ihr auf jeden Fall unerträglich gewesen. Sie verzichtete daher darauf, an die Verwaltung des Hoftheaters zu appellieren, und nahm die Kündigung entgegen, ging nach Rerlin, um nach einem anderen Engagement in Deutschland Umschau zu halten. Mein Vater wollte jedoch davon nichts mehr wissen. Er war schon längst zur Erkenntnis gekommen, die Trennung der Frau von dem Gatten und den Kindern bringe auf die Dauer unerträgliche Folgen mit sich. Er beschwor Minna, nach Prag zurückzukehren. Er hatte die kühne Idee gefasst, seine Frau auf der tschechischen Bühne auftreten zu lassen, wo eine erste Liebhaberin gesucht wurde. Er traute Minna genügende Kenntnis der tschechischen Sprache zu, um das leisten zu können. Die Leitung der tschechischen Nationalbühne in Prag schloss sich seiner Einladung an. Sie stand davor, ein eigenes Theatergebäude zu erhalten, das Interimstheater, das 1862 eröffnet wurde. Dafür brauchte man Schauspieler. Da durfte man ein Experiment wagen. Und meine Mutter wagte es. Seit langem schon gab es in Prag neben dem deutschen ein tschechisches Nationaltheater. Dieses freilich jenem untergeordnet. Die tschechischen Schauspieler spielten alternierend mit den deutschen im gleichen Theatergebäude, benutzten den gleichen technischen Apparat, unterstanden der gleichen Leitung, die eine deutsche war. An tschechischen hervorragenden Berufsschauspielern war anfangs grosser Mangel. Mancher Schauspieler war an der deutschen wie an der tschechischen Bühne tätig, so z.B. das Ehepaar Kolar, wie aus dem „Almanach des königlichen ständischen Theaters (deutschen und böhmischen) zu Prag auf das Jahr 1850" hervorgeht, der sich in meinen Händen befindet. Am meisten waren die Darstellerinnen von

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Kinderrollen in beiden Sprachen tätig. Das deutsche Theater verzeichnet 5 Darsteller solcher Rollen, das tschechische 4. Drei von ihnen waren in beiden Sprachen tätig, darunter die Deutsche Friederike Bognar (geboren 1840), die später seit 1858 eine erste Grösse im Wiener Burgtheater wurde. Aber dass eine erwachsene deutsche Schauspielerin tschechisch agierte, das war etwas Unerhörtes und wird es wohl auch bleiben. Dass das Experiment gewagt wurde, erklärt sich einerseits aus der furchtbaren materiellen Not der Familie Kautsky und anderseits aus einem momentanen Mangel der tschechischen Bühnen an Darstellerinnen der Rollen, die meine Mutter beherrschte. Ungemein rasch fand sie sich in ihren neuen Wirkungskreis hinein. Anfangs November war sie noch in Berlin gewesen, und schon am 9. Dezember trat sie in Prag als Gast in einer tschechischen Vorstellung des „Faust" als Gretchen (Marketa) auf. Nach einem Bericht im „Cas" vom 11. Dezember mit grossem Erfolg. Die Rezension ist gezeichnet I. N., Jan Neruda. Er begrüsst sie aufs wärmste, wobei er betont, dass nicht nur ihre Darstellungskunst eine glänzende, sondern auch ihre Aussprache des Tschechischen korrekt sei. Ich selbst kann darüber aus eigener Wahrnehmung nicht berichten, obwohl meine Eltern die sonderbare Idee hatten, mich, den Sechsjährigen, der Vorstellung beiwohnen zu lassen, begleitet von der getreuen Kathi. Ich sollte die Mutter sehen. Die erste Kindervorstellung, der ich in meinem Dasein beiwohnte, war also Goethes „Faust". Noch nie war ich in einem Theater gewesen, ich unterhielt mich sehr gut, solange es im Zuschauerraum etwas zu sehen gab. Als sich dieser aber verfinsterte, der Vorhang aufging und Faust in einem dunklen Gemach seine endlosen Monologe begann, langweilte ich mich furchtbar. Doch hielt ich's für meine Pflicht auszuharren, und zeitweise gab es ja auch lichte Stellen, wie die Hexenküche mit ihren Meerkatzen und Auerbachs Keller mit den lustigen Gesellen und Mephistos Allotria. Von gespanntester Aufmerksamkeit wurde ich aber erfüllt, sobald meine Mutter auftrat, die ich an der Stimme sofort erkannte. Das, was geschah, blieb mir dunkel, aber dass dabei meine Mutter agierte, erfüllte mich mit Staunen und Bewunderung. Dieses erhabene Gefühl wich jedoch jähem Schreck, als Valentin auftrat, sich die Degen kreuzten, Valentin niedergestochen wurde und meine Mutter hervorstürzte und sich über ihn warf. Entsetzt glaubte ich, sie breche tot zusammen, konnte mich nicht mehr beherrschen und fing an zu jammern: „Maminko, maminko!" (Mütterchen, Mütterchen!). Kathi verschloss mir eilends den Mund und brachte mich aus dem Zuschauerraum. Was sie mir aber nicht zu verschliessen vermochte, waren die Schleusen meiner Augen, aus denen sich ein endloser Tränenstrom ergoss. Ich hatte die Mutter verloren: wie war das zu 88

ertragen? Kathi war mit mir ins Theaterrestaurant gegangen, und mein Vater, den man geholt, erschien bald, doch auch er vermochte mich nicht zu trösten. Erst als das Drama auf der Bühne zu Ende war und die Leibhaftigkeit meiner Mutter lachend und gerührt vor mir stand und mich küsste, nahm auch das Drama in meiner Brust ein Ende und schlug in sein Gegenteil um. Übermütige Heiterkeit ergriff mich und steigerte sich noch, als ich eine Droschke besteigen durfte, um nach Vrsovice zu fahren. Das war der Gipfel der Genüsse. Heute noch steht diese Theatervorstellung lebhaft vor mir. Von den vielen, denen ich seitdem beigewohnt, hat sich keine meinem Gedächtnis so eingeprägt wie diese. Ich bekam bald darauf Gelegenheit, auch andere Vorstellungen zu sehen, z.B. „Die Räuber". Aber als dabei Amalie erstochen wurde, rührte mich das nicht im mindesten. Einmal deshalb, weil sie nicht von meiner Mutter dargestellt wurde (es war eine deutsche Vorstellung), dann aber und vor allem deshalb, weil ich jetzt wusste, dass alles, was auf der Bühne vorgehe, blosse Flause sei, die nicht ernst genommen werden dürfe. Ich sah ja nur die Gestikulationen, die Worte verstand ich nicht. So blieb ich einige Zeit hindurch der Bühne so kühl blasiert gegenüber wie ein alter Theatergänger. Erst als das Verständnis des Werkes auftauchte, begann das Handeln auf der Bühne mich zu ergreifen. Die eigenen Kinder vorzeitig ins Theater zu schleppen, war eine alte Unsitte vieler Theaterleute. Ob sie heute noch besteht, weiss ich nicht. In seiner Besprechung hatte Neruda den Wunsch ausgesprochen, der Gast möge dauernd bleiben, nicht wieder Abschied nehmen. Meine Mutter spielte auch noch andere Rollen in tschechischer Sprache, so die Porcia, Thekla, Maria Stuart und auch die Jungfrau von Orleans. Ihr glänzender Harnisch, der uns in die Wohnung gebracht wurde, imponierte mir sehr. Aber auf die Dauer stellten sich bei den tschechischen Vorstellungen meiner Mutter doch Schwierigkeiten ein. Sie hatte als Deutsche die tschechischen Rollen nur geben können, weil sie seit ihrer Kindheit in Prag lebte. Sie war nicht so weit gekommen wie ihre sozialer veranlagten Geschwister, die das Tschechische vollkommen angenommen hatten, aber doch so weit, dass sie die Aussprache, die Musik der Sprache fast einwandfrei beherrschte, so dass man ihr in dieser Beziehung die Deutsche nicht im mindesten anmerkte. Mit dem Vokabularium und der Grammatik, über die sie verfügte, haperte es freilich sehr. Ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet entstammten der Strasse und der Küche, nicht der Literatur. Doch ein fabelhaftes Gedächtnis und eiserner Fleiss ermöglichten es ihr, fremde Worte und unverstandene Sätze festzuhalten. Trotzdem wäre es ihr unmög89

lieh gewesen, eine grosse Rolle tadellos und eindrucksvoll zu spielen, wenn sie diese nicht schon vorher deutsch studiert und gespielt hätte, wie z.B. das Gretchen. Da wusste sie von jedem Satz, was er besagte, verstand auch, was der Partner sprach. Ganz anders gestaltete sich die Sachlage, wenn es galt, in einem tschechischen Originalstück zu spielen, von dem keine deutsche Version vorlag. Da halfen aller Fleiss, alles Gedächtnis nicht, da war es mit der richtigen Aussprache nicht abgetan. Da stand meine Mutter hilflos vor ihrer Aufgabe. Hier fand ihre Beschäftigung als tschechische Schauspielerin ihre Grenze. Allerdings, mit der Zeit hätte sich diese Grenze überschreiten lassen durch systematisches Studium des Literaturtschechisch. Doch diese Zeit wurde meiner Mutter nicht gegeben. Bald nach ihrem Auftreten auf der tschechischen Bühne befielen sie schwere Anfälle einer Krankheit, die sich bei ihr schon vor 1860 gezeigt hatte. Sie nahm sie zunächst nicht ernst. In Sondershausen hatte sich ihr Befinden auch gebessert, in Mecklenburg jedoch wieder verschlechtert. Ihre Heiserkeit war ein Symptom dafür. Jetzt in den ersten Monaten des Jahres 1861 nahm das Leiden intensiv zu und machte ihr schliesslich jedes weitere Auftreten auf der Bühne unmöglich. Bis zu ihrem Lebensende ist sie die Krankheit nicht mehr losgeworden. Es waren zeitweise heftige Anfälle vom Blutspucken, die sie mitunter monatelang ans Krankenlager fesselten, manchmal dem Tode nahe brachten. Die meisten Ärzte stellten die Diagnose auf Lungentuberkulose, eine Folge andauernder Not, Sorge und rasch aufeinanderfolgender Wochenbetten. Bereits Ende 1859 war ihre Mutter derselben Krankheit erlegen, die nun bei der Tochter zu Tage trat. Dank einer unverwüstlichen Konstitution erholte sie sich freilich immer wieder, wurde sie 75 Jahre alt, entfaltete sie in den Pausen zwischen den Anfällen noch viel Lebenskraft und Lebenslust. Aber der so anstrengende Beruf der Schauspielerin war ihr von nun an für immer verschlossen, zu ihrem grossen Schmerz. Kurz vorher hatte auch Tante Luise diesem Beruf entsagt, allerdings aus einem anderen Grunde als ihre Schwester. Sie war kerngesund, hatte eine feste Stellung am Prager Deutschen Theater gewonnen und feierte dort Triumphe. Meine Mutter stellte Luisens Talent über das eigene. Allerdings war es anderer Art. Nicht Pathos, sondern übermütiger Humor kennzeichnete sie. Bald aber wurde sie, wie so manche andere vor ihr und nach ihr, vor die schwere Wahl gestellt zwischen himmlischer und irdischer Liebe, der Liebe zur Kunst und der zu einem Manne. Im Jahre 1858 hatte sie einen jungen hübschen Mann kennengelernt, den Apotheker Karl Wilhelm Potucek, der sich sterblich in sie verliebte und der ihr auch nicht gleichgültig blieb. Ihn zu heiraten, hiess jedoch der Bühne Adieu sagen, denn er wollte nur eine sorg90

same Hausfrau, keine Komödiantin und suchte überdies eine Apotheke auf dem Lande, wo es kein Theater gab. Meine Mutter war über dieses drohende Unheil ausser sich, tat ihr möglichstes, die Schwester von der Ehe abzuhalten. Wie die Trojaner und Griechen um die Leiche des Patroklus kämpften Minna Kautsky und Karl Potucek um die Seele Luischens. Manchmal schien der wackere Apotheker mutlos den Kampf aufzugeben. Noch besteht ein Brief von ihm, vom 9. Juli 1858 an Luise, in dem es heisst: „Nachdem ich von der Ansicht ausgehe, dass es schlecht von einem Manne sei, ein Mädchen von einem Lebensziele abzulenken, welches demselben so herrliche Früchte tragen soll, wie es Ihre sehr besorgte Frau Schwester heute Ihnen in so schönen Farben geschildert hat, bereue ich es sehr, dieser Mann gewesen zu sein, und halte es für sehr wichtig, Sie wieder dem schönen Theaterleben zurückzugeben, und wünsche von ganzem Herzen, Sie möchten dabei ebenso glücklich werden, wie es mein sehnlichster Wunsch war, Sie in meiner zwar sehr bescheidenen Sphäre glücklich zu machen. Verzeihen Sie mein plötzliches Verschwinden, ich wollte mündlichen Erklärungen vorbeugen. Behalten Sie den, der für Sie die reinste Liebe hegte, in gutem Andenken, er war leider nicht derjenige, der beissenden Spott und dergleichen Sticheleien ertragen konnte." Natürlich verschwand Karl Wilhelm doch nicht und bald erwies er sich als der Stärkere. Luise wurde seine Frau, März 1860, nicht nur der Bühne ging sie verloren, sondern auch der deutschen Nation. Potucek war ein glühender tschechischer Patriot — seine erste Tochter nannte er Bozena —, obwohl seine Mutter eine Deutsche war, die, in Prag lebend, das Tschechische nicht erlernt hatte. Potucek erwarb eine Apotheke zuerst in Nepomuk, dann in Blovice — beides Städtchen in der Nähe Pilsens, in einer rein tschechischen Gegend. Die Kinder der Familie Potucek sprachen fast nur Tschechisch. Derartiger Nationalitätenwandel ist in Böhmen sehr häufig und bezeugt am eindringlichsten die Verkehrtheit, eine Sprachgemeinschaft als von Natur aus gegebene Rasse zu betrachten. Materiell gewann meine Tante Luise sehr. Aus Not und Elend wurde sie in Wohlhabenheit versetzt. Unter den Mitgliedern der Familie Jaich (eingeschlossen die der jetzigen Minna Kautsky) war sie jahrelang die einzige, die in sicherer Behaglichkeit lebte. Das Haus Anton Jaichs, schon verödet durch den Tod seiner Frau, wurde es noch mehr durch die Heirat seiner Tochter. Das Scheiden von dieser bedauerte auch ich sehr. Das der Grossmutter dagegen war mir nicht nahegegangen. Neben der „Faust"-Aufführung gehört zu meinen ersten Erinnerungen die an den Moment, da Tante Luise in unser Zimmer hereinstürmte, von Tränen überströmt, und ihrer Schwester die Nachricht vom 91

Tode der Mutter mitteilte, worauf auch diese in lautes Weinen ausbrach. Ich aber, als verrohter Unmensch, fing darüber hell zu lachen an. Meine Mutter, sonst sehr gütig, stürzte entrüstet auf mich zu, wie ich denn lachen könne, wo ich doch sehen müsse, dass sie bitterlich weine. „Gerade deshalb muss ich lachen", erwiderte ich. „Bloss kleine Kinder weinen, nicht erwachsene Menschen, hat man mir oft gesagt". In der Tat hatte man schon oft, wenn ich zu weinen begonnen hatte, an meinen Ehrgeiz appelliert, und mit Erfolg. Ich sei kein ganz kleines Kind und dürfte nicht mehr weinen. Dass die Grossmutter gestorben sei, hatte ich nicht gehört. Und als ich darüber aufgeklärt wurde, ging meine Trauer nicht so tief, als ich, schon um meiner Mutter willen, gern getrauert hätte. Die Grossmutter Jaich hinterliess keine Lücke in meinem Herzen, ich habe keine Erinnerung an sie. Immer hing ich an der Familie Jaich, nur die Grossmutter hatte mir nie etwas bedeutet. Das lag wohl an ihrer schweren Krankheit, die sie gerade von dem Zeitpunkt an lähmte, in dem mein Verstand erwachte und mein Erinnerungsvermögen zu funktionieren begann. Meine Onkel und Tanten tollten mit mir herum, mein Grossvater stillte meinen Wissensdurst. Die arme Marie Jaich war in den letzten Jahren ihres Lebens zu dem einen ebensowenig fähig als zu dem anderen. Nur einmal wieder sollte mir ein Todesfall Anlass zum Lachen geben. Da war ich schon über zwanzig Jahre alt. Onkel Altmann war gestorben, sein Hingang war eine Erlösung für ihn selbst, noch mehr für seine Umgebung. Bei der Fahrt vom Trauerhaus zum Friedhof wurde ich in einen Wagen mit drei Mädchen im Alter von sechzehn bis einundzwanzig Jahren gesetzt. Alle drei bildhübsch, heiter und witzig. Es waren Enkelinnen der Tante Nigris, lebten gewöhnlich in Pressburg. Ich kannte sie daher nicht. Doch die Fahrt dauerte lange genug, dass wir uns nicht nur anfreundeten, sondern auch in eine geradezu übermütige Stimmung gerieten. Selten wird ein Leichenwagen eine so vergnügte Gesellschaft geführt haben. Und dabei waren wir nicht einmal lachende Erben. Der Verlust der Tochter an einen Ehemann, der Verlust der Gattin an den Sensenmann rissen schmerzliche Lücken in die Familie Jaich. Schwer vermisste der Grossvater die treu sorgende Lebensgefährtin, ebenso wie die heitere, witzsprühende Tochter. Materiell hatte ihm das Ende der langjährigen Krankheit der Gattin zunächst kaum eine Erleichterung gebracht. Sie hinterliess eine schwere Schuldenlast. Die Heirat Luisens bedeutete direkt einen materiellen Verlust. Durch ihr Gehalt hatte sie das Familieneinkommen erheblich gesteigert. Das hörte nun auf. Doch damit waren Jaichs Leiden noch nicht erschöpft. Das für die Familien Jaich und Kautsky 92

so ereignisreiche Jahr 1860 schloss mit folgendem Brief, den Direktor Thoma vom Prager Landestheater am 28. Dezember, offenbar als Neujahrsglückwunsch an den Grossvater richtete: „Hiedurch zeige ich Ihnen an, dass unsere gegenseitigen Verbindlichkeiten mit Ende März 1861 zu Ende sind". Schluss! Anton Jaich war entlassen, ohne ein Wort der Begründung, des Bedauerns oder der Anerkennung für die Arbeit, die er seit 14 Jahren für das Landestheater gewissenhaft, fleissig und künstlerisch hochstehend geleistet hatte! Ob es eine besondere Ursache für diese Gemütsrohheit des feinen Direktors gab, weiss ich nicht. Vielleicht wird sie erklärlich durch eine Bemerkung, die Tante Flora in einem Brief über Thoma fallen lässt. Der Brief ist von Linz aus dem Jahr 1868 datiert, wo mein Grossvater damals engagiert war und das zweifelhafte Glück hatte, wieder diesen Thoma zu seinem Direktor zu bekommen, der sich als wortbrüchiger Leuteschinder erwies, siehe darüber Anton Jaichs Brief vom 2. September 1867 von Linz an Minna Kautsky. Am 2. April 1868 schrieb Flora an meine Mutter über Thoma: „Zu dem Vater hat er sich geäussert, dass ich mir sehr im Wege gestanden sei, indem ich seine Hand ausgeschlagen habe. Er muss es nicht vergessen können." War die abschlägige Antwort der Tochter die Ursache, dass Anton Jaich entlassen wurde, und zwar in so brüsker Art? Jedenfalls bezeugt die Art, das charaktervolle Mädchen nach acht Jahren noch wegen der erfolglosen Werbung des jetzigen Elends zu höhnen, zu dem er den Grund gelegt, eine ganz gemeine Natur. Anton Jaichs Lage gestaltete sich seit seiner Entlassung besonders trostlos. Die düstere Prognose sollte nie widerlegt werden, die er schon am 29. Juni 1857 in einem Brief an seine Tochter aussprach: „Das unerbittliche Geschick hat mich zu lebenslänglicher Armut verurteilt." Wohl suchten seine Kinder ihm seine Lage möglichst zu erleichtern. Viktor hatte nicht durch systematische Schulung, aber doch durch Vorbild und Anleitung seines Vaters Zeichnen und Malen erlernt und suchte seine Fertigkeit jetzt bestmöglich zu verwerten. Zuerst wurde er Musterzeichner in einer Textilfabrik in Kosmanos, dann Maler bei einem Photographen, der gewöhnliche Photographien in farbige Portraits umwandelte. Das verstand Viktor besonders gut. Aus dieser Arbeit zog er nun ein bescheidenes Einkommen. Und Flora versuchte es ihren Schwestern nachzutun und versuchte ihr Glück bei der Bühne. Wohl war sie talentlos, aber wunderschön, die schönste der Schwestern. So gelang es ihr, eine Stelle am Reichenberger Theater zu finden. Doch von einem Mädchen, das nur wegen seiner Schönheit engagiert wird, verlangt der Direktor, dass es gegen reiche Gönner des Theaters nicht spröde ist. Flora aber erwies sich den Reichenberger Fabrikanten gegenüber ebenso abweisend, wie vorher dem

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Prager Theaterdirektor gegenüber. Da brachte sie es auf der Bühne nicht weit. Eine Zeitlang blieb beim Grossvater Jaich nur sein Jüngster, der Onkel Toni. Aber auch für die beiden allein gab es bald kein Einkommen mehr. Sie mussten jetzt manchmal direkt hungern. So schrieb der Grossvater zum Beispiel am 25. November 1860 seiner Tochter Flora nach Reichenberg, die ihm von ihrem dürftigen Gehalt einen kleinen Zuschuss geschickt hatte: „Der Einschluss kam uns um so erwünschter, da es eben Mittag war und ich mit Toni deliberierte, wo wir zum Mittagmahl etwas hernehmen sollten. Wenn uns Kautskys nicht manchmal beistünden, wüssten wir oft nicht, was wir machen sollten." Mein Vater bot wirklich alles auf, seinem Schwiegervater zu helfen. Noch am 22. August 1862 schrieb ihm dieser (damals schon in Wien): "Lieber Kautsky. . . Glaube ja nicht, dass ich nicht fühle, welche grosse Opfer du für mich gebracht hast, indem du nicht nur den Teller (ein Prager Wucherer, ebenso die beiden weiter genannten K.), sondern auch den zudringlichen Bäsch gänzlich befriedigt hast, der grossen Schuld bei Winter gar nicht zu gedenken. Du hast so viel für mich getan, dass es mir weh tut, weil ich in meiner gegenwärtigen Lage nicht die Möglichkeit sehe, es sobald wieder zu vergelten, und weil ich weiss, mit welchen Sorgen du selbst zu kämpfen hast". In der Tat, diese Sorgen waren nicht gering. Im Jahre 1861 kam eine zeitweilige Hilfe dadurch, dass Anton Jaich und Johann Kautsky Gelegenheit erhielten, an der Restaurierung des Schlosses Pölitz (tschechisch Police) mitzuwirken. Die Hilfe für die Familie war allerdings geringfügig, denn nicht wenig von dem, was die beiden Maler erhielten, verbrauchten sie für sich selbst, getrennt von der Familie lebend. Am 8. Juli 1861 schrieb Minna ihrem Gatten um Geld: „Ich versichere, ich spare soviel ich kann, doch brauche ich zwei Gulden täglich. Wir trinken, seit du fort bist, keinen Kaffee und haben zum Nachtmahl nichts als ein Butterbrot und dennoch geht soviel auf." Dem Schuster allein waren 14 Gulden zu zahlen. In einem anderen Brief, der nicht datiert ist, aber offenbar aus der gleichen Zeit stammt, schreibt Minna: „Ich führe ein sehr angenehmes Leben. Alle Tage kommt ein anderer Gläubiger und macht mir eine Szene. Der Teller war zweimal bei mir, bevor er sein Geld bekam, die Guttenstein war ebenfalls schon wieder hier, du sollst ihr wenigstens 20 Gulden schicken und ihr schreiben, damit sie weiss, an was sie sich zu halten hat. Sie lässt ihre Wut immer an mir aus. Der Hausherr macht auch schon furchtbare Gesichter und wahrscheinlich wird er kündigen . . . Soeben schickt Herr Walter her, du möchtest nicht vergessen, dass am dritten ein Wechsel fällig ist, du weisst, der versteht keinen Spass." 94

Vergebens suchte Grossvater Jaich nach Mitteln, sich über Wasser zu halten. Er malte Dioramen und stellte sie aus. Sie erlangten nicht genügenden Zuspruch, vermehrten noch die Schuldenlast. Endlich winkte ihm ein Hoffnungsschimmer. Direktor Hoffmann vom Josefstadt-Theater in Wien brauchte einen Theatermaler. Jaich bewarb sich um die Stelle und erhielt sie. Im Januar 1862 reiste er nach Wien. Doch Tröstliches hatte er von dort nicht zu melden. Direktor Hoffmanns finanzielle Lage hatte sich nicht gebessert, seitdem er 1857 den Krach mit meinem Vater gehabt. Schon am 28. Februar 1862 klagt Anton Jaich seiner Tochter, er habe bisher noch keine Gage erhalten. „Es sind noch Gagen vom Dezember rückständig." Am 4. Oktober teilt er Minna mit, er fürchte, Karl Potucek sei ihm böse, „weil ihm Kral um Geld geschrieben", wahrscheinlich wieder ein Prager Wucherer, dem gegenüber sich Potucek für seinen Schwiegervater verbürgt hatte. Dieser besass ja für sich allein keinen Kredit mehr. Jaich meint weiter, mein Vater sei langmütiger als, wie er vermutet, Potucek. „Kautsky hat soviel für mich geopfert, was er schmerzlicher empfinden musste (als der wohlhabende Potucek. K.), und er hegt doch darum keinen Groll gegen mich. Am meisten schmerzt es mich, dass meine Kinder in dem Glauben leben müssen, dass ich mich aus purem Leichtsinn nicht um meine Gläubiger kümmere, da keines meine trostlose und verzweiflungsvolle Lage hier k e n n t . . . Seit 15. September konnte ich nichts mehr erhalten. Toni verkaufte einige alte Kleider, wofür ich einige Gulden erhielt.. Einmal gingen wir zu Fuss nach Mödling, einmal nach Salmannsdorf, nur um für den Tag etwas zum Essen zu erhalten. Einen Tag waren wir abends bei Altmanns, wo sie uns mit Erdäpfel und Würstel traktierten. Wir hatten um acht Uhr abends für diesen Tag den ersten Bissen in den Mund genommen. Auf ähnliche Weise haben wir uns bis zum 3. Oktober, ich möchte sagen, durchgebettelt." Am 3. Oktober erhielt er den Rest seiner Gage vom August und eine Anzahlung für den September. Anton kam zu dem Schluss: „Oft sehne ich mich nach Prag zurück, wo ich selbst ohne Engagement weniger Not leiden musste." Es war eine im höchsten Grade proletarische Existenz, die mein Grossvater führte. Jedoch nicht die Existenz des Proletariers etwa in einer Fabrik, der durch seine Arbeit mit zahlreichen Schicksalsgenossen vereint wird und aus der Vereinigung Widerstandskraft zieht. Allein in seinem Malersaale tätig, wurde er durch seine Arbeit isoliert, ähnlich wie der industrielle Heimarbeiter, und dadurch kampfuntüchtig gemacht. Sein Schicksal erfüllte mich mit tiefem Mitleid für die arbeitende Armut, in seiner Hoffnungslosigkeit aber erweckte es in mir keine sozialistische Zuversicht. Doch zu allen Erwägungen dieser Art kam ich erst viel später.

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Solange ich in Prag war, merkte ich von dem Elend des Grossvaters nichts und auch nichts von der Not in der eigenen Familie. Meine Eltern liessen ihre Sorgen nie die Kinder entgelten. Uns gegenüber waren sie nie unwirsch, immer heiter und gütig. Nie litten wir Mangel an Nahrung. Unsere Wohnungen waren freilich stets sehr beengt, doch, soweit ich mich erinnere, nicht ungesund. In Vrsovic lag unsere Wohnung innerhalb eines Gartens in einem freistehenden Hause. Als wir 1861 von Vrsovic nach Prag zogen, in die Krakauergasse, umfasste unsere Wohnung wohl nur ein Zimmer und eine Küche. Aber das Zimmer sah auf eine lange Reihe von Gärten gegen die Bastei hinaus. In dem einen Zimmer malte mein Vater seine Bilder, studierte meine Mutter ihre Rollen, trieben wir Kinder unser Unwesen. Kein Wunder, dass die Mutter manchmal verzweifelnd ausrief: „Das halte ich nicht aus, ich werde verrückt! Ich gehe durch", und zur Ausgangstür stürzte. Schreiend klammerten wir Kinder uns an sie und beschworen sie, uns nicht zu verlassen, wir würden ganz stille sein. So wurde die drohende Mutterlosigkeit beschworen, wenigstens eine Viertelstunde lang blieben wir Kinder mäuschenstill. Dann begannen wir wieder lustig loszutoben. Ernstlich böse wurde unsere Mutter darob nie. Vaters Malerei bot uns manchmal besondere Genüsse. Er war gezwungen, jeden Auftrag auszuführen, der sich ihm bot. Einmal malte er ein Strassenschild für eine Delikatessenfirma. Die herrlichsten Leckerbissen wurden ins Haus gebracht, damit er sie abkonterfeie, Hummer und Lachse, allerdings nicht Bärenschinken, aber Fasane und Enten. Das alles wurde wieder abgeholt, nachdem es als Modell gedient, aber das herrliche Obst, das mitkam, durften wir behalten mit Ausnahme einer Ananas. Es vertrug wohl das Lagern nicht. Während meiner ganzen Kinderzeit bekam ich nicht so exquisites Obst zu verkosten. Leider zeichnete es sich nur durch seine Qualität aus, nicht durch seine Quantität. Durch Näschereien wurden wir Kinder nicht verwöhnt. Dafür hatten die Eltern kein Geld, die Freunde der Eltern zumeist auch nicht. Dagegen geistige Genüsse wurden mir frühzeitig zugänglich, ganz abgesehen von den ersten, in ihrer geistigen Wirkung sehr fragwürdigen Theaterbesuchen. Schon in meinem vierten Lebensjahr machte mich die Mutter mit den Buchstaben vertraut. In meinem sechsten Jahr konnte ich bereits fliessend lesen und war ein fleissiger Leser. Das erste Buch, das ich in die Hand bekam, war eine für Kinder zurechtgemachte Sammlung biblischer Erzählungen, das zweite „der kleine R a f f , eine Sammlung von Tiergeschichten. G. C. Raff hatte 1778 eine „Naturgeschichte für Kinder" herausgegeben, die noch die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschen Volke ebenso populär war, wie später der Brehm. Ein Auszug daraus war „der kleine R a f f . Bald las ich schon

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längere Erzählungen, die einen ganzen Band füllten, so eine Bearbeitung von Coopers letztem Mohikaner „für die reifere Jugend". Zu dieser konnte man offenbar schon mit acht Jahren zählen. Auch historische Lektüre betrieb ich. Mit acht Jahren machte ich mich an Nösselts Weltgeschichte heran, ein damals sehr verbreitetes Buch. Am 20. März 1862 schrieb meine Mutter ihrem Vater über mich: „Geschichte liest er jetzt mit ungeheurem Eifer, dabei sucht er sich jedes Land, jede Stadt, jeden Fluss auf der Landkarte auf und hat auf diese Weise schon eine ziemlich umfassende Kenntnis der Geographie erlangt." Ausserdem las ich noch vielerlei anderes, alles Lesbare, das ich im elterlichen Hause auftreiben konnte. Allerdings nicht alles las ich zu Ende. Schillers „Teil" warf ich schon nach den ersten Szenen weg, weil noch immer nicht der Apfelschuss kommen wollte. Von dem hatte mir nämlich schon meine Mutter erzählt. Das mündliche Verfahren mit seinen Fragen und Antworten zog ich immer noch dem gedruckten vor, bei dem so viel Unverständliches vorkam, worüber ich den Autor nicht befragen konnte. Das Fragen und Antworten ist in der Tat das wichtigste Moment bei der mündlichen Belehrung, dasjenige, das sie über die durch Bücher erhebt. Kanzelreden von Geistlichen oder Vorträge von Professoren und ähnliche mündliche Darlegungen haben heute im Zeitalter des Buchdrucks gar keinen Zweck, wenn sich an sie nicht eine Diskussion anschliesst. Am heutigen Universitätsbetrieb sind denn auch die Seminare das Wichtigste. Es ist ein arger Rückschritt der letzten Jahre in Politik und Wissenschaft, dass sie aus Parlamenten und Universitäten Kirchen macht, in denen die bestallten Kleriker und Bonzen allein das Wort haben und eine Befragung oder Gegenrede ausgeschlossen ist — für den Pfarrer allerdings das Bequemste. Das Radio verstärkt noch diese Entwicklung, indem es den Hörer vom Redner oder Darsteller vollständig trennt, jede Wechselwirkung zwischen ihnen ausschliesst, nicht einmal Zeichen des Beifalls oder Missfallens ermöglicht. Das religiöse Denken wird dadurch gefördert, das an absolute, ein für allemal feststehende Wahrheiten glaubt, das kritische Vermögen, die Triebkraft jedes geistigen Fortschritts, bedenklich geschwächt — soweit nicht andere Faktoren im gesellschaftlichen Leben stark genug werden, diese Tendenz zu überwinden. Lange konnten meine Eltern sich nicht entschliessen, mich in eine Schule zu schicken. Die Volksschulen waren in Österreich damals noch miserabel und der Schulzwang nicht streng. Erst die liberale Ära, die durch die Schläge von 1866 aufkam, hat dann ein relativ gutes Volksschulwesen geschaffen und den Schulzwang allgemein gemacht. Trotz ihrer Geldnot hielten mir meine Eltern einen Privatlehrer von 97

1862 an, der mir den Lehrstoff für die ersten zwei Klassen der Volksschule in einem Jahr beibrachte. Bei der Prüfung, die ich in der Piaristenschule zu Prag am 25. Februar 1863 abzulegen hatte, bekam ich ein Zeugnis erster Klasse mit Vorzug. Auch meine Kenntnis der böhmischen Sprache erlangte das Lob des Prüfungskollegiums. Die rasche Bewältigung des Lehrstoffes für zwei Jahre in einem Jahr braucht nicht eine ausserordentliche Befähigung zu beweisen. Wohl aber spricht sie dafür, und Erfahrungen mit anderen Schülern bestätigen es, dass es von Vorteil ist, mit der ermüdenden Schulfron nicht zu früh zu beginnen, dem jugendlichen Geist möglichst lange seine volle Freiheit zu lassen. Auch ein junges Pferd wird in seiner Leistungsfähigkeit geschädigt, wenn man es zu jung einspannt und zwingt, einen Wagen zu ziehen. Nur für Kinder, die unter ungünstigen häuslichen Bedingungen aufwachsen, mag der frühzeitige Zwang zur Schule von Vorteil sein, wo sie im Vergleich zum Elternhaus eine günstigere Umwelt finden. Dagegen braucht blosses Herumtreiben auf der Strasse noch kein Grund zu sein, ein Kind vorzeitig der Freiheit zu berauben. Gewiss wirkte auf mich neben dem Unterricht des Lehrers die rege geistige Atmosphäre, die in unserem Hause herrschte, dank seiner innigen Verbundenheit mit der Welt nicht nur der darstellenden, sondern auch der bildenden Kunst, und zwar beider Nationen. Unter den deutschen Schauspielern war besonders der Charakterdarsteller Karl Dolt aufs engste mit meiner Familie verbunden, ein Jugendfreund meines Grossvaters noch aus der Zeit vor seiner Verheiratung, mit dem Anton Jaich schon in Brünn und dann in Graz zusammengewesen war und den er dann in Prag wiedergefunden hatte. Beiden war die Eigentümlichkeit gemeinsam, dass sie nie die Sprache des Volkes erlernten, in dem sie lebten.Tschechische Schauspieler habe ich nur zu sehen bekommen bei der schon erwähnten Aufführung des „Faust." Da gab der ältere Kolar den Mephistopheles, der jüngere den Valentin, Simanovsky den Faust. Im Privatleben habe ich weder sie noch einen ihrer Kollegen kennengelernt, obwohl meine Eltern viel mit ihnen verkehrten, oft von ihnen sprachen. Unter den Kunstkritikern und Kunstfreunden unseres Kreises entsinne ich mich am besten des schon erwähnten Jan Neruda, der damals seinen literarischen Aufstieg begann, von meinen Eltern bereits hochgeschätzt. Besondere Freundschaft aber schlössen sie mit dem Deutschen Eduard Trebitsch, der wohl von Berufs wegen mit dem Bankwesen zu tun hatte, aber ganz im Theater aufging. Sein Kunstenthusiasmus, seine hohe literarische Bildung, sein feines Verständnis machten ihn meinen beiden Eltern gleich wertvoll. Er war in Prag wohl der häufigste Gast in unserem Hause. Auch mit mir gab 98

er sich viel ab. Besonders eng waren die Beziehungen meines Vaters zu seinen Kollegen, Malern und auch Bildhauern. Merkwürdigerweise waren sie alle Tschechen, soweit ich mich ihrer erinnere. Besonders gut entsinne ich mich des Malers Manes, nicht wegen seiner künstlerischen Leistungen, von denen ich natürlich nichts verstand, sondern deswegen, weil er besonders nett zu mir war. Wenn mein Vater ihn besuchte, durfte ich mitunter mitkommen, und da zeigte er mir stets Bilder, Zeichnungen oder Holzschnitte, die mich interessierten. Es waren fast durchweg junge, fröhliche Menschen, die bei uns verkehrten. Doch durch die Jugend lernte ich auch einen Alten kennen, der sehr berühmt war. Zu den Freunden meines Vaters gehörte der gleichaltrige Maler Purkyne, Sohn des berühmten Physiologen Joh. Purkyne, dessen Arbeiten schon Goethes Aufmerksamkeit und seinen Beifall gefunden hatten. Mein Vater kam öfters in dessen Haus und meine Mutter auch. Eines Tages sagte sie zu mir: „Komm mit mir, sei aber sehr brav, wir gehen zu einem berühmten Mann." Sehr erregt folgte ich ihr und stand ehrfurchtsvoll vor dem weisshaarigen Greise, der mehr als siebzig Jahre zählte und dessen Anblick in der Tat grossen Respekt einflösste. Was er mit meiner Mutter sprach, verstand ich nicht. Nur einer Bemerkung erinnere ich mich, dass er ihre Ohren wegen ihrer Kleinheit sehr bemerkenswert fand. Was mir auffiel, war, dass er tschechisch mit meiner Mutter sprach, obwohl er merken musste, dass sie es nicht korrekt sprach. Purkyne beherrschte das Deutsche natürlich vollkommen. Hatte er doch über zwei Jahrzehnte lang als Professor der Physiologie an einer deutschen Universität (in Breslau) doziert und wissenschaftliche Werke in deutscher Sprache verfasst. Auch an der Prager Universität, an der er seit 1850 tätig war, musste er wohl Deutsch vortragen. In der Familie jedoch zog er jedenfalls den Gebrauch des Tschechischen vor. Ich war gewöhnt, dass die Freunde des Hauses, auch die Tschechen, in Gegenwart meiner Mutter Deutsch sprachen. Hatten sie nur mit meinem Vater zu tun, so verfielen sie von selbst ins Tschechische. Für mich machte das keinen Unterschied, ich konnte mich in der einen Sprache ebenso leicht und fliessend ausdrücken wie in der anderen. Die Sprachenfrage Böhmens existierte für mich nicht, ich machte keinen Unterschied zwischen den beiden Nationen. Natürlich galt das bloss für den geselligen Verkehr. Aber mit politischen Fragen wurde ich noch nicht beschäftigt. Ich wuchs in Prag als das richtige Stadtkind auf, abgesehen von der Unterbrechung in Vrsovice. Von der Natur lernte ich nicht viel kennen. Die Basteien sowie der schöne Canalische Garten ausserhalb der Stadtmauer waren für mich die Örtlichkeiten, in denen ich Luft schnappte und Sonnenlicht genoss. Daneben boten mir die Moldau-

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inseln, namentlich die Schützeninsel, eine Ahnung von Natur, obwohl auch sie von Gärtnershand hergerichtet waren. Einen Wald bekam ich nur ein einziges Mal zu sehen, da nahm mich mein Vater zu einem Ausflug nach Krc mit. Öfter machte ich einen anderen Ausflug, der mir viel Vergnügen machte. Mitunter besuchte mein Vater seinen Vater, und da wurde ich mitgenommen — vielleicht als Blitzableiter. Ich war das einzige Glied unserer Familie, das der Grossvater Kautsky mochte. Aus welchem Grund gerade ich, weiss ich nicht. Nie verlangte er, meine Mutter zu sehen oder eines meiner Geschwister. Nie kamen sie zu ihm. Ich glaube, Schwester und Brüder haben ihn gar nicht kennengelernt. Ich dagegen wurde in Dvorec immer gut aufgenommen. Sollte es deswegen gewesen sein, weil ich ihm mit der Zutraulichkeit entgegenkam, die der andere Grossvater, Jaich, mir zur zweiten Natur gemacht hatte? Mein Vater verkehrte mit ihm stets ehrfurchtsvoll, ich sprach zu ihm ungeniert von der Leber weg. Mein Vater redete ihn mit „Sie" an, was damals eine sehr verbreitete Anrede an Eltern war. Ich sagte ihm ohne weiteres „Du". Doch trotz alles Wohlwollens, das er für mich hegen mochte, erschien er auch mir ungeschlacht und lieblos. Er gewann nicht meine Sympathie. Aber wie herrlich war der Weg nach Podol! Die Strasse aus Prag dahin nahm in Podskal ein Ende, am Fusse des steil zum Flusse abfallenden Vysehrad. Von da an hiess es, wollte man einen grossen Umweg über die Höhe vermeiden, den Wasserweg benutzen. Stets standen Schiffe und Schiffer bereit, den Personentransport gegen, ich glaube, zwei Kreuzer pro Person zu übernehmen. Eine solche Wasserfahrt war für sich allein schon ein Fest. Und dann der Aufenthalt auf dem Landgut des Grossvaters. So viele Tiere, nicht bloss Hühner und Gänse, sondern auch Rinder, die ich auf die Weide begleiten, Pferde, auf denen ich reiten durfte. Und dabei Knechte und Mägde, die mir herzlich und heiter entgegenkamen und mir viel lieber wurden als der hölzerne, finstere Grossvater, den ich nie lachen sah. Meine ersten Kenntnisse der Agrarfrage schöpfte ich damals bei meinen Besuchen in Dvorec. Viel weniger erfreulich empfand ich meine Besuche bei der Grossmutter Kautsky auf der Kleinseite. Sie fanden höchst selten statt, nie verlangte ich danach. Bei der Grossmutter hiess es im Zimmer bleiben, ruhig sitzen und nur reden, wenn man dazu aufgefordert wurde. Die Düsterkeit der Frau und ihres Zimmers wurde auch durch keine lachende Umgebung erhellt. Ihr Dienstmädchen war ebenso grämlich wie sie selbst und konnte ebenso bissig werden. Nur der Weg auf die Kleinseite war interessant und anziehend, über die alte steinerne Brücke mit ihren vielen Figuren. Drüben wurden meine Blicke vor allem durch das kürzlich aufgestellte Radetzkydenkmal gefesselt. Nicht wegen seiner Schönheit, 100

um die ich mich nicht kümmerte, sondern wegen seiner Zirkusidee: Der General balancierte stehend auf einem Schild, der von Soldaten der verschiedensten Regimenter und Nationen Österreichs hochgehoben wurde. Dass er von einer so schwankenden Basis nicht herunterfiel, erfüllte mich stets mit Bewunderung für ihn. Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass das Denkmal der Verherrlichung eines Mannes der Reaktion diente, die er seit 1813 zu wiederholten Malen zum Siege geführt hatte, der letzte siegreiche Feldherr Österreichs. Seit seinem Tode hat es nur noch Kriege geführt, aus denen es geschlagen und schliesslich zertrümmert hervorging. In der Tat konnte man das Radetzkymonument ganz gut als ein Symbol der Lage der Habsburger Monarchie betrachten. Sie beruhte auf einer Grundlage, die ebenso schwankend und unsicher war, wie der von ein paar Soldaten hochgehobene Schild. Die wenigen Besuche bei der Grossmutter Kautsky vermochten das Bild nicht zu trüben, das ich von meiner Prager Kindheit bewahrt habe: es war eine sonnige, fröhliche Zeit. Die Sorglosigkeit und Fröhlichkeit junger Künstler herrschte in unserem Hause in vollstem Masse. Alle die Maler, Schauspieler, Literaten, Kunstenthusiasten, die bei uns verkehrten, waren stets heiter und guter Dinge, immer darauf bedacht, sich und ihrer Umgebung das Leben leicht und angenehm zu machen, trotz aller Geldsorgen, die auf den meisten unter ihnen lasteten. Meine Eltern wussten wohl in den heiteren Ton einzustimmen. An Witz und Temperament fehlte es ihnen nicht. Unter anderm gehörte mein Vater zu den Gründern der „Schlaraffia", einer Vereinigung von Künstlern und Kunstfreunden, die 1859 in Prag ins Leben trat. Ihr Symbol war eine Eule, wohl als Vogel der Pallas Athene. Ich erinnere mich noch einer Dekoration, die mein Vater für das Gründungsfest malte. In ihrer Mitte war ein Uhu dargestellt, links davon stand mit grossen Buchstaben: Aha, rechts: Oho. Vielleicht erinnere ich mich deshalb dieser Dekoration, weil ich an ihr mit Stolz feststellen konnte, dass ich schon imstande sei, zu lesen. Heute noch gibt es Schlaraffen und Schlaraffenbünde. Das „Mutterreich" ist Prag geblieben. Sooft ich später auf Schlaraffen traf, behandelten sie mich mit besonderem Respekt, wenn sie erfuhren, dass ich der Sohn eines der Urschlaraffen sei. Doch die Freunde unseres Hauses, Tschechen wie Deutsche, waren nicht bloss heitere Gesellen. In ihrer Mehrzahl erfüllte sie auch hohes, geistiges Streben. Es war eine Atmosphäre höchster geistiger Regsamkeit, eines tätigen Idealismus, die den Kreis erfüllte, in dem ich lebte. So jung ich war, diese Atmosphäre begann auch auf mich einzuwirken. Ich fühlte mich nicht bloss froh und glücklich, sondern auch erfüllt von heissem Wissensdrang. 101

12. N O C H M A L S N A C H W I E N

In ganz neue Verhältnisse gelangte ich plötzlich, als mein Vater zum Burgtheater in Wien kam. Im Herbst 1862 wurde dort die Stelle eines Dekorationsmalers frei. Mein Vater bewarb sich darum. Von dem Winter 1856—1857 her besass er in Wien einen guten Ruf. Er hatte eine Probedekoration zu malen und einzusenden. Am 7. Januar 1863 wurde sie Laube vorgeführt, der seit 1849 (bis 1867) das Burgtheater leitete. Mein Grossvater hatte Gelegenheit, der Vorführung beizuwohnen. Er berichtete seiner Tochter darüber (am 8. Januar): „Gestern nach der Vorstellung wurde die Dekoration besichtigt und der Erfolg war, wie ich mir ihn dachte, ein vollkommen günstiger. Direktor Laube war sehr damit zufrieden und sagte mir, er werde gleich den Herrn Oberkämmerer davon in Kenntnis setzen und dann an Kautsky schreiben. Es wäre ihm sehr lieb, wenn Hanns schon früher als zu Ostern in Wien eintreffen könnte, da die „Nibelungen" gegeben werden sollen, die einer grossen Ausstattung bedürfen." Damit wurde über Nacht mein Vater aus einem armen Schlucker ein Hoftheatermaler. Eine neue Lebensbasis war gefunden. Es war das erste Theater der Monarchie. So rasch es konnte, verliess das neue Mitglied des Burgtheaters Prag, um seinen Posten anzutreten. Noch im Januar. Mein Vater nahm sich nicht einmal die Zeit, von seinen Eltern persönlich Abschied zu nehmen. Er sagte ihnen von Wien aus brieflich Adieu. Meine Mutter blieb noch einige Wochen zurück, um unsere Möbel zu verklopfen, für die Wohnung einen Mieter zu finden und vor allem sich mit den Wucherern auseinanderzusetzen, den Teller, Winter, Guttenstein usw. Alles das besorgte sie, ja, sie vergass nicht, mich noch vor der Abreise bei den Piaristen prüfen zu lassen, damit ich mit einem Zeugnis der erworbenen Kenntnisse nach Wien käme. Ich habe oben schon davon gesprochen. Anfang März traf sie mit uns Kindern in Wien ein. Unsere Einkommensverhältnisse hatten sich sehr verbessert. Mein Vater bezog einen fixen Gehalt von, wenn ich mich recht erinnere, 2000 Gulden jährlich, eine enorme Summe im Vergleich zu unserem so unsichern und wechselnden Prager Einkommen. Dabei hatte mein Vater noch die Möglichkeit und das Recht, für andere Theater zu malen. Das Theater an der Wien liebte es damals, Zauberkomödien mit grosser Ausstattung zu geben, die es zunächst einige Jahre lang aus Paris bezog; schliesslich ging es dazu über, einheimische Kräfte heranzuziehen. Unter ihnen auch meinen Vater. Ferner gab die neue Hofoper bald zu tun, die von 1861—69 erbaut wurde. Sie musste bei ihrer Eröffnung mit einem grossen Fundus neuer Dekorationen dastehen. Schon Jahre vorher wurden die Dekorationsmaler Wiens 102

damit beschäftigt, solche anzufertigen. Das gab wieder eine Fülle von Arbeit für meinen Vater, Arbeit, die Erfolg und Ansehen, aber auch Geldeinnahmen brachte. Trotzdem lebten wir in der ersten Zeit unseres Wiener Aufenthalts noch recht knapp. War doch eine grosse Schuldenlast abzutragen, die der Vater in Prag hinterlassen. Indes wurde er sie früher los, als er erwartete. Die Grossmutter Josefa starb plötzlich ohne vorherige Krankheit, das Datum ihres Todes finde ich nicht verzeichnet. Es ist bemerkenswert, dass mein Vater die Nachricht nicht von Josefas Gatten, sondern von dem Prager Geldverleiher Winter erhielt, der unter unseren zahlreichen Gläubigern der grösste war. Diesmal lachte ich nicht über die Trauernachricht, die den Vater um so tiefer erschütterte, je unerwarteter sie kam. Wohl hatten sich seit seiner Eheschliessung die Beziehungen zwischen Mutter und Sohn gelockert. Aber sie hatte ihm vorher in schwersten Stunden zu tatkräftig und selbstlos beigestanden, als dass er ihrer nicht hätte dankbar gedenken müssen. Materiell aber bedeutete der Grossmutter Tod eine grosse Befreiung. Sie hinterliess ihrem Sohn ihr Haus auf der Kleinseite, dessen Erlös allerdings nicht meinen Vater bereicherte, sondern diverse Geldmenschen. Aber er wurde nun mit einem Schlag eine Schuldenlast los, an der er sonst noch lange hätte tragen müssen. Wir verliessen nun das Bereich ständiger Dürftigkeit und stiegen auf in das eines soliden, bürgerlichen Wohlstandes. Unsere erste Wohnung in Wien war noch düster, unfreundlich, beengt, in der Engelgasse, dicht neben dem Malersaal. Dieser befand sich in der Dreihufeisengasse, in einem Gebäude, das dem kaiserlichen Hof gehörte. Das war wohl der Grund, warum der Zugang zum Atelier von einer Schildwache des kaiserlichen Heeres gehütet wurde, die mit aufgepflanztem Bajonett davor auf und abschritt, als gälte es, eine Schatzkammer zu bewachen. Ich liebte es, den Vater im Malersaal zu besuchen und seine Arbeiten zu betrachten. Schon in Prag hatte ich das getan, in der sogenannten „Kotzen" in der Nähe des Landestheaters.1 Dort war der Saal nur auf „schwindlichtem" Steg zu erreichen gewesen, der in keiner Weise durch ein Geländer geschützt war. Ein lebensgefährlicher Zustand. Einfacher und sicherer war der Wiener Malersaal zu erreichen, aber stets musste ich bei dem Wachtposten vorbei, dessen Anblick mir Spass machte. Einmal aber wurde er meinem Vater unangenehm. Der Malersaal wurde um 7 Uhr abends geschlossen. Mein Vater aber verblieb dort 1 Die „Kotzen" war eine Strasse im alten Prag, in deren Umkreis die meisten Theater lagen; 1738 war in ihr, im ehemaligen Galluskloster, ein Theater eingerichtet worden. B.K.

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einmal über diese Zeit hinaus, da er in seinem Zimmer noch eine dringende Arbeit zu erledigen hatte. Mit ihr fertig geworden, löschte er die Lampe, sperrte das Tor zur Strasse auf, zu dem er den Schlüssel hatte und wollte aus dem Hause treten, als die Schildwache auf ihn zusprang und ihm drohend zurief: „Zaruck". Sie hatte offenbar Weisung, nach 7 Uhr niemand mehr die Tür passieren zu lassen. Mein Vater fing an zu parlamentieren, setzte auseinander, dass er im Hause bedienstet sei, das nützte alles nichts. Der Mann verstand kein Wort Deutsch, gehörte zu einem ungarischen Regiment. So gänzlich sprachunkundige Elemente setzte das Militär in Wien bewaffnet auf die Strasse, um die Bevölkerung zu überwachen. Mein Vater hoffte nun dem Soldaten zu imponieren, indem er den Versuch machte, einfach an ihm vorbeizugehen. Aber da wurde ihm das Bajonett des gefällten Gewehres auf die Brust gesetzt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in der ganz menschenleeren Gasse am Tore zu warten, bis die Ablösung kam. Er redete nun den Korporal an, der sie führte. Doch der verstand auch nicht genug Deutsch, doch merkte er, da stimme etwas nicht. Er verständigte in der Wachstube den diensthabenden Lieutenant, der kam und den Vater natürlich nach wenigen Worten laufen liess. Meine Mutter war schon ängstlich geworden, weil der Gatte ewig nicht erscheinen wollte. Als er schliesslich erschien, lachten beide um so herzlicher um das Abenteuer. Bald darauf hatte das Maleratelier aber den Verlust seiner Wache zu betrauern. Sie zog nicht mehr auf. Offenbar hatte der Lieutenant bei seinen Vorgesetzten Meldung gemacht und war der Vorfall in Militärkreisen erörtert worden, so dass der Stadtkommandant schliesslich zur Einsicht gebracht wurde, die Schildwache sei an dieser Stelle ganz lächerlich, wo sie weder als Ehrenposten zu fungieren noch eine militärische Funktion zu erfüllen hatte. Freilich, das Maleratelier war ein kaiserliches Gebäude, und am Ende war es nötig gewesen, den Kaiser selbst mit der Sache zu bemühen, da ohne seine Zustimmung die Änderung nicht gestattet worden wäre. Franz Josefs Zeit ist oft genug mit den nichtigsten Dingen solcher Art in Anspruch genommen worden, wenn es sich um militärische Angelegenheiten oder kaiserliches Gut handelte. Ausser der Nähe des Malersaals bot die Wohnung in der Engelgasse keine Annehmlichkeiten. Unser erhöhtes Einkommen und die verbesserte Lebenshaltung äusserten sich vor allem in der Wohnung. Anstatt des einen Zimmers, das uns in Prag zur Verfügung gestanden, bekamen wir nun eine Wohnung mit vier Zimmern in der Wehrgasse. Der Blick auf die Strasse war ebenso monoton und unerfreulich wie in fast allen Wiener Gassen jener Zeit. Aber hinten hinaus blickten wir wieder wie früher in der Prager Krakauergasse auf weite Gärten. 104

Der nächste war der eines Handelsgärtners und Blumenzüchters. Im Sommer brachte dieser gar manche exotische Pflanze aus seinen Glashäusern ins Freie. Da bekam ich die ersten Palmen in natura zu sehen, die ich bis dahin nur aus Büchern kannte. Jetzt durfte ich aber auch grosse, gewaltige Wälder betreten. Meine Mutter bezog von nun an jedes Jahr für einige Monate eine Sommerwohnung in einer waldigen Gegend. Ihr Gesundheitszustand hätte das schon früher notwendig gemacht. Aber erst in Wien erlangten wir das dazu nötige Geld. Zur vergrösserten Wohnung gehörte auch ein vermehrtes Dienstpersonal. Wien zeigte bereits die Nachbarschaft zum Orient dadurch an, dass jeder Haushalt, der auf Anstand hielt, selbst wenn das Einkommen des Hausvaters mässig war, mindestens über zwei Dienstmädchen verfügen musste. Die Beschränkung auf einen einzelnen „Dienstboten" bezeugte bereits bittere Armut. Erst der Weltkrieg hat diesem orientalischen Luxus ein Ende gemacht. Auch wir bekamen jetzt neben einer Köchin ein Stubenmädchen, ausgesprochen „StummMädel". Da in Wien das Wort „Stube" ganz ungebräuchlich ist, zerbrach ich mir damals lange den Kopf darüber, woher das Wort stamme. Es erschien mir ganz paradox, da gerade die „StummMädel" die geschwätzigsten waren. Auch sonst gab mir manches Wiener Wort ein Rätsel auf. So dauerte es lange, bis ich darauf kam, dass die Floskel, die man gebraucht, wenn man sich begrüsst oder verabschiedet, „Karschamster Diener" im Grunde „gehorsamster Diener" heissen sollte. Ich musste auch erst lernen, dass der Prager „Höckler" in Wien ein „Greisler" sei, die „Droschke" ein „Komfortabel" — so ausgesprochen. Ich hätte wegen aller dieser und vieler anderer Wörter fragen können, aber ich genierte mich, Unwissenheit in bezug auf Wörter zu zeigen, die keine Fremdworte waren, jeder als selbstverständlich gebrauchte. Ihr Sinn war ja auch leicht zu erkennen. Nur ihre Etymologie blieb mir unklar. Vom Grossvater Jaich her war uns das Wiener Idiom nicht fremd. Doch in unserem Hause war stets Prager Deutsch gesprochen worden, und es dauerte lange, bis wir Kinder es völlig loswurden und uns den Wiener Tonfall angewöhnten. Unsere Wiener Umgebung verlachte uns oft deswegen. Nicht wegen unseres Tschechisch, das wir unter Deutschen nie anwendeten, sondern wegen unserer Aussprache des Deutschen verhöhnten uns andere Kinder oft als „Böhm". Andere wieder sahen in dieser Aussprache ein Zeichen jüdischer Abstammung. Das eine wie das andere wurde .ein Grund, auf uns geringschätzig herabzusehen. Nicht nur in der Sprache, auch im Charakter unterschied sich die Bevölkerung Wiens gar sehr von der Prags. Die Prager waren härter, dabei rühriger, als die weichen, zur Apathie neigenden Wiener. Die Deutschen Nordböhmens hatten etwas von 105

den Preussen an sich, die Wiener etwas vom Orient. Dabei aber gerieten wir überdies durch unsere Übersiedlung in ganz andere soziale Schichten als die, in denen wir in Prag verkehrt hatten. Dort waren wir aufs innigste mit dem Theater verbunden gewesen. Nicht nur Grossvater und Vater gehörten ihm an, auch die Mutter und eine ihrer Schwestern von Kindheit an. Theatermenschen und ihnen angeschlossene Literaturmenschen bildeten neben bildenden Künstlern die alltägliche Gesellschaft meiner Eltern. Das hörte in Wien auf. Hier waren wir zunächst Fremde. Nur mein Vater war noch beim Theater beschäftigt, in einer Eigenschaft, die seine Anwesenheit bei den Proben und Vorstellungen nicht erheischte, ihn nicht in persönlichen Kontakt mit den Schauspielern brachte. Und diese bildeten im Burgtheater eine Aristokratie sehr exklusiver Art. Betrachtete man es doch als die vornehmste Bühne deutscher Nation. Meine Mutter kam in gar keine persönlichen Beziehungen mehr zu den Theaterleuten, damit aber auch nicht zu den ihnen folgenden Literaturmenschen. Diese praktische Abschliessung vom Theater wurde noch gefördert dadurch, dass sich im berüchtigten Wiener Klima die Krankheit meiner Mutter sehr verschlechterte. Neben Schauspielern und Theaterkritikern hatten unsere Gesellschaft in Prag die dortigen Maler gebildet. Auch in Wien nahm mein Vater natürlich am geselligen Treiben seiner Kollegen teil. Doch wir Kinder merkten wenig davon. Es spielte sich in den eigenen Räumen der Künstlergenossenschaft ab, die zuerst in einem gemieteten Lokal unter den Tuchlauben, dann in dem eigenen Künstlerhaus hauste. Tschechische bildende Künstler kamen allerdings viele in unser Haus, teils alte Freunde von Prag her, die ebenso wie wir nach der Residenz gezogen waren, z.B. Mafak, später auch solche, die mein Vater in der tschechischen Kolonie Wiens kennenlernte, wie der Architekt Schmoranz, der viele Jahre in Ägypten tätig gewesen war, schliesslich der glänzende Darsteller südslavischer Gegenden und Menschen Zverina. Aber seit den Prager Tagen waren sie alle älter geworden. Die gärende Jugend von ehedem hatte sich abgeklärt, aus kecken und trotzigen Rebellen waren stille und ehrsame Familienväter geworden. Wenn in dem kleinen Prag jeder jeden kannte, so waren wir in dem grossen Wien als Zugereiste anfänglich sehr isoliert. Das galt jedoch nur in bezug auf die Kreise der Intellektuellen, nicht für die der Verwandtschaft. Da trat das umgekehrte Verhältnis ein. Da hatten wir in Prag fast gar keinen Verkehr mit Verwandten gehabt, ausser meinem Grossvater und seinen Angehörigen, die teilweise selbst zum Theater gehörten. In Wien trafen wir auf eine Überfülle von Verwandten, Angehörigen sowohl des Grossvaters Jaich, wie seiner Frau. Sie kamen uns aufs herzlichste entgegen, verhätschelten uns Kinder, waren alles 106

brave, liebe, gute Menschen, aber mit einem furchtbar engen Gesichtskreis. Am meisten geistiges Leben fand man noch im Kreise der ältesten Schwester des Grossvaters, Therese, die am meisten Verständnis und Interesse für ihren Bruder zeigte. Doch war ihr Mann, der Güterverwalter des Fürsten Clary, ein steifer, überheblicher Bureaukrat. Von seinen Töchtern zeigte die eine, Emma, starkes literarisches Interesse. Sie trat sogar zu Lenaus Schwester in persönliche Beziehung und machte selbst Gedichte, die sogar einen Verleger fanden. Doch ihre Lyrik bezog sich bloss auf die eigene Persönlichkeit. Sie brachte keine Erweiterung unseres Gesichtskreises. Noch weniger konnte eine solche aus den Kreisen der anderen Schwestern kommen. Je jünger sie waren, desto ungebildeter. Sie waren offenbar erst nach dem Tode ihres Vaters herangewachsen, da hatten immer mehr die Mittel und auch das Interesse gefehlt, ihnen eine ordentliche Bildung zuteil werden zu lassen. Die eine, Minna, hatte wohl einen einst sehr flotten Maler geheiratet, Altmann, doch der Jüngling, der mit tausend Masten in die Welt zu schiffen erwartet hatte, trieb nun still auf gerettetem Boot in den Hafen. Als wir 1863 nach Wien kamen, war er nur noch eine Ruine, kränklich, mürrisch, verdrossen. Die jüngste Schwester des Grossvaters endlich, Leopoldine, war ebenso ungebildet, wie der Mann, der sie heimgeführt, der Mödlinger Seifensieder Kostka. Uns Kindern imponierte dieser allerdings sehr. Er verfügte über zwei Pferde und eine Equipage. Besuchten wir ihn Sonntags, wo er die Pferde nicht im Geschäft brauchte, führte er uns in die Brühl spazieren. Ebenso gering an Bildung waren die zahlreichen Abkömmlinge der Familie Weiss. Ihr geistiger Horizont war furchtbar eng. Diese Verwandtschaft bildete in den ersten Jahren unseres Wiener Aufenthalts in hohem Grade das Milieu, in dem wir uns nun bewegten. Materiell waren wir sehr gehoben worden, aus dürftiger Boheme in soliden, ausreichenden Wohlstand. Aber unser geistiges Milieu jetzt bedeutete gegenüber dem Prager einen argen Abstieg von geistig höchst regsamer, mitunter geradezu stürmischer Boheme junger Künstler und Schriftsteller in ein denkfaules Philistertum. Es mag seltsam erscheinen, dass die Versetzung aus einer kleinen Provinzstadt — Prag zählte damals 150.000 Einwohner — in die grosse Residenzstadt, die damals bereits 800.000 Einwohner barg, derartig wirken konnte. Aber gerade weil Prag so klein war, dass jeder jeden kannte, kamen wir in Beziehung zwar nicht zu allen geistigen Kreisen, aber doch zu allen künstlerischen Kreisen. In der Grossstadt wird man als Neuankömmling leicht isoliert, auf kleinere Kreise beschränkt, und es hängt in hohem Masse vom Zufall ab, in welche Umgebung man da gerät. Die neue Umgebung und die neuen Lebensbedingungen

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wirkten als starke Hemmung unserer geistigen Entwicklung. Ich sage „unserer" und denke dabei nicht bloss an mich, sondern auch an meine Mutter, die von allen Familienmitgliedern den stärksten Einfluss auf mich übte. Später fand eine rege Wechselwirkung zwischen uns beiden statt. Wir haben uns beide gegenseitig angeregt und gehoben. Neben den hemmenden gab es zum Glück auch fördernde Faktoren für unser geistiges Leben. Doch entstammten sie nicht unserer nächsten Umgebung. Das Jahrzehnt, in das unsere Übersiedlung nach Wien fiel, war die Zeit, in der die Lähmung zu Ende, die sich der Völker nach dem Misserfolg der Revolution von 1848 bemächtigt hatte. Ganz erfolglos war diese Revolution nicht gewesen. Eine ihrer Nachwirkungen bestand in dem raschen Aufblühen eines industriellen Kapitalismus und seines Verkehrswesens. Und nach der Revolution hatten in Frankreich das Militär und die bonapartistischen Erinnerungen einen Mann auf den Thron gebracht, der sich nur durch siegreiche Kriege gegen konservative Monarchien zu behaupten wusste. In Preussen aber hatte die Revolution den Gegensatz zur konservativsten Monarchie der Zeit, zu Österreich, verschärft und die Ideen eines Kleindeutschland unter preussischer Spitze aufkommen lassen. Daher Kriege, zuerst gegen Russland, dann gegen Österreich, dessen altes Regierungssystem 1859 und dann noch gründlicher 1866 zusammenbrach. Diese Niederlagen der konservativsten Mächte förderten mächtig das Wiederaufleben des politischen und wissenschaftlichen Lebens in ganz Europa, ja darüber hinaus. Es war die Zeit, in der die Machtfülle des Papsttums zusammenbrach, Italien ein einiges Königreich wurde, nicht nur durch Napoleons Hilfe 1859, sondern auch durch Garibaldis kühne Insurrektion von 1860. Mit 1000 Mann erklärte dieser dem Königreich Neapel den Krieg und warf es über den Haufen. Gleich darauf wurden in Amerika die Sklavenbarone von den Verfechtern der freien Arbeit niedergezwungen, wurde in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben, in Deutschland durch Lassalle die Grundlegung der Sozialdemokratischen Partei vollzogen, in London die Arbeiterinternationale gegründet und bald darauf ein freies Wahlrecht erobert. In dem gleichen Jahrzehnt bahnte sich eine gewaltige Erschütterung des Christenglaubens an durch den Darwinismus, dessen grundlegendes Werk über den Ursprung der Arten 1859 erschien. Und 1867 veröffentlichte Marx den ersten Band seines „Kapital". Diese Bewegung der Geister nahm riesenhafte Dimensionen an, überschritt alle Landesgrenzen. Sie machte auch vor Österreich nicht halt, obwohl es im damaligen Europa den konservativsten Grossstaat bildete. Russland war wenigstens in seiner Aussenpolitik revolutionär, 108

indem es der Herrschaft des Sultans auf dem Balkan ein Ende machen wollte. Österreich hing zäh am status quo, aussen wie innen. Um so tiefer musste die Wirkung auf die Bevölkerung sein, als dieses träge Beharren durchbrochen wurde, Licht und Luft von aussen frei hereinströmten, der Respekt vor den alten Autoritäten ein Ende nahm, die Volksmassen sich rühren durften und diese Möglichkeit kräftig ausnutzten. Ihre volle Intensität erreichte diese geistige Umsturzbewegung erst in Österreich 1867, nach den Schlägen von 1866. Doch schon der Misserfolg von 1859 hatte eine Bresche in den alten Staat geschossen und ein regeres öffentliches Leben gebracht. Das bedeutete aber, dass nicht mehr wie in der Reaktionszeit das Theater das geistige Leben beherrschte. Es wurde zurückgedrängt durch politische und soziale Fragen, und auch durch wissenschaftliche, die nicht mehr ausschliesslich die Fachleute interessierten. Insofern war es kein Schaden, dass nun unsere engere Bindung an die Theaterwelt aufhörte. Und selbst die Krankheit meiner Mutter erhielt nun eine gute Seite. Die Familie war nun so gut gestellt, dass die Kranke sich schonen durfte. Weder durch Hausfrauenpflichten noch durch gesellige Veranstaltungen abgelenkt, erhielt sie jetzt die Müsse, sich ganz auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Und unter dem Einfluss des Zeitgeistes nahm diese jetzt einen anderen Charakter an. Die Belletristik trat zurück. Philosophie kam in den Vordergrund. Natürlich brauchte die Mutter dabei noch hie und da einen sachkundigen Führer, auf diesen ihr noch fremden Gebieten. Philosophisches Interesse wird ihr schon früh ihr Vater eingeflösst haben, doch war der selbst ein Autodidakt. Durch die philosophische Literatur konnte er sie nicht führen. Da war es ein Glück für uns, dass wir zeitweise mit Männern bekannt, ja eng befreundet wurden, die eine wissenschaftliche Bildung genossen hatten und sich weit über das Niveau des Philisteriums erhoben, das uns umgab. Sie haben nicht wenig dazu beigetragen, uns vor dem Versinken darin zu bewahren. Mehr zu tun vermochten sie allerdings nicht. Zum Sozialismus hat mich keiner von ihnen geführt. Der erste dieser Männer war Adolph Chlumsky. 13. A D O L P H

CHLUMSKY

Wie in Prag Hessen mich auch in Wien die Eltern zuerst durch einen Privatlehrer unterrichten. Ich hatte in Prag schon den Lehrstoff der dritten Volksschulklasse in Angriff genommen. In Wien sollte ich bis zum Beginn des neuen Schuljahrs 1863—64 das ganze Pensum der dritten Klasse erledigen. Den Lehrer suchte mein Vater in der tschechischen Kolonie Wiens und fand ihn in Adolph Chlumsky, der an 109

der Universität Theologie studierte, allerdings protestantische. Indessen plagte er uns nicht mit theologischen Erörterungen, weder mich noch meine Schwester Minna, deren Unterricht er auch übernahm, noch meine Mutter. Lebhaft diskutierte sie mit dem jungen Gelehrten, den die tiefsten Probleme der Philosophie beschäftigten und der sein philosophisches Interesse auch ihr einflösste. Schon durch ihren Vater war sie philosophischem Denken nahegebracht worden. Doch jetzt erst lernte meine Mutter einen Denker kennen, der das philosophische Studium wissenschaftlich systematisch betrieb. Namentlich wies er sie auf Kant und Plato hin. Seine Philosophie hielt sich in den Grenzen seiner Religion, der er leidenschaftlich ergeben war, ebenso leidenschaftlich wie der tschechischen Nation, der er angehörte. Er sprach mit uns nicht über religiöse Dogmen. Doch seinen ganzen Unterricht, ja sein ganzes Wesen durchdrang der Geist der Konfession, der er angehörte, der helvetischen. Diese ist scharf unterschieden nicht bloss von der katholischen Religion, sondern auch von jener Art Protestantismus, die man zur Augsburger Konfession zählt. Nicht bloss religiöse Dogmen über das heilige Abendmahl und ähnliche Fragen trennen die beiden protestantischen Konfessionen, sondern ihr ganzer sozialer und politischer Gehalt. Alle Protestanten sind einig in ihrer Ablehnung der päpstlichen Gewalt. Jedoch die Augsburger oder Lutheraner setzen ihr die Allmacht des Landesfürsten, den Absolutismus entgegen. Die Anhänger der helvetischen Konfession, der „reformierten" Kirche dagegen widersprechen ebenso dem fürstlichen Absolutismus wieder päpstlichen Machtstellung. Sie wollen die Demokratie. Die Lutheraner predigten widerstandslose, ja freudige Unterwerfung unter die Obrigkeit, die Reformierten dagegen neigten zu einem trotzigen Rebellentum. Luther war gefördert worden durch den Kurfürsten Friedrich von Sachsen, die reformierte Kirche ging dagegen von den demokratischen Republiken der Schweiz aus, daher die Benennung als „helvetische Konfession". Zwingli in Zürich, Calvin in Genf waren ihre Vorkämpfer. Ihren stärksten Anhang fand sie beim städtischen Bürgertum, aber auch bei dem Adel, namentlich dem niederen, der sich gegen die aufsteigende Macht der Landesfürsten empörte. Dieser rebellische Trotz durchdrang auch Chlumskys ganzes Wesen. Er wurde erhöht durch seine nationale Einstellung. Mit Stolz wies er darauf hin, dass die Tschechen die erste Nation in Europa waren, der es gelang, in kühner Erhebung das päpstliche, aber auch das kaiserliche Joch, ja sogar das eigene Königtum abzuschütteln. Den Hussiten gehörte seine ganze Liebe. Ich war natürlich 1863 und auch noch einige Jahre später weit

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davon entfernt, Chlumskys soziale und politische Einstellung klar zu begreifen. Auch meiner Mutter wird nicht alles klargeworden sein, was er ihr darlegte. Immerhin, ein instinktiver Respekt vor revolutionärem Trotz erstand in uns und blieb in uns haften, wenn es auch noch Jahre brauchte, bis er Gelegenheit fand, sich zu entfalten. Im Herbst 1863 verliess Chlumsky Wien. Mit grossem Schmerz nahm er von uns Abschied. Der junge Mann hatte mich und meine Schwester Minna so liebgewonnen, als wären wir seine Kinder. Und auch wir hingen an ihm. Er war mir ein Vorbild geworden, an dem ich schwärmerisch hing. Keinen meiner Lehrer habe ich seitdem so liebgewonnen. Er wendete sich 1863 nach der Schweiz, um dort seine theologischen Studien fortzusetzen und zum Abschluss zu bringen. Zuerst wallfahrtete er nach Konstanz, um die Stätte zu betreten, auf der sein geliebter Johannes Hus den Märtyrertod erlitten. Dann zog er nach Basel, lebte zeitweise am Zürchersee. Im Februar 1866 kündete er nach beendetem Studium seine Rückkehr nach Österreich an. Er hatte ununterbrochen in regster Korrespondenz mit meiner Mutter gestanden. Leider sind nur wenige seiner Briefe erhalten. In seinem Schreiben vom 23. Februar schrieb er unter anderm von mir: „Ich würde mich unendlich freuen, wenn ich diesen meinen kleinen Philosophen wiedersehen könnte." Unsere gegenseitige Zuneigung hatte sich durch die Trennung nicht abgekühlt. Bemerkenswert sind die Ratschläge, die er meiner Mutter in bezug auf mich in einem Brief vom 15. November 1865 gibt: „Dem Karl werde ich in den nächsten Tagen schreiben. Bedauere sehr, dass er nicht Gelegenheit hat, sich im Böhmischen weiter auszubilden. Österreich scheint jetzt mit Riesenschritten einer Zukunft zuzueilen, wo die böhmische Sprache ihre Geltung erlangen w i r d . . . Für einen gebildeten Mann, der nicht bloss an deutsche Provinzen (die kleinsten im Reich!) seine Zukunft binden will, ist sie unentbehrlich... Abgesehen also von spezieller Vaterlandsliebe, ist es aus Vorsicht ratsam, dass Karl, wenn auch nicht gleich, so bald etwas Böhmisch lernt". Immer wieder drängte er darauf, ich solle mein Tschechisch nicht vergessen, sondern es vielmehr ausbilden. In seine Heimat kam er unmittelbar vor Ausbruch des Krieges von 1866 zurück. Wir finden ihn schon im Mai in Vanovice in Mähren — nördlich von Brünn. Dort erledigte er seine letzten Prüfungen. Schon am 26. August predigte er in dem Dorf Gross-Lhota, wo er zum Pfarrer gewählt und installiert wurde. Dort sah ich ihn wieder im Jahre 1867. Davon werde ich noch einiges zu berichten haben. Jetzt muss ich zunächst wieder in die Zeit nach seinem Abgang zurückgehen. 111

Chlumskys Schulunterricht hatte bei mir glänzende Früchte getragen. Im Herbst 1863 hatte man mich endlich in eine Schule geschickt, in die vierte Klasse. Doch wiederum nicht in eine gewöhnliche Volksschule, die waren, wie schon gesagt, vor 1867 in Österreich zu schlecht, sondern in eine Privatschule. Sie lag in Mariahilf, in der Kirchengasse. Ihr Besitzer und Direktor hiess B. Speneder. Auf meinem Weg zur Schule — aus der Wehrgasse — hatte ich hin und zurück täglich viermal die Mariahilfer Strasse zu kreuzen. Das ängstigte niemand, nicht einmal meine für ihre Kinder so besorgte Mutter. So still war damals der Wagenverkehr auf dieser Hauptverkehrsader des industriellen Wien. In der Schule selbst fand ich mich rasch zurecht, geriet in ein gutes Verhältnis zu meinem Lehrer, wenn ich ihn auch nicht so leidenschaftlich verehrte, wie Chlumsky, und in gute Kameradschaft mit meinen Mitschülern. Am Schlüsse des Schuljahrs 1864 erhielt ich ein grossartiges Zeugnis. In allen Gegenständen „sehr gut", was mir „erste Klasse mit Vorzug" eintrug. Wieweit das auf meine wirklichen Leistungen zurückzuführen war, wieweit auf die Nachsicht, die man in Privatschulen den Schülern angedeihen lässt, um die Eltern als zahlende Kunden nicht zu verärgern, weiss ich nicht. Auf jeden Fall durfte man erwarten, dass die Fortsetzung im Gymnasium dem Anfang in der Volksschule entsprechen und ich auch weiterhin ein Musterschüler bleiben würde. Diese Erwartung hat getrogen. 14.

MELK

An einem Schalttag, dem 29. Februar 1864, gebar meine Mutter das letzte ihrer Kinder, einen Knaben, der Johann (Hans) getauft wurde. Diesem freudigen Ereignis folgten böse Nachwehen. Sei es, dass Schwangerschaft und Geburt ihr Lungenleiden verschlimmerten oder dass das Wiener Klima dies bewirkte, ihr Bluthusten wurde immer ärger; der Landaufenthalt in Perchtoldsdorf brachte keine Besserung. Im Gegenteil, der dortige Arzt, dem sie in die Hände fiel, zeigte sich so unwissend und kopflos, dass er ganz in der Art des Dr. San Grado wirtschaftete, vom dem Le Sage in seinem Gil Blas erzählt. Blutegel scheinen seine Universalmedizin gewesen zu sein. Der durch den ewigen Bluthusten schon völlig ausgebluteten Frau liess er noch weiterhin Blut abzapfen, indem er Blutegel setzte. Das entkräftete meine Mutter so sehr, dass sie am Rande des Grabes angelangt zu sein schien. Da machte mein Vater kurzen Prozess. Er verabschiedete den unfähigen Arzt und zog einen anderen aus Wien heran, der ihm empfohlen worden, einen jungen Mann, der sein Studium noch nicht 112

lange hinter sich hatte und augenblicklich als Sekundärarzt am Wiedener Krankenhaus tätig war. Es war der Dr. Josef Scholz, der für Jahre hinaus unser Hausarzt werden sollte. O b er das Wesen der Krankheit meiner Mutter richtig erkannte, weiss ich nicht. Die verschiedenen Ärzte gingen in ihren Meinungen darüber auseinander. Während die einen die Krankheit als Lungenschwindsucht ansahen, führten andere das oftmalige und reichliche Blutspucken auf eine erhöhte Brüchigkeit der Blutgefässe der Lunge zurück, die bei lebhafterer Blutzirkulation leicht rissen und den Blutauswurf erzeugten. Erst nachdem Koch die Tuberkelbazillen entdeckt, wurde bei meiner Mutter einwandfrei Lungentuberkulose festgestellt. Wie immer Scholzens Diagnose gelautet haben mag, jedenfalls fand er die richtige Therapie. Er verordnete meiner Mutter möglichste Kräftigung durch viel Essen, um den Blutverlust wettzumachen. Dank ihrem ausserordentlich kräftigen Magen vermochte meine Mutter diese Heilmethode sehr erfolgreich anzuwenden. Ihr vor allem schreibe ich es zu, dass sie trotz ihres Leidens, das nie völlig geheilt wurde, doch ein Alter von 75 Jahren erreichte. Ausser reichlicher Nahrung verordnete Scholz aber der so arg mitgenommenen Frau möglichste Ruhe, Vermeidung jeder stärkeren körperlichen oder geistigen Bewegung, die neues Bluthusten hervorrufen konnte. Ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter wurden möglichst eingeschränkt. Um das zu erreichen, forderte der Arzt unter anderem auch meine Entfernung aus dem Familienkreise. Ich allein unter uns Kindern war bereits alt genug, dass man es wagen konnte, mich aus dem Hause zu geben. Jedes Kind weniger bedeutete aber eine Entlastung meiner Mutter. So wurde beschlossen, mich, den zehnjährigen Jungen, in die Welt hinauszuschicken, allerdings nicht in die weite Welt, sondern in eine sehr begrenzte und streng regulierte Welt. Meinen Eltern wurde das Benediktinerkloster Melk empfohlen, in dem ein Gymnasium bestand. Daran angeschlossen war ein Internat für zahlende Zöglinge, das „Konvikt" neben einem Alumnat, dessen Zöglinge nichts zu zahlen brauchten, — wohl meist Aspiranten auf die Priesterlaufbahn. Unter diesen gab es noch Externe, Söhne von Melker Familien. Das Konvikt war billig, man entschied sich, mich ihm anzuvertrauen. Ich nahm die Nachricht mit einem nassen und einem lachenden Auge auf. Natürlich schmerzte mich die Trennung von meiner Mutter. Doch wenn ihr das nützte, hatte ich mich als guter Sohn zu fügen. Und die Aussicht, in die Fremde zu ziehen, schreckte mich nicht. Das Neue lockte, und der Gedanke, der elterlichen Zucht enthoben zu sein, also wie ich wähnte, auf eigenen Füssen zu stehen, machte mich stolz. Ende September 1864 brachte mich mein Vater nach Melk und 113

übergab mich einem der Herren Patres dort. Neugierig harrte ich der Dinge, die da kommen würden. Doch bald empfand ich nichts als eine arge Enttäuschung. Es war ein gewaltiger Sprung, den ich damals zu machen hatte. Auch unter normalen Verhältnissen bedeutet der Ubergang von der Volksschule ins Gymnasium ein Versetzen in ganz neue, und zwar anfangs sehr schwere Arbeitsbedingungen. Die Volksschule hat nur einen Lehrer, der alle Fächer lehrt, gewisssermassen ihre Personalunion darstellt, das geistige Band, das sie verbindet. Das Gymnasium kennt nicht bloss weit mehr Fächer als die Volksschule, jedes Fach wird auch von einem besonderen Spezialisten gelehrt, ohne Zusammenhang mit den andern Fächern und ohne Rücksicht auf die Lasten, die jeder der Kollegen den Schülern auferlegt. Das führt leicht zu deren Überbürdung und zu einer gewissen Verwirrung in ihren Köpfen. Dabei herrschen im Gymnasium ganz andere pädagogische Prinzipien als in der Volksschule. In dieser sind die Lehrer gütiger — wenigstens machte ich diese Erfahrung. Und die Lehrgegenstände sind konkreter, fasslicher, anziehender. Im Gymnasium behandelt man die Schüler nicht mehr als Kinder, sondern als angehende Gelehrte. Man sucht gleich zahlreiche Abstraktionen ihnen beizubringen, bei denen sie sich nichts denken können, die sie langweilen und anwidern. Da kann der Lehrer nicht durch die Anziehungskraft des Lehrstoffs wirken, sondern nur durch Strenge, gewissermassen Terrorismus. Das erzeugt bei allen nicht fügsamen Elementen leicht einen starken Gegensatz zwischen Schüler und Lehrer. Dieser wird von jenem gehasst. Alles das macht den Übergang von der Volksschule zum Gymnasium stets zu einem schmerzhaften Prozess. Bei mir aber wurde er noch [dadurch] verschärft, dass ich gestern erst einen freiheitsdurstigen Hussiten zum Lehrer gehabt hatte und jetzt katholischen Mönchen überliefert wurde. Und überdies fiel der Übergang zusammen mit einem Sprung aus der Mitte einer Familie, die mich warm geliebt, ja wahrscheinlich verhätschelt hatte, in einen Kreis von Fremden, die mir kalt und lieblos gegenüberstanden. Nicht nur für die Schulstunden, sondern für alle Stunden des Tages war ich in diesen Kreis engherziger, finsterer Pedanten und roher Kollegen gebannt und von den Meinen völlig abgeschlossen, an denen ich so zärtlich hing. Das hatte ich nicht vorausgesehen, es kam mir jetzt schmerzlich zum Bewusstsein. Materiell waren wir nicht schlecht gestellt, wenigstens, was das Essen anbelangt. Es war ausreichend und meist ganz gut. Doch wurde es uns schliesslich zuwider durch die Monotonie der Speisekarte. Nur die Fasttage, die Freitage, brachten eine willkommene Abwechslung. Kam auch kein Fisch auf unsere Tafel, so doch eine süsse Mehlspeise, die uns sehr behagte. Nie wurde von uns 114

mehr gegessen und mit grösserem Behagen als am Fasttage, den Tagen der Kasteiung, der schmerzhaften Entsagung. Das galt übrigens nicht bloss für Melk, es soll in katholischen Klöstern allgemein so sein. Bedenklicher als um die Kost stand es um die Reinlichkeit. Wir Schüler des Konvikts schliefen in grossen Sälen, deren jeder etwa 40 Betten fasste. Der einzelne Schüler verfügte keineswegs über ein besonderes Waschbecken für sich, sondern für alle Saalinsassen gab es ein gemeinsames grosses Becken, das in der Mitte des Saales auf vier Füssen stand, umfangreich genug, dass etwa ein Dutzend von uns sich gleichzeitig daran säubern konnte. Es wäre ekelerregend gewesen, wenn sich die einen in dem Schmutzwasser der andern hätten reinigen sollen. Um das zu vermeiden, war am Grund des Waschgefässes ein grosses Loch angebracht, durch das das Wasser in ein Rohr abfloss, das in den Fussboden eingelassen war und es ins Freie führte. Das Abzugsloch war nicht zu verstopfen. Es konnte sich also in dem Waschbecken nie auch nur ein Tropfen Wasser sammeln. Dadurch wurde wohl vermieden, dass irgendeiner der Reinlichkeitsbeflissenen in das Schmutzwasser geriet, das ihm andere hinterlassen hatten, jedoch erreichte man das in einer Weise, die das Waschen überhaupt zu einem höchst mühevollen, akrobatischen Kunststück machte. Als ich zuerst vor diesen Massenwaschtisch trat, stand ich ihm hilflos gegenüber. Kein Hilfs- oder Kontrollorgan war da, um unsere Reinigung anzuleiten und zu überwachen. Jeder musste sehen, wie er damit fertig wurde. Der einzelne verfügte über einen irdenen Krug, den er am Abend vor dem Schlafengehen an einer Wasserleitung im Korridor ausserhalb des Schlafsaales zu füllen hatte. Der Krug blieb die Nacht über neben dem Bette stehen. Morgens beim Aufstehen ergriff man ihn und ging damit zum Waschtisch und hatte sich dort mit seinem Inhalt zu waschen. Wie man das besorgte, das blieb der Findigkeit jedes einzelnen überlassen. Ich sah, dass einer allein überhaupt nicht imstande war, sich auf diese Weise zu reinigen. Es gehörten zwei dazu, der eine hielt die Hände zusammen, bildete aus ihnen eine geschlossene Schale, und der Nachbar goss aus dem Krug Wasser darauf. So gelang es mühsam, wenigstens Kopf und Hände zu benetzen. Zu den Ohren kam man schon seltener, zum Halse noch weniger. Sich auch den Oberkörper zu waschen, dazu reichte der Inhalt des Krügleins von vornherein nicht aus. Ein warmes Bad galt als ein Luxus, der höchst selten, ein bis zweimal im Semester, vergönnt wurde. Dafür war kein Baderaum vorgesehen. Es musste in der riesigen Küche genommen werden, in die am Abend, wenn sie nicht mehr benützt wurde, hölzerne Wannen gestellt und mit heissem Wasser gefüllt wurden. Um unsere körperliche Reinlichkeit war es

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also nicht allzu gut bestellt, zumal da niemand beauftragt war, diese Seite unseres Lebens zu überwachen und zu regeln. Das galt allerdings nur für die Menschen, und zwar die Unerwachsenen. Die Räumlichkeiten im Kloster, auch in unseren Schlaf- und Arbeitssälen und Schulstuben wurden stets gewissenhaft rein gehalten. Die unzulänglichen Waschungen genierten uns Schuljungen natürlich wenig. Dagegen wurden wir stark abgestossen durch die Geistlosigkeit und Langeweile des Unterrichts, der vornehmlich darauf hinauslief, dass wir eine Reihe von Sätzen auswendig zu lernen und herzuleiern hatten, mochten wir sie verstehen, mochten wir uns bei ihnen etwas Bestimmtes vorstellen oder nicht. Selbst die Zoologie wurde uns in dieser Weise verekelt, obwohl der Gegenstand an sich gewiss jeden tierliebenden Jungen anziehen musste, und der „Professor" der Naturgeschichte, Pater Vincenz, gehörte zu den wohlwollenderen Lehrern, den sein Lehrgegenstand wirklich interessierte. Aber die herkömmliche Lehrmethode vermochte er nicht zu ändern. So betrieben wir zum Beispiel die Naturgeschichte der Säugetiere in folgender Weise: Von jeder Art hatten wir den sie betreffenden Paragraphen des Schulbuchs auswendig zu lernen und wörtlich herzuplappern; also den lateinischen Namen, Art des Gebisses, Länge des erwachsenen Tieres von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, seine Höhe, die Art und Färbung seines Fells, die Art der Bewehrung der Zehen. Konnte man alle diese Angaben hersagen, dann wurde angenommen, man kenne das Tier. Natürlich ermöglichten die Daten des Schulbuchs nicht einmal eine Ahnung von dem Aussehen eines Tieres zu gewinnen, wenn man nicht so glücklich gewesen war, es schon vorher in einem Tiergarten oder ausgestopft in einem Naturalienkabinett oder doch wenigstens in einem Kinderbuch dargestellt zu sehen. Schulbücher mit Illustrationen gab es damals noch nicht. Sie vertrugen sich offenbar nicht mit dem Ernst und der Würde der Wissenschaft. Tun und Treiben des Tiers, von seiner Lebensweise, seinem Verhalten in verschiedenen Lebenslagen, von alledem, was uns an dem Tier interessieren konnte, erfuhren wir nichts. Nur der tote Kadaver wurde in Betracht gezogen. Und ähnlich ging es in den andern Fächern auch. Nirgends Leben, Bewegung, überall nur starre, tote Formeln, die auswendig zu lernen und wörtlich wiederzugeben waren. Dass uns Jungen das langweilte und abstiess, ist nicht zu verwundern. Drei Wege gab es, auf diesen Sachverhalt zu reagieren. Die einen, die Streber, unterwarfen sich völlig den gegebenen Bedingungen, überwanden allen Widerwillen und büffelten oder „stuckten", wie wir sagten, in serviler Untertänigkeit gegenüber dem Herrn Professor. Andere trachteten sich die ihnen auferlegte Last zu er116

leichtern, den Anschein zu erwecken, dass sie etwas täten, was sie in Wirklichkeit nicht taten, also den Lehrer zu betrügen durch Benutzung eingeschmuggelter Hilfen, abschreiben, soufflieren etc. Die dritte Sektion endlich, die verwegenste, rebellierte offen, nicht durch Streik, Arbeitsverweigerung — das hätte sofortige Verweisung von der Schule zur Folge gehabt. Aber sich an dem Lehrer, dem Peiniger zu rächen, ihm das Leben möglichst schwer zu machen, das war ihr Ziel, was ihnen auch gelang, allerdings nur mit dem Ergebnis, die Lehrer noch misstrauischer und verbitterter zu machen, als sie ohnehin schon waren und die ganze Schulatmospäre zu vergiften. Ich selbst durchlief alle drei Stadien. Als Musterschüler kam ich von der Volksschule. Ich suchte es auch im Gymnasium zu bleiben. Aber auf die Dauer konnte ich den abstossenden Wirkungen des Unterrichts nicht entgehen. Er langweilte mich immer mehr, ich wurde immer unaufmerksamer, immer lässiger im Auswendiglernen und Abfassen der Aufgaben, sah mich immer häufiger in die Notwendigkeit versetzt, dem Lehrer ein Wissen vorzutäuschen, das ich nicht besass. Doch kam ich dabei über schüchterne Ansätze nicht hinaus. Ich konnte mich nicht entschliessen zu lügen, und um zu täuschen, dazu gehörte eine Geschicklichkeit, die ich nicht besass und nie erwarb. Ausserdem hinderte mich die Kurzsichtigkeit, die mich schon im Kindesalter quälte, sehr, etwa verstohlenerweise unter der Bank einen Behelf einzusehen. Es dauerte nicht lange, so geriet ich in Konflikt mit einem der Lehrer, und damit trat ich in das dritte Stadium ein, das der trotzigen Widersetzlichkeit. Den ersten Anlass dazu gab eine Ungerechtigkeit und Misshandlung, die mir widerfuhr. Eines Tages kam während des Unterrichtes meinen Sitznachbarn die Lust an, ich weiss nicht warum, etwas, ich glaube, es war ein Bleistift, durch die Luft sausen zu lassen. Wütend sprang der Lehrer auf mich zu: „Was hast du da gemacht, wie kannst du dich so etwas unterstehen?" Ich versicherte wahrheitsgemäss, ich habe gar nichts gemacht. „Lüg nicht, du unverschämter Bub, ich habs gesehen!" Vergebens beteuerte ich meine Unschuld, den wirklichen Schuldigen zu denunzieren, widerstrebte meinem Solidaritätsgefühl, und dieser besass nicht genug davon, sich selbst zu seiner grausen Untat zu bekennen. Als ich durchaus nicht nachgab und gegen jede Bestrafung laut protestierte, riss mich der ganz rasend gewordene Pädagoge aus der Bank und prügelte mich weidlich durch, um mich zu einem Geständnis zu zwingen. Doch das gelang ihm nicht. Er musste sich damit begnügen, mich zu einem Fasttag und einer schlechten Sittennote im Klassenbuch verurteilt zu haben. Ich war aufs äusserste empört. Nie hatte man mich im Elternhause schmerzhaft gezüchtigt und stets hatte man mir volles Vertrauen 117

geschenkt, was ich mit vollster Wahrhaftigkeit erwiderte. Dass ich jetzt völlig grundlos frecher Lüge geziehen und misshandelt wurde, empörte mich aufs äusserste. Der Respekt, den ich bis dahin vor dem Lehrer empfunden, wich nun wildem Hass, tiefer Verachtung. Ich fürchtete von da an einen Konflikt mit den Lehrern nicht mehr, ging ihm nicht mehr aus dem Weg, suchte bald nach Anlässen, sie zu ärgern. Auch ich fing mit einem an, doch bald kamen ihrer mehrere dran. Indes blieb es bei den andern nur bei gelegentlichen Zusammenstössen. Den einen, der mit der Misshandlung angefangen, ärgerte ich dagegen bald fast jeden Tag und bekam dafür auch jeden Tag meine Tracht Prügel mit dem spanischen Rohr, das der würdige Seelenbildner für alle Fälle im Katheder vorrätig hielt. Dieser Prügelpädagoge hiess sonderbarerweise Pater Placidus, der sanfte Vater. Anfänglich schmerzten mich die Schläge, doch mit der Zeit wurde ich dagegen abgehärtet. Das Ergebnis war nicht Zerknirschung oder moralische Besserung des Sünders, sondern das Durchringen zu drei Geboten an mich selbst, deren Befolgung ich mir immer mehr ans Herz legte: 1. Wenn der Lehrer dich zu prügeln sich anschickt, sollst du dich so nahe als möglich an ein Tischbein oder einen sonstigen erreichbaren Gegenstand herandrücken und den Allerwertesten stark einziehen, so dass das spanische Rohr nicht deinen Körper, sondern das Tischbein trifft. 2. Während der Prozedur sollst du das lauteste Gebrüll anheben, dessen du fähig bist; denn es ist dem Lehrer höchst unangenehm, wenn die Aussenwelt von seinen pädagogischen Methoden etwas merkt. 3. Ist der Lehrer erschöpft, kann er nicht mehr weiterschlagen, lässt er dich laufen, dann mache, auch wenn du grosse Schmerzen verspürst, ein vergnügtes Gesicht; denn nichts ärgert ihn mehr, als wenn er sieht, dass alle seine Anstrengungen wirkungslos bleiben. Auf diese erhabenen Grundsätze lief der Beginn meiner Laufbahn auf dem Gebiete der Wissenschaft im Kloster hinaus. Früher hatte ich in meinen Lehrern meine besten Freunde gesehen. Nun lebte ich in einem Milieu, in dem Lehrer und Schüler sich wie Erbfeinde gegenüberstanden. Neben Stockprügeln wurde zeitweise auch die Entziehung einer Mahlzeit als Besserungsmittel verordnet. Das wirkte ebenfalls nicht. Es fanden sich immer Kameraden, die ein transportables Stück des Essens, und wäre es nur ein Brot gewesen, in ihrer Rocktasche verschwinden liessen, um es mir zukommen zu lassen, trotz der Kontrolle des Konviktdirektors, der zwar nicht beim Waschen, wohl aber bei den Mahlzeiten dabei war. Nur vor Freitagen oder sonstigen Fasttagen hütete ich mich vor einem Vergehen, das mir den Ausschluss vom Speisetisch zuziehen konnte. Nicht nur im Schulwesen ging ich zurück. Auch im allgemeinen 118

[Verhalten] ausserhalb der Schule verkam ich geistig. Im Elternhause und bei den Lehrern der Volksschule hatte ich vertrauensvoll alles gläubig hingenommen, was sie mir sagten. Das ist in diesem Lebensalter wohl selbstverständlich. Doch im Kloster wirkte diese Gläubigkeit verhängnisvoll auf mein Denken. Wir wurden mit Heiligenlegenden überfüttert, namentlich in den Andachten, denen wir jeden Abend vor dem Schlafengehen beizuwohnen hatten, spielten Berichte über die Wundertaten der Heiligen eine grosse Rolle. Da nahm ich bald jeden Bericht über ein Wunder unbesehen hin, mochte er von einem Pater stammen oder einem Kollegen, einem Buch entstammen oder mündlicher Überlieferung. So zeigten mir zum Beispiel ältere Mitschüler ein Kreuz in einer der Kapellen der Stiftskirche, das aus echtem, massivem Gold bestehen sollte. Dieses Kreuz hatte sich eines Tages, man weiss nicht wann, zu höchst perversem Tun entschlossen: es wollte nicht bloss im Wasser obenauf bleiben, sondern auch noch stromaufwärts schwimmen. Wenn schon, denn schon. So kam es eines schönen Tages die Donau heraufgeschwommen, niemand weiss woher, vor dem Felsen, auf dem heute das Kloster Melk steht, blieb es stehen und rührte sich hartnäckig nicht von der Stelle. Fischer entdeckten es, brachten es ans Land, und als gottesfürchtige biedere Männer verklopften sie es nicht an irgendeinen Juden, sondern pflanzten es auf dem Felsen am Donauufer auf. Fromme Väter kamen, das Kreuz anzubeten und bauten um das heilige Symbol herum das Kloster auf. In diesem sollten sie selbst auch bald in Gold schwimmen, aber nicht gegen den Strom. All diesen und manch anderen Unsinn glaubte ich ohne weiteres. Zu Hause hatte man Gott einen guten Mann sein lassen, ihn nicht geleugnet, keineswegs, manchmal sogar zu ihm gebetet, doch von ihm fast nie gesprochen, wenigstens nicht zu uns Kindern. Nun wurde in den häufigen Kanzelpredigten, die ich anzuhören hatte, die Allmacht Gottes und seine Allgegenwärtigkeit auf das lebhafteste geschildert, wie er sich um jede Kleinigkeit kümmere, aber auch jeden streng bestrafe, der sich nicht mit allem und jedem in frommem Gebet an ihn wende. Im Elternhause wäre mir auch nicht eingefallen anzunehmen, dass ich ein schlechtes, verworfenes Wesen sei. Nun wurde uns eingetrichtert, wir seien von der Erbsünde an sündhafte Wesen, alle menschliche Kreatur ersticke in Sünde, wenn Gott ihr nicht helfe. So wurde ich nicht getrieben, meine Sünden abzulegen, sondern nur, mich mit Gott gut zu stellen, diesen inbrünstig anzubeten. Nicht minder wurden uns in diesen Predigten immer wieder die Schrecken des Todes aufs grausigste geschildert, die uns stets umlauerten. Dabei wurden wir mit den Zuständen im Jenseits aufs genaueste und anschaulichste bekanntgemacht, obwohl sie unvorstell119

bar sein sollten. Merkwürdig, dieses Jenseits hat mich nie beschäftigt, auch in Melk nicht. Nie haben mich die Seligkeiten des Paradieses gelockt, nicht die Qualen der Hölle geschreckt. Was mich aber unter dem Eindruck dieser Predigten aufs tiefste ängstigte, war der Gedanke an das Sterben. Eine grausige Todesfurcht ergriff [mich], wie ich sie weder vorher noch nachher gekannt habe. Immer wieder betete ich zu Gott dem Allmächtigen, er möge mich doch recht lange leben lassen. Es schien mir zu unverschämt, ein Alter von 100 Jahren zu erbitten, aber 99 Jahre konnte er mir doch gewähren. Darum betete ich inbrünstig. Ich dachte wohl wie jene Warenverkäufer, die glauben, ihre Waren leichter loszuwerden, wenn sie deren Preis statt auf einen Schilling auf 99 Groschen festsetzen. Doch nicht nur um ein Lebensalter von 99 Jahren betete ich, sondern auch um Dinge des Augenblicks. Man hatte mir eingeprägt, dass ohne Gottes Willen kein Sperling tot vom Dach fällt. Warum sollte ich ohne Gottes Willen bei einem Examen durchfallen? Vor jeder Schulstunde, für die ich mich nicht ausreichend vorbereitet hatte, sandte ich heisse Gebete zum Himmel: lieber Gott, lass mich meine Aufgabe wissen! Oder: lieber Gott, lass mich heute nicht drankommen! Leider half das Gebet nicht immer, selbst wenn es noch so innig war. Doch flüchtete ich immer wieder zum Gebet. Es war offenbar bequemer, als sich sorgfältig für die Stunde vorzubereiten. Meiner Gläubigkeit tat es keinen Abbruch, dass ich zeitweise Gelegenheit bekam, heiligen Handlungen in Verbindung mit irdischer Niedrigkeit beizuwohnen. Unser Tagewerk im Kloster begann morgens mit einer Messe, die in einer besonderen Kapelle des Konvikts für dessen Insassen von einem unserer Lehrer gelesen wurde. Die Ministranten, Messdiener, dabei wurden aus uns Schülern der unteren Klassen ausgelesen. Einmal kam auch ich dran. Dass meine Kenntnisse des Lateinischen nicht so weit reichten, die Anreden der Priesters an die Gemeinde und die Antworten des Ministranten völlig zu verstehen, tat nichts zur Sache. Unverstandenes auswendig zu lernen, gehörte auch sonst zu unsern Obliegenheiten. In den meisten Kirchen werden zu Ministranten Jungen genommen, die absolut kein Wort von dem verstehen, was sie feierlich in ihrem Singsang zu verkünden haben, und es geht auch. Mit Ach und Krach erlernte ich den Messedienst. Doch erfordert er hie und da einige Geschicklichkeit. So muss der Ministrant dem messelesenden Priester aus einem grösseren Gefäss Wein in den Kelch einschenken. Einmal präsentierte mir wieder der Pater, ein Lehrer, den ich nicht leiden konnte, den Kelch, ich hatte ihn aus einem silbernen Kännchen zu füllen. Halb aus Ungeschick, halb aus Bosheit, verfehlte ich den Kelch und schüttete daneben, in den Ärmel des Stellvertreters Gottes. Wütend blickte mich dieser, 120

das heisst nur der Stellvertreter, ob dieser Gotteslästerung an, murmelte einige Flüche, so leise, dass bloss ich sie hörte, doch musste er mit dem Gottesdienst fortfahren, als wäre nichts passiert. So rasch als möglich beendete er die Messe, der nasse Ärmel mochte ihn sehr genieren. Als der Gottesdienst aber beendet, der Priester sich mit mir allein in die Sakristei zurückgezogen hatte, da durfte er endlich seinem Herzen Luft machen. Er überschüttete mich mit einer Flut saftigster Schimpfworte, wozu er einige nicht weniger saftige Ohrfeigen gesellte, obwohl ich schrie, ich könne nichts dafür, der Kelch in seiner Hand habe gezittert. Ich wurde für unwürdig befunden, weiterhin zu ministrieren. Eine andere Strafe über mich zu verhängen, war schwer möglich. Ein Versehen beim Weineinschenken konnte unmöglich als Verbrechen bezeichnet werden. Vielleicht fürchtete auch der Pater, sich lächerlich zu machen, wenn er den Vorgang an die grosse Glocke hängte, den kaum jemand unter den Andächtigen bemerkt hatte. Derartige Profanationen frommen Tuns werden sich, ob aus Zufall, ob aus Absicht, immer wieder dort ereignen, wo es nicht aus einem innern Drang der Seele hervorgeht, sondern schablonenmässig nach einem bestimmten, vorgeschriebenen Ritus von dazu kommandierten Funktionären vollzogen wird. Indes, so kritisch und gemein zugleich meine Episode bei der einen Messe war, meine Inbrunst wurde dadurch nicht abgekühlt, mit der ich ihr nicht als Ministrant, sondern als Andächtiger auch weiterhin tagtäglich beizuwohnen hatte. Ein anderes Beispiel. Mein Lehrer im Französischen erschien mir in seinem Gehaben als eine höchst lächerliche Figur. Ich liebte es, ihn nachzuäffen, zu verhöhnen und zu verspotten. Aber wenn er die Kanzel bestieg und uns mit donnernden Worten die Schrecken des Todes verkündete, denen wir stündlich entgegeneilten, da lief es mir doch kalt über den Rücken und jeder Hohn verging mir. Wenn ich hinter die Kulissen blickte, konnte ich eine Reihe von Schwächen des kirchlichen Apparats und seiner Diener bemerken. Aber dieser Apparat selbst war doch so festgefügt und gewaltig, dass seine Wirkung durch einzelne Misslichkeiten nicht beeinträchtigt wurde. Es ist oft die Frage aufgeworfen worden, ob die Kleriker nicht alle Heuchler oder Zyniker werden müssen, wenn sie sehen, von welch profanen Menschen und [mit] wie irdischen Mitteln und Methoden die heiligen Handlungen vollzogen werden. Wie viele ausserkirchliche Mächte und Interessen greifen zum Beispiel in jede Papstwahl ein und bestimmen ihr Ergebnis! Von welchen diplomatischen Rücksichten wird nicht jede Kardinalsernennung geleitet! Und bis herunter zur Besetzung eines Pfarrerpostens machen sich überall irdische Interessen geltend. Aber so wenig wie meine Erfahrungen über die 121

heiligen Handlungen im Kloster bei mir, brauchen die Degradierungen anderer Handlungen dieser Art durch weltliche Einflüsse bei deren Beobachtern Ungläubigkeit, Heuchelei oder Zynismus nach sich zu ziehen. Ob das geschieht, hängt ganz von der jeweiligen geistigen Atmosphäre einer Gesellschaft ab. Im 18. Jahrhundert erfasste die Freidenkerei alle denkenden Schichten, nicht bloss die weltlichen Intellektuellen, auch die Bourgeoisie, den Adel, manchen Hof. Friedrich II. von Preussen und Katharina II. von Russland zogen Freigeister in ihre Umgebung. Da nahm das freie Denken auch unter den Klerikern überhand. Es war Lüge, wenn sie um ihrer Einkommen willen fortfuhren, kirchliche Funktionen zu vollziehen. Als aber 1789 die grosse Revolution hereinbrach, versetzte sie die frivolen Herren in grosse Not, und diese lehrte sie beten. Das passierte den Monarchen, den Adligen, sogar manchem Bourgeois und auch den Freidenkern unter den Klerikern. Die Frömmigkeit hörte bei ihnen auf, blosser gewinnbringender Schein zu sein, sie wurde zu einem Herzensbedürfnis. In ähnlicher Weise, obwohl weniger schroff, vollzog sich seit 1830 der Aufstieg des Liberalismus und Materialismus. Auch er erfasste zahlreiche Kreise der Bevölkerung, so dass diese Denkweisen nicht bloss unter Bürgern, sondern auch unter Aristokraten und Monarchen ebenso wie unter Klerikern weite Verbreitung fanden. Doch wenn alle diese Kreise bereits durch die Revolution erschreckt waren, sie dachten weit weniger kühn und konsequent als die der Aufklärer des 18. Jahrhunderts. Der Beginn des Aufstiegs der proletarischen Bewegung versetzte sie bereits in Angst und lehrte sie von neuem beten. Nicht immer in kirchlichem Sinn. Aber der Materialismus wurde verpönt, eine idealistische Philosophie bevorzugt, die der einzelne bei gutem Willen mit dem Kirchenglauben vereinbaren konnte. Der Liberalismus wurde zerrieben zwischen den Mühlsteinen des Sozialismus und konservativen Denkens. Unter diesen Verhältnissen werden liberale Priester immer seltener, denen nur zynische Heuchelei im Rahmen der Kirche zu bleiben gestattet. Fast alle glauben jetzt ehrlich das, was sie predigen. Und weil dem so ist, müssen die wenigen, die zweifeln, sich immer unbehaglicher in dieser Gesellschaft fühlen; das ist vielleicht einer der wichtigsten Gründe dafür, dass der Zustrom zum theologischen Studium an den Universitäten immer spärlicher wird, trotz der grossen Notlage der weltlichen Intellektuellen und ihrer trüben Aussichten. Es war die allgemeine Atmosphäre im Kloster, die mich zu einem inbrünstigen und blinden Gläubigen machte, obwohl sich hie und da ein Diener Gottes bei einer heiligen Handlung wegen eines kleinen Versehens zu gemeinen Flüchen und Misshandlungen hinreissen liess. 122

Mein Denkvermögen litt sicher während meines zweijährigen Aufenthalts in Melk. Doch nicht minder litt meine Moral. Ich habe hier nicht meine Auflehnung gegen die Gewalttaten meiner Vorgesetzten im Auge. Sie war sicher oft töricht, aber unmoralisch kann sie höchstens jenen erscheinen, die unbedingte Unterwürfigkeit unter die Gebote der Obrigkeit zu einer sittlichen Forderung erheben. Nein, ich habe hier ein anderes Verhalten im Auge, das gegenüber den mir gleichstehenden Kollegen, namentlich den Schwächeren unter ihnen. Die Jungen im Konvikt zerfielen in drei Kategorien. Ein Teil kam aus kleinen Orten, in denen es kein Gymnasium gab. Sie waren zumeist verbauert, roh und hart. Dann gab es nicht wenige Wiener, die in der eigenen Familie nicht guttaten. Die Eltern entledigten sich eines solchen Jünglings, indem sie ihn nach Melk sandten. Die Patres dort mochten zusehen, wie sie mit ihm fertig wurden. Die dritte Kategorie endlich bestand auch aus Wienern, aber zarten Muttersöhnchen, von denen sich die Eltern nur ungern trennten aus den verschiedensten familiären Gründen. In diese Kategorie gehörte ich. Die beiden andern Kategorien, sowohl die harten Bauernlümmel wie die verderbten, boshaften Grossstadtpflanzen, sahen auf uns schüchterne, zagende, weinerliche Bübchen verachtungsvoll herab und gefielen sich darin, uns zu hänseln, zu verhöhnen, zu quälen. Kein grösserer Triumph dieser gefühllosen Elemente, als ein vereinsamtes, zagendes Schäfchen dabei zu ertappen, wenn es insgeheim eine Träne vergoss oder gar wenn man es durch moralische oder körperliche Misshandlungen vor der Kollegenschaft zum Weinen brachte. Natürlich blieben die Schwächeren nicht lange in diesem Stadium. Bald fing ich an, mich meiner Weichherzigkeit zu schämen. Hartherzigkeit und Unempfindlichkeit wurden mein Ideal. Und als ich erst in der zweiten Klasse war, da sah ich die ganzen Neulinge der ersten Klasse als Schwächere unter mir. Nun konnte ich diesen dasselbe antun, was im Jahre vorher mir angetan worden, und allen bösen Instinkten freien Lauf lassen, die vorher durch steten Druck und Hohn in mir grossgezogen worden waren. Merkwürdig, unter den Neulingen war einer, den ich besonders in mein Herz schloss, ein liebes, gutes Kind. Und gerade den quälte ich am meisten. Ich weiss nicht, war es das Bedürfnis, meine Macht zu fühlen oder eine heimliche Scham wegen meiner Zuneigung und Weichheit, die mich trieb, vor den Kollegen und vor mir selbst durch die Tat zu bezeugen, dass solche Schwächen mir fern seien. Genug, im zweiten Jahr meines Verweilens im Melker Konvikt wurde ich nicht bloss ein schlechter Schüler und stupider Frömmler, sondern ich bekam auch die Anlagen, wenn auch nicht zu einem grossen Schuft, so doch zu einem erbärmlichen Schufterle. Meine Lage im 123

Konvikt wurde besonders peinlich durch zwei Vorkommnisse, die sich im Frühjahr 1866 zutrugen. Der einzige Lehrer, mit dem ich auf gutem Fusse stand, war der der Naturwissenschaften, Pater Vinzenz. Und er vertraute auch mir. Das bewies er eines schönen Tages im Frühling 1866, als er nach dem Mittagmahl unter uns trat, die wir in einem Klosterhof flanierten. Das Kloster selbst durften wir nicht verlassen. Er forderte mich auf, ihm zu folgen aus dem Kloster heraus in den herrlichen Park, der es umgab und der uns Jungen verschlossen war. Er teilte mir mit, dass über ganz Österreich ein Netz meteorologischer Stationen gezogen sei, von denen jede mittags das Wetter zu beobachten und an die meteorologische Zentralanstalt darüber Bericht zu erstatten habe. Er habe das Amt für Melk übernommen. Den besten Punkt, das Wetter zu beobachten, biete aber ein freiliegender Hügel im Park, dessen höchste Erhebung. Er habe keine Zeit, gleich nach dem Essen hinzulaufen, um das Wetter zu beobachten. Er habe mich auserkoren, das für ihn zu tun. Ich sollte den Grad der jeweiligen Bewölkung des Himmels abschätzen und Richtung und Stärke des Windes feststellen. Die Abschätzung blieb meinem Scharfsinn überlassen. Als Apparat zur Konstatierung von Richtung und Stärke des Windes wurde mein Zeigefinger bezeichnet, den ich in den Mund stecken, so benetzen und dann in die Höhe strecken sollte. Pater Vinzenz führte mich nun auf den für die Wetterbeobachtung so günstig gelegenen Hügel, zeigte mir die vier Weltgegenden und hiess mich das Ausmass der Wolkenbedeckung abschätzen und meinen nassen Finger funktionieren zu lassen. Da beides zur Zufriedenheit gelang, bestätigte er mich als Melker Meteorologen. Der Pförtner des Klosters erhielt Auftrag, meine Ausflüge in den Park nicht zu hindern. Sobald ich meine Beobachtungen gemacht, solle ich sie auf einen Zettel niederschreiben und dem Pförtner übergeben, der sie dem Pater Vinzenz zu übermitteln hatte. Ich will nicht annehmen, dass alle meteorologischen Stationen, die Österreich damals besass, mit gleich vollkommenen Apparaten und der gleichen Fachbildung und Gewissenhaftigkeit eines Lausbuben von 11^ Jahren arbeiteten. Ich selbst war sehr stolz auf mein Amt und sehr erfreut darüber, da es etwas Abwechslung in die Einförmigkeit der klösterlichen Freistunden brachte. Auch hat mich Naturwissenschaft stets interessiert, die in der Beobachtung der Natur, nicht im Auswendiglernen von Schulbuchdaten bestand. Ich erfüllte meinen Auftrag zunächst auf das gewissenhafteste. Doch in keinem Paradies fehlt eine Schlange und eine Eva. Und in jedem erweist sich der Adam als der gleiche gedankenlose, dumme Kerl. Eva und Schlange zugleich wurde in diesem Fall einer meiner 124

Kollegen aus der zweiten Klasse, der Sohn eines Kunsthändlers aus Wien, der in der Lausbüberei den Rekord schlug und daher von uns als Held verehrt wurde. Er beneidete mich um die Erlaubnis, in den Park eindringen zu dürfen, und forderte mich auf, ihn mitzunehmen. Ich wagte nicht, seine Forderung abzuschlagen, versuchte es anfangs erst zagend, ihn mitgehen zu lassen. Aber da der Pförtner uns nicht beachtete, gingen wir bald jeden Tag zu zweit, das Wetter zu beschauen. Das war natürlich viel vergnüglicher, als vereinzelt zu gehen, führte aber ins Verderben. Der Kamerad fand die Wetterbeobachtung bald sehr langweilig, fand, man brauche dazu auf keinen erhöhten Punkt emporzusteigen, ob es Wolken gebe und woher der Wind wehe, merke man auch anderswo. So betrieb ich meine Wetterbeobachtungen immer lässiger. Dafür fanden wir immer mehr Gefallen an dem Herumstrolchen durch den herrlichen Park. Immer länger wurden unsere Exkursionen. Wir vergassen dabei schliesslich so weit Zeit und Raum, dass wir eines Tages davon überrascht wurden, dass die Turmuhr des Klosters 2 Uhr schlug. Um diese Zeit sollten wir schon im Schulzimmer sein, und so sehr wir auch rannten, wir konnten es erst geraume Zeit nach Schulbeginn betreten. Natürlich wurde ich gefragt, wo ich gewesen sei. Unbedachterweise berief ich mich auf den Auftrag des Paters Vinzenz. Das wurde natürlich diesem hinterbracht. Zorngerötet erschien er am nächsten Tag in seiner Unterrichtsstunde und rief mich sofort auf. Von meinem Kumpan war da nicht die Rede. In der Beziehung ahmte ich Adam nicht nach, der sich zu seiner Entschuldigung auf Eva berief. Ich erwähnte ihn nicht. Pater begann: „Kautsky, ich habe dir einen ehrenvollen Auftrag gegeben. Du hast mein Vertrauen schändlich missbraucht. Du hast nicht nur die Gelegenheit, die ich dir geboten, dazu benutzt, deine Freizeit ungebührlich auszudehnen, du hast mir auch in der letzten Zeit immer mehr Berichte geliefert, die falsch waren. Das wurde mir von den verschiedensten Seiten kundgetan, eine Reihe Beschwerden über meine Meldungen an das Wetteramt sind eingetroffen und haben mich blamiert. So hast du undankbares Subjekt die Sympathie gelohnt, die ich dir erwiesen. Von heute an stellst du deine Wetterbeobachtungen ein. Was weiter aus deinem Vertrauensbruch folgt, wird sich zeigen." Ich war höchlichst zerknirscht, kam mir wirklich wie ein ganz schlechter Kerl vor, der Güte mit Undank lohnte, aber auch als ein Dummkopf, weil ich ohne Not, nur aus Schwäche dem Versucher nachgegeben. Der Gedanke kam mir gar nicht, dass das reiche Stift Melk, wenn es schon die Pflichten einer Wetterwarte übernahm, auch für die Anschaffung der nötigen Apparate zu sorgen hatte und sich nicht auf den nassen Finger verlassen durfte, den nicht einmal der für 125

die Beobachtung verantwortliche Meteorologe selbst lieferte. Und kein einziges Mal war meine „wissenschaftliche" Tätigkeit kontrolliert worden. Arge Gewissensbisse quälten mich damals, die nicht gemildert wurden durch die düsteren Vorhersagen meiner Kollegen, Vinzenz werde mich durchfallen lassen. Gar keine Gewissensbisse bereitete mir dagegen eine andere Affäre, die mich bald darauf in neue Tinte brachte. Eines Tages kam einer der Führer der sechsten Klasse auf mich zu, ein Paket unter dem Arm. Er führte mich abseits von den Kameraden und fragte mich, ob ich ihm einen grossen Gefallen erweisen wolle, der aber geheimbleiben müsse. Mit Freuden bejahte ich. Die Herren aus den oberen Klassen sahen ja sonst sehr von oben auf uns kleine Anfänger herab und würdigten uns kaum eines Blickes. Von einem solchen Halbgott um eine Gefälligkeit ersucht zu werden, welch grössere Ehre konnte mir widerfahren! Die Freudigkeit meiner Zustimmung minderte sich nicht, als ich erfuhr, um was es sich handle. Der Betreffende, ich habe seinen Namen vergessen, nennen wir ihn Fuchs, brauchte Geld. Er besass wertvolle Bücher, wie er sagte, die er verkaufen wollte. Das sollte ich besorgen, mich aus dem Kloster herausschleichen, zu dem Besitzer eines Trödlerladens (Tandler) gehen und ihm die Bücher zum Kauf anbieten. Der Auftrag schreckte mich nicht. Wohl flüsterte man sich über den Tandler allerlei Übles als Wucherer zu, und der Melker Tratsch kam durch Schüler, die im Ort wohnten, zu uns Jungen. Schon das Äussere des unförmlich dicken Kolosses mit finsterem, misstrauischem Gesicht flösste Furcht ein. Und um meine Aufgabe zu erfüllen, musste ich die Konviktsregeln brechen, die es ebenso verboten, ohne Erlaubnis das Kloster zu verlassen wie irgendeinen Besitz etwa an Kleidern oder Büchern zu verkaufen. Aber gerade die Gefahr lockte mich — es drohte mir ja kein Verlust an Leib und Leben, sondern höchstens neue Prügel und ein Fasttag. Ich übernahm also den Auftrag, und es gelang. Ich kam zum dicken Wucherer und bot ihm die Bücher an. Er fragte mich, woher ich sie habe; keck erwiderte ich, sie gehörten mir, darauf fragte er, was ich verlange. Darauf wusste ich keine Antwort, vom wirklichen Wert der Bücher hatte ich keine Ahnung. Ich glaubte sehr schlau zu sein, wenn ich nach einigem Zögern sagte: „Soviel als möglich." Der Mann lachte höhnisch. Was er mir gab, war sicher sowenig als möglich. Aber es befriedigte meinen Auftraggeber so sehr, dass er mir gleich darauf ein zweites Paket Bücher gab, das ich mit demselben Erfolg verkloppte. Einen persönlichen Gewinn erzielte und verlangte ich dabei nicht. Meinem noblen Fuchs fiel es nicht ein, mir auch nur einen Kreuzer Kommissionsgebühr anzubieten. Und ich hätte mich 126

durch solches Angebot degradiert gefühlt. Die Ehre, das stolze Gefühl, eine schwierige und gefährliche Mission erfolgreich erfüllt zu haben, genügte mir vollauf. Doch dabei blieb es nicht. Zwei Tage nach meiner letzten Expedition zum dicken Koloss wurde ich mitten in meiner Freistunde zum Direktor des Gymnasiums gerufen, ein höchst seltener Fall. Wozu verlangte der nach mir? Sicher nicht, um mir sein Lob auszusprechen. Ich kam in das herrliche Konferenzzimmer, da sass der Herr Direktor, um ihn eine Reihe von Professoren. Alle blickten mich mit strengster Miene an. Verwundert sah ich mich um und erstarrte, als mein Auge auf den dicken Wucherer fiel, der unter den geistlichen Herren sass. Der Direktor wendete sich an ihn: „Ist das der Bub, von dem Sie sprachen?" „Ja, er ist es." Nun wurde ich gefragt: „Hast Du dem Herrn Bücher verkauft?" Ich hauchte ein erschrecktes: „Ja." „Wo hattest Du die Bücher her?" Was sollte ich antworten? Dass sie mir gehörten, hätte niemand geglaubt. Es waren keine Bücher für kleine Schuljungen. Ich erwiderte nach einigem Zögern: „Es hat sie mir jemand übergeben, ich soll sie verkaufen." „Wer war dieser jemand?" Wieder lange Pause. Sollte ich meinen Auftraggeber verraten? Wäre denn das eine Denunziation gewesen? Keineswegs. Wenn er seine Bücher verkaufte, konnte ihm doch im Falle der Namensnennung nichts Schlimmeres passieren, als was mir nun seinetwegen auf jeden Fall drohte; ja wahrscheinlich würde er besser wegkommen, da er die Konviktsregeln nicht selbst übertreten hatte. Und was blieb mir anderes übrig, als meinen Mitschuldigen zu nennen? Ich tat es, worauf ich entlassen wurde mit der Mahnung, über den ganzen Vorfall nichts weiter zu erzählen. Je weniger davon bekannt würde, desto besser für mich. Verwundert ging ich fort. Sollte damit die ganze Affäre erledigt sein, die eine Zeitlang so grausig erschien? Auf jeden Fall hielt ich meinen Mund. Hatte ich es bisher getan auf das Geheiss meines Auftraggebers, so jetzt noch mehr um meiner eigenen Haut willen. Offiziell von der Leitung des Konvikts oder des Gymnasiums wurde uns Schülern von der ganzen Affäre gar nichts mitgeteilt. Nur unter der Hand flüsterte man sich alles mögliche zu, namentlich als plötzlich drei Schüler der höheren Klassen verschwanden, darunter derjenige, den ich hier als Fuchs bezeichnete. So schnell reisten die drei ab, dass sie von keinem ihrer Freunde Abschied nahmen. Schliesslich erfuhren wir folgendes: die Schreibtischladen verschiedener Schüler waren erbrochen und wertvolle Bücher daraus entwendet worden. Die Bestohlenen wandten sich mit ihren Beschwerden an die Konviktsleitung, diese versprach Abhilfe, bat aber dringend, von der Angelegenheit niemand Mitteilung zu machen. 127

Man fürchtete für den Ruf des Konvikts, vielleicht des Klosters. Darum wurde auch die Polizei nicht verständigt. Wohl aber hielten die Patres auf eigene Faust Nachschau in Melk unter jenen Einwohnern des Ortes, die als Käufer für die Bücher in Betracht kamen. Dabei verfielen sie natürlich auf den Wucherer. Sie fragten bei ihm an, ob ihm nicht Bücher verkauft worden seien. Er bejahte ohne weiteres, um nicht als Hehler in Verdacht zu kommen, und beschrieb mich so genau, dass meine Lehrer mich mühelos erkannten. So kam es zum Verhör, zur Bekanntgabe des Namens desjenigen, der mir die Bücher übergeben. Dieser klappte sofort zusammen, bekannte nicht bloss seine eigene Schuld, sondern nannte auch noch zwei Kollegen, mit denen vereint er die Einbrüche begangen. Darauf wurden in aller Stille die drei Missetäter entfernt. Der geradezu lächerlichen Furcht vor der üblen Nachrede, die ein Bekanntwerden der ganzen Affäre für das Kloster nach sich ziehen konnte, hatte ich es wohl zu danken, dass ich ohne jede Strafe davonkam, die ja den Kollegen hätte bekanntgegeben und begründet werden müssen. Dass ich mit den Einbrüchen nichts zu tun hatte, lag sonnenklar zutage. Die Verletzung der Klosterdisziplin blieb ungerochen. Aber dass sie meine Position gegenüber dem Lehrkörper nicht verbessert hatte, war klar. Ein dunkles Gewölk sah ich über meinem Haupt emporsteigen. Ich hatte das Schlimmste zu erwarten, wenn der Schulbetrieb noch weiterging. Da wurde diesem ein jähes Ende bereitet durch Bismarck und Moltke. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass die Politik in mein persönliches Geschick eingriff. 15. D E R K R I E G V O N 1 8 6 6

Nicht nur über mir persönlich, sondern über ganz Österreich ballte sich im Frühjahr 1866 dunkles Gewölk zusammen. Davon sahen wir freilich nichts im Konvikt, von dessen Schülern, auch denen der oberen Klassen, nicht eine einzige Zeitung gelesen wurde. Wir erfuhren von dem drohenden Kriegsgewitter nur dadurch, dass der Hausknecht des Konvikts, Seppl, zum Kriegsdienst eingezogen wurde, Ende Mai oder Anfang Juni 1866. Er war Unteroffizier der Reserve. Seine Dienstjahre hatte er offenbar erst nach 1859 absolviert, kannte die Kriegsschrecken nicht aus eigener Erfahrung. Ein Feldzug mochte ihm als ein romantisches Abenteuer erscheinen, das die Monotonie des Alltags unterbrach. Nur so kann ich es mir erklären, dass er lachend, aufs äusserste vergnügt von uns Abschied nahm. Abscheu vor dem Krieg wurde dadurch bei uns nicht hervorgerufen. Als der Krieg zwischen Österreich einerseits und Italien anderseits am 14. Juni ausbrach, erfuhren wir in den ersten Wochen sehr wenig 128

über ihn. Nach dem 24. Juni teilte uns der Leiter des Konvikts, Pater Max, allerdings hochbeglückt die Nachricht von dem Siege bei Custoza mit. Jedoch erfuhren wir lange nichts über die Kriegshandlungen in Böhmen. Um so mehr überraschte es uns, als eines Abends, ich glaube es war schon am 4. Juli, der Pater Max uns mit höchst betrübter Miene um sich versammelte, um uns mitzuteilen, Gottes unerforschlichem Ratschluss habe es gefallen, dass die Armee unseres Kaisers eine schwere Niederlage erlitt (bei Königgrätz, 3. Juli). So sehr diese Nachricht den Pater Max und auch manchen der Schüler erschütterte, mich liess sie kalt. Ein österreichisches „vaterländisches" Bewusstsein hat mir stets gefehlt. Soweit meine Erinnerungen zurückreichen, erfüllte meinen Vater (die Mutter kümmerte sich lange nicht um Politik) die Überzeugung, Österreich sei lebensunfähig, es müsse wegen der nationalen Gegensätze in seinem Inneren zerfallen. Das war seit dem Krieg von 1859 die Ansicht vieler Österreicher, namentlich Tschechen und Ungarn, aber auch die manches NichtÖsterreichers. Der Krieg der Preussen gegen Österreich wurde bereits vielfach als der Anstoss zum Zerfall der habsburgischen Monarchie und zur Befreiung ihrer Nationen betrachtet. Bismarck war denn auch 1866 eifrigst bemüht, die nationalen Sympathien der Ungarn und Tschechen zu gewinnen, ihre Aspirationen zu begünstigen. Es gab nicht wenige unter diesen, die Preussens Siege freudig begrüssten. Zu denen gehörte auch mein Vater. Davon hatte ich in Melk keine Ahnung. Ich erfuhr es erst später aus gelegentlichen Äusserungen. Aber schon vorher hatte die geistige Atmosphäre im Elternhause keinen österreichischen Patriotismus in mir aufkommen lassen. Und in Melk wurde, abgesehen von Himmel und Hölle, nur über das Nächstliegende gesprochen, kannte man nur den Horizont des Kirchturms. Die Niederlage von Königgrätz liess mich daher völlig gleichgültig. Von den grossen politischen Umwälzungen, die sie in ihrem Schoss barg, hatte ich natürlich keine blasse Ahnung. Ja nicht einmal von der Umwälzung im Konvikt, die der preussische Sieg sofort bringen sollte. Es waren nur wenige Tage seit der Schlacht von Königgrätz vergangen, da wurden wir, das Datum des Tages weiss ich nicht, lange vor Sonnenaufgang, aus dem süssesten Morgenschlummer mit Donnerstimme geweckt: „Sofort aufgestanden und jeder packt eiligst seine Habseligkeiten. Wer nach Wien will, fährt mit dem nächsten Dampfer ab. Kein Schulunterricht, das Konvikt wird geräumt." Ein Grund für diese Mobilisierung wurde nicht mitgeteilt. Wir waren auf Mutmassungen angewiesen. Das Nächstliegende war, und das nahmen die meisten unter uns an, dass die Preussen im raschen Anmarsch seien, dass die Gefahr bestehe, dass sie die Donau überschritten, Melk besetzten oder Wien belagerten. Dadurch konnten die Konvikts129

insassen vielleicht für unabsehbare Zeit unter den schwierigsten Umständen von ihren Eltern getrennt werden, daher gelte es, solange der Weg nach Wien noch frei sei, die Melker Schüler zu ihren Eltern zu senden. Andere wollten freilich eine andere Begründung von Seppls Ersatzmann gehört haben. In Pola gebe es ein Internat für Seekadetten. Diese Stadt werde von der italienischen Flotte bedroht — das war mehr als eine Woche vor der Schlacht bei Lissa —, daher hätten die Seekadetten das Internat in Pola zu räumen und das Melker Konvikt zu beziehen. Aber gab es für die Seekadetten wirklich keinen Unterkunftsort, der näher bei Pola und leichter von dort zu erreichen als Melk? Und wurden sie dort nicht ebensosehr von den Preussen bedroht wie in Pola von den Italienern? Diese Fragen wurden auf der Heimfahrt mit den Schülern der höheren Klassen erörtert, die doch etwas mehr wussten als wir. Zunächst hatte jeder zu packen, was ihm gehörte. Eine Anleitung dabei erhielten wir nicht. Keiner der Patres erschien, uns zu raten und zu helfen. Unsere Lagerstätten in den Schlafsälen bestanden aus Strohsäcken. Jetzt war jeder von uns überzeugt, die Strohsackleinwand dürften wir nicht in Melk zurücklassen. Das Stroh wurde herausgenommen, die Hülle zusammengelegt und in die ohnehin überfüllten Reisetaschen oder Koffer hineingepresst. Die Menge des Strohs, das in der Mitte des Schlafsaales aufgehäuft wurde, bildete eine grosse Gefahr. Ein unvorsichtig angezündetes und weggeworfenes Zündhölzchen oder der Funke einer brennenden Zigarre hätte genügt, einen furchtbaren Brand zu entfesseln. Heimliches Zigarrenrauchen, wenn kein Pater sich zeigte, war bei uns sehr beliebt. Doch kein Unglück passierte. Nachdem wir alles gepackt, hiess es schwerbeladen zur Haltestelle der Dampfschiffe eilen, die sehr weit vom Stift entfernt lag. Die Eisenbahn war anderweitig in Anspruch genommen. Wir hatten die Wasserstrasse der Donau zu benützen. Um sie zu erreichen, musste man den ganzen Markt Melk durchqueren. Irgendeine Vorsorge, unser Gepäck zu transportieren, war nicht getroffen. Auch bei dem Auszug aus dem Kloster zeigte sich kein Pater. Sie schienen völlig den Kopf verloren zu haben. Wir marschierten nicht in einem geschlossenen Zug, sondern jeder eilte fort, sobald er fertig war, einzeln, auf eigene Faust. Als einer der letzten schleppte ich mich dahin, meine Reisetasche war ausnehmend schwer und ich ein schwächliches Bürschchen. Alle Augenblicke musste ich stillhalten, um Kraft zu schöpfen. Als ich mitten in den Ort gelangt war, glaubte ich, es gehe nicht mehr weiter, und doch hiess es eilen, um das Dampfboot nicht zu versäumen. Weinend liess ich meine Tasche zu 130

Boden sinken, niemand beachtete mich. Doch da kam ein hübsches Mädchen, der Kleidung nach wahrscheinlich ein Dienstmädchen, und nahm meine Tasche auf, um sie zu tragen. Errötend machte ich ihr das Geständnis, dass ich über keinen Kreuzer Geld verfüge, ihr also ihren Dienst nicht bezahlen könne. Lachend schüttelte sie den Kopf und eilte weiter, bis zum Landungssteg, wo sie ohne weiteres umkehrte. Ich war so gerührt und dankbar, dass mir abermals die Tränen in die Augen kamen, diesmal nicht aus Verzweiflung. Eine andere Danksagung als die Tränen hatte ich nicht. Ich weiss nicht, ob sie sie bemerkte. Jedenfalls bewahre ich dieser zartfühlenden Menschenfreundin ein dankbares Andenken. Leider war ich zu blöde, sie um ihren Namen zu fragen. Auf jeden Fall wurde mein Zutrauen zur Menschheit durch sie sehr gehoben, das durch das Verhalten von Lehrern und Kollegen in den eben verlebten Stunden sehr herabgedrückt war. An der Dampfschiffhaltestelle kamen die nach Wien reisenden Kollegen alle zusammen, und die Qual des Transports aus dem Kloster war rasch vergessen. Es war die erste Dampfschiffahrt, die ich machte; früher hatte ich als Verbindung zwischen Wien und Melk stets die Eisenbahn benützt. Der Gedanke, dass die Schule zu Ende, eine Dampferfahrt vor mir, faszinierte mich. Und ebenso meine Kollegen. Selten wird eine feindliche Invasion eine so lustige Gesellschaft zustande gebracht haben wie jene, die von uns auf dem Dampfer gebildet wurde. Wir fuhren in völliger Freiheit. Wohl hatte sich auf dem Landungssteg Pater Max eingefunden. Er begleitete uns nach Wien. Doch fuhr er erster Klasse, wir zweiter. Nicht mehr bekamen wir mit ihm zu tun, als dass er die Fahrkarten für uns löste und jeden von uns fragte, ob er Geld brauchte, um in Wien zu [den] Seinen gelangen zu können. Da ich nur über wenige Kreuzer Taschengeld verfügte und meine Eltern zur Sommerfrische ausserhalb Wiens wohnten, in Hetzendorf, bekam ich einen Reisezuschuss von 30 Kreuzern. Die Fahrt durch die romantische Wachau bis Krems war begeisternd schön. Von dort an werden die Ufer der Donau bis Greifenstein flacher, uninteressanter. Doch gerade in Krems erhielten wir ein neues Objekt für unsere Beobachtungen. Dort bestiegen einige Hundert Militärs das Schiff, ohne Gewehre, ohne Offiziere, den verschiedensten Regimentern und Waffengattungen angehörig, im bunten Gemisch. Am auffallendsten unter ihnen ein baumlanger Kürassier, dessen Helm im Sonnenschein hell erglänzte und die gesamte Menschenmasse überstrahlte. Näher konnten wir den Soldaten nicht kommen. Ehe sie das Schiff betraten, hatte man, um Raum für sie zu schaffen, alle Passagiere der zweiten auf die erste, wenig gefüllte Klasse gebracht. Sonst sind Soldaten, wenn sie 131

in grösserer Menge vereinigt sind und namentlich wenn sie nicht der Aufsicht eines Offiziers unterstehen, sehr laut, singen und lachen, mitunter streiten und raufen sie auch. Diejenigen, die jetzt zu uns stiegen, verhielten sich aber beängstigend still. Kein stärkerer Laut unterbrach ihr düsteres Schweigen. Und ihr schmutziges, zerzaustes Aussehen wirkte auch nicht erheiternd. Sie gehörten zu den Trümmern der Armee Benedeks, die bei Königgrätz so vernichtend geschlagen worden. Immer wieder weiter gepeitscht von dem Wahn, die Preussen folgten ihnen auf den Fersen, hatten sie, nachdem sie ihre Waffen weggeworfen, den Weg zur Donau genommen. In Krems sammelte man sie und sandte sie donauabwärts nach Wien, wo sie neuorganisiert wurden. Dies Bild hätte uns vielleicht zum Nachdenken über den Ernst des Krieges bringen können. Doch zeigte es keine Toten, nicht einmal Verwundete, nur Gesunde hatten so weit flüchten können. So ging der Eindruck, den die müden, verdrossenen Flüchtlinge auf uns machten, nicht viel tiefer, als wenn sie etwa von einer verunglückten, verregneten Landpartie heimgekommen wären. Die Annahme, der Krieg sei ein romantisches, herrliches Abenteuer, wurde dadurch nicht verwischt. In Wien, am Quai des Donaukanals angelangt, verabschiedete ich mich von meinen Kollegen. Ich habe keinen von ihnen und auch keinen meiner Lehrer wiedergesehen. Ein Omnibus, sie wurden in Wien damals Stellwagen genannt, der am Quai stand, führte mich zur Südbahn und von dort bald ein Lokalzug nach Hetzendorf. Ich stand dort mit meinem schweren Koffer ohne einen Kreuzer Geld. Kein hilfreiches Mädchen erbarmte sich diesmal meiner. Ich musste ihn allein schleppen, was zahllose Ruhepausen erforderlich machte. Die Wohnung meiner Eltern — ich musste mich erst durchfragen — lag im sogenannten „Casino", in der Allee, die die Portale der beiden kaiserlichen Lustschlösser Schönbrunn und Hetzendorf miteinander verbindet. Schon verzweifelte ich daran, mein Ziel zu erreichen, da begegnete ich meinem Bruder Fritz, der durch die Felder strolchte. Er benachrichtigte meinen Vater, von da an war ich geborgen. Meine Eltern waren nicht von meinem Kommen benachrichtigt. Es überraschte sie aufs höchste, doch beglückte es sie auch, mich zu sehen. Gleichzeitig waren sie nicht wenig entsetzt über den Zustand, in dem ich ankam, zwar nicht verlaust, aber doch in jeder Beziehung verlumpt. Ich habe auf mein Äusseres nie viel gehalten, in Melk, wo sich niemand darum kümmerte, war es geradezu in Verwahrlosung geraten. Schon mein Anblick allein genügte, in meinen Eltern den Entschluss aufkommen zu lassen: nie wieder nach Melk. Wenige Tage nach meiner Rückkehr ins Elternhaus traf ein Brief von Melk ein, der mein Zeugnis enthielt. Mit klopfendem Herzen sah ich es 132

durch und legte es mit grosser Erleichterung nieder. Es war ganz passabel ausgefallen. Die schlechteste Note hatte mir Pater Vinzenz gegeben: hinreichend. Das war die Rache des Meteorologen. Nicht nur bei dieser Gelegenheit, auch sonst konnte ich beobachten, dass die Praxis der frommen Väter beim Unterricht und die der schliesslichen Bewertung der Leistungen der Schüler in starkem Widerspruch zueinander standen. So streng, gewalttätig, mitunter geradezu grausam die Lehrer während des Unterrichts mit den Schülern umgingen, so nachsichtig und mild zeigten sie sich bei der Abfassung der Zeugnisse über ihre Studien, die sie ihnen schliesslich zum Semesterschluss ausstellten. Vielleicht waren die Patres im Grund doch ganz gutmütige Leute, die im Unterricht zu Mitteln der Gewalttat nur deshalb griffen, weil sie sich uns Jungen gegenüber einfach nicht anders zu helfen wussten, die wir ja tatsächlich eine sehr rüde Bande waren. War die Bahn der Roheit einmal beschritten, dann trieb ein Keil den andern. Die Roheit der Schüler verstärkte die der Lehrer und umgekehrt. Es ging wie mit der Todesstrafe. Aus der Bekämpfung von Mordtaten hervorgegangen, mindert sie in gewalttätigen Naturen den Respekt vor dem Menschenleben und fördert so die mordlustige Gesinnung. Unter den Richtern, die sich gezwungen sehen, die Todesstrafe zu verhängen, mag mancher sein, der durchaus keine Blutgier empfindet. So mochten auch die Lehrer, die uns prügelten, beim Verfassen der Zeugnisse milder über uns denken. Aber noch ein anderes Moment konnte bei der Klassifikation unserer Leistungen mitwirken. Wir haben bei der Affäre des Bücherdiebstahls gesehen, wie ängstlich die Patres bemüht waren, nichts bekanntwerden zu lassen, was den guten Ruf ihrer Lehranstalt schädigen konnte. Dieser musste aber entschieden darunter leiden, wenn zu viele der Schüler versagten und durchfielen. Ich war unter 21 Schülern in der Lokation, der damals noch üblichen Rangbestimmung nach den Leistungen, der 11., stand also gerade in der Mitte. Nur zehn waren besser als ich, zehn schlechter. Bei einer strengen Beurteilung, die mich durchfallen liess, musste die Hälfte der Klasse sitzenbleiben. Davor schreckte man zurück, zeigte sich daher so milde, als es nur anging. Welche Gründe immer es bewirkt haben mochten, dass mein Zeugnis besser ausfiel, als ich erwartet hatte, auf jeden Fall nahm es von mir den letzten Alb, der noch von Melk her auf mir gelastet hatte, und ich durfte unbeschwert von jeder Sorge mich dem süssen Nichtstun der Ferien oder vielmehr ihrem geschäftigen Müssiggang ergeben. Wieder war es der Krieg, der eine erfreuliche Abwechslung in sie brachte. Die Friedensverhandlungen, die am 22. Juli begannen, brach133

ten Waffenruhe mit sich und am 23. August den definitiven Frieden. In dieser Zeit wurde das Heer des mit Österreich verbündeten Königreichs Sachsen, das in Böhmen mitgefochten und den Rückzug nach der Donau mitgemacht hatte, in den Ortschaften südlich von Wien, zwischen Hetzendorf und Mödling einquartiert. In dem grossen Haus, in dem wir wohnten und das aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen den Namen Casino führte, befand sich eine Reihe ausgedehnter Stallungen, die leer standen. Sie waren sehr willkommen als Unterkunft für etwa 60 Pferde, die dort mit den dazugehörigen Mannschaften einquartiert wurden. Wohl war es nicht romantische Kavallerie, sondern eine Abteilung des prosaischen Trains, die dort zu hausen hatte. Aber immerhin, es gab Pferde und Reiter, und da fanden wir Kinder immer etwas zu schauen. Ja, wir gerieten bald in nähere Beziehung zu Pferden und Soldaten. Ich durfte sogar mitunter auf einem kgl. sächsischen Pferde sitzen und ein paar Schritte reiten. Die Mannschaften waren ja in der Mehrzahl sehr freundlich zu uns. Mit heiler Haut waren sie aus den Kriegsgefahren hervorgegangen, wem schlimm mitgespielt worden, der befand sich nicht unter den Diensttuenden. Der Krieg war vorbei, Friede und baldige Rückkehr in die Heimat stand in Aussicht, da fühlten sich fast alle froh und zufrieden. Sie freundeten sich rasch mit uns Kindern an, ich besonders erschien den sächsischen Soldaten bald sehr nützlich, da sie den Dialekt der Hetzendorfer schwer verstanden, während ich mit meinem Prager Deutsch mich mühelos mit ihnen verständigte. Und ein Korporal der Abteilung nahm die KautskyKinder besonders unter seine Protektion, weil er ein Auge auf unsere Köchin hatte. So wurde die sächsische Einquartierung für uns ebenso eine Quelle mannigfacher Genüsse, wie die französische es in Frankfurt mehr als 100 Jahre vorher für den jungen Goethe geworden war, wenn auch der Korporal kein Königsleutnant war, die befreundeten Sachsen keine feindlichen Franzosen und ich kein Goethe. Das Amüsement, das uns die Einquartierung 1866 bot, war sicher nicht geringer als jenes, das den Kindern des Goetheschen Hauses 1759 der gleiche Anlass gewährt hatte. Wir Kinder waren sehr betrübt, als der Friede geschlossen wurde und die Sachsen abzogen. Den Ausbruch des Krieges hatte uns das erwartungsvolle Lachen des Melker Seppl verkündigt. Sein Ende brachte Seufzer und Tränen für manches weibliche Wesen um uns. Der ganze Verlauf des Krieges hatte sich mir 1 nur in angenehmen Vorkommnissen geäussert. Verkürzung der Schulzeit, Verlängerung 1

In der Abschrift steht „hier". B.K.

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der Ferien, schöne Donaufahrt, intensive Verbindung mit, wenn auch nicht ritterlichen, so doch reiterlichen Wesen. Der Krieg dauerte zu kurz, als dass er irgendwelche Störungen in der Lebensmittelversorgung hätte bringen können, und in unserem ganzen Bekanntenkreis befand sich niemand, der den Verlust eines Angehörigen oder Freundes zu bedauern hatte. Die Gefallenen und Verwundeten waren überwiegend entweder Berufsoffiziere — mit diesem Kreis hatte unsere Familie keine Verbindung — oder „Mannschaften", überwiegend arme, unwissende Menschen, meist aus der Landbevölkerung. Wer unter den Wehrfähigen ein bisschen Geld oder Kredit oder Protektion hatte, konnte sich damals noch der Wehrpflicht entziehen, entweder offen durch Loskauf oder hintenherum durch Begünstigung bei der Assentierungskommission. Der Krieg brachte wohl schliesslich eine für das Zivil mörderische Seuche, die Cholera, mit sich. Sie wütete stark in Wien. Doch in Hetzendorf zeigte sie sich nicht oder doch nicht merkbar. Innerhalb des geistigen Horizonts, in dem sich damals mein Denken bewegte, traten also die schweren Schäden des Kriegs nicht auf, ich verspürte von ihm nur vergnügliche Seiten. Pazifistisches Denken brachte er mir nicht bei. Seitdem ich wieder bei meinen Eltern war, sah ich die Welt im rosigsten Licht. Alle die üblen Eigenschaften, die ich in den zwei Jahren des Melker Milieus erworben, verschwanden im Nu. Keine Widersetzlichkeit mehr gegen Obere, sondern zärtlichste Liebe, freudigster Gehorsam gegenüber den Eltern. Kein Quälen der Schwächeren, sondern eifrigste Hilfsbereitschaft für sie. Auch mein geistiges Leben wurde regsamer, freier. Kein Gedanke mehr an Sterben, kein Stossgebetlein mehr bei jeder eintretenden Verlegenheit, kein stupider Wunderglaube. Meine Frömmigkeit war nicht das Ergebnis eines inneren Bedürfnisses, sondern nur der Angst vor äusseren Übeln und der Nachahmung meiner Umgebung gewesen. Schon früh hatte mir die Atmosphäre des Elternhauses künstlerische Interessen eingeflösst. In Melk waren sie völlig eingeschlafen. Jetzt erwachten sie von neuem und wirkten nun nicht bloss rezeptiv, sondern veranlassten mich zu schöpferischem Tun. Ich versuchte mich zum ersten Mal als Schriftsteller. Den elterlichen Berufen entsprechend als Dramatiker. Ich schrieb ein Theaterstück. Nicht wie es Gymnasiasten gewöhnlich tun, eine Tragödie aus dem klassischen Altertum, die auf 5 Akte angelegt wird und in den ersten Szenen steckenbleibt, sondern ein Lustspiel, das in der Gegenwart spielt und nur einen Akt umfasst. Der aber wurde vollendet. Ich besitze das Manuskript nicht mehr, kann mich des Dings nur schwach entsinnen. Bei uns wurde öfter, von den Eltern wie von den 135

Kindern Theater gespielt. Jetzt sollten wir auch in Hetzendorf unsere Müsse dazu benützen. Den Text aber wollte ich diesmal selbst liefern. Wir drei älteren Kinder sollten die Schauspieler stellen — ich, der älteste, 12 Jahre, meine Schwester Minna 11, mein Bruder Fritz 9 Jahre alt. Der Gegenstand des Stückchens war folgender: zwei Studenten hausen in der gleichen Bude, einer, der ganz in seinen Büchern aufgeht, von der Welt nichts hört und sieht, den gab ich. Neben ihm ein anderer, flott und verwegen — Fritz. Zu diesem kommt seine Schwester zu Besuch, ein übermütiges Mädel, das, mit dem Bruder verbündet, den ängstlichen Pedanten durch lose Streiche vom Studium abhält, zur Verzweiflung bringt, dann aber in ihm die Erkenntnis aufdämmern lässt, ausserhalb der Bücher gebe es eine andere, wichtigere Welt, die kennenzulernen nicht minder notwendig sei wie das Bücherwissen. Wir führten das Stück auf vor versammelter Verwandtschaft und Freundschaft des Hauses, die sich an unserem Gebaren ergötzte. Die Aufführung wird nicht allzu stümperhaft gewesen sein, denn meine Mutter führte die Regie. Doch wir alle betrachteten das Lustspiel nur als den flüchtigen Einfall einer heiteren Stunde. Es wurde nicht wieder aufgeführt, und das Manuskript ist bald verlorengegangen. Die Menschheit wird sich ohne es behelfen müssen. Der jähe Übergang vom bösartigen Wildling zum sanften Heinrich, vom wundergläubigen, in steter Todesfurcht zitternden Betbruder zum religiös gleichgültigen Positivsten oder Realisten vollzog sich in mir ohne alle inneren Kämpfe, ja ohne dass ich mir eines Wandels in meinem Innern bewusst wurde. Mein Charakter in Melk war mir ebenso selbstverständlich erschienen wie der im Elternhause. Er veranlasste mich nie zu Betrachtungen oder gar Gewissensbissen; heute rückschauend zeigt mir mein damaliger Charakterwandel, wo die Lösung des Problems der Spaltung der Persönlichkeit zu suchen ist. Eine derartige Spaltung wird mitunter beobachtet. Ein Mann kann im Alltag ein braver Familienvater, ein hochmoralischer Mensch sein und sich doch zeitweise einem wüsten Verbrechertum ergeben. Beides geht aus seiner Natur hervor, er ist niemals Heuchler oder Poseur. Mancher will diese seltsame Erscheinung dadurch erklären, dass in demselben Menschen zwei verschiedene Persönlichkeiten stecken. Aber das hiesse annehmen, dass derselbe Mensch über zwei Gehirne verfügt, die er nach Belieben miteinander tauschen kann. Denn was ist die Persönlichkeit eines Menschen anderes als sein Nervensystem, gipfelnd im Gehirn, mit seinen angeborenen Fähigkeiten und Neigungen und seinen erworbenen Erfahrungen? Jeder Mensch verfügt nur über ein Nervensystem, ein Gehirn. Aber dieses ist ein sehr komplizierter Apparat, der auf verschiedene Reize sehr verschieden zu reagieren vermag. Unser Gehirn ist 136

derartig organisiert, dass es trachtet, die verschiedenen Eindrücke in unserem Bewusstsein und unserem Charakter zu einem widerspruchslosen Ganzen zusammenzufassen. Aber dieses Streben kann eine Hemmung erfahren, wenn ein Mensch nicht bloss in einem Milieu lebt, sondern in zweien, die ganz gegensätzlicher Natur und schroff voneinander geschieden sind. Diese beiden Milieus waren für mich damals das Melker Konvikt und das Elternhaus. Hier war ich eine ganz andere Persönlichkeit als dort. Natürlich wirkt dasselbe Milieu auf alle Individuen nicht in gleicher Weise, je nach den angeborenen und eventuell durch äussere Einflüsse gebildeten Charaktereigenschaften kann dasselbe Milieu auf verschiedene Individuen sehr verschieden wirken. Aus dem einen kann es einen tatkräftigen Mörder, aus einem andern einen feigen Kriecher, aus einem dritten einen stumpfsinnigen Idioten, aus einem vierten einen verzückten Märtyrer [machen]. Ich will keineswegs behaupten, dass die Melker Erziehung auf alle Insassen des Konvikts in gleicher Weise wirkte wie auf mich. Aber im Grunde sind alle Menschen gleich organisiert. Betrachtet man eine Masse, dann findet man, dass die individuellen Verschiedenheiten in ihr sich untereinander aufheben, das Allgemeine überwiegt und jede Klasse, jedes Geschlecht, jede Nation, jede Zeit als Ganzes einen besonderen Charakter aufweist. Wie verschiedene Früchte Melk gezeitigt haben mag, eines war wohl das allgemeine Ergebnis der dortigen Kultur: die Intelligenz hat es nicht gehoben, sondern verkümmert. Die Zeiten sind lange vorbei, in denen die Klostererziehung das höchste Mass geistigen Lebens vermittelte. Mir ist keine bedeutende Persönlichkeit bekannt, die im 19. Jahrhundert aus Melk hervorgegangen wäre. Dagegen war an solchen sehr fruchtbar die Lehranstalt, die ich nun besuchen sollte, das Akademische Gymnasium in Wien. 16.

NOCHMALS

CHLUMSKY

Der Herbst des Kriegsjahrs 1866 brachte für mich zwei einschneidende Änderungen; den Abgang meines Grossvaters Jaich von Wien und meinen Eintritt in das Akademische Gymnasium. Ich hing sehr an meinem mir so kongenialen Grossvater Jaich. Seinen Abgang von Prag 1862 hatte ich sehr schmerzlich empfunden. Um so grösser die Freude des Wiedersehens, als auch wir von Prag nach Wien übersiedelten, 1863. Leider dauerte unsere Vereinigung in einer Stadt nicht lange, denn schon 1864 wurde ich nach Melk verschickt. Kaum war ich von dort heimgekehrt, nicht bloss für die Zeit der Ferien, da musste Anton Jaich Wien verlassen. 137

Das Theater in der Josefstadt war völlig zusammengebrochen, Jaich hatte anderswo ein Engagement suchen müssen und eines gefunden, in Klagenfurt. Am 1. September 1866 hätte er laut Vertrag dort eintreffen müssen, sonst musste er für jeden Tag Versäumnis 10 Gulden Geldstrafe bezahlen. Die Reisekosten vorzuschiessen, hatte der Direktor Selar versprochen, aber Jaich war wie so oft gutmütig genug gewesen, das blosse Wort des Mannes ohne schriftliche Festlegung als Bürgschaft zu betrachten. Als Ende August kam, wollte Jaich die Reise nach Klagenfurt antreten, wie so oft ohne einen Kreuzer in der Tasche. Der Direktor machte keine Miene, sein Versprechen einzulösen und das Reisegeld zu senden, seine in Wien anwesende Frau wies den armen Anton darauf hin, dass im Kontrakt nichts darüber vorgesehen sei, wohl aber eine Geldstrafe für verspätetes Erscheinen. Da im letzten Moment musste wieder mein Vater helfen. Am 31. August sandte ihm der Grossvater einen Brief, in dem es hiess: „Ich bitte Dich inständig, mir noch diesmal aus der Not zu helfen und mir 5 Gulden zur Reise vorzustrecken. Es fällt mir ungemein schwer, Dir nach alledem, was Du schon für mich getan, neuerdings zur Last fallen zu müssen. Aber ich bin in der grössten Klemme. . . Leb wohl und zürne nicht Deinem armen Schwiegervater Jaich." Ein armer Schwiegervater in der Tat! Wegen der Kleinigkeit von 5 Gulden einen solchen Jammerbrief schreiben zu müssen! Unter den vielen erschütternden Belegen seiner ständigen Notlage, die auf uns gekommen sind, ist dies nicht der am wenigsten erschütternde. Doch mehr noch als seine materielle Not bedrückte ihn die Trennung von seinen Lieben, von uns, die von nun an, gerade in der Zeit fortschreitenden Alters, eine dauernde wurde. Gerade in der Zeit, in der Anton Jaich nach Klagenfurt abreiste, erörterten meine Eltern die Frage, in welches Gymnasium Wiens ich im kommenden Schuljahr eintreten solle. Vier Gymnasien kamen in Betracht: das Theresianum, die beiden Gymnasien der Schotten und der Piaristen und das Akademische Gymnasium. Das Theresianum war eingerichtet als Konvikt für die Erziehung der Söhne des Adels. Es nahm auch Externe auf, Söhne bürgerlicher Familien. Räumlich war dieses Gymnasium uns in der Wehrgasse am nächsten gelegen. Doch sein feudaler Charakter wirkte abschreckend auf uns. Die beiden Anstalten der Schotten (Schottische Benediktiner) und der Piaristen waren geistliche Lehranstalten, ebenso wie die Melker. Das Schottengymnasium hatte einen guten Ruf (Victor Adler studierte dort), aber es lag zu weit von unserer Wohnung ab. Meine Eltern entschlossen sich für das Akademische Gymnasium, damals das einzige nicht feudale und nicht geistliche Gymnasium in 138

Wien. Ursprünglich war es allerdings auch in geistlichen Händen gewesen, und zwar in denen der Jesuiten. Doch das hatte aufgehört, als der Jesuitenorden aufgehoben worden. Zuerst hatte sich dieses Gymnasium im Gebäude der alten Universität befunden, daher sein Name. Aber diese brauchte immer mehr Räumlichkeiten für sich, daher wurde ein eigener Bau für das Akademische Gymnasium errichtet. Auf den Gründen der Stadtwälle, die militärisch überflüssig geworden waren und deren Niederlegung schon 1857 begonnen worden. Doch habe ich 1863, als wir nach Wien kamen, noch Teile der Umwallung stehen sehen. Gerade 1866 war das neue Akademische Gymnasium fertig geworden. Es lag uns auf seinem neuen Standort räumlich viel näher als früher. In dieses neue Gebäude zog ich nun ein. Nicht nur das Gebäude war neu. Auch der Geist der Schule war ein weit modernerer als der [der] Melker Benediktiner. Das fand ich ohne weiteres heraus, ohne viel Studien und tiefe Betrachtungen, als ich merkte, dass im Gymnasium nicht geprügelt wurde. Keiner der Lehrer vergriff sich je tätlich an einem der Schüler, auch nicht bei schärfster Provokation. Das allein schuf für unsere Moral schon eine bessere Atmosphäre, als sie in Melk geherrscht. Dafür gab es einen andern Ubelstand: war die Behandlung während des Unterrichts eine mildere, so wurde dafür die Beurteilung unserer Leistungen eine weit strengere. Gleich in meinem ersten Zeugnis gab es zwei Ungenügend, im Lateinischen und Griechischen. Dabei war ich der 34. unter 57 Schülern, als 23, zwei Fünftel der Schüler, wussten noch weniger als ich. Den Grund für den Unterschied in der Milde hier und der Strenge dort habe ich schon oben angedeutet. In Melk gab es nur wenige Schüler, jeder, der fortblieb oder nicht wiederkam, war ein Verlust. Da durfte man durch übergrosse Strenge in der Klassifizierung die Eltern nicht abschrecken. Anders lagen die Dinge im Akademischen Gymnasium. Wir haben eben gesehen, dass in der dritten Klasse des Schuljahres 1866/1867 nicht weniger als 57 Schüler waren. Im nächsten Jahr waren es sogar 67. Da fürchtete man nicht, sondern wünschte man den Abgang von Schülern. Strengste Siebung schien am Platze. Und sie wirkte. Ich habe eben von 67 Schülern der dritten Klasse im ersten Semester gesprochen. Im zweiten Semester waren es ihrer nur 54. Sie schwanden fast so rasch dahin wie die 10 Negerlein. Leider äusserte sich die Uberfüllung der Klassen nicht nur durch die grosse Strenge des Zensuren, sie beeinträchtigte auch den Lehrerfolg. Der durch die herkömmlichen Schulmethoden unschmackhafte Lehrstoff wurde noch abstossender durch die Schabionisierung des Unterrichts, da die riesige Schülerzahl jedes Eingehen auf die Eigen139

art der einzelnen Schüler, ja bereits jedes Erkennen dieser Eigenart ausschloss. Der pedantische, geistlose Schulbetrieb trug nicht dazu bei, mir die üblen Schulsitten oder vielmehr Unsitten abzugewöhnen, die ich in Melk angenommen. Ohne Pflichtgefühl, ohne Interesse für die Lehrgegenstände, ohne jegliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt, bummelte ich durch das Schuljahr hindurch. Wenn ich auch die neuen Lehrer nicht so sehr hasste wie vordem die Melker, ich fuhr fort, sie als Feinde zu betrachten. Ich fuhr fort, meinen Ehrgeiz darein zu setzen, meinen Lehrern einen Possen zu spielen, wo immer ich konnte. Das bildete die erfrischendste Unterbrechung der tödlichen Langeweile während des Unterrichts. Die Grösse der Klasse wirkte endlich noch dadurch ungünstig auf mich ein, dass sie die Hemmnisse vermehrte, die aus meiner Kurzsichtigkeit hervorgingen. Schon in der Volksschule hatte man diese Augenschwäche entdeckt und mir eine Brille gegeben. Doch nur eine Lesebrille. Eine Fernbrille neben jener war noch nicht üblich. Dabei gab es in den Schulen noch die geistreiche Einrichtung, die Schüler nach ihren Leistungen zu „lozieren", d.h. Plätze anzuweisen. Die besten kamen in die ersten Bänke, die schlechteren weiter hinten. Ob man dort zur Tafel sah oder nicht, interessierte den Lehrer nicht, sondern nur, dass man die von der Schuletikette vorgeschriebene Rangordnung nicht verletzte. Nach dieser Rangordnung wurde ich stets recht weit hinten placiert, mit all den frechsten und faulsten Elementen zusammen. Dahinten wurde ich vom Lehrer schlecht gesehen, konnte ich mir die Zeit vertreiben, wie ich wollte. Von dort hinten war es mir aber auch ganz unmöglich zu erkennen, was jeweils der Lehrer auf die Tafel schrieb oder zeichnete. Das hinderte mich furchtbar, namentlich in Mathematik und Geometrie. So wurde ich unter den neuen Bedingungen dem Zeugnisse nach ein noch schlechterer Schüler, als ich schliesslich in Melk geworden war. Das bekümmerte meine Eltern natürlich sehr. Meine Mutter schrieb darüber meinem früheren Lehrer Chlumsky, mit dem sie noch immer in Korrespondenz stand. Er hatte eine Pfarre erhalten im südwestlichen Mähren und geheiratet. Nun machte er meinen Eltern den Antrag in einem Brief vom 2. März 1867, ich solle das Gymnasium verlassen und zu ihm kommen und bei ihm weiter studieren. Ich würde bei ihm so viel lernen und mich körperlich und geistig so kräftigen, dass ich bald wieder ins Gymnasium zurückkehren und dort mit Erfolg weiter studieren könnte. Diese Idee war gar nicht schlecht. Bei Chlumsky hatte ich die Art des Unterrichts gefunden, die ich brauchte. Er war ein Lehrer, den ich liebte, zu dem ich mit Vertrauen und Hochachtung emporschaute. Bei dem Einzelunterricht hätte er bald herausgefunden, wo meine

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schwachen Seiten lagen, und sie gekräftigt. Vor allem aber hätte ich bei ihm erlernt, was ich völlig vergessen, die Kunst des Lernens selbst, Pflichtgefühl und Interesse für den Lehrstoff. Doch meine Eltern trugen Bedenken. Vielleicht hätte es auch eine Schwierigkeit gebildet, dass ich katholischen Religionsunterricht zu nehmen hatte, den mir der protestantische Pastor kaum in einer Weise erteilen konnte, die der Schulbehörde zugesagt hätte. Ich blieb im Gymnasium. Man suchte sich dadurch zu helfen, dass man mir Nachhilfeunterricht zuteil werden liess durch einen Studiosus philosophiae der Wiener Universität, Rudolf Knaus. Er war sehr pflichteifrig und ermöglichte es mir, manche Hausaufgaben zufriedenstellend zu erledigen. Aber den Widerwillen gegen den Schulbetrieb und die sonstigen Hemmnisse, die dieser mir bereitete, vermochte er natürlich nicht zu überwinden. Wie sich unter diesen Umständen mein Fortkommen in der Schule gestaltet hätte, ist eine offene Frage geblieben. Sie wurde gegenstandslos dadurch, dass ich im Mai 1867 schwer erkrankte. Von einem Spiel mit Freunden war ich eines Abends masslos erhitzt und erschöpft heimgekommen. Am nächsten Tag war ich wieder ganz frisch und ging zur Schule. Aber einige Tage später klappte ich zusammen und musste mich mit heftigem Fieber zu Bett legen. Der Doktor, der meine Mutter 1864 gerettet und der seitdem unser Hausarzt war, Josef Scholz, untersuchte mich und konstatierte eine Herzbeutelentzündung, die äusserste Ruhe und Schonung erheischte, zunächst für Wochen hinaus völlige Bettruhe. An der Scholzschen Diagnose bin ich in späterer Zeit irre geworden, da die Entzündung ohne jede Verbindung mit einer andern Krankheit auftrat, lange währte und doch gar keine Spur an meinem Herzen hinterliess. Alle Ärzte, die mein Herz später untersuchten, fanden es bisher nach ihren Angaben fehlerlos. Aber welchen Namen auch meine Krankheit verdienen mochte, auf jeden Fall hatte ich sie, und zwar so ausgiebig, von Anfang Mai bis Ende Juni, dass sie es mir unmöglich machte, noch vor Schulschluss zum Unterricht erscheinen zu können. Ich hatte die dritte Klasse zu wiederholen, zu „repetieren", daran liess sich nichts ändern. Ausserdem aber fand Dr. Scholz, dass ich noch einige Monate nach der Genesung mich jeder Arbeit und Anstrengung, geistiger wie körperlicher, zu enthalten habe. Und nun kam wieder Chlumskys Einladung in Frage. Nicht mehr zum Arbeiten, sondern zum Faulenzen sollte ich nach Gross-Lhota kommen, wo mich belebende Bergluft erwartete und wo ich als der einzige Knabe unter Erwachsenen leben sollte, fern von aller Verführung durch Geschwister und Kameraden zu gefährlichem Herumtollen. 141

Da ich mich bereits 1866 als Alleinreisender bewährt hatte, wurde ich auch diesmal Anfang August allein auf die Wanderschaft geschickt. In Wien steckte man mich am Nordbahnhof in einen Zug, der nach Brünn fuhr. Dort sollte ich von einem Freund der Eltern, dem Sänger Witz, in Empfang genommen werden. Doch vergeblich sah ich mich nach ihm um. Ich nahm mir daher einen Träger, der mich in die Witzsche Wohnung führte. Frau Witz war sehr erstaunt, mich ohne ihren Gatten zu sehen, der gegangen sei, mich abzuholen. Gleich darauf kam er selbst, zunächst besorgt, mich nicht getroffen zu haben, dann erfreut, als er bemerkte, ich sei schon da. Das Rätsel des Verfehlens löste sich dadurch, dass er bekannte, er habe mich für einen Krösus gehalten und in den Wagen erster und zweiter Klasse gesucht, während ich ganz hinten einem plebejischen Wagen dritter Klasse entstieg. Den Nachmittag benutzte ich, Brünn anzusehen. Doch vorher begab ich mich zur Post, eine Fahrkarte für die Nachtpost nach Iglau zu lösen. Doch wollte ich wegen meiner Jugend eine halbe Karte haben. Und diese Forderung verursachte dem Herrn Postbeamten arge Kopfschmerzen. Ich solle nachmittags kommen, dann werde man mir sagen, ob ich eine solche, offenbar ganz unerhörte Karte bekomme. Um drei Uhr war ich wieder dort. Da vertröstete man mich auf den Abend. Um sieben Uhr ging der Postwagen, aber erst um £7 Uhr konnten sich die Postleute entschliessen, mir die halbe Karte zu geben. Ich berichte darüber hier, auf Grund eines meiner Briefe, also nicht eines trügerischen Gedächtnisses, da ich in den bisherigen Mitteilungen über das alte Postwesen über halbe Karten noch nichts gefunden habe. Leider war dies mein einziges Erlebnis bei der Post. In den Erzählungen, die ich gelesen habe, spielten Postabenteuer eine grosse Rolle. Ich [war] begierig, ob nicht auch mir eines widerfahren würde. Doch nichts passierte, keine Räuberbande stellte sich uns in den Weg, kein Rad brach, kein Pferd scheute, nicht einmal einen besoffenen Kutscher bekam ich zu sehen. Meine Reisegesellschaft in dem alten klapprigen Postwagen war auch nicht aufregend, trotz des starken Rütteins schlief ich bald nach der zweiten Station ein und erwachte erst morgens, als wir auf das holprige Pflaster Iglaus kamen. Dort erwartete mich Chlumsky, der mir entgegengekommen war und in Iglau übernachtet hatte. Er benützte den Aufenthalt dort, Obst für seine Frau zu kaufen: auch damals und dort die sonderbare Erfahrung, die ich seitdem so oft beobachten konnte: wenn die Dorfbewohner Obst haben wollen, holen sie es in der Stadt. Weiter ging es auf einer andern Postroute nach Teltsch (Tele), von dort nach Lhota gab es keine Post mehr. Wir benutzten den Leiter142

wagen eines Bauern, der gerade hinfuhr. Seinem Namen Gross-Lhöta machte es keine Ehre. Es war ein kleines Dorf, aber in einer anmutigen Gegend jenes Mittelgebirges gelegen, das das südwestliche Mähren von Böhmen trennt und im Teltscher Gebiet Erhebungen bis zu 840 Meter aufweist. Es führt den Namen der Böhmisch-Mährischen Höhe. An Höhenluft fehlte es also nicht. Und von den Verführungen der Grossstadt liess sich nichts merken. So abgelegen vom Weltverkehr war das Dörfchen, dass ich dort noch beobachten konnte, was ich nirgendwo gesehen: Mädchen, die am Spinnrad spannen. Im Hause Chlumskys selbst gab sich die Hausgehilfin jeden Abend dieser Beschäftigung hin. Nebenbei gesagt, konnte ich bei Lhota noch eine Erscheinung beobachten, die ich seitdem nie wieder zu Gesicht bekommen. Eines Abends, es war schon finster, ging ich mit Chlumsky bei einem Sumpf vorbei, da rief mein Begleiter: „Schau hin!" Ich blickte in die angedeutete Richtung und konnte endlich mit vieler Mühe ein schwaches Leuchten beobachten, das im Sumpf bald hier aufsprang, bald dort. Es war ein Irrlicht. Nie wieder habe ich ein solches gesehen, und niemand getroffen, der eines beobachtet hätte. Gehören diese Erscheinungen auch zu denen, die vor der fortschreitenden Zivilisation zurückweichen? Das ist natürlich schwer zu sagen, solange man ihre Ursache nicht kennt. Die immer weitergehende Austrocknung von Sümpfen beschränkt auf jeden Fall immer mehr die Gebiete, in denen Irrlichter auftreten können. Neben dem Spinnrad gab es noch ein anderes Anzeichen der primitiven Zustände in Gross-Lhota: der Pfarrer dort bezog sein Einkommen noch zum grossen Teil in Naturalien, Deputaten. Er berichtete meiner Mutter selbst darüber: „Der fixe Gehalt macht 400 fl. aus und die Stola auch 2—300 fl. An Naturalien bekomme ich 30 Metzen Korn, 15 Metzen Hafer, (ein Metzen betrug 61,5 Liter), 50 Sack Erdäpfel, 50 Sack Rüben, 75 Pfund Schmalz, 80 Bund Heu, 110 Bund Stroh, 50 Bund Flachs und 30 Klafter Holz." (Eine Klafter umfasste fast zwei Meter, eine Klafter Holz bedeutete die Aufschichtung von Holzscheiten üblicher Grösse, die eine Klafter lang und ebenso hoch war.) Chlumsky bekam allerdings nicht das alles, denn er hatte einen Vorgänger, der wegen hohen Alters in den Ruhestand versetzt („emeritiert") war. Solange dieser lebte, hatte der junge Nachfolger seine Bezüge mit dem greisen Vorgänger zu teilen, der 1867 77 Jahre alt war. Die ganzen Deputate waren offenbar darauf berechnet, dass der Pfarrer Landwirtschaft trieb. Was sollte er sonst mit dem vielen Hafer, Heu, Stroh und Rüben anfangen, die ihm zukamen? Und der Flachs wieder setzt das Spinnrad voraus. Chlumsky aber hielt weder 143

Pferd noch Rinder, nicht einmal Schweine, und das eine Spinnrad des Dienstmädchens vermochte wohl auch nicht die 50 Bund Flachs zu bewältigen. Die Deputate müssen daher zum Teil eine Verlegenheit geworden sein, wenn es nicht gelang, sie mit Geld ablösen zu lassen. Der Hausstand des jungen, noch nicht lange verheirateten Pfarrers mochte wohl mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ich merkte nichts davon. Liebevoll hatte mich mein früherer Lehrer begrüsst, liebevoll auch seine blutjunge Gattin. Schon in seinem Brief vom 2. März 1867, in dem er meine Eltern aufforderte, mich zu ihm als Schüler zu schicken, hatte er geschrieben: „Mein Hauptantrieb zu dem Antrag ist-der, dass ich und die Frau jemanden bei uns zu haben wünschen, auf den wir Liebe und Freundschaft übertragen könnten." Zum vollen Familienglück gehöre ein Kind und das hätten sie noch nicht. „Karl wäre mir ein lieber Sohn." Als Sohn wurde ich empfangen, als Sohn fühlte ich mich und noch dazu als einziger Sohn einer ebenso schönen wie zärtlichen Mutter. In meine Verehrung für Frau Julie mögen sich schon die ersten Keime geschlechtlicher Liebe eingeschlichen haben. Frau Julie Chlumsky wieder verband mit mir nicht nur das Bedürfnis, ein Kind oder doch einen Kindesersatz zu bemuttern, sondern auch das Verlangen nach Aussprache mit jemand, der trotz seiner Jugend doch schon geistig etwas über die bäuerliche Unbildung hinausragte. In dem Hause ihres Vaters, eines Superintendenten, hatte es einen regen Verkehr akademisch gebildeter Männer gegeben. So mancher junge Intellektuelle hatte dem hübschen Mädchen den Hof gemacht, zum Verdruss des eifersüchtigen Bräutigams, wie jetzt noch manche Wendung in seinen Äusserungen verriet. Nun sah sie sich mit einem Schlage aus diesem lebhaften, anregenden Kreise in ein Dorf versetzt mit einer höchst primitiven bäuerlichen Bevölkerung, wo es keinen einzigen Intellektuellen gab, den Pfarrer ausgenommen. Da gab es keinen Arzt, keinen Apotheker, kein Staatsbeamten, nicht einmal einen Gendarmen. Auch von einem Schullehrer war nie die Rede. Wenn es einen gab, wird seine Bildung damals vor der grossen Schulreform von 1867 nicht weit her gewesen sein. Allerdings noch eine Familie von Intellektuellen gab es im Ort, aber gerade mit dieser pflegte das Pfarrhaus gar keine Beziehung. So klein Gross-Lhota war, das Dorf umfasste zwei Kirchengemeinden, und zwar zwei protestantische in einer sonst ganz katholischen Umgebung. Eine lutheranische und eine reformierte. Schon in dem bereits mehrfach erwähnten Brief vom 2. März 1867 schrieb Chlumsky von dem „Augsburgischen Pfarrhaus, 5 Schritt von meinem Haus entfernt". In dem Hause wohnte eine Pfarrersfamilie mit zwei kleinen, niedlichen Kindern — das hätte doch für die vereinsamte Frau Julie der

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richtige Anschluss werden können. Doch sie dachte nicht daran. Das erklärt uns ein Satz in dem eben erwähnten Brief vom 2. März: „Mit der Augsburgischen Gemeinde leben wir in beständigem Hader." Der Hader entspann sich namentlich wegen der Benutzung der Kirche. Es gab bloss eine Kirche für beide Konfessionen. Nur am Sonntag wurde sie für den Gottesdienst gebraucht. Bisher hatte man sich damit beholfen, dass an jedem Sonntag zuerst die Augsburger, dann die Reformierten dort ihren Gottesdienst abhielten. Der Vormittag konnte für beide reichen, doch dem Teufel war es gelungen, selbst in die frommen Gemüter des Dorfes den Samen der Zwietracht zu säen, sei es wegen Prestigefragen oder wegen praktischer Rücksichten. Der Gebrauch der gemeinsamen Kirche schuf immer grössere Reibungsflächen. Chlumsky hatte sich sofort nach seinem Amtsantritt darangemacht, sie zu beseitigen durch eine kühne Tat: die helvetische Gemeinde, so klein und so arm sie war, sollte eine eigene Kirche für sich erbauen. Das wäre Wahnwitz gewesen, wenn es Chlumsky nicht gelang, finanzielle Hilfe von aussen zu gewinnen. Er hatte damit in der Tat Erfolg. In Deutschland bestand seit 1842 ein Verband protestantischer Vereine, der sich die Unterstützung der protestantischen Kirchen in nichtprotestantischen, namentlich katholischen Ländern zur Aufgabe machte. In Österreich war er erst seit 1860 gestattet. Chlumsky wendete sich an diesen Verein und bewog ihn zu einer Unterstützung des Kirchenbaues in Gross-Lotha. Gerade als ich dort war, wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Chlumsky war die Seele der Arbeiten, sie nahmen ihn ganz in Anspruch, zwangen ihn auch mehrfach zu kleineren oder grösseren Reisen. Gleichzeitig aber war die Spannung zwischen den beiden Pfarrhäusern aufs höchste gestiegen. Das machte sich weniger im Verkehr zwischen den Pfarrherren selbst bemerkbar, die doch die Regeln der konventionellen Höflichkeit nicht verletzen wollten, da sie zu oft beruflich miteinander zu tun hatten, aber das war bei den Pfarrersfrauen nicht der Fall. Bittere Feindschaft herrschte zwischen ihnen. Begegneten sie sich auf der Strasse, was höchst selten der Fall war, grüssten sie einander kaum und keine Rede davon, miteinander einige Worte zu wechseln oder gar einander zu besuchen. Als einziger Gesellschafter für Frau Julie ausser den Bauern blieb also ich übrig. Wir wurden bald unzertrennlich. Der Haushalt gab der jungen Frau nicht viel zu tun, das Dienstmädchen verstand davon wahrscheinlich mehr als sie selbst. Wir gingen zusammen spazieren oder lasen zusammen im Garten. Chlumsky besass eine kleine, aber gewählte Bibliothek. Ich habe schon erwähnt, dass ich dort Nösselts Weltgeschichte wiederfand. Manche Stunde lang habe ich daraus

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Frau Julie vorgelesen. Sie bezeugte keine Langeweile. Bemerkenswert ist, dass ich mit religiöser Literatur oder religiösen Kundgebungen in dem protestantischen Pfarrhause von Gross-Lhota ebensowenig geplagt wurde wie etwa Goethe ein Jahrhundert vorher in dem Pfarrhaus von Sesenheim. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dort beten gesehen zu haben. Das heisst, gebetet wurde sicher. Chlumsky war eine tiefgläubige Natur, seine Frau als Tochter eines Geistlichen hatte man ebenfalls dazu erzogen. Sie beteten gewiss oft, aber ich habe es nie gehört. Sie beteten wohl im stillen, vermieden es, das Gebet zu einer öffentlichen Demonstration zu machen. Im katholischen Kloster [war] die Demonstrierung der Frömmigkeit die Hauptsache gewesen. Der Sonntagvormittag war natürlich dem Gottesdienst geweiht. Unaufgefordert nahm ich daran teil. Sei es aus Neugierde, sei es aus Höflichkeit, da es einen schlechten Eindruck auf die Gemeinde gemacht hätte, wenn ein Insasse des Pfarrhauses dem Gottesdienst fernblieb. Eindruck auf mich machte er nicht, auch die leidenschaftlichen Predigten Chlumskys, vorwiegend Sittenpredigten, liessen mich kalt. Sie waren wohl zu sehr lokal zugespitzt und setzten eine bessere Kenntnis des Tschechischen voraus, um von mir in allen Teilen verstanden zu werden. In Wien und namentlich in Melk hatte ich viel von meinem Tschechisch verschwitzt. Jetzt in Lhota bekam ich reichlich Gelegenheit, es wieder aufzufrischen. Nur Chlumsky und seine Frau sprachen deutsch. Alle andern Dorfbewohner, mit denen ich in Berührung kam, verstanden bloss Tschechisch. Eine etwas seltsame Erscheinung, angesichts der Tatsache, dass Lhota in der Mitte zwischen zwei deutschen Sprachgebieten lag. Nördlich lag die Sprachinsel von Iglau, südlich Niederösterreich, über dessen Grenzen hinaus sich die Herrschaft der deutschen Sprache noch ein erhebliches Stück erstreckte. Von dem nördlichen wie von dem südlichen deutschen Sprachgebiet war Lhota keinen Tagesmarsch entfernt. Und doch kamen die Dorfbewohner mit dem Tschechischen allein ganz gut aus, ein Zeichen ihrer Abgeschlossenheit vom Weltverkehr. Ich kam ganz wenig in Verkehr mit einzelnen Bauern, namentlich mit dem Kirchendiener freundete ich mich sehr an, einem Kleinbauern, dessen Hütte dicht neben dem Pfarrhaus lag und mit dem ich öfters zu tun bekam. Die Lebenshaltung der Bauern war sehr einfach und monoton. Soweit ich an Mahlzeiten teilnahm, bestanden sie bloss aus Kartoffeln und Milch, allerdings sehr viel Milch. An Brot — Roggenbrot — war kein Überfluss. Fleisch gab es nie, das heisst nie in den zwei Monaten meines Aufenhalts dort, August und September. Im November wird wohl manche Gans, manches Schwein geschlachtet worden sein. Doch gab es auch einzelne Grossbauern, bei denen Fett146

lebe herrschte. Die lernte ich in einem benachbarten Dorfe kennen, als dort ein Grossbauemsohn heiratete und Chlumsky die Ehe einsegnete. Zu dem Hochzeitsfeste nahm er nicht bloss seine Frau, sondern auch mich mit. Das Bauernhaus war nicht gross, dennoch hatte sich über ein halbes Hundert Menschen versammelt, die da nach Herzenslust schmausten und zechten. Wir blieben die Nacht über dort, doch musste die ganze Hochzeitsgesellschaft in einer Scheune auf Stroh schlafen. Nur dem Herrn Pfarrer und seiner Frau wurde ein Zimmer eingeräumt. Wo das Brautpaar blieb, weiss ich nicht. Dem Stile der Hochzeit nach muss der Bauer sehr wohlhabend gewesen sein. Doch eine glänzende Hochzeit auszurichten, gehörte seit jeher zu den Aufgaben, zu denen sich ein Bauer unter allen Umständen verpflichtet fühlt. Gar mancher hat sich dabei zu Grunde gerichtet. Im allgemeinen überwog das Kleinbauerntum. Es war arm, verkam aber weder in schmutziger noch in trostloser Armut. Ich fand überall grosse Reinlichkeit und auch Frohsinn. Im Verkehr mit den Bauern lernte ich wieder fliessend tschechisch sprechen. Aber so wie in Prag war auch dort das Tschechisch, das ich aufnahm, ein vulgäres. Zum Literatur-Tschechisch bin ich nicht vorgedrungen. Ich lernte tschechisch sprechen, nicht aber tschechisch lesen oder schreiben. Wenigstens nicht ausreichend. Wohl schrieb ich meinem Vater von Lhota aus einen tschechischen Brief, der ihn ebenso überraschte wie erfreute. Aber dabei blieb es. Zwanzig Jahre später in London übergab mir Friedrich Engels einmal eine tschechische Zeitung, die ihm zugegangen war, und forderte mich auf, den darin angestrichenen Artikel zu lesen. Ich entledigte mich dieser Aufgabe so schlecht, dass Engels mein Tschechentum für einen Schwindel erklärte. Mein Tschechisch reichte nur für einen sehr engen Bezirk von Gedanken aus. Für alles darüber hinausgehende Denken stand mir bloss die deutsche Sprache zur Verfügung, für Fragen der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur, der Politik. Tschechisch reden lernte ich bei den Bauern, tschechisch-nationalistisch fühlen lernte ich bei dem Pfarrer, mit dem ich deutsch sprach. Ebensowenig wie 1863 betrieb nun Chlumsky bei mir irgendwelche politische Propaganda. Er wirkte nur durch gelegentliche Äusserungen, etwa anlässlich eines Zeitungsblattes oder einer behördlichen Verfügung. Aber der Geist, den diese Äusserungen atmeten, war der eines leidenschaftlichen Nationalisten und Hassers der Regenten und Politiker in Wien. Das harmonierte ganz gut mit seinem Hussitismus und Calvinismus, der mitunter zutage trat, jedoch mehr in historisch als in kirchlich gerichteten Äusserungen. Jetzt wirkten sie ganz anders auf mich ein als ehedem auf den neunjährigen Knaben. Ich war nun

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nicht bloss um vier Jahre älter, ich hatte seitdem aus Melk einen tiefgehenden Abscheu vor dem Pfaffentum davongetragen. Und 1866 hatte ich in Wien im Vaterhause eine Stimmung vorgefunden, die mit Österreichs bevorstehendem Zerfall rechnete und sich über jede Niederlage der Wiener Regierung freute. Das war die Stimmung meiner ganzen Familie. Sowenig tschechisch-nationalistisch meine Mutter fühlte, sie entrüstete sich gegen jede Unterdrückung und stimmte mit meinem Vater in jeder Verurteilung von Unterdrückungsmassregeln gegen Slaven überein. Ein Beleg dafür folgendes: Im Oktober 1869 brach in dem nördlichen Teil der Bocche di Cattaro — südlichstes Dalmatien — ein Aufstand der Bevölkerung gegen die Rekrutierung aus. Bis dahin waren die Bocchesen von der allgemeinen Dienstpflicht ausgenommen gewesen. Lange setzten die Insurgenten den gegen sie aufgebotenen Truppen erfolgreichen Widerstand entgegen. Der Aufstand wurde nicht durch einen Sieg der kaiserlichen Armee beendigt, sondern durch einen Vergleich. Noch ehe es dahin gekommen war, hatte schon die blosse Tatsache der Erhebung meine Mutter gedrängt, ein längeres Gedicht zu verfassen, in dem sie die Helden verherrlichte, die es wagten, sich der schwarzgelben Soldateska zu widersetzen. Am Weihnachtsabend 1869 war bei uns eine grössere Gesellschaft. Dort trug sie unter jubelndem Beifall dies Gedicht vor. Wieviel Freiheit, wie wenig Spitzelei gab es noch im Österreich jener Tage! Diejenigen, denen die österreichische Tradition so heilig ist, sollten sich auch dieser Seite der österreichischen Vergangenheit erinnern. Die Stimmung, der dieses Gedicht entspross, fand ich schon 1866 im Elternhause vor, sie bestimmte die Art, wie Chlumskys gelegentliche politische Aussprüche 1867 auf mich wirkten. Die anti-habsburgische Richtung, die ich damals erhielt, hat bei mir nie wieder aufgehört. Ich habe sie später nur noch mit anderen Auffassungen weltpolitischer Art gemischt und dadurch erweitert. Ende September verliess ich Gross-Lhota, an Leib und Seele gekräftigt. Das Scheiden und Meiden tat freilich auch diesmal weh. Die Idylle im dortigen Pfarrhause ist mir bis heute eine freundliche, sonnige Erinnerung geblieben. Leider blieb es nicht der letzte Eindruck, den ich vom Hause Chlumsky bewahre. Des Zusammenhanges wegen sei mein letzter Besuch bei ihm gleich hier mitgeteilt, obwohl er erst ein Jahrzehnt später zustande kam. Im Frühjahr 1877 beauftragte mich mein Vater mit einer geschäftlichen Mission bei sächsischen Theatern, dem Hoftheater in Dresden und dem Stadttheater in Leipzig. Ich hatte den Auftrag gern übernommen, da er mir Gelegenheit gab, in Leipzig Bebel und Liebknecht persönlich 148

kennenzulernen und der deutschen Sozialdemokratie näherzutreten. Seit mehr als zwei Jahren war ich ja Sozialdemokrat. Die Korrespondenz, die meine Mutter und ich mit Chlumsky führten, war im Laufe der Jahre etwas eingeschlafen, aber soviel wusste ich 1877 doch von ihm, dass er nicht mehr in Gross-Lhota tätig war, sondern in einem Dörfchen Krabcice am ftip bei Raudnitz (Roudnice) an der Elbe. Mein Weg von Prag nach Dresden führte mich bei Raudnitz vorbei. Ich beschloss die Gelegenheit zu benützen, meine lieben Freunde Chlumsky wieder einmal begrüssen zu können, teilte ihnen mit, ich würde dieser Tage bei ihnen eintreffen. Er hiess mich herzlich willkommen. Einen bestimmten Zeitpunkt meines Eintreffens hatte ich nicht festgesetzt, da ich nicht ganz Herr meiner Zeit war. Am 5. April 1877 verliess ich Prag, fuhr nach Raudnitz, nahm dort ein Mittagmahl und marschierte dann zu Chlumskys Dorf Krabcice, das nicht schwer zu finden war, denn es lag am Fusse des Berges Rip (deutsch Georgsberg), eines Basaltkegels, der unvermittelt aus der ihn umgebenden Höhe emporragt und weithin sichtbar ist. Die Bevölkerung ist dort ganz tschechisch, aber wie die Lhotas sehr nahe dem deutschen Sprachgebiet. Im Dorfe angelangt, fragte ich nach dem Pfarrhause. Ach, wie verschieden war das von dem Lothaer. Dort ein einstöckiges, geräumiges, behagliches, „frohmütiges", wie die Schweizer sagen, Heim. Hier ein ebenerdiges, enges und dürftiges Bauwerk, mehr Hütte als stattliches Haus. Schon dieser Anblick deutete auf argen Abstieg hin und beklemmte mir das Herz. Ich öffnete die Türe und begegnete einem ältlichen Frauenzimmer, das ich dem Aussehen und der Tracht nach für eine Kuhmagd hielt. Mit etwas stupidem Gesichtsausdruck, der aber Misstrauen und Verlegenheit verriet, stierte sie mich an. Ich sagte ihr, ich wünsche den Pfarrer zu sprechen. Sie wies auf eine Tür, sagte: „Dort" und verschwand. „Angemeldet wird hier nicht", dachte ich mir und klopfte an der bezeichneten Tür. Ein kräftiges Dale (Herein) antwortete. Ich trat ein, und da sass mein alter Lehrer vor einem Tisch mit einer Schreibarbeit beschäftigt. Aufs herzlichste begrüssten wir einander und plauderten bald von der Mutter, von meinen Geschwistern, von Wien. Vergeblich wartete ich, dass Frau Julie käme und mich begrüssen werde. Ich fragte endlich nach ihr, da stellte es sich heraus, dass ich einen schlechten Tag zum Kommen gewählt hatte, einen Samstag, an dem die Hausfrau ihr Heim gründlich säuberte und der Pfarrer eine Predigt für den Sonntag machte. Und die ältliche, stupide Kuhmagd, die ich im Hauseingang getroffen, war in der Tat Frau Julie, das liebliche, zierliche, geschmackvolle und geistig regsame Wesen von ehedem! Erst 10 Jahre waren verflossen, nicht mehr als 29 Jahre 149

war sie alt und schon so verblüht, verbraucht, geistig herabgedrückt! Wieviel Überarbeit, Sorge, Wochenbetten ohne Pflege, völlige geistige Vereinsamung in einem rohen, primitiven Milieu musste sie in den 10 Jahren seit 1867 erfahren haben, dass sie so herunterkommen konnte! Und der erste Eindruck wurde nicht durch einen besseren, freundlicheren verdrängt, sobald ich näheren Einblick bekam. Am nächsten Morgen erschien Frau Julie besser angezogen, wie's sich für den Kirchgang schickte. Aber ihr scheues, verlegenes Wesen änderte sich nicht, sie beantwortete kaum meine Fragen, eine Plauderei mit ihr über Vergangenheit und Gegenwart, die ich erhofft, war ganz ausgeschlossen. Chlumsky konnte sich mir schon am Samstag wegen der Vorbereitung zur Predigt nur wenig widmen, Sonntags nahmen ihn auch Amtsgeschäfte in Anspruch. So hielt ich mich an die Kinder, drei an der Zahl, zwei ältere von etwa 9 und 7 Jahren, und ein kleines von 3 Jahren. Anfangs hatten sie mich ebenso neugierig wie scheu angestarrt, als ein unbekanntes, gefährliches Tier, doch ich hatte ihnen einiges Spielzeug mitgebracht. Zunächst wussten sie damit nichts anzufangen, ich zeigte, wie es zu behandeln sei, und besiegte dadurch ihr Misstrauen. Schliesslich wurden sie ganz zutraulich. Am Sonntagnachmittag spazierte ich mit den beiden Älteren auf den Berg Rip, keine anstrengende Bergbesteigung. Gesittet und wohlerzogen gingen sie mit mir, wie es Pfarrerskindern geziemt. Viel zu gesittet für meine Begriffe von Jugend. Da gab es kein Hüpfen und Laufen, kein Interesse für einen Schmetterling oder einen Käfer oder eine Blume. Und wie eng ihr Horizont! Er ging über Küche und Stall nicht hinaus. Wald und Fluss interessierten sie nicht, und ein überschäumendes Temperament zeigte sich nicht bei ihnen. Papa Chlumsky schien als Familienvater und Eheherr ein sehr strenges Regiment zu führen. Die ganze Familie machte auf mich einen verschüchterten Eindruck. Wie sehr musste er sich gewandelt haben, dessen Milde und Güte als Lehrer ich so wohltätig empfunden hatte. Ich hatte damals nicht viel Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber sie genügte doch, mir zu zeigen, wie sehr sein Denken sich geändert hatte. Er tobte jetzt einige Male gegen die Jungtschechen wegen ihrer Freigeisterei. Dabei war diese 1877 sicher nicht grösser als 1867 und überhaupt nicht sehr gross; denn die Jungtschechen bildeten in grossem Mass eine Bauernpartei. Allerdings traten sie dem katholischen Klerikalismus, dem Jesuitismus scharf entgegen, aber Freidenker waren sie nicht. Das bezeugten schon ihre zahlreichen Husfeiern in jener Zeit. Nicht die Jungtschechen hatten sich geändert, sondern Chlumsky. Er hatte in Religionsdingen eine Reizbarkeit und Strenge erhalten, die ihm ehedem ferngelegen hatte. Allerdings, die 150

Keime zu seiner späteren Entwicklung werden schon früher in ihm gelegen haben. Ich erinnere mich, dass einmal in Gross-Lhota Frau Julie schreckensbleich auf mich zukam. Es war ihr ein kostbares Glas aus der Hand geglitten und zerbrochen. Sie wagte es nicht, den Vorfall ihrem Gatten selbst zu melden, und bat mich, es zu tun. Später schämte sie sich allerdings dessen und sagte mir, sie werde die Sache selbst ins reine bringen, ich brauche nichts zu tun. Aber welche Zornesausbrüche müssen damals, wenige Monate nach der Eheschliessung vorhergegangen sein, dass die Frau sich vor dem Ehegatten so fürchten konnte. Man kann sich denken, welche Erfahrungen sie später machte, wenn die Ehe schon älter war, die Verliebtheit geringer und dabei die materiellen Verhältnisse, unter denen das Paar lebte, durch den Übergang zu einer ärmeren Gemeinde ungünstigere wurden. Da mochte der Gatte und Vater sich zum Haustyrannen entwickeln. Was aber die allgemeine Denkweise anbelangt, so ist zu bemerken, dass der Calvinismus zu finsterem Zelotismus überall dort neigt, wo er als Kampfesreligion auftritt, von bedrückten Kleinbürgern und Bauern verfochten wird. Im alten England wie in den Neu-EnglandStaaten Amerikas sind die Puritaner berüchtigt geworden wegen ihrer Verpönung alles Frohsinns, aller Kunst. Und Calvin ist auf seine alten Tage in Genf zu fanatischer und grausamer Intoleranz gelangt. Die Verhältnisse, in die Chlumsky seit 1867 geraten war, scheinen die Ursache einer ähnlichen Charakterbildung geworden zu sein. Ob sich seine Lebensumstände wieder besserten und er aus seiner Vereinsamung sich und seine Familie wieder in ein zivilisiertes Milieu mit höherer geistiger Anregung versetzen und damit ein freundlicheres Dasein und eine freundlichere Lebensauffassung gewinnen konnte, weiss ich nicht. Hoffentlich war es der Fall. Ich selbst habe seitdem von Chlumskys nichts mehr gehört. Er und die Seinigen ebenso wie ich, fühlten uns wohl alle gleich erleichtert, als ich nach dem kurzen Aufenthalt von zwei Tagen aus seinem Hause schied. Ich hatte wegen seiner Auffassungen keine Debatte mit ihm begonnen, weil sie unfehlbar zu einem Krach geführt hätte, den ich gerne vermied. Gerade deshalb wollte ich ihn vermeiden, weil ich fühlte, ich weile zum letzten Male in diesem Hause. Aber ich stimmte ihm nicht bei und mein Schweigen bezeugte, dass ich ihm nicht folgte, wenn er auch nicht im entferntesten ahnen mochte, wie weit ich mich von ihm entfernt hatte. Ich schrieb ihm noch einmal und dankte ihm für seine Gastfreundschaft. Eine Antwort erhielt ich nicht. Er hatte wohl erkannt, dass kein geistiges Band uns mehr verbinde. Was er dabei empfand, weiss ich natürlich nicht. Mich hat dieser Ausgang unserer geistigen Gemeinschaft tief bedrückt. Chlumsky war der erste 151

liebe Freund, den ich verloren habe, nicht wegen persönlicher Misshelligkeiten, nicht wegen irgendwelcher Treulosigkeiten, sondern bloss deswegen, weil mein Denken andere Bahnen einschlug als das seine. Seitdem ist mir das noch einige Male passiert, aber durch die Wiederholung ist der Vorgang nicht schmerzloser geworden. An derartiges gewöhnt man sich nie. 17. B L O V I T Z IM J A H R E 1868

Das Schuljahr 1867/68 fiel mir leichter, nicht nur wegen meiner körperlichen Kräftigung durch den Aufenthalt in Lhota, sondern auch und namentlich, weil ich repetierte, also mir bereits bekanntes Gebiet nochmals durchwanderte. Allerdings, mein Interesse für den Schulbetrieb wuchs dabei gerade nicht. Immerhin war mir der Lehrstoff bereits so bekannt, dass ich nicht zu schlecht abschloss. Ich kam durch im ersten Semester als 28. unter 67 Schülern, im zweiten als 29. unter 54 Schülern. Dreizehn meiner Kollegen hatten im Laufe des Jahres die Schule verlassen. So strenge Auslese wurde gehalten. Bemerkenswertes für meine Entwicklung brachte das Schuljahr nicht. Dagegen wurden die Ferien 1868 wiederum für mich reich an Anregungen. Ich sollte sie abermals in Böhmen verbringen. Diesmal bei meiner Tante Luise in Blovitz (Blovice). Sie hatte, wie schon berichtet, 1860 einen Apotheker Potucek geheiratet. Von Hause aus wohlhabend, hatte er bald vermocht, sich selbständig zu machen und eine kleine Apotheke in Nepomuk erworben. Der Ort ist bekannt als Geburtsort eines katholischen Geistlichen, Johann, der sich bei einem Streit zwischen dem katholischen Klerus und dem König Wenzel so sehr in scharfen Angriffen auf diesen hervortat, dass der König ihn von der steinernen Brücke, die über die Moldau führte, in den Fluss werfen liess. Die Jesuiten in Böhmen hatten sich später, seit dem 17. Jahrhundert, des Vorfalls bemächtigt, eine phantastische Legende daraus gemacht, den Johannes von Nepomuk heiligsprechen lassen und alles getan, um seinen Kultus an Stelle der Husverehrung zu setzen, die im tschechischen Volk sehr rege war. So bekannt dadurch der Name des Städtchens Nepomuk wurde, so gewann es dadurch doch nicht an Lebendigkeit. Potucek ergriff gern eine Gelegenheit, die sich ihm bot, seine kleine enge Apotheke in Nepomuk mit einer im nahe dabei gelegenen Städtchen Blovitz zu vertauschen. Regsam und geschäftlich tüchtig, hatte er bereits so viel erworben, dass er sich dort ein eigenes ansehnliches Haus erbauen konnte, dessen ersten Stock die Familie bewohnte. Zu ebener Erde befand sich die Apotheke. Und daneben eine Weinstube, deren 152

Leitung meiner Tante oblag — eines der vielen Geschäfte, die Potucek neben seiner Apotheke damals ins Werk setzte. Es fiel das in die Periode kapitalistischer Prosperität, die in Österreich dem Zusammenbruch des Absolutismus seit 1866 folgte. Wie Nepomuk hatte auch Blovitz seinen Schutzheiligen, der den Namen dieser Stadt in ganz Europa berühmt machte, allerdings in anderer Art als der Brückenheilige von Nepomuk. Doch auch dadurch, dass er mit einem Despoten zu tun bekam. Ein aus Blovitz stammender Jüngling hatte sich der Journalistik ergeben. Aber nach 1850 in Österreich keinen genügenden Ellbogenraum für seine Persönlichkeit gefunden. Frankreich lockte ihn an, er ging hin als Korrespondent verschiedener Blätter. Sehr rührig und dienstbeflissen, gewann er das Vertrauen der Napoleonischen Regierungen, die ihm gerne Mitteilungen zukommen liessen, die sie in der Welt verbreitet sehen wollten, ohne dass sie sie amtlich selbst kundgaben. So kam der betriebsame Herr bald in den Ruf, über besonders gute Informationen zu verfügen, und die Presse aller Länder zitierte ihn, legte seinen Artikeln besonderen Wert bei. Wie der Mann in Wirklichkeit hiess, habe ich vergessen.1 Er zeichnete als „De Blowic" und Möns, de Blowic, Herr von Biowitz, war er in den 60er Jahren eine europäische Berühmtheit. Ebensowenig als die Beter vor einer Statue des heiligen Johannes an das Städtchen Nepomuk denken, dachten die Zeitungsleser, die Napoleons auswärtige Politik verfolgten, bei dem Namen seines Offiziosus an das Städtchen Blovitz. Die wenigsten wussten, dass es überhaupt existiere. Aber es gedieh, wie das ganze Wirtschaftsleben Böhmens damals einen starken Aufschwung nahm, bis der Krach von 1873 für eine längere Zeit eine Periode trostloser Stagnation einleitete. Mit der allgemeinen Prosperität nahm auch die meines Onkels Potucek zu. Seine Einnahmen wuchsen, noch mehr als die meines Vaters, obwohl auch die sich erfreulich vergrösserten. Die Frauen Potucek und Kautsky, das waren jene beiden Kinder des Anton Jaich, die es zu einem Wohlstand gebracht hatten, indessen der Vater Jaich und seine anderen Kinder, Flora, seine Söhne Victor und Anton, sich nur dürftig fortbrachten. Potucek aber war der reichste Mann, der Rothschild unter den Nachkommen des alten Jaich geworden. Im Sommer 1867 hatte Luise ihre Schwester Minna in Wien besucht. Es enttäuschte sie sehr, dass sie gerade mich nicht traf, der ich gleichzeitig in Lhota weilte. Ich war unter den Kindern meiner Mutter dasjenige, das sie am besten gekannt hatte und das am meisten an ihr 1

Er hiess Adolf Oppert (1825-1903). B.K.

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gehangen hatte. Nun verlangte sie, wenn ich schon nicht da sei, sollte ich zumindest die nächsten Ferien in Blovitz verleben. Das wurde abgemacht, und ich hatte dagegen nichts einzuwenden. Wieder stand mir eine Reise in eine mir unbekannte Gegend bevor. Es war nicht ganz einfach, von Wien nach Blovitz zu kommen. Es liegt in westlichen Böhmen, bei Pilsen. Eine Eisenbahn dahin, die Linie Wien-Budweis-Pilsen-Eger der Franz-Josef-Bahn, war bereits im Bau. Dieser Bau hatte viele vorteilhafte Geschäfte für einen so eifrigen Geschäftsmann wie Potucek mit sich gebracht und zu seinem Wohlstand nicht unerheblich beigetragen. Aber 1868 war die Bahn noch nicht fertig. Ich musste den grossen Umweg über Prag machen. Doch das bekümmerte mich nicht, da bekam ich wieder einmal Prag zu sehen. Onkel Tony erwartete mich dort am Bahnhof und brachte mich ins Hotel zur goldenen Gans, wo ich übernachtete. Erst am nächsten Morgen bekam ich Victor zu sehen, der am Abend vorher sehr beschäftigt gewesen (Samstag). Mit ihnen in grosser lustiger Gesellschaft junger Leute kam ich Sonntags in die Scharka, die ich noch nicht kannte. Victor war der witzigste, lebhafteste unter ihnen, er beherrschte sie alle. Aber so wenig ich medizinisch wusste, seine Totenblässe fiel mir auf. Er hatte in der Tat nur noch drei Jahre zu leben. Am nächsten Tag besuchte ich den alten Freund der Familie, Dolt, zu dem ich von der goldenen Gans übersiedelte. Er sandte mich aus, Prag zu studieren, und gab mir die hübsche, damals 16 jährige Nichte seiner Frau als Fremdenführer mit. Ich hätte keinen gebraucht, ich fand mich noch von früher her in Prag ganz gut zurecht, aber der Fremdenführer war sehr angenehm. Natürlich besuchte ich auch den Grossvater Wenzel. Er nahm mich nicht sehr freundlich auf, nach Andeutungen in meinen Briefen zu schliessen. Derjenige, der meine Aufnahme schildert, ist verlorengegangen. Die Situation applanierte sich aber. Mehrere Tage blieb ich bei ihm und nahm dort die landwirtschaftlichen Studien wieder auf, die ich 1862 unterbrochen. An einem Morgen überschritt ich die Moldau und pilgerte mit meinem Koffer nach dem Smichower Bahnhof der Böhmischen Westbahn, auf der ich mit meinem Onkel Tony, der mich begleitete, nach Rokyzan (Rokycani) fuhr. Dort holte mich Tante Luise mit eigenem Wagen und Pferd ab und brachte mich nach Blovitz. Das Städtchen war klein. Es hat heute noch kaum 2000 Einwohner (1921 1800), es wird 1860 nicht mehr als 1500 gezählt haben. Aber nichtsdestoweniger war es eine Stadt und lag sogar an einer werdenden Eisenbahnstrecke. Da gab es nichts mehr von der Primitivität des Dörfchens Lhota mit seinen Spinnrädchen, nichts mehr von seiner Einsamkeit und idyllischen Stille. Es gab eine „Gesellschaft", eine 154

gebildete Gesellschaft. Neben dem Apotheker war natürlich ein Arzt vorhanden; ein gräfliches Schloss mit einem Schlossverwalter; ein Bezirksgericht, eine Bezirkshauptmannschaft. Beamte der Eisenbahn begannen bereits zu fungieren, es gab mehrere grössere Unternehmungen, ein Grossmühle, eine Bierbrauerei, deren Produkte sich allerdings mit denen des nahen Pilsen nicht messen konnten. Alle die Angestellten und Leute dieser Einrichtungen verstanden und sprachen deutsch neben dem Tschechischen, das die allgemeine Umgangssprache der Bevölkerung war. Den Mann, der an der Spitze der Verwaltung des Bezirkes stand, den Bezirkshauptmann, habe ich sogar nur deutsch reden hören. Er tat das sicher bloss aus dem Grunde, weil er des Tschechischen nicht mächtig war, keineswegs, um den Tschechen gegenüber sein Deutschtum provokatorisch hervorzuheben; denn er war sehr friedlicher Natur, wirkte gern beschwichtigend und ging jedem Streit aus dem Weg. Die Bevölkerung gab mir also nicht so sehr wie in Lhota Anlass, tschechisch zu reden. Aber auch die Gebildeten, den Bezirkshauptmann, wie gesagt, ausgenommen, zogen es in Blovitz vor, das tschechische Idiom zu gebrauchen, und die grosse Mehrzahl der Bewohner verstand kein anderes. Auch meine Cousins und Cousinen, fünf an der Zahl, allerdings sehr klein, die älteste, Bozena, noch kaum acht Jahre alt, der jüngste unter den bereits der Sprache kundigen, Bohumil, drei. Die zuletzt geborene kam als sprechend noch nicht in Betracht. Ich bekam in Biowitz fast mehr die Gelegenheit, tschechisch zu sprechen als in Lhota, weil ich weniger auf die Familie meines Gastgebers angewiesen war. Dort hatten Chlumsky und noch mehr Frau Julie meinen vornehmsten Umgang gebildet. In Blovitz dagegen gab es eine „Gesellschaft" und eine sehr lebhafte noch dazu. Alle Augenblicke gab es einen geselligen Abend im „Herrenhaus" (pansky dum) oder Ausflüge zu Wagen nach irgendwelchen benachbarten Ortschaften. Im Hause Potuceks gab es nicht wenige festliche Bewirtungen, denn seine Gastlichkeit kannte keine Grenzen. In Lhota hatte stets Stille und Einsamkeit im Hause des Pfarrers geherrscht. Wenn je ein Fremder das Haus Chlumskys betrat, war es in der Regel ein Bauer mit einem Anliegen, kein heiterer Geselle. Und jetzt gelangte ich in einen „Strom der Welt", der wohl, bei Lichte besehen, ein sehr dünnes Wässerchen war, aber mit einer Schnelligkeit und einem Getöse dahinschoss, dass er den in ihm Schwimmenden mehr zu tun gab als manchem anderen das Leben der Grossstadt. In unserer Familie in Wien wenigstens ging es ruhiger zu als damals bei Potucek. Die erste Folge dieses Tatbestandes zeigte sich in der Form von regem Bierkonsum durch mich. In Wien war in der Familie bloss Wasser getrunken worden, auch von meinem Vater. Er war kein 155

Abstinent und hatte nichts dagegen, dass auch ich gelegentlich bei einem Ausflug ein Glas Bier trank. In Melk war es bei Schulausflügen selbstverständlich gewesen, dass wir Jungen in den Wirtshäusern, in denen wir einkehrten, Bier tranken. Wie mancher von uns, selbst aus der ersten Klasse, hat sich dabei toll besoffen, so dass es Mühe kostete, ihn heimzuschleppen. Ich war bei solchen Anlässen stets nüchtern geblieben, teils weil mir das ungewohnte Bier nicht schmeckte, teils weil es mir stets an Geld fehlte. Von Hause aus war ich in Melk furchtbar knapp gehalten worden. Jetzt wurde mir in Blovitz überall, wo ich hinging, Bier kredenzt, in der süffigsten Form, als Pilsener Bier. Ich sah, dass alle Welt trank und dass es den Leuten Spass machte, mich trinken zu sehen und in der Folge mich Blödsinn schwätzen zu hören. Kurzum, ich musste bald in meinen Briefen gestehen, dass die Opice (Affen) zu den Tieren gehören, mit denen ich vertrauten Umgang pflegte. Wie ganz anders war es in Lhota gewesen, wo es nichts gab als Wasser — viel besseres Trinkwasser als in Blovitz — und Milch. Daneben noch Schnaps, der für das Pfarrhaus nicht in Frage kam. Dagegen weit und breit kein Brauhaus. Doch mehr als durch den Alkohol wurde ich damals bewegt durch das politische Treiben, in das ich hineingeriet und das mich aufs tiefste erregte und nachhaltigst beschäftigte. Es war nun das erste Mal, dass ich mit einer politischen Agitation bekannt wurde. Die Niederlagen von 1866 hatten alle Völker Österreichs in Bewegung gesetzt, nicht zum wenigsten das tschechische. Österreich schien vielen bereits vor dem Zerfall zu stehen. Auf jeden Fall war die Machtstellung der Dynastie arg erschüttert. Eben erst, 1867, hatte sie den Ungarn grosse Zugeständnisse gewähren müssen, durch die ein in hohem Masse selbständiger ungarischer Staat geschaffen wurde. Sollten die Tschechen in der damaligen Situation nicht das gleiche erreichen können? Die neue liberale Verfassung Österreichs von 1867 war sehr engherzig und kleinlich, bot aber doch unendlich grössere Bewegungsfreiheit als der Zustand vorher. Das Jahr 1868 sah in Böhmen nun eine unerhört intensive Massenagitation der tschechischen Nationalisten. Eine Volksversammlung folgte der anderen. Aufs leidenschaftlichste erregt zeigten sich die Redner und die Hörer nicht minder. Die Masse der tschechischen Bevölkerung war noch agrarisch, auch die politische Bewegung der tschechisch-nationalen Parteien zog ihre beste Kraft aus den Landgemeinden. Um die ländliche Bevölkerung zu erfassen, berief man Massenversammlungen unter freiem Himmel ein, Tabors genannt, was sehr an die Taboriten erinnerte. Die Zeit nach der Ernte war dazu besonders geeignet, gerade die Zeit, die ich in Blovitz verbrachte. 156

Schon der allgemeine Zustand der Psyche des Volks, in dem ich da lebte, hätte auf mich einwirken müssen. Nun wollten es aber die Umstände, dass das Zentrum der Bewegung in dem ganzen Wahlkreis, in dem Blovitz lag, in dem Hause meines Onkel Potucek zu finden war. In jeder Beziehung regsam, nicht bloss geschäftlich, sondern auch politisch, stark idealistisch und demokratisch veranlagt, hatte er bald das Vertrauen der Bevölkerung, in der er lebte und wirkte, so sehr gewonnen, dass ihn der ländliche Wahlkreis Rokyzan in den böhmischen Landtag gewählt hatte. Im August 1870, als es dann eine Neuwahl zum Landtag gab, verbrachte ich meine Ferien abermals in Blovitz. Ich konnte berichten, dass der Onkel diesmal einstimmig gewählt worden sei. So gross war das politische Ansehen, das er genoss. Im August 1868 vollzog sich ein anderes Ereignis von noch grösserer politischer Bedeutung: Die Wiener Regierung hatte den böhmischen Landtag einberufen. Die tschechischen Abgeordneten verweigerten aber als Protest gegen das bestehende Regime ihre Teilnahme an den Landtagsverhandlungen. Sie begründeten das am 23. August mit einer Erklärung, in der sie für die „Länder der Wenzelskrone" (Böhmen, Mähren und Schlesien) eine ähnliche Stellung forderten, wie sie die Ungarn bereits errungen hatten. Die 81 Unterzeichner dieser „Deklaration" erhielten im böhmischen Volksmund den Namen der Deklaranten. Als solche wurden sie vom tschechischen Volk hoch geehrt. Einer der Deklaranten war mein Onkel Potucek. Seine politische Stellung noch mehr als seine geschäftliche Rührigkeit bewirkte, dass er viele Leute bei sich sah, zu vielen Manifestationen und Zusammenkünften eingeladen wurde. Waren es politische Demonstrationen, dann durfte ich dabei sein und zusehen. Die gewaltigste unter den Massendemonstrationen, die ich damals mitmachte, war die 50-Jahr-Feier der Auffindung der Grüneberger Handschrift. Auf dem Schloss Grüneberg bei Nepomuk war 1818 eine alte Handschrift aus dem 9. Jahrhundert aufgefunden worden, ein Gedicht auf Libussa (Libuscha gesprochen). Sie wurde ebenso wie die im Jahre vorher aufgefundene Königinhofer Handschrift bald als Fälschung bezeichnet, doch erst in den 80er Jahren als solche endgültig nachgewiesen unter entscheidender Mitwirkung Masaryks. Bis dahin hielt der tschechische Nationalismus zäh an ihrer Echtheit fest, sollten die beiden Handschriften doch bezeugen, wie uralt die tschechische Kultur sei. Ein Vorbild hatten diese Handschriften in Ossians Liedern gefunden, die schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Schotte Macpherson fälschte, um sie als Erzeugnisse der alten Kultur des gälischen Volkes auszugeben, das in Hochschottland und Irland von 157

englischen Elementen schwer bedrängt wurde. Die Kritik an der Königinhofer und Grüneberger Handschrift galt bei tschechischen Patrioten als deutsche anti-nationale Mache. Beide wurden Fahnen, um die sich Vorkämpfer des Tschechentums scharten. Im Herbst 1868 waren es 50 Jahre, dass die eine Handschrift gefunden worden; das gab bei der damaligen Erregung, die das ganze tschechische Volk durchzitterte, einen willkommenen Anlass zu einer Demonstration. Vor allem natürlich dort, wo sie gefunden worden, auf dem Schlosse Grüneberg bei Nepomuk, das nur wenige Kilometer von Blovitz entfernt war. Da durften wir Blovitzer dabei nicht fehlen. Ein grandioses Bild erwartete uns. Von weit und breit war die gesamte Bauernschaft aufgeboten. In bunten Nationaltrachten, unter ihnen ganze Züge berittener Bauern. Die Handschrift dürfte ihnen sehr gleichgültig gewesen sein, aber nationaler Enthusiasmus beseelte sie und verlieh der ganzen Feier einen gewaltigen Schwung. Tschechische Demonstrationen ganz anderer Art hatten sich kurz vorher in Prag ereignet. Ich war damals nicht dort, hörte aber von ihnen. Der Kaiser war vom 21. bis 24. Juni in der böhmischen Hauptstadt erschienen, um die neue Moldaubrücke einzuweihen. Er und seine Minister hatten offenbar gemeint, der Anblick des Monarchen würde genügen, die widerspenstigen Tschechen loyal zu machen, ja sie in Jubel zu versetzen. Doch irrte er gewaltig. Die Tschechen nahmen es dem Kaiser sehr übel, dass er sie so lange auf die Bewilligung der Freiheiten warten liess, die sie beanspruchten. Sie blieben den Festlichkeiten ferne, die zu Ehren des Kaisers veranstaltet wurden. Ja, am 21. Juni erschienen die tschechischen Blätter mit Trauerrand. Natürlich trauerten sie nach ihren Erklärungen nicht wegen der Anwesenheit des Kaisers, sondern weil an diesem Tage nach der Schlacht am Weissen Berge im Jahre 1621 eine Reihe tschechischer Rebellen gegen die Habsburger enthauptet worden waren. In der Tat, eine famose Art, den Kaiser zu begrüssen in derselben Stadt, in der kurz vorher im Mai zur Feier der Grundsteinlegung des tschechischen Nationaltheaters viele Tausende Tschechen aus allen Teilen des Landes zusammengeströmt waren! Alle diese Kundgebungen und Berichte darüber und die ganze Atmosphäre, in die ich in Blovitz versetzt war, machten gewaltigen Eindruck auf mich. Ich verliess es als ein anderer, als der ich seinen Boden betreten. Aus einem gedankenlosen Bürschlein war ein politisch nachdenklicher Mensch geworden. Allerdings überwog noch für längere Zeit das Gefühl über das Wissen. 18.

KIENBERGER

Im Jahrgang 1868/69 interessierte mich die Schule nach wie vor

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äusserst wenig. Sie langweilte mich tödlich, doch hörte ich auf, der kindische Lausbub zu sein, als der ich bis dahin unter meinen Kollegen zu glänzen versucht hatte. Ich wurde kein guter Schüler, kam aber doch mit. Zu Hause jedoch beschäftigte mich neben der Politik, von der ich gleich reden werde, und den unvermeidlichen Schulaufgaben nach wie vor das Theater. Die Lektüre der Aeneis regte mich an, sie nach Offenbachschem Muster zu verulken. „Die schöne Helena" kannte ich bereits. Sie hatte mich begeistert, ebenso „Orpheus in der Unterwelt". Ich bedauerte nur, dass man die christliche Mythologie nicht ebenso traktieren 1 dürfe wie die der ollen Griechen. So weit war ich schon seit Melk gekommen. Ich schrieb eine „Dido", natürlich nur zum Hausgebrauch. Das Manuskript habe ich ebenso wie das meines ersten Lustspiels verloren. Zu Weihnachten wurde der Zweiakter vor den versammelten Freunden der Familie aufgeführt. Meine Schwester spielte die Dido, ich den Aeneas, Bruder Fritz einen komischen Diener Achates und mein jüngster Bruder Hans den Merkur. Er hatte nichts zu sagen, sondern mir nur einen Brief des Jupiter zu übergeben. Im ersten Akt wird gezeigt, wie Dido sich in Karthago langweilt, wie sie die Nachricht belebt, dass ein flotter Offizier, Aeneas, mit einer Flotte gelandet sei. Er wird vorgelassen und gewinnt Didos Liebe. Er beschliesst, bei ihr zu bleiben. Es gab auch Musik, geliefert von Mörgele 2 , einem begabten Musiker, dem Bräutigam einer Cousine meiner Mutter, Emma Nigris, und Klavierlehrer meiner Schwester, eine Zeitlang auch der meine, bis die Quälerei meiner Person wegen meiner Zuhörer und meiner Talentlosigkeit aufhörte. Den ersten Akt schlössen die Hauptpersonen, nachdem Dido und Aeneas sich gefunden, mit folgendem musikalischen Erguss:

Dido:

Ich bau ein neues Opernhaus 3 Geb alle Tag ein Freudenschmaus Und niemals geht das Geld dir aus, Wenn'st hergehst zu mir.

Aeneas:

Ich lass jetzt Schwert und Lanze ruhn Und mach mir nur mit dir zu tun. Ich unterhalt mich da famos Und geh um ka Gschloss!

In der Abschrift steht: tangieren. B.K. Vielleicht identisch mit Franz Mögele (geb. 1834), einem fruchtbaren Komponisten, der u.a. die Musik zu einigen Opemparodien schrieb. B.K. 3 In Wien wurde 1868/69 das neue Opernhaus gebaut. 1

2

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Achates:

Und i trink jetzt a Seidel Bier Verrate, was geschehen hier. Und wie's ihn gfangt hat in ihr Netz Mitn ob'st hergehst zu mir.

Alle drei: Nun müssen die Karthager springen, Müssen glei ein Opfer bringen. Unserm Zeus nach Griechenbrauch Zehn Stiere und ein Ochs. Im zweiten Akt sind beide einander überdrüssig geworden, wissen aber nicht, wie einander loswerden. Da bringt Merkur Jupiters Weisung an Aeneas, sich sofort nach Italien aufzumachen. Erfreut folgt Aeneas dem Auftrag, verschwindet heimlich. Achates soll Dido schonend verständigen. Er tut es, sie ist ausser sich über die ihr angetane Beleidigung und findet schaudernd, dass der gute Ton ihr gebiete, sich umzubringen. In Virgils Aeneis endet Dido auf einem Scheiterhaufen, den sie entzündet und in dessen Brand sie sich wirft. In meiner Fassung sucht sie sich zu vergiften, dabei erwischt sie statt des Giftes eine Flasche Pilsener Bier, die der Diener Achates ihr vorsorglich statt des Giftes gereicht hatte. Sie findet daran solchen Gefallen, dass sie beschliesst, im Alkohol Trost zu suchen: „Ich werf mich in des Bacchus Arm Und entgehe so der Liebe Harm." Darauf schloss Achates das Drama mit der Bemerkung, das lasse einen Riesenbrand erwarten. So wurde der brennende Scheiterhaufen doch noch hineingebracht. Das war die Rache, die ich am klassischen Altertum nahm, obwohl es nichts dafür konnte, dass die Schule es mir aufs äusserste zu verekeln wusste. Doch nicht bloss so heitere Tändeleien beschäftigten mich. Ich fing an, mich mit Politik zu beschäftigen. Mein Vaterhaus war ein ganz unpolitisches Künstlerheim gewesen. Meine Eltern blieben nicht blind und gleichgültig gegenüber dem intensiven politischen Leben, das seit 1859 und namentlich seit 1866 Österreich durchbrauste. Aber ihr ganzes Denken und Trachten gehörte doch der Kunst, dem Theater, der Malerei. Daneben fing meine Mutter schon an, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Die Politik wurde von ihr wie vom Vater nicht regelmässig verfolgt. Sie kamen zu politischen Stimmungen, Gefühlsausbrüchen, Urteilen, aber zu keinem systematischen Verfolgen der politischen Ereignisse und Theorien. Mir aber hatte das, was ich in den letzten Ferien in Blovitz erlebt, viel zu denken gegeben. Ich wurde von da an ein eifriger Leser 160

der Zeitungen und ich las nun nicht mehr bloss Nachrichten über Theater und Unfälle, sondern auch politische Korrespondenzen und Leitartikel. Die Korrespondenzen von auswärts waren damals noch nicht durch das Telegramm verdrängt. Diese bringen eine zusammenhanglose Zusammenstoppelung von Einzelheiten. Ein guter Korrespondent dagegen berichtet nicht bloss über solche Einzelheiten, sondern zeigt auch ihren Zusammenhang mit der Gesamtlage des Landes, aus dem er schreibt. Sie förderten politisches Verständnis viel mehr als die meisten Telegramme der heutigen Tagespresse. Allerdings hinkte ihr Erscheinen hinter den Ereignissen stets um einige Tage nach. Ich wurde ein eifriger, aber auch ein kritischer Leser der Zeitungen; denn in Wien bekam ich nur deutsch-liberale Blätter zu Gesicht. Ich aber war zu einem ausgesprochen tschechischen Nationalisten geworden. Was der tschechische Vater und Chlumsky gefühlsmässig vorbereitet hatten, war in Blovitz zu einer bestimmten Denkungsart bei mir geworden. Von deren Standpunkt aus ging ich an die Lektüre der Wiener Zeitungen, die bei uns gehalten wurden, zuerst das „Neue Wiener Tagblatt", dann „Die Neue Freie Presse". Mit der Innenpolitik, die sie befürworteten, konnte ich mich wenig befreunden. Doch gab es politisches Leben auch ausserhalb Österreichs. Dem wurde in der Wiener Presse viel Aufmerksamkeit gewidmet. Ihr Liberalismus im Innern wurde auf Schritt und Tritt behelligt durch Erwägungen des Nationalitätenkampfes, die ihnen Unterdrückungsmassregeln gegen unbequeme Nationalitäten nahelegten. Um so mehr suchten sie ihr Streben als ein freiheitliches erscheinen zu lassen in ihrer Berichterstattung über das Ausland. Da war es Garibaldi, immer wieder Garibaldi, der mich begeisterte. Welche Wunder hatte er nicht seit 1860 in Italien vollbracht! Wie kühn war nicht im November 1867 wieder sein Freischarenzug gegen Rom gewesen, der gleichzeitig gegen das Haupt der katholischen Kirche und den Kaiser von Frankreich gerichtet war, gegen den damals noch anscheinend stärksten Monarchen dieser Grossmacht der Welt! Und wie lebhaft ging es zu jener Zeit in Spanien zu, wo im September 1868 die Revolution ausbrach, siegte, die Königin Isabella verjagte. Wie begeisterten mich damals die flammenden Reden Castelars, des Führers der spanischen Republikaner! Aber auch in Frankreich selbst erhob die republikanische Opposition immer kühner ihr Haupt, seitdem Napoleons III. Prestige durch sein zögerndes Verhalten Bismarck gegenüber nach Königgrätz und durch den Misserfolg seines mexikanischen Abenteuers im Jahre 1867 sehr an Glanz verloren hatte. Neben Garibaldi und Castelar wurde nun Rochefort eines meiner Ideale. 161

Ich begann ein zoon politikon zu werden, ein politisches Wesen. Das Wort nicht im ursprünglichen Sinn eines Mitglieds eines Gemeinwesens genommen, sondern im Sinne des Politikers, des Menschen, der sich mit den Angelegenheiten des Gemeinwesens beschäftigt. Das ergab sich aber ohne alle inneren und äusseren Kämpfe. Meine demokratische, republikanische, revolutionäre Einstellung erwuchs aus den Verhältnissen, in denen ich lebte, und der allgemeinen Zeitstimmung, dem Strom der Zeit. Ich brauchte bloss mit dem Strome zu schwimmen, unterschied mich von meiner Umwelt nur durch intensiveres Interesse für das Weltgeschehen, durch grössere Ungeduld und durch arge Unterschätzung der Hindernisse, die dem Fortschritt, wie ich ihn auffasste, entgegenstanden. Um dem, was mich bewegte, Luft zu machen, fing ich an, ein Tagebuch zu schreiben. Eines Tages liess ich es offen auf dem Tische liegen. Mein Vater sah es, las es, stürzte schreckensbleich auf mich zu und rief: „Wenn das jemand zu sehen bekommt, wirst du im Zuchthaus begraben! Eine solche Häufung von Majestätsbeleidigung und Hochverrat!" Nur das fand er an meinen Tagebuchnotizen auszusetzen, dass sie gefährlich seien. Mit keinem Wort bemerkte er, sie seien falsch. Er mahnte mich, meine Anschauungen nicht zu äussern, dagegen, dass ich sie hegte, hatte er nichts einzuwenden. Mein demokratischer Radikalismus stiess in meiner Umgebung auf gar keinen Widerspruch. Und doch trat in das Leben unserer Familie gerade in der Zeit, in der ich mich solchem Radikalismus zuwandte, eine Persönlichkeit ein, die in schroffstem Widerspruch zu ihm stand und die dabei mir geistig mehr imponierte als irgendeiner der Freunde der Familie bisher. Es war Wilhelm Kienberger. Im Winter 1868/69 lernte mein Vater ihn und seinen Freund Dostal im Kreise seiner tschechischen Kneipgesellschaft kennen. Die beiden Leute gefielen ihm, er lud sie in sein Haus ein. Sie belebten es, erwiesen sich als liebenswürdige, geistreiche Menschen, wurden bald vertraute Freunde der Familie. Dostal war Jurist, noch kein selbständiger Advokat, sondern als Konzipient in einer Advokaturskanzlei Wiens beschäftigt. Kienberger, in Pisek 1841 geboren, war Journalist, nacheinander Redakteur verschiedener Zeitungen. Nichts konnte komischer sein als ihr Erscheinen: Dostal einer der längsten Männer unserer Bekanntschaft, Kienberger sicher der kürzeste. Dostal ernst, bedächtig, still. Kienberger ein quecksilbriges Männchen, ununterbrochen in Bewegung, in lautem Lachen, übersprudelnd von Witz und Humor. Keine grösseren Gegensätze konnte es geben als die beiden. Und doch vertrugen sie sich gut, ja schienen geradezu unzertrennlich zu sein. Kienberger war von ihnen der geistig regsamere und umfassender gebildet. Nur von ihm habe ich hier zu reden, denn 162

nur er gewann grossen geistigen Einfluss auf meine Familie, auch auf mich. Und dabei stand er politisch in einem Lager, das von dem, für das ich mich interessierte, wütend bekämpft wurde. Wilhelm Kienberger wurde nicht selten mit Ferdinand Kürnbergei verwechselt, einem hochgeschätzten Novellisten und Essayisten, dessen Name in den 60er Jahren jedem literarisch interessierten Österreicher sehr geläufig war. Wilhelm Kienberger wurde selten zornig, regelmässig aber kam es dazu, wenn man ihn mit Kürnberger verwechselte, einem sehr demokratisch gerichteten Vorkämpfer des österreichischen Liberalismus und schärfsten Gegner des Feudalklerikalismus. Gerade diesem aber dienten die Blätter, die unser Freund Wilhelm redigierte. Das schwärzeste, reaktionärste Blatt in Wien war damals das „Vaterland". In dessen Redaktion arbeitete Kienberger, als wir ihn kennenlernten. Im Herbst 1870 ging er nach Brünn, um dort wieder ein feudales, klerikales Blatt zu leiten, die „Stimmen aus Mähren". Doch hielt er es dort nicht lange aus. Im Frühjahr 1871 war Kienberger wieder in Wien, ging dann nach Agram, um dort eine „Südslavische Korrespondenz" herauszugeben, die der Politik der nationalen, katholischen Kroaten dienen sollte. Mit dem Jahr 1872 fand dieses südslavische Organ schon ein Ende, seitdem pendelte Kienberger zwischen Agram, Wien und Brünn hin und her, nirgends fand er einen dauernden Wirkungskreis. Das bemerkenswerteste dabei ist aber, dass er, der durch und durch ein tschechischer Nationalist war, doch, solange wir ihn kannten, nur in deutscher Sprache schrieb, die er meisterhaft beherrschte. Nur am Anfang seiner journalistischen Laufbahn schrieb er tschechisch im „Narod"— so berichtet er in einem Brief vom 28. Oktober 1870 aus Brünn an meine Mutter. Seitdem war er stets bei Blättern tätig, die in deutscher Sprache erschienen, zu deutschen Lesern sprachen, aber in slavischem Interesse wirken wollten. Dieser Widerspruch allein erklärt schon, warum Kienberger trotz seiner Begabung und seines Wissens nirgends Wurzel fasste und stets hin und her getrieben wurde. Als Nationaltscheche wurde er mit meinem Vater bekannt und befreundet. Wie aber konnte er als Konservativer, als Verfechter der klerikalen, feudalen Partei uns näherkommen, die wir, soweit wir überhaupt politisch dachten, zur Demokratie und zum Fortschritt neigten, dabei ermuntert durch Freunde wie Chlumsky oder Verwandte wie Potucek? Mein Vater war freilich nicht dem Adel direkt feindlich. Er betonte mir gegenüber oft, dass ohne einen reichen, gebildeten Adel die Kunst verkommen müsse. Nur in solchem Adel fände sie das unerlässliche Mäzenatentum. Die ungebildeten kapitalistischen Parvenüs konnten solches nicht hervorbringen. Ähnlich 163

dachte sogar mein Grossvater Jaich, doch verteidigten sie nur die Existenz des Adels, dagegen waren sie nicht gesonnen, ihm politische Macht und Privilegien einzuräumen. Und erst recht lehnten sie jede Beherrschung des Geisteslebens durch die Kirche ab. Was hat im 19. Jahrhundert die Kunst noch von dieser zu erwarten? Das Zeitalter war längst vorbei, wo die Kirche den Künstlern fast allein nicht nur Aufträge, sondern auch Ideen geliefert hatte. Die feudalklerikale Partei war nicht nur meinem deutschen Grossvater, sondern auch meinem tschechischen Vater höchst zuwider. Wie konnte er sich da mit Kienberger vertragen, ja ihn besonders an sein Herz schliessen? Und nicht nur er, sondern auch meine Mutter und ich? Das wurde dadurch möglich, dass Kienberger eine ganz sonderbare Erscheinung war. Sein Beruf fesselte ihn an die Politik, doch diese füllte nicht sein Leben aus. Man kann sagen, sie beschäftigte ihn nur während seiner Amtsstunden in der Redaktionsstube. Ausserhalb dieser Stube, im geselligen Verkehr mit seinen Freunden vermied er es, von Politik zu sprechen. Wenigstens bei uns sprach er nie über ein politisches Thema. Nicht etwa aus blosser Berechnung, um nicht mit uns in Konflikt zu geraten. Wenn er nicht mit mir politisierte, mochte es aus Geringschätzung geschehen. Was hatte ein so grüner Gymnasiast sich um politische Dinge zu kümmern? Und meine Mutter? Gerade aus seiner konservativen Einstellung heraus huldigte er dem Grundsatz: Mulier taceat in ecclesia, in die Kirche und auch in die Politik soll die Frau nichts dreinreden. Aber auch meinem Vater gegenüber zeigte er sich politisch schweigsam. Wenn dabei Geringschätzung im Spiele war, so am ehesten Geringschätzung der Politik selbst. Die Verhältnisse hatten sie zu seinem Berufe gemacht, aber wie so oft, war es nicht Neigung, die ihn mit seinem Berufe verband. Wie geringe Bedeutung er den politischen Erzeugnissen seiner Feder beimass, geht daraus hervor, dass er uns nie einen seiner Artikel zeigte oder auf einen von ihnen aufmerksam machte. Nie hat unsere Familie eines der Blätter abonniert, die er redigierte, nie hat er uns eines von ihnen zugehen lassen. Das geschah nicht aus Gleichgültigkeit für uns. Mitunter schickte er uns einen Ausschnitt aus einem seiner Blätter zu, etwas, was er verfasst, und er freute sich, wenn es uns interessierte. Aber das waren stets unpolitische Feuilletons, Naturschilderungen und dergleichen. Der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges rief ihn nach München. Konservative Kreise in Österreich planten ein Zusammengehen mit Frankreich gegen Preussen und rechneten dabei auf die Mitwirkung der Bayern. Wichtig war es, die bayrische Volkstimmung aus eigener Anschauung kennenzulernen. Das und vielleicht eine Mission konservativer Herren trieb Kienberger Anfang August 1870 164

nach München, wo er fast den ganzen Monat über blieb. Eine Reihe von Briefen richtete er von dort aus an meine Mutter, doch selbst in dieser wildbewegten Zeit waren sie ganz unpolitisch. Kienberger sah sich die Naturschönheiten um München herum an und nur darüber berichtete er ausführlich, und zwar mit Begeisterung. Als er dann nach Brünn kam, liessen ihm die Verhältnisse, unter denen er dort zu arbeiten hatte, allerdings gelegentlich die Galle übergehen. Sie veranlassten ihn zu manchem politischen Ausruf. So schrieb er am 29. Oktober 1870 auf die Nachricht, dass Metz gefallen: „Der ,olle Wilhelm' versichert die Vorsehung seiner königlichen Huld und Gnade. Der Teufel hole die Vorsehung oder gebe einem wenigstens soviel Witz, um eine solche Vorsehung begreifen zu können." In demselben Brief entrüstet er sich über das „wahre Hörigkeitsverhältnis des slavischen Teils der Brünner Bevölkerung zu den Herren von Brünn, den Juden. Hier hilft nichts als wieder eine soziale Revolution." Doch war diese „soziale Revolution" ebensowenig ernsthaft gemeint als die der roten Tories unter Disraelis Führung oder die der späteren christlich-sozialen Grafen in Wien, die mit Baron Vogelsang und Rudolf Meyer kokettierten. Wer sollte die „soziale Revolution" machen, wenn nicht seine eigenen Leute — Parteigenossen kann man nicht sagen, so eng war sein Zusammenhang mit ihnen nicht. Zu den Herausgebern und Förderern seines Blattes hatte er aber kein Zutrauen. Am 17. Oktober schrieb er gallig von seiner eigenen Zeitung: „Allem Anschein nach wird sich das Blatt zum Organ der mährisch-schlesischen vaterländischen Dummheit gestalten, ein Artikel, in dem sich hier viel tun lässt." Seine nähere Bekanntschaft mit den Geldgebern des Blattes machte ihn gegen sie völlig wild, was in seinen Briefen Ausdruck fand. In seinem Brief vom 20. November 1870 nennt er unter ihnen: „das hochlöbliche Comité Belcredi, dann Tarouca, ein Schock Pfaffen, Prazâk, ein Fabrikant Bauer etc. etc." Nur wenige Wochen hatte er mit ihnen zu tun, da schrieb er schon (11. Dezember): „Ich habe in meinem Leben bereits mit so manchem Gesindel zu tun gehabt. Aber so etwas, wie die hiesigen Nationalen, von Prazâk angefangen, ist mir selbst am Salzgries (dem Wiener Ghetto. K.) nicht vorgekommen." Und schon am 4. Dezember rief er: „Papus (mein Vater) möge mit Sack und Asche ins Lager der Verfassungstreuen (der Liberalen) übersiedeln, wenigstens wird er unter anständigen Menschen mit reiner Wäsche sein." Ebensosehr wie die Nationalen und Feudalen ärgerten ihn die Klerikalen. In demselben Brief vom 4. Dezember berichtet er: „Das hier übermächtige Fafentum (sie!) ist wütend, dass ich ihm keinen Einfluss auf das Blatt zugestehen will. So wie nun die Lust wegzugehen bei mir dadurch gewachsen war, dass mich die 165

Quargeln zum Bleiben bewegen wollten, so könnte am Ende mich doch noch das festhalten, dass die Fäfflein gegen mich zu intrigieren anfangen." Kienberger war kein gehorsamer Sohn der Kirche. Wie wenig er auf kirchliche Zeremonien hielt, bewies ein Vorfall, von dem er in einem Brief vom 15. August aus München berichtet. Er war mit einem Freund nach Nymphenburg gewandert, fütterte dort im Park die Schwäne, „da kam eine Prozession, die wir selbstverständlich ignorierten". Darob drohende Zurufe von Prozessionsteilnehmern. Kienbergers Freund raunt ihm zu, sich zu fügen, sonst würden sie totgeschlagen. „Und so nahmen wir auf den uns zugebrüllten Befehl den Hut ab und knieten nieder, bis die ganze gemütliche Schar vorüber war." Kienberger höhnte dann über dies „bayrische Spezifikum" und meinte, er werde versuchen, „den Grafen Thun zur Auswanderung nach München zu vermögen". So machte er sich über kirchliche Einrichtungen lustig und über Führer seiner Partei. Mit dem Grafen Thun meinte er offenbar den Grafen Leo Thun. Der war einer der Führer der für das böhmische „Staatsrecht" eintretenden Feudalen, dabei ein Stockklerikaler. Als Minister der Reaktionszeit schloss er 1855 das Konkordat ab. Aus Agram schrieb er am 9. August 1871 durchaus nicht entrüstet, sondern belustigt: „Ist es nicht ein ,schönes Zeichen' südlicher Lebenslust, wenn da unten in Slavonien junge Pfarrer und Kapläne sans façon ihrem Liebchen mit der Gitarre ein Ständchen bringen?" Wenige Monate später, am 14. Dezember, berichtet er von einem Besuch, den er von Agram aus dem katholischen Pfarrer im Dorf St. Simon abstattete. Dieser lebte dort mit einer Wirtschafterin, einem jungen, „äusserst gebildeten und geistreichen Mädchen" zusammen. Der Pfarrer stellte sie dem Besucher mit den Worten vor: „Wollte Gott, ich könnte sie einmal mit Stolz der ganzen Welt als meine Frau präsentieren. Wir hatten uns seit unserer Jugend geliebt... Sie wollte Lehrerin w e r d e n . . . Wurde endlich Lehrerin in Warasdin. Kaum hatte ich die Pfarre bekommen, so trug ich ihr an, zu mir zu kommen. Sie opfert sich für mich." Dazu bemerkt Kienberger: „Was sagen Sie zu dieser Idylle? Ich leugne nicht das Unschöne des ganzen Verhältnisses — pardon Mamus, aber die Ästhetik hat schon lange bei mir die Moral ersetzt — das Unschöne, das in der Unwahrheit und im Zwang desselben liegt, und doch mutete mich das Heimliche, das Selbstgenügsame und auf die vier Wände der Pfarrei Beschränkte des Ganzen so idyllisch an." Wahrlich, das war kein beschränkter Zelot im kirchlichen Sinne, wie die Klerikalen ihn verlangten. Und doch wirkte Kienberger immer wieder mit ihnen zusammen! Nicht etwa, dass er sich von 166

ihnen hätte kaufen lassen. Dessen wäre er nie fähig gewesen. Er war eine durch und durch anständige, reine Natur. Wenn er es auf Geldgewinn abgesehen hätte, konnte er mit seinen Fähigkeiten bei den Liberalen viel mehr verdienen als bei den dürftigen Blättchen der Feudalklerikalen. Nein, andere Gründe trieben ihn. Die Klerikalen und Feudalen waren ihm zuwider. Jedoch das arbeitende Volk, von dem er wohl nur Bauern und Kleinbürger kannte, fürchtete er, wenn es zur Selbständigkeit und Macht kommen würde. Wegen seiner Unwissenheit konnte es in diesem Fall nur Unheil anrichten. Er gehörte zu jenen, die selbst nicht religiös denken, aber meinen, dem Volke müsse die Religion erhalten bleiben. Und wenn ihm die Feudalen zuwider waren, so doch die Kapitalisten, die er mit den Juden identifizierte, und die staatlichen Bürokraten noch mehr. So fühlte er sich gedrängt, weil die Politik sein Beruf geworden, eine Politik zu machen, deren vornehmste Träger er missachtete. Dies war der Grund seiner inneren Zerrissenheit als Politiker, so dass er in seinen Mussestunden von ihr so wenig als möglich hören und sehen wollte. Was ihn enthusiasmierte und uns nahebrachte, war zuerst seine Naturschwärmerei. Jeden freien Tag benützte er mit Dostal, weite Fussmärsche durch die Wälder in der näheren und ferneren Umgebung Wiens zu unternehmen und dann den Freunden von den herrlichen Punkten zu erzählen, die sie dabei entdeckten. Derartiges Tun Intellektueller ist heute etwas Allgemeines. Vor einem halben Jahrhundert fiel es noch auf. Es begeisterte meinen Vater, der als Landschaftsmaler es selbst geliebt, Fusswanderungen zu unternehmen, um Naturschönheiten zu beobachten und mit Bleistift und Pinsel festzuhalten. In Wien war er bequem geworden, und unsere Sommerauf enthalte hatten uns zuerst über Mödling und dann gar über Hetzendort nicht hinausgeführt. Kienberger machte ihn dann auf die Schönheiten der Alpen aufmerksam, die heute aller Welt erschlossen sind, damals nur wenige Naturenthusiasten anzogen, abgesehen von der vornehmen Welt, die nach Ischl und Gastein baden oder in die Berge jagen ging. Kienbergers Wanderungen übten auf mich einen grossen Reiz. Er nahm mich auf solche nicht mit. Ich erschien ihm wohl zu jung und geistig nicht genügend entwickelt zu sein, um ein anregender und ausdauernder Kamerad bei längeren Märschen zu werden. Doch verdanke ich es ihm, dass ich mit den Alpen bekannt wurde, zunächst dem Semmering und dem Sonnwendstein. Jedoch war es mein Vater, der diesen Ausflug mit Dostal und Kienberger unternahm und mich dabei mitnahm, Frühjahr 1870. Dieser Ausflug war keine Wanderung, sondern wurde grösstenteils im Eisenbahnzug vollbracht. Aber wenn Kienberger mich nicht zu seinem Wanderkameraden erkor, so erzählte

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er doch bei uns von seinen Touren und erweckte dadurch mein Verlangen, ihm nachzuahmen. Leider fand ich dazu gar keinen mir gleichgesinnten Kumpan. Noch gab es keine verbreitete Bewegung von Naturfreunden und Alpenvereinen. Ich gewöhnte mich daran, in meinen Mussestunden, namentlich den Sonntagen, allein in der Umgebung Wiens zu marschieren. Und diese Einsamkeit gewann bald grossen Reiz für mich. Sie wurde mir geradezu ein Bedürfnis in jener Zeit, als eine ganz neue Gedankenwelt mich gefangennahm, von der ich noch ausführlicher zu reden habe, die sozialistische. Keinen Führer durch diese Welt von Ideen fand ich, keinen Begleiter. In ewigem Ringen und Tasten musste ich ganz allein trachten, mich in ihr zurechtzufinden. Die dazu nötige Möglichkeit zur Konzentration fand ich auf meinen einsamen Spaziergängen. Sie wurden mir bald unentbehrlich für meine geistige Tätigkeit und sind es geblieben, solange meine Beine dazu ausreichten. Ich gehöre zu den Talenten, die sich im stillen bildeten — allerdings mein Charakter auch. Ich habe mich gebildet, nicht um vom Strom der Welt abseits zu stehen, sondern um an der Gestaltung seiner Richtung teilzunehmen. Aber seine Beobachtung und Erforschung, die solches Tun erst zweckmässig macht, vermochte ich stets nur in der Einsamkeit vorzunehmen. Als Naturfreund kam ich Kienberger nahe, aber mehr noch als Ästhetiker. Seine Naturschwärmerei selbst gehörte zu seiner Ästhetik, die er, wie wir schon gesehen, über die Moral stellte. Er war ungemein belesen und fein gebildet, jedoch rein humanistisch. In den Dichtern und Denkern des klassischen Altertums war er ebenso zu Hause wie in den klassischen deutschen Dichtern. Auch seine historischen Kenntnisse waren umfassend. Aber freilich, was das Fortschrittliche, das bewegende Element der neuen Zeit ausmachte, Naturwissenschaft und ökonomische Erkenntnis, das erfasste er kaum. Daher blieb sein Denken konservativ. Mir imponierte er durch seine fabelhafte Belesenheit, doch förderte er auch mein historisches Wissen, sowohl durch gelegentliche Exkurse wie durch den Hinweis auf wichtige Bücher, namentlich historische und geographische. Manches schenkte er mir, das mir sehr nützlich wurde. Noch besitze ich den grossen Stielerschen Atlas von 1867, sowie Schlossers Weltgeschichte, beides Geburtstagsgeschenke von ihm. Von ihm erhielt ich auch die ersten Einblicke in die Technik der Schriftstellerei und der Redaktionsführung, des Verkehrs mit den Druckereien. Und noch einen andern Einblick erhielt ich damals. Wir waren noch nicht lange mit Kienberger bekannt, da bekam er als verantwortlicher Redakteur des „Vaterland" eine Gefängnisstrafe von drei Monaten für einen Artikel zudiktiert. Das hob ihn gewaltig in 168

meinen Augen. Ich besuchte ihn während seiner Haft, die er im Wiener Landesgericht absass. Sie war übrigens sehr erträglich. Sie fiel in den Sommer, und Kienberger durfte den grössten Teil des Tages ohne jede Aufsicht im Gärtchen des Hauses zubringen, lesend oder schreibend, nach Belieben. Als ich ihn besuchte, musste er aus dem Garten geholt werden. Kein Aufsichtsbeamter wachte über unsere Zusammenkunft. Als ich mich von ihm verabschiedete, begleitete er mich, ohne irgend jemand um Erlaubnis zu fragen oder von jemand überwacht zu werden, bis zum grossen Strassentor des Gerichtsgebäudes. Nur hatte er ohne Hut gehen müssen. Die Hutlosigkeit, bemerkte er mir, unterscheidet im Landesgericht die Gefangenen von den freien Besuchern. Hätte er einen Hut auf, würde ihn niemand hindern, das Haus zu verlassen. Lachend bot ich ihm meinen Hut an, was er natürlich ebenso lachend ablehnte. So heiter gestaltete sich mein erster Gefängnisbesuch. Wer heute in einem autoritären Staat einen gefangenen Freund besucht, findet weniger Ursache zum Lachen. Noch mehr als auf mich wirkte Kienbergers Belesenheit und ästhetische Bildung auf meine Mutter. Bis dahin hatte sie die Werke der deutschen Klassiker hauptsächlich auf ihre dramatischen Wirkungen hin angesehen. Er lehrte sie nun auch deren tieferen Gehalt ausschöpfen. Namentlich galt das für Goethe, den er leidenschaftlich verehrte. Schillers rebellisches Pathos behagte ihm wohl weniger. Aber nicht nur, dass für meine Mutter ihre Lektüre durch ihn an Bedeutung und Gehalt gewann, er wusste auch sie zu dichterischem Schaffen anzuregen und ihr neue Bahnen zu weisen, die ihrer Begabung besser entsprachen als die von ihr bisher betretenen. Seitdem sie der Schauspielkunst hatte ade sagen müssen, war es für ihren rastlosen Tätigkeitsdrang das Nächstliegende gewesen, sich in Gedichten Luft zu machen. Sie waren zum Teil pathetischer Art, wie die schon erwähnte Verherrlichung der aufständischen Bocchesen. Aber auch komische Anlässe regten sie leicht zu Gedichten an. Da fand sich zum Beispiel unter unsern Freunden ein Ingenieur Bedrnicek. Er ging später nach Amerika, Hess sich in Chicago nieder unter dem für Amerikaner leichter auszusprechenden Namen Petro. Im Jahre 1867 hatte ihn die Wiener Firma, bei der er beschäftigt war, nach Paris zur Weltausstellung geschickt. Seine schnurrigen Erlebnisse dort hielt die Mutter in einem Gedicht fest, dessen Vortrag in unserm Freundeskreis stets grosses Gelächter hervorrief. Neben dem Mitwirken an Dilettantenvorstellungen pflegte sie das Vortragen von Gedichten, eigenen und fremden etwa von Goethe oder Heine als dürftigen Ersatz für die ihr verschlossene Laufbahn auf der Bühne. Ihre Gedichte schuf sie wohl hauptsächlich im Hinblick auf deren 169

späteren Vortrag. Sie dachte nie daran, eines von ihnen etwa einer Zeitschrift zur Veröffentlichung einzusenden. Der Vortrag im Freundeskreis genügte ihr vollkommen. Und es war wohl auch die Art ihres Vortrages, die ihr Gedicht wirkungsvoll machte. Kienberger las und hörte manches ihrer Gedichte, er bekam aber auch Briefe von ihr zu lesen. Ein Vergleich zeigte ihm, dass die gebundene Rede nicht ihre stärkste Seite darstelle. Sie erziele weit stärkere Wirkungen durch die Anschaulichkeit und Eindringlichkeit ihrer Prosa in Schilderungen und Dialogen. Er regte sie an, sich als Erzählerin zu versuchen und lenkte sie damit auf jenes Gebiet, auf dem sie später die grössten Erfolge erzielen und zeitweise in die erste Reihe sozialistischer Romanschriftsteller deutscher Sprache gelangen sollte. Das war allerdings ein Ergebnis, das Kienberger nicht voraussah und das er nicht gern gefördert hätte. Er wies meine Mutter auf das Gebiet, das ihren Fähigkeiten am besten entsprach. Aber er ging noch weiter. Er veranlasste sie, mit ihren Erstlingen an die Öffentlichkeit zu gehen. Von ihm angeregt, verfasste sie eine Reihe novellistischer Skizzen über „moderne Frauen", die er in den von ihm redigierten „Stimmen aus Mähren" am Jahresende 1870 veröffentlichte. Dort ist das Wort „veröffentlichen" vielleicht eine Übertreibung. Denn die „Stimmen aus Mähren" fanden so wenig Leser, und die nur in Brünn, dass literarische Kreise von den „Modernen Frauen" keine Kenntnis erhielten. Überdies aber überfiel plötzlich ohne jede vorherige Besprechung mit der Autorin den autokratischen Redakteur die Laune, diese Feuilletons nicht unter dem Namen der Verfasserin, sondern unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen. Und um der Absurdität die Krone aufzusetzen, wählte er dazu einen deutschen Namen, eine deutsche Übersetzung des Namens Kautsky, den er, wie viele andere es tun, von Kout ableitete. Nun heisst das eigentlich „Winkel". Winkler wäre die richtige Übersetzung gewesen. Doch konnte man [es] auch mit „Ecke" übersetzen, und so wurde aus der Kautsky eine Eckert. Kienberger, der leidenschaftliche Verfechter des Slaventums, veröffentlicht eine Arbeit, die er selbst als Meisterleistung bezeichnet, eines Autors mit einem slavischen Namen und er germanisiert diesen Namen ohne ersichtlichen Grund. Da war er nicht gut beraten gewesen. Aber die Mutter sah zum ersten Mal eine ihrer Arbeiten gedruckt, und das ist für jeden schriftstellerischen Anfänger ein so erhebendes Gefühl, dass dabei eine Verärgerung über eine Nebensächlichkeit nicht aufkommen kann. Mehr als je war Kienberger der liebste Freund und der wichtigste Berater der Familie Kautsky. Und doch nahte schon der Reif in der Frühlingsnacht. Jedoch nicht tiefgehende poli170

tische oder sonstige Differenzen sollten ihn bringen, sondern die Laune eines trällernden Mädchens. Als Kienberger mit uns bekannt wurde, war meine Schwester Minna kaum 13 Jahre alt. Rasch wuchs sie, sozusagen unter seinen Augen, zu einem lieblichen Jungfräulein heran, nicht nur äusserlich sehr reizvoll, sondern auch höchst sympathisch durch ihren Charakter, anziehend durch Witz und Schalkhaftigkeit, die sie jedoch nur zeigte im engsten Freundeskreis. Sonst zeigte sie sich nur zurückhaltend und verschlossen. Dass sie den liebsten Freund der Familie ebenfalls als heben Freund betrachtete und behandelte, war selbstverständlich. Und es lag nahe, dass dabei Kienbergers Herz in Flammen [auf] ging. Meine Schwester war erst 15^ Jahre alt, als Kienberger schon um ihre Hand anhielt 1 — vor seiner Übersiedlung nach Agram, Juli 1871. Meine Eltern fanden wohl, dass ihre Tochter noch zu jung sei zu heiraten. Aber gegen Kienberger als Schwiegersohn hatten sie gar nichts einzuwenden. Ihn unserer Familie dauernd einzuverleiben, wünschten sie selbst. Wer einen Strich durch die Rechnung machte, war meine Schwester. So herzlich sie sich Kienberger zugetan zeigte, die wahre Liebe war das doch nicht. Sie wollte von einer Ehe nichts wissen. Meine Eltern baten ihn, nicht zu drängen, sie sei ja noch so jung. Und er wartete. Ein Jahr hat er s getragen, trug's nicht länger mehr. Er wiederholte seinen Antrag, aber wiederum musste der Ritter hören, dass ihm Schwesterliebe gern gewährt werde, jedoch nicht mehr. Vielleicht hätte der neue Ritter Toggenburg noch weiter gewartet, aber da gab's eine Wendung, die Schiller nicht vorausgesehen: die Liebliche barg sich nicht in einem Nonnenkloster, sondern lernte im Künstlerhaus einen Architekten kennen, Franz Roth, einen schönen, stattlichen Mann, ganz anders als der kleine, stumpfnäsige Kienberger, der mehr vom Sokrates an sich hatte als vom Antinous. Roth trug die Braut davon, und zwar im Sturmschritt. Noch war der Winter 1872/73 nicht zu Ende, da hatte er sich schon mit Minna verlobt. Im Mai 1873 heirateten sie. Meine Eltern konnten gegen Roth nichts einwenden, obwohl ihnen Kienberger bei weitem lieber gewesen wäre. Durch Minnas Eheschliessung war der stärkste der Magnete zerbrochen, der Kienberger bei uns angezogen hatte. Doch die geistigen Interessen, die ihn mit uns verbanden, waren zu stark, als dass sie darob völlig zu wirken aufgehört hätten. Kienberger konnte einen Bruch mit uns um so eher vermeiden, als er nicht mehr in Wien lebte, nur selten hinkam, sich zumeist in Agram oder Brünn aufhielt. Seine Korrespondenz mit meiner Mutter ging weiter, doch die geistige 1

In der Abschrift „anging". B.K.

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Gemeinschaft, auf der sie aufgebaut war, sollte ebenfalls ein Ende nehmen. Wie wir noch sehen werden, wendete ich mich seit 1873 dem Sozialismus zu, und gleichzeitig beschäftigte mich der Darwinismus. Seit der Verheiratung meiner Schwester konzentrierte meine Mutter ihre geistigen Interessen auf mich, machte sie meine Entwicklung mit. Zu Weihnachten 1874 verehrte mir mein Schwager Roth Haeckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte". Wir beide, meine Mutter und ich, stürzten uns auf diese Lektüre. Sie erschien Kienberger für eine Frau höchst unpassend. Am 22. März 1875 schrieb er meiner Mutter von Brünn aus anlässlich des Todes ihres Vaters: „Sie hatten das Glück, einen Mann zum Vater zu haben, der in rüstiger Kraft bis zum letzten Augenblick in bescheidenen Verhältnissen zwar, aber unverkürzt seine Unabhängigkeit sich errang und mir wenigstens klingt es wie eine Vermessenheit, Klage darüber führen zu wollen, dass ihm die physischen und seelischen Qualen eines längeren Siechtums, des gewöhnlichen Begleiters des Alters, erspart wurden." Daran knüpfte Kienberger aber folgende Mahnung: „Das Töchterlein dieses Mannes tut wohl daran, der heiteren Anschauung ihres Vaters zu f o l g e n . . . Sie sollte, dem Krankenbett entstiegen, nicht nachrechnen, wann sie wieder krank werden wird, und sie sollte vor allem nicht solche garstige Bücher wie Haeckels Schöpfungsgeschichte l e s e n . . . Nicht dass ich etwa den Frauen verbieten wollte, Kenntnis zu nehmen von den geistigen Kämpfen ihrer Tage; ich will nur, dass die Wogen an sie nur in ihrem Verlaufen herankommen, dass sie sich nicht selbst in den Kampf stürzen und das noch Unfertige in sich aufnehmen. Die Frau soll konservativ sein und ein namenloses Unglück wäre es, wenn sie aufhörte, es zu sein." Mutters Antwort kenne ich nicht. Ihre Briefe an Kienberger sind mir nicht zur Kenntnis gekommen. Aber der Inhalt der Antwort lässt sich erraten aus dem, was Kienberger ihr in seinem nächsten Briefe entgegnete: „Konservativ wollen Sie also nicht sein und glauben wollen Sie nicht, sondern wissen, und am allerwenigsten wollen Sie in falschem Dualismus befangen oder gar bigott sein. Und dabei kommt ein bitterer Klagegesang auf das Los der Frauen, wie ihn bitterer die Iphigenie des Euripides nicht gesungen hätte. Freilich, Goethes Iphigenie singt anders: „Schilt nicht, oh König, unser arm Geschlecht, Nicht herrlich, wie die Euren, aber nicht Unedel sind die Waffen eines Weibes." „Nun, weder falsch idealistisch noch bigott sollen Sie sein, an Goethe sollen Sie sich halten (habe ich Ihnen nicht diesen Herzensmenschen so oft und warm empfohlen? Und während meines Aufenthaltes in 172

Wien phantasierte ich und sprach sogar mit Ihnen davon, Sie in die schöne Welt griechischer Dichter einzuführen, denen Sie das feinste Verständnis entgegenbringen würden —), und doch sollen Sie konservativ sein und nicht auf Haeckel schwören! Justament nicht! Die Frau, das eigentlich massvolle, erziehende Element der menschlichen Gesellschaft, darf meiner Ansicht nach ihr Denken und Trachten nicht auf etwas Unfertiges, Halbes basieren, sondern auf festem Boden feste Wurzeln fassen. Und der Darwinismus ist nicht einmal wissenschaftlich fertig, von der praktischen Anwendung gar nicht einmal zu reden." Dann folgt eine Widerlegung der „grenzenlosen Fortschritts- und Entwicklungstheorie". Sein Argument gegen diese entnahm er bezeichnenderweise nicht der Naturwissenschaft, sondern der Sprachwissenschaft. „Wie arm und verkommen ist unsere Sprache zum Beispiel gegen das Altgriechische, vom Sanskrit gar nicht zu reden! Unsere Wort- und Formbildung ist elendiglich arm, keine Optative und eigentliche Futuren und Perfekten ect. mehr, kein Dual mehr, die Deklinationen elend, die sinnliche Prägnanz der Sprache futsch usw. usw. Wie passt das zu der Haeckelschen Fortschrittstheorie? Und das ist nur ein Einwand, den ich auf Grund meiner Sprachstudien mache." Ich wiederhole hier diesen Einwand, weil er Kienbergers Eigenart kennzeichnet. Er widerlegt die biologische Theorie der Entwicklung der Organismen mit Argumenten der Philologie. Und doch konnten sie höchstens beweisen, dass die Entwicklung des Menschen in der Gesellschaft sich nicht nach genau den gleichen Gesetzen vollzieht wie die der Organismen in der Natur: Die Entwicklung vom Kleinbetrieb zum Grossbetrieb, die Fortschritte des Verkehrs, das Überwiegen des Abstrakten über das konkrete Denken bedeuten alle Nivellierungen von Unterschieden, Verdrängen von Mannigfaltigkeiten durch einfachere Formen. Das wird meine Mutter wohl Kienberger nicht geantwortet haben. Auf jeden Fall aber blieb sie Haeckel treu. Der Gegensatz wurde nicht aufgehoben. Jedoch war Kienberger ein so lieber Kerl und eine so treue Seele, dass er trotz aller Enttäuschungen den Verkehr mit uns nicht abbrach, ja nicht einmal einschlafen liess. Die Korrespondenz ging weiter und blieb unverändert herzlich. Bis sie eines Tages für immer unterbrochen wurde, durch einen Faktor, mit dem bei Kienbergers Jugend und Lebenslust niemand von uns rechnete: durch seinen Tod. Am 5. August 1876 erhielt meine Mutter noch einen Brief von ihm, gerichtet an „lieb Herzensmamelukchen", in dem er bedauerte, nicht ordentlich Schiessen und Strapazen ertragen gelernt zu haben, sonst zöge er aus, die Türken zu bekämpfen — am 30. Juni war der 173

Krieg zwischen ihnen und den Serben ausgebrochen. Wenige Monate später brachte uns Dostal die Nachricht, Kienberger sei in einem Agramer Spital an Gelenkrheumatismus gestorben. Schon im Mai 1872 hatte ihn eine „Gelenksentzündung", wie er es nannte, aufs Krankenlager geworfen. Diesmal war es bösartiger geworden und hatte überraschend schnell zum völligen Erlöschen geführt. Was er über meinen Grossvater tröstend geschrieben, dass ihm die Qualen eines langen Siechtums erspart geblieben, traf jetzt für ihn zu. Nur hatte er damals ein Alterssiechtum gemeint, nicht ein vorzeitiges Erlöschen in blühender Jugend. Trotz aller Gegensätze, die sich gebildet, hingen wir immer noch an ihm. Sein Abscheiden erschütterte uns sehr. Fast kam ein Schuldbewusstsein bei uns auf. Hätte Minna ihn geheiratet, ihm ein frohes Heim bereitet mit sorglicher Pflege, dann hätte ihn die tückische Krankheit vielleicht gar nicht befallen oder wenigstens nicht gemordet, der der vereinsamte, von keiner liebenden Hand betreute Hagestolz rasch erlag. Aber das Tragischste an seinem Hinscheiden war doch die Tatsache, dass er keine Schöpfung hinterliess, die ihn überlebte, aber auch keine Hoffnungen, deren Verwirklichung er vorbereitet hatte. Er war durch und durch Nationaltscheche, wollte aber von der Demokratie nichts wissen, deren Kraft allein seine Ideale verwirklichen konnte. Er brauchte nur noch ein Dutzend Jahre länger zu leben und er hätte noch den Beginn des Abwirtschaftens der Alttschechen, zu denen er gehörte, sehen können. Von Natur aus ein höchst fröhlicher Geselle, war er doch innerlich zerrissen und missmutig. Wir betrauerten ihn, aber sein Hinscheiden riss keine Lücke in unser Leben. Unsere ganze Tätigkeit, meine und meiner Mutter politische und philosophische Entwicklung vollzog sich schon seit einigen Jahren vor seinem Tod ohne und gegen ihn. Dennoch muss ich dankbar seiner gedenken. In der ganzen Zeit meines Aufenthalts in Wien war er die bedeutendste Persönlichkeit, die in den Kreis der Freunde meiner Familie eintrat. Neruda stand sicher über ihm, aber als dieser bei uns verkehrte, war ich zu klein, um von ihm mehr als eine dunkle Ahnung zu haben. Bis zu meinem Eintritt in die sozialistische Bewegung hat mich niemand so sehr befruchtet und angeregt wie Wilhelm Kienberger. 19. D E R D E U T S C H - F R A N Z Ö S I S C H E

KRIEG

Ich bin im vorhergehenden Kapitel bis ins Jahr 1876 vorgedrungen, bis zu dem ach so frühen Ende Wilhelm Kienbergers. Ich muss nun wieder zurückgehen bis in die Zeit, in der wir ihn kennenlernten. 174

Das Schuljahr 1868/1869 ging ereignislos vorbei, obwohl es einen bedeutenden Lebensabschnitt für mich brachte: den Ubergang aus dem Untergymnasium ins Obergymnasium. Er vollzog sich ohne jegliche Erregung. Ganz anders gestaltete sich das nächste Jahr, das des grossen Kriegs zwischen Deutschland und Frankreich. Die ganze grosse Welt wurde durch ihn erschüttert. Das blieb nicht ohne Einfluss auch auf mein kleines Persönchen. Allerdings an der ersten Katastrophe, die mich damals traf, war der Krieg unschuldig: mein Schulzeugnis der 5. Klasse für das zweite Semester 1870 enthielt ein Ungenügend. Das traf mich hart, denn ich hatte begonnen, die rüden Melker Unsitten abzustreifen. Wenn ich in Mathematik diesmal nicht mitkam, so dürfte das hauptsächlich zwei Gründen zuzuschreiben sein. Der eine von ihnen lag klar zutage, dessen war ich mir damals schon bewusst. Es war die schon erwähnte Kurzsichtigkeit. Sie hinderte mich, dem Vortrag des Lehrers zu folgen, sofern er durch Zeichnungen an der Schultafel veranschaulicht wurde. Das kam jetzt besonders stark in Betracht, da sich der Lehrer Schenk durchaus nicht an das Schulbuch hielt, sondern seine eigenen Wege ging. Anderseits aber wurde die Verführung zur Unaufmerksamkeit, die aus dem Unvermögen, dem Lehrer zu folgen, hervorging, in jenem Zeitraum besonders gefördert dadurch, dass mich eine wahre Zeichenwut befallen hatte. Jede freie Minute benutzte ich, um zu zeichnen. Es waren teils Karikaturen der Lehrer oder der historischen Gestalten, deren Bekanntschaft wir in unserer Schullektüre machten. Teils aber auch ernstgemeinte Darstellungen von Figuren und Landschaften. Die Mathematikstunden verführten besonders leicht zum Zeichnen, weil das in ihnen nicht weiter auffiel. Wenn der Lehrer auf der Tafel zeichnete, mussten die Schüler trachten, ihm nachzuzeichnen. Ich sass nun in den Mathematikstunden nicht mehr gelangweilt da, sondern emsig meiner Kunstübung obliegend. Das verminderte noch die Aufmerksamkeit, die ich den Worten des Lehrers schenkte. Aber ich glaube, mein Durchfallen hatte noch einen andern Grund, der mir allerdings erst in vorgerückten Jahren aufgedämmert ist: meine geistige Begabung ist weit mehr eine historische als eine mathematische. Unter der historischen Begabung verstehe ich nicht eine besondere Fähigkeit, die Geschichte der Staaten zu erkennen und darzustellen. Ich weiss nicht, ob es eine solche Fähigkeit gibt. Ich verstehe darunter die Neigung, alle Erscheinungen, mit denen man bekannt wird, in ihrem Werden zu verfolgen und dadurch zu begreifen. Diese Neigung beherrscht mich nicht nur Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft, sondern auch der Natur gegenüber. Alle

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Dinge versuche ich in ihrer Entwicklung zu erfassen. Bei dieser Forscherarbeit fliegen mir leicht Ideen zu, die sich als fruchtbar erweisen. Soweit ich originelle wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen habe, liegen sie alle auf dem Gebiet der Aufdeckung entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge. Weit weniger begabt bin ich dagegen für alles mathematische Denken, für jegliches Denken, das nach mathematischen Methoden betrieben wird. Hier musste ich mich stets anstrengen, um mitzukommen. Zu originellen Leistungen auf diesem Gebiet habe ich es nicht gebracht. Vielleicht war diese meine Schwäche einer der Gründe meiner schlechten Schulzeugnisse vom Juli 1870. Leider bot mir die Schule, wie sie damals beschaffen war, keine Möglichkeit, meine eigentliche Begabung zu entfalten. Das Zeugnis verurteilte mich noch nicht definitiv zum Wiederholen. Es bot mir die Möglichkeit einer Nachprüfung in Mathematik. Diese Prüfung bestehen zu können, hätte ich einen zweiten Lehrer (Privatlehrer) bekommen müssen, der mir in den zwei Ferienmonaten die fehlenden mathematischen Kenntnisse einpaukte. Dieser Lehrer wurde mir nicht gegeben infolge einer unglücklichen Konstellation. Meine Mutter hatte im Frühjahr wieder einmal, wie so oft, eine schwere Attacke ihres Bluthustens durchzumachen gehabt. Im Juli begann sie sich zu erholen. Sie hatte die Bekanntschaft eines damals in Wien sehr bekannten Hydropathen gemacht, Dr. Winternitz, Besitzer einer Kaltwasserheilanstalt in Kaltenleutgeben. Er riet meiner Mutter zu einer Kaltwasserkur und sie beschloss, es damit zu versuchen. Sie bewohnte bei ihm einen Pavillon mit ihrer Tochter und ihrem jüngsten Sohne Hans. Mein Vater verbrachte auch seine Ferien dort. Ich und mein Bruder Fritz sollten während der beiden Ferienmonate in Blovitz sein, wohin wir wieder eingeladen worden, unsere Wohnung in Wien sollte währenddem leer stehen. Dieser Plan hätte vollständig umgeworfen werden müssen, wenn ich wegen des Studiums für die Nachprüfung in Wien blieb. In Blovitz wieder war ein Lehrer für mich nicht zu finden. Unerfahren wie ich war, baute ich darauf, ich würde dort allein für mich genug lernen können, um die Nachprüfung zu bestehen. Meine Eltern glaubten mir gern. Kienberger, damals das Orakel der Familie, hätte es besser wissen müssen. Aber der betrachtete damals — Ende Juli 1870 — die Sache von einer andern Seite. „Schau nur, dass du nach Blovitz kommst", sagte er zu mir. „Wenn du einmal dort bist, brauchst du um die Nachprüfung nicht sehr besorgt zu sein. Im September wird Böhmen ein Kriegslager darstellen, vielleicht einen Kriegsschauplatz. Der Verkehr zwischen Blovitz und Wien wird 176

abgeschnitten sein und um eine Nachprüfung wird sich niemand mehr kümmern." Diese Anschauung war in Kreisen, in denen Kienberger lebte, allgemein. Man sah dort nicht das deutsche Volk, sondern nur Preussen mit Napoleon im Kriege, dasselbe Preussen, gegen das noch 1866 ganz Süddeutschland sowie Sachsen und Hannover Krieg geführt hatte. Man erwartete, diese Staaten würden sich wieder auf Österreichs Seite stellen und dieses imstande sein, an Preussen für 1866 Rache zu nehmen. Bekanntlich ist diese Erwartung schmählich zusammengebrochen, angesichts des furor teutonicus, der das ganze deutsche Volk gegen den welschen Usurpator erfasste und angesichts des unerwarteten Zusammenbruchs seiner Armeen. Österreich blieb still und ich musste meine 1 Nachprüfung Ende September ablegen. Der Krieg hatte sie mir nicht erspart, sondern nur durch die leidenschaftlichen Erregungen, die er hervorrief, bewirkt, dass meine Studien in Blovitz, die auf keinen Fall getaugt hätten, vollends für die Katz waren. Ich fiel bei der Nachprüfung durch. Diesmal begünstigte mich die preussische Kriegführung weniger als 1866. Doch war das nicht die einzige Folge des Krieges für mich. Die in Blovitz vorherrschenden jungtschechischen Stimmungen und Gedankengänge, die auf mich 1868 solchen Eindruck gemacht hatten, wurden durch die Erregungen, die der Krieg hervorrief, intensiv verstärkt. In der ganzen Kulturwelt, namentlich aber dort, wo Deutsche oder Anti-Deutsche wohnten, wurde im Geist der grosse Krieg aufs leidenschaftlichste mitgekämpft. In den ersten Wochen im August waren unter meinen Blovitzer Freunden die Stimmungen noch geteilt. Für die Deutschen begeisterte sich niemand. Aber für den französischen Despoten konnten sich die tschechischen Demokraten auch nicht erwärmen. Als aber dieser gestürzt und in Frankreich die Republik proklamiert war, als es 2 den deutschen Regierungen einen ehrenvollen Frieden anbot, sie ihn zurückwiesen und den Krieg weiterführten, um das Elsass gegen den Willen seiner Bewohner zu annektieren, da kannte die Begeisterung für Frankreich keine Grenze. Sie erfasste auch mich, um so mehr, da meine politischen Leitsterne, die ich mir auserkoren, Garibaldi und Rochefort, mir dieselbe Richtung wiesen. Neben ihnen begeisterte mich jetzt besonders noch Gambetta. Wie sehr dabei meine anti-dynastische Stimmung wuchs, ist leicht zu begreifen. Sie wird unter anderem bezeugt durch meine Verhöhnung Franz Josefs in einem Brief, den ich 1870 am 18. August (Kaisers Geburtstag!) an meine Eltern von Blovitz aus richtete. Ich schrieb dort, dass ich die Feder ergreife, „heute an dem erlauchten 1 2

In der Abschrift heisst es „seine". B.K. In der Abschrift heisst es „er". B.K.

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Geburtstag ihrer K.K. privilegierten apostolischen Majestät des völkerbeglückenden, über alle Menschen erhabenen Kaisers und Herrn von Zis- und Königs von Transleithanien, heute, wo alle beamtischen Einwohner von Blovitz mit dankerfülltem Herzen hinströmen vor den Altar Gottes, um diesem (nicht dem Altar) für die unendliche Gnade zu danken, dass ein Franz Josef der Welt geschenkt wurde, er vom Jahr 1848 bis jetzt für seine Völker so väterlich besorgt war, dass er dieselben Madjaren, die er im Jahre 1848 mit Feuer und Schwert und Galgen verfolgte, 1867 höchstgnädigst alles vergessen, um nicht Prügel von ihnen zu kriegen, zum allergetreuesten Volke Österreichs erhob etc." Meinen neuverstärkten französisch-republikanischen Radikalismus brachte ich von Blovitz mit nach Wien. Er wuchs dort noch im Laufe der Kriegshandlungen. Der brutale Übermut der Sieger empörte mich, der verzweifelte Widerstand der Schwächeren erregte meine Bewunderung. Ein uninteressierter Zuschauer schenkt seine Sympathie immer eher dem Bedrängten als dem Bedränger. Das ist die ethische Grundlage, aus der unter bestimmten ökonomischen Bedingungen die Sympathie von Intellektuellen für das Proletariat hervorging und ihr Anteil am Sozialismus. Mein politisches Interesse war in jenen Kriegsmonaten aufs äusserste gesteigert. Ich verfasste damals wieder einmal ein Theaterstück, das wir Kinder, ich glaube zu Sylvester, aufführten. Es war wie die Dido eine Parodie nach Offenbachschen Vorbildern. Aber diesmal schon sehr stark von politischen Anspielungen durchsetzt, Seitenhieben auf Klerikale, Militaristen, Könige. Das Stückchen hiess Iphigenie, war frecherweise eine Persiflage unseres Altmeisters Goethe. Aus Thoas (mein Bruder Fritz), dem Beherrscher der Krim, machte ich einen vertrottelten russischen Zaren, Iphigenie, meine Schwester Minna, die Priesterin des Dianatempels, gab Anlass zu Ausfällen auf den Klerus. Ihr Bruder Orestes, „Prinz von Mykene", (ich) wurde bei mir ein griechischer Gardeoffizier, von Schulden erdrückt. Er flieht vor den Erinnyen mit Judennasen, seinen Gläubigern, zu seiner Schwester mit der Bitte, sie möge ihn erlösen, seine Schulden bezahlen. Sein Freund Pylades begleitet ihn. Ich hätte ihn wohl Pyladeles nennen müssen, denn ich machte aus ihm einen jüdischen Journalisten, Redakteur einer Zeitung Athens. Er entdeckt das goldene Standbild der Diana im Tempel, dessen Priesterin Iphigenie ist, und findet, die beste Lösung der Schwierigkeiten für Orestes bestehe darin, dass die Schwester mitsamt der goldenen Diana aus Tauris durchgehe. Die halbe Diana würde schon hinreichen, Orestens ganze Schulden zu bezahlen und die Erinnyen zu befriedigen. Mit dieser Feststellung endet das Stück. 178

Trotz seiner jüdischen Anspielungen enthielt es keine Spur von Antisemitismus. Damals schon fand ich meine besten Freunde unter jüdischen Kollegen. Jüdische Eigentümlichkeiten humoristisch zu behandeln, ist nicht Antisemitismus, wenn man bereit ist, ebenso über Eigentümlichkeiten der eigenen Nation zu lachen. Von meiner Kindheit bis heute bin ich von Antisemitismus stets völlig frei geblieben. Wo das Judentum verfolgt war, stand ich stets mit wärmster Sympathie auf seiner Seite. In solchen Fällen wäre es mir auch geschmacklos erschienen, seine Eigenart zu verhöhnen. Aber um 1870 herrschte überall liberales Denken, galt ein Antisemit als ein minderwertiges Wesen. Damals Judenwitze zu machen, konnte das Judentum nicht verletzten. Meine politische Einstellung brachte ich zum Ausdruck in einem Couplet, das ich Thoas in den Mund legte. Es kennzeichnet mein politisches Denken gerade in der Zeit, in der die Pariser Commune vor der Tür stand, die so grossen Eindruck auf mich machen sollte. Es sei daher hier mitgeteilt — das Manuskript der „Iphigenie" habe ich noch. Thoas sagt: „Ich Thoas, König aller Reussen Tu die Türken lang schon beissen. I geb dem Sultan gar ka Ruh, Bis der Kerl hat schon gnu.1 Krieg muss ich haben, das ist gsund, Geht auch mein halbes Volk zu Grund. Es bleiben ihrer noch immer gnug. Die Preussen bombardier'n Paris 2 Für'n ollen Willem ist's so süss. Der Krieg darf so bald nicht aufhör'n. Das Schiessen hört er gar zu gern. Nach Paris g'richt ist sein Sinn. Werd'n die Mobilen 3 auch alle hin. Es bleiben ihrer noch immer g'nug. Victor Emanuele hat Besetzet jetzt die ewige Stadt.4 Im Friedensvertrag von 1856 hatte Russland die Neutralität des Schwarzen Meeres anerkennen müssen. Den deutsch-französischen Krieg benützte der Zar, um am 31. Oktober 1870 diese Bestimmung zu kündigen. Er zeigte damit an, dass Russland seine Ansprüche an die Türkei wieder aufnehme. 2 Seit 27. September. 3 Die Mobilgarden, „Mobile Nationalgarde", in der französischen Armee 1868 geschaffen, eine Art Landwehr. * 20. September 1870. 1

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Lib'ral regieret man nun dort, Die Jesuiten sind ja fort. Doch hoff ns wieder einzuzieh'n. Die Pfäfflein sind ja noch nicht hin, Es bleiben ihrer noch immer g'nug. Gleiches Recht und Autonomie Gefallt meinen Ministern nie. Die Journalisten kasteln s ein, Die nicht ganz gleicher Meinung sein. Wenn ich dran denk, wird mir so heiss, Denn sperrt man's ein auch dutzendweis', Es bleiben ihrer noch immer gnug. Die Spanier haben wutentbrannt, Verjagt die Dicke aus dem Land 1 Napoleon aus Frankreich fort, Auf Wilhelmshöhe sitzt er dort. Das Exilieren ist a Passion, Doch jagt man noch soviel davon, Der Fürsten bleiben noch immer gnug. Das war, in holprige Verse gebracht, mein politisches Glaubensbekenntnis unmittelbar vor Ausbruch der Pariser Commune. Mein bereits rebellisches Gemüt wurde durch den Krieg des preussischen Königs und seines mir so verhassten Bismarck gegen die französische Republik aufs äusserste angestachelt. Ich lebte ganz den Vorgängen in Frankreich und kümmerte mich wenig um die im Akademischen Gymnasium. Das Ergebnis war entsprechend. Obwohl ich repetierte, also schon bekannten Lehrstoff widerzukauen hatte, fiel mein Zeugnis am 18. Februar 1871 schlechter aus als das vom Jahr vorher. Es war das schlechteste, das ich auf dem Gymnasium davongetragen. Es enthielt zwei Ungenügend! Nicht in Mathematik, in der ich 1870 durchgefallen war. Da erzielte ich ein Befriedigend. Wohl aber im Lateinischen und Griechischen, wo ich im vorigen Jahr durchgerutscht war. Merkwürdig, trotz dieses miserablen Zeugnisses war ich unter 60 Schülern der 34. Also 26, fast die Hälfte, noch schlechter als ich! Die grosse Zahl von 60 Schülern noch in einer höheren Klasse bezeugt schon deutlich die Knauserei der damaligen Unterrichts Verwaltung im Staate Österreich. Gleich nach dem Aschermittwoch von 1871, der mir einen so Isabella, Königin von Spanien, war Ende September 1868 durch einen Aufstand vertrieben worden. Sie war damals 40 Jahre alt, schon recht dicklich.

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bedenklichen Semesterabschluss gebracht hatte, kam es in Paris zum Aufstand der Commune. Kein Wunder, dass diese nach der wilden Stimmung, in die mich der Verlauf des Krieges versetzt, mich begeisterte und noch mehr absorbierte als die vorhergegangenen Kampfhandlungen. Ich wäre unter diesen Umständen vielleicht am Ende des Schuljahres, das ich bereits wiederholte, nochmals durchgefallen. Wer weiss, welche Wendung dann meine Laufbahn genommen hätte! Auf die Universität wäre ich kaum gekommen. Doch die Commune brach im Mai zusammen, zum grössten Schmerz für mich, und nicht nur für mich, sondern für alle Freunde des aufstrebenden Proletariats. Aber zum Glück für meine Stellung in der Schule. Denn nun beruhigte ich mich, wendete meine ganze Aufmerksamkeit meinem Studium zu, für das ich eine so eindringliche Mahnung in dem Februarzeugnis bekommen hatte. Es gelang mir, die im ersten Semester erlittene Scharte auszuwetzen. Im zweiten Semester kam ich mit einem leidlichen Zeugnis durch, als 22. unter 52. Also ich gehörte bereits zur „besseren Hälfte". Übrigens bewies auch jetzt wieder der Rückgang der Schülerzahl binnen einem halben Jahr von 60 auf 52, wie wenig bodenständig die damalige Schulbevölkerung im Akademischen Gymnasium war. Mein weiterer Fortgang in der Schule vollzog sich dann ohne Tragödien und Katastrophen. Ich war älter und reifer geworden, an Lausbubenstreichen hatte ich jeden Geschmack verloren. Und eine ähnliche Wandlung machten meine Kollegen durch. Die schlechten Schüler waren nicht mehr die trotzigen, ungebärdigen, denen die Enge des Schulbetriebes nicht behagte, sondern nur noch unfähige Elemente, geistlose Schwachköpfe, die nur das Mitleid herausforderten. Mit denen in einer Reihe zu stehen, schämte man sich. Aber auch der Lehrstoff änderte sich, wurde anziehender, und ebenso die „Professoren". In den meisten Gegenständen erhielten wir jetzt anregende, wohlwollende Lehrer. Der letzte der bösartigen Pedanten, dem ich im Lateinischen ein „Ungenügend" verdankte, war merkwürdigerweise ein Bekannter Kienbergers, ein Pater Fleischmann. An seine Stelle trat in den letzten Schuljahren Dr. Leopold Konvalina, der es meisterhaft verstand, uns für die römischen Autoren zu interessieren, ja zu begeistern, namentlich für Horaz. Auch seiner philosophischen Propädeutik folgten wir gerne und aufmerksam. Auch Geisdorfer brachte uns manche anregende Stunde durch seine Ausführungen über die deutschen Klassiker, allerdings nur über ihre aesthetische Seite. Blume versuchte, die Geschichte, die er vorzutragen hatte, über das öde Einerlei von Namen und Zahlen zu erheben und wenigstens etwas Kulturgeschichte zu bringen, was wir dankbar empfanden. Endlich verstand es Woldrich sehr gut, die von ihm gelehrten Natur181

Wissenschaften durch eingeschmuggelte darwinistische Konterbande zu beleben. Nur Lissner, im Griechischen, blieb dem alten Schimmel treu. Aber im allgemeinen gewann in den letzten drei Jahren das Gymnasium an Anziehungskraft für mich. Und als ich es im Juni 1874 verliess, geschah es mit einem guten Maturitätszeugnis und überdies mit dem angenehmen Bewusstsein, nicht nur für die Schule, sondern auch für das Leben einen Fonds tüchtiger Kenntnisse erworben zu haben. Freilich erstand nun die Frage, für welches Leben diese Kenntnisse in Betracht kommen sollten. Das Maturitätszeugnis gab mir die besten Klassen in Geschichte [und] in philosophischer Propädeutik. Doch ganz abgesehen von dieser äusserlichen Kennzeichnung hatte ich mich bereits entschieden: ich wollte mich hinfort wissenschaftlicher Arbeit widmen, und zwar auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie. Und noch eines stand damals schon fest in mir: meine wissenschaftliche Arbeit sollte die Idee befruchten, die bereits zum Inhalt meines Lebens geworden war und mich nicht mehr loslassen sollte, die Idee des Sozialismus. Seit der Pariser Commune hatte mich diese Idee stets beschäftigt neben meiner Schularbeit. Gerade zur Zeit meiner Matura war auch mein Wissen vom Sozialismus wenigstens so weit in mir gediehen, dass ich deutlich sah, auf welche Seite ich mich zu schlagen hatte. Noch vor dem Maturitätsexamen hatte sich eine für mein künftiges Leben wichtige Entscheidung für mich vollzogen: ich wurde vom Militärdienst befreit. Schon vor der allgemeinen Stellung (April 1874) hatte ich mich zu verschiedenen Malen als Freiwilliger gemeldet, um des Privilegiums des Einjährig-Freiwilligen-Dienstes nicht verlustig zu gehen. Dabei spekulierte ich bereits auf meine Kurzsichtigkeit. Daher meldete ich mich zunächst für die Festungs-Artillerie, wo ich sofort wegen dieser Eigenschaft zurückgewiesen wurde. Dann bei der Feld-Artillerie, wo das gleiche Los mich erwartete. Nicht anders erging es mir, als ich mich bei der Infanterie meldete. (Deutschmeister1). Dieses Urteil wurde jetzt bei der allgemeinen Stellung bestätigt: dienstuntauglich wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit. Vor mir war ein bedenklich kränklicher Mann drangekommen, ein hustendes Gerippe. Er wurde auch für dienstuntauglich erklärt, wegen vorgeschrittner Tuberkulose. Mit einem Freudenschrei quittierte der arme Teufel diese vernichtende Diagnose. Er sah nur die Befreiung vom Militärdienst. Auch ich empfand es als sehr wohltätig, dass ich sicher davor sei, nie mich für Habsburgs Grösse totschiessen 1 Infanterie-Regiment Nr. 4, „Hoch- und Deutschmeister", das sich aus der Wiener Bevölkerung rekrutierte. B.K.

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lassen zu müssen. Und doch, derselbe Grund für diese Sicherheit hat mich daran verhindert, ein Raffael zu werden, wie er jetzt mich daran hinderte, den Marschallstab im Tornister des Reserve-Leutnants zu tragen. Bis dahin und auch lange nachher habe ich mich um militärische Dinge nicht gekümmert. Erst als ich 1881 nach London und dort in regen Verkehr mit Engels kam, flösste dieser mir Interesse für militärische Fragen ein. Sehr hinderlich empfand ich dabei, dass mir jede Kenntnis kriegerischer Praxis fehlte. Doch wäre meine theoretische Entwicklung schon gehemmt worden, ehe sie recht begonnen, wenn ich etwa als Leutnant 1878 hätte nach Bosnien marschieren müssen und dort eine tückische Kugel meinen Lebensfaden abgeschnitten hätte.

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II STURM UND

1. D I E P A R I S E R

DRANG

COMMUNE

Wir haben gesehen, dass ich Ende 1870 in meinem politischen Denken und Fühlen — vorwiegend wohl Fühlen — auf der äussersten Linken des bürgerlichen Radikalismus angelangt war. Aber vielleicht wäre es richtiger, meinen damaligen Radikalismus, statt einen bürgerlichen, einen ausschliesslich politischen zu nennen. Das Denken der Umgebung, die mich bestimmte, hatte mir bis dahin soziale Erwägungen noch nicht nahe gebracht. Wohl gab es seit 1867 in manchen Gebieten Österreichs und namentlich in Wien eine starke Arbeiterbewegung. Sie war binnen zwei Jahren schon so stark geworden, dass sie eine grosse Demonstration wagen konnte. An 20000 Arbeiter versammelten sich am 13. Dezember 1869 vor dem Parlament und entsandten eine Deputation zum Ministerpräsidenten Taaffe, dem sie eine Petition überreichte. Der nannte das Vorgehen der Arbeiter ein revolutionäres. Mir erschien es sehr zahm, der ich in Wunschträumen von dem Umsturz der Monarchie und der Zerreissung Österreichs schwelgte. Und die Forderungen der Petition gingen über die einer bürgerlichen Demokratie nicht hinaus. Sie verlangte das Koalitionsrecht, Versammlungs- und Pressefreiheit, allgemeines und direktes Wahlrecht, Ersetzung des stehenden Heeres durch eine Miliz. Alles das, was in dem liberalen Österreich von 1869 noch fehlte, bekräftigte die geringe Meinung, die ich vom österreichischen Liberalismus hatte. Auf sozialistisches Denken wurde ich dadurch nicht hingewiesen. Der Arbeiterdemonstration vom 13. Dezember 1869 folgte die schmähliche Justizkomödie eines „Hochverratsprozesses" gegen eine Reihe bekannter Führer der Wiener Arbeiterbewegung. Sie wurden mit der nichtigsten Begründung zu schweren Kerkerstrafen verurteilt (Oberwinder 6, Scheu, Most, Papst 5 Jahre). So offenbar war die Rechtsbeugung, die dabei begangen wurde, dass die Gesamtheit der bürgerlichen Demokraten Wiens — und die bildeten dort damals die Mehrheit der Bevölkerung — auf Seite der Angeklagten stand. Der Prozess machte grossen Eindruck, liess aber einen so naiven Beobach184

ter wie mich keineswegs einen Gegensatz zwischen den Interessen der Besitzenden und der Besitzlosen erkennen. Die ganzen Wiener Vorkommnisse jener Tage regten mich nicht zu sozialistischem Denken an, bekräftigten bloss meine demokratisch-revolutionären Anschauungen. Ein weit gewaltigeres und weit tiefer aufwühlendes Ereignis als die Wiener Arbeiterdemonstration und ihrer Folgen war die Erhebung der Pariser Arbeiter am 18. März 1871. Kühn erhoben sie sich, um ihre Waffen denen einer reaktionären Regierung entgegenzusetzen. Anfangs schien es allerdings, als solle auch dieser Aufruhr nur eine rein politisch-demokratische Bewegung bleiben. Und als solche zog er mich zunächst an und erregte er meine Sympathie. Tatsächlich gab es auch unter den Pariser Insurgenten eine ganze Reihe von Elementen, die noch auf dem Boden des alten Republikanismus von 1793 standen, darüber nicht hinausgingen, vom Sozialismus nichts wissen wollten. Die meisten unter den Kämpfern der Märzerhebung erklärten freilich, Sozialisten zu sein, aber bei vielen von ihnen war ihr Sozialismus recht schüchterner Natur — namentlich bei den Proudhonisten. Und die gewalttätigsten unter den Sozialisten, die Blanquisten, konzentrierten ihre revolutionäre Wut auf Klöster, denen sie indes auch nicht viel machten. Eine eigentlich sozialistische Massregel ist von der Pariser Commune nicht ausgegangen. Aber sie stellt die erste Arbeiterregierung der neueren Geschichte dar. Als solche entfachte sie die wütende Feindschaft aller bürgerlichen Elemente in ganz Europa. Sie sahen in der Pariser Commune ein sozialistisches Gemeinwesen. Aus dem erbitterten Feldzug der Versailler Regierung gegen die Pariser wurde ein nicht minder erbitterter Feldzug aller Regierungen und Parlamente Europas gegen die Ideen des Sozialismus. Ich war zu unwissend und zu sehr bloss auf bürgerliche Berichte angewiesen, um herausfinden zu können, wie die Dinge in Wirklichkeit lagen. Aber meine tschechisch-nationale Vergangenheit hatte mich gelehrt, Mitteilungen der deutsch-liberalen Presse mit Misstrauen aufzunehmen und den von ihr beschimpften Kämpfern für Volksfreiheit Sympathien entgegenzubringen. Meine Sympathien gehörten von vornherein den Verfechtern der Pariser Commune, die aus einer Aktion zur Rettung der durch die monarchistische Reaktion bedrohten französischen Republik hervorging. Der Blutdurst der gegen Paris kämpfenden, bornierten Krautjunker, die im französischen Parlament dominierten, des Orleanisten Thiers, des Bonapartisten Mac Mahon und des ganzen Offizierskorps erregten meinen Abscheu immer mehr, indes gleichzeitig meine Sympathie mit den Communards wuchs, die im Mai so grausam hingeschlachtet wurden. Der Heroismus der 185

Kämpfer, die Mannhaftigkeit der Besiegten in den Prozessen, die nach der Niederwerfung der Commune gegen sie angestrengt wurden, fand meine höchste Bewunderung. Welch herrliche grosse Sache musste es sein, wenn sie solches Heldentum erzeugen konnte! Diese Sache war der Sozialismus. Das ging aus den Angriffen der Gegner der Commune selbst hervor — und andere Ausführungen kamen mir 1871 nicht zu Gesicht. Ich kam zur Überzeugung, die Idee des Sozialismus müsse etwas Gewaltiges, Hinreissendes sein. Und sie trat auf als eine Idee der Arbeiter. Eine Herrschaft der Arbeiter wurde gleichgesetzt dem Sozialismus. Das alles wurde mir bald klar, aber damit war ich noch nicht weit gekommen. Denn ich vermochte nicht aus den Berichten, die mir zur Verfügung standen, auch nur einigermassen ein bestimmtes Bild von dem zu gewinnen, was denn Sozialismus eigentlich sei. Gleich so vielen anderen naiven Leuten glaubte auch ich zunächst, die Idee des Sozialismus liesse sich in wenige Worte fassen, in eine Formel, einen Grundsatz, der ohne weiteres zu verwirklichen sei und dessen Durchsetzung sofort alles Elend beseitige. Wer aber konnte mir die erlösende Formel mitteilen? Der bürgerlichen Presse traute ich nicht, die von der Aufteilung allen vorhandenen Reichtums, der Weibergemeinschaft, der Auflösung der Familie als dem Programm des Sozialismus sprach. Welches aber war das wirkliche Programm? In meiner Umgebung fand ich niemand, der mir darüber Auskunft geben konnte oder auch nur wollte. Schon die Frage nach den Zielen der Sozialisten wurde als eine Sünde betrachtet. Oder, was noch schlimmer war, als eine Dummheit. Der Sozialismus sei eine so blödsinnige Idee, dass kein vernünftiger Mensch sich damit beschäftigen dürfe. Das war ungefähr die Ansicht des weitaus belesensten Mannes in meiner Umgebung, meines damaligen Orakels Kienberger. Als ich ihm einmal verriet, dass mich die Sache des Sozialismus beschäftigte, antwortete er mit einer wegwerfenden Handbewegung: über solchen Unsinn denkt man nicht nach. Ich habe ihn allerdings im Verdacht, dass er selbst von den sozialistischen Schriftstellern keinen einzigen gelesen hat. In den griechischen, römischen, deutschen Klassikern, in denen er zu Hause war, stand nichts vom Sozialismus irgendwelcher Art, man müsste denn die heiteren Zustände in den „Ekklesiazusen" des Aristophanes als Darstellung einer sozialistischen Gesellschaft betrachten. Keiner meiner Verwandten, keiner der Freunde der Familie, keiner meiner Kollegen konnte mir sagen, was Sozialismus sei oder in welcher Schrift ich Auskunft darüber fände. So sah ich mich auf mich selbst angewiesen, darauf, selbst den Stein der Weisen zu entdecken, aus eigenen gesellschaftlichen Beobachtungen und Erwägungen Vor186

schlage zur Abhilfe der Not und der Unwissenheit der Massen ausfindig zu machen, soweit nicht schon das blosse demokratische Programm Abhilfe zu bringen versprach. Alle diese meine Gedankenarbeit verbarg ich aber jahrelang tief in meinem Innern, da meine Umgebung mich doch nur als Träumer und Narren verlacht hätte. Ohne Lehrer, ohne Freund, als ein im finstern tastender Sucher hatte ich dies Stadium zu überwinden. Immer wieder quälte mich der Gedanke: wie kann eine Idee vernünftig sein, die nur ein unwissender Junge auf Grund unklarer Gefühle dafür hält, indes alle reifen, denkenden, wohlunterrichteten Menschen, die er kennt, sie für irrsinnig erklären? Und doch konnte ich mich nicht entschliessen, diese Idee über Bord zu werfen. Ich hielt zäh an ihr [fest], allerdings nicht auf Grund tieferer Einsicht. Ich hing an ihr mit allen Fasern meines Herzens, sie befriedigte ein Bedürfnis, das in mir seit der Commune urplötzlich erstanden war und mich völlig gefangennahm, das Bedürfnis nach Hebung und Befreiung aller Elenden und Geknechteten. Dies ethische Bedürfnis ist der Ausgangspunkt jeden sozialistischen Strebens und Denkens. Doch kommt man nicht vom Platz, wenn man nicht vermag, darüber hinauszugehen. Das ist nicht möglich durch blosses ethisches Empfinden, es erheischt nüchternes, vor allem ökonomisches und historisches Erkennen. Woher das gewinnen? Ein Zufall brachte mich in dieser Zeit unsicheren Suchens und Tastens auf einen sicheren Boden. Ich entdeckte eines Tages unter den Büchern meiner Eltern einen Roman von George Sand: „Le péché de Mr. Antoine." Ich begann ihn zu lesen, wie man Romane überhaupt liest, als Zeitvertreib. Aber bald liess er mich aufhorchen. Er behandelte gerade das Problem, das mich so unendlich beschäftigte und quälte. Erschienen 1847, unmittelbar vor der Revolution, ist dieser Roman wohl der sozialistischste unter denen, die George Sand geschrieben. Die Junischlacht von 1848 und dann die Zeit der Reaktion erschreckten sie später und veranlassten sie, sich mit harmloseren Problemen zu beschäftigen. Aber 1847 trat sie noch rückhaltlos und enthusiastisch für die Idee des Sozialismus ein. Im „Péché de Mr. Antoine" treten alle geistig höherstehenden und sympathischen Menschen auf die Seite der Sozialisten. Ihnen gegenüber zeigt sich ein Kapitalist, egoistisch und hartherzig, der bereit ist, den Interessen des Kapitals den eigenen Sohn zu opfern. Nur minderwertige Menschen sind im Roman auf Seiten des Kapitals zu finden, meist solche, die dafür bezahlt werden. Der Kampf der beiden Richtungen, der mit dem moralischen Siege der Sozialisten endet, war meisterhaft dargestellt. Dieser Roman machte meinen Zweifeln mit einem Mal ein Ende und entschied meine Wahl vor dem Scheidewege, an den ich gelangt war. Das, wonach ich so heiss verlangte, 187

das konnte kein leerer Wahn, keine blosse Narretei sein, wenn eine so angesehene Denkerin wie George Sand sich so lebhaft dafür einsetzte. Und noch mehr gab mir der Roman der George Sand, ausser der Bekräftigung meines unsichern, dunklen Dranges. E r verlieh mir auch etwas Einsicht in das Wesen des Sozialismus. In der Erzählung wird die entscheidende Wendung zugunsten der bedrängten Sozialisten durch einen alten und dabei steinreichen Marquis herbeigeführt, der die Werke von St. Simon und Fourier studiert und sich dem Sozialismus zugewendet hat. Zu alt, krank und menschenscheu, um selbst für die Verwirklichung seiner Ideale wirken zu können, ernennt er einen jungen Studenten zu seinem Erben, den sozialistischen Sohn des hartherzigen Kapitalisten. Auf den letzten Seiten des Buches bespricht er mit diesem jungen Mann, in welcher Weise reiche Sozialisten ihre Mittel anzuwenden hätten. E r sagt ihm: „Was du brauchst, ist soziale Wissenschaft. Die kann nur das Ergebnis einer langen Arbeit sein, der du dich hingeben musst mit Hilfe der Kräfte, die dein Jahrhundert mehr oder weniger rasch, mehr oder weniger glücklich entwickeln wird." Neben dem Studium der sozialen Wissenschaft preist aber der Marquis noch ein Mittel an: soziale Experimente durch die Gründung sozialistischer Kolonien und Genossenschaften. Als ich das las, wurde mir mit einem Male klar, dass die Suche nach einer erlösenden Formel ganz töricht sei und dass der Sozialismus nicht mit einem Male fertig aus dem Kopfe der Sozialisten zu entspringen habe, sondern nur das Ergebnis einer langen Entwicklung sein könnte. Dass der Sozialismus nicht als ein fertiger Gesellschaftsplan aufzufassen sei, sondern als eine gesellschaftliche, soziale Bewegung in einer bestimmten Richtung, die ihr die soziale Wissenschaft zu weisen habe. Diese Wissenschaft, soweit sie bereits vorhanden war, zu erfassen und an ihrer Weiterentwicklung zu arbeiten, das schwebte mir von nun an als höchstes Ziel vor. Ich war natürlich noch nicht imstande, die Streckung 1 zu merken, die dem Sozialismus der George Sand anhaftete. Sie dachte noch ganz utopistisch: alles für das Proletariat, doch sehr wenig durch das Proletariat. Die Arbeiter des Fabrikanten, des Herrn Cardonnet, spielen in dem Roman gar keine Rolle. Sie erkennen nicht die Gefahren des Kapitals, machen keine Miene, über ihr Schicksal nachzudenken, geschweige denn, es zu ändern. Als die treibenden Kräfte zum Sozialismus erscheinen im Roman der reiche Marquis und sein Erbe, der begeisterte Student. Daneben, in zweiter Linie ein Zimmermann, der aus Protest gegen den Kapitalismus nicht in der Fabrik arbeitet, sondern sich durch 1 So in der Abschrift. Das Wort ist zweifellos verschrieben. Dem Sinn nach muss es etwa „Beschränkung" heissen. B.K.

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Gelegenheitsarbeiten fortbringt. Ein blosser Sonderling, allerdings ein kluger, energischer, gütiger. Jedoch absolut unfähig, den Weg zum Sozialismus zu finden. Er erschöpft sich in ohnmächtiger Ablehnung des Kapitalismus. Wie hätte ich diese Schwäche des Romans zu einer Zeit merken können, wo selbst durchgebildete Sozialisten für die Unzulänglichkeit des Utopismus blind waren! Dem jungen Marx selbst hat die George Sand 1847 sehr imponiert. Im gleichen Jahr, in dem ihr eben betrachteter Roman erschien, sandte er ihr seine Streitschrift gegen Proudhon mit einer Widmung. 2. S O Z I A L I S T I S C H E

a.

ANFÄNGE

Erzählungen.

Seitdem ich „Die Sünde des Herrn Antoine" gelesen, nahm jedes bängliche Schwanken gegenüber dem Sozialismus in mir ein Ende. Nun sah ich klar, was ich wollte und sollte. Doch noch völlig unklar blieb ich über den Weg, mein Wollen zu realisieren. Der Roman der George Sand sprach von der sozialen Wissenschaft, die zu studieren sei. Wo in Wien konnte ich einen Lehrer oder Bücher finden, die mir diese Wissenschaft verkündeten. Mein Suchen nach ihr blieb lange ergebnislos. Immer wieder stiess ich nur auf bürgerliche Darstellungen, von denen ich deutlich fühlte, dass sie feindselige Verzerrungen waren. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mir einen eigenen Sozialismus aufzubauen, ohne Anleitung, ohne Vorbildung. Ich ging ganz einfach daran, über die sozialen Probleme nachzudenken, wie sie mir in Artikeln bürgerlicher Zeitungen und Zeitschriften aufstiessen und nach Mitteln ihrer Lösung zu forschen. Doch begnügte ich mich damit nicht. Ich begann auch das, was ich gefunden, literarisch zu verarbeiten und zu formen, es zu Papier zu bringen, nicht um das Geschriebene zu publizieren, sondern nur zu meiner Selbstverständigung. Denn das spürte ich bereits: wer einen Gedanken niederschreiben will, der kann sich nicht damit begnügen, ihn ungefähr erfasst zu haben. Der Gedanke muss klar vor dem Schreibenden stehen, soll dieser die richtige Form für ihn finden. Wenigstens geht es so jedem ehrlich nach Wahrheit forschenden Menschen. Anders steht es natürlich mit Leuten, die Klarheit und Reichtum an Gedanken bloss vortäuschen wollen, die sie nicht besitzen. Allerdings wirkt mündlicher Vortrag ebenfalls als Zwang, das, was man andere lehren will, vorher weit genauer und gründlicher zu durchdenken, als notwendig ist, wenn man sich in seine Gedanken für sich allein einspinnt: docendo discimus, beim Lehren lernen 189

wir selbst. Doch in der Periode meines Lebens, wovon ich hier handle, kam ein Belehren anderer über den Sozialismus noch gar nicht in Frage, sondern nur ein Klarwerden meiner selbst. Überdies aber bin ich so veranlagt, dass mir das mündliche Lehren stets Schwierigkeiten verursachte und widerstrebte, indes die schriftliche Fixierung meiner Gedanken mir immer ein Bedürfnis war und leicht vonstatten ging. So entwickelte ich in den Jahren 1873 und 1874 einen Sozialismus für mich im stillen. Die erste Form, in der ich meinem sozialistischen Bedürfnis und Streben Ausdruck gab, war sonderbarerweise eine belletristische, die einer Erzählung, eines kurzen Romans. Das mochte teilweise daher rühren, dass die Basis meiner sozialistischen Überzeugung ein Roman war, der der George Sand. Zum Teil aber daher, dass gerade in diese Zeit meine ersten Herzensromane fielen, die mich anregten, mir in Erzählungsform Luft zu machen so, wie Goethe durch Charlotte Buff zu seinem ersten Roman von Werther angeregt worden war. Trotz meiner dramatischen Anfänge dachte ich nicht daran, meine Stimmungen und Erfahrungen in einem Theaterstück zum Ausdruck zu bringen. Ich befand mich jetzt in einer sehr pathetischen Verfassung. Zum Pathos hat aber meine dramatische Muse nie gereicht. Die Veranlassungen zu meinen Erzählungen hier wiederzugeben, hat wohl keinen Zweck. Ein Dichter wird schwer verstanden werden ohne Kenntnis seiner Liebesaffären. Goethe hat den seinigen in „Dichtung und Wahrheit" mit Recht viel Platz eingeräumt. Ich bin jedoch kein Dichter geworden, ich schreibe in meinen Erinnerungen nur das, was mir entweder kulturgeschichtlich wertvoll erscheint, wie die Nachrichten über die soziale Lage meines Urgrossvaters und Grossvaters, oder was von Bedeutung sein dürfte für die Geschichte des Sozialismus. Von meinen Herzensromanen lässt sich weder das eine noch das andere sagen. Sie würden auch an sich nicht interessieren, denn sie waren sehr einfach und harmlos. Wohl rissen sie mir „das Herz entzwei", doch nur „just, wenn sie passierten". Dauernder Schaden ging daraus für keine der dabei beteiligten Personen hervor. Ich spreche von meinen Erzählungen hier nur, soweit sie Licht auf meine damalige sozialistische Einstellung werfen. An die Abfassung der ersten ging ich im Frühjahr 1873. Im Juli, dem ersten Ferienmonat — noch war ich Gymnasiast — beendete ich sie. Es war die erste dieser Art, die ich zum Abschluss brachte. Versucht hatte ich schon eine Reihe andere, wie ich in einer Vorbemerkung zu dem Manuskript mitteilte. Ich schrieb dort: „Also wieder ein Roman, trotz so oftmaligen Misserfolgs! Aber ich kann nicht anders, es kommen mir die Gedanken immer von selbst. Warum soll ich sie nicht zu Papier bringen?... Getrost will ich das arme Kind meiner 190

Muse ans Licht bringen, auch wenn es keine Göttin sein wird, Jupiters Haupt entsprungen, und selbst wenn es eine Missgeburt sein sollte!... Ultra posse nemo potest teneri!" Der „oftmaligen" vorhergehenden Versuche und „Misserfolge" kann ich mich absolut nicht mehr erinnern. Vielleicht gehört dazu ein Fragment, das ich gefunden, betitelt „Die Republikaner". Diese Erzählung spielt zur Zeit der französischen Revolution. Zwei glühende Revolutionäre verlieben sich in eine junge Aristokratin. Nach der Erstürmung der Bastille verlässt sie mit ihrem Vater Frankreich, einige Jahre danach begegnen Vater und Tochter als Emigranten in Holland einem der beiden Revolutionäre, der als Girondist ebenfalls flüchten musste. Hier bricht die Erzählung ab. Wie ich sie fortzusetzen und zu beenden gedachte, weiss ich nicht mehr. Das Fragment bezeugt jedenfalls, dass mich die grosse französische Revolution zur Zeit seiner Abfassung intensiv beschäftigte. Auch unter Franzosen, aber in der Gegenwart, spielt dann die erste Erzählung, die ich vollendet und deren Manuskript erhalten ist. Einen Titel gab ich ihr nicht, ich schrieb sie ja nicht für die Öffentlichkeit. Der Gang ihrer Handlung ist folgender: Bei einem alten Ehepaar im Jura wächst eine Enkelin heran, ein schönes junges Mädchen namens Rosa. Ihre Mutter hatte einen Pariser geheiratet namens Gatry, war jung gestorben, unter Hinterlassung des kleinen Mädchens. Der vereinsamte Vater hatte das Kind den Grosseltern und einer Schwester der Verstorbenen zur Erziehung übergeben. Eines Tages, im Jahre 1869, tauchen in dem Juradorf zwei junge Sozialisten aus Paris auf, Louis Noir und Leon Gagneur. An einer Konspiration gegen den Kaiser beteiligt, hatten sie flüchten müssen, als sie aufgedeckt wurde. Obwohl beide im gleichen politischen Lager standen, wiesen sie doch sehr verschiedene Charaktere auf. Louis Noir, ein schöner, heiterer Lebemann, Leon dagegen ein düsterer Puritaner. Beide interessieren sich für das 17 jährige Mädchen, Leon bleibt ihr aber gewissenhaft fern, indes Louis alle Künste der Verführung spielen lässt. Dabei unterstützt ihn seltsamerweise Rosas Tante Henriette. Es gelingt Noir, Rosa zu veranlassen, mit ihm zu fliehen. Gagneur will die Flucht hindern, sein Widerstand wird durch einen Pistolenschuss Noirs gebrochen. Gagneur ist nicht tot, aber schwer verwundet. Erst im April 1870 vermag er das Dörfchen zu verlassen und nach Paris zu gehen, wo er nicht mehr verfolgt wird. Henriette gibt ihm einen Brief an Rosas Vater Gatry mit, der in Paris Polizeikommissar ist. Von Rosa hat Leon keine Nachricht. Die anscheinend Verschollene trifft aber kurz vor ihm auch in Paris ein. Noir hatte sie in der Zeit geheiratet, war aber nach wenigen Monaten ihrer überdrüssig geworden, hatte sie verlassen und sich nach Paris 191

gewendet. Fast mittellos reist sie ihm nach, um ihn zu suchen. Bald sind ihre Geldmittel völlig erschöpft, sie kommt so weit, dass sie ein Stück Brot stiehlt, um ihren Hunger zu stillen. Auf ein Polizeikommissariat gebracht, hat sie das Glück, einem gütigen Kommissar zugewiesen zu werden, der ihr Vergehen zu geringfügig findet, um es zu bestrafen. Dankend will sie sich entfernen, da entdeckt der Kommissar, dass sie eine verheiratete Frau sei: „Und ihr Mädchennahme?" „Gatry". Der Kommissar ist ausser sich, forscht weiter nach, will sie an sich ziehen als seine verlorene, gesuchte Tochter. Sie stösst ihn zurück mit empörtem Aufschrei: „Weg von mir, Mörder meiner Mutter." Und entflieht, verschwindet in dem Gewühl auf dem Korridor vor dem Amtszimmer. Vergeblich sucht Gatry sie wiederzufinden. Da taucht Gagneur auf, fragt nach Gatry, übergibt ihm Henriettens Brief, der liest ihn, ist ausser sich. Nach weiteren Erkundigungen lässt er auch Leon den Brief lesen. Henriette bekennt darin, dass sie Gatry geliebt habe, ihre Liebe verwandelte sich aber in glühenden Hass, als er sie nicht beachtete und die Schwester heiratete. Die Verschmähte schwor furchtbare Rache. Während einer längeren Reise Gatrys redete sie der Schwester ein, er verrate sie und liebe eine andere. Verzweifelnd tötete sich die Getäuschte. Das genügte der rachsüchtigen Henriette nicht. Sie erzog Gatrys Töchterchen im Hasse gegen den Vater, der am Tod der Mutter schuld sei, und schliesslich veranlasste sie Rosa, sich an Louis anzuschliessen, was zu ihrem Verderben ausschlagen musste. Louis habe sie dann auch verlassen. Nun, erklärte triumphierend die Tante, sei ihre Rache gesättigt, Gatry möge aber wissen, dass er all dies Leid der von ihm verschmähten Henriette verdankte. Gagneur ist tief bewegt. Er empfindet grösste Sympathie mit dem Polizeikommissar und macht sich auf, ebenso wie dieser Rosa zu suchen. Das Zusammenwirken beider geht um so eher, da der Kommissar mit der politischen Polizei nichts zu tun hat. Rosa selbst ist aus dem Kommissariat davongeeilt, von dem einzigen Drang getrieben, ihrem Leben ein Ende zu machen. Sie eilt zur Seine, doch unwillkürlich hält sie am Ufer einen Moment inne, ehe sie ihrem Dasein ein Ende setzt. Ein junges Mädchen bemerkt sie, ahnt ihr Vornehmen, spricht sie gütig an, so mütterlich und freundlich, dass Rosa ohne Rückhalt ihr Herz vor ihr ausschüttet. Das hilfreiche Mädchen, eine Lehrerin namens Helene, bekennt sich als Kommunistin. „Wie", ruft Rosa, „Sie sind auch eine Kommunistin? Kennen Sie vielleicht Louis Noir?" Das ergibt eine sehr peinliche Auseinandersetzung, denn Louis hat Helenens Herz gewonnen und bei ihr gefunden, was ihm die unwissende Rosa nicht geben konnte. Entsetzt über diese Offenbarung, stürzt sich diese nun doch ins Wasser, doch 192

Helene eilt ihr nach und entreisst in furchtbarem Ringen dem Flusse sein Opfer. Die beiden bleiben vereint. Es kommt der Krieg, die Belagerung, die Commune, ihr militärischer Zusammenbruch. Auf einer der letzten Barrikaden, die noch verteidigt werden, kommandiert Louis Noir selbst die Communards. Der Angriff der Versailler naht, der sicheren Tod für die Kämpfer auf der Barrikade bedeutet. Louis Noir eifert seine Genossen an, den Heldentod nicht zu fürchten. Da taucht Leon Gagneur auf und fordert sie auf, den unnützen Widerstand aufzugeben. Solange Aussicht auf Erfolg war, habe auch er stets mitgekämpft, aber der Übermacht einmal zu weichen, mit der Absicht, den Kampf später fortzusetzen, sei keine Schande. Louis, wütend darüber, fordert seine Kameraden auf, Leon festzunehmen und als Verräter zu erschiessen. Da tauchen im entscheidenden Moment zwei Mädchen auf, Rosa und Helene, und verhindern die Exekution. Erschüttert sieht Louis die beiden vereint, von deren Zusammenleben er nichts gewusst. Er bittet beide um Verzeihung, die ihm zuteil wird. Er ist so weich geworden, dass er jetzt, da Helene es auch befürwortet, seine Genossen auffordert, Gagneur zu folgen, der einen versteckten Weg weiss, auf dem sie entkommen können. Louis bittet Leon, die Sorge für Rosa zu übernehmen. Sie sollten vorausgehen, er selbst werde ihnen folgen, nachdem er sich mit Helene ausgesprochen. Aber er folgt nicht, er bleibt und Helene mit ihm. Er sieht keine Möglichkeit gedeihlichen Lebens mehr vor sich. Er und Helene begrüssen die anmarschierenden Versailler mit dem Ruf: „Es lebe die Commune!" und sterben, von den Kugeln der Feinde durchbohrt. Die Versailler ziehen dann weiter. Gagneur, der zurückkehrt, um die Freunde zu suchen, findet sie sterbend, aber trotzig und für die Sache des Sozialismus begeistert. So gehen sie dahin. Gagneur selbst, der Rosa über ihren Vater aufgeklärt, führt sie ihm zu und nimmt Abschied von ihr, um in England im Exil zu leben, resigniert für seine Person, voll ungebrochener Hingabe für die Ausgebeuteten und Geknechteten. Dies die Erzählung. Sie zeigt, wie wenig ich noch vom Sozialismus wusste, sie handelt nicht von den Anschauungen, sondern von den persönlichen Schicksalen zweier junger Männer, die mir allerdings dadurch interessant erscheinen, weil sie ihr ganzes Leben der Sache der Arbeiter, des Sozialismus geweiht haben. Mit der Vorlegung dieser Erzählung überraschte ich meine Mutter. Meine ganzen inneren Kämpfe wegen des Sozialismus hatte ich sie ebensowenig wie sonst jemand in meiner Familie merken lassen. War ich doch nicht sicher, dass sie nicht ebenso wie alle anderen die 193

Idee, die mich so fesselte, einfach als lächerlichen Unsinn abtun würden. Jetzt aber war ich zu der Entscheidung gekommen, auf welche Seite ich mich zu schlagen hätte. Als Darlegung meines Entschlusses überreichte ich die Erzählung meiner Mutter. Ich war sehr froh und glücklich, dass sie mich nicht nur nicht auslachte, sondern meine Arbeit sehr ernst nahm und erklärte, sie verrate entschieden Talent. Allerdings sah sie die Erzählung nur auf das belletristische Talent hin an. Der Sozialismus selbst war ihr etwas, das sie noch nicht beschäftigt hatte, worüber sie kein Urteil besass. Das wurde jetzt freilich anders. Durch mich angeregt, begann auch sie über politische und soziale Fragen nachzudenken. Dazu trug viel der Umstand bei, dass meine Schwester im Juni 1873 geheiratet hatte. Die letzten Jahre hindurch war meine Mutter fast ausschliesslich durch die heiklen Herzensprobleme beschäftigt worden, die für ihre heranwachsende Tochter erstanden. Jetzt war diese aus dem Hause, der mütterlichen Obhut entrückt, und zwar vollständig, denn der neue Schwiegersohn suchte jeden Einfluss der Schwiegermutter auf seine junge Gattin aufzuheben. Er schloss diese nach Möglichkeit von uns ab. Um so mehr bekam meine Mutter den Kopf frei für andere Probleme, nicht bloss persönliche oder familiäre, sondern umfassende gesellschaftliche. Doch eine Führerin auf dem Weg zur Lösung dieser Probleme konnte sie mir nicht werden. Dazu reichte ihre rein aesthetische Vorbildung nicht aus. Anderseits vermochte ich wiederum nicht ihr Führer zu werden auf einem Gebiet, auf dem ich mich selbst nur suchend und tastend bewegte, mit dem Gefühl gänzlicher Unsicherheit. Bei alledem gewann ich doch mit der Zeit bestimmtere Vorstellungen. Das bezeugte meine nächste Arbeit, wieder ein Roman, den ich im Winter 1873/74 verfasste. Auch dieser Roman spielt in Frankreich, dem seit der Commune mein ganzes Interesse galt. Ich liess ihn in der Gegenwart spielen, im Jahre 1873, der Zeit des Staatsstreichs, der im Mai dieses Jahres Thiers stürzte, Mac Mahon zum Präsidenten der Republik machte, diese aufs äusserste gefährdete. Ort der Handlung: Bretagne, ein altes Schloss, das einer hocharistokratischen Familie gehörte, völlig verarmt, dem Marquis von Rambouillet. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, durch die es sich zu sanieren hofft: durch eine reiche Heirat der Tochter Camilla und durch einen Aufstieg des Sohnes Raoul zu einer hohen Stelle in der katholischen Kirche, in deren Klerus er eintreten soll. Die beiden durchkreuzten diese Pläne dank dem Einfluss, den ein Schullehrer auf sie gewinnt, abermals Leon Gagneur, ein ehemaliger Communard. Camilla lernt ihn lieben. Raoul wird durch ihn zum Sozialisten. Daneben fesselt 194

diesen ein kleines Cousinchen Laura, die Tochter eines Bruders des Schlossbesitzers, der eine Bürgerliche geheiratet hat und völlig verarmt gestorben ist. Aus Mitleid war die Waise vom Onkel aufgenommen und erzogen worden. Wie immer, so verlaufen auch diesmal die Wege wahrer Liebe nicht glatt. Leon liebt Camilla ebensosehr wie sie ihn. Aber ihn beseelte derselbe puritanische Kampfgeist wie seinen Namensvetter im vorhergegangenen Roman. Sobald er merkt, dass Camilla ihm günstig gestimmt ist, erklärt er ihr, dass er als Kämpfer für den Sozialismus verpflichtet sei, allein seinen Lebensweg zu gehen: „Denn im Kampf gegen die Gesellschaft muss man alles hinter sich lassen, was das Leben angenehm macht. Wer sich danach sehnt, der ist verloren. Auch ich habe allen Freuden entsagt. Nie werde ich ein liebes Weib in meinen Armen halten, nie werden meine Augen sich wohlgefällig an einer Kinderschar, die mein eigen, weiden, niemand wird mich pflegen, wenn ich krank bin, ein einsamer, verlassener Greis werde ich sterben. Denn in der Schlacht darf nichts den Mann beschweren, keine Sorge, keine Rücksicht auf Weib und Kind, denen er sich erhalten müsse, die den Hungertod stürben, wenn er sich nicht dem Feinde beugte." Gebrochen durch dieses Geständnis, gibt Camilla dem Drängen der Eltern nach, die sie beschwören, einen reichen Freier zu akzeptieren, um den Ruin der Familie aufzuhalten. Sie verlobt sich mit dem Grafen Philipp de Lagueronniere, einem Kavallerieoffizier, der um sie wirbt. Obwohl Leon auf sie verzichtet hat, gerät er doch über diese Wendung ausser sich. Er flieht die Menschen, sucht die Einsamkeit. Bei seiner Wanderung überrascht ihn ein Sturm. In einer Hütte, in die er flüchtet, trifft er den Grafen Philipp, der ebenfalls dort Schutz sucht, und seinen Freund Raoul. Die drei geraten in einen Disput. Eben war die Nachricht gekommen, dass Mac Mahon Staatsoberhaupt geworden sei, die monarchistische Restauration nicht auf sich werde warten lassen. Dazu die Erregung wegen Camillas Verlobung. Leon spricht beleidigend über das Militär, lehnt jedoch ein Duell mit dem Offizier ab. Der Graf sucht nun auf anderem Weg Genugtuung: er denunziert den Mann, der so gefährliche Reden führt. Leon wird verhaftet. Kurz vorher hatte Raoul Laura seine Liebe gestanden. Sie aber will nicht verraten, wie sehr sie ihn wiederliebt. Sie weiss, dass seine Eltern alle ihre Hoffnungen darauf setzen, dass er die Laufbahn eines katholischen Geistlichen einschlägt, und sie fühlt zu viel Dankbarkeit, als dass sie die Ursache des Scheiterns der Pläne des alten Vaters werden möchte. Sie weist Raoul ab. Verzweifelt darüber erfährt dieser auch noch, dass sein teurer Freund Leon in Gefahr schwebt, er sucht ihn auf, um ihm zur Flucht zu verhelfen. Doch 195

erreicht er dabei nur, dass er ebenfalls verhaftet wird. Die beiden erwartet unter dem neuen Regime harte Strafe, die Deportation nach Neu-Caledonien. In Ermangelung eines andern festen Gebäudes in der Gegend werden die Gefangenen in einem kerkerähnlichen Raum des Schlosses untergebracht. Von dort soll eine angeforderte Kavallerie-Eskorte sie abholen. Ehe sie kommt, erscheint der alte Marquis Rambouillet bei seinem Sohn, ihn zu bitten, er solle den revolutionären Anschauungen entsagen, die er geäussert. Dann werde der Vater sich für ihn verwenden und den Beschuldigten leicht frei kriegen. Raoul lehnt jede Unterwerfung ab. Gleichzeitig meldet sich bei Laura der Unterpräfekt des Arrondissements, Baron de Maury, ein gewissenloser Streber, aber sterblich verliebt in die Nichte des Marquis. Er teilt ihr mit, Leon und Raoul seien dem sicheren Untergange geweiht, wenn es ihnen nicht gelinge, diese Nacht noch zu entfliehen. Das könne er ermöglichen. Er werde es jedoch nur unter einer Bedingung tun, wenn sie sein Weib werde. Und zwar sofort. Der Schlosskaplan sei bereit, die Trauung zu vollziehen. Den Tod im Herzen, willigt Laura schliesslich ein, um den Geliebten zu retten. Doch kaum ist die Trauung vollzogen, da reitet die Eskorte im Schlosshof ein. Maury erklärt, nun sei jede Befreiung unmöglich. Darauf flieht ihn Laura mit der Erklärung, er werde sie nie wieder zu sehen bekommen. Maury versucht nun, ob es sich nicht doch erreichen liesse, den Gefangenen zur Flucht zu verhelfen. Er lässt die Schildwachen in einer Weise aufstellen, die eine Flucht ermöglicht. Nur die verschlossene Tür des Kerkerzimmers hindert noch das Entkommen. Der Baron besitzt die Schlüssel zu dieser Tür. Nachts erscheint er dort, doch zögert er noch, die Tür zu öffnen, zerrissen durch den inneren Kampf seiner Liebesgier mit Streberei und Feigheit, denn seine Karriere würde bei der neuen Regierung durch das Entkommen so gefährlicher Elemente sicher nicht gefördert werden. Selbst wenn man nicht darauf kommen sollte, dass er es sei, der die Flucht ermöglichte. Bei seinem Zögern überrascht ihn eine alte Dame, eine Geistesverwandte von Leon und Raoul, die seit Jahren fern vom Schloss lebte, jetzt aber, angezogen durch die Vorkommnisse, herbeieilt, um ihre Freunde zu retten. Sie besitzt einen Schlüssel, der das Schloss des Kerkerraums öffnet. Wie sie den Baron erblickt, geht ein Schauder durch ihren Körper: dieser Mann hatte vor Jahren ihre Tochter verführt, verlassen, einem frühen Tode ausgesetzt. Jetzt sieht sie ihn wieder. Jetzt will sie die Tochter rächen in wildem Wahnsinn, der sie befällt. Sie stösst ihm ein Messer in die Brust, öffnet dann die Kerkertür und lässt die Gefangenen heraus. Darauf schliesst sie sich mit dem Getöteten dort ein. Bei ihrem wahnsinnigen Tun fällt die Petroleumlampe, die sie trug, 196

zu Boden, das Feuer breitet sich aus. Die Wahnsinnige geht in dem Brand zugrunde, der das Schloss zerstört. Schon vorher hatten es die Befreiten verlassen und den Weg zur nahen Meeresküste eingeschlagen. Unterwegs überholen sie Laura, die vor ihrem fürchterlichen Gemahl geflohen war. Sie erfährt dessen Tötung und sie ist nun bereit, das Schicksal des armen Flüchtlings zu teilen, dessen Hand sie früher zurückgewiesen, solange er von den Eltern als Anwärter auf den Kardinalshut betrachtet wurde. Die drei Flüchtlinge erreichen ein Fischerboot, das sie nach England bringt. Camillas Verlobung hat gleichzeitig ein Ende gefunden, nach einem Zusammenstoss mit dem Grafen, in dem sie ihm ihre Verachtung wegen seiner Polizeidienste ausdrückt. Dieser geht nach Spanien zu den Carlisten und findet dort im Bürgerkrieg auf Seite der schwärzesten Reaktionäre seinen Tod. Gegenüber der ersten Erzählung zeigt diese zweite einen gewissen technischen Fortschritt. Sie ist reicher an Charakteren, an Situationen, Verwicklungen. Bei alledem freilich noch immer sehr naiv und überschwenglich. Erfüllt von einem Pathos, das die heutige Jugend nüchterner Sachlichkeit hell auflachen liesse, wenn man es ihr vorsetzte. Auch ich lächle heute darüber, wenn ich meine damaligen Ergüsse wieder lese. Und doch erfüllen mich heute noch dieselben Leidenschaften wie damals. Sie haben mich nie verlassen, nur äussere ich sie weniger ungestüm. Für meine Aufgabe hier kommt diese Erzählung vor allem deshalb in Betracht, weil ich in ihr an einigen Stellen schon eine Darstellung meiner damaligen sozialen Ziele gebe, zu deren Formulierung ich ohne jede Führung gekommen war. Die vier jungen Idealisten meines Romans disputieren eifrig die Probleme des Sozialismus. LeonGagneur tritt dabei als Lehrer auf. Auf Camillas Frage, was er unter den Sozialisten verstehe, den „wir", zu denen er sich zählt, entgegnet er: „Sie fragen, wen ich unter den ,wir' verstehe. Ich meine keinen Stand, keine Klasse damit. Weder der Arbeiter noch der Bauer, auch nicht der Adel oder die Geistlichkeit allein sind berufen, die Gesellschaft zu reformieren, sondern alle ohne Unterschied — kurz, die Gesellschaft selbst, vor allem der Künstler, der die Natur studiert und versteht. Er kann uns am besten zur Natürlichkeit zurückführen. Je künstlerisch gebildeter die Menschheit ist, desto näher ist sie ihrem Ziele. Und wahrlich, der Anlauf dazu ist schon genommen. Schon sind Poesie und Kunst sehr verbreitet, jeder kennt jetzt die Werke der Dichterheroen seiner Nation, alles strebt nach ästhetischer Bildung und dadurch wird die Menschheit veredelt und vervollkommnet. Seht Athen an, das soll unser Vorbild sein. Warum steht es so 197

erhaben da, warum hat es so Grosses geleistet für unsere Entwicklung? Weil seine Bürger unter diesem lachenden Himmel, der ihnen alles zum Leben Nötige ohne grosse Mühe bot, Zeit hatten, sich ganz den Beschäftigungen des Geistes zu widmen, so dass bald jeder Athener [ästhetisch] gebildeter war als mancher Kunstkritiker unserer Zeit. Dabei gab es keine Ständeunterschiede, alle waren sich gleich — kurz, ein Athen in seiner Blütezeit ist mein Ideal eines Staates. Und können wir das nicht erreichen? Noch ist die Handarbeit überwiegend, aber es wird eine Zeit kommen, wo die Maschinen jede physische Arbeit verrichten werden, dann können auch wir uns ganz der geistigen Tätigkeit widmen, können ebenso glücklich werden wie die Athener und dieses Glück kann ein dauerndes werden, wenn wir unsere Bürger nicht nur wie Attika ästhetisch, sondern auch moralisch bilden, auf dass sie nicht nur für das Schöne, sondern auch für das Edle begeistert sind. Denn politisch und geistig frei, wird die Gesellschaft sich selbst reformiert haben, jeder wird dann handeln können, wie er will, keinen Zwang wird es geben, Anarchie wird herrschen. 1 Anarchie, so gehässig das Wort auch klingen mag, die einzig gerechte Staatsform, freilich dann erst, wenn jeder das Beste um seiner selbst willen anstrebt, der Egoismus auf der Welt verschwunden i s t . . . Schon gibt es Männer, die darauf hinarbeiten, und so mag uns der Gedanke trösten, dass wenigstens unsere Nachkommen frei und glücklich sein werden. E s gibt aber leider auch Männer, die in vollkommener Verkennung der Ziele der Menschheit einen Staat gründen wollen, in dem zwar ebenfalls alle gleich sind, in dem aber die physische Arbeit die geistige verdrängen soll, die einen Staat schaffen wollen, roh und ungebildet, wie Sparta gewesen. Das sind die sogenannten Kommunisten. E s wird nicht lange dauern, so werden diese Gegensätze aufeinanderstossen und —ist es nicht merkwürdig, dass sich alles wiederholt? — noch einmal werden wir einen Kampf zwischen Jonismus und Dorismus erleben, hoffen wir, dass er für ersteren nicht so unglücklich ausfallen möge wie der Peloponnesische Krieg." Auf meine Auffassung des perikleischen Athen sei hier nicht weiter eingegangen. Das würde zu weit führen. Sie war sicher falsch. Aber nicht mehr als jene, die ein sehr gelehrter Kommunist vor wenigen Jahren noch verkündete, Athen unter Perikles sei ein richtiger Sowjetstaat gewesen. Wichtiger ist hier, dass ich 1873 noch nicht vom proletarischen Klassenkampf, sondern von der Kraft der Kunst die Erneuerung der Gesellschaft erwartete. Von Nationalökonomie verstand ich noch nichts, um so mehr hatte mich Schillersches Pathos und 1

Die Unterstreichung findet sich im ursprünglichen Manuskript nicht. B. K.

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Ethos erhoben und begeistert. Allerdings konnte ich nicht blind sein für die Notwendigkeiten der materiellen Poduktion. Aber noch nahm ich an, dass die Maschine für alle Menschen die Befreiung von der Arbeitsfron bringen werde. Dass dies der schrankenlose Kapitalismus in der Form der Zunahme demoralisierender Arbeitslosigkeit vieler Arbeiterschichten, nicht zunehmender Verkürzung der Arbeitszeit aller Arbeiter vereitelt, sah ich nicht voraus. Ohne es zu wissen, träumte ich einen Traum, den schon Aristoteles vor mir geträumt. Dessen Richtigstellung durch Marx (Kapital, I, Volksausgabe Seite 352) war mir völlig unbekannt. Als Sprössling einer Künstlerfamilie kam ich zu meiner Erwartung, die Kunst werde die sozialistische Gesellschaft herbeiführen, von diesem Standpunkt aus war es natürlich, dass ich mich für die Anarchie begeisterte. Die geistige Produktion braucht unbeschränkte Freiheit. Das war meine Ansicht nicht nur 1873, ich verfocht sie auch 1902 in meinen Vorträgen über die soziale Revolution, wo ich schrieb: „Kommunismus in der materiellen Produktion, Anarchismus in der geistigen, das ist der Typus der sozialistischen Produktionsweise." [II. Am Tage nach der sozialen Revolution] (Seite 45). Ohne volle Freiheit ist ein Gedeihen der geistigen Produktion nicht möglich. Darum erscheint mir heute Sowjetrussland nicht als herrliche Erfüllung, sondern als widerliche Karikatur des sozialistischen Ideals. Auch diese Auffassung nahm ich 1873 bereits vorweg, in meiner Polemik gegen die „rohe und ungebildete Form" des Sozialismus und Kommunismus. Diese Polemik ist nicht unvereinbar mit dem Kommunistischen Manifest, das erklärt: „Die revolutionäre Literatur, welche diese ersten Bewegungen des Proletariats begleitet, ist dem Inhalt nach notwendig reaktionär. Sie lehrt einen allgemeinen Asketismus und eine rohe Gleichmacherei." Marx und Engels Hessen sich durch die revolutionäre Form über den notwendigerweise reaktionären Inhalt der Literatur als primitiven Gleichheitskommunismus nicht täuschen. Aber musste mein Anarchismus mich nicht ins bakunistische Lager führen, in vollsten Gegensatz zu Marx bringen? Keineswegs. Auch Marx und Engels hielten das Aufhören des Staates für unvermeidlich. Ihr grosser Gegensatz zu Bakunin bestand darin, dass dieser jenen Zustand, den sie als Endergebnis der sozialistischen Entwicklung betrachteten, zu ihrem Ausgangspunkt machen wollte. Marx und Engels hielten die Eroberung der Demokratie für eine Vorbedingung des Aufstiegs der Arbeiterklasse zu politischer Macht und zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Bakunin dagegen wollte gar keinen Staat. Auch nicht einen demokratischen. Er wollte mit der Zertrümmerung des Staates beginnen. 199

Gerade in der Zeit, in der ich zu sozialistischem Denken kam, tobte der Streit zwischen Bakunin und Marx besonders stark. Ich erhielt von ihm Kunde durch die bürgerliche Presse. Diese Quelle erschien mir zu zweifelhaft, als dass ich auf sie hin mir ein Urteil über die Streitenden angemasst hätte. Ich schwieg still. Wohl begeisterte ich mich theoretisch für die Anarchie, aber ich erwartete sie erst in einer fernen Zukunft. Nie aber habe ich ein Wort zugunsten Bakunins geschrieben. Trotzdem trennte noch eine ganze Welt meinen ethisch-ästhetischen Gefühlssozialismus von dem historischen Materialismus eines Karl Marx. Selbst zwei Titanen wie Marx und Engels konnten zu ihrer Geschichtsauffassung erst kommen durch ihren Aufenthalt in Frankreich und England nach dem gründlichen Studium der besten Sozialisten und Ökonomen ihrer Zeit, der Geschichte der französischen Revolution sowie St. Simonistischer Historiker und der Geschichtsphilosophie Hegels. Bloss aus sich heraus hätten sie die Auffassung, die sie kennzeichnet, nicht schaffen können. Ich aber war kein Titan, lebte in Österreich, abgeschnitten von jeglicher sozialistischer und revolutionärer Literatur. Im Jahre 1873 wurde ich entschiedener Sozialist. Aber wenn Jakob sieben Jahre diente, um seine geliebte Rahel zu gewinnen, so hatte ich noch sieben Jahre im Dienst des Sozialismus tätig zu sein, bis es mir gelang, vollkommene marxistische Einsicht zu erlangen. b.

Abhandlungen.

Soviel Raum ich auch in meinen Erzählungen den sozialen Ideen, die mich bewegten, widmen wollte, er genügte bei weitem nicht, „die Fülle der Gesichte" aufzunehmen, die mir damals zuströmten. Ich suchte nach anderen Gelegenheiten, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Vom 25. April 1873 bis 16. Februar 1875 führte ich ein Tagebuch, in dem ich bunt durcheinander Liebesschmerzen, Entwürfe und Untersuchungen aufgezeichnet habe. Am 28. Dezember 1873 z.B. schreibe ich dort: „Ich habe da ein Theaterstück im Kopf, sehr radikal und kommunistisch natürlich, da [ich] aber jetzt keine Zeit habe (ich hatte für das Abiturium zu studieren. K.), will ich mir bloss notieren, was ich bis jetzt habe, damit ichs nicht vergesse." Vorher schon, am 15. Juli, schrieb ich: „Mit dem Dichten gehts nicht, werfen wir uns lieber auf die hohe Politik. Da man mir Verschwommenheit und Unklarheit meiner Ideen vorwerfen könnte, will ich einmal versuchen, sie in das Gebäude einer Verfassung zu bringen." Darauf liess ich den Entwurf meines Ideals einer Staatsverfassung folgen, natürlich einer demokratischen Republik. Doch forderte ich damals schon eine Art Proportionalwahlrecht sowie obligatorischen Besuch nicht 200

nur der Volksschule, sondern auch der Mittelschulen mit Unterstützung der ärmeren Schüler von Staats wegen. Jegliches Schulgeld ist natürlich aufgehoben, „Lehrmittel überall unentgeltlich und in reichlichem Masse geboten" usw. Solchen kühnen Forderungen liess ich dann freilich immer wieder die düstersten Ahnungen folgen. So am 18. Juli: „Nie werde ich im Kreise meiner Familie sitzen, neben ihr, meinem Weibe, umringt von blühenden Kindern — das werde ich niemals erleben. In Kerkermauern, im Kampf mit der Schlechtigkeit, vor den Häschern der Tyrannen flüchtig, werde ich nach einem ruhelosen Leben als einsamer, verlassener Greis sterben, vielleicht im Kerker oder früher noch auf der Barrikade oder vor einem Kriegsgericht als Hochverräter." Meiner Mutter gegenüber sprach ich einmal die etwas hoffnungsvollere Ansicht aus: „Ich sterbe entweder als Minister oder auf dem Galgen." Nach Solon ist niemand vor seinem Tode glücklich zu preisen. Auch ich weiss trotz meiner 82 Jahre noch nicht, was mir, meiner Familie, meinen Genossen in der heutigen Lage bevorsteht. Bisher aber darf ich sagen, dass meine Prophezeiungen persönlicher Zukunft nicht in Erfüllung gegangen sind. Hoffen wir, dass sich um so mehr die hohen Erwartungen verwirklichen, die ich für die Sache des Sozialismus damals schon hegte. Bei Tagebuchnotizen und Romanen blieb ich nicht stehen. Es wurde mir ein Bedürfnis, mich ausführlich und systematisch mit den Problemen auseinanderzusetzen, die damals in solcher Fülle an mich herantraten, sie von den verschiedensten Seiten zu betrachten und in ihren Konsequenzen zu verfolgen. Das ist seitdem der eigentliche Inhalt meiner ganzen Lebensarbeit geworden. Sie fand ihren ersten Ausdruck in einer Reihe von Artikeln und Abhandlungen, die ich niederschrieb, nicht um sie zu veröffentlichen, daran dachte ich bei meinen ersten Artikeln ebensowenig wie bei meinen Romanen. Sie erschienen mir zu unbedeutend. Und ich schrieb sie nieder ohne jede Kenntnis der einschlägigen Literatur, wusste nicht, was neu an meinen Ausführungen sei, was in ihnen nicht schon längst Gefundenes wiederhole, was nicht bereits widerlegt sei. Also nur für mich selbst schrieb ich meine Gedanken nieder, weil ich das dringende Bedürfnis hatte, sie zu äussern. Ich hatte keine Gelegenheit, das mündlich zu tun, denn niemand in meiner Umgebung hätte verstanden, was mich bewegte. Ich ging aber auch damals mündlichen Auseinandersetzungen möglichst aus dem Wege, weil mir das mündliche Verfahren schwerfiel. Ich fand nicht gleich immer den glücklichsten Ausdruck für meine Gedanken, verhedderte mich oft, ärgerte mich dann über mich selbst, geriet in Verlegenheit, obwohl 201

ich mir der Überlegenheit meiner Sache bewusst war. Beim schriftlichen Verfahren dagegen durfte ich mir jeden Satz reiflich überlegen, bis ich eine Fassung gefunden, die mir die glücklichste schien; ich konnte ändern, streichen, neu schreiben, bis das Ganze mir genügte. Alles das war bei mündlicher Auseinandersetzung unmöglich. Dazu kam, dass ich mich stets vor allem als Forscher fühlte, nicht als Advokat meiner Sache. Die Forschung gedeiht aber nur in der Einsamkeit, in der Stille, nicht im Strom der Welt. Nicht auf dem Markt, dem Forum, auf dem allein die forensische Beredsamkeit sich entwickeln kann. Natürlich spielen dabei, ob einer das schriftliche oder mündliche Verfahren vorzieht, auch angeborene Begabungen und Schwächen eine Rolle. Und ausserdem auch soziale Verhältnisse. Ein Proletarier, dem bloss Volksschulbildung zuteil wird, kommt eher dazu, als Redner wie als Schriftsteller Hervorragendes zu leisten. Vielleicht wäre auch ich bei oftmaligem Reden zu einem tüchtigen Debatter geworden. Doch kaum ein glänzender. Sicher ist, dass ich nie ein hinreissender Redner wurde, durch das geschriebene Wort viel grössere Wirkungen erzielte als durch das gesprochene und daher dem mündlichen Verfahren möglichst aus dem Wege ging, das schriftliche bevorzugte. Das galt nicht bloss für meine Anfänge, wo ich in einer verständnislosen Umgebung lebte, sondern ebensosehr, als ich in der Partei wirkte, wo es oft von Vorteil gewesen wäre, meine Anschauungen mündlich zu vertreten. Wenn ich mich einmal dazu verstand, musste ich mich durch eine besondere Situation dazu gezwungen sehen. Meine ersten schriftlichen Aufsätze legte ich alle nieder in einem Schreibbuch. Der erste unter ihnen ist vom 23. Oktober 1873 datiert. Er ist betitelt „Zu den Wahlen", entwickelt ein System der Proportionalwahl, das ich ausgearbeitet hatte und das sich von der heute vielfach eingeführten nicht sehr viel unterscheidet. Der nächste undatierte Artikel handelt „Von der sozialen Frage". Dann kam einer über die „Neue Finanzvorlage der Regierung".1 Ihm folgt einer „Über die Zivilliste".2 Am 20. Januar 1874 schrieb ich über den „Standpunkt von Kunst und Wissenschaft in der sozialen Frage", weiter am 14. Februar „Einiges über die Berechtigung sozialistischer Ideen". Am 6. April über „Die Stellung des Kommunismus zum Christentum". Dann finde ich undatiert „Vorschläge zur Abhilfe der Wohnungsnot" 3 , und endlich als letzte der Serie eine Abhandlung über „Die nationale Frage" vom 29. Oktober 1874. Datiert vom 15. Nov. 1873. B.K. Undatiert. B.K. 3 Diese sind auf einem Doppelbogen niedergeschrieben und in das Heft eingelegt. B.K. 1

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Man sieht schon aus diesen Titeln, wie verschiedenartig die Fragen waren, die mich damals in der Zwischenzeit, zwischen meinen Schularbeiten beschäftigten — ich war noch Gymnasiast. Es würde zu weit führen, von jedem dieser Artikel eine Inhaltsangabe zu machen. Ein Blick auf den ersten genügt, zu zeigen, wie ich damals dachte, wie hoch der Stand meiner sozialen Erkenntnis war. Ich fragte mich, ob nicht eine Versöhnung zwischen Kapital und Arbeit möglich sei, und antwortete: „Ich bin kühn genug, zu glauben, die Lösung dieser sozialen Frage auf der Basis der gegebenen modernen Einrichtungen gefunden zu haben, ein Mittel, das den Arbeiter befriedigt und den Besitzenden nicht erschreckt." 1 Ich nahm an, die gesuchte Lösung werde kommen durch Verwirklichung folgender Forderungen: „Gleichheit, Freiheit, bessere und allgemeinere Bildung, Entfernung des Müssigganges und allmähliches Heranziehen des Arbeiters zum Kapitalisten." Ich fordere daher föderale Republik, unbeschränkte Koalitions-, Versammlungs-, Press- und Redefreiheit, allgemeines und gleiches Wahlrecht für beide Geschlechter, Unentgeltlichkeit aller Lehranstalten, auch der Hochschulen, Stipendien für alle gut studierenden ärmeren Schüler. Daneben strenges Verbot des Müssigganges auch für die Reichen. Jeder solle eine Beschäftigung nachweisen können, die ihn ernährt. Anderseits aber solle der Staat jedem, der keine Arbeit findet, Beschäftigung verschaffen oder direkt schaffen. Ich erkannte an, dass vieles von dem, was ich da forderte, in demokratischen Republiken bereits verwirklicht sei. Zu alledem fügte ich nun als besonderen Punkt „die Heranbildung des Arbeiters zum Kapitalisten" hinzu. Wenn dies gelänge, wäre Ungeheures erreicht, „denn die Revolutionen haben ein Ende, wenn es kein Proletariat mehr gibt". Wie das erreichen? „Der Staat soll jährlich eine bestimmte Anzahl von Fabriken ankaufen, z.B. um 20 Millionen, und sie dann den in ihnen beschäftigten Arbeitern überlassen . . . Den Fabriken wird das Kleingewerbe nachfolgen, und jeder Arbeiter wird sozusagen Aktionär bei irgendeiner Werkstatt oder Fabrik sein. Die Meister und Fabriksherren brauchen deshalb nicht zugrunde zu gehen; denn wenn sie etwas können, werden sie immer gutbezahlte Stellungen finden, [aber] die Geldprotzen, die nichts gelernt haben, die sind verloren, denn natürlich gibt es dann keine Anleihepapiere mehr, da die Arbeiter selbst Aktionäre sind, also für sich, nicht für andere arbeiten. Die Börse Dieses Zitat findet sich im Original nicht wörtlich, sondern ist aus einzelnen Stellen zusammengesetzt. B . K .

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verschwindet und [mit ihr der Schwindel und] die Millionäre, es gibt nur einen Mittelstand, keinen Reichtum, keine Armut, nur Arbeiter, geistige und physische, keine Faulenzer. Der Handarbeiter werden immer weniger und weniger, der geistigen Arbeiter immer mehr und mehr, Kunst und Wissenschaft blühen prächtig und herrlich, wie noch nie, die Menschen werden zufriedener und besser, da es keine schreienden Gegensätze und Ungerechtigkeiten mehr gibt, und die Menschheit wird vorbereitet zur erhabenen Gabe der Anarchie." So komme ich auch hier wieder zur Anarchie und zur Erlösung der Menschheit durch Kunst und Wissenschaft. Ich wähnte mit meinem Vorschlag des allmählichen Übergangs der industriellen Betriebe in die Hände von Arbeitergenossenschaften — Aktiengesellschaften von Arbeitern nenne ich sie —, durch Staatshilfe etwas ganz Neues vorgebracht zu haben. Ich wusste nicht, dass ich damit nur Amerika entdeckt, dass bereits ein Menschenalter vor mir französische Sozialisten und Arbeiterfreunde ähnliche Gedanken entwickelt hatten. Und ein Jahrzehnt vor mir war Lassalle ihnen gefolgt mit seinem Vorschlag der Förderung der Produktivgenossenschaften von Arbeitern mit staatlicher Subvention. Allerdings stimmten Lassalle und ich nicht ganz überein, denn sein Vorschlag war darauf berechnet, von der bestehenden preussischen Regierung sofort verwirklicht zu werden. Neben der Staatshilfe für Produktivgenossenschaften forderte er daher nur das allgemeine Wahlrecht, das Bismarck zu gewähren bereit war. Ich dagegen meinte, mein Vorschlag würde dem Arbeiter nur helfen in einer völlig demokratischen Republik, mit einem ungemein verbesserten Schulwesen. Auch dachte ich mir die Verwirklichung meines Vorschlages in einem Ausmasse, dass nicht bloss ein paar Fabriken, sondern schliesslich die ganze Industrie erfasste. Eben darum erwartete ich jedoch auch mit voller Sicherheit nicht die Annahme, sondern die Verwerfung meines Vorschlages durch die herrschenden Klassen. Nachdem ich ihn entwickelt, kam ich daher zu dem Schlüsse: „Auf diese Weise ist es möglich, die soziale Frage befriedigend zu lösen. Aber dazu wird es nicht kommen, die Revolution ist unvermeidlich, sie ist mit beinahe mathematischer Gewissheit vorauszusehen." Ich zeige dann an der Hand der Geschichte, das die herrschenden Klassen in ihrem Übermut und ihrer Dummheit nie Konzessionen machen wollten und daher immer mit Gewalt vernichtet werden mussten. Das Unheil wäre nur zu verhüten, wenn der Mittelstand sich mit den Arbeitern verbände. „Wehe ihm, wenn er das nicht tut, wenn er nichts lernen und vergessen will, wenn so viel grosse Revolutionen spurlos an ihm vorübergegangen sind! Er wird dann vernichtet werden, samt den egoistischen und faulen Millionären, den Blut204

Saugern der Volkes, die nimmer nachgeben werden, weil sie dazu zu dumm, zu übermütig, zu aufgeblasen sind." 1 „Und er ist nahe, der Tag der Rache, der Tag der Freiheit! Noch ist es Zeit umzukehren, noch ist es nicht zu spät zu friedlicher Lösung. Auf denn, habt ihr dem Millionär zugestanden, mehr als ihm gebührt, verleiht auch dem Arbeiter, was des Arbeiters ist. Er verlangt nichts als Gerechtigkeit. Gebt sie ihm, oder er nimmt sie mit Gewalt!" Diese Zuversicht zu dem nahen Sieg der Revolution mengte sich in sonderbarer Weise mit meinen düsteren Vorhersagen für mein persönliches Schicksal, aber auch mit nüchternen Untersuchungen über Detailreformen wie z.B. die Abhilfe der Wohnungsnot. Aber freilich fehlte nicht nur mir eine feste theoretische Basis, die kapitalistische Gesellschaft selbst und ihre Organe schwankten unsicher hin und her. Frankreich suchte seine Armee wieder aufzurichten, die 1870 so furchtbar geschlagen worden, und es fing bereits an, einen Bundesgenossen gegen Deutschland zu suchen. Ein Präventivkrieg der Deutschen gegen die Franzosen, ehe sie wieder erstarkt waren, schien vor der Türe zu stehen. Er wäre 1875 vielleicht wirklich ausgebrochen, wenn nicht Russland, England und Italien Bismarck zum Frieden mahnten. Ein Krieg hätte für den Unterlegenen wieder die Revolution bedeutet. Auf der anderen Seite lebte die Welt 1873 noch unter den Einwirkungen der Prosperität, die bis zum Mai dieses Jahres dauerte, und zeigte sich doch schon erfasst vom Katzenjammer der Krise, die in der zweiten Hälfte des Jahres zu wüten begann. In dieser widerspruchsvollen Situation bildeten sich damals meine politischen und sozialen Anschauungen. Wie umstürzlerisch sie waren, dafür noch einige Belege aus anderen meiner Artikel jener Zeit. Am 14. Februar 1874 wetterte ich gegen die Riesenreiche. „Je grösser der S t a a t . . . um so unglücklicher [die] Bevölkerung, denn desto mehr widerstreitende Individualitäten werden in das eine Joch des Gesetzes gezwängt. Zertrümmert diese Reiche, bildet Kantone aus ihnen." Vorher schon schrieb ich einen Artikel über „Die neue Finanzvorlage der Regierung", die zur Sanierung verkrachter Geldmenschen 80 Millionen fl. verausgaben wollte. Heftig kritisierte ich diesen Vorschlag und wendete mich nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen den Reichsrat, wenn er ihr folgen sollte. Ich drohte den Parlamentariern: „Meinen sie es nicht ehrlich mit dem Volke, glauben sie, ihre Stellung dazu benützen zu müssen, demselben das Fell über die Ohren zu ziehen, dann behandelt sie, wie es Schurken gebührt, an die Laterne mit ihnen!" Gleich darauf erklärte ich in einem Artikel über die Zivilliste, „dass die i

Auch dieses Zitat ist bis hierher nicht ganz wörtlich. B.K.

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Souveräne entweder die Gebote ihres Brotherren, des Volkes, befolgen [sollen] oder auf die Zivilliste verzichten müssen . . . Wollen die Monarchen... gleich Räubern auf ihre Macht trotzend, als Schmarotzer am Tische des Volkes sich breitmachen, dann werft sie hinaus, die ungebetenen Gäste." Das war sicher sehr ungeschminkt gesprochen. Ein Glück für mich, dass ich so nur zu meinem Schreibtisch sprach, ähnlich wie 200 Jahre vor mir der kommunistische Pfarrer Meslier in Frankreich. Doch kam dieser sein Leben lang nicht dazu, seine flammenden Anklagen gegen Monarchen und Pfaffen offen aussprechen zu können. Mir ging es im allgemeinen doch besser. Augenblicklich allerdings bin ich wieder dazu verurteilt, zum Schreibtisch zu reden, wenn ich aus meinem Herzen keine Mördergrube machen will. c.

Internationalität.

Die Pariser Commune wies mir den Weg zum Sozialismus. Zu gleicher Zeit machte sie meinem Nationalismus ein Ende. Mein tschechisches Nationalbewusstsein war auch in der Zeit seiner grössten Intensität, in der Zeit zwischen 1868 bis 1870, nie mit Nationalhass verbunden gewesen, also mit Deutschenhass. Das wurde schon dadurch verhindert, dass mir so teure Wesen wie meine Mutter und mein Grossvater Jaich deutsch waren. Mein Nationalbewusstsein war im Grunde nur demokratisches Bewusstsein gewesen, das Verlangen für die Nation, zu der ich mich zählte, nach Selbstverwaltung, nach Aufhören jeder Knechtung. Das schloss nicht aus, sondern bedingte, dass ich dasselbe für die andern Nationen auch forderte. Dabei hatte ich zunächst vornehmlich die Nationen Österreichs im Auge, neben den Tschechen die Polen, Italiener, Kroaten, auch die Ungarn, sogar noch nach dem Ausgleich von 1867, insofern sie die Kossuthsche Tradition fortsetzten, deren Ziel die Auflösung der Habsburger Monarchie war. Seit dem deutsch-französischen Krieg gehörte mein politisches Interesse nicht mehr Österreich allein, sondern der ganzen Welt, vor allem aber Frankreich, der Republik. Dann in dem Grade, je mehr ich Sozialist wurde, um so mehr auch Deutschland, dessen Sozialdemokratie kraftvoll emporwuchs, was selbst die bürgerliche Presse erkennen liess. War früher mein heissester Wunsch die Aufrichtung einer böhmischen demokratischen Republik gewesen, so erweiterte sich dies Ideal seit der Pariser Commune immer mehr zu dem einer universalen Demokratie, die mindestens alle Kulturländer umfassen sollte. Die national beschränkte Demokratie wurde mir nun zu eng, ich verlor nicht nur mein Interesse für sie, ich begann sie als hemmende Fessel zu empfinden, die ich abzustreifen suchte. 206

Mein Nationalismus verfiel dabei zunächst ins entgegengesetzte Extrem. Mein Denken war stets auf radikale Lösungen eingestellt. So wurde ich aus einem Nationalisten geradezu ein Anti-Nationalist, oder vielmehr unterschied ich noch nicht zwischen Anti-Nationalismus und Internationalismus. Allerdings wurde ich nicht ein Gegner des besonderen tschechischen, sondern eines jeglichen Nationalbewusstseins. Ich erkannte damals schon den Unterschied zwischen Nation und Rasse. Nur die letztere sei von Natur aus gegeben, die Nation dagegen ein Produkt historischer Entwicklung. Aber ich vergass oft, dass die Schöpfungen der geschichtlichen Entwicklung nicht etwas Künstliches, Konventionelles darstellen, das man nach Belieben abstreifen kann, sondern mit derselben Notwendigkeit gegeben sind wie die Schöpfungen der Natur. Der Unterschied besteht darin, dass die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung für weit beschränktere, zeitlich wie räumlich beschränktere Gebiete gelten als die Gesetze der Natur. Innerhalb dieser Gebiete aber erhalten sie ebenso unwiderstehliche Kraft wie jene. Mit dieser Kraft muss in bestimmten Fällen auch derjenige rechnen, dem besondere persönliche Verhältnisse die Fähigkeit geben, die Bedingtheit eines historisch gewordenen Faktors erkennen zu lassen. Ich sah auch nicht, dass die moderne Idee der Nationalität eine notwendige Folge der modernen Idee der Demokratie bildet. Sie geht aus dem Bedürfnis eines jeden Volkes hervor, dass seine Angehörigen in der Volkssprache unterrichtet, verwaltet, gerichtet, kommandiert (in der Armee) werden. Bald nach der Commune machte ich gegen die nationale Idee Front. Die schon im vorhergehenden Kapitel zitierte Abhandlung über „Die soziale Frage" (Oktober 1873) 1 begann ich mit einer Polemik gegen „die Idee der Nationalität, die unglückseligste vielleicht, die es je gegeben". „Denke man nur einmal nach, was eigentlich Nationalität ist. Wohl nichts anderes als ein Produkt unzähliger Zufälligkeiten, eine Anmassung, ebenso albern und hochmütig wie die des Geburtsadels 2 ." Die Idee der Nationalität sei schädlich, weil sie die Sache der Freiheit schwäche. Die wahre Freiheit mache die Idee der Nationalität überflüssig. „Was hat Deutschland davon, dass es einig ist, als eben die Befriedigung seiner nationalen Sehnsucht? Ist es vielleicht frei dadurch geworden, dass der Mördergreis sein Kaiser i s t ? . . . Was aber Italien betrifft, so ist (es) nicht durch die nationale Bewegung einig, am allerwenigsten aber glücklich geworden. Hätte in Österreich, Rom, Neapel 1 2

Das Manuskript ist undatiert. B.K. In der Abschrift heisst es „Geburtstages". B.K.

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und den übrigen italienischen Staaten wahre Freiheit geherrscht, ich weiss nicht, ob Lombarden, Venetianer, Neapolitaner etc. sich nicht ebensowenig nach einem einigen Italien gesehnt hätten wie die Schweizer-Italiener." Ich erörtere dann weiter, welche Nachteile die nationale Idee und der Nationalstolz mit sich bringt, und komme zu dem Schluss: „Darum soll jeder dieser üblen Gewohnheit — und etwas anderes ist die Idee der Nationalität nicht — sich so bald als möglich entäussern. Ist es auch schwer, Vorurteile, die im Lauf der Jahrhunderte sich eingenistet haben, abzulegen, es gelingt, wenn man nur den Willen hat. Ist es denn nicht genug, von sich sagen zu können: ,Ich bin ein Mensch.' Muss man noch hinzufügen: ,Ich bin ein Angehöriger der und der grossen und berühmten Nation'? Wozu sich gegenseitig befehden? Das trübt den Sinn, lässt die eigenen Schäden nicht erkennen und treibt an, in der Kampfeswut Zuflucht zu nehmen zu allen Bundesgenossen, auch den schlechtesten. Das ist es, was Monarchen, Pfaffen und Soldaten noch leben lässt. Diese sind eure wahren Erzfeinde, diese bekämpft und seid einig!" Ein Jahr später, 29. Oktober 1874, verfasste ich eine Abhandlung, in der ausschliesslich „die nationale Frage" behandelt wurde. Ich wende mich dort gegen die Auffassung, dass „das Nationalgefühl" etwas in der Natur des Menschen tief Begründetes" darstelle. Es sei vielmehr „ein Produkt einer etwas vorgeschrittenen Kultur, ein Kunstprodukt". Die Kriege der Staaten und ihrer Herren seien es, denen der Nationalhass entspringe, aus ihnen sei das Nationalgefühl hervorgegangen. „Dass bei allen diesen Kriegen, Erbfolgestreitigkeiten, Römerzügen, das Volk gar keinen Gewinn hatte, dass nur dynastische Interessen es waren, um derentwillen die Völker bluteten . . . dass die Dynasten die Schuld an allem Unheil hatten, beachtete man leider damals ebensowenig wie jetzt." So kam man dahin, dass man schliesslich jeden „für einen Verräter erklärte, dem das Wohl der Nation nicht über alles ging." Das geschieht in neuester Zeit mehr denn je. „Bei Lessing, Herder, selbst noch bei Schiller finden wir wenig von dem nationalen Taumel unserer Zeit." Ich lege dann die Schäden dar, die durch den Nationalismus angerichtet werden. „Im Krieg ist die nationale Idee entstanden, im Krieg nur findet sie ihr Lebenselement — gebt uns hundert Jahre Frieden und diese sonderbare, ganz singulare Idee ist aus der Welt geschafft. Man kann sie mit vollem Recht so nennen. Alle andern Ideen haben ihre Anhänger auf dem Wege der Uberzeugung zu gewinnen versucht. Diese will sie (die Nationsgenossen. K.) durch den Zufall der Geburt begeistern lassen — wie würde man über den lachen, der

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sich die Nation auswählte, zu deren Grösse er beitragen möchte! Jede andere Idee erstrebt aber auch die Einigung ihrer Anhänger in der ganzen Welt zu gemeinsamer Arbeit... Die nationale Idee zwingt1 diejenigen, die sie begeistert, sich auf einen exklusiven Standpunkt zu stellen, sie trennt, statt zu vereinigen." Dabei trägt keine Idee mehr wie sie unter dem Schein demokratischen Geistes die Keime der Unfreiheit in sich. „Die ärgsten Despoten haben stets den nationalen Eigendünkel dazu benutzt, den Durst nach Freiheit zu übertäuben." Zum Glück für die Menschheit habe eine starke Gegenwirkung gegen den Nationalismus eingesetzt: „Ebensooft als ,national' hört man jetzt schon das Wörtchen ,international' erschallen... Unser Jahrhundert (das 19. Jahrhundert. K.) ist das Jahrhundert der internationalen Weltausstellungen, der internationalen Kongresse, der internationalen Post- und Telegraphen-Verbindungen, ja sogar der internationalen Monarchen." Ich höhne dann die Monarchenfamilien, die sich so national gebärden. Man braucht einem ihrer Söhne bloss den Thron einer fremden Nation anzubieten, und sofort gehört er ihr mit Leib und Seele an. Der preussische Hohenzoller wird über Nacht ein Rumäne, der Urwiener ein Vollblutmexikaner usw. So bilden im Grunde die Monarchenfamilien schon eine Internationale. „Also künftig nicht mehr auf die ,heimatlosen Wühler' geschimpft, ehrsamer Spiessbüger! Man könnte es auf eine königliche oder kaiserliche Familie beziehen." Damit schliesst der Artikel. Man sieht, in bezug auf Internationalität gilt für mich dasselbe, wie in bezug auf Sozialismus. Noch hatte ich methodisch und sachlich viel zu lernen, aber im wesentlichen stellte ich mich 1873 bereits auf den Boden, den ich seitdem nicht wieder verlassen habe. d.

Materialismus.

Wie in bezug auf Sozialismus und Internationalität kam ich in meiner ganzen Weltanschauung in den ersten Jahren nach der Pariser Commune bis 1874 im wesentlichen auf den Boden, auf dem ich noch heute stehe. Jeder dieser drei Faktoren befindet sich in organischem Zusammenhang mit den beiden andern. Das Wort Weltanschauung verstehe ich natürlich nicht in dem Sinne, in dem es die Condottieri unserer Zeit gebrauchen. Die paar lächerlichen Flausen, die sie vorbringen, um ihr Treiben zu beschönigen, lieben sie „Weltanschauung" zu nennen. Ich fasse die Weltanschauung aber auch nicht auf, wie das meist 1 Von Karl Kautsky im Original mit Bleistift verbessert aus „bewegt". Ich vermute, dass diese Korrektur bei der Niederschrift seiner Erinnerungen erfolgte. B.K.

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geschieht, als ein fertiges Weltbild, sondern als Methode, die Welt anzuschauen und alle die einzelnen Erscheinungen, die direkt durch persönliche Erfahrungen oder indirekt durch Mitteilungen anderer Menschen dem Forscher zum Bewusstsein kommen, zu einem widerspruchslosen Gesamtzusammenhang zu vereinigen. Wessen Anschauungsmethode sich innerhalb der Grenzen der sinnlichen Erfahrung der ,Materie' hält, den wird man als Materialisten betrachten dürfen. Wer vermeint, zu Erkenntnissen jenseits der Erfahrung dadurch kommen zu können, dass er „innere Erlebnisse", etwa Wunschträume und ähnliche aus stark empfundenen Bedürfnissen hervorgehende Ideen ausser der Erfahrung zu Quellen der Erkenntnis macht, den darf man als Anhänger einer idealistischen Philosophie bezeichnen. Zwischen diesen beiden philosophischen Richtungen gibt es eine Reihe inkonsequenter Mischformen, die z.B. für die Natur materialistisch denken, für das Gebiet der menschlichen Gesellschaft und ihrer Ethik aber idealistisch. So ist Kants Kritik der reinen Vernunft im Grunde, wenn auch nicht ausgesprochen, materialistisch, seine Kritik der praktischen Vernunft aber idealistisch. Als ich anfing, mich mit Philosophie zu beschäftigen, war mir noch das Resultat des Forschens wichtiger als seine Methode. Und dieses Resultat nahm, wie wohl für jeden Anfänger auf philosophischem Gebiet, eine sehr einfache Form an: Gott oder kein Gott?, das war die Frage. Ich kam zu philosophischem Interesse später als zu politischem. Hier wie dort aber liess ich mich zunächst von dem Strome treiben, in den ich geriet. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich in der Lage war, selbständige Schwimmversuche zu machen und unter Umständen sogar gegen den Strom zu schwimmen. Politisch war ich zunächst in den Bannkreis eines tschechischen, demokratischen, ja rebellischen Nationalismus geraten. Es dauerte fast ein halbes Dutzend Jahre, bis ich aus diesem Kreis in den eines internationalen, demokratischen, revolutionären Sozialisten gelangte, zu einer Auffassung, die in vollstem Gegensatze stand zu der meiner Verwandten und Freunde, auch meines Vaters und meines Grossvaters, der selbst meine Mutter anfangs befremdet gegenüberstand, bis es mir gelang, sie zu mir herüberzuziehen. Es hatte Jahre schwerer innerer Kämpfe bedurft, bis ich die völlige innere Sicherheit meiner neuen Überzeugung gewonnen hatte. Viel einfacher gestaltete sich meine Entwicklung auf philosophischem Gebiet. Meine Familie war nie kirchengläubig gewesen, wie ich schon bemerkt. Das traf auch für mich zu. Mit Ausnahme der zwei Jahre in Melk. Meine dortige Gläubigkeit hatte aber keine tiefen Wurzeln geschlagen, sie war hauptsächlich ein Produkt ständiger 210

Angstzustände gewesen und mit ihnen verschwunden. Dies rasche Verschwinden der Gläubigkeit wurde nicht nur durch den Geist meiner Familie gefördert, sondern auch durch den der Schule, in die ich nach Melk kam. In Melk hatte es naturgemäss nur katholische Schüler gegeben. Ebenso in der Volksschule bei Speneder. Die christliche, ja sogar die katholische Religion war da die Religion aller Welt gewesen, gewissermassen eine Selbstverständlichkeit. Das änderte sich, als ich ins Akademische Gymnasium kam, das unter den Gymnasien Wiens damals das einzige nicht-feudalen oder klerikalen Charakters war. Kein Wunder, dass die Judenfamilien Wiens, die ihre Söhne aufs Gymnasium schickten, das Akademische bevorzugten. Die Zahl der jüdischen Schüler dort war immer eine ausnehmend hohe, oft ein Drittel, mitunter fast die Hälfte der Lernenden. Und sie waren die rührigsten, vielfach die interessantesten. Mit Juden auf einer Bank zu sitzen, war für mich etwas ganz Neues. Und nicht minder neu, mit Juden Freundschaft zu schliessen. Zu den herzlichsten Freunden unseres Hauses hatte in Prag der jüdische Bankbeamte Eduard Trebitsch gehört. Ein begeisterter Kunstfreund. Aber die unangenehmsten Erinnerungen unserer Familie in Prag waren die an seine jüdischen Wucherer, die Teller, Winter, Guttenstein usw. Denen gegenüber erschien der einzige Trebitsch als blosse Ausnahme. Auf dem Akademischen Gymnasium lernte ich zum ersten Male denkende, forschende, hilfsbereite, liebenswerte Juden nicht als Ausnahmen, sondern als Massenerscheinung kennen. Da verschwanden rasch die Reste meines christlichen Bewusstseins, das ja nur noch gedankenlose Gewohnheit war. Es wurde natürlich nicht durch 1 ein anderes religiöses Bewusstsein ersetzt, ebensowenig wie an Stelle meines tschechischen Nationalismus je ein anderer trat. Jegliches religiöses Denken verlor nun alle Macht über mich. Doch lange Zeit brachte dieser Zustand bloss völlige religiöse Gleichgültigkeit. Dabei konnte ich mich lange nicht entschliessen, auf die Gottesidee zu verzichten. Doch brachte mir der beginnende Zweifel an der Existenz einer Gottheit keinerlei schmerzlichen inneren Kampf. Nicht aus irgendeinem Bedürfnis meines Herzens hing ich an ihr, sondern nur aus äussern Erwägungen. Es musste doch irgendeine Grundursache allen Seins geben, eine Urkraft, die das ganze Weltgetriebe in Bewegung setzt und regelt. Dieses höchste Wesen nannte ich eben Gott. Ich vergass, dass es immer zur Konfusion führt, wenn man verschiedene Erscheinungen mit dem gleichen Namen benennt. Gerade das Unterscheiden der Erscheinungen ist die erste Vorbedingung ihres Erkennens und Begreifens. Die ursprüngliche Gottesidee ist i

In der Abschrift steht „in". B.K.

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stets die Vorstellung eines persönlichen Gottes, der nichts ist als ein höherer Mensch, der alle Eigenschaften besitzt, die der Mensch selbst gern besässe. Nach dem bekannten, treffenden Ausdruck Feuerbachs ist es der Mensch, der Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Im Fortschritt der Wissenschaften kommen viele Menschen dazu, die Idee eines derartigen Gottes als unhaltbar aufzugeben. Aber sie können sich nicht entschliessen, offen und entschieden zu bekennen, dass sie an eine Gottheit nicht glauben. Viele scheuen vor diesem Schritt zurück, aus äusseren Gründen, weil der Gottesleugner in vielen Kreisen verfemt ist, lange Zeit sogar als ein Verbrecher galt. Nicht wenige aber scheuen das Aufgeben der Gottesidee aus inneren Gründen, weil ihnen diese Idee am Herzen liegt, sie sich nicht von ihr trennen können. Sie helfen sich damit, dass sie die Gottheit mit der Welt oder mit einem ausserhalb und oberhalb der Welt stehenden geheimnisvollen Wesen identifizieren, einem Weltgeist oder einer Weltseele. Da man sich aber bei einem solchen Wort nichts vorstellen kann, es ohne Inhalt bleibt, so lebt im Grunde des Bewusstseins dieser Art Gottgläubiger die Idee des persönlichen Gottes in einzelnen rudimentären Vorstellungen fort. Dieses Stadium der Konfusion überwand ich rasch, als ich mich dem Darwinismus ergab, der seit den 60er Jahren alle Gebildeten beschäftigte, nicht bloss die Naturforscher. Nicht zum wenigsten in Österreich. Dort war seit 1866 der Liberalismus der Deutschen emporgekommen, der aber unter den gegebenen Bedingungen in sehr unzulänglicher Weise herrschte. Seine Vertreter in der Regierung verhielten sich sehr schwächlich gegenüber dem Monarchen, seiner Armee und Bürokratie, und sehr brutal und gewalttätig gegen demokratische Parteien der Opposition, sowohl jenen der nichtdeutschen Nationalitäten wie der Proletarier. Diese abstossende Bedientenhaftigkeit, Servilität nach oben und rücksichtslose Brutalität nach unten suchten die Deutsch-Liberalen wenigstens auf einem Gebiete wettzumachen: auf dem des Kampfes gegen den Klerus. Regierungen und Parlamente führten allerdings auch diesen Kampf recht zaghaft. Sie wagten nicht einmal, die Zivilehe obligatorisch zu machen und das staatliche Eherecht von der Bevormundung durch das kirchliche Recht zu befreien. Aber die liberale Presse wenigstens bemühte sich eifrig, unkirchliches Denken zu fördern. In dieser Beziehung konnte ich damals mit dem Strome schwimmen. Und auf diesem Gebiet fand ich treffliche Führer, die mir auf dem des Sozialismus fehlten. Darwins Werke, auf die ich mich stürzte, erschlossen mir eine ganz neue Anschauung der Natur, in gewisser Beziehung aber auch der Gesellschaft, insofern, als er den sozialen Tieren und damit dem Ursprung der Gesellschaft seine Aufmerksamkeit schenkte. 212

Nicht minder imponierte mir Haeckel, dessen Folgerungen aus den von Darwin geschaffenen Voraussetzungen in ihrer Kühnheit einen noch gewaltigeren Gedankenbau aufführten, als der vorsichtige Meister gewagt hatte. Noch kecker war Ludwig Büchner, ein jüngerer Bruder des frühverstorbenen Dichters Georg. Nicht wie Haeckel Professor, sondern Arzt, brauchte er keinerlei Rücksichten in der Sprache zu nehmen, die er führte. Wohl fühlte ich bei aller Unwissenheit von damals, dass Büchner als Naturforscher wie als Philosoph mitunter sehr voreilig und flach sei. Dafür zeigte er eine andere Seite, die mich sehr anzog. Er war nicht bloss Gelehrter, sondern nahm an den politischen Kämpfen seiner Zeit regen Anteil, war ein sehr linksstehender Radikaler, der dem Sozialismus sehr nahestand. Was Haeckel vorbereitete, vollendete Büchner und erst recht Ludwig Feuerbach. Ich wurde konsequenter Materialist, allerdings zunächst noch ohne Kenntnis der Dialektik. Mein Materialismus war lange Zeit bloss Atheismus. Mein Tagebuch ist gefüllt mit Beweisen gegen die Existenz eines gütigen, allwissenden und gerechten Gottes. Ich kam dabei über den Materialismus der Aufklärer des 18. Jahrhunderts nicht hinaus. Nur in einem, allerdings sehr wesentlichen Punkt, vermochte ich über ihn hinaus zu gelangen, dank Darwin. Die Antimaterialisten nehmen ausserhalb der Welt der Körper, die uns umgeben und von deren Bestehen uns unsere Sinne Kunde geben, noch eine andere Welt an, eine geistige, „metaphysische", die sich im geistigen Wesen des Menschen äussert. Bezeugt dies Wesen, dass es ausserhalb unserer sinnlichen Erfahrung noch eine Welt des Geistes oder der Geister gibt, die wir nicht erkennen, sondern nur durch Innenbeobachtung erleben können? Die Materialisten leugnen das. Die geistigen Funktionen des Menschen seien ebenso wie die der Tiere nur Ergebnisse seines Körpers, von diesem abhängig. Eine solche Abhängigkeit ist tatsächlich bereits erwiesen und wird tagtäglich durch neue Beobachtungen immer mehr bekräftigt. Aber trotzdem gibt uns der Geist und auch schon das Leben selbst immer noch viele ungelöste Rätsel auf, und daraus schliessen die Idealisten auf die Irrigkeit des Materialismus, auf die Existenz einer besonderen geistigen Welt ausserhalb der materiellen. Zu den materialistisch unerklärlichen geistigen Erscheinungen zählte man lange, zählt mancher heute noch, die der Ethik, des „Sittengesetzes". Sie waren in der Tat schwer erklärlich, solange man das geistige Wesen des Menschen bloss am vereinzelten Menschen studierte. Da kamen die Materialisten zu der Anschauung, die Triebkraft seines Handelns sei der Trieb der Selbsterhaltung, der Egoismus. Wohl sahen sie auch die altruistischen Empfindungen des Pflicht213

gefühls anderen gegenüber, die mitunter bis zur Selbstaufopferung gingen. Sie suchten sich dadurch zu helfen, dass sie meinten, man müsse neben dem primitiven, kurzsichtigen Egoismus auch einen höheren, geläuterten annehmen, der erkenne, dass man den eigenen Interessen am besten dann diene, wenn man auch die der andern wahre. Die Annahme eines derartigen berechnenden Egoismus als Wurzel aller leidenschaftlichen Hingabe an hohe Ideale wirkte nicht sehr überzeugend. Hier blieb ein Tor offen, durch das die Antimaterialisten immer wieder eindrangen. Das ethische Empfinden im Menschen war für sie der Ausdruck der Gottheit, ein Beweis dafür, dass er nur halb Tier sei, zur Hälfte ein Engel. Da erschien Darwins Buch über die „Abstammung des Menschen" im Jahre 1871, dem Jahr der Pariser Commune, dem Jahr des Beginns meines Aufstiegs zum Sozialismus. Wohl hatte schon Darwins erstes Buch über den „Ursprung der Arten" 1859 im Keime die Folgerung der tierischen Abstammung des Menschen enthalten, aber auf die breite Öffentlichkeit wirkte diese Idee erst dann umwälzend, als Darwin dies nun nicht bloss behauptete, sondern aufs eingehendste in einer Weise nachwies, dass niemand heute mehr daran zweifelt, der einigermassen naturwissenschaftlich gebildet ist. Bei diesem Nachweis konnte Darwin an dem ethischen Wesen des Menschen nicht vorbeigehen. Stammt es auch aus dem Tierreich? Darwin fand die Lösung des Rätsels, indem er nicht vom vereinzelten Menschen ausging, sondern vom vergesellschafteten. Er sagt, dass nicht nur der Mensch ein gesellschaftliches Dasein führt, sondern auch viele Tiere und dass die gesellig lebenden Tiere bereits dieselben ethischen Triebe entwickeln und zeigen wie der Mensch. Das Sittengesetz, der „kategorische Imperativ" Kants, erhebt also nicht den Menschen über das Tier, über die Natur, es erklärt sich ganz materialistisch aus dem Einfluss des gesellschaftlichen Lebens, das seinerseits wieder das Ergebnis besonderer körperlicher Organe und materieller Lebensbedingungen ist. Was als Ausfluss der Gottheit betrachtet worden war, stellt sich nun als tierischer Instinkt heraus. Diese Erkenntnis wirkte auf mich wie eine Offenbarung. Sie beseitigte eines der letzten Hindernisse materialistischen Denkens in mir. Darüber hinaus wurde sie aber für mich ein Ausgangspunkt einer eigenen Geschichtsauffassung, in der ich die von Darwin aufgedeckten sozialen Triebe mit meiner neugewonnenen kommunistischen Denkweise zu einer Einheit zu verschmelzen suchte. Im Jahre 1876 war ich schon so weit auf dieser Grundlage, die Abfassung einer Universalgeschichte, einer „Entwicklungsgeschichte der Menschheit" zu planen. Den Entwurf, den ich damals niederschrieb, habe ich im ersten Bande meiner „Materialistischen Geschichtsauffassung" veröffentlicht. Ich 214

hatte 1876 schon von manchen Marxschen Anschauungen Kenntnis genommen, sie aber noch lange nicht verdaut. Sie übten noch wenig Einfluss auf meine damalige Geschichtsauffassung. Engels' „AntiDührung", wo die materialistische Geschichtsauffassung des Marxismus zum ersten Male eingehender dargelegt wurde, begann erst 1877 als Artikelserie zu erscheinen. Vorher hatte Marx diese Auffassung nur kurz 1859 im Vorwort zu seiner „Kritik der politischen Ökonomie" skizziert, die mir erst nach 1880 in London zu Gesicht kam. So durfte ich es 1876 wagen, meine eigene materialistische Geschichtsauffassung zu entwickeln. Sie geht von dem Kommunismus der Urmenschen aus, unter denen infolge der Abhängigkeit des Individuums vom Gemeinwesen die kommunistischen Instinkte besonders stark seien. Fortschritte der Nahrungsgewinnung, wie zum Beispiel der Übergang von der Jagd zum Ackerbau bringen neue Arten der Geselligkeit, der Produktion und des Eigentums. Wird dabei das Gemeineigentum durch das Privateigentum zurückgedrängt, so führt das zu einer Schwächung der kommunistischen Instinkte, zum Individualismus, aus dem Demoralisation und Entvölkerung hervorgehen. Dann folgt ein Niedergang des Gemeinwesens, mitunter sein Zusammenbruch. Ich zeige diesen Entwicklungsgang im einzelnen an der Geschichte der Staaten des orientalischen Despotismus, Griechenlands, Roms, dann aber an der Geschichte des neueren Europa seit der Völkerwanderung bis zum Aufkommen des Kapitalismus. Dieser stärkt den Individualismus aufs äusserste, produziert aber auch ein Proletariat, dessen Lebensbedingungen in ihm starke kommunistische Instinkte erzeugen. Es wächst gegenüber den Kapitalisten an Zahl, aber auch an moralischer Überlegenheit, dank seinen kommunistischen Instinkten. Die Kapitalisten werden demoralisiert durch ihren Individualismus. „Die gegenwärtige Gesellschaft muss wie jede individualistische untergehen, infolge der Entvölkerung und Untauglichkeit für den Daseinskampf, welche der Individualismus mit sich führt. Die Frage ist also nur die, wodurch die gegenwärtige Gesellschaft ersetzt werden s o l l . . . Die Arbeiterklasse allein besitzt die Fähigkeiten hierzu,... sie wird auch die Macht hierzu besitzen, da ihre eigene Kraft wächst, die der Kapitalisten durch Entvölkerung und Demoralisation sinkt. In welcher Richtung wird aber die Arbeiterklasse die gegenwärtige Gesellschaft weiterentwickeln? Diese Richtung wird der Arbeiterklasse durch den Daseinskampf vorgeschrieben w e r d e n . . . Der Daseinskampf des Proletariers kann nur geführt werden durch Organisationen, welche seine kommunistischen Instinkte kräftigen... Die Erfahrung lehrt, dass alle individualistischen Hilfsmittel der Arbeiterklasse gescheitert sind, indes alle Hilfsmittel, welche die kommunistischen Instinkte stärken, unzerstörbar sind. Vor 215

allem die Gewerkschaften. Die Engländer sind dem Kommunismus am nächsten, man möge sagen, was man will. (Das schrieb ich 1876. K.) Nirgends hat die Arbeiterklasse so starke kommunistische Instinkte gezeigt wie dort. Aber erst wenn die kommunistischen Instinkte übermächtig sind, kann die Arbeiterklasse siegen. Sie wird erst dann siegen, wenn sie die Gewähr leistet, dass die Fortentwicklung der Gesellschaft in kommunistischem Sinne vor sich gehen wird." („Materialistische Geschichtsauffassung", I. Seite 164 f.) Man sieht, ich war schon der materialistischen Geschichtsauffassung nähergekommen. Doch hing ich noch an der Nabelschnur des Darwinismus. Ich sprach noch vom Kampf ums Dasein als der Triebkraft der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und übersah, dass dieser Kampf bei Darwin in erster Linie ein Kampf von Individuen ist. Und ich beachtete nicht genügend jenen Faktor, der tatsächlich den Menschen über das Tier erhebt und die Entwicklung der Gesellschaft, die Geschichte bestimmt: die Technik, die Schaffung künstlicher Organe. Noch fehlte es mir zu sehr an ökonomischem Wissen, um diesen Faktor gebührend würdigen zu können. Es wäre mir wohl nie gelungen, aus eigener Kraft zur materialistischen Geschichtsauffassung vorzudringen. Das wurde mir erst möglich unter der Führung von Marx und Engels. Immerhin, meine eigene Geschichtsauffassung versperrte nicht den Weg dahin. Ich hatte sie nicht völlig zu überwinden, sondern nur zu modifizieren und zu vertiefen, um zur marxistischen Auffassung zu gelangen. Was von meiner Geschichtsauffassung, gilt auch von meiner Denkanschauung im allgemeinen. Auch da hatte ich bei näherer Bekanntschaft mit dem Marxismus meinen Materialismus, den ich angenommen, nicht über Bord zu werfern, sondern nur zu modifizieren und seine Fortentwicklung über Feuerbach hinaus zum dialektischen Materialismus [vorzunehmen]. Das geschah erst geraume Zeit nach der Periode der Unsicherheit, der Gärung, des Sturms und Drangs, meiner Hinwendung zum Sozialismus, von der ich hier handle. Da ich aber vielleicht keine Gelegenheit mehr habe, nochmals auf meine spätere philosophische Wandlung zurückzukommen, sei sie hier kurz angedeutet. Sehr früh sind Marx und Engels dahin gelangt, die von Hegel übernommene Dialektik vom Kopf, auf den sie dieser gestellt, auf die Füsse zu stellen, wie sie sich ausdrückten (Engels, „Feuerbach", [2. Aufl.] S. 38), d.h. materialistisch aufzufassen. Sie machten sich auch daran, sie in diesem Sinn bei ihren geschichtlichen Arbeiten anzuwenden. Doch erst später kamen sie dazu, die materialistische Dialektik auch auf ihre Naturerkenntnis zu übertragen. Engels selbst sagt darüber in der Vorrede zur zweiten Auflage (1885) seiner Streitschrift gegen 216

Dühring: „Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewusste Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet haben. Aber zu einer dialektischen und zugleich materialistischen Auffassung der Natur gehört Bekanntschaft mit der Mathematik und den Naturwissenschaften. Marx war ein gründlicher Mathematiker, aber die Naturwissenschaften konnten wir nur stückweise, sprungweise, sporadisch verfolgen. Als ich daher durch Rückzug aus dem kaufmännischen Geschäft und Umzug nach London (1870. K.) die Zeit dazu gewann, machte ich, soweit es mir möglich, eine vollständige mathematische und naturwissenschaftliche „Mauserung", wie Liebig es nennt, durch, und verwandte den besten Teil von acht Jahren darauf." Die Ergebnisse dieser Arbeiten legte Engels 1877 und 1878 in einzelnen Kapiteln seines „Anti-Dührung" nieder, in denen er den dialektischen Materialismus entwickelt. Es wäre für mich unmöglich gewesen, von dieser Art Materialismus vorher schon Kenntnis zu nehmen. Wie sehr Engels der Gegenstand in jenen Jahren beschäftigte, bezeugt ein Brief, den er von London aus am 30. Mai 1873 an Marx richtete, der damals in Manchester bei Schorlemmer weilte. Er sagt darin: „Heute morgen im Bett ist mir folgendes Dialektische über die Naturwissenschaften in den Kopf gekommen: Gegenstand der Naturwissenschaft — der sich bewegende Stoff, die Körper. Die Körper sind nicht von der Bewegung zu trennen, ihre Formen und Arten nur in ihr zu erkennen, von Körpern ausser der Bewegung, ausser allem Verhältnis zu den andern Körpern ist nichts zu sagen. Erst in der Bewegung zeigt der Körper, was er ist. Die Naturwissenschaft erkennt daher die Körper, indem sie sie in ihrer Beziehung aufeinander, in der Bewegung betrachtet. Die Erkenntnis der verschiedenen Bewegungsformen ist die Erkenntnis der Körper. Die Untersuchung dieser verschiedenen Bewegungsformen ist also Hauptgegenstand der Naturwissenschaft."(Marx-Engels Briefwechsel, MEGA, 3. Abt., IV, Seite 396/397). Schorlemmer bemerkte an dem Rand des Briefes, den Marx ihm gezeigt, dazu: „Sehr gut, meine eigene Ansicht." Dieses Urteil unterschreibe ich auch heute noch. Von der Auffassung aus, zu der Engels gelangt war, erledigte sich das Kantsche Ding an sich. Es ist richtig, die Dinge an sich sind nicht zu erkennen. Aber es gibt eben solche Dinge gar nicht. Jedes Ding steht in Beziehung zu andern Dingen, ist ein Ding zugleich mit andern Dingen oder gegen andere Dinge. Nicht die Dinge an sich, wohl aber ihre Bewegungen, sind zu erkennen und diese Bewegungen sind das Objekt unseres Erkenntnisstrebens. Sicher hat Kant recht, wenn er auf die Grenzen hinweist, die unserm Erkenntnisvermögen 217

gesetzt sind. Es ist nur darauf eingerichtet, endliche Erscheinungen festzuhalten und zu unterscheiden. Das Universum aber ist unendlich. Jene Materialisten haben also unrecht, die da meinen, auf das Zeugnis menschlicher Sinne hin alle Welträtsel lösen, zu einer absoluten Wahrheit gelangen zu können. Nicht minder unrecht haben aber jene, die als Idealisten glauben, über die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens hinaus durch irgendwelche logische Tricks zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit kommen zu können. Der Engelssche dialektische Materialismus zeigt seine Meisterschaft in der Beschränkung. Er verzichtet darauf, ewige, absolute Wahrheiten erforschen zu wollen. Jede Erkenntnis, zu der wir gelangen, hat bloss relativen Wert, sie gilt nur für die Bedingungen, unter denen sie zustande kam. Es gibt keine absolute Erkenntnis, sondern nur einen steten Prozess des Erkennens. Die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens bedeuten nicht die Unmöglichkeit, die Welträtsel zu lösen, die vor uns auftauchen. Aber die Unendlichkeit der Welt bewirkt, dass jede derartige Lösung nur in einer Weise möglich ist, bei der gleichzeitig neue, noch grössere Rätsel auftauchen. Daher ist es vergebens, ein abschliessendes Weltbild geben zu wollen. Auch der Materialist muss darauf verzichten. Seine Weltanschauung äussert sich nicht in einem bestimmten Weltbild, sondern in einer besondern Methode der Weltbetrachtung, der Erforschung der Welt. Er verzichtet von vornherein grundsätzlich bei seiner Forschung auf jedes Hinausgehen über die Grenzen der Erfahrung, auf jeden Versuch, durch blosse Spekulation oder gar durch das blosse „Erleben" zu Erkenntnissen zu kommen. So sagt Engels in seiner Arbeit über „L. Feuerbach" (1888): „Man entschloss sich, die wirkliche Welt — Natur und Geschichte — so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jedem gibt, der ohne vorgefasste idealistische Schrullen an sie herantritt; man entschloss sich, jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den, in ihrem eigenen Zusammenhang und in keinem phantastischen, aufgefassten Tatsachen nicht in Einklang bringen liess. Und weiter heisst Materialismus überhaupt nichts." (2. Aufl. 1895, S. 37; die Unterstreichung rührt von K. K. her. B. K.). Ich handle von diesem dialektischen Materialismus schon in meinem Buch über die materialistische Geschichtsauffassung (I. Seite 22 ff.). Aber es wird immer wieder vergessen, dass der dialektische Materialismus, wie ihn Marx und Engels entwickelten, eine Methode ist und nicht etwa eine bestimmte Aussage über das Wesen der Materie, der Atome oder über das Zustandekommen geistiger Phänomene. Daher erscheint es mir am Platz, hier nochmals daran zu erinnern. Nicht nur die Körper sind in steter Bewegung begriffen, und nur 218

diese Bewegung ist es, was an ihnen erkennbar ist. Dasselbe gilt auch von den Funktionen des menschlichen Erkenntnisvermögens, die uns als Ideen zum Bewusstsein kommen. Auch sie sind in stetem Fluss begriffen und nur in ihren Bewegungen erkennbar. Der dialektische Materialismus zeigt sich als Methode der Erforschung der unendlichen Welt mit den Mitteln und innerhalb der Grenzen des beschränkten menschlichen Erkenntnisvermögens als Methode eines endlosen Erkennungsprozesses, die auf alle „phantastischen idealistischen Schrullen" und auf jegliche absolute Wahrheit verzichtet. So hat ihn Engels dargestellt im Einvernehmen mit Marx. So habe ich ihn übernommen, so halte ich heute noch an ihm fest. Doch Engels ging noch weiter. Er suchte eine besondere Form der Bewegung, die den Körpern und Ideen eigen sei, und glaubte sie gefunden zu haben in jener Art der Dialektik, die Hegel entwickelte und die Marx und Engels von ihm übernahmen. Nur ist sie bei Hegel die Form der Entwicklung des Geistes, des „Begriffes", der für ihn freilich nicht eine blosse Vorstellung ist, sondern auch das Wesen des Dinges selbst. Materialistisch umgestülpt, ist die Dialektik Hegels die Form der Entwicklung der realen Dinge in der Natur und der menschlichen Gesellschaft. Diese Dialektik vollzieht sich in den drei Phasen der These, der Antithese (oder Negation) und der Synthese (oder Negation der Negation). Jede Erscheinung erzeugt einen Gegensatz in sich selbst, durch den sie schliesslich aufgehoben wird. Aus diesem neuen Zustand geht aber wieder ein neuer Gegensatz hervor, der zum Ausgangspunkt zurückführt, aber auf einer höheren Stufenleiter. Haben wir hier nicht abermals eine idealistische „Schrulle" vor uns, die von den Vätern des dialektischen Materialismus übernommen, allerdings materialistisch gewendet wurde? Ist sie dadurch richtiger geworden? Irgendeinen Grund, warum sich die Entwicklung in dieser Weise vollziehen musste, hat Engels nie gegeben (Marx hat darüber gar nicht gehandelt), er gab nur Beispiele, die stimmen aber nicht, wie ich in meinem Buch über die „Materialistische Geschichtsauffassung" (I. Seite 131 ff.) darlege. Gewiss, was wir in der Welt erkennen können, sind Bewegungen von Körpern. Neue Bewegungen entstehen nur durch Zusammenstoss von Körpern, die sich in verschiedener Richtung bewegen, also von Gegensätzen. Sagen wir, um mit Hegel zu sprechen, durch eine Negation. Aber um diese Negation hervorzurufen, sind mindestens zwei Körper nötig, die aufeinander wirken. Bei Hegel geht die neue Bewegung hervor aus der Selbstbewegung des Begriffs. Das ist ein ganz anderer, ein mystischer Vorgang. Also schon bei der Negation 219

hapert es. Noch viel mehr bei der Negation der Negation, der Synthese. Aus welchem Grund soll die neue Bewegung eine Wiederkehr des alten, durch den Zusammenstoss aufgehobenen [Zustands] darstellen? Und das soll noch dazu eine Wiederkehr auf höherem Niveau bilden! Warum? Dennoch ist die Bewegungsform der Hegeischen Dialektik, die der Marxismus übernommen hat, keineswegs eine „phantastische Schrulle", sondern eine wirkliche Bewegungsform und eine allgemeine Form. Jedoch kennzeichnet sie nicht die Gesamtheit der Erscheinungen der Welt, wohl aber die Gesamtheit der Entwicklungen der menschlichen Gesellschaft, jenes Gebiets, das Marx und Engels so gut erforscht haben. Damit ist auch gesagt, dass sie die Form der Entwicklung des menschlichen Denkens ist, über das Hegel so tiefgehende Erkenntnisse zutage gefördert hat, allerdings in sehr „phantastischer idealistischer Verhüllung". Eine andere Entwicklung als die auf „geistigem Boden" vor sich gehende kannte Hegel noch nicht. In der Natur sah er nur einen unendlichen Kreislauf, der sich immer wiederholte. Nur im Menschengeist gab es für ihn eine Entwicklung. Nur für den Geist soll die Hegeische Form der Dialektik gelten. Warum die Entwicklung der Gesellschaft und des Geistes diese dialektische Form annehmen müssen, dafür glaube ich die Ursachen gefunden zu haben. Ich handle davon ausführlich in meinem Buch über die „Materialistische Geschichtsauffassung" in dem dritten Abschnitt des dritten Buches (I, Seite 701 bis 804). Es würde zu weit führen, dessen Gedankengang hier wiederzugeben. Es genüge, darauf hinzuweisen, dass ich den Anfang der menschheitlichen Entwicklung in der Schaffung künstlicher Organe, der Werkzeuge (zu denen sich auch Arbeitsmethoden und Organisationsformen gesellen) sehe. Damit beginnt eine Form der Entwicklung im Hegeischen Dreischritt, in These, Antithese, Synthese. Aber diese Form der Dialektik unterscheidet sich dadurch von der Hegeischen, dass sie nicht aus der Selbstentwicklung des Begriffes, sondern aus dem steten Gegensatz zwischen Mensch und Umwelt hervorgeht. Dieser Gegensatz besteht schon für die Individuen der Tierwelt, doch kommt für sie als Umwelt nur die Natur in Betracht. Erst der Mensch erhebt sich darüber durch die Erfindung des Werkzeugs. Dieses wird erfunden, um die Umwelt zu bekämpfen — Antithese. Aber einmal erfunden und angewendet, ändert es diese Umwelt selbst um, schafft es neue Umwelt, Synthese, die dem Menschen wieder neue Aufgaben setzt — neue Antithese. Das Werkzeug, aus dem Gegensatz zur Umwelt hervorgegangen, ändert die technischen und ökonomischen Bedingungen, in denen der Mensch lebt, seine Umwelt, und produziert damit neue 220

Gegensätze zwischen ihm und ihr. Und wie in der Gesellschaft ist es im Denken. Jeder neu auftauchende Gegensatz zur Umwelt zwingt den Menschen zum Nachdenken, stellt ihm Probleme. Diese gehen aus den jeweils gegebenen Verhältnissen hervor und werden mit den Mitteln und Behelfen geistiger Arbeit gelöst, die jene Verhältnisse bieten. Jede geistige Lösung eines Rätsels, sei es technischer, ökonomischer oder philosophischer Art, beseitigt wohl diese Antithese durch eine Synthese. Aber der neue Zustand schafft neue Probleme aus sich selbst heraus, die früher nicht bestanden, aber auch neue Hilfsmittel, sie zu lösen. So geht der dialektische Prozess im Hegeischen Sinne in der Gesellschaft und in der Wissenschaft endlos fort und zeitigt in der Wissenschaft immer grösseres Wissen, in der Gesellschaft immer leistungsfähigere Produktionsformen. Marx und Engels hatten also vollständig recht damit, wenn sie die Hegeische Dialektik mit einer materialistischen Umstülpung akzeptierten. Daraus ging ihre bedeutendste Grosstat hervor: die materialistische Geschichtsauffassung. Wenn aber Engels dann weiter ging und in jene seine Naturauffassung, die er in seinem Brief vom Mai 1873 [dargelegt] hatte, später ebenfalls die Hegeische Dialektik einfügte, so sehe ich darin keine Verbesserung. Übrigens lässt Engels selbst nicht deutlich erkennen, ob er das ganze Weltgeschehen hegelianischdialektisch auffasste oder bloss einzelne seiner Prozesse. Dass es auch ausserhalb der menschlichen Gesellschaft noch Vorgänge gibt, die im Sinne dieser Dialektik gedeutet werden können, namentlich auf dem Gebiet der Entwicklung der Organismen, leugne ich nicht. Als Engels' „Anti-Dührung" 1878 erschien, fiel mir an seiner Formulierung der Dialektik nichts auf. Für die Gesellschaft, also als Grundlegung der materialistischen Geschichtsauffassung trifft sie ja vollständig zu. Selbst wenn ich damals schon fähig gewesen wäre, an einer so überragenden Persönlichkeit wie Engels Kritik zu üben, und wenn ich damals schon den dialektischen Materialismus nach allen Seiten durchdacht hätte, gab es keinen Grund für mich, an seiner Auffassung der Naturentwicklung etwas auszusetzen. Ich musste sofort erkennen, wie sehr die Engelssche Geschichtsauffassung derjenigen überlegen sei, zu der ich, von Darwin kommend, gelangt war. Und die Engelssche Auffassung begeisterte mich so sehr, befruchtete so sehr meine Arbeiten, dass ich gar nicht daran dachte, ihre Geltung in der Natur nachzuprüfen. Das änderte sich erst, als um die Jahrhundertwende der Neu-Lamarckismus aufkam, der meine biologischen Auffassungen, die ich von Darwin übernommen, weitgehend umgestaltete und mich zwang, mich wieder eingehender mit naturwissenschaftlichen Problemen zu beschäftigen. Ich kam dabei zu einer weitgehenden Revision meines alten Darwinismus. Diesen 221

hatte ich 1878 zur Grundlage eines Buches über die „Volksvermehrung" gemacht, von dem ich noch mehr sprechen werde. Meine neuen Ansichten entwickelte ich in dem Buche über „Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft", 1910. Die Fortsetzung dieser Arbeiten brachte mich zu der Überzeugung, dass die natürliche Entwicklung, vom Standpunkt des Neu-Lamarckismus aus betrachtet, sich mit der gesellschaftlichen, soweit wir sie auf Grund der marxistischen Geschichtsauffassung erklärt haben, sehr wohl zu einer höheren Einheit zusammenfassen lässt. Leider fand ich erst nach dem Weltkrieg die Ruhe, diesen Gedanken systematisch zu verfolgen und ausführlich darzulegen in meinem bereits mehrfach erwähnten Buch über die „Materialistische Geschichtsauffassung", dessen zwei Bände im Jahre 1927 erschienen. Meine erneuten naturwissenschaftlichen Studien haben meine Überzeugung von der Richtigkeit der Engelsschen Dialektik für die Entwicklung der Gesellschaft bestätigt und befestigt. Gleichzeitig aber haben sie mich an der allgemeinen Anwendbarkeit dieser Dialektik für die Erforschung der Natur zweifeln lassen. Das ist das Ergebnis der Entwicklung meines Materialismus, die zu Beginn der 70ger Jahre anfing und um die Zeit des Weltkriegs ihr jüngstes Stadium erreichte. Dieses letzte Stadium ist natürlich durch zahlreiche Entwicklungsstadien vom Ausgangsstadium1 getrennt und doch organisch mit ihm verbunden. Zwischen dem Materialismus meiner Anfänge und dem des Endstadiums besteht kein solcher Unterschied, dass er einen Bruch bedeutet. Auch hier wie in bezug auf Sozialismus und Internationalität erreiche ich schon in den ersten Jahren nach der Pariser Commune den Boden, auf dem ich heute noch stehe. Als ich im Juli 1874 mein Abiturientenexamen machte, geschah das zwei Jahre später, als dem normalen Lauf der Dinge entsprochen hätte. Doch glaube ich, dass ich diese zwei Jahre nicht ganz verloren, sondern seit 1871 zur Erwerbung einer Reihe von Kenntnissen und Anschauungen benützt habe, die zwar nicht für meine akademische, wohl aber für meine sozialistische Laufbahn Bedeutung erhielten. Als ich das Gymnasium verliess, war ich recht alt für einen Gymnasiasten, aber sehr jung für einen sozialistischen Theoretiker. Ich gewann 1874 die Reife nicht nur zum Besuch der Universität, sondern auch zum Beitritt zur sozialdemokratischen Partei, zu sofortiger aktiver Teilnahme an ihrer Wirksamkeit. i Hier ist in der Abschrift das Wort „Auspunkt" eingeklammert. Ich vermute daher, dass es im Manuskript nicht „Ausgangsstadium", sondern „Ausgangspunkt" hiess. B.K.

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III IN DER Ö S T E R R E I C H I S C H E N

SOZIALDEMOKRATIE

(1875-1880) 1. M E I N B E I T R I T T Z U R P A R T E I

Im Juli 1874 bestand ich die Maturitätsprüfung. Zur Erholung von der Qual der Vorbereitung zu dem Examen unternahm ich nachher mit drei lieben Kollegen eine Fusstour, [die] von Mürzzuschlag bis nach dem Königssee in Bayern führte. Es war das erste Mal, dass ich aus Österreich herauskam, doch fiel mir im Reich noch nichts auf als die Nachwehen der staatlichen Zerrissenheit. Noch war das neue Reichsgeld nicht geschaffen. Erst 1876 trat die Markwährung in Kraft. In Berchtesgaden bekamen wir die verschiedensten Geldsorten der verschiedensten deutschen Länder in die Hand. Unter uns vier Wanderern haben zwei es zur Professur gebracht, Ernst Lecher als Physiker, Alfred Domaszewski als Erforscher der römischen Kaiserzeit. Die glänzendste Zukunft prophezeiten wir dem dritten im Bunde, Fekete von Belafalva, der uns der Genialste unter uns zu sein schien. Was aus ihm geworden ist, weiss ich nicht. Ich habe ihn völlig aus den Augen verloren. Vom Hörensagen erfuhr ich später, er verschimmle in einem Staatsamt. Verbürgen kann ich das nicht. Ausser den beiden erstgenannten erinnere ich mich noch zweier Freunde aus der Gymnasialzeit, die es zu etwas gebracht haben: Robert Neumann von Ettenreich, der die juristische Laufbahn einschlug und ein angesehener, hoher Richter wurde, und Guido Adler, weit bekannt als Theoretiker und Historiker der Musik. An unserer Wanderung nahmen sie nicht teil. Neumann, Lecher, Domaszewski weilen leider nicht mehr unter den Lebenden. Es ist der Fluch des Altwerdens, dass man so viele liebe Menschen begraben muss. Natürlich sprachen wir damals viel darüber, was wir zu werden beabsichtigten. Domaszewski war sich bereits klar über die Laufbahn, die er einschlagen wollte. Uns andern dreien dagegen erschien unsere Zukunft noch sehr unbestimmt. Lecher plante ein Auftreten auf den Brettern, die die Welt bedeuten, nicht eines in einem Laboratorium oder auf einer Lehrkanzel. Fekete wusste überhaupt nicht, was er wollte. Ich war bereits fest entschlossen, mich der Sozial223

demokratie zu widmen, jedoch völlig unklar, welche Wege ich einzuschlagen hätte, um erfolgreich für sie wirken zu können. Nur selten hatte ich mit meinen Kollegen über meine sozialistischen Ansichten gesprochen. Ich wusste, sie nahmen sie nicht ernst. Auch jetzt bezeichneten sie — jeder zwei Jahre jünger als ich — auf Grund ihrer grossen Weltkenntnis diese Ansichten als Jugendtorheit, die ich rasch ablegen würde, sobald der Ernst des Lebens an mich herantrete. Ich hielt das bei mir für ausgeschlossen und dennoch fragte ich mich bange, ob ich zu den Auserkorenen zähle, die nichts zu beugen vermöge, und ob meine Anschauungen solid genug fundiert seien, um gegen jede Widerlegung gefeit zu sein. Als wir von der Wanderung heimkamen, erhielt meine Familie die Nachricht, mein Grossvater in Podol-Dvorec sei schwer erkrankt. Sofort wurde beschlossen, ich solle zu ihm fahren und dafür sorgen, dass ihm nichts fehle. Doch als ich nach Prag kam, war bereits jede Gefahr geschwunden. Da ich jedoch einmal bei ihm war. ging ich nicht gleich wieder weg. Gut zu Fuss, benutzte ich die Gelegenheit zu weiten Fusswanderungen durch die Umgebung Prags, die ich bis dahin gar nicht kennengelernt hatte. Dabei frischte ich natürlich auch meine Kenntnisse der tschechischen Sprache wieder auf, doch spielte mir deren ungenügende Kenntnis manchen Streich. So machte ich mich eines Morgens auf, um die berühmte Burg Karlstein aufzusuchen, von der ich schon viel gehört. Ich kannte ungefähr die Richtung, in der ich zu gehen hatte, geriet aber in dichte Waldungen, in denen die Wege nicht klar zu erkennen waren. Mitunter stiess ich auf einen Bauern, den ich befragte, wo „Karlowo Kamen" liege. Keiner wusste mir das zu sagen, hatte nie davon gehört. Mir blieb nichts weiter übrig, als weiter in der eingeschlagenen Richtung, geleitet von der Sonne, zu gehen und richtig, plötzlich sah ich die Burg in ihrer ganzen Pracht vor mir stehen. Nachdem ich sie besichtigt, begab ich mich zur Eisenbahnstation, um heimzufahren. Da sah ich auf ihr als Name gross und deutlich geschrieben „Karlno Tyn". Jetzt begriff ich, warum keiner der Bauern mich verrtanden hatte. Tyn ist tschechisch die Burg, germanisiert Tein, daher die Teinkirche in Prag, die Burgkirche. Kamen ist der Stein. Die Burg heisst nicht Karlstein, wie ich tschechisch übersetzte, sondern Karls-Tein. Ausser mit Marschieren, Schwimmen, Rudern beschäftigte ich mich mit Lektüre. Domaszewski hatte mich bei unserer Tour auf Buckles Geschichte der Zivilisation aufmerksam gemacht, die er begeistert pries. Ich schaffte mir das Buch sofort an, nahm es mit nach Podol und las es dort ebenfalls mit Begeisterung. Seine Schwäche konnte ich erst später herausfinden. Ich habe auf sie in meinem Buch über die materialistische Geschichtsauffassung hingewiesen. Damals unter224

schied ich noch nicht zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem historischen Materialismus. Buckles Buch war die erste materialistische Geschichtsphilosophie, die ich zu Gesicht bekam. Dass sie vom Standpunkt des englischen Radikalismus geschrieben war, machte sie mir sehr sympathisch. Mein Grossvater Kautsky freute sich über meinen Fleiss. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass man ein ernstes Buch zu einem andern Zweck studiere, als um darüber ein Examen abzulegen. Er gewann die Uberzeugung, ich sei ein Streber. Ich liess ihn in diesem Glauben, der ihn selig machte. Es war dies das letzte Mal, dass ich längere Zeit in Böhmen weilte. Seitdem bin ich nur ab und zu auf einige Tage nach Prag gekommen, nie mehr nach Blovitz. Dort hatten sich die Verhältnisse sehr geändert und geradezu jammervoll für die Familie Potucek gestaltet. Alle die stolzen Gründungen, an denen sich mein Onkel seit 1867 beteiligt und die glänzenden Reichtum verheissen hatten, waren seit dem Börsenkrach von 1873 entweder bankrott oder doch vorübergehend ertraglos geworden. Potucek war viel zu anständig, um [sich], wie viele Gründer, damals auf Kosten derjenigen zu retten, die ihm vertraut hatten. Er opferte sein ganzes Vermögen, um den drohenden Sturz seiner Gründungen aufzuhalten oder zu mildern. Das dürfte nicht viel geholfen haben. Aber er selbst wurde dabei im Lauf des Jahres 1874 immer mehr zu einem armen Mann. Er verkaufte sein Haus, seine Apotheke, er verzichtete auf sein Abgeordnetenmandat, dessen ein Bankrotteur nicht würdig sei. Völlig mittellos übersiedelte er im Jahr 1876 nach Prag, wo er alles mögliche versuchte, um sich über Wasser zu halten. Die Tante Luise kam damals wieder auf ihre alte Theaterliebhaberei zurück. Wenn sie beim Theater engagiert wurde, dann konnte sie der Familie helfen. Diesmal hatte ihr Mann nichts dagegen einzuwenden. Doch das Glück war ihr jetzt nicht mehr hold. Sei es infolge einer Intrigue etwa einer Nebenbuhlerin oder infolge eigener Ungeschicklichkeit, sie liess sich veranlassen, als Königin Elisabeth in Schillers „Maria Stuart" zu debütieren, im November 1877. Sie, die einst in Rollen von feschen Schusterbuben und Backfischen geglänzt hatte, wäre wohl vortrefflich geeignet gewesen, eine komische Alte zu geben, nicht aber eine Schillersche Königin. Wir in Wien fürchteten das Schlimmste, als wir erfuhren, welche Persönlichkeit sie darzustellen habe. Wir rechneten damit, sie werden ausgelacht werden. So schlimm kam es nun nicht, sie wurde achtungsvoll angehört, aber ohne Beifall. Und die Kritik in den Zeitungen behandelte sie sehr streng. Da verlor sie den Mut und verzichtete auf jeden weiteren Versuch auf der Bühne. Ihre Laufbahn als Schauspielerin endete nun für immer. 225

Ebenso aber war es nun bestimmt, dass die Notlage der Familie kein Ende mehr nehmen sollte. Potucek musste nun schliesslich froh sein, in einer Apotheke Prags eine Stelle als Provisor zu erhalten. Trotz Kummer und Sorgen blieb er lange arbeitsfähig. Er überlebte seine Frau und eine Reihe seiner Kinder. Er war ein Achtziger, als der Weltkrieg ausbrach. Je länger dessen Schrecken dauerte, desto mehr schwand seine Lebenslust. Als der Krieg kein Ende nehmen wollte, nahm er Gift. Es war ein tragisches Verhängnis, das ihn trieb, vorzeitig seinem Dasein ein Ende zu machen. Er hätte nur noch wenige Monate zu leben gebraucht und er sah die Erfüllung seines heissesten Sehnens: die Herstellung einer selbständigen tschechischen Republik. Und diese Erfüllung hätte ihm sicher persönliche Ehrungen gebracht, als dem letzten noch lebenden Deklaranten, dem letzten noch lebenden Abgeordneten, der schon 1860 feierlich den Anspruch der tschechischen Nation auf ein autonomes Gemeinwesen verkündet hatte. Diese Freuden an seinem Lebensabend hätte er noch geniessen können. Er ahnte nicht ihr Kommen, ihre Nähe, als er lebensmüde zum Giftbecher griff. Nun wenden wir uns wieder zurück aus dem 20. ins 19. Jahrhundert, ins Jahr 1874. Von Prag nach Wien zurückgekehrt, bereitete ich meinen Eintritt in die Universität vor. Die meisten meiner Kollegen hatten nun ihr Freiwilligenjahr zu absolvieren. Dies blieb mir erspart. Dreimal hatte ich mich als Freiwilliger gemeldet, zuerst bei der Festungsartillerie, dann bei der Feldartillerie, dann bei der Infanterie (den Deutschmeistern). Jedesmal war ich abgewiesen worden wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit. Dasselbe Ergebnis aus demselben Grunde hatte für mich die allgemeine Assentierung im Frühjahr 1874 und sollte mein nochmaliges Erscheinen vor einer Assentierungskommission ein Jahr später haben. Ich war damit für immer vom Kriegsdienst befreit. Allerdings blieb mir dadurch die praktische Einsicht in das Wesen des Militarismus und das Wesen des modernen Kriegs versagt, die für einen Politiker unserer Tage so wichtig ist. Erst Engels wies mich darauf hin. Ich suchte dann meine mangelnden Kenntnisse durch theoretische Studien zu gewinnen. Natürlich nur zu politischen Zwecken. Zu militärischer Kritik oder gar militärischen Anordnungen hätten meine militärischen Kenntnisse bei meinem völligen Mangel an praktischer Erfahrung im Kriegswesen nicht hingereicht. Zum Glück kam ich nie in die Lage, eine solche Kritik üben zu sollen. Und in einen Barrikadenkampf wurde ich auch nicht verwickelt. Unbeschwert durch irgendeine militärische Dienstleistung, oblag mir im Herbst 1874 bloss die Aufgabe, den Lektionskatalog der Universität zu studieren und mir jene Vorlesungen auszuwählen, die ich hören wollte. Keine leichte Sache. Vor allem tauchte da wieder 226

die Frage [auf]: was willst du werden, wie dein Leben gestalten? Dass ich der Sache des Sozialismus gehören sollte, darüber hegte ich keinen Zweifel mehr, das war entschieden. Aber von sozialistischer Schwärmerei kann man nicht leben. Das war mir klar. Und mit den Verzicht auf Glück und Freude allein, wie ich ihn den Sozialisten meiner Erzählungen in den Mund legte, konnte man auch nicht auskommen. Was nun? Noch eines war mir klar. Ich wollte nicht bloss sozialistisch arbeiten, sondern auch wissenschaftlich, den Sozialismus wissenschaftlich fundieren. Meine Tätigkeit konnte nach meinen Neigungen und Fähigkeiten nur historischer Art sein. So wählte ich historische Vorlesungen. Als Historiker zu einem Erwerb zu kommen, war aber nur möglich als Privatdozent oder als Lehrer an einer Mittelschule. Ich wollte meinem Vater nicht auf der Tasche liegen, denn ich wusste, dass er sein Einkommen nicht aus einem Kapitalbesitz zog, sondern aus seiner Arbeit. Zu Hause lebte ich also von fremder Arbeit, der meines Vaters. Der Gedanke bedrückte mich sehr. Nicht länger als unbedingt nötig war, wollte ich die väterliche Unterstützung in Anspruch nehmen. Als Privatdozent würde ich das länger nötig haben wie als Mittelschulprofessor, wie man in Österreich die Oberlehrer tituliert. So entschied ich mich für diese Karriere. Ich belegte ein philosophisches Kolleg (Psychologie), bei Franz Brentano, ferner zwei historische, Büdinger, Allgemeine Geschichte, und Sickel, Geschichte des Städtewesens, dazu noch Simony, physikalische Geographie und zwei literaturgeschichtliche, Tomaschek über Goethe und Schiller, sowie Heinzel, ältere deutsche Literatur. Ich glaube, es war in dieser Zeit, in der ich nach freiem Entschluss meinen künftigen Weg zu bestimmen hatte, dass mir ein entscheidender Zufall passierte. Genau kann ich den Zeitpunkt nicht mehr bestimmen, in dem er sich ereignete; denn die Nummer der „Gleichheit", um die es sich hier handelt, ist nicht mehr aufzutreiben. Der Zufall war folgender: ich liebte es, beim Schlendern durch die Strassen bei den Tabaktrafiken stehen zu bleiben, nicht um Zigarren zu kaufen, sondern um die in Schaufenstern ausgehängten Zeitungen zu lesen, soweit ich ihrer nicht auf andere Weise durch Abonnement oder Ausleihen habhaft wurde. Das so freisinnige liberale Regime, das in Österreich 1867 aufgekommen war, hatte nicht einmal die Presse ausreichend freigemacht. Zeitungen mussten Kautionen stellen und einen Zeitungsstempel für jedes gedruckte Exemplar bezahlen. Sie konnten nach Belieben konfisziert werden und dabei war ihnen nicht einmal der freie Verkauf an das Publikum gestattet. Bloss die Verkaufsstellen des staatlichen Tabakmonopols, Trafiken, nach einem italienischen Wort genannt, durften Zeitungen verkaufen. Deren Schaufenster 227

waren für mich eine vielbenutzte Quelle der Aufklärung über die Geschichte der Gegenwart. Eines Tages hing nun in einem Trafikfenster eine Zeitung, die ich noch nie gesehen, eine Wiener-Neustädter Zeitung, die „Gleichheit", „sozialistisches Wochenblatt". Was kann aus der Neustadt Gutes kommen, dachte ich. Doch ich täuschte mich 1 , die dasselbe von Bethlehem gesagt. Neugierig warf ich doch noch einen Blick auf das Blättchen. Und dieser Blick brachte mir die höchste Wonne. Er zeigte mir, dass ich hier eine sozialdemokratische Zeitung vor mir hatte, dass mir endlich gelungen war, was ich so lange ersehnt, von den Sozialdemokraten selbst zu erfahren, was sie wollten. Natürlich begnügte ich mich nicht mit blossem Nassauern am Schaufenster. Ich kaufte das Blatt, und sein Inhalt interessierte mich so sehr, dass ich auch in der nächsten Woche in der Trafik erschien, um die neueste Nummer zu erwerben. Als ich aber zum dritten Mal erschien, da bedeutete mir die Trafikantin ängstlich, sie dürfte das Blatt nicht verkaufen. Ich fragte, ob es verboten oder konfisziert sei. Keineswegs, aber ein Polizist war bei ihr erschienen und hatte sie darauf hingewiesen, dass sie als Trafikantin des staatlichen Monopols von der Staatsgewalt abhängig sei. Es werde ihr schlecht ergehen, wenn sie so staatsfeindliche Zeitungen führe. So gern sie die „Gleichheit" habe, sie könne um eines Blattes willen nicht ihre ganze Existenz aufs Spiel setzen. Da hatte ich wieder ein Beispiel der Erbärmlichkeit des österreichischen Liberalismus. Nicht genug damit, die Arbeiterbewegung durch Richter und Polizisten, durch Prozesse und Konfiskationen und Auflösung von Arbeitervereinen offen niederzuknüppeln, glaubte die Regierung auch noch feige und heimtückisch ihr hinterrücks zusetzen zu müssen. Wenn ein Wirt seinen Saal für eine Arbeiterversammlung hergab, erschien bei ihm ein Polizist und bedrohte ihn mit den schwersten behördlichen Schikanen, wenn er nicht seine Zusage zurückziehe. Und ebenso wurde jede Tabaktrafikantin mit der schwersten Schädigung bedroht, wenn sie sozialistische Zeitungen verkaufte. Dank dem blieben sie dem grossen Publikum ausserhalb der sozialistischen Organisationen unbekannt. Auch ich hatte bisher keine solche entdecken können. Jetzt aber hatte mir ein günstiger Zufall den Weg zur Arbeiterpresse erschlossen. Ich abonnierte nun die „Gleichheit" und befreundete mich immer mehr mit ihr. Doch genügte mir ihre Lektüre auf die Dauer nicht. Ich wollte nicht bloss passiv, rezeptiv, dem Sozialismus huldigen, sondern für meine Idee auch nach Kräften arbeiten. Das konnte ich nicht, auf mich allein gestellt, dazu musste

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Hier fehlen zweifellos einige Worte, etwa „ebenso wie diejenigen". B.K.

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ich mich an jene 1 anschliessen, die bereits in der Öffentlichkeit im Sinne meiner Ideale kämpften. Würde ich aber dabei nicht eine Enttäuschung erleben? In der bürgerlichen Presse und auch manche Leute meiner Umgebung, die vorgaben, besonders wissend und in der Lage zu sein, alle Untergründe des sozialen und politischen Geschehens aufzudecken, konnten von den Persönlichkeiten, die in der Arbeiterbewegung tätig seien, nicht wegwerfend genug sprechen 2 . „Ja", sagte mir damals mancher, „[die] Ideale, denen Sie nachstreben, sind wunderschön, ich würde mich auch dafür begeistern, wenn nur die Menschen schon reif dazu wären. Aber, wer den heutigen Arbeitern Freiheit predigt, verführt sie zur Liederlichkeit, und wer sie organisiert, treibt sie zusammen, damit sie sich einer von den Behörden nicht überwachten Führung unterwerfen, die ihnen ihre letzten Kreuzer abnimmt und zu hirnverbrannten oder gar verbrecherischen Abenteuern missbraucht." Das alles glaubte ich nicht. Es war aber nur dadurch zu widerlegen, dass ich mir die betreffenden Menschen selbst näher besah, in Verbindung mit ihnen trat. Auch davor wurde ich freilich gewarnt. Bei meiner Unerfahrenheit werde es nicht schwerfallen, mich hinters Licht zu führen. Aber war das ein Grund, gar nicht zuzusehen und unbesehen der Gegenseite alles zu glauben? Ich besuchte die erste öffentliche Wiener Arbeiterversammlung, die ich in der „Gleichheit" angekündigt fand — ich sage Arbeiterversammlung, nicht Parteiversammlung; denn die Partei war verboten, die politischen Vereine waren aufgelöst, die in ihrem Sinne tätig waren. Es war kein sehr grosser und ein schlecht beleuchteter Saal, in dem die Versammlung stattfand. Es ging höchst korrekt parlamentarisch zu, sehr ruhig und nüchtern — nüchtern in jeder Beziehung. Kein einziger von jenen Tagedieben war zu sehen, die nach bürgerlicher Berichterstattung die Arbeiterversammlung schändeten, sich in Schnaps und Phrasen besoffen. Kein Wort, das mich abgestossen hätte. Im Gegenteil, die allgemeine Stimmung der Versammlung war eine sehr ruhige. So vielen Versammlungen ich später beigewohnt hatte, keine verlief so still wie diese. Das erklärt sich durch die trostlose Lage, in der sich die Partei damals befand. Von 1867 bis 1872 war sie rasch emporgewachsen. Aber die österreichischen Arbeitermassen waren noch zu ungeschickt und naiv, als dass sie imstande gewesen wären, erheblichen Widerständen andauernd standzuhalten. Schon die Niederlage der Pariser Commune im Mai 1871 wirkte ernüchternd. Jenen, die da vermeint hatten, das Proletariat werde rasch und leicht zu einem herrlichen 1

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In der Abschrift steht „jemand". B.K. So in der Abschrift. B.K.

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Dasein gelangen, wurde jetzt gezeigt, wie gewaltige Widerstände noch zu überwinden seien, selbst in Frankreich, dem auserwählten Land der Revolutionen, wie denn erst in Österreich! Dazu kam dann 1872 die Spaltung der Partei, von der noch zu reden sein wird, und endlich 1873 die Krise, die eine furchtbare Arbeitslosigkeit nach sich zog. Jetzt schwanden rasch Widerstandskraft und Zuversicht unter den Arbeitern. Die Reihen der Parteigenossen lichteten sich immer mehr. Sogar die Zahl der Führer, die den Kampf weiterführten, nahm rasch ab. Die Partei war zu arm und zu schwach, ihnen eine Existenz zu geben. Und die bürgerliche Welt verweigerte ihnen jede Erwerbsmöglichkeit, solange sie in vorgeschobener Stellung allen Augen sichtbar blieben. Einer nach dem andern zog sich von der Parteitätigkeit zurück. Manche verliessen direkt Österreich. Den tiefsten Eindruck machte es, als der bekannteste und begabteste Führer der Partei, Andreas Scheu, im Juli 1874 ins Ausland zog. Sein Bruder Heinrich war ihm vorgegangen, nach Stuttgart übersiedelt. Andreas ging nach England. In Wien blieb von den drei Brüdern nur Josef, ein treuer, eifriger Genosse, der aber am Parteileben offen nicht teilnahm. Er war Mitglied des Orchesters des K. u. K. Hofburgtheaters. In dieser Situation des „rette sich, wer kann", fand die erste öffentliche Arbeiterversammlung statt, der ich beiwohnte. Nicht „vorwärts zum Sieg!" war damals die Parole, sondern „verzagt nicht, es wird wieder besser werden, lauft nicht davon." Es war allerdings eine Elite, die unter diesen Umständen bei der Parteifahne ausharrte. An die Anwerbung neuer Rekruten dachten die leitenden Genossen in jener bedrängten Situation nicht. Mir aber gefielen die Männer, die weiterkämpften, trotz alledem. Sie gewannen mein Vertrauen. Ich entschloss mich, der Partei beizutreten. Wie aber das tun? Eine Parteiorganisation, deren Mitglied ich werden konnte, gab es, wie schon gesagt, zur Zeit nicht. Die Genossen wurden nur geistig zusammengehalten durch ihr Organ, die „Gleichheit". Ich dachte daran, mich einem der Redakteure vorzustellen und ihm meine Absicht, für unsere Sache tätig zu sein, darzulegen. Aber die Redaktion hatte ihren Sitz in Wiener-Neustadt, nicht in Wien. Am einfachsten erschien es mir schliesslich, mich [bei] einem Arbeiterball einzufinden, der für den 10. Januar 1875 in den Sälen der Gartenbaugesellschaft in Wien angekündigt war. Solche Bälle fanden jedes Jahr statt, waren sehr beliebt, weil sie eine Gelegenheit gaben, bei der sich alle zusammenfanden, die sich als Parteigenossen fühlten, auch solche, die nicht aktiv an der Parteiarbeit teilnahmen, wozu namentlich die Verbreitung des Parteiorgans und die Teilnahme an den Versammlungen gehörte. Auch lieferten die Bälle zumeist einen

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hübschen Überschuss, dessen die „Gleichheit" dringend bedurfte, die an beständigem Defizit litt. Ich begab mich zum Ball und wendete mich an einen der beim Eingang herumstehenden Ordner mit der Bitte, er möge mich zu einem der leitenden Genossen führen. Ich habe ihm eine Mitteilung zu machen. Er führte mich zu Johann Schwarzinger, der gerade in der Nähe stand. Man konnte ihn damals das Haupt der Partei nennen, er war der Redakteur der „Gleichheit" geworden, nachdem Scheu Österreich verlassen. Ich stellte mich vor als Student, der zur Überzeugung von der Notwendigkeit des Sozialismus gekommen sei und gern für unsere Sache arbeiten wolle. Man möge mir raten, was ich in dieser Beziehung tun könnte. Es hätte mich nicht überrascht, wenn man mich, den völlig unbekannten „Bourgeois", zunächst, wenn auch nicht mit Misstrauen, so doch mit kühler Reserve aufgenommen und gesagt hätte: nun gut, lass uns sehen, wes Geistes Kind du bist und was du leisten kannst. Ich konnte ja ein neugieriger Schlachtenbummler oder gar ein Spion der bürgerlichen Presse, wenn schon nicht der Polizei sein. Zu meinem grossen Erstaunen hiess mich Schwarzinger sofort aufs herzlichste willkommen und führte mich zu dem Tisch, an dem die ganzen leitenden Genossen beisammen sassen. Ich lernte sie mit einem Schlag alle kennen und wurde ohne weiteres als einer der Ihrigen behandelt. Und ich merkte mit Vergnügen, dass ich doch schon genug wusste, um mit Verständnis ihren Diskussionen folgen und gelegentlich sogar ein Wort einwerfen zu können. Meine Parteifreunde haben glücklicherweise das herzliche Vertrauen, das sie mir sofort entgegenbrachten, nicht zu bedauern gebraucht. Soll ich sie als so gute Menschenkenner betrachten, dass sie mich bloss auf mein ehrliches Gesicht hin ohne Gefahr einer späteren Enttäuschung sofort zu einem der Ihren machten? Ich glaube, für meine gute Aufnahme ohne jede Karenzzeit kommt vielmehr ein anderes Moment in Frage. Ich habe eben von der bedrängten Lage der Partei gesprochen, die alle Mühe hatte, die bereits gewonnenen Genossen bei der Stange zu halten, jede Desertion zu verhüten. Ein neues Mitglied zu gewinnen, war unter diesen Umständen ein zu grosser Glücksfall, als dass man Lust gehabt hätte, einem solchen gegenüber kritisch zu sein. Und warum auch? Die Sozialdemokratie war kein Geheimbund, etwa nach Art der Freimaurer, die mehrere Stufen der Mitgliedschaft kennen und jedem Neuhinzugekommenen eine Reihe von Proben auferlegen, ehe er zur nächsthöheren aufsteigen kann. Mein Beitritt zur Partei musste aber um so mehr hohes Erstaunen auslösen, als ich mich ihr nicht bloss in einer Zeit allgemeiner Mut231

losigkeit anschloss, sondern als ich ein Student war. Im Jahre 1848 hatten in Wien Studenten und Arbeiter tapfer und begeistert zusammen gekämpft. Die jüngere Generation der Studenten hielt es ganz anders, wenigstens in Wien. Für die neue Arbeiterbewegung, die seit 1867 emporwuchs, hatten sie nicht das mindeste Interesse übrig1. Vor mir gab es nur zwei oder drei Studenten, die der Partei beigetreten waren. Und der eine von ihnen war nicht in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen, sondern ein Findelkind, der Student Emil Reinthal. Ausserdem gehörte auch er zu jenen Führern, die sich in jener Zeit teilweise von der Partei zurückgezogen hatten. Schon vor Andreas Scheu war er ins Ausland gegangen. Merkwürdigerweise nach Nordhausen, wo er in die Redaktion eines Lokalblatts eintrat. Ein anderer, Ignaz Metall, gehörte zu den Oberwinderianern, von denen noch zu sprechen sein wird. Zu der Zeit, als ich mich zum Beitritt in die Partei meldete, war ich der einzige Student in ihr und ich sollte es bleiben, solange ich in Österreich wirkte, bis 1880, mit Ausnahme des erwähnten Reinthal, der einige Monate nach meinem Beitritt aus Deutschland wieder zurückkehrte und seine Parteitätigkeit wieder aufnahm. Kein weiterer Student hat sich der Partei angeschlossen, solange ich in Österreich weilte. Auf der Universität habe ich keinen einzigen sozialistischen Studenten angetroffen. Erst seit Victor Adler der sozialistischen Partei beitrat, hat sich das geändert, im Jahre 1886. Nur eine Ausnahme habe ich zu verzeichnen, allerdings eine sehr ephemere. Im Frühjahr 1878 erschien bei mir ein junger Mann, Chemiker, der eben seinen Doktor absolviert hatte. Irgend jemand hatte ihn auf mich aufmerksam gemacht. Er kam nun und bat, ich möge ihn in die sozialistische Gedankenwelt einführen, die ihn interessierte. Mit Freuden ging ich darauf ein. Wir begegneten uns öfter, er war nett, intelligent und eifrig. Wir verstanden uns sehr gut. Er begann für uns zu schreiben, allerdings unter Verschweigung seines wirklichen Namens, den durfte niemand erfahren. Ich bewahrte natürlich streng seine Anonymität den Genossen gegenüber. Ich halte mich auch heute noch nicht für berechtigt, sie zu lüften, obwohl er seitdem ein sehr grosses Tier geworden ist auf einem ganz unpolitischen Feld. In dem Arbeiterkalender von 1879 veröffentlichte mein chemischer Freund einen Artikel gegen den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, der in katholischen Kreisen argen Zorn hervorrief. Gezeichnet war der Artikel mit Dr. Sogol. Dieser Artikel wurde im Sommer 1878 verfasst. Im Oktober des gleichen Jahres bekam der „Dr. Sogol" eine Lehrstelle an der Realschule in Troppau. Wir korrespondierten miteinander, bis 1

In der Abschrift heisst es „über". B.K.

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ich eines Tages erfuhr, bei ihm sei gehaussucht worden. Gleich darauf traf ein Brief von ihm bei mir ein, dessen Anrede mich schon stutzig machte; denn wir hatten uns geduzt. „Sehr geehrter Herr," hiess es da (ungefähr, ich besitze den Brief nicht mehr, zitiere aus der Erinnerung), „Sie haben mir ohne jede Aufforderung Schriften geschickt, die ich nicht haben will, da sie mich kompromittieren. Bitte verschonen Sie mich mit weiteren Zusendungen." Der Brief sollte natürlich nur eine Finte sein. Ich hatte ihm keine Schriften geschickt. Wenn man bei ihm welche vorfand, musste er sie auf anderem Wege erhalten haben. Irgend etwas Gesetzwidriges hatte man auch bei ihm nicht festgestellt, sonst wäre es zu einem Prozess gekommen. Ich nahm an, der Brief solle mich bloss darauf aufmerksam machen, wie er sich verantworte, und ein Hinweis darauf sein, wie ich aussagen sollte, wenn ich in der Sache vernommen würde. Ich verübelte ihm daher sein Vorgehen nicht, sah aber darin auch einen Hinweis darauf, dass ihm die Parteisache zu gefährlich sei und er mit uns nichts mehr zu tun haben wolle. Ich habe daher auf den Brief nicht reagiert. Und „Dr. Sogol" hat sich auch später nicht mehr in der Partei sehen lassen. Er und Reinthal waren die einzigen Akademiker, die ich von 1875 bis 1880 in der Partei traf. Ich muss also in den Augen meiner neuen Genossen ein höchst seltenes Tier gewesen sein, für sie ebenso interessant wie für die Naturforscher zu Anfang unseres Jahrhunderts das Okapi. Aber welches immer die Gründe gewesen sein mögen, die meine sofortige, rückhaltslos herzliche Aufnahme in den Kreis der Parteigenossen herbeiführte, sie wirkte auf mich anfeuernd und belebend. Ich fühlte mich hier sofort zu Hause. Am 11. Januar 1875 schrieb ich in mein Tagebuch: „Das neue Jahr fängt gut an. Voriges Jahr soviel erlebt und gelernt, hoffen wir, es werde heuer nicht schlechter werden. Der gestrige Tag wenigstens ist, wie ich hoffe, eine Epoche in meinem Leben. Der Rubikon ist überschritten, alea est jacta! Ich bin in die Sozialdemokratische Partei aufgenommen, nur als Verräter kann ich sie wieder verlassen. Tue ich das, dann ists am besten, man hängt mich an den ersten Laternenpfahl. Doch warum vor Wankelmut sich fürchten, mehr denn je bin ich Sozialdemokrat mit Leib und Seele, nicht nur die Sache ist gut, auch ihre Vertreter sind liebe gute Leute. Weg mit dem roten Gespenst, das die Bourgeois aufgebracht, solcher Kampfgenossen habe ich mich nicht zu schämen. Es ist eine Ehre, in ihren Reihen zu dienen. So mögen denn meine Hoffnungen nicht zuschanden werden!" Und sie wurden nicht zuschanden. 62 Jahre sind verflossen, seitdem ich zur Partei gehöre, und nie bin ich auch nur für eine Sekunde an ihr irre geworden. Natürlich, Menschen sind wir alle, 233

es gibt nicht wenige Genossen, über die ich mich gelegentlich weidlich ärgerte, mitunter sogar manchen, dessen ich mich schämte. Aber, was mir Victor Adler später einmal sagte, das lernte ich schon früh einsehen: Wir sind alle Produkte der gegenwärtigen Gesellschaft, keiner ein Idealmensch. Doch brauchen wir nicht allzu bescheiden zu sein: unsere hohen Ziele erheben doch die Masse unserer Genossen über den Durchschnittsmenschen. Fehlerlos ist keiner unter uns, aber verglichen mit den Massen, die sich unter anderen Fahnen scharen, dürfen wir doch sagen: wir Wilden sind die bessern Menschen. Mein Zutrauen zu den Persönlichkeiten der Sozialdemokratie hat sich in den 62 Jahren meiner Parteitätigkeit ebensowenig geändert wie mein Zutrauen zu ihren Lehren und Zielen. 2. V E R S U C H D E R

ERWERBSTÄTIGKEIT

a. Jurist. Mit meinem Beitritt zur Sozialdemokratie erstand für mich von neuem die Frage, was werden? Ich hatte von vornherein meine Aussichten sehr skeptisch beurteilt, mich bei meinen Anschauungen im Staatsdienst behaupten zu können. Jetzt, da ich Mitglied der verfemten Partei geworden war und in ihr tätig sein wollte, erschien es mir überhaupt ausgeschlossen, an einer öffentlichen Lehranstalt unterzukommen. Was nun? Meine nähere Bekanntschaft mit der Partei zeigte mir die klägliche Lage ihrer Redakteure bei den wenigen dürftigen Blättchen, die sie herausgab. Das Gehalt eines Redakteurs der „Gleichheit" überstieg nur wenig das Existenzminimum. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie hoch es war, weiss aber, dass die Farbenreiber, die mein Vater beschäftigte, auch nicht weniger bekamen. Das mochte ausreichen für die beiden Redakteure, die zuerst die „Gleichheit" redigierten. Erst Robert Wagner, dann Johann Schwarzinger. Beide waren Schriftsetzer, sie arbeiteten ebensosehr als solche am Blatte wie als Redakteure. Ausser dem Redaktionsgehalt bezogen sie noch den erheblich höheren Setzerlohn. Das änderte sich, als Reinthal aus Deutschland wieder zurückkam und die Redaktion erhielt. Er war Philosoph, nicht Schriftsetzer, lebte bloss von seiner Feder. Jammervoll hungerte er sich durch. Und ähnliches blühte damals in Wien jedem Parteiredakteur, der nicht das Glück gehabt hatte, sich der „schwarzen Kunst", der Schriftsetzerei, zu ergeben. Oberwinder fühlte sich schliesslich gedrängt, ausser für die Presse seiner Partei auch für die bürgerliche Presse zu arbeiten. Diesen Ausweg lehnte ich natürlich ab. Also musste ein anderer gesucht werden. Ich fragte mich, ob ich denn durchaus der philosophischen Fakultät treu 234

bleiben müsse. Als Jurist, als Advokat hatte ich Aussichten, mir eine Existenz zu gründen. Völlig unabhängig von der Staatsgewalt und auch vom Kapital und den bürgerlichen Parteien. Allerdings würde meine wissenschaftliche Arbeit als Historiker darunter leiden. Das war sehr betrüblich, denn an dieser Arbeit hing ich. Aber dafür konnte ich der Partei als Advokat, namentlich als Verteidiger vor Gericht, erhebliche Dienste leisten. Zahllos waren damals die Prozesse, die gegen Sozialisten angestrengt wurden. Nicht wenige Advokaten mussten von der Partei zu diesem Zweck herangezogen werden. Aber noch gab es keine sozialdemokratischen Advokaten. Parteifremden mussten die Verteidigungsfunktionen übertragen werden. Es waren meist sehr tüchtige Juristen, die sich uns aus Anstandsgefühl, als Protest gegen die damals grassierenden Rechtsbeugungen oder aus demokratischen Empfindungen als Verteidiger zur Verfügung stellten. Sie waren sehr willkommen, leisteten uns grosse Dienste, aber nicht immer verstanden sie völlig den Standpunkt der Partei, nicht immer vermochten sie es, ihn richtig zur Geltung zu bringen. Sie bemühten sich bloss, die Freisprechung des Angeklagten zu erwirken. Den Prozess für Propagandazwecke zu benützen, war nicht ihre Absicht und konnte es nicht sein. Für einen sozialistischen Advokaten gab es also viel zu tun. So sattelte ich schon im zweiten Semester auf der Universität um, wendete der philosophischen Fakultät den Rücken und ergab mich der Jurisprudenz. Ich inskribierte hauptsächlich Pandekten bei Maassen, Exner, Hofmann, sowie deutsches Erbrecht bei Siegel. Eine historische Vorlesung konnte ich jedoch nicht missen: allgemeine Geschichte des 19. Jahrhundert bei O. Lorenz. Nur mit Mühe führte ich das Semester zu Ende. Gegen dessen Schluss befiel mich eine hochgradige Mattigkeit mit Fieber, die mich schliesslich ins Bett zwang. Der Dr. Scholz diagnostizierte abermals eine Herzbeutelentzündung. Stimmte die Diagnose, dann hatte ich mir das Leiden wohl durch körperliche Uberanstrengung zugezogen. Ich war auf dem Gymnasium ein ausgezeichneter Turner gewesen. In diesem Gegenstand hatte ich meine besten Noten davongetragen. Während der beiden letzten Jahre vor dem Abiturium hatte mich mein Turnlehrer Schestauber ausersehen, als sein Adjunkt einige Riegen zu leiten, also selbst Turnunterricht zu erteilen. Ich erhielt auch durch ihn Privatstunden als Turnlehrer — das erste Geld, das ich verdiente, habe ich auf diese Weise erworben. Auf der Universität beschloss ich, diese Tätigkeit fortzusetzen, mich zu einem berufsmässigen Turnlehrer auszubilden. Ich besuchte den Kurs zur Heranbildung von Turnlehrern an der Universität und trat in einen Turnverein ein. Schliesslich ward mir die Genugtuung zuteil, in der 235

Wiedner Oberrealschule als Turnlehrer angestellt zu werden, allerdings mit dem mehr langen als imponierenden Titel: provisorischer Turnlehrersstellvertreter. Ich hatte nur einen erkrankten Kollegen zu vertreten. Mit dem Ende des Schuljahrs 1875 hörte diese Tätigkeit auf, sank ich aber auch erschöpft zusammen. Wie von der ersten Herzbeutelentzündung 1867 erholte ich mich auch von der zweiten nach einigen Monaten der Ruhe sehr rasch, ohne irgendwelche Folgen zu verspüren. Aber eine Warnung sah ich doch in der Krankheit. Ich fuhr fort, weiter zu turnen, aber nur noch zu meinem Vergnügen. Bald fehlte mir auch dazu die Zeit. Auf intensive Turnerei oder gar Turnlehrerei verzichtete ich vollständig. Schliesslich musste ich mir sagen, dass auch diese Art der Lehrbetätigung von den Behörden abhängig sei und mir nicht lange gestattet würde, sobald ich in der Partei mehr hervortrete. Aber noch eine andere Verzichtleistung vollzog ich damals. Ich sagte der Juristerei Ade. Ich hatte für meine juristischen Vorlesungen gar kein wissenschaftliches Interesse aufbringen können, soweit sie nicht historischer Natur waren. Und je vertrauter ich mit der Partei wurde, je mehr ich mich an ihrer Tätigkeit beteiligte, desto deutlicher empfand ich es, dass mir die Rednergabe versagt sei. Es dauerte lange und kostete mich viel Uberwindung, ehe ich mich einmal zu einer Rede entschloss. Und wenn ich einmal redete, empfand ich Unbehagen und war unzufrieden mit mir selbst. Meine Ausführungen blieben dann stets weit zurück hinter dem, was zu sagen war und was ich selbst geäussert hätte, wenn ich mich an meinem Schreibtisch befunden hätte und nicht vor einer Versammlung. Etwas anderes als Reden waren vorbereitete Vorträge. Solche hielt ich gern und zeitweise recht oft, jedoch nicht über aktuelle, sondern über historische Themata; über die hatte ich meinen Hörern etwas zu sagen, was sie noch nicht wussten. Dagegen über aktuelle Politik, da hatte ich die Empfindung, wisse mancher der Anwesenden ebensoviel, wenn nicht mehr als ich. Meinen ersten Vortrag hielt ich über die Gracchen. Ich hatte ihn ausgearbeitet und wusste ihn fast auswendig. Der Vortrag war auf eine Stunde berechnet, doch sprach ich ihn so schnell, dass ich in 20 Minuten fertig war. Ob da die Hörenden viel verstanden hatten, bezweifle ich. Später besserte sich das, ich lernte langsam und deutlich sprechen. Meine Vorträge wurden auch begehrt, namentlich die über die französische Revolution. Allerdings wurden diese bald verboten. Es nützte nichts, dass ich sie als Vorträge über das 18. Jahrhundert tarnte. Es war bei jedem Vortrag ein Regierungsvertreter dabei, der höllisch aufpasste und mit der Auflösung der Versammlung drohte, wenn ich auf die Revolution zu sprechen kam.

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Einmal wollte ein heiterer Zufall, dass sich der überwachende Polizeikommissär als alter Gymnasialkollege entpuppte. Er wurde sehr verlegen, als ich ihn ansprach, und zwar mit Servus und du. Aber auch die Genossen waren etwas verdutzt über die Vertraulichkeit zwischen mir und dem Polizisten. Er entschuldigte sich, dass er als armer Teufel keinen andern Erwerb gefunden hätte als bei der Polizei, benahm sich übrigens sehr anständig. Ob er bei der Polizei blieb, weiss ich nicht, ich bekam ihn nicht mehr zu Gesicht. Hoffentlich hat ihm meine freundschaftliche Ansprache bei jener Gelegenheit nicht geschadet. Ausser dem Regierungsvertreter gab es in den Versammlungen auch Spitzel in Zivil. Trotz fleissiger Vortragstätigkeit wurde ich kein Redner, keiner jener Wortgewaltigen, dem ohne jede Vorbereitung „ein Gott es gibt zu sagen", nicht nur was er leidet, sondern auch, was in ihm kocht und brodelt, und der durch seine flammende Beredsamkeit seine Zuhörer mit sich fortreisst. Sollten meine Vorträge Eindruck gemacht haben, so sicher nur durch das, was ich sagte, nicht durch das, wie ich es sagte. War es da ratsam, dass ich mich der Advokatur zuwendete? Ich dachte an sie nicht im Hinblick auf Zivilprozesse, sondern auf politische Prozesse, als Verteidiger angeklagter Genossen. Ich stellte mir dabei vor allem die Aufgabe, den Staatsanwalt in den Grund zu bohren. Wie konnte ich das, wenn ich nicht ein glänzender Redner war? Ich zweifelte immer mehr an meiner Begabung, nicht nur für das juristische Denken, die juristische Theorie, sondern ebensosehr für die juristische Praxis. b. Maler. Als das dritte Semester meiner Universitätsstudien begann, hatte ich mich schon entschieden, neuerdings umzusatteln und reuig in die Arme der verlassenen Philosophie zurückzukehren. Ich belegte wieder eine Vorlesung bei Büdinger über „Die Römerherrschaft", bei dem ich auch im historischen Seminar arbeitete. Dann hörte ich den jungen Fournier, der eben seine Privatdozentur antrat, in der „Geschichte der Revolutionszeit" und Simony, über „Vergleichende Darstellung der grösseren Staaten Europas". Das war die einzige Vorlesung, die mir einigermassen etwas ökonomisches Wissen zu bringen versprach. Leider betrieb Simony die Geographie vorwiegend vom physikalischen, nicht von ökonomischen Standpunkt aus. Für meine allgemeine Bildung fand ich auf der Universität natürlich reichlich sprudelnde Quellen. Dagegen nichts für meine sozialistische oder auch ökonomische Bildung. Auf der philosophischen Fakultät wurden überhaupt keine ökonomischen Kollegien gelesen. 237

Die gab es nur auf der juristischen. Jedoch auch dort behandelte einzig Lorenz von Stein ökonomische Themata, und der lehrte nicht etwa ökonomische Theorie, sondern Finanzwissenschaft, die als Ausgangspunkt ökonomischen Studiums nicht zu brauchen war, so wichtig ihr praktischer Nutzen für Parlamentarier und Staatsbeamte sein mochte. Neben dem Besuch der Kollegien kamen noch andere Tätigkeiten für mich in Betracht, die mir zeitweise viel wichtiger erschienen. Mit der Juristerei war es nichts. Gab es keinen andern Erwerbszweig, der mir eine ökonomische Selbständigkeit versprach, so dass ich mich ungehemmt durch Massregelungen ganz der Partei widmen konnte? Ich hoffte, einen solchen zu finden in der Malerei. Wie schon früher erwähnt, hatte ich stets ohne jegliche Anleitung gerne gezeichnet im Gymnasium, nicht selten zum Schaden meiner Studien. Mitunter, wenn es schien, ich komme auf dem Gymnasium nicht mehr vorwärts, hatte ich mich stets mit dem Gedanken getröstet, dass ich dann Maler werden wollte. Ein Kindertheater einzurichten, dafür Dekorationen zu entwerfen und zu malen, war mir schon früh eine Wonne. Die Freunde der Familie, die meine Arbeiten sahen, erklärten auch, ich besitze Talent. In den letzten Jahren des Gymnasiums, als ich der Lausbüberei entwachsen war, hatte ich auch begonnen, die Kunst ernsthaft zu betreiben. In freien Stunden wanderte ich gern mit Skizzenbuch und Bleistift durch die Wälder, durch die Auen und brachte zu Papier, was mir Sehenswertes (und für meine noch geringe Kunstfertigkeit Darstellbares) vor Augen kam, Bäume, Felsen, Hütten etc. So 1872 in den Wäldern um Weidling, so 1873 im Mürztal, oberhalb Mürzzuschlags. Im Sommer 1874 auf der Fusstour nach der Matura war ich nicht allein gewandert. Für das Schaffen in der Kunst wie in der Wissenschaft ist aber Geselligkeit vom Übel. Im Sommer 1875 jedoch, in Rodaun, betrieb ich das Zeichnen mit aller Macht. Und nachdem ich auf die Juristerei verzichtet, fasste ich nun ernstlich den Entschluss, Maler zu werden, mir als Maler mein Brot zu verdienen. Allerdings konnte ich mich nicht entschliessen, gleich die Schiffe hinter mir zu verbrennen, auch auf das Studium gleich zu verzichten. Ich belegte neue Kollegien, wie ich eben gezeigt, und frequentierte sie auch. Ich wollte erst sehen, wie mir die Kunst als Beruf behagte und was ich in ihr leiste. Aber in meine Kunstübungen sollte nun Ernst und System hineinkommen. Ich belegte einen Zeichenkurs bei Prof. Valentin Teirich im Kunstgewerbemuseum. Ausserdem liess mich ein Freund der Familie, der Porträtmaler Noltsch, nach antiken Gipsabgüssen Köpfe zeichnen. Endlich versuchte ich mich unter Anleitung meines Vaters im Malen. In der Aquarellmalerei hatte ich es schon zu einiger Fertigkeit gebracht. Nun ging ich an die Ölmalerei heran. 238

Ich kopierte Skizzen meines Vaters und versuchte dann nach Modellen zu malen, ausgestopften Tieren. Schliesslich malte ich sogar schon nach einem lebenden Modell, allerdings nur einem Meerschweinchen. Domaszewskis Schwester besass eins, das sie sehr liebte. Ich wurde gebeten, es abzukonterfeien. Ich machte den Versuch, die Sache war schwierig, denn das Modell unruhig. Doch gelang es mit Hilfe einiger saftiger gelber Rüben, das Tierchen für längere Zeit in meiner Nähe zu halten. Nach drei Sitzungen war das grosse Werk gelungen, und die Besitzerin des Meerschweinchens zeigte sich befriedigt. Bald war ich so weit, dass mein Vater daran denken konnte, mir einzelne, weniger wichtige Arbeiten zu überlassen. Schon 1873 hatte er mich einmal zur Hilfeleistung herangezogen, das geschah bei den Vorbereitungsarbeiten für die Weltausstellung. Mein Vater hatte es übernommen, für den ägyptischen Pavillon ein Panorama von Kairo zu malen. Die Zeit drängte, seine Hilfskräfte waren anderweitig voll beschäftigt, da vertraute er mir die Aufgabe an, einen Teil des Panoramas zu zeichnen, natürlich unter seiner Anleitung und nach seinem Entwurf. Es war keine schöpferische, künstlerische Arbeit, sondern blosses Kopieren — in ungemein vergrössertem Masstabe — einzelner Photographien. Das erforderte nur Gewissenhaftigkeit und ein geübtes Sehvermögen. Darüber verfügte ich, dazu hatte mich mein Vater erzogen, wenn ich mit ihm eine Galerie besuchte oder in der Natur spazierenging. Die Arbeit am Panorama von Kairo brachte mir den Genuss der Bekanntschaft mit dem grossen Ägyptologen H. K. Brugsch, der seit 1870 in ägyptischen Diensten stand, 1873 Generalkommissär Ägyptens bei der Wiener Weltausstellung war. Er kam einige Male zu uns, nachzusehen, wie die Arbeit mit dem Panorama vor sich gehe, zeigte sich dabei sehr freundlich und gesprächig und freute sich sehr, dass mich ägyptische Geschichte interessiere. Freilich interessierte sie mich nicht mehr als andere Geschichte auch. Wohl aber war die Begegnung ein Anlass, mich mit ägyptischer Geschichte zu beschäftigen. Zunächst las ich Brugsch's Buch über seine Wanderung nach dem Sinai. Im Frühjahr 1876 war ich natürlich schon viel weiter als 1873. Mein Vater trug jetzt kein Bedenken, die Ausführung einer Reihe von Faschingsdekorationen, die ihm übertragen war, mit Zustimmung der Besteller an mich abzugeben. Die Dekorationen wurden auch akzeptiert, ob sie Beifall ernteten, weiss ich nicht. Bei dem Fest, auf dem sie vorgeführt wurden, konnte ich nicht anwesend sein. Sicher aber wurden sie bezahlt. Habe ich mein erstes Geldeinkommen aus der Turnerei gezogen, so mein zweites aus der Malerei. Meine Feder hatte mir noch nichts eingebracht. Alles schien sich vortrefflich zu machen, und doch nahte jetzt eine

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grosse schwierige Frage: was ich bisher geleistet, war blosser Dilettantismus gewesen. Wollte ich wirklicher Künstler werden, dann musste ich der Kunst meine ganze Kraft und Zeit widmen. Und dasselbe erwartete mein Vater von mir auch für später. Denn er nahm an und ich rechnete ebenso, dass ich in seinem Atelier unter seiner Leitung arbeiten und mir dadurch die schreckliche Hungerperiode ersparen würde, die fast jeder Künstler durchzumachen hat, der noch unbekannt und vermögenslos ist. Vertrug sich diese völlige Hingabe an die Malerei mit meinen Plänen, meinen Neigungen oder vielmehr mit den starken politischen und wissenschaftlichen Bedürfnissen, die ich empfand? Was nützte mir die ökonomische Selbständigkeit durch die Kunst, wenn sie mich der Partei und Wissenschaft entfremdete? Für diese lebte ich vor allem, ohne Arbeit für sie fühlte ich mich steinunglücklich. Doch im stillen hoffte ich, auch als Maler würde ich freie Zeit für das finden, was mir bereits Lebensinhalt geworden war. Allerdings, meine Arbeit in dieser Richtung würde nur noch Feierabendarbeit sein. Diesem Stadium innerer Unsicherheit, ja Zerrissenheit wurde eines schönen Tages in ganz überraschender Weise ein Ende gemacht. Mich befiel ein heftiges Augenleiden, das mich veranlasste, den Professor Arlt zu konsultieren, damals den bedeutendsten Augenspezialisten Wiens. Er untersuchte mich gründlich. Wegen des aktuellen Augenleidens beruhigte er mich. Das sei leicht zu heilen, was auch eintrat. Wenn ich mich recht erinnere, war es eine Regenbogenhautentzündung. Was ihn mehr beunruhigte, war meine hochgradige Kurzsichtigkeit und der allgemeine Zustand meiner Augen. Er fragte mich, welchen Beruf ich habe. Ich sagte, ich sei Student, gedenke aber, Maler zu werden. Er riet mir von diesem Beruf entschieden ab, wenn nicht zwingende Gründe dafür sprächen. Denn wenn ich meine Augen zu sehr anstrenge, könnten sie eines Tages völlig versagen, und das sei für einen Maler wohl das Schlimmste. Dieser Bescheid wurde entscheidend für mich. Mein Schwanken hatte ein Ende. Allerdings war damit wieder eine Aussicht verrammelt, die sich mir eröffnet hatte. Nach wie vor blieb die Frage offen, wie ich ökonomisch unabhängig werde solle, unabhängig von meinem Vater, den ich nicht länger für mich arbeiten lassen wollte, und unabhängig von der Staatsverwaltung, von der jede akademische Laufbahn abhing, unabhängig endlich auch von der bürgerlichen Presse, die allein, von dürftigen Ausnahmen abgesehen, einem Schriftsteller die Möglichkeit bot, von seiner Feder zu leben. Dennoch habe ich meinen damaligen Entschluss nie bereut. Ich glaube wohl nach allen Zeugnissen unverdächtiger Beobachter, dass ich Talent hatte; ich zweifle auch nicht, dass ich bei gehöriger 240

Schulung ein tüchtiger Maler geworden wäre, und zwar ein erfindungsreicher. An Phantasie hat es mir nie gemangelt. Aber Menschen mit Maltalent gibt es zu Tausenden. Um ein hervorragender Künstler zu werden, muss man mehr besitzen als Talent: Genie. Und dass ich das besass, das bezweifle ich sehr. Wer auf einem Gebiete der Kunst genial begabt ist, den lässt sie nicht los, der hängt an ihr mit allen Fasern seines Herzens. Das war bei mir der Malerei gegenüber nicht der Fall. Wohl schmerzte mich die fehlgegangene Hoffnung, wohl trauerte ich ihr nach, aber es ging auch ohne sie. Ganz anders verhielt es sich mit meiner politischen und wissenschaftlichen Arbeit. Auf sie hätte ich auf keinen Fall verzichtet. Um ihretwillen hätte ich das Schwerste auf mich genommen. Das war das Gebiet, auf dem ich das Beste von dem leistete, was ich mit meinen Gaben zu leisten vermochte. Jede andere Arbeit, die mich von diesem Gebiet ablenkte, musste, auch wenn sie mir ein sorgenloses Dasein ermöglichte, mich früher oder später bedrücken, mir als eine Vergewaltigung meines besseren Selbst erscheinen. c.

Dramatiker.

Ich war schon nahe daran, alle Hoffnung aufzugeben, dass es mir gelingen könne, eine von den herrschenden Mächten unabhängige Erwerbsart zu finden, da war es mein Vater selbst, der mir eine solche suggerierte. Am liebsten wäre es ihm wohl gewesen, wenn ich mich ganz zu einer akademischen Laufbahn entschlossen hätte. Er wünschte von mir nicht das Aufgeben meiner Ideen. Sowenig er sie teilte, einen ideellen Zwang wollte er nicht ausüben. Er kannte mich auch zu gut, um nicht zu wissen, dass der mich erst recht rebellisch gemacht hätte. Nein, meinen Ideen sollte ich treu bleiben, nur aufhören, sie mit den Mitteln der Parteipolitik zu verfechten. Wieviel wirksamer könnte ich das als Professor, als ein angesehener Gelehrter tun. Dass ich zu einem solchen das Zeug habe, daran zweifelte er nicht. Nur auf die leidige Politik sollte ich verzichten; könnte ich mich dazu entschliessen, dann wolle er mir gerne alle Mittel für viele Jahre hinaus zur Verfügung stellen, deren ich bedürfe, um eine Professur zu erlangen. Dass ich bei meinem Mangel an Protektion dazu viele Jahre brauchen würde, darauf waren wir gefasst. Gleichzeitig aber suggerierte mir mein Vater eine andere Idee, die, wenn sie Erfolg hatte, mir die Mittel zu bieten versprach, völlig ungehemmt meine ganze Kraft der Partei und ihrer Politik zur Verfügung zu stellen, also gerade das zu bewirken, was er mit aller Macht zu beseitigen suchte. So entschieden ich die Forderung des Verzichts auf die Parteipolitik ablehnte, so sehr verlockte mich die 241

andere Idee, die von seiner Seite kam. Mein Vater forderte mich nämlich auf, ihm ein Ausstattungsstück zu schreiben, von dem er reiche Einnahmen für sich und mich erhoffte. In der Tat ist ein erfolgreiches Bühnenstück die ergiebigste Erwerbsquelle, die man sich denken kann, ergiebiger noch als ein erfolgreicher Roman — es müsste denn einer von Karl May oder von der Courts-Mahler sein. Gelang mir der grosse Wurf, ein Theaterstück zu schreiben, das viele Aufführungen erlebte, das brachte mir dann 1 viele Einnahmen, und zwar in ganz anderer Weise, wie wenn ich Maler geworden wäre. Da hätte ich fast meine ganze Zeit und Kraft meinem Beruf widmen müssen, für die Partei und Wissenschaft wäre zu wenig übrig geblieben. Ganz anders stand es, wenn mir ein Theaterstück gelang. War es geschrieben, dann arbeiteten in den verschiedensten Städten Schauspieler, Musiker, Theaterarbeiter für mich, brachten mir reiche Einnahmen und ich hatte meine ganze Zeit frei zur Arbeit für die Sozialdemokratie. Das war also eine sehr verlockende Idee, die allen Schwierigkeiten für mich ein Ende bereitete, freilich nur dann, wenn sie gelang. Hatte ich das Zeug dazu, ein gutes Theaterstück zu schreiben? Die Lust dazu hatte ich schon als Kind bezeugt. Sie war geringer geworden, als mich ernstes sozialistisches Streben erfasst hatte. Wie man gesehen, bediente ich mich leichter der Form der Erzählung, dann der Abhandlung und schliesslich des gelehrten Buches als der Formen des Dramas, um meine Ideen zur Darstellung zu bringen. Indes verzichtete ich nicht ganz auf jegliche Beschäftigung mit der Dramatik. Immer wieder, von Zeit zu Zeit begann ich ein Theaterstück. Das waren zumeist nur Spielereien, doch begann ich meine dramatischen Versuche ernsthafter zu nehmen, als ich der Malerei entsagt hatte und nach anderen Erwerbsquellen aussah. Im Jahre 1877 vollendete ich zwei Theaterstücke, von denen jedes den Abend füllte. Beide hatten den gleichen Ausgangspunkt. Ein junger Mann, der zur Hypochondrie neigt und dem sein Arzt einredet, er sei schwerkrank. Ein Mädchen veranlasst ihn zu regem Tun und macht ihn dadurch seiner Gesundheit bewusst und lebensfroh. Das erste dieser Stücke liess ich in Russland spielen, unter dem Zaren Peter III., der 1762 zur Regierung kam. Das Scenarium 2 , das ich In der Abschrift steht „das". B.K. Die Buchstaben Sc oder Sz bereiten der deutschen Aussprache Schwierigkeiten. Für das Wort Scepter suchte man sie dadurch zu überwinden, dass die Autokraten der deutschen Sprache dekretierten, man solle künftighin einfach „Zepter" schreiben. Dieser Erlass war sinnlos, da er sich nur auf ein einzelnes Wort bezog, die anderen Sc unberührt liess. Man wagte nicht zu verordnen, dass es künftighin heissen solle Zene, Zipio, Zylla. Die Schwierigkeit würde für alle mit Sc beginnenden Worte überwunden, wenn man sich entschliessen könnte, sie so zu schreiben, wie sie von den alten Griechen und Römern ausgesprochen wurden, die sie uns überliefert haben. Also: Skepter, Skene etc. 1

2

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angefertigt, fasst folgendermassen den Gang der Handlung zusammen: 1. Akt. In einem russischen Städtchen. Im Garten vor dem Hause eines Arztes. Komische Ordination. Der Doktor wittert überall Krankheiten. Sucht dabei die Menschheit zu regenerieren durch starke Leute, die er mit anderen starken Partnern verheiraten will. Er möchte auch die eigene Tochter mit dem Neffen verheiraten, einem baumlangen Burschen, der ein Idiot ist. Da verbreitet sich die Nachricht, der Zar komme, um seine Truppen zu inspizieren. Suche grosse Rekruten für seine Garde. Er ist ein Verehrer des preussischen Militarismus Friedrich Wilhelms und Friedrichs. Der Doktor fürchtet, die Werber könnten seinen Neffen Michael mit sich nehmen, und steckt ihn in Weiberkleider, um ihn davor zu schützen. Im Hause des Arztes ist ein junger Mann, Iwan, zur Kur. Er bildet sich ein, krank zu sein, und wird in dieser Einbildung vom Doktor bestärkt. Im Gegensatz zu dessen Tochter Natalia, die ihn für gesund hält und erklärt. Ein Werbeoffizier kommt, hat erfahren, im Hause des Doktors sei ein grosser, starker Mann zu finden, der für die Armee passe. Gemeint ist Michael, aber der erscheint als Mädchen, und so ist es der angeblich kranke Iwan, den der Offizier mit misstrauischen Blicken betrachtet. Er glaubt nicht an seine Krankheit, vom Doktor bewirtet, betrinkt er sich, Iwan trinkt mit aus Verzweiflung. Der Offizier wird gegen Natalie zu zudringlich, wird darob von Iwan niedergeschlagen. Herbeieilende Soldaten verhaften diesen, erklären ihn für den gesuchten Rekruten, für einen Simulanten. Er wird Gardist. Der zweite Akt spielt auf einem Kasernenhof, die Rekruten exerzieren, die am nächsten Tag abmarschieren sollen, Iwan dabei. Er unterbricht das Exerzieren immer wieder durch ärztliche Bedenken, die barsch zurückgewiesen werden. Wird zusehends müder und doch gesünder. Er bleibt als Wachtposten vor der Kaserne. Natalia kommt, um ihn zu trösten. Liebeserklärung mit Hindernissen, Iwan beschliesst, zu desertieren. Der Zar und der Doktor treten auf. Dieser redet jenem zu, die grossen Soldaten doch nicht der Mission zu entziehen, die menschliche Rasse zu verbessern. Der Zar, begeistert von dem Vorschlag, verspricht, seine grossen Soldaten mit grossen Frauenzimmern zu verheiraten. Er verspricht dem Wachtposten Iwan, der gewaltsam erpresst, als Entschädigung eine Frau. Michael, verkleidet als Frau, kommt, um dem Doktor etwas mitzuteilen. Der Zar, begeistert von dem riesigen Frauenzimmer, schreibt einen Zettel an den Oberst von Iwans Regiment und befiehlt Michael, ihm diesen zu überbringen. In einer Truppenrevue schliesst der Akt. Der dritte Akt spielt in einem Kasernensaal. Soldatenleben. Iwan sinnt auf Flucht. Im Moment, wo er sie ins Scene setzen will, kommt

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der Oberst mit einem Brief des Zaren. Ein Mädchen habe den Brief gebracht. Dieser enthält den Befehl, die Überbringerin sofort mit dem Soldaten zu verheiraten. Iwan ist ausser sich, begeht eine Insubordination, wird zum Tode verurteilt, vorher aber verheiratet mit der Überbringerin des Briefs. Beide sehen einander kaum an, voll Trotz und Verzweiflung. Allein gelassen, merkt Iwan, dass das Mädchen Natalia ist. Michael hatte gefürchtet, die Kaserne zu betreten, in der sein Geschlecht erkannt werden und er unter die Soldaten gesteckt werden kann. Natalia hatte ihm die Besorgung des Briefes abgenommen, ohne eine Ahnung von dem, was drinstand. Sie hatte gehofft, Gelegenheit zu finden, Iwan noch einmal zu sehen. Nun sind sie verheiratet, er aber zum Tode verurteilt. Der Zar kommt, ist wütend, Iwan an ein so kleines Mädchen verheiratet zu sehen. Er begreift Iwans Widerstreben gegen die Trauung, aber diese sei nicht wieder rückgängig zu machen. Der Oberst fällt in Ungnade, das Todesurteil wird aufgehoben — Iwan darf sich eine Gnade ausbitten, als Entschädigung dafür, dass man ihn durch die Zwangsehe mit einem kleinen Mädchen unglücklich gemacht habe. Iwan erbittet seine Entlassung aus dem Heeresverband. Der Zar tobt, fühlt sich aber an sein Wort gebunden. Die Motive, die ich bei dem Stück verwendet, stammten nicht von mir. Den gesunden Kranken, der durch ungewollte Betätigung gesund wird, hatte ich in einer Novelle Stifters gefunden, dem „Waldsteig". Den durch den Monarchen dank einer Verwechslung wider seinen Willen mit dem Mädchen seiner Wahl verheirateten Gardesoldaten entnahm ich einer Novelle Zchokkes, dem „Feldweibel". Die Idee beschäftigte mich, ich schrieb das Stück auch zu Ende, doch befriedigte es mich nicht. Ich versuchte in einer andern Weise die Idee des gesunden Kranken zu dramatisieren. Diesmal liess ich das Stück in der Gegenwart spielen. Es nahm seinen Ausgangspunkt in einer Pension in Algier, die ein Kranker zu Kurzwecken aufgesucht hat. Die Pension wird geführt von einer ältern Dame, Madame Delafere und ihrer Tochter Georgine. Die Mutter ist sehr unglücklich darüber, dass die Tochter arbeiten muss. Sie betrachtet die Pension bloss als Mittel für das arme Mädchen, einen reichen Mann zu fischen. Als ein solcher erscheint ihr Epremeuil, der die Pension mit seinem Freunde Duras bewohnt, dem Mann, den sein Arzt für sehr krank erklärt. E. vertraut dem Freunde an, dass er völlig ruiniert sei durch Spiel und Weiber und dass er sich nur sanieren kann durch die Heirat mit einem reichen Mädchen. Er habe erfahren, das Frl. Delafere sei eine reiche Erbin. Er wirbt auch um das Mädchen und die Mutter setzt ihr so zu, dass sie, um nur Ruhe zu bekommen, ja sagt und verspricht, ihn zu heiraten, wenn er nicht selbst zurücktritt. Sie ist über244

zeugt, dass es ihr noch gelingen wird, ihn zum Rücktritt zu treiben. Nicht in der Stadt Algier soll die Trauung stattfinden, sondern in Medeah, einer entfernten Stadt im Innern des Landes, wo ihr Oheim als Oberst die Garnison kommandiert. Georgine erklärt: „Sie werden uns dahin begleiten. Auf dieser Reise werden Sie mich kennenlernen. Sollte sich trotz dieser Bekanntschaft ihre Liebe nicht abgekühlt haben, dann werde ich Ihre Gemahlin. Stehen Sie aber von der Ehe ab, dann, Mama, darfst Du mir nicht den geringsten Vorwurf machen, dass ich mein Glück verhindert hätte." Doch nicht nur Epremeuil soll mitkommen, sondern auch Duras. Dieser, verzweifelt über seine Krankheit, vielleicht auch über Epremeuils Werbung, versucht sich zu töten. Hat gegen die verschiedensten Todesarten Bedenken. Schliesslich versucht er sich zu erhängen, wird von Georgine daran verhindert. Sie wirft ihm vor, welche Feigheit es sei, sich aus dem Leben zu schleichen. Wenn er sein Leben opfern wolle, soll es durch eine kühne, grosse Tat geschehen. Diese Idee begeistert Duras. Er begleitet die Damen und hofft, dabei die Gelegenheit zu einer Tat zu finden, die ihm das Leben kostet und anderen das Leben rettet. Auf der Reise nach Medeah stellen sich dann auch zahlreiche Abenteuer ein, dank dem Umstand, dass die Eisenbahn durch eine Überschwemmung teilweise zerstört ist. Wir finden die Gesellschaft in den folgenden Akten einmal in einem Harem, dann in einem Gefängnis, schliesslich in einer Wildnis. Epremeuil stets jammernd, mutlos, Duras immer gesünder, zuversichtlicher, seiner Krankheit und Gesundheit immer mehr bewusst.1 In Medeah angelangt, fühlt er sich ganz gesund, aber auch bis über die Ohren verliebt in Georgine, die sich in allen Fährlichkeiten glänzend bewährt hat. Er weiss auch, dass er wiedergeliebt wird. Aber was hilft ihm das? Sie ist Epremeuils Braut und überdies: in seinem Lebensüberdruss, in dem Bewusstsein, dass er nur noch wenige Tage zu leben habe, hat er unterwegs das Geld mit vollen Händen hinausgeworfen. Ja, oft hinauswerfen müssen, um Lösegelder zu bezahlen, Bestechungen, Entschädigungen. Jetzt ist er gesund, aber ein gesunder Bettler. Als solcher darf er doch nicht heiraten. Epremeuil tritt auf mit Georgine und ihrer Mutter und fordert, dass seine Braut ihr Wort einlöse. Seine Liebe sei in keiner Weise wankend geworden. „Ist sie es noch nicht", fragt Georgine, „ich werde Sie auf die Probe stellen. Bitte um ein paar Worte unter vier Augen." „Gern, gern, was immer Sie mir sagen mögen, es wird meinen Entschluss nicht zu ändern vermögen." Die Mutter zieht sich zurück und Georgine fragt: „Haben Sie nicht bemerkt, dass ich Sie nicht liebe?" „Sie werden mich schon lieben 1

So in der Abschrift. B.K.

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lernen, wenn wir erst vermählt sind." „Sie wissen also nicht, dass ich Sie hasse und verachte?" „Das sind blosse Einbildungen, die rasch verfliegen werden." „Ich werde Ihnen das Leben zur Hölle machen." „Meine Widerstandskraft ist gross genug, alle Hindemisse meiner Liebe zu überwinden. Keine Drohung vermag mich einzuschüchtern. Ich verlange die Erfüllung Ihres Versprechens." „Gut, es soll Ihnen werden. Aber vorher noch eine Enthüllung. Sie halten mich für das Frl. Delafere, die reiche Erbin. Die bin ich nicht." „Wieso?" „Ich bin eine Herzogin Lambelles. Wir sind so verarmt, dass uns nichts anders übrig blieb zur Fristung unseres Lebens, als eine Pension aufzumachen. Da eine Herzogin Lambelles nicht gut als Pensionsmutter fungieren kann, haben wir uns entschlossen, unseren Namen fallen zu lassen und die Pension unter dem Namen meiner Freundin Delafere zu führen." „Ist das wahr, was Sie da erzählen? Ich glaube es nicht, ich halte es für eine Finte, die Sie erfinden, um mich abzuschrecken." „Bitte fragen Sie meine Mutter und meinen Onkel, die eben kommen." Widerwillig müssen diese bestätigen, was Georgine sagt. Die alte Dame erklärt: „Ja, Georgine ist eine Herzogin, aber wir sind nicht stolz, wir scheuen nicht die Mesalliance. Ihnen, Epremeuil, wird der Titel erhöhten Glanz verleihen." „Ach, wie gern würde ich eine Herzogin heimführen. Jedoch hat das Fräulein mich eben versichert, dass sie mich nicht liebt." „Sie wird Sie schon lieben lernen." „Sie hat erklärt, sie verachte und hasse mich." „Das sind bloss Einbildungen eines jungen Mädchens, die rasch verfliegen werden." „Sie will mir das Leben zur Hölle machen." „Ihre Widerstandskraft ist gross genug, damit fertig zu werden. Ich kenne Sie gut, Herr Epremeuil, Sie lassen sich durch nichts einschüchtern." „Sie irren sich, ich bin viel zu fein besaitet, um jemals ein Mädchen heiraten zu wollen, das nicht leidenschaftlich an mir hängt. Nach den Gesinnungen, die Ihre Tochter an den Tag gelegt hat, ist es am besten, wenn wir raschest auseinandergehen. (Zu Georgine:) Leben Sie wohl, von der ich so süss geträumt. Sie werden mich nie wiedersehen. (Beiseite zu ihr): Können Sie mir die Adresse des Frl. Delafere geben?" Georgine: „Die werden Sie schon selbst suchen müssen." Duras stürzt jauchzend herein: „Epremeuil, ich gebe Ihnen 100 000 Frs., wenn Sie auf Georgine verzichten." „Nun, das wäre doch wenigstens etwas. Aber Sie haben doch kein Geld?" „Ich hatte keins, aber ich habe eins. Mein Advokat telegraphiert mir eben, dass er einen vorteilhaften Vergleich für mich abgeschlossen, der mir 300000 Frs. bringt. Davon sollen 100000 Ihnen zufallen." Georgine: „Das ist nicht nötig. Herr Epremeuil hat eben erfahren, dass ich völlig mittellos bin und sich daraufhin geweigert, mich zu heiraten." Duras: „Was, das wäre ja herrlich." Epremeuil: „So gib doch etwas her!" 246

Duras: „Keinen Sou! Fort mit Dir, Du Lump." Epremeuil: „So viel hab ich mich geschunden und alles umsonst. Da bin ich schön hereingefallen." Die Herzogin: „Die Gäste zum Verlobungsschmaus sind versammelt, alles wartet auf den Bräutigam. Was tun?" Duras: „Teure Georgine, darf ich den leer gewordenen Platz einnehmen?" Georgine: „Ich antworte mit einem lauten und vernehmlichen Ja." Das unerlässliche Happy-end ist erreicht. Auch dieser Entwurf fand nicht meinen Beifall. Ich liess auch ihn in seiner ersten Fassung stehen, ohne ihn durchzuarbeiten. Das Thema von dem gesunden Kranken reizte mich jedoch so, dass ich es noch einmal variierte. Diesmal brachte ich ihn in Verbindung mit einer Truppe wandernder Schauspieler. Diese Variation habe ich nicht einmal zu Ende geführt. Ob meine dramatischen Versuche wirklich so wenig taugten, wie ich annahm, kann ich nicht entscheiden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, was immer ich schreibe, sei es Drama, Erzählung, Abhandlung oder Buch, mich fesselt, ja begeistert, solange ich daran arbeite. Bin ich fertig, dann finde ich, wie weit es hinter dem zurückgeblieben ist, was ich dachte zu schaffen. Aber es gelingt mir nicht immer, herauszufinden, woran der Mangel liegt, wo und wie er zu verbessern. Soweit ich es finde, nehme ich natürlich die Verbesserung vor. Habe ich die Arbeit aus innerem Drange unternommen, weil ich fühle, das, was ich schrieb, müsse gesagt werden im Interesse unserer Sache, dann überwinde ich meine Scheu und gehe damit an die Öffentlichkeit, immer mit etwas Lampenfieber. Aber meine dramatischen Versuche entsprangen keinem heissen, inneren Drange, waren halb Spielerei, halb Berechnung, da sah ich nur ihre Unzulänglichkeiten, keinerlei Notwendigkeit, sie der Welt vorzuführen. Es bedurfte eines sehr starken Anstosses, um mein Minderwertigkeitsgefühl auf dem Gebiet des Dramas zu überwinden. Diesen Anstoss gab mir das Drängen meines Vaters, ich möge ein Ausstattungsstück für ihn schreiben. An Stücke dieser Art stellt man keine grossen Anforderungen. Allerdings meinte meine Mutter, dass die Rücksicht auf die Ausstattung, der sich der Verlauf des Stückes anzupassen habe, die dramatische Begabung einenge und hemme. Shakespeare habe nur eines dieser Art geschrieben, den „Sturm". Dies sei sein schwächstes geworden. Sie wollte kein schlechtes Stück schreiben, stellte auch den Anforderungen ihres Gatten, für ihn ein solches Stück abzufassen, eine entschiedene Ablehnung entgegen. Daher hatte er sich mit seinem Ansinnen an mich gewendet. 247

Die Veranlassung dazu gab in letzter Linie eine Veränderung in seiner Stellung. Als Maler am Wiener Burgtheater hatte er nur die Aufgabe zu erfüllen gehabt, die dem Dekorateur wie dem Kostümzeichner am Theater zufällt: für jedes Drama das Milieu zu schaffen, das geeignet ist, jene Stimmung und Illusion hervorzurufen, die den Intentionen des Autors entspricht und den Worten der Schauspieler grössere Wirksamkeit gibt. Doch im Jahre 1871 nahm die Stellung meines Vaters beim Burgtheater ein Ende. Laube hatte ihn berufen. Mit Laube hatte er harmonisch zusammengearbeitet. Dieser war ein grober Geselle, hatte aber Respekt vor seinen Mitarbeitern. Eine Intrigue stürzte ihn im Jahre 1867. Seitdem fühlte sich mein Vater beim Burgtheater nicht mehr wohl. Schon mit Laubes Nachfolger gab es keine freudige und verständnisvolle Zusammenarbeit mehr, mit dem alten Staatsbeamten und Hofrat Freiherrn von Münch-Bellinghausen, der sich als Theaterdichter Friedrich Halm nannte. Dieser starb schon 1871, hatte vorher schon wegen schweren Leidens seine Stellung als Leiter des Burgtheaters aufgeben müssen. An seine Stelle trat der ehemalige Freiheitsmann, dann Höfling Dingelstedt, den Franz Josef später in den Freiherrnstand erhob. Dessen hochfahrendes Wesen konnte mein Vater nicht ertragen. Es kam mehrfach zu Konflikten zwischen den beiden, die schon 1871 mit seiner Entlassung endeten. Da lag nun mein Vater wieder einmal auf dem Pflaster. Einen Augenblick dachte er daran, nach Warschau zu gehen, wo ihn an dem dortigen „Grossen Theater" ein Posten winkte. Wie hätte sich meine sozialistische Laufbahn gestaltet, wenn sie im Reich des Zaren vor sich ging! Doch es kam nicht dazu. Die russische Freiheit lockte nicht. Mein Vater fasste einen andern Plan. Er wollte sich selbständig machen, unabhängig von jedem Vorgesetzten, jedem Intendanten und Direktor. Und er stand nicht mehr so arm und unbekannt da wie 1863, als er zum Burgtheater gekommen war. Er hatte hohes Ansehen in seinem Beruf gewonnen und auch einige Ersparnisse gemacht. So konnte er jetzt darangehen, ein eigenes Atelier zur Anfertigung von Theaterdekorationen zu begründen, ein Unternehmen eigener Art, einen Grossbetrieb, der doch nicht Fabrikware lieferte, sondern künstlerische Produkte. Methoden der Kunst und Methoden des Kapitals wirkten in diesem Atelier zusammen, wie sie es im Theaterbetrieb überhaupt tun. So viel übernahm mein Vater dabei vom Kapitalismus, dass er sogar zu einer Art Kartellierung schritt. Neben ihm gab es noch zwei bedeutende Dekorationsmaler in Wien: Carlo Brioschi, den Hausmaler des Operntheaters, und Hermann B u r k h a r t d e r als i

Richtig: Burghard. B.K.

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freier Maler dastand. Mein Vater teilte ihnen seine Absicht mit, ein eigenes Atelier zu gründen, und setzte ihnen auseinander, wie sehr die drei einander schädigen würden, wenn sie einander Konkurrenz machten, dass sie dagegen vereint eine Art Monopol den Bühnen Wiens, ja Österreichs gegenüber besässen. Sie sahen das ein und taten sich mit meinem Vater zusammen, um mit ihm ein „Konsortium" zur Errichtung und Führung eines gemeinsamen Ateliers zu bilden, dem sie ihre Kunst, aber auch ihre Geldmittel zur Verfügung stellten. So konnte das Atelier auf einer weit breiteren Basis erstehen, als wenn mein Vater mit seinen Mitteln allein es hätte herstellen müssen. Doch blieb er die Seele des Ganzen. Er war unternehmender, ich glaube auch intelligenter und weiterblickend als seine beiden Compagnons, er blieb aber auch allein in der Lage, dem Unternehmen sein ganzes Interesse, seine ganze Kraft widmen zu können. Brioschi gab seine Stellung bei der Hofoper nicht auf, und Burkhart übernahm bald die Stelle beim Burgtheater, die mein Vater verlassen hatte. So arbeiteten die beiden nur nebeneinander für das gemeinsame Atelier. Dessen geistiges Haupt wurde naturgemäss mein Vater. Das Glück war ihm günstig. Die Begründung des Ateliers fiel gerade in die Zeit des tollen wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem deutsch-französischen Krieg. Die Theater gediehen und schwammen in Uberfluss. Dabei fehlte es auch nicht an Geld, neue Theater zu bauen. Der vom Burgtheater vertriebene Laube begründete in Wien eine Aktiengesellschaft, die für ihn das Wiener Stadttheater erbaute, dessen Leitung er 1872 übernahm. Er näherte sich sofort meinem Vater, den er von früher her in guter Erinnerung hatte. Doch auch sonst bekam das Atelier viel zu tun, nicht bloss für Wien. Es arbeitete bald auch für das Ausland, zum Beispiel für Dresden und Leipzig — dort erschien ich im Jahre 1877, wie schon in dem Kapitel über Chlumsky bemerkt, als Abgesandter des Konsortiums. Schliesslich gewannen sie sogar überseeische Kunden, arbeiteten für London (Drurylane und Covent Garden), New York (Metropolitan Opera). Doch mein Vater war zu rastlos, um ruhig zuzusehen, wie das Glück ihm zuströmte. Er suchte immer wieder nach Mitteln, es neu anzustacheln. Als eines dieser Mittel betrachtete er ein Ausstattungsstück, ein Theaterstück, das an den Dekorationsmaler die grössten Anforderungen stellt und das nicht durch seinen poetischen Gehalt, sondern durch Appell an die Schaulust wirkt. Ehedem waren solche Stücke meistens Zauberspiele gewesen. Aber seitdem die neue liberale Ära aufgekommen, gab sich kein Autor von Geist mehr mit der Abfassung derartiger Dramen ab. Sie wurden immer läppischer und kindischer, interessierten niemand mehr, kamen aus der Mode. Gleichzeitig aber tat sich ein neue Art Zauberliteratur auf, ganz realistischer 249

Art. Sie führte die Wunderwerke der Natur und der Technik vor, nicht bloss Entdeckungen und Errungenschaften, die schon erreicht worden, sondern auch solche, die erst herbeizuführen wären. Diese neue Dramatik war trotz ihres realistischen Gehabens doch in ihrer Art ebenso phantastisch wie die alten Zauberkomödien. Sie ging ebenso ungeniert mit den Tatsachen um. Doch hantierte sie stets nur mit bekannten Naturkräften und schloss jeden übernatürlichen Faktor aus. Der Träger dieser neuen Zaubertheatralik war Jules Verne, der als Romanschriftsteller begann (1863) und als solcher seinen grössten Ruf gewann. Seine Romane, die in rascher Aufeinanderfolge erschienen, brachten ihrem Verfasser eine ungeheure Popularität. Doch genügten ihm nicht die grossen Einkommen aus den Romanen. Auch er wusste, dass man durch Bühnenwerke finanziell noch mehr erreiche. Im Jahre 1873 veröffentlichte er seinen Roman „Die Reise um die Erde in 80 Tagen". Bald darauf dramatisierte er ihn, unterstützt von einem geschickten Dramatiker, d'Emery. Aus der „Reise" wurde ein Ausstattungsstück, das, in Paris aufgeführt, grossen Erfolg hatte. Das reizte meinen Vater ebenso wie den damaligen Direktor des Karl-Theaters, Jauner. Sie kamen überein, das Stück auch in Wien zur Aufführung zu bringen. Die Dekorationen sollte das Konsortium liefern, aber nach einem neuen Bezahlungsplan. Der Direktor sollte sie nicht erwerben, sondern sie bloss benutzen gegen Bezahlung eines Anteils (Tantième) an den Einnahmen. Das war also für den Dekorationsmaler ein reines Spekulationsgeschäft. Aber es gelang. Das Stück hatte einen Bombenerfolg, wurde in Wien über 100 mal ohne Unterbrechung gegeben (damals für die Wiener etwas Unerhörtes), dann wanderten die Dekorationen mit dem Stück noch durch verschiedene Theater, überall Gewinn bringend. Diesen Erfolg hätte mein Vater gar zu gerne wiederholt und Jauner auch. Die Löwen hatten Blut geleckt. Ein sehr angesehener Theaterdichter war 1876 L'Arronge geworden mit seinem Volksstück „Mein Leopold". Als dessen Aufführung ihn nach Wien brachte, regten ihn Jauner und mein Vater an, ein Ausstattungsstück nach Jules Verneschem Muster und Jules Verneschen Motiven zu schreiben. Dazu erklärte sich L'Arronge auch bereit und er lieferte auch sofort das gewünschte Stück. Er benützte Jules Vernes „Reise zum Mond" und „20000 Meilen unter dem Meere". Als meine Mutter und ich das Manuskript in die Hand bekamen, waren wir sehr wenig erbaut davon. Es erschien uns geistlos und langweilig. Wir prophezeiten einen Misserfolg. Doch mein Vater und Jauner waren anderer Meinung. Das Stück wurde im Karl-Theater aufgeführt, unter denselben Bedingungen wie vorher die Reise um

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die Erde. Leider behielten wir Unglückspropheten recht. Das Stück interessierte nicht und brachte ein Defizit für das Konsortium. Doch das schreckte meinen Vater nicht ab, sondern erweckte in ihm nur den dringenden Wunsch, die Scharte auszuwetzen. Er meinte, wir, die wir den Misserfolg vorausgesehen, hätten nun die Pflicht, zu zeigen, dass wir es besser verstünden, und sollten ein wirksameres Stück schreiben. Als ob jeder, der die Schäden eines Bauwerks entdeckt, auch imstande sein müsste, ein besseres Bauwerk aufzuführen. Daher zeigten wir uns lange Zeit gänzlich abgeneigt. Doch schliesslich [liess] ich mich doch bereden, den Versuch zu wagen. Gelang es mir nicht, etwas Brauchbares zu liefern, so hatte ich allerdings einige Monate verloren, aber doch meinem Vater den guten Willen gezeigt. Und daran lag mir um so mehr, je mehr es mich drückte, dass ich noch immer keine Aussicht auf ökonomische Unabhängigkeit hatte, ihm immer noch auf der Tasche lag. Ende 1877 machte ich mich daran, das gewünschte Stück zu schreiben, nachdem ich eben mit meinem wissenschaftlichen Werk im wesentlichen fertig geworden war, von dem ich noch in einem andern Zusammenhang reden werde. Ich glaube, es war im März 1878, als ich das Theaterstück meinen Eltern vorlegte. Ungefähr um die gleiche Zeit schickte ich meine nationalökonomische Arbeit dem Parteiverleger Bracke in Braunschweig zur Begutachtung. Wie sonderbar kreuzten sich damals die Wege meiner verschiedenen Betätigungen. Das ist bei Leuten, die mit dem Theater zu tun bekommen, allerdings nichts Seltenes. d.

Atlantique-Pacifique.

In der Anlage des Stücks hatte ich mich von Jules Vernes „Reise um die Erde" leiten lassen, doch verschmäht, den Gegenstand, wie es L'Arronge getan, aus einem der Romane dieses Dichters zu nehmen. Ich zog es vor, die Fabel selbst zu erfinden. Leider war ich dabei wie in meinen sozialen Ideen meiner Zeit voraus. Schon seit längerem interessierte mich das Problem eines Kanals, der den Atlantischen Ozean mit dem Stillen Ozean, dem „Pacifique", verbinden sollte. Den ersten Anstoss zur Beschäftigung mit dem Projekt gab mir das Werk „Wanderbilder aus Zentralamerika", das 1853 ein junger deutscher Maler, Wilhelm Heine, hatte erscheinen lassen. Er kam dort auf die Bestrebungen zu sprechen, durch einen Kanal die Schiffahrt von den Häfen des Atlantischen Meeres nach denen der Westküste Amerikas zu verkürzen. Schon 1849 hatte sich in New York eine Gesellschaft unter dem Namen „Atlantic und Pacific Canal-Comp." gebildet und unter den verschiedenen Linien, die für den Kanal in Betracht kamen, nicht die durch die Landenge von Panama, sondern die durch das nördlich gelegene Nicaragua für die günstigste erklärt. 251

Sie ist wohl länger als die durch den Isthmus von Panama, man rechnete aber, ihre Baukosten seien weit geringer. Die Wasserscheide ist hier bloss 46 Meter hoch, in der Landenge von Panama dagegen 80 Meter. Zwei Nationen interessierten sich besonders für den Kanal: die Bewohner der Vereinigten Staaten und die Franzosen. Die Amerikaner zogen den Nicaragua-Kanal vor, doch blieb ihr Interesse lange nur platonisch. Als sie kapitalkräftig genug geworden waren, bauten sie lieber Eisenbahnen, Pacific-Bahnen, nach der Westküste ihres Landes. Die Franzosen, die der Suezkanal so lange beschäftigt hatte — bis 1869 —, wendeten nach dem Krieg mit Deutschland ihr Augenmerk dem interozeanischen Kanal in Amerika zu. Sie neigten zur Panama-Route. Neben diesen beiden wurde noch eine dritte Linie empfohlen, südlich von Panama. Die wissenschaftliche Welt interessierte sich immer mehr für diese Frage. Der internationale Kongress der geographischen Wissenschaften, der 1875 in Paris zusammentrat, ernannte eine internationale Kommission unter dem Vorsitz von Lesseps, die dem nächsten Kongress über die verschiedenen Linien Bericht erstatten sollte. Sie kam dazu, auf diesem Kongress (Mai 1879) die Panama-Route zu empfehlen. Eine Gesellschaft zur Fertigstellung des Panama-Kanals unter Leitung von Lesseps wurde gegründet, die im Frühjahr 1881 ihre Arbeiten begann, wie sich später zeigte, auf Grund ganz unzulänglicher, leichtfertiger Berechnungen. Sie führten, wie aller Welt bekannt, zu einer der ungeheuersten Finanzkatastrophen, dem Panama-Skandal (1889), der fast der französischen Republik das Leben gekostet hätte. Fast wäre es daraufhin zum Bau des NicaraguaKanals gekommen, da die Arbeiten am Panama-Kanal ganz ins Stocken geraten waren. Noch 1902 erhielt der Präsident der Vereinigten Staaten die Vollmacht, entweder den Panama-Kanal für Amerika zu erwerben oder den Nicaragua-Kanal zu erbauen. Die Amerikaner waren es, die nun den Panama-Kanal bauten. Doch ist damit die Idee des Nicaragua-Kanals nicht erledigt. Sie wird immer wieder erwogen und sicher auch noch durchgeführt. Der Gegenstand, den ich in meinem Stück behandle, der Kanal vom Atlantischen zum Stillen Ozean, [hätte], wenn ich einige Jahre später herausgekommen wäre, das intensivste, allgemeines Interesse gefunden. Aber als ich an die Ausarbeitung meines Stückes ging, hatte ich selbst nicht viel mehr darüber erfahren als über die Bildung der „Atlantic-Pacific-Canal-Comp.", den Beschluss des internationalen geographischen Kongresses von 1875 und die Bildung einer französischen Gesellschaft „Société internationale du Canal interocéanique" 1876, die die verschiedenen Kanalprojekte prüfen sollte. Die Geographen und auch die hohe Finanz in Paris interessierten sich für 252

die Frage. Die übrige Welt und schon gar die Wiener standen ihr höchst gleichgültig gegenüber. Ich war naiv genug zu hoffen, es werde mir gelingen, ihnen Interesse für eine so hochwichtige Frage einzuflössen. Den Inhalt des Stücks bildet der unterirdische Kampf zweier Gesellschaften, von denen jede den Kanal bauen möchte, die „Atlantique-Pacifique" und die „Interocéanique". Nach der ersteren dieser Gesellschaften wurde das ganze Stück genannt. Ihr Gründer ist der Finanzmagnat Girardet. Er hat sich für den Nicaragua-Kanal entschieden und schickt sich an, eine grosse Reise zu unternehmen, um die Hindernisse zu überwinden, die ihm von der Konkurrenzgesellschaft in den Weg gelegt werden. Die Reise soll ihn nach ZentralAmerika führen, um von der Regierung Nicaraguas die Konzession zum Kanalbau zu erlangen, dann nach den Galapagos-Inseln, die dortigen Kohlenlager zu erwerben, und schliesslich nach China, da der Kanal ohne chinesische Kulis nicht leicht gebaut werden kann und die chinesische Regierung ein Verbot der Auswanderung von Kulis nach Mittelamerika erlassen hat. Ihn begleitet seine Tochter Adrienne mit einer Freundin, aber auch sein Intimus Faucon, der seine Tochter heiraten soll und mit ihm sein Kanalprojekt berät. Dieser Herr ist ein Schuft, gekauft von der „Interocéanique", um Girardets Projekte auszuspionieren und zu durchkreuzen. Adrienne selbst aber lehnt Faucons Bewerbung ab. Sie liebt einen Journalisten und Dichter, Leon Constant, einen Idealisten, einen Gegner der Geldmacht. Girardet entdeckt das Verhältnis der beiden, weist Constant aus dem Hause. Dieser geht, aber mit einer Kriegserklärung: er werde des Kapitalisten Hochmut brechen und dann die Geliebte gewinnen. Damit schliesst das erste Bild. Es spielte in einem Ballsaal im Hause Girardets. Unter dessen Ballgästen befanden sich der berühmte Prof. der Chirurgie Riant und sein Assistent Lefranc. Riant soll in zwei Tagen heiraten, Lefranc interessiert sich für Adriennes Freundin Désirée, fühlt sich aber etwas beeinträchtigt dadurch, dass er ein Findelkind ist. Er weiss von seinem Vater nur soviel, dass dieser zur Besatzung der Fregatte „Ajax" gehörte und seine Mutter verhindert war, ihn zu heiraten. Das Schiff ist von einer Kreuzfahrt nie wieder heimgekehrt, weder Vater noch Mutter haben sich je wieder gemeldet. Lefranc sucht sie, kommt bei dieser Suche in alle möglichen Verlegenheiten. Während des Ballvergnügens war ein Telegramm an Riant gekommen, ein königlicher Prinz in London habe sich ein Bein gebrochen, das Kommen des Professors sei dringend erwünscht. Er weigert sich zu gehen, angesichts seiner bevorstehenden Vermählung. Es wird ihm bewiesen, dass er bis zum Hochzeitstag wieder zurück

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sein könne. Er hat kein Geld bei sich, Girardet übergibt ihm seine Brieftasche mit einem Wechsel in blanco. So wird er bewogen, nach England zu gehen, sein Assistent begleitet ihn. Das zweite Bild spielt in Dover 24 Stunden später. Eben geht das Schiff ab, das nach Calais fährt. Neben diesem Dampfer liegt ein anderer, den Faucon geheuert hat, damit er vor Girardet, der von Havre aus fahren will, an die Küste von Nicaragua, die „MoskitoKüste", kommen und so dessen Pläne vereiteln könne. In einer Stunde soll Faucons Schiff, die „Fortuna" abgehen. Die Kessel sind schon geheizt. Da kommen Riant und Lefranc von einem üppigen Festmahl, das ihnen nach geglückter Operation gegeben worden, ziemlich angeheitert. Sie halten die „Fortuna" für den Dampfer nach Calais. Sie besteigen sie, um sich höchst ermüdet für die Zeit der Überfahrt hinzulegen. Die Bemannung hindert sie nicht, hält sie für Diener Faucons. Sobald sie im Schiffsraum verschwunden sind, sehen wir Faucon auftauchen, im eifrigen Gespräch mit dem Kapitän, dem er aufs strengste einschärft, von ihrer Abreise und dem Reiseziel dürfe niemand etwas erfahren. Dann geht Faucon ab, um noch eine Geldangelegenheit zu ordnen. Constant, der schon früher aufgetreten ist und Faucon beobachtet hat, eilt nach dessen Abgang auf den Kapitän zu, teilt ihm mit, er sei ein Detektiv, habe den Auftrag, Faucon zu verhaften, einen Verbrecher, den die Kriminalpolizei suche. Auch sein Helfershelfer, der Kapitän, sei festzunehmen. Constant besteigt das Schiff, wie er sagt, um Faucon zu suchen. Sobald er im Schiff verschwunden, glaubt der Kapitän, das Klügste sei, sofort mit dem Detektiv nach der Moskitoküste auszureisen. Auf diese Weise werde er der Verhaftung entgehen. Er gibt seinen Leuten den Auftrag, sofort abzufahren. Faucon hat das Nachsehen. Das dritte Bild spielt in einer Kajüte der „Fortuna". Riant und Lefranc erwachen, wundern sich, dass sie noch nicht in Calais, erfahren, dass sie das falsche Schiff erstiegen und unterwegs nach der Moskitoküste sind. Der Professor gerät in helle Verzweiflung, er wollte an dem Tage heiraten, nun soll es Monate dauern, bis er seine geliebte Adolphine zu sehen bekommt. Constant setzt seine Pressionen auf den Kapitän fort, befiehlt ihm, er solle ohne Zwischenstation weiterfahren, damit er noch vor Faucon, der ein anderes Schiff mieten werde, an der Moskitoküste ankomme und ihn dort in Empfang nehmen kann. In seiner Angst liefert der Kapitän sogar die zehntausend Franks Schweigegeld aus, die er von Faucon erhalten. Constant ist dadurch sehr beglückt, denn das bisschen Geld, das er besass, ist bereits völlig zur Neige gegangen. Das nächste Bild zeigt uns ein Ufer an einem Fluss in Nicaragua, 254

das Feldlager eines rebellischen Generals, der den gegenwärtigen Präsidenten der Republik stürzen will. Seine Armee umfasst 27 Mann, von denen 11 Offiziere. Natürlich fehlt nicht zahlreicher weiblicher Anhang. In dem Heer finden wir Riant und Lefranc, die an der Moskitoküste angelangt, bei einem Spaziergang von Anhängern des Rebellen zwangsweise für dessen Armee requiriert wurden. Constant kommt in einem Boot den Fluss hinaufgefahren. Der General will das Schiff plündern, aber die Mannschaft ist gut bewaffnet. Constant schliesst Freundschaft mit ihm, verspricht ihm seine Unterstützung, wenn der General als Präsident ihm das Privilegium erteile, den Kanal zu bauen. Die beiden verbrüdern sich. Riant und Lefranc bitten Constant, sie zu befreien. Er willigt ein, jedoch nur gegen Bezahlung. Die beiden sind völlig ausgeplündert. Nur einen Blancowechsel Giradets haben die Räuber Riant gelassen, dessen Bedeutung sie nicht verstanden. Eine englische Bank in Nicaragua werde ihn einlösen. Diesen liefert Riant aus, Constant verlangt, er solle ihn auf 400000 Frs. bemessen. Riant verzweifelt. Soviel werde er nun Girardet schulden! Das sei sein Ruin. Constant bleibt unerbittlich. Soviel wird er brauchen, sich in Nicaragua durchzusetzen. Riant und Lefranc sind entrüstet über den geldgierigen Haifisch, in den sich der geldverachtende Dichter verwandelt hat. Das fünfte Bild führt uns nach Realeo, der Hafenstadt am Stillen Ozean, wo der Kanal münden soll. Constant hat das Privilegium für den Kanalbau erworben und für den Rest der 400000 Frs. das einzige Schiff gekauft, das im Hafen liegt und das ihn nach den GalapagosInseln und nach China bringen soll. In Realeo haben ihm die dortigen Grossgrundbesitzer die Gründe verkauft, die die Kanal-Gesellschaft für den Ausbau des Hafens braucht. Doch der Verkauf tritt erst in Kraft, sobald sie bezahlt sind. Die Besitzer verlangen 300000 Frs. Sind die bis 6 Uhr abends nicht erlegt, dann können die Verkäufer nach Belieben über ihre Gründe verfügen. Constant verfügt aber über kein Geld mehr, was tun? Riant und Lefranc haben sich ihm in ihrer Geldlosigkeit angeschlossen. Auf der Fahrt nach Westen scheint Adolphine fast leichter erreichbar zu sein als nach Osten. Lefranc fragt den Wirt des Gasthauses, in dem sie einkehren, einen Neger, der früher auf französischen Schiffen gedient, ob er von dem Ajax je etwas gehört. Das bejaht der Neger. Er habe selbst einmal auf dem Schiff gedient, habe einmal, als es im Hafen lag, Urlaub bekommen, sei nach Paris gegangen. Schwärmt von den Pariserinnen. Eine besonders habe es ihm angetan. Lefranc wird schwül zumute. Leider, fährt der Wirt fort, habe er sie nicht heiraten können, habe sie verlassen müssen, als ein Kind unterwegs war. Sie habe ihm geschrieben, sie habe sich gezwungen gesehen, es ins Findelhaus zu geben." Ent255

setzt überlegt Lefranc, ob er negerhafte Kennzeichen an seinem Körper trage, fragt weiter, ob der Wirt etwas über das Schicksal seines Kindes erfahren habe. „Ja," antwortete der Neger. „Ich habe ihn kommen lassen. Hier ist er" — und deutet auf einen Mulatten. Erleichtert atmet Lefranc auf. Da treten Girardet und seine Leute auf mit Faucon. Freudige Begrüssung gemischt mit Wutausbrüchen über Constant, der ihnen zuvorgekommen sei. Doch dürfte ihm jetzt die Puste ausgehen. Faucon entfernt sich, um die Hafengründe, wie er vorgibt, für Girardet, tatsächlich für die „Interocéanique" zu erwerben. Girardet bleibt, begegnet Constant, der vergeblich nach Geld oder Kredit ausgeschaut hat. Girardet warnt ihn, nicht zu früh zu triumphieren. Das grössere Kapital werde über die grössere Geschicklichkeit siegen. Constant weist ihn darauf hin, das nur ein einziges Schiff im Hafen liegt, das habe er bereits erworben. Ohne das kämen sie zu spät nach China. „Was nützt Ihnen das Schiff ohne Geld?" „Es müsste eine enorme Summe sein", entgegnet Constant, „die mich über den Verlust des Schiffes und damit meiner besten Aussichten trösten könnte." Schliesslich erklärt sich Girardet bereit, eine Million für das Schiff zu bezahlen. Adrienne, die zugehört hat, ist empört über Constants Geldgier. Er sagt, ihr Vater habe ihn gezwungen, auf diesem Weg um sie zu werben. Sie entgegnet, auf diesem Weg habe er sie endgültig verloren. Sie liebte den geldlosen Poeten, sie verachte den raffgierigen Geschäftsmann. Constant zuckt die Achsel und wendet sich den Hafengründe zu 1 . Sie kommen, um ihm zu sagen, sie hätten einen andern Käufer gefunden: Faucon. Könne Constant nicht sofort die vereinbarte Kaufsumme erlegen, dann würden sie mit Faucon abschliessen. Constant hat eben die Mittel bekommen und bezahlt. Dann teilt er dem Kapitän des verkauften Schiffes, das den Namen „San Franzisco" führt, mit, er habe es verkauft. Aber er selbst wolle als Steuermann verkleidet mitfahren und den Kurs bestimmen. Er habe auf Schiffen von Kameraden das Steuern gelernt. Der Kapitän willigt schliesslich ein, nachdem er ausgiebig bestochen. Im nächsten Bilde treffen wir die ganze Gesellschaft, Girardet und Faucon mit den Damen, sowie Riant und Lefranc, die sich ihnen angeschlossen, auf der „San Franzisco", nachts im Sturm auf die Galapagos-Inseln zutreibend. „Wir werden scheitern", erklärt der Kapitän. „Die Sache ist gefahrlos", beruhigt Constant, „wir fahren in eine vor den Wogen geschützte Bucht mit sandigem Boden, wie meine Karte besagt. Wir werden dort auffahren, jetzt, bei Springflut. 1 So in der Abschrift. Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass es vermutlich „den Besitzern der Hafengriinde" heissen soll. B.K.

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Sobald die Ebbe eingetreten, werdet ihr alle das Schiff trockenen Fusses verlassen können. Das Schiff freilich wird nicht wieder flott werden, ehe nicht die nächste Springflut kommt." „Und Sie, was machen Sie?" „Ich warte nicht auf die Ebbe, schwimme ans Land und begebe mich zu den Kohlenlagern. Die werde ich erwerben, dort finde ich auch ein Schiff, das mich nach China bringt, einen Monat später können Sie folgen." Alle kommen auf den Steuermann losgestürzt, der sie so falsch steuere, sie erkennen jetzt Constant, möchten ihn am liebsten lynchen. „Adrienne, Du bist in Sicherheit, wir sehen uns wieder", ruft er und springt ins Meer. Der Vorhang fällt. Wenn er sich wieder hebt, sind wir auf der Galapagos-Insel, auf der das Schiff strandete. Hoch oben auf dem Trockenen im Sande steht im Hintergrund das Schiff. Passagiere und Mannschaften sitzen im Vordergrund herum, verwünschen ihre erzwungene Untätigkeit und den Kerl, der sie ihnen auferlegt. Alle äussern erregt ihre zornige Abneigung gegen Constant, Girardet ausgenommen. Dieser bedauert, dass er die Fähigkeiten des Mannes nicht früher erkannt habe. Das sei ein Mann nach seinem Herzen. Dass es ihm gelungen sei, zwei so hochstehende Finanzmänner wie ihn, Girardet, und Faucon zu übertölpeln, imponiere ihm. Und es erfülle ihn mit Befriedigung, dass er es war, der Constant auf den richtigen Weg brachte. Damit hat dieser sich moralisch ihm untergeordnet. Wenn er sich heute um Adriennes Hand bewerben solle, sollte sie ihm ohne Zögern zuteil werden. Erregt protestiert Adrienne gegen diese Zumutung. Sie hasse Constant noch mehr als Faucon, der habe sich wenigstens nie als selbstloser Idealist ausgegeben. „Was nützt das alles", meint Riant, „er wird jetzt die Kohlenlager erworben haben und auf dem Weg nach China sein. Dorthin kommen wir erst einen Monat später." „Noch ist nicht alles verloren. Beim Erwerb der Kohlenlager wird er die Million ,die ich so dumm war, ihm zu geben, aufgebraucht haben. In China aber erreicht er nichts ohne ausgiebige Bestechung. Woher soll er die dazu nötigen Geldsummen nehmen? Nein, er wird einen Vergleich mit uns suchen müssen." „Auch dazu wird unsere Position um so besser, je früher wir nach China kommen." „Sicher, aber was tun?" „Kapitän, lässt sich die ,San Franzisco' durchaus nicht ins Wasser bringen?" „Unmöglich." Da beginnt leises und immer lauteres Dröhnen und Krachen, Felsen stürzen, die Menschen laufen entsetzt durcheinander, ein Erdbeben verändert in einem Schlag die ganze Gegend. Nachdem sich alles beruhigt, wagen die Menschen wieder, sich zu sammeln und um sich zu sehen. Da stösst der Kapitän einen Jubelschrei aus: „Das Erdbeben hat den Boden gesenkt, die ,San Franzisco' ist flott, dort schaukelt sie auf den Wellen, binnen wenigen Stunden können wir unterwegs sein nach China." 257

„Vielleicht kommen wir noch vor Ihnen hin, Herr Constant, und verderben Ihnen das Konzept", meint frohlockend Faucon. Die beiden Bilder acht und neun spielen nun in China, in Peking, vor dem Palast und im Palast des Vertreters des Kaisers, des tatsächlichen Regenten. Girardet und Faucon sind in der Tat vor Constant angekommen, und zwar mit vollen Börsen. Er kam als der letzte, ohne die Mittel, die Unzahl der Beamten zu bestechen, die zwischen ihm und den Regenten auftraten, geschweige denn diesen selbst durch ausgiebige Geschenke kirre zu machen. Seiner Geliebten, einer Pariserin, die ihn beherrscht, teilt der chinesische Herr mit, dass der Kaiser es ihm freigestellt habe, wem von den drei Bewerbern um die Konzession zur Kuh-Ausfuhr er sie erteilen wolle. Girardet bietet viel, hat aber bisher nicht viel gegeben. Faucon bietet weniger, hatte aber reichlichere Schenkungen gemacht. Constant bietet am meisten, hat aber nicht einmal Geld genug, die Portiers ausreichend zu bestechen. Constant, der die Bedeutung der Pariserin erkannt hat, steckt sich hinter ein Kammerkätzchen der Dame, das ihm eine Zusammenkunft mit ihr ermöglicht. Aber vergeblich bietet er seine Beredsamkeit auf und lässt die verführerischsten Verlockungen aufmarschieren. Auch sie huldigt dem Grundsatz: Bargeld lacht. Ohne das ist sie nicht zu haben. Sie stimmt ihrem Herrn und Meister zu und neigt zu Faucon. Betrübt verlässt Constant den Saal des Palastes, da begegnet ihm Lefranc. Die Pariserin hat ein Auge auf diesen geworfen und ihn zu einem Stelldichein geladen. Der zögerte, aber Riant hatte ihm zugesetzt, der hohen Dame entgegenzukommen, damit [sie] ja nicht ihre Gunst Constant zuwende. Constant, der schon verschiedene Gerüchte über die Vergangenheit der Pariserin erfahren, versucht in der Not, vielleicht Lefranc ohne dessen Wissen für sich arbeiten zu lassen, und fragt ihn, ob er komme, um von der Dame Nachrichten über den „Ajax" zu erlangen. Sie könnte ihm manches darüber berichten. Darob gerät Lefranc in Feuer und Flamme. Die Pariserin fragt ihn, wie es in Frankreich stehe, welches die Zwecke, die er in Peking verfolge. Er sagt, er selbst verfolge gar keine, aber die seiner Freunde lägen ihm am Herzen. Vor allem möchte er, dass Constants Bewerbung zurückgewiesen werde. Den hasse er gründlich. Gut, wird ihm versichert, Constant ist erledigt. Die Pariserin flirtet weiter, Lefranc wird immer zärtlicher. „Vom ersten Moment an hat es mich zu Ihnen gezogen, es war die Stimme des Blutes, die mich drängt, Sie zu lieben." „Sie meinen wohl die Stimme des Pariser Blutes?" „Ja, die Stimme gemeinsamer Abstammung aus Paris." „Sie müssen doch entzückende Erinnerungen an Paris aufweisen, an einen schönen, jungen Offizier des ,Ajax'." „Mein Gott, woher wissen Sie das alles?" „Woher 258

ich das weiss, ich bin das Kind, das Sie im Findelhaus gelassen — Mutter, Dein Sohn kniet vor Dir!" „Aber es war ja ein Mädchen?!" Verblüfft springt Lefranc auf, da habe ich einen schönen Blödsinn angerichtet. Die Pariserin sieht dem Forteilenden wütend nach: „Das sollst Du mir büssen und Deine Freunde mit Dir!" Constant wird feierlich die Konzession überreicht, die der Sohn des Himmels in seiner Gnade ihm verleiht. Damit sind wir bei dem letzten, dem zehnten Bild angelangt, das Neapel darstellt, wo die Rückkehrenden Station machen. Lefranc hatte einen Liebesroman mit einer hübschen und muntern Freundin Adriennes, Desirée, die sie begleitete. Das Flirten Lefrancs begann schon im ersten Bild, es setzte sich im Stücke fort, wir haben davon nicht Notiz genommen, um die Darstellung nicht zu breit zu gestalten. Es wird in Neapel mit einer Verlobung zu Ende gebracht. Desirée nimmt nicht Anstoss daran, das Findelkind zu heiraten, das Lefranc bleibt, da er darauf verzichtet, seine Eltern zu suchen. Er findet jetzt viel wichtiger als einen Vater eine elterliche Familie zu finden, sei es, selbst Vater zu werden und eine Familie zu begründen. Riant darf seine Adolphine begrüssen, aber tut es mit betrübter Miene. Er darf sie nicht sofort heiraten, denn er ist ein armer Mann, er schuldet Girardet 400000 Frs. Girardet wurde selbst finanziell so sehr geschwächt, dass er Riant nicht zu helfen vermag. Faucon triumphiert. „Allerdings," meint er, „meine Gesellschaft, die Interocéanique hat nicht gesiegt, aber der Konkurrent ist ruiniert. Damit muss die Interocéanique zufrieden sein." Constant aber, der nun auftaucht, hat ihn gehört. Er ruft ihm zu: „Die Interocéanique sollte wohl mit Ihnen zufrieden sein. Sie werden aber nicht mit ihr zufrieden sein. Eben erhalte ich ein Telegramm aus Paris, sie hat ihren Misserfolg nicht ausgehalten und ist fallit!" „Zum Teufel, die Interocéanique bankrott, dann bin ich auch verloren", ruft Faucon und stürzt ab. Alle sind verwundert, besonders Girardet. „Also zur Interocéanique gehörte Faucon?". „Ja," sagt Constant, „das hatte ich schon in Paris herausgebracht. Aber Beweise hatte ich nicht, und ohne solche hätten Sie mir nicht geglaubt. So beschloss ich, Faucon auf eigene Faust zu bekämpfen und dabei Ihre Anerkennung zu erwerben. Nicht für mich habe ich alle diese Privilegien, Konzessionen, Ländereien erworben, die der Kanalbau erforderlich macht, sondern für Sie. (Er reicht ihm ein dickes Bündel.) Hier sind alle erforderlichen Dokumente, aber auch die Rechnungen. Sie, Herr Girardet, werden jetzt die Mittel haben, alle die Leute zu entschädigen, die ich um Ihretwegen plündern musste. Sie werden jetzt auch von Herrn Riant nichts fordern." Girardet: „Sicher nicht." 259

Riant: „Also können wir sofort heiraten. Ach wie herrlich, Adolphinchen." Girardet: „Und was bleibt Ihnen, Constant?" Constant: „Nichts. Nicht für mich habe ich gearbeitet, sondern für Sie. Mir verbleiben meine Lieder." Adrienne: „Und Deine Adrienne. Jetzt bist Du wieder der Constant, den ich liebte, den zu lieben ich nie aufhörte." Girardet: „Meine Zuneigung aber haben Sie nicht gewonnen, solange Sie mich finanziell ruinierten, war ich stolz darauf, hatte ich Sie moralisch besiegt, in den Bann meiner Anschauungen gezwungen. Nun massen Sie sich an, moralisch über mir stehen, mich demütigen zu wollen. Dafür hasse ich Sie." Riant: „Girardet, Sie sind ebensosehr ein Narr wie Constant, oder wenn es ihnen besser gefällt, ebensosehr ein Idealist." Constant: „Ich demütige Sie in keiner Weise. Ich habe nur Vorarbeiten für das grosse Werk gegen einen skrupellosen Konkurrenten sichergestellt. Die Vorarbeiten selbst haben Sie geleistet, und Ihnen steht noch das Wichtigste und Grösste bevor: Der Bau des Kanals selbst. Das können und werden nur Sie leisten. Sie werden den Atlantischen Ozean mit der Südsee vermählen und die kommenden Generationen werden sie darob preisen und bewundern." Girardet: „Soll ich, darf ich Ihnen vergeben?" Riant: „Tun Sie es getrost, Reichtum ist keine Schande." Vorhang fällt. So ungefähr endete das Stück, für den genauen Wortlaut kann ich nicht bürgen. Die letzte Fassung liegt mir nicht vollständig vor, nur die erste, die stark geändert wurde. Ich berichte hier aus dem Gedächtnis. Ich legte das Manuskript meinen Eltern vor und war angenehm überrascht, als sie damit sehr zufrieden waren. Noch mehr überraschte es mich jedoch, dass, nachdem mein Vater es einem Theaterdirektor zu lesen gegeben, dieser es ohne weiteres akzeptierte. So leicht hat selten ein Bühnendichter, und wäre er der gottbegnadetste gewesen, die Annahme seines Erstlingswerks erreicht. Allerdings war ich keinen Moment im Zweifel darüber, dass ich dies nicht den poetischen Qualitäten meiner Schöpfung, sondern dem Einfluss meines Vaters verdankte, der sich bereit erklärte, die Dekorationen ohne Bezahlung, nur gegen Tantième zu liefern, wobei sie allerdings sein Eigentum blieben. Diesmal hatte er sich nicht wie bei der „Reise um die Eide" und der „Reise zum Mond" mit Jauner vom Karl-Theater in Verbindung gesetzt, sondern mit Steiner, dem Direktor des Theaters an der Wien. Auch weiterhin schien alles glatt gehen zu wollen. Die Rollen wurden alle gut besetzt. Die meisten der damals Mitwirkenden sind 260

seitdem dem Los der Mimen erlegen und dem Gedächtnis der Nachwelt entschwunden. Doch zwei junge Kräfte traten in meinem Stück auf, die nachher grosses Ansehen erwarben und heute noch nicht vergessen sind: die Adrienne wurde von der 18jährigen Nuscha Butze gespielt, die eben zur Bühne gekommen war. Später, um die Jahrhundertwende sollte sie selbst ein Theater in Berlin leiten und danach im Königl. Schauspielhaus daselbst über ein Jahrzehnt lang eine hervorragende Stelle einnehmen. Noch berühmter als Nuscha Butze ist Alexander Girardi, der den Lefranc gab, kein Anfänger mehr, doch noch wenig bekannt. Alles schien auf das günstigste zu verlaufen. Doch sollte es uns ebenso ergehen, wie dem seligen oder unseligen Herrn Polykrates. Nachdem Steiner die „Atlantique-Pacifique" akzeptiert hatte, konnte er es nicht erwarten, sie aufgeführt zu sehen. Schon anfangs August 1878 begann er mit den Dekorationsproben, bald darauf mit den Personalproben. Bei der ersten von ihnen, der Leseprobe, geschah bereits das erste Unglück. Meine Mutter hatte den Text, den ich geschrieben, im allgemeinen für gut befunden, aber doch den Dialog nicht immer elegant und flüssig genug. Sie hielt es für nötig, in dieser Beziehung stark zu ändern und zu bessern, was sie auch zu meiner Freude besorgte. Als sie eine Andeutung fallen liess und fragte, ob in Frankreich ein Bühnendichter eine Mitarbeit nach ihrer Art für ausgiebig genug erachten würde, dass sein Name als Mitautor auf dem Theaterzettel genannt werde, bot ich ihr dies gern ohne weiteres an. Sie akzeptierte es. Das war keine Frage der Autoreneitelkeit für sie, kein Streben, sich mit fremden Federn zu schmücken, sondern einfach ein Versuch, einmal ihren Namen als Dramatikerin vor dem Publikum genannt zu hören. Sie hatte schon mehrere Theaterstücke verfasst, die meines Erachtens literarischen Wert hatten, hoch über der „AtlantiquePacifique" standen, nicht wie diese aus Berechnung, sondern aus starkem künstlerischen Drang verfasst waren. Es war ihr nicht gelungen, eines dieser Stücke zur Aufführung zu bringen. Immer wieder war sie auf Ablehnungen gestossen. Gelangte jetzt die „AtlantiquePacifique" zur Aufführung und hatte sie Erfolg, dann durften wir erwarten, werde damit das Eis der Ablehnungen für meine Mutter gebrochen sein, wenn sie als Mitverfasserin mit auf dem Zettel stand. Das mochte für ihre Laufbahn als Bühnenschriftstellerin eine entscheidende Wendung bringen. Ich wäre natürlich glücklich gewesen, wenn mein Werk ihr dazu verholfen hätte. Darüber gab es gar kein Bedenken und gar keine Diskussionen. Und doch ergab die Mitautorschaft meiner Mutter Nebenwirkungen, die ich nicht voraussah, über die ich mir auch lange nicht klarwurde. 261

Ich hatte die „Atiantique" als Ausstattungsstück geschrieben, als blosses Effektstück, ohne alle literarischen Ansprüche. Meine Mutter wollte es auf ein höheres Niveau erheben und erhob es tatsächlich durch Verfeinerung des Dialogs und der Charaktere, durch Gestaltung mancher Szene. Aber es ist wohl möglich, dass sie die Bühnenwirkung der „Atiantique" dadurch beeinträchtigte, die bei einem Ausstattungsstück durch andere Mittel bewirkt wird als etwa bei einem Konversationslustspiel. Freilich, das Publikum ist unberechenbar, es ist oft unmöglich, mit Bestimmtheit vorauszusagen, wie ein bestimmter Satz, eine Situation, eine Szene wirken wird. Die ganze Schlussredaktion ebenso wie die Verhandlungen mit Steiner überliess ich meiner Mutter, zu deren Bühnenerfahrung ich vollstes Vertrauen hatte. Steiner, dem alten Routinier, was es jedoch ebenfalls mehr um den Effekt als um literarischen Wert zu tun. Er bat, ihm zu gestatten, manchen Aktschluss wirksamer zu gestalten, manches Schaustück einzuflechten. Der alte Possendichter Hopp, der schon unter Nestroy gearbeitet, nahm diese Aufgabe auf sich. Ich hatte von meinem Standpunkt nichts dagegen einzuwenden. Meine Mutter fürchtete für ihr Werk und ging nur ungern darauf ein. Bei der Leseprobe war sie ganz ausser sich über die vorgenommenen Änderungen. Sie waren nicht sehr geistreich, hätten aber vielleicht Effekt gemacht. Meine Mutter aber verlangte ungestüm die Beseitigung aller „Verbesserungen", die sie als Geschmacklosigkeiten charakterisierte. Das war sehr mannhaft vom Standpunkt der Autorenehre, aber nicht sehr diplomatisch. Theaterdirektoren und auch schon Regisseure beanspruchen seit langem das Recht, die Werke von Anfängern „bühnenwirksam" zuzustutzen. Heute gehen sie ja noch weiter und machen selbst vor einem Schiller, einem Goethe, einem Shakespeare nicht halt. Durch diese Bearbeitung gewinnen die Direktoren Interesse für das Stück, wird es für sie „ihr" Stück, für dessen Erfolg sie alles aufbieten. Das hat meine Mutter nie anerkannt. Sie stand überhaupt jedem Theaterdirektor von vornherein mit Misstrauen und Abneigung gegenüber. Zu oft hatte sie seit ihrer Kindheit gesehen, wie Direktoren ; hren Vater ebenso verständnislos wie ausbeuterisch und treulos behandelten. Sie hatte dann als junge Schauspielerin zu oft Zudringlichkeiten und Unanständigkeiten frecher Theaterleiter zurückweisen müssen. Tiefer Groll gegen diese Klasse war bei ihr zurückgeblieben. Und ihre Natur war zu impulsiv, als dass sie das hätte verhehlen können. Dem schreibe ich es zu, warum sie trotz ihrer dramatischen Begabung, und obwohl manche ihrer Stücke Preise gewannen und zur Aufführung kamen, sie doch bei jeder derartigen Gelegenheit mit dem Direktor in einen Konflikt geriet, der ihren Erfolg arg beeinträchtigte. Das 262

war zum ersten Mal jetzt bei der „Atlantique-Pacifique" der Fall. Bleich vor Zorn gab Steiner ihren Forderungen nach, nur in einem Punkt blieb er hartnäckig. Im Rebellenlager Nicaraguas sollte nach seiner Anordnung eine hübsche Ballerina vor den Offizieren verführerische Tänze aufführen. Auch das wollte meine Mutter nicht gestatten, aber er hatte wohl schon feste Abmachungen getroffen. Geschadet hat es auf keinen Fall. Sonst fügte sich Steiner in allem, erklärte aber gleichzeitig, dass er an der Inszenierung des Stückes kein Interesse mehr habe. Er überliess sie vollständig einem Regisseur namens Dr. Fränkel, den er sich von Brünn geholt hatte. Dort war der Herr Doktor selbst Theaterleiter gewesen, der letzte Direktor, unter dem mein Grossvater Jaich gearbeitet, der letzte, der ihm das Leben sauer gemacht hatte. Doch der Direktor Fränkel hatte auch keine Seide gesponnen. Jetzt diente er als Regisseur unter Steiner in Wien und inszenierte ein Stück des Enkels. Das war ein grosser Nachteil für uns. Steiner war der weitaus bessere Regisseur. Er hätte der Darstellung Schwung und Wärme verliehen. Jetzt schleppte sie sich dahin, was allerdings nur in den Massenszenen merkbar wurde; denn die Schauspieler entledigten sich ihrer Aufgabe mit Elan. Ein weiterer Missstand ergab sich daraus, dass nicht nur Steiner gekränkt war, sondern auch sein literarischer Adlatus Hopp, der in seinem Auftrag die Änderungen vorgenommen hatte, die jetzt so schnöde vor den Schauspielern herabgesetzt wurden. Hopp hatte gute Beziehungen zur Presse, wir gar keine. Er gab seinem Missfallen über unser Stück gegenüber Journalisten, mit denen er zusammenkam, ungeschminkten Ausdruck. Warum sollte er nicht? Schwache Stellen bot es sicher genug und war nicht schon die Tatsache komisch, dass eine Mutter mit ihrem Sohn zusammendichtet? Wo findet man noch einen Fall dieser Art in der Literaturgeschichte? Dichtende Blaustrümpfe pflegen keine Söhne zu haben und schon gar keine dichtenden Söhne. Der Wiener „Kikeriki" brachte Witze über diesen Sachverhalt. Dazu kam noch das Wetter! Der ganze Juli und August 1878 war kalt und regnerisch gewesen. Jetzt, gerade als unser Stück in Szene ging, brach strahlend schönes Wetter für die ganzen Alpenländer herein, ein Tag herrlicher als der andere. Da trachtete alles, ins Freie hinauszukommen. Niemand dachte daran, ins Theater zu gehen. Das traf allerdings ebenfalls die andern Theater Wiens, die schon spielten, das Karl-Theater und das Stadttheater. Aber diese Theater spielten alte, tantièmenfreie Stücke mit wenig Personen, die wenig Tageskosten verursachten. Bei uns handelte es sich um eine Novität, die eine grosse Tantième an Autor und Dekorationsmaler zu zahlen hatte und 263

die ein grosses Personal beanspruchte, also grossen Geldaufwand für jeden Abend verursachte. Da wirkte das Ausbleiben des Publikums katastrophal. Die Aufführung am ersten Abend, 30. August 1878, schien trotz aller widrigen Einflüsse ein grosser Erfolg zu sein. Wieweit der Beifall den Schauspielern galt, den Dekorationen oder dem Stück selbst, war schwer zu entscheiden. Jedenfalls war er laut genug, den Direktor der beiden Grazer Theater, Herrn v. Bastalany, zu veranlassen, sich sofort bei uns um die Aufführung im Grazer Stadttheater (natürlich mit Dekorationen und Kostümen) zu bewerben. Aber der Erfolg war nicht durchschlagend genug, die Lockungen des schönen Wetters auf das Publikum zu überwinden. Bald nach den ersten Vorstellungen stockte der Zustrom schaulustiger Besucher beständig, und dem Direktor Steiner war die „Atlantique-Pacifique" nicht sehr ans Herz gewachsen. Ich glaube, es waren nur 20 Vorstellungen vergangen, da erklärte er, nicht weiter spielen zu können. Nun übernahm mein Vater die Dekorationen (und auch die Kostüme, zu denen ich die Figuren gezeichnet) und sandte sie nach Graz, mit zwei Begleitern, einem Dekorationsmaler namens Hirsch, der das Technische zu organisieren hatte, und einem Regisseur, der das Stück inszenieren sollte. Als solcher wurde ich auserkoren! Mir wurde ein wenig bange vor dieser Aufgabe, aber es war niemand da, der sie mir abnehmen konnte, und der Apparat, der in dem Stück aufgeboten, war zu kompliziert, als dass er hätte klappen können, wenn ihn nicht jemand in Bewegung setzte, der mit ihm ganz vertraut war. Schon in Wien hatte ich dem Regisseur Fränkel bei den Proben zeitweise beispringen müssen, und wieviel war dort probiert worden! In Graz aber stand dazu keine Zeit zur Verfügung. Mit nur einer Probe (mit Dekorationen und Kostümen) sollte gespielt werden. Das war unmöglich zu erreichen, wenn nicht dem gewöhnlichen Regisseur jemand zur Seite stand, der das Stück genau kennt. So übernahm ich die mir neue Arbeit und Verantwortung. e.

Regisseur.

Gegen Ende September fuhr ich nach Graz, in die Geburtsstadt meiner Mutter. Mein Reisegepäck war höchst bedenklicher Art. Das 6. Bild des Stückes spielt während eines Gewittersturmes. Die Blitze wurden dadurch erzeugt, dass man grössere Flocken Schiessbaumwolle auf ein flaches Blech legte und anzündete. Sie flammte momentan hoch empor und erzeugte den Eindruck eines Blitzes. Von der Wiener Aufführung her war noch ein grosser Vorrat Schiessbaumwolle da, den wollte mein Vater verwerten. Dieses furchtbare Sprengmittel etwa durch einen Spediteur zu expedieren, ging schwer an. Ich sollte 264

die gefährliche Ladung, in eine grosse Blechbüchse gestopft, unter meinem Reisekoffer als mein Personengepäck über meinem Sitz in dem Waggon verstauen, in dem ich die Fahrt zurücklegte. Das war zwar leichtsinnig und verboten, ungeheures Unglück konnte passieren, wenn sich die Baumwolle entzündete, aber daran dachten merkwürdigerweise weder mein sonst so gewissenhafter und vorsorglicher Vater noch ich, der ich nicht feig sein wollte. Und es ging auch ganz gut. Erst nach der Ankunft in Graz wurde mir etwas schwül zumute. Wir hatten nicht daran gedacht, dass es in Graz eine Verzehrungssteuer gab, dass dort beim Verlassen des Bahnhofs jedes Gepäckstück nach steuerpflichtigen Gegenständen durchsucht wurde. So hatte auch ich die Blechbüchse mit der Schiessbaumwolle vor einem Finanzwachmann zu öffnen. Misstrauisch fragte er: „Was is denn das?" „Watte", sagte ich. „Wozu brauchens denn so an Haufen Watte?" „Für chirurgische Zwecke, ich bin Mediziner." Kopfschüttelnd blickte er in die weisse Massen hinein. An einen Sprengstoff dachte er nicht, wohl aber an das Einschmuggeln irgendeines zollpflichtigen Gegenstandes. Neugierige sammelten sich um uns, besahen ebenfalls das verdächtige Gepäckstück. Einer von ihnen hatte eine brennende Zigarre im Mund. Ein Funke in der Baumwolle, und wir alle, die wir da herumstanden, waren ein Haufen zerfetzter Leichname. So dachte ich. Doch entfernte sich die drohende Zigarre wieder, und der Finanzmann gestattete gnädigst, die Blechbüchse zu schliessen und mit ihr weiterzuziehen. Erleichtert atmete ich auf. Das Blitzen bei den Vorstellungen übernahm ich dann zunächst selbst, solange ich das Personal nicht kannte, wollte ich das Hantieren mit der Schiessbaumwolle keinem anderen überlassen. Auf das verschwenderischste ging ich mit den Blitzen um, denn der Vorrat, mit dem ich gekommen war, sollte in Graz aufgebraucht werden. Das war der Fluch unserer bösen Tat. Der brave Bürger darf mit Befriedigung feststellen, dass unter den Marxisten sogar ein Theoretiker zu finden ist, der einmal gefährliche Sprengstoffe in illegaler Weise besass, transportierte, entzündete und das ausgerechnet gerade in der Zeit, in der das Sozialistengesetz in Deutschland in Kraft trat. Dies vollzog sich 1878 im Oktober. Die erste Vorstellung der „Atlantique-Pacifique" fand in Graz am 28. September statt. Auch da hatten wir wieder ausgemachtes Pech. Die Rolle des Constant war dem Operettentenor übergeben worden. Dass er als Ungar mit ungarischem Akzent sprach, war schon nicht erfreulich. Verhängnisvoll aber wurde es, dass der süssliche Herr Schuhe mit hohen Absätzen trug und keine Ahnung davon hatte, wie man einen Sprung vollzieht. In der Szene auf dem Schiff im Sturm sollte er ins Meer, das heisst, auf eine Matratze springen. Leider hatten wir das 265

nicht vorher schon probiert. Constant sprang, stürzte und verstauchte sich den Knöchel. Weiterspielen unmöglichl Was tun! Man entdeckte unter den Zuschauern einen gerade unbeschäftigten Schauspieler, der für die Rolle passte. Der wurde geholt, kostümiert und während des Kostümierens und Schminkens wurde ihm die Rolle vorgelesen, was nicht viel nützte, da er das Stück gar nicht kannte. Gerade zu diesem Zeitpunkt aber kam es auf der Bühne im Zwischenakt zu einem Aufruhr der Theaterarbeiter. Diese waren schon lange erbost auf den Regisseur des Theaters, einen Herrn Geiger, der sie ganz rüpelhaft behandelte und es liebte, sie als „Hunde" zu titulieren. Zwischen dem Herrn und unserem Dekorationstechniker Hirsch kam es zu einem Kompetenzkonflikt, bei dem einer der Theaterarbeiter behauptete, er unterstehe dem Herrn Hirsch und nicht dem Herrn Geiger. Wütend schrie dieser den Arbeiter an: „Du Hund, ich werde dich mit der Hundspeitsche kurieren." Darob laute Empörung und Arbeitseinstellung der gesamten Theaterarbeiterschaft, die sein früheres Schimpfen schon aufgebracht hatte. Geiger verlangte die Entlassung des widersetzlichen Arbeiters, Hirsch erklärte, er gehe sofort, wenn dieser entlassen werde. Wilder Spektakel auf der Bühne, an dem ich nicht unbeteiligt war, da ich mich für Hirsch und den ihm anhängenden Arbeiter einsetzte. Damit das Publikum von dem Lärm nichts höre, rief ich ins Orchester: „Spielen, spielen!" Doch im Orchester war niemand, da man den Musikern gesagt hatte, der Zwischenakt werde länger dauern. Er währte in der Tat lange. Dem Direktor gelang es endlich, die erregten Gemüter zu beruhigen. Der Arbeiter bleibt, die Arbeiter gehen wieder an die Arbeit, die alten Dekorationen wegzuräumen, die neuen aufzubauen. Aber das Publikum hatte über eine halbe Stunde warten müssen, bis der Vorhang wieder aufgehen konnte. Und was es dann sah, war ein Constant, der nicht wusste, wie er stehen und gehen und was er sagen sollte. Der zweite Abend ging dann ohne Zwischenfall vorbei, das Publikum zeigte sich amüsiert und spendete Beifall. Ich hatte meine Schuldigkeit getan und konnte gehen, nachdem ich den Rest meiner Schiessbaumwolle dem Inspizienten ans Herz gelegt, der auch kein Unheil damit anrichtete. Lange lief das Stück auch in Graz nicht. Ein Ausstattungsstück verursacht für jeden Abend so grosse Kosten, dass es Abend für Abend volle Häuser erzielen muss, soll der Kassenerfolg befriedigend sein. Dazu reichte die Anziehungskraft der „AtlantiquePacifique" nicht aus. Daher überlegten sichs andere Theater, sie zur Aufführung zu bringen. Die Nachricht von dem Stück muss indes in die Theaterwelt des Auslands gelangt sein. Im November erhielt ich die Zuschrift eines Managers E. Gerson aus London, der die „Atlantique-Pacifique" 266

zu übersetzen und zur Aufführung in England zu bringen gedachte. Daraus erfolgte eine längere Korrespondenz, schliesslich im Februar 1879 sandte er mir schon das Formular eines Kontrakts. Doch erklärte er, unterzeichnen könne er erst, wenn er das Stück kenne. Dagegen liess sich schwer etwas einwenden, doch hatte ich Bedenken getragen, ihm das Manuskript auszuliefern, ohne zu wissen, welcher Art der Herr Gerson denn sei. Nun schickte ich es ihm doch. Daraufhin verschwand der Manager aus unserem Gesichtskreis. Erschien ihm das Stück zu schlecht, dass er nichts mehr damit zu tun haben wollte? Aber dann hätte er als anständiger Mensch uns doch davon verständigen und das Manuskript zurücksenden sollen. Oder erhoffte er sich von einer englischen Übersetzung einen Erfolg und prellte er uns um unseren Anteil, was er um so eher durfte, als es damals noch kein internationales Urheberrecht gab. Welche Deutung die richtige sein mochte, die für uns schmeichelhaftere oder weniger schmeichelhafte, das Ergebnis war unzweifelhaft, wieder eine enttäuschte Hoffnung. Doch eine neue tat sich auf. Der Berliner Theateragent Bendix teilte im Januar 1879 mit, der Direktor des Nationaltheaters in der Reichshauptstadt, Direktor Borsdorf \ wünsche die „Atlantique-Pacifique" aufzuführen. Mein Vater reiste selbst hin, besah das Theater und schloss den Vertrag ab. Im März sollte das Stück zur Aufführung kommen. Wie nach Graz sollten auch nach Berlin Hirsch und ich gesandt werden mit den gleichen Aufgaben, die wir dort gehabt hatten. Ehe ich dahin abging, hatte mein Vater eine lange, ernste Unterredung mit mir. In Deutschland war mit dem 21. Oktober 1878 das Sozialistengesetz in Kraft getreten. Am 28. November hatte dann die preussische Regierung über Berlin den kleinen Belagerungszustand verhängt und tags darauf 67 bekannte Genossen ausgewiesen. Immer wieder folgten neue Ausweisungen, so am 9. Dezember die des auch in Österreich bekannten Johann Most. Angesichts dieser Praxis fürchtete mein Vater, wenn ich in Berlin mit Parteigenossen zusammenkam, auch ich könnte verhaftet und ausgewiesen werden und damit das ganze Unternehmen der „Atlantique-Pacifique" in die Luft fliegen. Er nahm mir daher das feierliche Versprechen ab, mich dort in keiner Weise mit Parteikreisen in Verbindung zu setzen, solange die „Atlantique-Pacifique" dadurch gefährdet werden konnte. Ich gab ihm das Versprechen, denn den Hauptschaden meiner Ausweisung hätte er zu tragen gehabt, nicht ich. Die Proben in Berlin zeitigten die bei solchen Gelegenheiten üblichen Reibereien, diesmal mit dem Direktor, der gleichzeitig auch i

Heisst richtig Borsdorff. B.K.

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als Regisseur fungierte. Ich berichtete darüber in einem Brief vom 10. März nach der ersten Vorstellung, die am 9. vor sich gegangen war. Ich schrieb darin über den Direktor Borsdorf, der von den Theaterdirektoren, die ich kennengelernt, der ärgste sei: „Der Kerl hat von der ganzen Komödie keinen Dunst gehabt und wollte sie doch einrichten. Da ich ihm jedoch unter vier Augen bewies, dass er nichts verstehe, liess er mich gewähren. Ich habe das Stück inszeniert, das heisst, er fragte mich bei jedem Wort, bei jeder Gebärde, jeder Stellung, ob es richtig sei. Soweit wäre alles gut gegangen. Doch bei den Dekorationen begannen wir uns zu hecheln." Erregt und roh tobte Borsdorf bei den Proben immer mehr. Welchen Kalibers er war, zeigt folgender Vorfall. Am zweiten Tag der Proben war es nach der Dekorationsprobe schon spät geworden, zwei Uhr nachts. Mit Hirsch begab ich mich ins Restaurant. „Kaum sitzen wir einige Minuten dort, bringen zwei Herren seine Frau halb ohnmächtig und weinend herein. Er hatte sie auf offener Strasse geprügelt und die beiden Herren — ganz fremde, die eben vorbeigingen, hatten sie vor seiner Wut schützen müssen. Eine Droschke wird geholt, seine Frau nach Hause gebracht, es schliesst der zweite Tag." Am dritten Tag der Proben war Borsdorf wegen seiner Reibereien mit Hirsch und mir noch wütender, als bisher. Wir waren die Stärkeren, er von uns abhängig, so hatte er stets uns nachgeben müssen. „Die Statisten und Schauspieler mussten es entgelten. Er brüllte während der Proben wie ein Stier, so dass die Schauspieler schon die Absicht hatten, zu streiken. Aber er ist ihnen schon einen Monat lang die Gage schuldig, sie mussten daher mehr noch auf einen Erfolg erpicht sein, als er, denn vom Erfolg der „Atiantique" hing es ab, ob sie Gagen erhalten oder nicht." Endlich kam es zur Vorstellung. Alles ging gut, nur dehnte Borsdorf das Stück furchtbar durch die Länge der Zwischenakte. Das machte mich nervös: „Nun kommt ein Zwischenakt von 10 Minuten ..." Endlich sind wir fertig, da lässt der Direktor die Musik spielen . . . Ich stürzte auf den Direktor zu. „Lassen Sie aufziehen, wir sind schon längst fertig." Er lehnte das ab. „Dann spielen wir bis halbzwölf und Sie bringen das Stück um durch Ihren Eigensinn!" schrie ich. „Ich bin der Herr, ich habe hier zu befehlen", entgegnete er.. Die Musik spielt weiter und macht keine Miene aufzuhören. Da geriet ich ausser mir. „Vorhang a u f , rief ich. „Herunter mit dem Vorhang", schreit er, so laut, dass man es im Publikum hört. „Das kann ich nicht länger ansehen, ruinieren Sie das Stück, wie Sie wollen", rief ich und machte mich bereit, die Bühne zu verlassen. „Hinaus, hinaus!" rief Borsdorf mir zu. Ich wollte ihm erwidern, aber der Vorhang war schon oben, die Schauspieler hatten begonnen. So verbiss ich meinen Zorn und 268

ging mit der Erklärung, dieses Theater nie wieder zu betreten. Doch am nächsten Morgen kam der Direktor zu mir ins Hotel, um sich zu entschuldigen. So liess ich mich erweichen und versöhnte mich, um so mehr, da mir mitgeteilt wurde, der Erfolg sei ein grosser gewesen. In meinem Brief darüber heisst es: „Das sechste Bild soll wütenden Applaus gehabt haben. Sechsmal musste der Vorhang aufgezogen werden. Ebenso im achten Bild. Da ich nicht da, musste Hirsch heraus. Zum Schluss dankte der Direktor im Namen des Autors und des Malers. Er soll sehr dasig und sanft seit meinem Fortgehen gewesen sein." Nach diesem Ergebnis nahm ich an, meine Mission in Berlin sei erledigt. Einzurichten und zu probieren hatte ich nichts mehr. Ich sah mir zwei Tage lang einige Sehenswürdigkeiten der Stadt an und reiste dann nach Wien. Doch nicht für lange. Am 24. März musste ich schon wieder in Berlin sein, diesmal nicht als Regisseur, sondern als Kassenmensch. Der Agent Bendix hatte geschrieben, man solle ihm eine Vollmacht gegenüber Borsdorf schicken, mit dem es schlecht stehe. Da wir Bendix nicht trauten, wurde statt der Vollmacht ich geschickt zum grossen Ärger des Agenten. Mit Borsdorf allerdings stand es schlecht. In Wahrheit war er schon bankrott gewesen, ehe die „Atlantique-Pacifique" in Szene ging. Das musste Bendix gewusst haben, das hatte er und noch mehr natürlich der Direktor selbst dem Vater verschwiegen, als der Kontrakt abgeschlossen wurde. Die Abendeinnahmen unseres Stückes reichten nicht aus, die dringendsten Ausgaben zu decken. Borsdorf war nicht mehr imstande, jeden Abend die uns gebührende Tantieme zu decken. Ich stand vor der Wahl, entweder die Tantiemen zu stunden und dadurch die Fortführung der Vorstellungen zu ermöglichen, oder aber diese abzubrechen. Ich entschied mich für ersteres, da Bendix gerade mit Breslau unterhandelte, das die „Atiantique" aufzuführen beabsichtigte. Unsere Verhandlungen dort wären arg gestört worden, wenn wir in Berlin plötzlich aufhörten. Doch aus Breslau wurde nichts und da hatte es keinen Zweck, in Berlin weiter spielen zu lassen. Ich liess die Vorstellungen der „Atlantique-Pacifique" abbrechen. Damit war auch der Lebensfaden der Direktion zerrissen. Borsdorf musste seinen Bankerott ansagen, den er als ehrlicher Mensch schon vor der „Atlantique" hätte verkünden müssen. Es schien, als wolle er uns mit sich in den Abgrund hineinziehen. Ich schrieb über die damalige Situation in einem Brief vom 1. April: „Die Wohnung Borsdorfs ist versiegelt, seine Theaterbibliothek weggeschleppt worden: Dies wusste dieser Schuft schon am Sonntag (dem letzten Tag, an dem ich noch hatte spielen lassen, K.), ohne mir die geringste Mitteilung davon zu 269

machen. Der Kerl verdient wegen betrügerischer Krida angeklagt zu werden. Die Mitglieder umringten mich (im Theater, am Tage nach der Bankerotterklärung, K.) und baten mich flehentlichst, ich solle die Direktion übernehmen, ich sei der einzige, zu dem sie Vertrauen hätten. Ich lehnte dies Ansinnen natürlich ab. Darauf machten sie einen anderen Vorschlag: Ich soll die Sachen ins Woltersdorfftheater bringen lassen, das sei leer. Dort sollten wir die ,Atlantique-Pacifique' auf Teilung spielen. Das klang sehr abenteuerlich, ich wies es aber nicht rundweg ab, sondern sagte nur, wir müssten erst das Theater haben und sehen. Wir, ich, ein Schauspieler und Eichelberg, gehen hin und ersuchen die Geheimrätin von Woltersdorff, uns das Theater zu überlassen. Zum Glück schlug diese es ab. Ich hätte nicht Lust gehabt, noch einmal anzufangen und doch waren alle überzeugt, damit sei ein Geschäft zu machen." Nun glaubte ich meiner Gewissenspflicht gegenüber den brotlos gewordenen Theatermitgliedern Genüge geleistet zu haben und machte mich daran, Dekorationen und Kostüme packen zu lassen, um sie nach Wien zu transportieren. Das war nicht so einfach. Zu diesem Geschäft musste ich erst Theaterarbeiter und Garderobiers mieten. Doch das war das einfachste dabei. Aber der Besitzer des Theaters wollte unsere Sachen nicht herauslassen, da die Gläubiger des Herrn Borsdorf sie mit Beschlag belegt hätten. Zum Glück sah die Sache gefährlicher aus, als sie war, aber es kostete endlose Laufereien, el>e ich berichten konnte, ich habe die Erlaubnis, unsere Sachen aus dem Theater zu nehmen. Nun hiess es noch, die Umschreibung der Assekuranz zu besorgen und das übrige Abkommen mit dem Spediteur zu treffen. Dann endlich durfte ich auf meinen so zweifelhaften Lorbeern ruhen. Und doch kam ich zu keiner Ruhe. Immer quälte mich der Gedanke, dass ich meinen Vater durch den Misserfolg der „Atlantique-Pacifique" in schwere finanzielle Bedrängnis gestürzt habe. Wir, meine Mutter und ich, hatten von vornherein auf unsere Tantiemen verzichtet und sie dem Vater übergeben für solange, als seine Kosten nicht gedeckt waren. Aber das reichte lange nicht aus. Und doch hatte ich gehofft, durch die „Atlantique-Pacifique" nicht nur mir, sondern auch ihm, der schon soviel für mich geopfert, eine finanzielle Verbesserung zu bringen. Diese Scharte musste ich auswetzen. Am 1. April schrieb ich den Eltern: „In diesem allgemeinen Zusammenbruch habe ich nur einen Gedanken: ein neues Ausstattungsstück auf die alten Dekorationen. Ich muss eine Idee finden, ich muss, dachte ich, in einem fort und so arbeite ich bereits am ersten Bild. Dieselben Dekorationen verwendbar, effektvolle Maschinerien, viel Spektakel, spannende Handlung, urkomische Charaktere und Situationen — es ist unglaublich und mir selbst ein Rätsel, wieso mir 270

jetzt diese Witze einfallen. Ob ich dabei nicht verrückt werde, ist eine andere Frage. Doch nein. Wenn ich auch manchmal mutlos bin, ich lasse den Mut nicht sinken. Solange noch ein Hauch Leben in mir ist, werde ich retten, was zu retten ist — sind aber einmal die Kosten der ,Atlantique-Pacifique' herinnen, dann, das schwöre ich, schreibe ich kein Ausstattungsstück mehr." Natürlich machte ich die Erfahrung, die so mancher Dichter und Künstler vor mir gemacht und mancher noch machen wird: Was im Kopfe als herrliches Werk gedacht ist, setzt der Übertragung auf die Leinwand oder das Papier hartnäckigen Widerstand entgegen, wird nüchtern und flach. Selbst manches Genie ist über diesen Gegensatz von Idee und Wirklichkeit unheilbarem Trübsinn verfallen. Für mich war die Muse Thalia nie die hohe, erhabene Göttin gewesen, ich hatte mit ihr nur geflirtet, damit sie mich als tüchtige Kuh mit Butter versorge. Da sie das nicht tat, kostete es mir keine Träne, ihr den Abschied zu geben. Nicht nur auf das Schreiben von Ausstattungsstücken verzichtete ich für immer, sondern auf das von Theaterstücken überhaupt. Der Muse, die sich nicht hatte von mir melken lassen, war es auch nicht eingefallen, einen göttlichen Funken in mir zu entzünden. Zu einem bedeutenden Dramatiker fehlte mir die Begabung. Ich hatte wohl öfter mit dramatischen Versuchen gespielt, aber nie etwas Bemerkenswertes zustande gebracht. Ich gab nun jeden weiteren Versuch auf. Partei und Forschung füllten meine ganze Arbeitszeit aus. Sie befriedigten mich mehr als die Dramatik mit ihren im besten Falle unsicheren Erfolgen. Auch mein Vater verlangte kein weiteres Bühnenwerk von mir. Doch sah er es ungern, dass ich dem Theater ganz Adieu sagen sollte, auf dem ich schon einigermassen Fuss gefasst. Er redete mir zu, dabei zu bleiben. Ich hätte das Zeug zu einem guten Regisseur. Ich weiss nicht, ob er sich nicht hier abermals irrte. Noch hatte ich die entscheidende Probe nicht abgelegt, noch kein Stück eines anderen Autors inszeniert. Die Inszenierung eines Werkes, das man selbst verfasst hat, beweist noch nichts. Aber vor allem: ich hatte genug vom Theater, dem ich fast ein Jahr meines Lebens mit der Zeit der Abfassung, der Inszenierung, des Herumreisens mit der „Atlantique-Pacifique" geopfert hatte. In einem Brief vom 29. März 1879 fasste ich meine Erfahrungen meiner Theaterlaufbahn in die Worte zusammen: „Pack, nichts als Pack beim Theater. Die Schauspieler Pack, die Direktoren grösseres, die Agenten grösstes Pack." Wie die meisten Verallgemeinerungen war auch diese ungerecht. Es gibt unter den Schauspielern und Schauspielerinnen hochanständige, tüchtige Menschen, ich selbst habe solche kennengelernt. 271

Auch einzelne Direktoren sind dieser Art. Vielleicht auch mancher Theateragent. Nicht moralische Minderwertigkeit geht aus der Atmosphäre der Theaterwelt hervor, sondern etwas ganz anderes. Es ist eine Welt des Scheins. Die Menschen auf der Bühne müssen etwas anderes zu sein scheinen, als sie sind, und zwar etwas, was auffällt, den Beschauer interessiert. Nicht besser wollen sie erscheinen, als sie sind, das ist nicht ihr Beruf. Er macht aus ihnen keine Heuchler. Aber bedeutender wollen sie erscheinen und interessant, auch wenn sie es in Wirklichkeit nicht sind. Wie stark das Theater in dieser Beziehung wirkt, erfuhr ich an mir selbst. Ich gestehe das in dem gleichen Brief vom 29. März zu, den ich oben schon zitierte. Ich erkundige mich, anlässlich von Verhandlungen, die ich mit dem Frankfurter Theater führte, nach der Bedeutung eines technischen Ausdrucks: „Ich will hier niemand fragen, denn ich bin sehr arrogant, tue so, als ob ich alles besser verstünde, wie alle anderen und geniesse daher vielen Respekt, der aber sinken würde, wenn ich um eine so einfache Sache fragen würde." Im Kloster Melk hatte ich binnen zwei Jahren in hohem Grade die klösterliche Mentalität einer selbstsüchtigen, stupiden Frömmelei angenommen, auf dem Theater binnen einem Jahr die einer anmasslichen, selbstsicheren Pose. Meine Erfahrungen hier wie dort bezeugen mir den grossen Einfluss der Umwelt auf die Bildung des Charakters, die Möglichkeit, durch entsprechende Gestaltung der Umwelt den Charakter zu verbessern oder zu verschlechtern. Sie liessen mich erkennen, wie lächerlich es ist, den jeweiligen Charakter eines Menschen bloss von seinen ererbten seelischen Qualitäten abhängen zu lassen. Die Theorie des geborenen Verbrechers habe ich stets ebenso bekämpft, wie die des geborenen Edelmenschen. Natürlich bleiben die angeborenen Eigenschaften nicht unwichtig. Von ihnen hängt es ab, wie die Umwelt den Charakter beeinflusst und auch, ob das Individuum sich in ihr leicht zurechtfindet oder von ihr abgestossen wird. Kloster und Theater haben mich, solange ich in ihnen tätig war, stark beeinflusst, aber wohl habe ich mich hier ebensowenig gefühlt, wie dort. Ich musste meinem angeborenen Wesen hier wie dort Zwang antun, das ebensowenig zur Arroganz neigt wie zur Frömmelei. Stets habe ich mich wohl gefühlt in meiner Familie, dann auch in meiner Partei, dagegen nicht im Kloster und nicht hinter den Kulissen. Nachdem die Angelegenheit der „Atlantique-Pacifique" in Berlin vollständig erledigt war, die Dekorationen und Kostüme verpackt bei dem Spediteur lagen, bereit nach Wien gebracht zu werden, fühlte ich mich an das Wort, das ich meinem Vater gegeben, nicht mehr gebunden, mit meiner Partei in keine Verbindung zu treten. Was 272

immer dabei herauskommen mochte, ihm konnte das nicht mehr schaden. In diesem Sinne schrieb ich ihm und er akzeptierte es. Was ich solange ersehnt, tat ich nun sofort, ich nahm Fühlung mit der Partei in Berlin. Ich besuchte den Reichstag, unter dessen Abgeordneten ich Bebel, Hasenclever, Liebknecht bereits von meinem Besuch in Leipzig 1877 kannte. Ich lernte nun auch andere unserer Abgeordneten kennen, unter denen ich mich damals am engsten an Max Kayser anschloss, unseren jüngsten Vertreter im Reichstag, der nur einige Monate älter war als ich. Durch ihn kam ich dann auch mit der anonymen Masse der Genossen in Verbindung, namentlich bei einem der Tanzvergnügen, die ebenso wie die Arbeiterbälle in Wien, die Aufgabe hatten, Genossen, die sonst nicht leicht zusammenkamen, wieder in Kontakt miteinander zu bringen und vor allem Geld für die Parteikasse zu schaffen, die seit der Zerschlagung unserer Organisationen durch das Sozialistengesetz und durch die Unterhaltspflicht für die zahlreichen Familien Ausgewiesener arg geleert war. Mit Überraschung und Bewunderung stellte ich fest, dass trotz Ausnahmegesetz und Belagerungszustand die Stimmung der Genossen eine vortreffliche war, eine weit bessere, als die Haltung der Parteipresse erwarten liess, die noch von dem Bestreben geleitet wurde, ein Verbot zu vermeiden und zu diesem Zwecke die sanftesten Töne anschlug. Ungebrochen, zuversichtlich, ja trotzig fand ich die Stimmung der Genossen. Auch die Verbreitung verbotener Presserzeugnisse funktionierte sehr gut. Ich selbst kaufte damals verschiedene verbotene Schriften in Berlin, darunter ein Exemplar des eben erschienenen Buches Bebels über „die Frau und der Sozialismus". Bebels Gattin hiess Julie. So verlangte man in Parteikreisen „Frau Julie", wenn man sein Buch haben wollte. Die Verbreitung ging so flott, dass die erste Auflage binnen wenigen Monaten verkauft war. Die Heimreise nach Wien richtete ich so ein, dass sie über Leipzig ging. Dort war noch nicht der Belagerungszustand verhängt, ich verlebte bei Bebels und Liebknechts einige sehr angenehme Tage. Auch den Referendar Viereck lernte ich in Leipzig kennen, damals in Parteikreisen sehr populär. Ein illegitimer Sohn des Kaisers Wilhelm, hatte er sich doch 1876 unserer Partei angeschlossen. Auf Grund des Belagerungszustandes war er jetzt aus Berlin ausgewiesen worden und hatte sich nach Leipzig gewendet. So sehr meine Misserfolge beim Theater mich deprimiert hatten, die Berührung mit der Partei überwand diese trübe Stimmung sofort. Erfrischt und erhoben kehrte ich nach Hause zurück. Noch aber stand ungelöst vor mir das Problem: Was willst du werden? Wie willst du dein Brot verdienen, um für die Partei tätig 273

sein zu können, ohne väterliche Unterstützung? Schon war ich 25 Jahre alt. Das Problem stand vor mir dringender als je. f. Die

Erbschaft.

Nach dem Zusammenbruch meiner Hoffnungen, die ich auf die Verwertung meiner dramatischen Fähigkeiten gesetzt hatte, schien mir als Erwerbsarbeit doch nichts anderes übrig zu bleiben, als in das pädagogische Joch zu kriechen und Lehrer zu werden an einer Mittelschule. Allerdings blieb es mir schleierhaft, wie ich meine Lehrerpflichten im Staatsdienst mit meinen Pflichten gegenüber der Partei vereinbaren sollte, die mir über alles gingen. Auch hatte ich die Parteiarbeit seit 1875 weit eifriger betrieben als das Universitätsstudium. Jetzt die abschliessenden Examina zu bestehen, wäre mir nicht leicht gefallen. Ich nahm an, zur Vorbereitung darauf müsste ich mich wohl ein Jahr lang ganz darauf konzentrieren, der Parteiarbeit entsagen. Dazu konnte ich mich um so schwerer entschliessen, als ich doch überzeugt war, dass ich als Mittelschullehrer oder Privatdozent doch sofort gemassregelt würde, sobald ich meine Parteitätigkeit wieder aufnähme. An warnenden Beispielen fehlte es nicht. Die junge Arbeiterbewegung in Österreich hatte schon früh einige akademisch gebildete Männer an sich gezogen. So den Dr. Hippolyt Tauschinsky, Dozent der Geschichte an der Akademie der bildenden Künste in Wien. E r wurde schon wenige Monate nach seinem Anschluss an die Partei seiner Stelle enthoben. Nicht besser erging es in dieser Zeit dem Dr. M. Ratkowsky, Lehrer am Theresianum in Wien: Gegen ihn wurde eine Disziplinaruntersuchung bloss aus dem Grunde eingeleitet, weil er einer Gewerkschaft juristischen Rat erteilt hatte. E r bekam ebenfalls seine Entlassung. Und das im Jahre 1868, auf dem Höhepunkt des Deutsch-Liberalismus in Österreich. Von Ratkowsky ist in der Partei nicht mehr die Rede. Tauschinsky dagegen suchte sich zu behaupten. Doch wurde er seit 1874 durch eine Reihe von Prozessen, die ihm Jahre Gefängnis eintrugen, seelisch und körperlich so sehr ruiniert, dass er den weiteren Kampf aufgab. Im Februar 1876 erklärte er bereits in einer Eingabe an das Grazer Landesgericht, dass er auf alle politische Tätigkeit verzichte und nur noch als stiller Privatmann weiterleben wollte. Und er ist ein „stiller Privatmann" geworden und geblieben, nachdem ihm die Regierung im Oktober 1876 gnädigst eine Stelle im Telegrafen-Korrespondenzbüro in Wien Ich selbst habe Tauschinsky nicht kennengelernt. Als ich der Partei II, 303). Ich selbst habe Tauschinsky nicht kennengelernt. Als ich der Partei beitrat, lebte und wirkte er in Graz und meistens wirkte er gar nicht, sondern sass im Gefängnis. Aber sein jammervolles Schicksal wurde

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mir natürlich bekannt: So droht es einem Intellektuellen zu ergehen, der keine von der Regierung unabhängige Erwerbsarbeit verstand und betrieb. Das spornte mich gerade nicht an, viel Zeit und Kraft aufzuwenden, um die akademische Laufbahn einzuschlagen. Da, in der Zeit erheblicher Bedrängtheit schien sich noch ein Ausweg aufzutun, dank einer kleinen Erbschaft, die ich machte. Von wem konnte ich erben? Von keinem Mitglied der Jaichschen Familie. Die einzigen Angehörigen meines Grossvaters Jaich, seine Schwester Therese Nigris und seine Tochter Luise Potucek, die zu Wohlstand gekommen waren, versanken fast gleichzeitig in bittere Dürftigkeit. Von Potucek habe ich schon gehandelt. Der Gatte meiner Tante Nigris, der Fürstlich Clarysche Güterverwalter, hatte sich in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, der 1873 endete, verführen lassen, auf der Börse zu spielen und dabei sein Vermögen verloren. Das trat 1874 zutage, als er starb. Seine Witwe lebte nach ihm noch einige Jahre mit ihren Töchtern von ihrer Pension. Nach ihrem Tode sahen sich diese darauf angewiesen, durch Erteilen englischen Unterrichts einen dürftigen Lebensunterhalt zu gewinnen. Mein Vater allein blieb im Ungewitter von 1873 ökonomisch aufrecht. Die Jaichschen hatten wir stets nur als Bittsteller um eine Unterstützung, nie als Erbonkel oder Erbtanten kennengelernt. Geld war nicht bei der weiblichen, sondern nur bei der männlichen Linie unserer Familie zu finden. Seit dem Tode meiner Grossmutter Josefa 1863 wurde diese Linie nur noch durch eine einzige Persönlichkeit dargestellt, meinen Grossvater Wenzel Kautsky. Von ihm allein konnten wir erben. Aber die Aussichten darauf waren sehr gering, angesichts des Misstrauens und der Abneigung, die meinen Grossvater gegen seinen Sohn erfüllten. Nach dem Tode seiner Frau hätte er seine Geliebte, Resi, mit der er zusammenlebte, heiraten können. Merkwürdigerweise tat er das nicht. Fürchtete er ein neues Ehejoch? Um so überraschender wirkte es, als er eines Tages (soviel ich mich erinnere 1867) meinem Vater mitteilte, dieser habe nichts von ihm zu erwarten. Er habe sein Testament gemacht und Resi als Universalerbin eingesetzt. Dass er ihr den Nutzgenuss seines Vermögens nach seinem Tode hinterliess, hatten wir erwartet und begreiflich gefunden. Dass aber dieses Vermögen nach ihrem Tode an ihre Verwandten übergehen sollte, die der Erblasser selbst nicht kannte und die ihm höchst gleichgültig waren, dass er also seine Enkel zugunsten gänzlich fremder Menschen enterbte, das befremdete uns. Aber freilich, die Resi war ihm nahe, wir Enkel dagegen weit, so musste das Testament in ihrem Sinne ausfallen. Das bekümmerte uns Enkel nicht viel. Was in Podol vorging,

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interessierte uns wenig. Aber was tut Gott? Die relativ junge, anscheinend urgesunde Resi starb plötzlich — soviel ich mich erinnere, keine 50 Jahre alt. Im Jahr 1868 hatte ich sie noch in voller Kraft gesehen, als Seele der ganzen Wirtschaft. Bald nach 1870 weilte sie nicht mehr unter den Lebenden. Mein Grossvater Wenzel war kein Gemütsmensch, aber dieser Verlust traf ihn doch hart. Wer sollte nun die Wirtschaft führen? Ich weiss nicht, ob er jemals viel davon verstanden hat. Ich glaube, die Resi war stets der Kopf und der Antrieb des Ganzen gewesen. Aber wie dem sei, auf jeden Fall fühlte er seine Kräfte verschwinden, er nahte sich dem siebzigsten Lebensjahr und wollte seine Ruhe haben. Gern ergriff er die erste Gelegenheit, seine Landwirtschaft und seine Kalköfen loszuwerden. Und die fand sich bald. Gerade nach Resis Tod setzte der kraftvollste wirtschaftliche Aufschwung ein, eine Zeit enormer Bautätigkeit und zahlreicher Neugründungen von Aktiengesellschaften. Eine solche wurde auch gebildet zu dem Zweck, die Kalkfelsen über Podol-Dvorec in Zement umzuwandeln. Eine grosse Zementfabrik in der Nähe des grossväterlichen Hauses erstand, und sie bot ihm einen guten Preis für seine Grundstücke. Ob viel gefeilscht wurde, weiss ich nicht. Wir in Wien erfuhren bloss das Ergebnis und auch das nicht vollständig. Wieviel Wenzel bekam, weiss ich nicht, doch eines teilte er uns mit: Er hatte sich nicht einen Kaufpreis in bar oder in Schuldscheinen oder in Hypotheken ausbedungen, sondern eine Leibrente, die mit seinem Tode aufhörte. Bis dahin sollte ihm noch sein Wohnhaus zur Benutzung gehören. Dann fiel es ebenfalls an die Zementfabrik. So war mein Vater wieder um das väterliche Erbe betrogen. Nur ihm nichts hinterlassen, das war des alten Wenzel Hauptsorge. Immerhin wurde durch die Festsetzung der Leibrente mein Vater nicht ganz enterbt. Noch verblieb mein Grossvater im Besitz des Hauses in der Judenstadt. Und über etwas Geld verfügte er auch, zumeist in Sparkassenbüchern angelegt, wie er selbst mitteilte, aber auch die sollte der Sohn nicht bekommen. Grossvater Wenzel teilte ihm mit, dass er diese Reichtümer seinen Enkeln hinterlasse, nicht dem Sohn. Der solle sie nicht berühren. Wenn er ihm diese Bestimmungen seines Testamentes mitteilte, kann es nur zu dem Zweck geschehen sein, den Sohn zu kränken, was auch in hohem Masse gelang. Weit mehr, als der Verlust der Aussicht auf Geld bekümmerte meinen Vater die Missachtung und Abneigung, die sein Erzeuger immer wieder bekundete. Trotzdem hoffte mein Vater immer noch auf ein Entgegenkommen aus Podol, oder schien wenigstens darauf zu hoffen. Im Frühjahr 1877 redete sein Schwiegersohn, der Architekt Roth, ihm zu, sich ein Haus zu bauen, in der Hungelbrunngasse (heute Schönburggasse), 276

die eben der Bebauung erschlossen worden. In der Parallelgasse, der Igelgasse, errichtete sich damals auch Johann Strauss ein Haus, allerdings ein Heim für sich allein, während das meines Vaters eine Reihe Mietwohnungen umfassen sollte. Leider reichten Vaters Ersparnisse nicht aus, er hatte Geld zu recht hohen Zinsen aufnehmen müssen. Da redeten ihm Roth und Dostal, Kienbergers Freund, der noch bei uns verkehrte, eifrigst zu, er solle sich doch das nötige Geld in Podol beschaffen. Mein Vater hatte ihnen offenbar von den Sparkassenbüchern erzählt, die dort lagen. Wenn dieses Geld hypothekarisch auf dem zu erbauenden Hause eingetragen werde, sei es vollkommen sicher und würde dem Grossvater höhere Zinsen bringen wie bisher. Schämte sich mein Vater zu gestehen, wie er mit seinem Alten stand, oder hoffte er wirklich, von ihm das Geld zu erhalten? Genug, er entschloss sich, diesem einen dahingehenden Vorschlag zu machen. Doch ging er klüglich nicht selbst nach Podol, sondern überliess die diplomatische Mission mir, dem einzigen Mitglied unserer Familie, dem Grossvater Wenzel nicht grollte. Diese Mission wurde mit einer anderen verbunden, die auch mir übertragen wurde, geschäftliche Angelegenheiten unseres Wiener Ateliers mit dem Hoftheater zu Dresden und dem Stadttheater zu Leipzig zu ordnen. Das geschah alles auf derselben ereignisreichen Reise, auf der ich, wie schon erwähnt, Chlumsky zum letzten und Bebel und Liebknecht zum ersten Mal in meinem Leben sprach, im März und April 1877. Da ich meinen Grossvater kannte, war mir die Aufgabe nicht sehr erwünscht, die mir bei ihm zufiel. Und wie ich befürchtet, so kam es auch. Ich rückte nicht gleich mit einem Begehren heraus, sondern teilte nur die Absicht meines Vaters mit, ein Haus zu erbauen. Einstweilen bestehe noch die Frage, wo die nötigen Hypothekengelder zu billigem Zins aufzutreiben. Sofort merkte der Alte den Braten: „Natürlich, Ihr wollt, ich soll das Geld hergeben?" „Ja", sagte ich, „wenn du die Gelder, die du bei der Prager Sparkasse zu 3 Prozent liegen hast, auf dem Wiener Hause zu 5 Prozent hypothekarisch anlegen würdest, trügen sie dir mehr, als jetzt, der Vater brauchte dann aber nicht Geld zu 8 Prozent aufzunehmen. Euch beiden wäre geholfen." Nun brach der Alte los. Mein Vater sei stets ein Verschwender gewesen, ein Schuldenmacher, der seine Schulden nicht bezahlte. Er habe eine Bettlerin geheiratet und dann nur vom Schuldenmachen gelebt. Ihm, dem Wenzel Kautsky selbst, habe er einmal 600 Gulden herausgelockt für die Anfertigung eines Panoramas, die habe er bis heute noch nicht zurückgezahlt. In der Tat hatte mein Vater mit seinem Schwiegervater um das Jahr 1860 herum ein grosses Panorama gemalt und ausgestellt, von dem sie sich Wunderdinge erwarteten, 277

vor allem Abhilfe der würgenden Not. Doch die Spekulation schlug fehl, das Panorama interessierte nicht, das Publikum blieb aus, es wurde ein Mittel, nicht den Notstand zu beheben, sondern ihn zu vermehren. Für derartige Vorkommnisse besass Wenzel ein glänzendes Gedächtnis. Gleich seiner Frau erklärte auch er das stete Schuldenmachen durch eine liederliche, leichtsinnige Wirtschaft. Nur suchte Grossmutter Josefa die Schuld bei ihrer Schwiegertochter, der Grossvater bei dem eigenen Sohn. Er meinte, in Wien würde von uns noch weiter so verschwenderisch gewirtschaftet, wie es in Prag geschehen, und der Hausbau sei nur ein Vorwand, um ihm sein Geld herauszulocken. Entrüstet protestierte ich gegen diese Auffassung. Wenn er meinen Vater für einen Betrüger halte, müsste ich sofort sein Haus verlassen. Er fing an zu weinen, ich solle nicht von ihm gehen, ich sei sein „mily Karlicek", sein liebes Karlchen. Ich berichtete darüber in einem Brief aus Prag: „Woher gerade ich sein Herzblättchen wurde, weiss ich nicht. Du bist gut, sagte er, du bist geradeso wie ich, du schaust aufs Geld. Du bist nicht so verrückt wie dein Vater. Aber du hast ihn zu gern. Du lässt dich von ihm anplauschen, bist sein blindes Werkzeug. Mein Sohn hat keinen solchen Respekt vor mir gehabt, wie du vor ihm." Auf meine Geldgier schloss Grossvater Wenzel wohl deshalb, weil ich stets sehr sparsam war, jede Verschwendung scheute. Aber das war nicht im Gegensatz zu meinem Vater, sondern das hatte ich von ihm gelernt. Dass ich mich in der angenehmen Lage befand, keine Schulden machen zu müssen, vor denen ich stets den grössten Horror hatte, war nicht mein Verdienst, sondern eine Folge der Glücksumstände, in die mein Vater mich versetzt hatte. Doch das begriff der Alte nicht, der zäh an den alten Eindrücken festhielt, die er 1853—1863 aus der jammervollen Lage meiner Eltern gewonnen hatte. Natürlich machte ich keine weiteren Versuche, den Harpagon umzustimmen, sobald ich gesehen, woher der Wind wehte. Ich trachtete nur, raschest meinen Aufenthalt bei ihm abzukürzen, ehe es zu einem Bruch kam. Im Grunde tat mir der einsame, alte Mann doch leid. Bei aller Weltklugheit, auf die er sich so viel einbildete, und bei aller Vorsicht in Geldsachen war er doch schon sehr kindlich geworden. Das merkte ich, als er mich mit dem Mann bekannt machte, den er nun mit seinem Vertrauen beehrte und dem er seine ganzen Geldtransaktionen überliess — dem einzigen, der ihn noch besuchte. Der Mann führte den reizenden Namen Laska (Liebe), war ein Prager Baumeister, der ein gutes Einkommen aus Bauten bezog, die er für die zahlreichen Klöster Prags aufführte. Natürlich ein frommer Mann, wie es das Geschäft erforderte, von demonstrativer, aufdringlicher Frömmigkeit. Von Molière kannte er sicher nicht einmal den Namen. 278

Aber wenn er den Tartuffe studiert hätte, um ihn zu kopieren, wäre sein Gehaben auch nicht anders ausgefallen, das keine Kopie, sondern sicher völlig das Originalprodukt seiner schönen Seele war. Hätte Molière ihn kennengelernt, dann wäre die französische Literatur vielleicht durch eine Fortsetzung des Tartuffe bereichert worden. Ich erlebte etwas Derartiges. Am Tage, nachdem ich ihn kennengelernt, sandte mich der Grossvater mit einem Auftrag zu ihm. Ich traf ihn in Gesellschaft seiner beiden Söhne, zwei Jungen von etwa 1 12 und 14 Jahren. Still sass jeder der beiden, das Gesicht über ein Buch gebeugt, demütig dreinblickend, wenn er es einmal unternahm, die Augen aufzuschlagen. Kaum hatte ich meinen Auftrag ausgerichtet, wurde Laska abberufen. Er entschuldigte sich, bat mich, ein Viertelstündchen bei den Kindern zu bleiben, dann werde er wieder da sein, mir die gewünschte Mitteilung zu machen. In dem Moment, wo der alte Laska das Zimmer verliess, ging bei den beiden Jungen eine förmliche Revolution vor. Sie sprangen auf, stiessen die Bücher zurück, lachten und johlten, versetzten sich Püffe und verhöhnten auf das grausamste die Heuchelei des Vaters, über den sie die frechsten und unflätigsten Ausdrücke gebrauchten, als Entschädigung für den Zwang und die Verstellung, die er ihnen auferlegte. Meine Anwesenheit genierte sie gar nicht. Sie befürchteten nichts von mir. Hatten sie die mitfühlende Seele erkannt, die sie nicht denunzieren würde, oder meinten sie, ich verstünde ihr Tschechisch nicht, da ich aus Wien kam und mit ihrem Vater Deutsch sprach? Das Schwelgen in Freiheit und Unverfrorenheit dauerte solange, bis des Vaters nahende Schritte hörbar wurden. Sofort sassen sie wieder still da, die Köpfe über die Bücher gebeugt, in unterwürfiger Gottergebenheit. Hätte Molière diese rasche und meisterhafte Wandlung beobachten können, er hätte noch eine Komödie geschrieben: „Die Familie Tartuffe". Das Sujet ist leider keineswegs veraltet. Es harrt eines Bearbeiters. Die Unterwürfigkeit Laskas hatte ihm das volle Vertrauen des sonst so misstrauischen Kautsky gewonnen. Dieser stellte ihn mir als seinen Vertrauensmann vor, dem er alle seine Sparkassenbücher zur Aufbewahrung übergeben habe. Bei ihm seien sie sicherer als in Wien, das er sich offenbar als ein Sündenbabel vorstellte, dessen Bevölkerung nichts tue, als in Heurigenschenken und Kaffeehäusern zu prassen, zu tanzen, zu jodeln und Schulden zu machen. Alles das kam bei dem frommen Laska sicher nicht vor. Trotz aller Süsslichkeit, die dieser Herr aufbot, hinterliess der Besuch bei dem Grossvater einen sehr bitteren Nachgeschmack bei 1

In der Abschrift steht „bzw.". B.K.

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mir. Es war das letzte Mal gewesen, dass ich mit ihm sprach. Doch mit dem klösterlichen Baumeister bekam ich noch einmal zu tun. Einige Monate, nachdem ich von Berlin heimgekehrt, 1879, erhielten wir ein Telegramm aus Prag: „Grossvater sehr krank". Das genaue Datum weiss ich nicht mehr. Ich eilte sofort hin, fand ihn aber nicht mehr unter den Lebenden. Entweder hatte die Krankheit so rasch mörderisch gewirkt oder Laska hatte die Absendung des Telegramms so weit hinausgeschoben, dass er sicher war, ich werde den Grossvater nicht mehr sprechen. Zur Bestattung kam ich eben recht. In seinen letzten Jahren hatte Wenzel keine Freunde mehr gehabt. Laska und ich waren die einzigen, die dem Sarge folgten. In Dvorec hatte ich dann nichts mehr zu tun, das dortige Wohnhaus des Grossvaters fiel der Zementfabrik zu, die in der Wohnung befindliche Fahrhabe war im Testament dem Baumeister zugesprochen. Nur wegen der Verwaltung des Hauses in der Judenstadt und wegen der Sparkassenbücher hatte ich mich mit diesem noch auseinanderzusetzen. Am Tage nach der Beerdigung fand ich mich bei ihm ein. Die Angelegenheit des Hauses in der Judenstadt wurde ohne viele Umstände erledigt. Er rechnete wohl selbst nicht damit, dass wir ihm die Verwaltung liessen. Nachdem Laska darüber abgerechnet hatte, sagte ich ihm (nach einem Bericht in einem Brief, den ich darüber schrieb): „Da diese Angelegenheiten in Ordnung, habe ich nur noch eines mit Ihnen abzumachen. Als Erbe und Vertreter meiner erbberechtigten Geschwister bitte ich Sie, mir die Sparkassenbücher auszufolgen, die mein Grossvater Ihnen für uns aufzuheben gegeben hat." Darauf entgegnete der würdige Baumeister und steigerte dabei seine Süsslichkeit zu ihrem Gipfelpunkt: „Die Sparkassenbücher? Ja, die habe ich nicht, die hat der selige Herr Grossvater schon vor mehr als einem Jahr wieder von mir zurückgefordert. Was er damit gemacht hat, teilte er mir leider nie mit." Darauf ich: „Sie bilden sich doch nicht ein, dass ich Ihnen das glaube? Nun, Sie werden schon von mir hören." So rief ich möglichst drohend und grob und nahm meinen Hut. Doch in meinem Herzen war ich keineswegs siegessicher. Dass Laska log, daran zweifelte ich keinen Moment. Wie aber ihm das nachweisen? Ich hatte die Sparkassenbücher bereits damals verlorengegeben, als mir der Grossvater mitteilte, er habe sie Laska übergeben. Aber sollte man dem Lumpen das Feld kampflos räumen? Dagegen sträubte ich mich entschieden. In diesem Sinn schrieb ich meinem Vater. Ausserdem bat ich den Onkel Potucek, mich einem vertrauenswürdigen Prager Advokaten zu empfehlen. Er nannte mir einen Dr. Cerny, der sich in der Tat auf das beste bewährte. Allerdings musste er zugestehen, dass wir nicht viel zu erwarten hätten, wenn Laska es auf eine strafgerichtliche Verfolgung ankommen lasse. Aber Leute 280

seiner Art fürchteten es sehr, vor Gericht zu kommen. Brauchen sie doch eine fleckenloses Prestige. Er sei mir gegenüber unverschämt gewesen, weil er vermeinte, ich sei ein weltfremder grüner Junge, der sich imponieren lasse. Vor einem Advokaten klappe er vielleicht zusammen. Und so kam es auch. Laska ging eine Mitteilung Cernys zu, er habe meine und meiner Geschwister Vertretung übernommen und er fordere den Herrn Baumeister auf, ihm mitzuteilen, wann und wie er die ihm anvertrauten Gelder zurückerstatten werde. Schon zwei Tage später erschien der fromme Mann in der Advokaturskanzlei und deponierte dort dieselben Sparkassenbücher, deren Besitz er geleugnet hatte. Damit lieferte der Schafskopf den deutlichen Beweis, dass er eine Unterschlagung versucht habe und dass er nur deshalb kein grosser Schuft sei, weil ihm dazu Mut und Intelligenz fehlten. Daher blieb er nur ein Schufterle oder ein Schuft in spe. Er hatte offenbar nicht gewagt, die Sparkassenbücher bei der Sparkasse vorzuweisen und sich die Gelder auszahlen zu lassen. Es waren vier Bücher, zu je ungefähr 2000 Gld. Jedes auf den Namen eines von uns vier Enkeln ausgestellt. Natürlich erstand die Frage, ob sich nicht noch mehr Geld bei dem Grossvater befunden habe, das Laska uns vorenthielt. Aber das Forschen danach hätte kaum zu etwas geführt. Rache wegen der versuchten Unterschlagung wollten wir auch nicht üben. So Hessen wir Herrn Laska in Frieden ziehen, und ich selbst durfte im Triumph heimkehren mit 8000 fl., die ich schon lang verlorengegeben hatte. Das war Balsam auf die Wunden, die die „Atlantique-Pacifique" geschlagen. Natürlich nahm ich Herrn Laska auch die Verwaltung des Hauses in der Judenstadt, die ihm der Grossvater anvertraut. Ich bat Potucek, sich damit gegen eine angemessene Entschädigung zu befassen, und er übernahm das gern. An Zeit fehlte es ihm leider nicht. Über das Haus schrieb ich nach Wien in einem Brief, der noch vor Laskas Kapitulation abgefasst war. Mein Brief, der einzige aus jenen Tagen, der sich erhalten, war geistreicherweise datiert: „Sonntag 1879". Ich schrieb dem Vater: „In dem Haus in der Judenstadt war ich. Es sieht ziemlich vernachlässigt aus, aber die Einwohner sind mit Laskas Verwaltung zufrieden und verlangen nicht, dass er das Haus in besserem Stand halte, obgleich es wie ein Saustall aussieht. Es mag dies allerdings ebenso den Einwohnern zuzuschreiben sein, wie dem Verwalter. Das Haus trägt 952 fl. Zins, davon sollen nach Laskas Angabe die Steuern 300 fl. ausmachen. Wenn die Angelegenheit wegen der 5000 fl. geregelt ist (so hoch schätzte ich die in den Sparkassenbüchern deponierte Summe ein, K.) gehe ich hin, um mich über die Hausverhältnisse mit den nötigen Dokumenten zu versehen. Petrona (Petronella, des Grossvaters Wirtschafterin, K.) sagte mir, der 281

Jude, der das Kaffeehaus hat, Dvorebs 1 Nachfolger, habe dem Grossvater angeboten, er kaufe das Haus um 12.000 fl., 6000 fl. bar und 6000 fl. sollen auf dem Hause liegenbleiben. Aber der Grossvater verlangte 12.000 fl. bar und so zerschlug sich der Handel. Was sagst du zu dem Handel? Soll ich mit dem Kaffeesieder — wenn ich nicht irre, so heisst er auch Kautsky — darüber reden? Mehr als 12.000 fl. dürfte man kaum für das Haus bekommen." Der Handel Kautskys mit Kautsky kam nicht zustande. Es dauerte Jahre, bis das Haus verkauft und damit meine Verbindung mit dem Prager Ghetto völlig gelöst wurde, 1886. Damals lebte ich schon in London. Immerhin, ich kam von Prag als Kapitalist heim. Die „AtlantiquePacifique" hatte mir nichts gebracht. Als Maler und Turner hatte ich schon Geld verdient. Als Schriftsteller dagegen noch keinen Kreuzer. Jetzt dagegen durfte ich mich als Besitzer von 4—5000 fl. fühlen. Und damit tauchte ein neuer Gedanke in mir auf, der mir bis dahin ferngelegen. Konnte ich nicht das bisschen Geld dazu benutzen, mich ökonomisch auf eigene Füsse zu stellen und so dem Vater die Last meiner Erhaltung abzunehmen, die mich immer schwerer drückte? War ich doch schon 25 Jahre alt! Aber welches Geschäft bot mir die Möglichkeit davon zu leben, aufgebaut auf der schmalen Basis von etwa 4000 fl.? Die einzige Ware, auf die ich mich verstand, waren Bücher. Sollte ich mir nicht eine Existenz als Buchhändler schaffen können? Wohl hätte diese Tätigkeit den besten Teil meiner Kraft in Anspruch genommen und meine Parteiarbeit bedenklich eingeschränkt, für die ich seit 1875 den weitaus grössten Teil meiner Zeit aufwandte. Aber galt das nicht für jede Erwerbsarbeit, die ich versucht hatte? Und konnte ich nicht als Buchhändler auch für die Partei tätig sein? Ich stand in ständiger Verbindung mit der Buchhändlerfirma Bloch und Hasbach. Sie war damals meines Wissens in Wien die einzige, die sozialistische Literatur führte. Durch sie erfuhr ich manches und bezog ich manches, was keine andere Buchhandlung mir zugänglich gemacht hätte. Aber reichten 4000 fl. hin, einen Buchhandel zu begründen? Ich dachte nicht an einen Verlag. Ein Buchverlag ist fast ebensosehr ein Glücksspiel als eine Theaterdirektion oder die Goldgräberei, wenn man nicht mit grossen Mitteln arbeitet, einen gelegentlichen Misserfolg ausgleichen kann. Aber ein Sortimentsbuchhandel? Der versprach keine glänzenden Gewinne, drohte aber auch mit keinem vernichtenden Verlust. Doch allein konnte ich das Unternehmen nicht wagen. Wohl hatte i

So in der Abschrift. B.K.

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mich mein Theaterstück nicht bloss mit der Kunst, sondern auch mit der geschäftlichen Misère der Bühne bekannt gemacht. Und gleich darauf hatte ich einem Erbschleicher ein Erbgut zu entreissen gehabt. Hier wie dort hatte ich zu meinem Erstaunen mehr geschäftliche Talente in mir entdeckt, als ich in der Romantik geahnt, die mich im ersten Jahrzehnt meines sozialistischen Strebens beherrschte. Aber jeder Geschäftszweig erfordert seine besonderen Kenntnisse. Wie sie erwerben? Ich war zu alt, um als Buchhandlungslehrling beginnen zu wollen. Ein Mann, der Bücher schreibt, die gedruckt und verkauft werden, kann doch nicht Lehrjunge in einem Buchladen werden. Was ich brauchte, war ein Kompagnon, ein gelernter, erfahrener Buchhandlungsgehilfe, der es unternahm, mit mir zusammen das Geschäft einzurichten und mich in der Geschäftsführung zu unterweisen. Aber wo diesen Kompagnon auftreiben? Es durfte kein Fremder sein, der mir ebenso unbekannt war, wie ich ihm. In der Partei aber fand ich keinen Genossen, der in Betracht kam. Erst ein Jahrzehnt später tauchte in Wien einer auf, mit dem ich mich in ein Kompagniegeschäft eingelassen hätte, fachkundig, rührig, intelligent, voll von sozialistischem Interesse. Das war Hugo Heller, der mir ein lieber Freund werden sollte. Aber 1879 war der noch ein kleiner Junge. Also einen Buchhändlergehilfen, der meinen Ansprüchen genügt hätte, fand ich nicht. Es war an einem der ersten Tage des Januar 1880, da schrieb ich einem deutschen Genossen und teilte ihm mit, alle meine Versuche seien fehlgeschlagen, mir einen Erwerb unabhängig von der Regierung zu gründen, der mir gestatte, offen der Partei zu leben. Jetzt sei mir eine kleine Erbschaft von 4000 fl. zugefallen, da habe mich die Idee erfasst, sie dazu anzuwenden, mich als Buchhändler aufzutun. Aber ich verstünde nichts vom Geschäft, brauchte einen im Fach erfahrenen Kompagnon, der mich anleite. Kenne der Genosse einen solchen, der vollkommen vertrauenswürdig und ein guter Sozialist sei? Wenn er auch einige Geldmittel hätte, würde es nicht schaden. Merkwürdigerweise, so genau ich den Brief im Kopf habe, den ich damals schrieb, so kann ich mich der Persönlichkeit nicht mehr entsinnen, an die ich ihn richtete. Es kann Bebel gewesen sein, dem ich bei der Durchreise durch Leipzig im April 1879 nähergetreten war. Ich durfte voraussetzen, dass in der Buchhändlerstadt Leipzig am ehesten ein Genosse, wie ich ihn suchte, zu finden sei. Es mag aber auch der Verleger Bracke in Braunschweig gewesen sein, an den ich mich wandte. Schon im Frühjahr 1878 hatte ich ihm das Manuskript meines Buches über die Volksvermehrung geschickt, von dem ich noch in einem anderen Zusammenhang reden werde. Er hatte die Arbeit zur Veröffentlichung akzeptiert, dann war das Sozialisten283

gesetz gekommen und hatte sie unmöglich gemacht. Es lag nahe, dass ich mich jetzt an ihn als erfahrenen Buchhändler um Rat wandte. Nicht minder sonderbar, als mein Vergessen der Person, an die ich den mir genau erinnerlichen Brief richtete, ist es, das ich nicht einmal weiss, ob ich den Brief abgeschickt oder nur konzipiert habe. Sicher steht eines [fest]: Kaum war er geschrieben, traf ein anderer ein aus Zürich, der den meinen gegenstandslos machte. Denn er bot mir eine Stelle im Parteidienst an. Sie brachte mir mit einem Schlage, was mir für lange Zeit hinaus völlig unerreichbar erschienen war: die Vereinigung von Erwerbsarbeit und Parteiarbeit. Meine ganze Persönlichkeit konnte von da an der Partei und der Wissenschaft gehören, das ganze Suchen und Tasten nach einem Erwerb neben dieser Tätigkeit, die ganze Verschwendung von Kraft in Versuchen und Experimenten, die alle erfolglos endeten, hörte nun vollstänig auf und für immer. Und der Zufall wollte, dass gleichzeitig mein Suchen und Tasten in der sozialistischen Theorie ein Ende fand durch klare Erkenntnis der Methode des dialektischen, historischen Materialismus. Von nun an ist die Geschichte meines Lebens identisch mit der Geschichte meiner Partei, mit der Geschichte des Marxismus. Meine Lehrjahre waren vorbei, die 1871 mit der Pariser Commune begonnen hatten. Eine neue Epoche brach für mich herein. 3. P A R T E I T Ä T I G K E I T IN W I E N

a. Mein letzter Roman. Die Versuche, mir eine Erwerbstätigkeit zu schaffen, nahmen viel von meiner Zeit in Anspruch, seitdem ich der Partei beigetreten war. Daneben hielt ich es für erforderlich, die Vorlesungen an der Universität zu hören, weniger in Hinblick auf meine akademische Karriere, die mir immer zweifelhafter erschien, als in Hinblick auf meine allgemeine Bildung, wobei ich allerdings zusehends mehr zur Überzeugung kam, dass das Wichtigste an jenen Bildungselementen, die ich als Sozialist brauchte, mir die Universität nicht zu geben vermochte. Weit mehr noch als Erwerbsexperimente und Vorlesungen beschäftigte mich meine Ausbildung als Sozialist, meine Fortbildung auf den Gebieten des wissenschaftlichen Sozialismus, zu welchem Tun sich bald Versuche der Lösung theoretischer Streitfragen gesellten. Ausserdem betrieb ich die Propagierung des gewonnenen Wissens durch mündliche und schriftliche Darlegungen, namentlich durch letztere. Alle diese Tätigkeiten nahmen mich oft völlig in Anspruch. Zunächst will ich von meiner Parteitätigkeit handeln, dann von meiner Entwicklung als Theoretiker. Beide standen in engstem Zusam284

menhang miteinander, bedingten einander, und waren doch sehr voneinander verschieden, erforderten ganz verschiedene Lebensbedingungen und Arbeitsmethoden. In der Partei konnte ich nur als Propagandist wirken. Von Organisation und Verwaltung verstand ich nichts. Auf diesem Gebiete konnte ich für unsere Sache nichts tun. Nur als Propagandist durch Artikel und Vorträge konnte ich mich betätigen. Bis zu meinem Eintritt in die Partei hatte ich alles, was ich niedergeschrieben, bloss für mich selbst niedergelegt. Nun hörte das mit einem Mal völlig auf. Nur noch für meine Umwelt schrieb ich mehr. Nicht einmal ein ausführliches Tagebuch führte ich von da an. Mein Interesse an einem solchen erlosch an dem Tage, an dem ich der Partei beitrat, mit Parteigenossen in lebendigen Kontakt kam. Einen Ubergang aus jenem zu diesem Stadium bildet ein Roman — der letzte, den ich abfasste. Ich fand dann andere Arten, meine Sache zu verfechten, die mir wirksamer erschienen, mich mehr befriedigten, meiner Begabung besser entsprachen. Ich begann den Roman im Spätherbst 1874, als ich noch nicht zur Partei gehörte, und brachte ihn im Frühjahr 1875 zum Abschluss, als ich bereits in die Partei eingetreten war, an ihren Arbeiten teilnahm. Er bezeichnet also die Grenze zweier Epochen für mich. Doch kannte ich die „Gleichheit" und bald auch den „Volksstaat" schon, als ich meine Arbeit am Roman begann. Dadurch bildet er einen Fortschritt über meine beiden früheren Romane. Leider übertrifft er sie auch an Länge. Und doch kann ich nicht darauf verzichten, seinen Inhalt zu skizzieren, da er den Zustand meines sozialistischen Wissens und meiner politischen Stimmung zu der Zeit veranschaulicht, zu der meine Parteiarbeit begann. Gleich den beiden früheren liess ich auch diesen Roman nicht in Österreich spielen. Von dort war mir nicht die geringste Anregung gekommen. Den Schauplatz der beiden ersten hatte ich nach Frankreich verlegt, von wo mir die grossen Anstösse sozialistischen Denkens durch die Commune, dann durch George Sand und schliesslich durch das Studium der Revolution von 1789—1795 gekommen waren. Nun aber war die Sozialdemokratie im Deutschen Reich mächtig emporgewachsen, und seit Herbst 1874 war ich ständiger Beeinflussung durch ihre Zeitschriften und auch Broschüren teilhaftig geworden. Dementsprechend liess ich meinen jüngsten Roman im Deutschen Reich spielen. In einer erfundenen Gegend, doch schwebte mir dabei sächsisches Gebiet an der Grenze Österreichs vor, an der Elbe, also etwa in der sächsischen Schweiz. Aus eigener Anschauung sollte ich diese erst 1877 kennenlernen. Die Landschaft und die Arbeiterverhältnisse in Mürzzuschlag und Neuberg, wo ich 1873 geweilt hatte. 285

in Verbindung mit Andeutungen über sächsische Fabrikszustände, die ich im „Volksstaat" fand, sowie endlich die Moldau bei Prag lieferten die materielle Basis des Lokalkolorits, das ich meinem Fantasiegemälde verlieh. Der Roman — ich kam nicht dazu, ihm einen Titel zu geben — beginnt mit einer Szene an einem Sterbebett. Eine Mutter stirbt, vertraut ihrem Sohn an, sein Vater sei ein Schuft gewesen, der sie um ihres Geldes wegen heiratete und verliess, sobald er es durchgebracht. Sie hat ihren Sohn mit dem Aufgebot aller Kräfte bis auf die Universität gebracht, wo er die philosophische Fakultät absolvierte. Immer hatte sie gegen Niedertracht und Gemeinheit zu kämpfen gehabt, daher den Sohn zum Menschenhass erzogen. Der Hass gegen die fluchwürdigste aller Welten ist das einzige Vermächtnis, das sie ihm hinterlässt. Der Sohn, Viktor Brandt, übernimmt diesen Hass als heilige Pflicht. Doch schon beim Begräbnis der Mutter hat er ein Zusammentreffen, das diesem Hass seine Universalität nimmt. Allein war er ihrem Sarg gefolgt, allein glaubte er an ihrem Grabhügel zu stehen, da sieht er einen katholischen Ordensgeistlichen am Grabe niederknieen und für die Ruhe der Dahingeschiedenen beten. Ergriffen dankt er dem Geistlichen, der einem angesehenen Adelsgeschlecht angehört, Baron Heinrich von Falkenstein. Die beiden kommen in ein Gespräch, werden Freunde, wobei sich Viktor als der geistig überlegene erweist. Vor seiner Kritik hält Heinrichs Gottesglaube nicht stand, er verlässt seinen Orden, ja die katholische Kirche. Doch auf die Dauer vermag er der Religion nicht den Abschied zu geben, die Einflüsse seiner Umgebung wirken doch immer auf ihn ein. Er sucht eine Form, in der er Wissenschaft und Religion vereinigen könnte, und glaubt sie zu finden im Altkatholizismus, der seit 1871 in Deutschland für einige Jahre in die Mode gekommen war. Viktor ist wenig erbaut von der Schwächlichkeit und Wankelmütigkeit seines Freundes, doch ist dieser ein zu gütiger Mensch, als dass er ihm ernstlich grollen könnte. Für Viktor kommt aber die Zeit des Militärdienstes, den er als Akademiker einige Jahre hatte verschieben können. Er braucht bloss ein Jahr zu dienen, doch sein Hass gegen den Militarismus ist so gewaltig, dass auch dieses Jahr ihm unerträglich wird. Immer mehr befestigt sich in ihm die Absicht, zu desertieren. Heinrich veranlasst Viktor, ein Regiment zu wählen, in dem sein, Heinrichs, Bruder Leo von Falkenstein Hauptmann ist. Dieses Regiment steht in Garnison in Buchau, einem kleinen Städtchen, nahe der Reichsgrenze, an dem grossen Strom, der das Königreich durchfliesst. Heinrich ist naiv [genug] zu meinen, sein Bruder würde den von ihm empfohlenen Brandt besonders gut behandeln, doch Leo gehört zu den hochmütigsten und 286

grausamsten Offizieren. Dessen Brutalitäten ebenso wie die Nähe der Grenze bringen in Viktors Gemüt den Entschluss zur Reife, zu desertieren. Fast gleichzeitig gehen beide, Viktor und Leo, in Buchau zu demselben Hause, in dem ein Trödelladen ist, über dem aber auch die Inschrift steht: „Geld für Alles". Zwei Männer haben sich dort zu einem Wuchergeschäft zusammengetan, der Jude Isaak Hirsch und der Arier Schwarz, der studieren wollte, aber aus Mangel an Mitteln sich Agenturgeschäften widmen musste, die ihn zuerst vorübergehend, dann dauernd in Verbindung mit Hirsch brachten. Jeder der beiden hat eine Tochter. Der Jude die schöne, heissblütige, aber auch geschäftstüchtige Bianca, der Arier die weniger blendende, aber sinnige Helene. Ausserdem nannte Hirsch einen Sohn Ernst sein eigen, um den sich niemand kümmert. Ernst ist ein Idealist geworden, ebenso wie Helene. Viktor betritt den Trödelladen, um Zivilkleider zu kaufen, die er zur Desertion braucht. Aber während des Feilschens mit Bianca kommt eine verzweifelnde arme Frau, deren Mann todkrank ist und die kein Brot im Hause hat. Sie will ihr letztes verkaufen, ihren Ehering. Für den bietet die hartherzige Bianca so wenig, dass Viktor der verzweifelten Frau das Geld gibt, das er zum Ankauf der Zivilkleider bereit hielt. Damit wird seine Desertion verschoben. Kaum hat Viktor das Haus des Wucherers verlassen, da taucht dort der Hauptmann Leo von Falkenstein auf, nicht um alte Kleider zu kaufen, sondern um einen Pump aufzunehmen. Er braucht dringend Geld, Weiber und Karten kosten ihn zu viel. Damit man ihm billige Zinsen berechnet, spielt er Bianca gegenüber den schwärmerischen Verehrer. Sie glaubt ihm wirklich seine Beteuerungen. Der alte Isaak ist skeptischer, meint aber, der Herr Hauptmann würde bald eine solche Schuldenlast zu tragen haben, dass ihm nichts anderes übrig bleiben werde, als eine reiche Frau zu heiraten, auch wenn es eine Jüdin sei. „Dahin müssen wir ihn bringen." Einige Wochen später betritt Viktor wieder das Haus der Geldmenschen Hirsch und Schwarz. Diesmal im Dienst. Das Regimentskommando quartiert ihn dort ein, als Strafe für die beiden Herren, weil sie ihre Steuern nicht zahlen. Er soll im Hause bleiben, bis die rückständigen Steuern erlegt sind. Viktor lernt dort neben Bianca auch Schwarz' Tochter kennen, Helene, keine so auffallende Schönheit, wie Bianca, aber ihr an Geist, Wissen, Charakter weit überlegen. Sie macht tiefen Eindruck auf Viktor, und sie fühlt Interesse für ihn, das aber immer wieder gemindert wird durch die leichtfertige Art, in der er von seinem Militärdienst erzählt. Er will nicht klagen. Auch seine Menschenverachtung stösst sie ab. Bald darauf kommt 287

Viktors Freund, Heinrich von Falkenstein, nach Buchau, und nicht viel später ereignet sich noch wichtiger Vorgang. Eine Stunde von Buchau entfernt, liegt das Eisenwerk Neuberg. Dessen Arbeiter streiken. Sie wollten eine Versammlung abhalten. Um Unruhen vorzubeugen, erhält Leos Kompagnie die Order, hinzumarschieren. Viktor ist natürlich auch dabei. In der Zeit vor der Versammlung kommt er in ein Gespräch mit einem der Arbeiter, Schmidt, hört dabei zum erstenmal eine Verteidigung des Sozialismus, die ihn interessiert. Dann beginnt die Versammlung, der Viktor zu seinem Bedauern nicht beiwohnen kann. Seine Kompagnie marschiert vor dem Versammlungslokal auf. Alles scheint friedlich vorübergehen zu wollen. Aber nach Schluss der Versammlung belästigen Leo und sein Leutnant ein hübsches Arbeitermädchen — Schmidts Tochter, Luise. Als Arbeiter die beiden Offiziere ersuchen, sich anständig zu benehmen, werden sie erst recht frech. Von der Menge bedroht, ziehen sie ihre Säbel, die ihnen im Nu entrissen werden. Bleich vor Wut befiehlt Leo der aufgestellten Kompagnie, die Arbeitermasse blutig zu attackieren. Da springt Viktor vor, packt seinen Hauptmann, wirft ihn zu Boden und setzt ihm sein Bajonett an die Brust. Er droht ihn zu erstechen, wenn die Soldaten einen Schritt vorwärts machen. Und fordert die Arbeiter auf, schleunigst auseinanderzugehen. Nur ungern tun sie das, aber es bleibt ihnen keine Wahl. Sobald das geschehen, nimmt Viktor sein Gewehr von der Brust des Hauptmanns weg. Er weiss, was ihn erwartet. Als Gefangener wird er nach Buchau transportiert, während eines furchtbaren Gewitters, das losgebrochen. Im Gewittersturm muss man über den Strom hinüber, der zwischen Buchau und Neuberg dahinfliesst. Während des Unwetters findet Viktor eine Gelegenheit zu entfliehen, er springt in ein Schiffchen, das am Ufer liegt und stösst ab. Schon weit im Strom entdeckt er, dass schon vor ihm ein Insasse in dem Boot war, ein Mädchen — Helene. Sie erkennen einander und gestehen einander ihre Liebe, nachdem Helene durch einige Worte vom Sachverhalt unterrichtet worden. Die hohen Wogen des durch den Sturm aufgewühlten Stromes bringen das Schifflein zum Sinken. Schwimmend erreicht Viktor das Ufer, in seinen Armen die bewusstlos gewordene Geliebte. Er bringt sie in das Haus des Vaters, wartet, bis sie ein Zeichen erwachenden Lebens gibt und schickt sich an, seine Flucht fortzusetzen. Doch schon haben ihn die Verfolger ereilt. Beim Verlassen des Hauses wird er verhaftet. Vor ein Kriegsgericht gestellt, wird Viktor zum Tode verurteilt. Leo von Falkenstein triumphiert im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich, der zu dieser Zeit auch in Buchau weilt. Er hat Helene kennen und lieben gelernt. Er teilt das dem eingekerkerten Viktor mit. Dieser gesteht ihm die eigene Liebe. Heinrich beschwört ihn, 288

auf Helene zu verzichten, was Viktor mit Hohn zurückweist. Gleich darauf aber bittet Helene Heinrich, er möge seinen Einfluss bei Hof aufbieten, um eine Umwandlung der Todesstrafe in eine Kerkerstrafe zu erreichen. Bei der Unterredung gesteht ihr Heinrich seine Liebe, verrät aber auch, dass er bereits die von Helene so heiss verlangte Begnadigung selbst erbeten und erreicht habe. Doch stehe es bei ihm, ob er sie dem Regimentskommandanten bekanntgebe. Er deutet an, wenn Helene seine Werbung akzeptiere, werde er sich sofort daranmachen, Viktor zu retten. Ausser sich über den schmutzigen Vorschlag, weist ihm Helene die Tür. Ihr Vater, zu dem Heinrich von seinem Wunsch, Helene zu heiraten, vorher gesprochen, fragt sie, ob sie Heinrich das Jawort gegeben. Er ist ausser sich, als sie das verneint. Er stehe vor dem Ruin und der Schande, denn in einem Moment würgender Geldklemme, einer Folge falscher Spekulationen, habe er sich verführen lassen, Wechsel auszugeben, auf denen er Heinrichs Namenszug gefälscht. Binnen wenigen Tagen würden sie fällig. Wäre der alte Schwarz Heinrichs Schwiegervater, dann würde er diesen nicht im Stiche lassen, dagegen als abgewiesener Freier werde er unerbittlich sein. Helene lehnt es auch dieser Erpressung gegenüber ab, sich ihr zu fügen. Sie sagt ihrem Vater, dann bleibe ihm nichts übrig als sofortige Flucht. Um Mitternacht werde ein Wagen vorfahren, der sie zur nahen Grenze bringen werde. An einem eventuellen Insassen dieses Wagens solle er nicht Anstoss nehmen. Sobald es Nacht geworden, macht sich Helene dann daran, einen Befreiungsversuch Viktors ins Werk zu setzen, den sie vorbereitet hat. Es gelingt ihr, unbemerkt das Fenster seiner Zelle zu öffnen, ihr Gitter durchzufeilen. Aber in der Zelle angelangt, entdeckt sie zu ihrem Entsetzen, dass Viktor nicht dort ist. Man hat ihn vorsorglich aus der bisher ihm zugewiesenen in eine andere, sicherere Zelle gebracht. Gebrochen eilt Helene nach Hause, um ohne Viktor mit ihrem Vater zu fliehen. An der Grenze rasten sie, da begegnen sie zu ihrer Überraschung Heinrich, der vor ihnen denselben Weg eingeschlagen hat, ohne ihre Absichten zu kennen. Eben geht die Sonne auf: „Nun töten sie ihn", seufzt Helene vorwurfsvoll. „Nein!", ruft Heinrich, „fassen Sie Mut, ich habe meine Härte tief bereut, Viktor ist begnadigt, allerdings zu lebenslänglichem Kerker. Ich habe aber alle Hoffnung auf mich verloren. Ich verlasse Europa, um mich ganz der Heidenmission zu widmen." Helene blickt auf sein schmerzhaft verzerrtes Gesicht, dann auf das nicht minder durch Verluste und Furcht vor Schande zerfurchte Antlitz ihres Vaters, dessen Auge beschwörend auf ihr ruht. Soll Heinrich grossmütiger sein als sie? Nichts hasste sie grimmiger als Egoismus und Feigheit. Viktor zu beglücken, war für

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sie nicht mehr möglich, glaubte Heinrich, sie könnte ihm durch das Opfer ihrer Persönlichkeit Glück bringen, dann sollte er es haben. Noch kämpft sie einen harten Kampf mit sich, da kommen Gendarmen in Sicht, die Schwarz suchen, weil er im Verdacht steht, wegen betrügerischen Bankerotts und Wechselfälschung geflohen zu sein. Heinrich bemerkt, die Wechsel habe ihm gestern schon ein Mann vorgewiesen, sie seien echt und bezahlt. Daraufhin erklärt Helene, sie sei bereit, Heinrichs Gattin zu werden. Damit schliesst der erste Band des Bomans. Den zweiten beginne ich mit der Schilderung des Gefängnisses, in dem Viktor seine Strafe verbüsst. Es sind fast lauter gemeine Verbrecher, unter die er gesteckt ist. Doch einer der Insassen des Gefängnisses, der eine Strafe wegen versuchter Desertion absitzt, ist ein geschulter Sozialdemokrat. Von ihm erfährt der hochaufhorchende Viktor die Ergebnisse der Forschungen der besten sozialistischen Köpfe. Früher schon hatten ihn seine Erfahrungen gelehrt, an Stelle des Menschenhasses seiner Mutter den Hass gegen die kapitalistische Gesellschaft zu setzen. Jetzt entwickelt Viktor sich aus einem bloss von unklaren Gefühlen getriebenen Bebellen zu einem von wissenschaftlicher Einsicht geleiteten Sozialdemokraten. Aber sein Freund und Lehrer stirbt im Gefängnis. Seitdem scheint es ihm eine Hölle zu sein. Er sucht zu fliehen, und es gelingt ihm bei Gelegenheit eines Brandes, den er selbst herbeiführt. Doch wird er angeschossen und schleppt sich nur mühsam tagelang weiter bis nach Buchau, bis zu dem Hause Isaak Hirschs. Dort fragt er nach Helene, erfährt, dass [sie] Heinrich von Falkenstein geheiratet habe. Weiter aber auch, dass sie einen Liebeshandel mit dem Kronprinzen begonnen habe und mit diesem nach Ägypten geflohen sei. Entsetzt verlässt Viktor Isaaks Haus, auf der Strasse bricht er zusammen, erschöpft von der Wunde, verzweifelnd wegen Helenes anscheinendem Verrat. Mitleidige Passanten nehmen ihn auf. Es sind Schmidt und seine Tochter Luise. Sie erkennen ihn, verbergen ihn, pflegen ihn gesund. Sobald er reisefähig ist, soll er über die Grenze in Sicherheit gebracht werden. Doch ehe das möglich ist, erscheint ein Polizist und teilt Viktor mit, seine Anwesenheit sei der Behörde bereits bekannt. Von neuem glaubt dieser, sich in das Elend des Kerkers zurückgestossen. Doch der Polizist beruhigt ihn. Der König habe ihn begnadigt, ihm den Best seiner Strafe erlassen. Die Begnadigung war schon unterzeichnet und im Gefängnis eingetroffen, aber Viktor noch nicht mitgeteilt, als dieser entfloh. Er sei also tatsächlich bereits freigelassen gewesen, als er sich der Haft entzog.

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Er habe nichts weiter zu fürchten, doch stehe er unter Polizeiaufsicht und dürfe Buchau nicht verlassen. Uber diese Wendung ist Viktor natürlich hoch beglückt. Doch vergebens zerbricht er sich den Kopf darüber, wem er seine Begnadigung verdanken möge. Ohne Zögern aber war er klar darüber, was er nun zu tun habe. Er hält es für seine Pflicht, das Pfund nicht zu vergraben, das ihm anvertraut worden. Im Gefängnis ist er ein wissender Sozialdemokrat geworden. Die Massen sozialdemokratisch aufzuklären, hält er nun für seine Pflicht. Niemand ist glücklicher darüber als Schmidt. An Veranlassung zur Agitation fehlt es in Buchau wahrlich nicht. In den Jahren der Gefängnishaft Viktors haben sich in dem Städtchen grosse Veränderungen vollzogen. Ein junger Ingenieur Werner hatte in den Bergen bei Buchau reiche Kohlenlager entdeckt und Schwarz davon Mitteilung gemacht. Dieser kaufte die Fundstätten billig mit Geld, das ihm sein Schwiegersohn Heinrich borgt. Er fügte hinzu die bisher schon bestehenden Kohlenbergwerke und Gusswerke in der Nähe Buchaus, die schlecht geführt wurden und sich nur durch masslose Ausbeutung ihrer Arbeiter behaupten konnten. Schwarz zahlt seinen Arbeitern gute Löhne, bewilligt kurze Arbeitszeit — elf Stunden galten damals als kurz — und entzieht dadurch den konkurrierenden Unternehmungen ihre Arbeiter. Die Konkurrenten müssen froh sein, dass Schwarz ihnen schliesslich ihre Unternehmungen um einen Pappenstiel abnimmt. Er beherrscht jetzt ökonomisch ganz Buchau und Umgebung, vergöttert nicht bloss von den Kleinbürgern, sondern auch von [den] Lohnarbeitern dort, deren Lage seit seinem Auftreten als Unternehmer sich erheblich gebessert hat. Wohl reduzierte er wieder etwas die Löhne, nachdem die Konkurrenz beseitigt, aber dies wird wettgemacht durch eine Fülle von Wohlfahrtseinrichtungen, die Schwarz einführt und verwaltet, beraten und gedrängt von Werner, der die Seele des ganzen Geschäfts geworden ist. Welche Gefahren für die Arbeiter die Monopolstellung des Kapitalisten Schwarz bedeute, wollen sie nicht einsehen. Schmidt war einer der wenigen, die das klar erkannten. Er konnte sich in der Arbeiterschaft nicht durchsetzen, diese schwört auf Schwarz. Viktor werde jetzt besseren Erfolg haben, doch rät er diesem, Arbeit in einer der Schwarzschen Unternehmungen zu suchen. Viktor meldet sich bei Werner, doch weil er ihn darauf h i n w e i s t e r sei ein Sozialdemokrat und gedenke ausserhalb seiner Arbeitsstelle für seine Partei zu wirken. Werner, ein Idealist, versichert ihn, dass er als Liberaler jedem völlige Freiheit lasse, wenn er seine Berufspflicht erfülle. So So in der Abschrift; der Satz hat vermutlich zu lauten: „doch weist er ihn darauf hin". B.K.

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wird Viktor aufgenommen. Und sofort macht er sich daran, bei der Arbeiterschaft zu agitieren. Vor allem legt er ihr die Notwendigkeit dar, an Stelle der vom Unternehmer verwalteten Wohlfartseinrichtungen selbständige Einrichtungen zu setzen, die in den Händen der Arbeiter wären. Doch predigt auch Viktor tauben Ohren und dasselbe Ergebnis erzielt er, als es in Buchau zu einer Reichstagswahl kommt. Schwarz kandidiert, ihm stellt sich ein Sozialdemokrat entgegen. Der eifrigste Agitator für Schwarz ist Werner. Für den Sozialdemokraten agitiert fast nur Viktor Brandt. Er legt die Notwendigkeit des Klassenkampfs dar, Werner predigt die Harmonie der Klassen. Natürlich wird Schwarz gewählt. Gegen Brandt ist der neue Abgeordnete nun aber so entrüstet, dass Werner ihn nicht zu schützen vermag. Schwarz bescheidet Viktor zu sich und stellt ihm die Alternative: Verzicht auf jegliche Agitation oder Entlassung. Brandts Wahl ist natürlich keinen Moment zweifelhaft. Mit Hohn hat Schwarz bei dieser Unterredung bemerkt, Schmidts Tochter Luise sei wohl der Magnet, der Viktor zur Sozialdemokratie ziehe. Ganz Buchau rede darüber. Er bedaure das Mädchen, weil es einen Vater habe, der es einem hergelaufenen Abenteurer preisgäbe. Wütend vergisst sich Brandt, entgegnet, Schwarz habe keine Ursache, sich über andere Väter zu erheben, der die eigene Tochter verschachert habe, allerdings nicht an einen brotlosen Abenteuer, sondern an einen reichen Baron. Als geschworene Feinde gehen die beiden auseinander. Der Hinweis auf Luise beschäftigt Viktor aber noch weiter. Sie ist gut, lieblich und selbstlos. Aber auch hilflos. Ihr Vater, krank, wird sie bald allein in der Welt zurücklassen. Die Wunde, die ihm Helene geschlagen, ist bei Viktor noch nicht vernarbt. Aber um so wütender ist er über sich selbst und um so mehr erscheint es ihm als seine Pflicht, sie zu vergessen, aber auch Luise zu schützen. Sie liebt ihn und ist beglückt, ebenso ihr Vater, als Viktor um ihre Hand bittet. Seine Existenz ist allerdings eine dürftige, er ist auf Privatstunden beschränkt, die er in dem höherer Schulen ermangelnden Buchau gibt. Seine Existenz ist fortan dürftig, aber auch still. Schmidt stirbt. Neue Freunde erwirbt Viktor nicht. Die Arbeiterschaft will nach wie vor nichts von ihm wissen, doch mit der sozialdemokratischen Partei bleibt er in regem brieflichen Verkehr. Indessen bereitet sich eine Katastrophe vor. Seitdem Schwarz ein Abgeordnetenmandat gewonnen hat und imstande ist, der Regierung seine Stimme zur Verfügung zu stellen, gewinnt er in der Residenz ebenso wie früher in Buchau an Macht und Ansehen. Wertvolle Informationen werden ihm zuteil, die ihm zu glücklichen Spekulationen verhelfen. Ebenso erhält er neue wertvolle 292

Konzessionen, vor allem die zur Erbauung einer Eisenbahn nach Buchau. Sein Reichtum wächst schwindelerregend. Damit wird er aber auch immer despotischer und gewalttätiger. Mit Schrecken merkt das Werner. Er sieht, dass die Arbeiter in den Schwarzschen Werken dem kapitalistischen Autokraten völlig schutzlos gegenüberstehen. Werner beginnt jetzt das zu versuchen, woran Brandt gescheitert war: selbständige Organisationen in der Arbeiterschaft aufzubauen. Aber das ist jetzt weit schwerer als vorher, weil Schwarz seitdem die widerstandsfähigen Elemente durch fügsame ersetzt hat. Zwischen Schwarz und Werner kommt es nun wegen der Arbeiterpolitik zu beständigem Hader. Vergeblich versucht Schwarzens Schwiegersohn Heinrich beschwichtigend einzugreifen. Dieser ist durch den Tod des Vaters Graf und Haupt der Familie, Herr eines unermesslichen Vermögens geworden. Seit Helenes Verschwinden hat sich eine tiefe mystische Melancholie seiner bemächtigt. Er hat die Residenz verlassen und seinen ständigen Aufenhalt in Buchau genommen. Fast täglich ist er mit Schwarz zusammen, um über Helene zu sprechen, die beide betrauern. Fast gleichzeitig mit Heinrichs Vater ist der alte König gestorben. Der neue Monarch, das ist derselbe, dem man vorwarf, als Kronprinz Helene nach Ägypten entführt zu haben. Jetzt wird angekündigt, er werde zu den Herbstmanövern nach Buchau kommen. Schwarz beschwört seinen Schwiegersohn, dem König einen feierlichen Empfang zu bereiten, dabei aber eine Gelegenheit zu benützen, um Majestät zu bitten, wissen zu lassen, was aus Helene geworden. In dieser Situation erfährt Schwarz, Werner habe die Arbeiter seiner Unternehmung dazu gebracht, sich der Gewerkschaft ihres Berufes anschliessen zu wollen. Das will Schwarz um jeden Preis verhindern. Er will die Arbeiter, solange sie noch nicht organisiert sind, zu einer Machtprobe treiben, in der er ihnen eine vernichtende Niederlage bereitet. Zu diesem Zweck kündigt er eine Lohnreduzierung um 40 % an. Dagegen müssen sie streiken. Und die Anwesenheit zahlreicher Truppen wegen des kommenden Manövers wird jeden Versuch gewaltsamer Auflehnung zunichte machen. Schwarz fühlt sich der militärischen Hilfe um so sicherer, als die Buchauer Garnison von Leo von Falkenstein kommandiert wird, der nun Oberst ist. Nicht minder sicher aber fühlt sich Hirsch seiner Sache Leo gegenüber. Dessen Schuldenlast ist so angewachsen, dass ihm gar nichts mehr übrig bleibt, als sich durch die Heirat mit der Tochter des reichen Juden zu sanieren. So finden wir zur Zeit der Herbstmanöver Anfang September fast alle die Personen wieder in Buchau beisammen, die dort einige Jahre vorher in der Zeit vor Viktors Prozess gelebt und gewirkt hatten. Wieder ist es ein Streik, der die sonst so friedliche Gegend 293

bewegt, diesmal aber ein Streik einer viel zahlreicheren Masse. Ihre Erbitterung ist weit gewaltiger, denn die Not der Streikenden wächst furchtbar an, aber ihnen steht auch eine ungemein grössere Militärmacht gegenüber. Aus Werner ist ein Streikführer geworden. Ihm bangt vor dem Zusammenbruch des Ausstandes,1 da den Arbeitern alle Mittel fehlen. Nur noch ein Mittel weiss er: der König ist eingetroffen. Die Arbeiter sollen eine Deputation zu ihm schicken. Der Monarch ist gut, er liebt das arbeitende Volk, wie er immer wieder versichert. Er wird ihnen helfen. Eine Versammlung der Streikenden unter freiem Himmel ist einberufen, in der Werner als Führer der Deputation seinen Auftraggebern über den Erfolg seiner Mission Bericht erstatten wird. Am Morgen des Tages, an dem diese Versammlung stattfinden soll, bewegte sich auf der Landstrasse, die gegen Buchau führt, ein elender Leiterwagen, auf dem ein Gendarm sass mit zwei Schüblingen, die er nach dem Städtchen eskortierte, der eine ein verkommener Süffel, der andere eine bleiche, junge, abgehärmte Frau in zerschlissener Gewandung. Bei einem Wirtshaus an der Strasse macht der Süffel den Vorschlag, ein Gläschen zur Stärkung zu trinken, welchen Vorschlag der Gendarm gern annimmt. Beide verschwinden, ihnen schliesst sich der Kutscher an. Das Gefährt mit dem stillen, gramvollen Weib bleibt allein. Sobald es sich unbewacht sieht, erhebt es sich: „sie sollen meine Schmach nicht sehen, es sei!", so murmelt sie, springt vom Wagen, eilt ab von der Strasse dem nahen Strome zu, der im Tal dahinzieht. Schon schickt sie sich an zum verhängnisvollen Sprung in die Tiefe, da fühlt sie sich von zwei kräftigen Armen erfasst und zurückgehalten. Es sind Viktor und Helene, die sich in dieser Weise begegnen. Es kommt zur Auseinandersetzung zwischen beiden, die zeigt, dass Helene makellos dasteht. Sie hat sich nicht verkauft, sondern dem Mann, dem Viktor sein Leben verdankt, dafür ihr Lebensglück geopfert. Als Heinrichs Gattin lernte sie den Kronprinzen kennen, der gern ihre Gunst gewonnen hätte, was ihm nicht gelang. Da stellte er ihr, wohl von Leo angeregt, die volle Begnadigung Viktors in Aussicht. Daran dachte Helene nicht. Überschwenglich dankt sie dem Kronprinzen, der ihr die Mitteilung davon im Falkensteinschen Palais während eines Balles in einem verschwiegenen Nebenzimmer machte. Dieser hofft auf eine entsprechende Gunstbezeugung Helenes. Sie waren belauscht worden von dem alten Falkenstein, Heinrich und Leo, der die ganze Affäre arangiert hatte. Helene war ihm zuwider, da er ohne sie Aussicht gehabt hätte, Majoratsherr zu werden. Das 1

Im Manuskript heisst es „Aufstandes". B.K.

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tête à tête Helenens mit dem Kronprinzen wurde jetzt als Beweis dafür angesehen, dass sie seine Mätresse sei oder werden wolle. Heinrich verstösst sie, der Kronprinz glaubt jetzt, sie müsse ihm gehören, doch sie weist ihn zurück, verlässt den Palast und fristet hinfort eine dürftige Existenz durch Handarbeiten. Der Kronprinz aber, wütend über seinen Misserfolg, sucht ihn zu bemänteln, geht nach Ägypten und lässt annehmen, Helene erwarte ihn dort. Leo hat dieses Gerücht offenbar unterstützt. Kummer und Entbehrungen machten sie schliesslich krank. Sie kam ins Spital, verweigerte jede Auskunft über ihre Angehörigen. Aber da einige Anzeichen darauf hindeuten, dass Buchau ihre Heimat sei, sollte sie per Schub dahin gebracht werden. Glücklich über die Aufklärung, in überströmender Zärtlichkeit will Viktor sie umarmen, da schrickt er auf mit dem entsetzten Ruf: „Mein Weib!" Beide erkennen gramvoll, dass sie entsagen müssen. Sie begeben sich vereint nach Buchau zur Versammlung, in der Viktor das Wort ergreifen will. Über den Stand der Dinge informiert er Helene. Die Versammlung beginnt. Verzweifelnd muss Werner berichten, der König habe die Deputation nicht einmal vorgelassen. Ein Sieg der Arbeiter sei nicht mehr möglich. Nichts bleibt übrig, als das Leben so teuer als möglich zu verkaufen. „Rot vom Blut unserer Henker sei unser Leichenzug, die rauchenden Trümmer der Zwingburgen der Arbeit seien unsere Leichenfackel!" So ruft Werner, der frühere Harmonieapostel, verzweifelnd und will die empörte Menge vor das palastähnliche Gebäude führen, das Schwarz sich erbaut. Es soll dem Erdboden gleichgemacht werden. Da tritt Viktor auf und stellt sich den Rasenden entgegen. Er teilt ihnen mit, er habe mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften verhandelt, in ganz anderer Weise als die Hirsch-Dunckerschen seien sie bereit, den Streikenden zu helfen. Seit langem steuern sie zu einem Fonds zu ihrer Unterstützung zusammen. Von jetzt an bekomme jeder der Buchauer Streikenden, wenn er verheiratet sei, zwei Taler wöchentlich, jeder der Ledigen Reisegeld, um anderweitig Arbeit zu suchen. „Also der Streik geht fort, es lebe die Sozialdemokratie!" Alles ist begeistert von Brandt und von der Idee des Sozialismus. Schon will die Versammlung friedlich auseinandergehen, da ertönt noch eine weibliche Stimme, Helene. Sie berichtet der aufhorchenden Menge, wer sie ist, Schwarzens geliebte, gesuchte Tochter. Sie stehe mit ganzem Herzen auf der Seite der Arbeiterschaft: „Hier bin ich, Schwarzens einziges Kind, ich bin Euer, nicht eher weiche ich von Euch, nicht eher soll er mich sehen, ehe er nicht den Kaufpreis für mich bezahlt, Eure Forderung bewilligt hat." Sofort sollte Schwarz über die Sachlage informiert werden durch 295

eine Deputation. Brandt und Werner werden abgesandt. Ihnen folgt, geführt von Helene, die Menge vor Schwarzens Haus, das durch einen weiten Vorgarten mit eisernem Gitter von der Strasse getrennt ist. Um dieselbe Zeit ist Heinrich bei Schwarz erschienen, um ihn zu beschwören, den Arbeitern nachzugeben. Dieser lehnt schroff ab, gedrängt von Leo. Heinrich ist entsetzt über die Menge Militär, die das Haus erfüllt. Da kommt Hirsch, der von ihm besoldete Leute in die Versammlung gesandt hat. Diese berichten über Brandts Auftreten. Schwarz und Leo stimmen überein, das müsse durchkreuzt werden. Man müsse die Arbeiter zu Gewalttätigkeiten provozieren, indem man die einlangenden Unterstützungsgelder konfisziere und Brandt sowie Werner verhafte. Da kommt noch ein Agent Hirschs und teilt diesem besonders mit, Schwarzens Tochter sei bei den Arbeitern angelangt und habe sich auf ihre Seite gestellt. Sofort schickt ihn Hirsch zurück, Schwarz und Heinrich dürfen auf keinen Fall erfahren, dass Helene da ist. Erführen sie das, sie würden sofort nachgeben und das Blutbad würde vereitelt, das Hirsch ebenso liebt wie Leo. Dieser stimmt ihm zu, am liebsten sähe dieser Helene getötet. Sieht er doch in ihr eine Bedrohung seines Majorats, das ihm zufällt, wenn Heinrich ohne Erben stirbt. Leo erreicht sein Ziel, er befiehlt seinen Leuten, Brandt zu verhaften. Werner eilt in die Menge und fordert sie auf, ihren Genossen zu schützen. Helene selbst ruft zum Sturm auf. Viktor hat sich der Soldaten zu erwehren versucht, er erscheint vor dem Hause und fordert die Arbeiter auf, ruhig auseinanderzugehen. Diese machen Miene, ihm zu folgen; das zu vereiteln, scheut jetzt Leo nicht davor zurück, seinen Soldaten im Hause Schwarzens Feuer zu kommandieren. Ein furchtbares Gemetzel erfolgt, Hunderte von Toten und Sterbenden bedecken den Platz vor Schwarzens Palais. Unter ihnen entdeckt Schwarz neben den durch Schüsse hingestreckten Gestalten Werners und Brandts seine sterbende Tochter. Und Heinrich seine Gattin. Schreiend, wahnsinnig eilt dieser davon. Hirsch und Leo fühlen sich als Sieger. Hirsch kommt, seine Rechnung und mit ihr seine Tochter zu präsentieren. Leo ergrimmt darüber sehr, da kommt ein Diener schreckensbleich und teilt mit: „Der Herr Graf ist plötzlich gestorben!" Und flüsternd fügt er hinzu: „Eben fanden wir ihn, er hat sich erhängt." „Ganz tot", fragt Leo. „Jeder Wiederbelebungsversuch ist erfolglos." Ein freudiges Lächeln der Erleichterung fiel über Leos Züge. „Herr Hirsch", sagt er, „Ihre Wechsel werden sofort von meinem Bankier eingelöst werden, sobald sie es wünschen. Ich bin jetzt Majoratsherr, unsere Geschäfte haben ein Ende." Bianca, die ihrem Vater nachgegangen, fragt angstvoll: „Leo, Du 296

willst mich verlassen?" Worauf er hohnvoll entgegnet: „Was hat der Graf von Falkenstein mit der Tochter eines jüdischen Wucherers zu tun?" Bianca wird ohnmächtig, Hirsch bringt sie fort, triumphierend sieht ihm Leo nach. Er war am Ziel seiner Wünsche und höchstens könnte ihn noch eine höfische Auszeichnung erfreuen. Unten aber stirbt Viktor in den Armen seiner Luise, nicht entmutigt. Seine letzten Worte sind: „Nun gut, knechtet nur Wahrheit und Recht, kommen wird doch der Tag der Rache, der Tag der Erlösung für die Menschheit." Und sein junger Freund Ernst, Hirschs Sohn, antwortet: „Versöhnung ist unmöglich, sie wollen die gewaltsame blutige Revolution um jeden Preis, sie sollen sie haben." Über die Toten und Sterbenden hinweg aber reitet der König, der eben vom Manöverfeld kommt. Er preist Leos Verdienste um das Vaterland und um die ehrliche Arbeit und belohnt ihn mit dem Titel „Fürst von Falkenstein". b. Die Schicksale meines letzten Romans. Die Inhaltsangabe meines letzten Romans zeigt, dass ihn derselbe Pessimismus in bezug auf das persönliche Schicksal der Vorkämpfer des Sozialismus erfüllt wie meine früheren Romane. Allerdings litt darunter nicht im mindesten meine Zuversicht für den schliesslichen Triumph des Sozialismus. Nur sein friedlicher Triumph erschien mir ausgeschlossen. Angesichts der Niedertracht und Gewalttätigkeit der Gegner konnte ich mir unsern Sieg anders als durch eine blutige Revolution nicht vorstellen. So hatte ich schon gedacht, ehe ich zur Partei kam, und ich lernte in dieser Beziehung nicht anders denken, als ich ihr beitrat. Die Genossen dachten alle ebenso. Die neuen Bedingungen für die Arbeiterbewegung, die seit 1866 und 1870 für das kontinentale Europa ausser Russland gegeben waren, hatten noch keine fühlbare Wirkung auf des Proletariat und seine Vorfechter üben können. Wir waren noch alle in den Vorstellungen von 1793, 1848, 1871 (Commune) befangen. Dennoch aber gab es bereits eine Arbeiterbewegung, wenn auch in Frankreich seit dem Mai 1871 geknebelt, in Österreich seit dem Wiener Hochverratsprozess 1870 verstümmelt und verkümmert, nur in Deutschland kraftvoll auflebend. Das deutsche Beispiel, mir übermittelt durch den „Volksstaat", den ich seit Ende 1874 regelmässig las, wirkte bereits stark auf mich ein. Daher spielte in meinem letzten Roman ein weit grössere Rolle als in meinen beiden früheren die Arbeiterbewegung, sowie die Warnung vor sinnloser Gewalttat und die Hochhaltung der selbständigen Organisation der Lohnarbeiter. Und noch in einem andern Punkte ging ich nun über meine ersten Romane hinaus. Diese hatte ich nur für mich geschrieben, nicht ein297

mal für meine Familie und Angehörigen, ausser meiner Mutter. Bei den andern setzte ich weder Verständnis noch Interesse für meine Ideen voraus. Jetzt aber war ich in der Partei umgeben von Genossen, die alle für dieselben Ideen glühten wie ich. Zu ihnen zu sprechen wurde mir jetzt Bedürfnis. Und ich vermeinte, dieser jetzige Roman sei nicht mehr ein erster kindischer Versuch, sondern gereift genug, um der Öffentlichkeit vorgelegt zu werden. Ganz sicher darüber war ich freilich nicht, aber wozu sind Redakteure da? Ich beschloss, den Roman einem unserer Blätter zum Abdruck anzubieten. Wenn er noch zu unreif sei, werde man es mir schon mitteilen. An welches Blatt sollte ich mich wenden? Von vornherein war es klar, dass nur eine sozialistische Zeitung den Roman bringen würde. Wie wenige unter den sozialistischen Zeitungen gab es aber damals, die umfangreich genug waren, um längere Romane abdrucken zu können! Unsere Parteizeitungen in Österreich waren alle viel zu klein dazu. Und selbst in Deutschland kamen nur äusserst wenige unserer Zeitungen für meinen Zweck in Betracht. Verfügten doch beide Richtungen der Partei, Lassalleaner wie Eisenacher zur Zeit ihrer Einigung 1875 nur über elf Organe, von denen die meisten Wochenblätter oder zwei bis dreimal wöchentlich erscheinend. Im Mai 1875, ungefähr um die Zeit, als ich meinen Roman beendet, fand in Gotha der historisch so bedeutsame Parteikongress statt, der die Parteispaltung in Deutschland beendete und dem Aufstieg der Sozialdemokratie dort einen ungeheuren Antrieb verlieh. Dieser äusserte sich u.a. im Wachstum der Parteipresse. Innerhalb eines Jahres wurden in der Partei zwölf politische Blätter neu gegründet und den elf schon bestehenden hinzugefügt. Unter ihnen eines der wichtigsten, das „Hamburg-Altonaer Volksblatt", das seit Oktober 1875 dreimal wöchentlich erschien. Ein Exemplar des Hamburger Blattes gelangte damals schon in meine Hände und es flösste mir genügend Vertrauen ein, seiner Redaktion das Manuskript meines Romans zu senden. Merkwürdigerweise dachte ich nicht daran, ihm einen Titel zu geben. Eine Abschrift des Begleitbriefs besitze ich nicht. Soweit ich mich erinnere, bat ich den Redakteur, die Arbeit zu prüfen. Ich würde mich freuen, wenn sie ihm als reif erschiene und als geeignet, propagandistisch zu wirken. Sollte sie ihm ungeeignet erscheinen, dann bäte ich ihn, sein Urteil zu begründen; denn ich sei stets bestrebt zu lernen. Es währte lange, bis ich eine Antwort bekam. Sie war nicht sehr höflich, eigentlich gar nicht an mich gerichtet. Auf Seite 84 des Manuskripts, das 234 Seiten umfasste, war ein Zettel eingeklebt, auf dem es hiess: 298

„Es ist ein Wahnsinn, jemandem das, was auf dieser und den folgenden Seiten steht, zur Verantwortung übergeben zu wollen. Da könnte man sich gleich im Zuchthaus begraben lassen. Ich verzichte aufs Weiterlesen. C. Hillmann." Das war der ganze Bescheid, den ich erhielt. Ob ich ein Talent sei, das man zu ermuntern habe, das der Partei nützlich werden könne, fragt sich der Redakteur nicht, der im ersten Drittel des Romans schon das Lesen einstellt und den Autor förmlich anschnauzt, dass dieser sich erfrecht hatte, dem Redakteur die Lektüre einer solchen staatsgefährlichen Arbeit zuzumuten. Der Hinweis auf das Strafgesetz war freilich Unsinn. Er wäre am Platz gewesen, wenn ich verlangt hätte, der Roman müsse völlig unverändert erscheinen. Einige redaktionelle Kürzungen und Milderungen hätten vollkommen genügt, die kriminalistischen Bedenken der Redaktion zu zerstreuen. Auf eine Ablehnung war ich gefasst gewesen. Ich war ja selbst nicht sicher, ob meine Arbeit literarischen Ansprüchen genüge. Aber gerade darüber äussert sich der Genosse Redakteur gar nicht, und der Ton, den er mir gegenüber anschlug, war nicht der eines älteren Kameraden gegen einen jüngeren, sondern der eines Feldwebels gegen einen Rekruten, der irgend etwas Ungehöriges begangen hat. Zum Glück war ich schon mehr als ein Jahr in der Partei, als mir dieser Erguss „proletarischer" Redaktionssitten zuging, sonst hätte ihr völliger Mangel an Europens übertünchter Höflichkeit wohl auf mich abschreckend gewirkt. Nun war ich schon etwas abgehärtet, da dachte ich mir bloss: „Im Hamburger Blatt müssen nette Knoten sitzen." Erst viel später erfuhr ich, wer Carl Hillmann war. Ein gewiegter, verdienstvoller Gewerkschafter, Schriftsetzer. Schon in Mai 1873 hatte er im „Volksstaat" eine Serie von vier Artikeln anonym veröffentlicht, betitelt „Praktische Emanzipationswinke", in denen er die Grundsätze entwickelte, auf denen die Gewerkschaften aufzubauen seien. Vor allem plädierte er für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei. Die Artikel waren sehr gut durchdacht, Hillmann sicher ein sehr guter Redakteur für ein Arbeiterblatt, das heisst, für seinen gewerkschaftlichen und politischen Teil. Und das war das Entscheidende. Von schöner Literatur brauchte er nichts zu verstehen. Allerdings, Lyrik wirkte gewaltig auf die Genossen ein, von denen viele Sangesbrüder waren. Freiligrath, Herwegh, namentlich aber Heine wurden von ihnen verehrt, doch für Romane und Erzählungen hatten die meisten der männlichen Arbeiter nichts übrig, in der Regel fehlte es ihnen an Zeit und Ruhe, derartiges Zeugs zu lesen. Den Höherstrebenden gehörte ihr bisschen Müsse Broschüren ökonomischen, politischen, historischen Inhalts. Erzählungen wurden in die 299

Parteiblätter nur aufgenommen, der Weiber der Genossen wegen, die in ihrer Beschränktheit nach solcher Lektüre verlangten und denen man etwas bieten musste, um ihnen das Parteiorgan schmackhaft zu machen. Mir selbst ging, als ich in die Parteiarbeit hineingeriet, Sinn und Ruhe für Romanschöpfungen verloren. Nicht ganz sicher, ob ich das Zeug zu tüchtigen Leistungen hätte, vollbeschäftigt mit Arbeiten, die mich befriedigten und die verlangt und mit Beifall aufgenommen wurden, legte ich halb verärgert, halb zweifelnd meinen Roman bei Seite, ohne zu versuchen, ihn dem Strafgesetz anzupassen und gemildert einem anderen Blatt einzusenden. Unverändert blieb er der „nagenden Kritik der Mäuse" überlassen. Wohl gab die deutsche, nun geeinigte Sozialdemokratie seit dem 1. Januar 1876 ein Unterhaltungsblatt heraus, eine Wochenzeitung, die „Neue Welt". Dessen Redaktion musste literarisch gebildet und imstande sein, meinen Roman zu beurteilen. Doch hatte ich alles Interesse und alle Freude an der Romanproduktion verloren. Ich machte keinen Versuch, die „Neue Welt" für die Ergebnisse meines Schaffens zu interessieren. Wohl trat ich mit der Redaktion dieses Organs, Bruno Geiser und Wilhelm Liebknecht, in Verbindung wegen der Publikation einer Erzählung, doch nicht eine meiner Schöpfungen bot ich an, sondern eine meiner Mutter. Sie war meine Vertraute, mit ihr besprach ich meine sozialistischen Ideen. Durch mich wurde sie mit ihnen bekannt und immer mehr für sie gewonnen, ja begeistert. Eben um dieselbe Zeit, in der ich der Partei beitrat, wandte sie sich der Abfassung grösserer Erzählungen zu, nachdem sie schon vorher unter Kienbergers Einfluss mit Glück versucht hatte, novellistische Skizzen niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Ihre grösseren Erzählungen, die bald richtige Romane wurden, erhielten von vornherein einen sozialistischen Charakter. Nur in einem sozialistischen Verlag hatten sie Aussicht, angenommen zu werden. Als 1876 die „Neue Welt" gegründet wurde, erschien dieses Organ gerade recht für meine Mutter, und sie begann die Abfassung von Romanen gerade für die „Neue Welt"; denn noch interessierte sich die Masse der Intellektuellen, besonders der belletristisch gebildeten und tätigen, nicht für die Sozialdemokratie. Vor 1848 hatte der utopische Sozialismus zahlreiche Dichter und Künstler angezogen. Dieser Utopismus fand sein Ende in den Revolutionsstürmen jenes Jahres, vor allem in der Junischlacht. Er wurde bei den Arbeitern völlig verdrängt durch die Arbeiterbewegung, die nach der Pause zwischen 1850—1860 mächtig anstieg. Aber diese Bewegung stiess die Intellektuellen ab, sie erschien ihnen zu roh und zu uninteressant. Sie fand keine Dichter von anerkanntem Ruf mehr, die sich von ihr

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inspirieren liessen. Was an neuer sozialistischer Dichtung damals geschaffen wurde, stand auf einem tiefen Niveau, war naiv und unbeholfen. In der Tat, mit dem Massstab der damaligen Parteidichtung gemessen, durfte mein letzter Roman sich sehen lassen. Einen einzigen Dichter von Ansehen zählte damals die Partei in ihren Reihen, es war der Ostpreusse Robert Schweichel, ein alter Achtundvierziger, der die Jahre der Reaktion in der Schweiz verbracht hatte. Nach 1861 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er mit Liebknecht in enge Verbindung trat. Er wäre der richtige Redakteur der „Neuen Welt" gewesen. Aber wahrscheinlich zögerte er, die wohlfundierte Stellung aufzugeben, die er als Redakteur der „Deutschen Romanzeitung" gewonnen. Das Schicksal der „Neuen Welt" war doch bei ihrer Gründung noch zu ungewiss, namentlich wegen des völligen Mangels an neuen, guten sozialistischen Romanen, den niemand besser kannte als Schweichel. Nur zwei Redakteure bewarben sich um die Redaktion der „Neuen Welt", beides Neulinge, Franz Mehring und Bruno Geiser. Die Wahl fiel auf diesen, worauf Mehring, der bereits für die Partei gearbeitet hatte, ihr verärgert den Rücken kehrte. Geiser hatte sich seine Aufgabe wohl leichter vorgestellt, als sie war. Die Anfänge der „Neuen Welt" gestalteten sich literarisch sehr dürftig. Da kam meine Mutter mit ihrem Erstling auf dem Gebiet der Erzählung, ihrem „Proletarierkind". Diese Novelle überragt weit das Niveau damaliger parteigenössischer Erzählerkunst. Meine Mutter, 17 Jahre älter als ich, war mir natürlich weit überlegen an Erfahrung und Weltkenntnis. Allerdings mit der proletarischen Welt kam sie erst durch mich in Berührung. Sie war mir auch überlegen an Kenntnis der schönen Literatur, an Beherrschung der Romantechnik. Ich nehme an, dass sie mich auch an dichterischer Begabung überragt [hat]. Dies bezeugte sie unter anderem dadurch, dass die Abfassung sozialistischer Romane für sie eine ganz andere Bedeutung erhielt als für mich. Für mich war das eine Zeitlang wohl eine Beschäftigung, die mich ganz erfüllte. Als ich aber an politischem, ökonomischem, historischem Wissen zunahm, eröffneten sich mir andere Wege. Die sozialen Probleme, die mich beschäftigten, zu lösen und ihre Lösung zu propagieren, interessierte mich mehr als die Abfassung von Romanen. Ich konzentrierte mich ganz auf diese neuen Wege und liess den bisher begangenen abseits liegen. Um dieselbe Zeit, als diese Entwicklung in mir vorging, wurde für meine Mutter der soziale Roman der Inhalt ihres Lebens. Sie musste ihre Romane schreiben, sonst wäre ihr das Leben völlig zwecklos und verfehlt erschienen. Vor allem aber erkannte ich, dass ihre Romane hoch über den meinen standen.

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Nicht die meinen, sondern die der Mutter bot ich daher der Redaktion der „Neuen Welt" an. Sie wurden von den Lesern mit Beifall, ja mit Jubel aufgenommen. Und sie wuchsen rasch an Tiefe und Reife. Dem „Proletarierkind" folgte eine „Gute Partie" und dieser der „Stephan vom Grillenhof", im Jahrgang 1878, meines Erachtens die beste ihrer Schöpfungen, die sie mit ihren späteren nicht übertroffen hat. Die Marlitt war damals die bekannteste Erzählerin für die bürgerlichen Leser Deutschlands, in der „Gartenlaube". Unsere Genossen meinten, sie könnten meine Mutter nicht besser ehren, als wenn sie sie als die „rote Marlitt" bezeichneten. Ich stellte sie schon damals über die Marlitt und ich glaube, dass aus diesem Urteil nicht eine sohnliche Voreingenommenheit sprach. Ich selbst war damals schon so sehr mit wissenschaftlichen Forschungen und politischen Kampfartikeln beschäftigt, dass ich an meinen Roman nicht mehr dachte, geschweige denn, dass ich Zeit und Interesse gefunden hätte, die Abfassung eines neuen Romans auch nur zu planen. Und ich glaube, das war ein Glück für mich. Ich hätte vielleicht mit vermehrter Weltkenntnis und eifrigerem Studium der schönen Literatur ein ganz passabler Romanschriftsteller werden können. Aber nur auf Kosten meiner wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit. Und das wusste ich schon damals: das Beste, was ich zu leisten vermöge, liege auf diesen Gebieten. Nichts schlimmer, als alle Fähigkeiten entwickeln zu wollen, über die man verfügt. Das versuchte ich von 1873 bis 1878. Es führte zu nichts als zur Zersplitterung, zur Vergeudung von Zeit und Kraft, zur Mittelmässigkeit. Die Hauptsache ist, rechtzeitig herauszufinden, auf welchem Gebiete man das Beste von dem zu leisten vermag, was die angeborenen Fähigkeiten überhaupt zu leisten gestatten, und sich darauf zu konzentrieren. Konzentration, das fordert Goethe von uns mit seinem grossen Spruch: in der Beschränkung zeigt sich der Meister. Allerdings hat der Satz noch einen zweiten, nicht weniger wichtigen Sinn: man soll sich auf das Mögliche beschränken, die Grenzen des eigenen Könnens und die des Könnens der Genossen im Kampf und in der Forschung rechtzeitig erkennen. Wie wenige gibt es, auch in unserer Partei, die solche Meisterschaft üben, in der Selbstbeschränkung auf das Mögliche, und nicht in Illusionen eine schöpferische Kraft sehen. Selbstbeschränkung nicht zu beschaulicher Ruhe, sondern zur Konzentration aller Kraft auf den Kampf um das als möglich Erkannte — sofort oder schliesslich als möglich Erkannte, das verbrieft die Meisterschaft, nach der jeder von uns zu streben hat. Die Wichtigkeit dieses Gesichtspunktes habe ich früh erkannt. Wieweit er mir zu302

statten gekommen ist, darüber kann und habe natürlich nicht ich zu entscheiden. Seit dem grossen Roman, den das „Hamburg-Altonaer-Volksblatt" so schnöde behandelt, schrieb ich keine Erzählung von Belang mehr. Soviel ich mich erinnere, habe ich nur noch zwei kleine Erzählungen seitdem veröffentlicht, eine im österreichischen Arbeiterkalender für 1877, und eine im „Republikaner", einem Zürcher „Illustrierten Volkskalender" für 1881. Die Erzählung im Wiener Kalender, „Ein Egoist" von Symmachos (mein damaliges Pseudonym), stellte im Grund eine Variation des Falles Oberwinder dar, natürlich dichterisch stark ausgeschmückt. Es ist die Geschichte eines mutigen und fähigen Kämpfers für die proletarische Sache, der gemassregelt in bitterste Not gerät. Deshalb sowie wegen seiner Liebe zu einem wohlhabenden Mädchen vermag er der Versuchung nicht zu widerstehen, als ihm die Möglichkeit geboten wird, für die bürgerliche Presse unpolitische, gut bezahlte Artikel zu schreiben. Er freundet sich mit dieser Presse an, das wirkt auf seine Parteipolitik zurück, er sucht mit den Liberalen zu kompromisseln. Darob gerät er mit seinen Genossen in Konflikt, er gründet ein eigenes, parteiloses Blatt, das enormen Erfolg hat, ihm die Möglichkeit gibt, am Gründerwesen teilzunehmen. Der arme Schlucker wird zum Millionär. Der Vater des Mädchens, das er geliebt, geht an einer Gründung des nicht bloss erfolgreichen, sondern auch gewissenlosen Zeitungsmenschen zu Grunde. Richard Berger, so heisst dieser, findet seine frühere Geliebte, Marie, die er aus den Augen verloren hat, eines Tages arm und krank wieder. Da erinnert er sich der früheren Liebe, will sie heiraten, doch stösst sie ihn zurück. Den selbstlosen Verfechter der Befreiung der Arbeiter hat sie geliebt, den Abtrünnigen verachtet sie. Zurückgewiesen verlässt er sie. Bald darauf stirbt Marie. „Niemand folgt ihrem Sarge. Die Leichenträger plauderten, sich die Langeweile zu vertreiben. ,Was gibt es denn heute beim Berger, da gehts ja lustig zu?', fragt der Eine. ,Er hat einen Orden bekommen, wegen seiner Verdienste um den Volkswohlstand, wie es in der Zeitung heisst. Das wird natürlich gefeiert.'" Als ich das schrieb, im Sommer 1876, sah ich erst Oberwinders Niedergang. Wie sich seine Zukunft gestalten werde, konnte ich noch nicht ahnen. In Wirklichkeit gestaltete sich seine moralische Verlumpung noch schlimmer, als ich sie zeichnete. So sehr liess ich meinen Richard Berger doch nicht sinken. Allerdings hatte ich ihn zu einem Millionär werden lassen. Der wirkliche Oberwinder ist dagegen zeitlebens ein armes Luder geblieben. Ganz anderer Art als meine Erzählung im österreichischen Arbei303

terkalender für 1877 war vier Jahre später mein Beitrag für den Zürcher Parteikalender. Dem lieferte ich auf Verlangen eine lustige Schnurre, betitelt „Nihilistentücke". Sie spielt in Petersburg, behandelt die Uberlistung eines russischen Polizeikommissärs durch seine nihilistische Tochter ihren Geliebten.1 So wenig Wert legte ich auf das Ergebnis einer übermütigen Stunde, dass ich sie nicht mit meinem Namen zeichnete. Als Autor figurierte ein Herr „Kautschukoff". Das war, glaube ich, der letzte meiner belletristischen Versuche, die ich zu Papier gebracht und zum Druck befördert habe. Meine Lust zu fabulieren, war allerdings damit nicht erschöpft. Doch opferte ich ihr keine Stunde mehr, die ich zu politischer oder wissenschaftlicher Arbeit hätte aufwenden können. Den „schwankenden Gestalten" meiner Muse gestatte ich nur noch Zutritt in mein Gehirn, wenn ich zu müde bin zu ernsthafter geistiger Arbeit, sei sie schöpferischer oder rezeptiver Art, und nicht in der Lage, durch körperliche Arbeit mein Nervensystem zu entspannen. Zum Beispiel in den oft langen Stunden, in denen ich einschlafen möchte, doch der Schlaf nicht kommt, Beschäftigung mit ernsthaften Problemen ihn erst recht verscheuchen würde, da glaube ich mich einzuschläfern durch Romane, die ich entwerfe, mir selbst erzähle, in anspruchlosester Weise, also ohne jede geistige Anstrengung, Wachträume, oft auch Wunschträume, die hinüber geleiten in das Land der echten Träume. Nur für mich sinniere ich so, die Ergebnisse sind nicht derart, dass ich je in Versuchung käme, sie niederzuschreiben oder auch nur zu berichten. Aber bis heute ist mir solches Träumen eine willkommene und wirksame Methode der Entspannung und Beruhigung, die andere in Kartenspielen und wieder andere im Gebet suchen. c. Die Parteispaltung. Als ich soweit war, mich der Partei anschliessen zu wollen, bedeutete das für mich kein so einfaches Problem; denn sie war gespalten. In welches Lager sollte ich mich begeben? Die Entscheidung fiel mir nicht schwer, erschien mir selbstverständlich, aber nur aus dem Grunde, weil ich von Parteidingen blutwenig verstand. Denn die Spaltung war wenig berechtigt. Für den Proletarier ist eine sozialistische Partei wichtig als bewusster und organisierter Ausdruck des Klassenkampfes, den er führt. Je geschlossener und massenhafter Bewegung und Partei, desto angesehener und machtvoller das Proletariat. Anders liegt die Sache für i

So in der Abschrift; es soll vermutlich „und ihren Geliebten" heissen. B.K.

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den Intellektuellen, der sich zu sozialistischem Denken erhebt und sich daher einer sozialistischen Partei anschliesst. Und wie ein solcher Intellektueller denkt auch mancher Proletarier, dem es gelingt, sich zu den Funktionen eines Intellektuellen in der Partei, etwa eines Redakteurs einer Zeitung zu erheben. Nicht der Klassenkampf oder 1 die Arbeiterbewegung, sondern seine besondere Auffassung des Sozialismus ist ihm das wichtigste. Kann er diese Auffassung in der Partei nicht durchsetzen, dann erscheint deren Organisation leicht als lästige Fessel, deren Abstreifung eine Befreiung für ihn bedeutet. Die Intellektuellen in der sozialistischen Bewegung neigen also zu Parteispaltungen und zur Sektiererei. Der Marxismus vereinigte die Arbeiterbewegung und den Sozialismus, der anfänglich vorwiegend von Intellektuellen entwickelt und verbreitet war. Er gibt den Intellektuellen in der Arbeiterbewegung Aufgaben, die sie die Notwendigkeit der Einheit und Geschlossenheit erkennen lassen und ihre Neigungen zu Parteispaltungen überwinden. Doch dauert es überall lange, ehe es so weit kommt. Solange sie auf keiner Bewegung grosser und bewusster Massen beruht, ist in jeder sozialistischen Partei die Tendenz zur Parteispaltung gross. Und manche Spaltung lässt sich überhaupt nicht vermeiden, denn das Proletariat ist nicht eine so unterschiedslose Klasse und die anderen Klassen bilden nicht eine so unterschiedslose „reaktionäre Masse", dass die Haltung stets von vornherein gegeben und leicht zu erkennen ist, die die Partei in einem gegebenen Zeitpunkt 2 gegenüber bestimmten Fragen einzunehmen hat. Selbst bei vollster, grundsätzlichster Übereinstimmung über das Endziel können über den Weg dahin, können über taktische und organisatorische Fragen mitunter so schroffe Meinungsverschiedenheiten auftauchen, dass ein gedeihliches Zusammenarbeiten der verschiedenen Richtungen innerhalb einer Organisation auch für Parteigenossen unmöglich werden kann, die auf die Einheit der Partei das höchste Gewicht legen. Die Arbeiter Deutschlands waren lange Zeit hindurch im allgemeinen dem österreichischen Proletariat an Wissen und politischer Erfahrung überlegen. Sie verfügten bis 1867 zumeist über eine bessere Volksschule, eine höhere industrielle Entwicklung,, ein vollkommeneres Zeitungs- und Verkehrswesen — nicht bloss die preussischen Schulmeister, wie man sagt, sondern auch die preussischen Eisenbahnen haben die Schlacht bei Königgrätz gewonnen. Aber auch etwas grössere politische Freiheit herrschte seit der französischen Revolution in den meisten jener Gebiete, die heute zum Deut1

2

In der Abschrift heisst es „sondern". B.K. In der Abschrift steht „Partei". B.K.

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sehen Reich gehören. Die Arbeiter Deutschlands wurden daher in allem und jedem die Vorbilder der Arbeiter Österreichs. Die Spaltung zwischen Lassalleanern und Eisenachern, die 1869 in der deutschen Sozialdemokratie eintrat, machten sie trotzdem nicht mit. Und doch gehörte sie nicht zu den leichtfertigen intellektuellen Spaltungen, sondern war tief begründet. Theoretisch waren beide Richtungen der deutschen Sozialdemokratie Lassalleaner. Die Marxschen Lehren kannte kaum jemand in Deutschland in anderer Form als jener, die ihnen Lassalle gegeben — ohne den Urheber zu nennen. — Was beide Teile trennte, waren Fragen der Parteiorganisation — Lassalle und sein Nachfolger Schweitzer wollten eine Diktatur in der Partei üben, Bebel und Liebknecht verfochten die Demokratie in der Partei. Aber über diesen Gegensatz, so gross er war, hätte man sich hinweghelfen können. Denn die Arbeiter, die sich um Lassalle scharten, standen zu hoch, als dass sie sich hätten eine tatsächliche Diktatur auflegen lassen. Lassalle selbst und noch mehr Schweitzer stiessen mitunter auf recht energische Opposition. Aber was sich nicht überwinden liess, war der Gegensatz der Taktik: Lassalle und Schweitzer mogelten mit Bismarck, den sie 1 nach Kräften unterstützten. Dafür fand dieser keine erbitterteren Gegner als Bebel und Liebknecht. Dieser Gegensatz machte die Spaltung unvermeidlich. Aber der Gegensatz war auf Deutschland beschränkt, ja überwiegend auf Preussen. In Österreich gab es keinen Arbeiter, keinen Sozialisten, der etwas von Bismarck hätte erwarten können. Auch die österreichischen Sozialisten schöpften ihre theoretischen Auffassungen aus den Lassalleschen Schriften, ebenso wie die deutschen. Ihr Lassallekult nahm mitunter geradezu religiöse Formen an. In den Arbeiterwohnungen fand man oft ein Bild, das Lassalle als Moses darstellte, der das goldene Kalb von seinem Piedestal stürzt. Aber als die sozialistische Bewegung aufkam, war Lassalle schon einige Jahre tot, für seine besondere Politik Bismarck gegenüber, die Schweitzer fortführte, fehlten in Österreich alle Bedingungen. Als die Gegner Schweitzers sich als besondere Partei konstituierten, war der Kongress, der das vollzog (Eisenach 1869), auch von österreichischen Sozialdemokraten beschickt. Einmütig stellte sich die ganze Partei in Österreich auf die Seite der Eisenacher Organisation, von der sie einen Bestandteil bilden wollte. Das wurde unmöglich gemacht durch das liberale Ministerium in Wien, das alle Vereine verbot, die annehmen Hessen, dass sie sich auf den Boden der Eisenacher Beschlüsse stellten. Trotzdem fuhr der 1

In der Abschrift heisst es „sich". B.K.

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Eisenacher Geist fort, die gesamte österreichische Sozialdemokratie zu beseelen. Was in Deutschland ein spaltendes Moment war, wirkte in Österreich als einigendes Moment. Die Spaltung kam dort von anderer Seite, aber auch ebenfalls wegen der Frage des Verhältnisses zu einer bürgerlichen Regierung. Noch schwerer als die deutsche litt die österreichische Partei unter der Spaltung. Denn weit mehr als in Deutschland war in Österreich die sozialdemokratische Bewegung ein Ergebnis nicht individuellen, sondern kollektiven Denkens. Ohne Absicht, davon besonders zu handeln, hat schon 1826 Heinrich Heine in seinem Buch über Norderney (Reisebilder) das damals noch sehr primitive Geistesleben der Fischer von Norderney charakterisiert als einen „Zustand der Gedanken- und Gefühlsgleichheit", hervorgehend aus „Gewohnheit, naturgemässem Ineinander-Hinüberleben gemeinschaftlicher Unmittelbarkeit". „Gleiche Geisteshöhe oder besser gesagt, gleiche Geistesniedrigkeit, daher gleiche Bedürfnisse und gleiches Streben; gleiche Erfahrungen und Gesinnungen, daher leichtes Verständnis untereinander." Dadurch unterschieden sich jene Menschen von den Kulturmenschen, die „im Grunde geistig einsam leben," da jeder anders „denkt, fühlt und strebt" als die andern. Was Heine nicht sagt, war, dass jenes kollektive Denken aus der völligen Ubereinstimmung der Lebensbedingungen für alle Glieder der Gemeinschaft hervorgeht, indes das individuelle aus der Differenzierung der Lebensbedingungen hervorgeht. Je stärker das kollektive Denken, desto mehr gewinnt es den Charakter einer Religion, deren Lehren keiner Beweise bedürfen. Bis heute ist in Massenbewegungen ein Stück kollektiven Denkens enthalten. Aber wo dieses nicht auf vererbten Gewohnheiten beruht, sondern auf neuen Moden, da verliert es leicht seine Kraft gegenüber einsetzender Kritik oder bei Meinungsverschiedenheiten im Lager der Gemeinschaft. Die österreichische Sozialdemokratie beruhte, wie schon bemerkt, in ihren Anfängen in höherem Grade auf kollektivem Denken als die deutsche. Sie wurde daher viel schwerer als diese durch eine Spaltung der Partei getroffen. Die deutsche wurde in ihrem Aufschwung gehemmt, die österreichische zur Nichtigkeit heruntergebracht. Das zeigte sich nach der Spaltung von 1873, als Scheu mit seinem Anhang die Partei verliess, und dann wieder ein Jahrzehnt später, nach der neuerlichen Spaltung, die Peukert herbeiführte. Die eine wie die andere Spaltung beruhte auf einem Gegensatz, der dauernd in jeder Partei zu finden ist, dem zwischen Gemässigten und Radikalen, dem zwischen Vorsichtigen und rücksichtslos Vorwärtseilenden. Eine Partei braucht beide Tendenzen, sie nützen ihr, wenn sie gegenseitig sich

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die Waage halten und aneinander Kritik üben, wodurch verhindert wird, dass die eine oder die andere Tendenz sich einseitig entwickelt, die Vorsicht nicht zur Charakterlosigkeit und Feigheit ausartet, der Radikalismus sich nicht in illusionären Abenteuern verliert, die zu zerschmetternden Niederlagen führen müssen. Der Gegensatz zwischen Gemässigten und Radikalen fand sich wie in jeder Partei in der österreichischen Sozialdemokratie schon in ihren Anfängen. Aber er trat erst zutage, als für sie die Ära der Verfolgungen begann. Namentlich der Hochverratsprozess von 1870, der den Verurteilten so schwere Strafen brachte, wirkte auf verschiedene der Verurteilten und ihren Anhang sehr verschieden. Die einen waren der Meinung, solange wir so schwach seien, sollten wir die Regierung und ihre Partei, die Liberalen, nicht unnötig reizen, wir sollten sie sogar dort, wo sie gegen die Reaktionär-Feudalklerikalen und Partikularisten kämpfe, unterstützen. Andere wieder waren durch die Fülle der Verfolgungen ,die über die Partei hereinbrachen, aufs äusserste erbittert. Fest davon überzeugt, dass die Revolution nahe, hielten sie es für ihre Hauptaufgabe, dem arbeitenden Volk Hass und Verachtung gegen Staat und Gesellschaft einzuflössen, auch dann, wenn es Liberale waren, die sich des Polizeistaates bedienten. So stark dieser Gegensatz war, er brauchte die Partei nicht zu spalten, denn im Grunde blieb er ein Gegensatz im Denken. Auch die Radikalsten der Radikalen dachten nicht daran, Putsche zu inszenieren oder auch nur vorzubereiten. Jede derartige Anschauung wiesen sie entschieden zurück. Andrerseits dachten auch die Gemässigtsten der Gemässigten nicht daran, die politische Selbständigkeit der Arbeiterbewegung aufzugeben, um sie etwa liberalem Kommando zu unterwerfen. Und nicht einmal in der Sprache, die sie öffentlich führten, konnten sich die beiden Richtungen scharf unterscheiden. Die Konfiskationspraxis der Staatsanwälte und die polizeiliche Uberwachung dar Versammlungen machten es den Radikalen unmöglich, eine merklich schärfere Sprache zu führen als die Gemässigten. Freilich, wenn unsere Genossen unter sich waren, dann sprachen sie von der Leber weg. Aber die Aussenwelt erfuhr davon nichts, nicht einmal die Masse der Genossen, angesichts des Verbots jeglicher Parteiorganisation. Die internen Auseinandersetzungen blieben da auf kleine Zirkel beschränkt. Der leitende Kopf der Partei war lange Zeit Heinrich Oberwinder. Ein gebürtiger Nassauer, hatte er sich schon 1863 der Lassalleschen Bewegung angeschlossen. Er hatte einige Gymnasialklassen absolviert, war später Kanzleibeamter geworden, verfügte über praktische politische Erfahrung, hatte dem österreichischen Arbeiter viel Wissen zu bieten, als er sich nach dem Krieg von 1866 in das neue liberal-

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werdende Österreich begab, um dort1 unter den erwachenden Proletariern zu propagieren, was er in Deutschland gelernt. Alle die Führer der Arbeiterbewegung, die nun heranwuchsen, waren seine Schüler. Doch bald wussten manche von ihnen ebensoviel, wenn nicht mehr als der Lehrer, fühlten sich ihm überlegen. Als nach dem Hochverratsprozess von 1870 und der Amnestie der Verurteilten 1871 diese wieder zu agitieren begannen, erwuchs unter ihnen der Gegensatz von Gemässigten und Radikalen. Mit Missvergnügen bemerkte Oberwinder, dass ihm die Führung der Gesamtpartei entglitt, die er bis dahin besessen. Durch diktatorische Massregeln suchte er sie sich zu sichern, goss aber damit nur Öl in das anfangs bloss schwelende Feuer. Schon früh regte sich heftige Opposition gegen ihn. Diese ging sogar so weit, sich eine eigene Organisation zu fügen2, was stets die Spaltung unvermeidlich macht. Anfangs 1872 begründete sie den Verein „Brüderlichkeit", dessen geistiges Haupt der 1850 geborene Student der Philosophie Emil Reinthal wurde. Diese Opposition gebärdete sich sehr ungestüm, brachte es aber zu nichts, da sie zumeist nur ganz unreife Elemente erfasste. Die Gesamtmasse der Partei lehnte sie ab. Ernsthafter wurde die Opposition erst, als die Radikalen einen Führer vom Format eines Andreas Scheu fanden. Dieser, geboren 1844, war etwas älter als Oberwinder (geboren 1846) — unsere Führer waren damals alle ebenso jung wie die Partei. Seine politische und sozialistische Bildung hatte Scheu zunächst von Oberwinder erhalten. Ewig bleibt man aber nicht Schüler. Und schon mancher ist dem Lehrer über den Kopf gewachsen. Namentlich in der Zeit der Haft, die er wie Oberwinder, Most und andere dem Hochverratsprozess von 1870 verdankte, hatte Andreas Scheu Gelegenheit, sein Wissen erheblich zu erweitern. Schon damals meinte man, die Gefängnisse seien die Universitäten der aus dem Proletariat stammenden Sozialisten. In der Kerkerzelle erlernte Scheu von einem Mithäftling die englische Sprache, was ihm später sehr zustatten kam. Im März 1870 verhaftet, verliess Scheu das Gefängnis im Februar 1871 als eine in politischen und sozialen Dingen reifere und selbständigere Persönlichkeit. Es galt als selbstverständlich, dass er mit Oberwinder wieder die Redaktion des Wiener Parteiorgans übernehme, des „Volkswillen", in die er schon am 1. Januar 1870 nach der Flucht Hartungs eingetreten war. Er und Oberwinder waren jetzt die anerkannten Führer der österreichischen Sozialdemokratie. Aber zwei einander gleichstehende Führer nebeneinander tun nicht gut, wenn sie nicht in ihren An1 In der Abschrift steht „doch". B.K. 2 So in der Abschrift. B.K.

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schauungen völlig harmonieren. Und das war hier keineswegs der Fall. Oberwinder entwickelte sich immer mehr nach der gemässigten, Scheu nach der radikalen Seite hin; und jener geriet immer mehr in Beziehungen zu liberalen Zeitungen, Beziehungen, die an sich unverfänglich und harmlos waren, aber doch bei Oberwinder nach und nach mehr liberale Sympathien aufkommen liessen, als gut war, indes Scheu die Liberalen als servile und korrupte Gewalts- und Geschäftspolitiker immer gründlicher hasste. Dieser Gegensatz zwischen zwei miteinander arbeitenden Führern führte zu einer Spannung, die schliesslich unerträglich wurde. Einer von ihnen musste aus der Redaktion heraus. Aber der Gegensatz war kein persönlicher, sondern einer zweier Richtungen. Jeder der beiden hatte einen starken Anhang, der nicht bloss aus persönlichen Freunden bestand. Der Gegensatz führte zu einem Konflikt, der die Partei sprengte. Die Veranlassung gab eine Wahlreform, die von der liberalen Regierung Auersperg im Lauf des Jahres 1872 geplant wurde. Aus den verschiedensten Gründen — Angst vor den Slaven, Angst vor den Arbeitern, Angst vor der Missbilligung des Kaisers — hatten die Deutschliberalen für Österreich ein Wahlrecht geschaffen, das an reaktionärer Tücke, Verschrobenheit und Verkünstelung selbst unter den Zensus- und Interessenvertretungen jener Zeit seinesgleichen nicht fand. Eine der Bestimmungen dieses aberwitzigen Wahlrechts war den Liberalen selbst unbequem geworden: die Mitglieder des Abgeordnetenhauses, des Zentralparlaments, wurden nicht von der Bevölkerung, sondern von den Landtagen entsendet. Diese Bestimmung gab den Föderalisten und Partikularisten manche Möglichkeit, der Zentralregierung unbequem zu werden. Daher liess diese 1872 eine Wahlreform ausarbeiten, die sie Mitte Februar 1873 dem Parlament vorlegte. Danach sollten künftig nicht die Landtage die Abgeordneten zum Reichsrat ernennen, sondern diese sollten direkt von den Wahlberechtigten der verschiedenen „Kurien" gewählt werden. Kein Zweifel, darin lag eine gewisse Verbesserung des bestehenden Zustandes. Aber die übrigen Bestimmungen des skandalösen Wahlrechts blieben unangetastet, das den Besitzenden, den Grossgrundbesitzern, den kapitalistischen Unternehmern besondere Privilegien verlieh und dafür nicht bloss den Lohnarbeitern, sondern auch den ärmeren Bauern und Kleinbürgern jede Vertretung im Parlament vorenthielt. Die Liberalen begeisterten sich für diese Reform, erwarteten von ihr goldene Berge, die Föderalisten und Partikularisten, Feudalen und Klerikalen, aber auch slawische Demokraten bekämpften sie. Wie sollten sich die Arbeiter dazu verhalten? 310

Das Nächstliegende wäre gewesen, die Gelegenheit zu einer grossen Agitation für das allgemeine Wahlrecht zu benutzen. Warum das nicht geschah, ist nicht ganz klar. Oberwinder hielt es für notwendig, für die liberale Reform einzutreten unter Hinweis auf das Kommunistische Manifest, das schon erklärt hatte, die Kommunisten unterstützten die Bourgeoisie überall dort, wo sie revolutionär auftrete. Allerdings war es nicht so einfach, eine Wahlreform als revolutionäre Tat auszulegen, durch die das rücksichtslose Polizeiregiment der Wiener Regierung gestärkt werden sollte, ohne dass den Arbeitern auch nur eine Spur einer Konzession gemacht wurde. Kein Wunder, dass die Richtung Scheu sich gegen Oberwinder auflehnte. Der politische Verein „Volksstimme", der tatsächlich die Wiener Parteileitung darstellte, veranstaltete am 20. Februar 1873 eine öffentliche Versammlung zur Besprechung der Wahlreformvorlage, die soeben von der Regierung vorgelegt worden. Oberwinder legte der Versammlung eine Resolution vor, in der es hiess: „Die Arbeiterpartei steht in Österreich auf staatlichem Boden, sie will durch die Einwirkung auf die Gesetzgebung ihre Ziele erreichen und die moderne Staatsidee bis in ihre äussersten Konsequenzen durchgeführt wissen . . . Wir erblicken in der Einführung direkter Wahlen einen Fortschritt und einen Schutz gegenüber den staatsfeindlichen Bestrebungen der Feudal-Klerikalen." Doch wurde in der Resolution bemängelt, dass die Regierung die Petitionen um Errichtung von Arbeiterkammern unberücksichtigt gelassen habe. Die Resolution war sicher sehr zahm, konnte sicher nicht den Auftakt für eine gewaltige Agitation für das allgemeine Wahlrecht bilden. Aber vielleicht war eine solche damals nicht möglich. Und die Resolution, vielleicht unzulänglich, konnte doch mit unsern Grundsätzen vereinbart werden. Sie wurde auch von der Versammlung angenommen. Unbestimmt vieldeutig, wurde die Resolution von der liberalen Presse in ihrem Sinne gedeutet und mit Jubel begrüsst. Und das musste allerdings die Radikalen sehr verdriessen. Doch das bildete keinen ausreichenden Grund, darob gleich die Partei zu spalten. Wie sooft hatten auch diesmal die unausgesetzten internen Reibungen eine so hochgradige Erbitterung erzeugt, dass sie bei einem Anlass zu einem Bruch führte, der dem Aussenstehenden ganz geringfügig erschien. Man konnte die Resolution über die Wahlreform wohl sehr verschieden auffassen, mochte sie für zu lahm halten, für unzureichend oder wie immer, aber auf keinen Fall bot sie einen Anlass zu mehr als einer Kritik. Scheu ging darüber weit hinaus. In der Sitzung des Vereines „Volksstimme" vom 3. März forderte er gleich nicht weniger als die Absetzung Oberwinders von der Redaktion. 311

Mehrere Sitzungen hindurch dauerte der Kampf, bis es zur Abstimmung kam. Nach Scheus Mitteilung in seinen Erinnerungen (Seite 121) gab sie für Oberwinders Absetzung 35 Stimmen, dagegen 39. Ludwig Brägel in seiner Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie gibt ein Stimmenverhältnis von 34 zu 56 an. Diese Angabe ist richtig. Sie findet sich schon in dem Bericht, den Scheu selbst am 8. März an den Leipziger „Volksstaat" schickte. Die Mehrheit für Oberwinder war keineswegs für die Opposition erdrückend. Es bestand gar kein Grund dafür, dass Scheu und seine Leute jede weitere Tätigkeit für ihren Standpunkt innerhalb der Partei als hoffnungslos ansahen und nach der Abstimmung aus dem Verein „Volksstimme" austraten, um eine eigene Partei zu gründen. Sie verbanden sich jetzt mit den Resten der Brüderlichen und machten deren Organ in Wiener-Neustadt, die „Gleichheit", zu dem ihren. Ein wütender Bruderkrieg begann, ganz unverständlich für alle, die von den Vorgängen im engeren Kreise der führenden Wiener Genossen nichts wussten. Der Anlass, die Meinungsverschiedenheiten über die Wahlreform, erschien zu unbedeutend, und keine grossen Meinungskämpfe in der Öffentlichkeit waren dem Bruch vorausgegangen. Dieser kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Masse der Parteigenossen, namentlich in der Provinz und erst recht ausserhalb Österreichs, waren über die Spaltung entsetzt. Josef Hannich berichtet in seinen „Erinnerungen" (in Warnsdorf ohne Datum erschienen) aus dem Reichenberger Industriegebiet: „Die Arbeiter waren über den unter den Führern ausgebrochenen Streit geradezu entrüstet." Auf einer Konferenz in Reichenberg „wurde beschlossen, dass sich die Genossen in den einzelnen Orten bis auf weiteres weder auf die Seite Scheus noch auf die Oberwinders stellen sollten."1 Man wollte ein Weitergreifen des Brandes möglichst verhindern. Auch die Eisenacher in Deutschland verhielten sich anfangs neutral und beschwichtigend. Am 2. April 1873 erklärte die Redaktion des „Volksstaat" ausdrücklich ihre völlige Parteilosigkeit. Sie wünschte nichts als baldige Versöhnung und Beendigung des Streites durch ein Schiedsgericht. Liebknecht, damals in Festungshaft, schlug die Einsetzung eines solchen vor. Jede der beiden Richtungen solle drei Vertreter in das Gericht entsenden, ein von beiden anerkannter ausländischer Parteigenosse als Obmann fungieren. Hatte bis dahin Scheu eine Reihe von taktischen Fehlern gemacht und unnötig und überstürzt zum Bruch getrieben, so begann jetzt Oberwinder sich bei allen Elementen ins Unrecht zu setzen, die den i

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Parteifrieden wollten. Er lehnte den Antrag auf Einsetzung eines Schiedsgerichts ab, weil er den Eisenachern nicht traute. Und doch waren diese keineswegs auf Scheu eingeschworen. Scheu selbst erzählt in seinem schon zitierten Buch, Heinrich Scheu, ein Bruder des Andreas, habe dem „Volksstaat" schon vor der Wahlreform-Resolution einen gegen Oberwinder gerichteten Artikel eingesandt, die Redaktion habe ihn aber nicht gebracht. Brügel berichtet in seiner „Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie", man habe (ein genaues Datum wird nicht genannt, wohl anfangs 1874) bei einer Hausdurchsuchung das Konzept eines von Scheu geschriebenen Briefes an Liebknecht gefunden, in dem beklagt wird, „dass Liebknecht und Bebel das Verhalten Oberwinders gebilligt haben". Ausserdem wurde ein Brief Geibs aus Hamburg (Parteileitung) gefunden, in dem es hiess: „Über Scheu wird in deutschen Arbeiterkreisen abfällig gesprochen." 2 Es war also ganz ungerechtfertigtes Misstrauen, wenn Oberwinder das Schiedsgericht ablehnte, wahrscheinlich nur aus dem Grunde, weil Scheu sich nicht dagegen aussprach. Auch weiterhin erwies er sich als Gegner der Einigung. Als die Grazer Genossen im November 1873 einen Aufruf zur Beschickung eines Parteitages erliessen, der die Partei einigen sollte, wendete sich Oberwinder dagegen. Das verhinderte nicht, dass der Parteitag doch stattfand und die Partei reorganisierte, aber in Abwesenheit der Garde Oberwinders (April 1874). Damit beschränkte er selbst das Bereich seiner Geltung in der Partei auf Wien, und auch dort reduzierte sich sein Anhang von da an immer mehr. In dieser Situation befand sich die Partei, als ich ihr beitrat. Mein revolutionärer Drang, von dem ich schon etliche Beispiele gegeben, liess mich keinen Augenblick schwanken, auf wessen Seite ich mich zu schlagen hatte. Noch verstand ich die Bedingungen der Arbeiterbewegung zu wenig, als dass mir nicht die Spaltung selbst als eine verdienstliche Tat erschienen wäre. Die Radikalen betrachtete ich als herrliche Retter der Partei vor Korruption und feigem Opportunismus, Oberwinder und seine Anhänger als verächtliche Lumpen oder Schwächlinge, die aus den Reihen der Arbeiterschaft zu entfernen, unerlässliche Pflicht jedes tüchtigen Sozialisten sei. Den Radikalen schloss ich mich an und ihre Denkart entsprach vollkommen der meinen. Wir haben gesehen, dass meine neuen Parteigenossen vom ersten Moment unseres Zusammenseins an mir unbeschränktes Vertrauen entgegenbrachten, keinerlei Karenzfrist verlangten, um mich auf Herz und Nieren zu prüfen. Das beruhte auf vollster Gegenseitigkeit. 2

Bd II, S. 241 f. B.K.

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Von der ersten Stunde meiner persönlichen Fühlung mit der Partei an fühlte ich mich in ihr heimisch, als hätte ich schon jahrelang in ihr gelebt. Das Milieu, in das ich geriet, war mir ein ganz neues, unbekanntes. Mir hatte etwas vor der persönlichen Bekanntschaft mit den Parteigenossen gebangt. Vielleicht seien sie doch so tiefstehende Menschen, wie die bürgerliche Presse sie schilderte. Um so grösser meine Freude, als ich sofort herausfand, wir seien ein Herz und eine Seele. Natürlich war ich nicht so töricht, von jedem meiner Genossen zu erwarten, ihm seien alle Tugenden eigen und kein einziger Fehler, sie seien wahrhafte Musterknaben. Ich selbst fühlte mich nicht als solcher. Und es hätte mich nur bedrückt, sie salbungsvolle Ethik predigen zu hören. Gerade ihre Einfachheit und Natürlichkeit zog mich an, die aber nicht in engstirnigem Philistertum unterging, sondern bei aller Beengtheit der Verhältnisse, in denen sie lebten, stets auf grosse weite Ziele gerichtet war. Und seitdem bis heute bei allen den vielen Wechselfällen, die die Partei und ich erlebt, gab es nie auch nur einen Moment, in dem ich versucht gewesen wäre, an ihr zu zweifeln. Nicht nur meine Ideale sind unverrückt die gleichen geblieben, sondern nicht minder mein Vertrauen zu dem Mittel, das zur Erreichung dieser Ideale führen sollte, zu der demokratisch organisierten Arbeiterpartei, mit dem Ziele, die Demokratie und in der Demokratie die politische Macht zu gewinnen. Ich kann es nicht leugnen, dass ich mich sehr oft über die Partei geärgert habe, über die im eigenen Lande und über Bruderparteien. Mein Vertrauen zur Sozialdemokratie war kein unkritisches, blindes. Aber nie in den bisher 62 Jahren meiner Tätigkeit in der sozialdemokratischen Partei bin ich einer andern Organisation begegnet, die in höherem Grade mein Vertrauen nicht einmal vorübergehend gewonnen hätte. d. Meine ersten

Parteifreunde.

Der Schriftsetzer Johann Schwarzinger war der erste Parteigenosse, den ich persönlich kennenlernte. Er wurde mir bald mehr als ein Parteigenosse, ein lieber Freund. Noch näher kam mir sein Schwager, Josef Bardorf, ein Färber. Schwarzinger und Bardorf hatten Schwestern geheiratet. Als ich sie kennenlernte, bewohnten beide Familien eine gemeinsame Wohnung, doch gaben sie diese bald nachher auf, denn Schwarzinger übersiedelte nach Wiener-Neustadt, um dort die Redaktion der Wiener „Gleichheit" an Stelle des Schriftsetzers Robert Wagner zu übernehmen. Schriftsetzer wurden damals besonders gern zu Redakteuren von Parteiblättem gemacht. Schon aus ökonomischen Gründen. Ein Wochenblatt und erst recht ein vierzehntägiges, konnte 314

der Schriftsetzer-Redakteur nicht bloss schreiben, sondern auch setzen. Der höchst dürftige Redakteursgehalt wurde erheblich aufgebessert durch den Setzerlohn — übrigens sollte man die Bezahlung des Redakteurs ebenfalls als Lohn bezeichnen, denn sie geschah wie die des Setzers wöchentlich. Doch auch aus andern Gründen waren Schriftsetzer als Redakteure bevorzugt. Ihr Beruf machte sie vertraut mit der Literatur und befähigte sie von allen Proletariern am ehesten zu literarischer Tätigkeit. Bardorf blieb in Wien. Schon das bewirkte, dass ich mit ihm weit öfter zusammenkam als mit Schwarzinger. Unser Verhältnis nahm aber auch einen wärmeren Charakter an. Die beiden Schwäger erschienen mir damals gleich intelligent, gleich wissensdurstig, gleich unserer Sache ergeben. Schwarzinger mehr belesen und schriftgewandt. So gut Bardorf zu sprechen wusste, die Feder meisterte er nicht. Er war dafür aber auch weit bescheidener und einfacher als Schwarzinger, der dazu neigte, das Bewusstsein geistiger Überlegenheit zur Schau zu tragen. Beide etwas älter als ich, schon seit Jahren in der Partei tätig, führten sie mich in die Geschichte der Partei ein, machten mir das Wesen des Proletariats und seiner Klassenkämpfte klar. Ich habe in dieser Beziehung viel von ihnen gelernt. Eine nicht minder prächtige Persönlichkeit, die mich bald sehr anzog, war der Tapezierer Louis Werner, ein Württemberger, dem das dornenvolle Amt der Geschäftsverwaltung der „Gleichheit" zugewiesen war, d.h. die Aufgabe, die ständige Leere ihrer Kasse durch irgendwelche Transaktionen zu überwinden, Kreditoperationen oder Pumpversuche, etwa bei Gewerkschaften oder Krankenkassen und dergleichen. An sich selbst dachte er dabei zuletzt. In einem kritischen Moment rettete er die „Gleichheit" für die Partei dadurch, dass er das Erbteil, das er von seiner Mutter zu erwarten hatte, locker machte und es der Partei schenkte. Leider vermochte ich nicht in engere Beziehungen zu ihm zu kommen. Als „lästiger Ausländer" wurde er im Laufe des Jahres 1876 aus Österreich ausgewiesen. Er wandte sich nach Leipzig, wo er bei dem aufblühenden „Vorwärts" Beschäftigung fand. Als ich 1877 dorthin kam, wurde er mein Cicerone in der Partei. Bald darauf verjagte ihn das Sozialistengesetz aus 1 Deutschland. Er ging übers Meer und wurde in Philadelphia Redakteur unseres dortigen täglichen deutschen Organs. Er gewann auch dort Ansehen und Beliebtheit. Neben den genannten sehr nahe kam mir der Musiker Josef Scheu, der älteste der drei Brüder, 1841 geboren. Und der älteste nicht nur der Brüder Scheu, sondern der älteste unter den Parteigenossen, die i

In der Abschrift steht „nach". B.K.

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ich damals persönlich kennenlernte. Wir Genossen bildeten damals noch eine sehr jugendliche Gesellschaft. Mit dem Elan und der Zuversicht, allerdings auch der Unerfahrenheit der Jugend. Die österreichische Sozialdemokratie selbst war erst sieben Jahre alt, als ich ihr beitrat — eine Zeitlang der Jüngste unter den Genossen. Die Brüder Scheu spielten nicht bloss persönlich, sondern auch politisch aufs engste zusammen. Andreas war durch Temperament, Fähigkeit, Belesenheit der bedeutendste unter ihnen. Begeistert und bedenkenlos folgten sie ihm. Direkt betätigte sich allerdings Josef gar nicht in der Partei. Es waren wohl nicht bloss Rücksichten auf seine Stellung als Mitglied des Orchesters im Kaiserlichen Burgtheater und als Klavierlehrer in reichen Familien, die ihn bewogen, der Partei fernzubleiben, als vielmehr Unlust gegen öffentliches Auftreten. Bei keiner Parteiveranstaltung habe ich ihn gefunden, ausser gelegentlich bei einem Arbeiterball. Trotzdem war er in kleinen Zirkeln unermüdlich für unsere Sache tätig und übte dadurch grossen Einfluss auf die Parteitätigkeit schon durch das Gewicht seiner eigenen geistigen Persönlichkeit, noch mehr aber durch das Prestige, das sein Bruder Andreas gewonnen, als dessen Wortführer er galt, und mit Recht. Durch seine Vermittlung kam ich in brieflichen Verkehr mit Andreas, der seit dem Sommer 1874 in London weilte. Dessen Briefe, glänzend geschrieben, erhoben und beglückten mich. Sie bildeten jahrelang meinen Kompass, der meine Haltung in der Partei bestimmte. Erst das Sozialistengesetz brachte hierin einen Wandel. Da begann ich politisch selbständig zu werden und kritisch. Von da an stellte ich mich auf eigene Füsse. Von meinen Wiener Parteifreunden war Josef Scheu jedenfalls der gebildetste, mit einer Ausnahme, von der ich noch reden werde. Mir als dem Kinde einer Künstlerfamilie, der selbst in einige Künste hineinpfuschte, wurde er nicht weniger als durch den Radikalismus und seine Verehrung für den grossen Bruder dadurch sympathisch, dass er selbst ein Künstler war und seiner Kunst nicht weniger ergeben als der Sache des Proletariats. Wenn ich ihn besuchte, was meist an einem Sonntagnachmittag geschah, besprachen wir nicht bloss immer die Parteiereignisse der Woche. Sehr oft wurde Josef des trocknen Tones satt, er berichtete mir über seine neuesten Kompositionen, meist Vertonungen Heinescher Gedichte, und sang sie mir vor. Leider gehörte Musik zu den Künsten, denen ich am wenigsten nahegekommen war, wohl aus angeborenem Unvermögen. Meine Eltern hatten mir als Kind Unterricht im Klavierspielen erteilen lassen, doch bald es aufgegeben, mich weiter damit zu quälen, als mein Lehrer völlige Talentlosigkeit bei mir konstatierte. Aber wenn ich auch zum ausübenden Musiker nicht taugte und auch mein Ver316

ständnis als aufnehmender Musikhörer nicht entwickelt worden war, konnte ich mich doch an manchem Musikstück naiv erfreuen, und Josefs Kompositionen gefielen mir sehr. Es heimelte mich aber auch an, dass er als Klavierlehrer in Kreise kam, für die ich als Künstlerssohn ebenfalls Interesse empfand. So konnte ich mit ihm über vieles reden, wofür bei den andern Parteigenossen die Vorbedingungen fehlten. Unsere Zusammenkünfte wurden mannigfacher und anregender als die mit meinen sonstigen Parteifreunden. Aber freilich, über die proletarische Psyche, über das proletarische Streben und Trachten erfuhr ich von den andern mehr als von ihm. Übrigens war die ganze „Dynastie" Scheu, wie Oberwinder die Brüder betitelte, von künstlerischen Interessen erfüllt. Heinrich war Holzschneider, ehedem eine sehr wichtige Kunst, Andreas war Vergolder, Zeichner, Modelleur. In London, wo er lange keine Gelegenheit fand, sich politisch zu betätigen, sollte sich seine künstlerische Ader stark entwickeln. Die beiden im Kunstleben Englands um die Jahrhundertwende am meisten hervorragenden Sozialisten Englands, William Morris und Bernhard Shaw, lernte ich durch Scheu näher kennen, nicht aber durch Engels. Auch mit Walter Crane war Scheu befreundet. Den lernte ich leider nicht kennen. Auch von den Proletariern Wiens kamen mir jene besonders nahe, die künstlerisch tätig waren: die Bildhauer. In Ermangelung von politischen Vereinen (auch der Arbeiterbildungsverein war eine Zeitlang lahmgelegt) übernahmen in Österreich die Gewerkschaften manche Funktionen, die nicht zu ihren Aufgaben gehören, darunter auch die der politischen und wissenschaftlichen Bildung der Mitglieder. Meine Vortragstätigkeit, die sich eine Zeitlang recht lebhaft gestalten sollte, spielte sich fast ausschliesslich in Gewerkschaften ab. Später auch im Arbeiterbildungsverein. Diejenige Gewerkschaft, in der ich die meisten Vorträge hielt, war die der Bildhauer. Dadurch kam ich in engere persönliche Beziehungen mit vielen von ihnen, namentlich mit Ludwig Bretschneider, dessen Wissensdurst und Umsicht, die sich mit Unerschrockenheit paarte, mich schon frühzeitig anzog. Neben ihm war es sein Berufskollege Ferdinand Leissner, der mir ein lieber Freund wurde. Er wurde mir besonders wert dadurch, dass er 1879 eine Gefängnisstrafe von zwei Monaten meinethalben absitzen musste. Zum Glück in den zwei Menschenaltern meiner Parteitätigkeit die einzige Bestrafung eines Genossen, die mir zur Last fällt. Davon später noch mehr. Noch zwei Genossen sind zu nennen, für die ich mich in den ersten Jahren meiner Parteitätigkeit besonders interessierte. Der eine von ihnen war der Schriftsetzer Robert Wagner (geboren 1845), Mitglied der Partei fast seit ihren Anfängen. Schon im Jahre 1871 be317

richteten eifrige Polizisten über seine Agitationen unter den Arbeitern Kärntens und Krains. Im Streit Oberwinder-Scheu schloss er sich diesem an. Eine Zeitlang war er Redakteur der „Gleichheit". Als ich der Partei beitrat, wirkte er noch in dieser Eigenschaft in WienerNeustadt. Erst als ihn Schwarzinger dort ablöste, kam er nach Wien. Dort lernte ich ihn verhältnismässig spät kennen, denn wegen eines Gebrechens, er war in hohem Grad schwerhörig, besuchte er keine Versammlungen. Das nützte ihm insofern, als er mehr Zeit zur Lektüre fand als sonst die leitenden Persönlichkeiten der Partei. Hochintelligent, enthusiastisch, unermüdlich, zeichnete er sich noch durch eine ungewöhnliche Belesenheit aus. Freilich machte ihn seine Taubheit unfähig, die Funktion eines Führers nach allen Seiten zu erfüllen, aber als Redakteur war er geschätzt und gesucht. Bei verschiedenen Neugründungen von Zeitungen, die unternommen wurden, dachte man zuerst an ihn und er füllte seinen Platz stets sehr gut aus. Es war nicht seine Schuld, sondern die der desolaten Verhältnisse jener Zeit, wenn keine dieser Neugründungen ein hohes Alter erreichte. Einmal machte ich sogar die Entdeckung, dass Wagner in persönlichen Beziehungen zur schönen Literatur stehe. Es war 1877, meine Familie hatte damals eine Sommerwohnung in dem Schloss Feistritz bei Krieglach bezogen. In Krieglach selbst wohnte P. K. Rosegger, damals schon ein angesehener Dichter. Sehr oft kam er nach Feistritz, da ihn die Familie des Schlossbesitzers Knauer interessierte. Später hatte er dessen älteste Tochter geheiratet. Bei seinen Besuchen im Schloss lernte er meine Mutter und mich kennen, und wir verlebten mit ihm dort manche interessante Stunde in angeregtem Gespräch. Ich berichtete darüber an Wagner, mit dem ich während der Ferien in reger Korrespondenz stand. Er antwortete mir, Rosegger sei ihm ein lieber Jugendfreund. Mein Brief regte ihn an, nach Krieglach zu fahren, um die alte Freundschaft wieder aufzufrischen. Die beiden kannten sich seit 1864. Wagner war 1 damals Setzerlehrling in Graz, seit drei Jahren. Sein Vater, Beamter der Südbahn, hatte ihn die Realschule besuchen, aber wegen Mangels an Mitteln nur die Unterrealschule absolvieren lassen; darauf liess er den wissensdurstigen Sohn Setzer werden. Rosegger, zwei Jahre älter, Sohn eines Bauern, hatte sich das Schneiderhandwerk zum Beruf erwählt, war 1864 Schneidergeselle. In der damals so miserablen Volksschule hatte er nur eine höchst dürftige Bildung genossen, trotzdem entwickelte sich bei ihm früh schon dichterischer Drang. Die Grazer „Tagespost" berichtete schon 1864 über ihn als einen „steirischen Volksdichter". 1

In der Abschrift steht „Waren aber". B.K.

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Wagner las den Artikel, wurde von herzlichster Sympathie für den jungen Dichter erfüllt und schrieb ihm sofort einen Brief, der ein höchst herzliches Verhältnis zwischen den jungen Leuten einleitete. (Vergleiche darüber den Artikel I. L. Roseggers, des Sohnes des Dichters, betitelt: „Freivogel" im „Heimgarten".) In dem Briefwechsel zwischen ihnen nannte sich Wagner „Freivogel" und Rosegger „Felsen". Die Bezeichnung stimmte insofern, als Wagner stürmisch nach Freiheit verlangte und sich nach weiter Aussicht zu erheben trachtete, indes der konservative Rosegger gleich einem Felsen an der Scholle klebte. Dieser Gegensatz trat zutage, als der Schriftsetzer sich der Arbeiterbewegung begeistert anschloss, indes der Dichter von der liberalen Presse gefördert, durch die revolutionären Anschauungen des Freundes erschreckt wurde. Seit 1869 gingen ihre Wege auseinander. Doch in den vorhergehenden Jahren hatten sie sich so eng aneinander angeschlossen, dass es nie zum Bruch zwischen ihnen kam, die persönliche Sympathie unvermindert blieb. Als Wagner 1877 zu uns nach Feistritz kam, sassen wir beide mit den Knauerschen Kindern und einigen Sommergästen fröhlich beisammen. Robert Wagner tauchte unerwartet in unserer Mitte auf. Da begrüssten sich sofort die alten Freunde aufs herzlichste. Wagner blieb in unserer Mitte und es begann ein lebhaftes Erzählen. Doch darauf beschränkten wir uns nicht. Es gab bald eine politische Diskussion. Siegesgewiss liess Rosegger sich auf eine Debatte über den Sozialismus mit uns ein. Dabei wurde er jedoch bald in die Enge getrieben, da wir unsern Gegenstand kannten, seit Jahren eifrig studiert und durchdacht hatten, während der Dichter ihm ahnungslos gegenüberstand, nur auf ein paar liberale Gemeinplätze gestützt, die ihm bei seiner Zeitungslektüre gelegentlich zugeflogen waren. Jedoch mochte Rosegger sich innerlich doch uns überlegen fühlen. Disputationen über Grundsätze bringen fast nie eine Entscheidung. Auf jeden Fall endete das Zusammensein trotz der Debatte in Freundschaft und Frohsinn. Es war das letzte Zusammensein der beiden. Wagner war nicht bloss schwerhörig, sondern auch, was viel schlimmer war, tuberkulös. Trotz seiner Krankheit hatte er geheiratet, doch die Ehe kurierte ihn nicht, verschlechterte eher sein Übel. Vor allem setzte ihm seine chronische Notlage zu. Am 29. Januar 1879 schrieb er noch an Rosegger, dass er den Sommer des vorigen Jahres oft nur sechs bis acht, höchstens neun Gulden die Woche verdient habe und damit sollte er nun sich nicht nur, sondern auch eine Frau und zwei Kinder erhalten. Er hielt es für eine Rettung, als er die Redaktion des Parteiorgans, der „Sozialist", erhielt, mit einem Gehalt von ganzen 14 fl. wöchentlich. Mit solchen Mitteln eine Tuberkulose zu kurieren, war unmöglich. Am 5. August 1879 starb er, wie die Todesanzeige 319

besagte, war er „nach Empfang der hlg. Sterbesakramente selig in dem Herrn entschlafen". Es war offenbar seine höchst beschränkte Frau, die ihm dieses Ende angetan hat. Seinem frühen Tode ist es neben seiner Taubheit zuzuschreiben, dass er trotz seiner hohen Begabung den Massen wenig bekannt geworden und keine länger dauernde Erinnerung an sein Wirken hinterlassen hat. Ich persönlich vermisste ihn schmerzlich. Er war nicht nur ein feiner und aufrechter Charakter, vor allem beseelt von Wissensdurst und Wahrheitsdrang, sondern auch eine hohe Intelligenz. Ich verdanke ihm manche wertvolle Anregung und Befruchtung meines Denkens. Die meisten Parteifreunde fand ich naturgemäss in Wien. Doch die Feiertage verbrachte ich fast stets ausserhalb der Grossstadt und ich benutzte die Gelegenheit, auch mit den Genossen auf dem flachen Lande Beziehungen anzuknüpfen, sofern sie das Parteiorgan bezogen und ich auf diese Weise ihre Adresse erfahren konnte. Auf diese Weise lernte ich nicht wenige ausserordentlich tüchtige Menschen kennen. Es gehörte damals schon in Wien ein aussergewöhnlicher Idealismus, gepaart mit Zähigkeit und Mut dazu, bei der Partei zu bleiben, angesichts ihrer Schwäche und der Verfolgungen, denen sie ausgesetzt war. Doch weit grössere Anforderungen wurden an die Genossen in kleinen Städten oder gar Dörfern gestellt, angesichts ihrer Vereinsamung. Gerade aus diesem Grunde schlössen sie sich aber um so inniger an jeden Neuankömmling an, der den Glauben an das neue Evangelium mit ihnen teilte und ihnen von der Bewegung in anderen Gegenden zu erzählen wusste, in denen sie nicht stockte, sondern vorwärtsging, wie es vor allem im Deutschen Reich der Fall war. Zuerst machte ich diese Erfahrung in Waidhofen a.d. Ybbs, wo ich den Juli und August 1876 verbrachte. Eine Reihe prächtiger, wissensdurstiger und selbstloser Menschen lernte ich da kennen, unter ihnen der intelligenteste und energischste, der Drechsler Baumhauer. Auch seine Frau Kreszenzia war eine begeisterte Genossin, was damals leider noch eine seltene Ausnahme war. Dankbar und jubelnd empfingen mich die Waidhofener Genossen, und doch hatte ich ihnen nichts zu geben, nicht einmal einen Vortrag. Einen andern Verein als eine Krankenkasse hatten sie nicht. In deren Rahmen war nicht einmal der unpolitischste Vortrag gestattet. Ich veranlasste die Genossen zu dem Versuch, einen Arbeiterverein zu gründen, liess mir die Statuten von andern, behördlich bewilligten Vereinen kommen, besprach und beriet sie mit den Genossen und arbeitete daraufhin ein Statut aus, das der K.K. Niederösterreichischen Statthalterei eingereicht wurde. Diese lehnte den Verein prompt ab (1. September 1876 als „Gesetz-

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widrig"). Was war nicht alles gesetzwidrig in diesem von bewilligten Vereinen abgeschriebenen Statuten. Als Zweck dieses Vereins war angegeben die Förderung der Interessen seiner Mitglieder durch gesetzliche Mittel unter „Ausschluss der Behandlung aller politischen und religiösen Fragen". Aber das genügte nicht. Der Paragraph 2 d sah vor, „die Unterstützung der Mitglieder in Fällen der Arbeitslosigkeit" und Paragraph 2 f wollte dem Verein das Recht geben, zur Herbeiführung „gegenseitiger Behandlung der Mitglieder in Unterstützungsfragen", mit anderen Vereinen gleicher Tendenz in Verbindung zu treten. Das erklärte der Herr Statthalter für „gesetzwidrig", „weil nähere Bestimmungen darüber fehlen," wie die Verständigung herbeizuführen sei! Ebenso bedenklich erschien es, dass § 18 der Statuten bestimmte, säumige Vereinsschuldner könnten durch öffentliche Bekanntgabe zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten angehalten werden. Der Statthalter erklärte, dies kann unter Umständen gesetzwidrig werden und „darum sei es von vornherein gesetzwidrig." Natürlich wurde von vornherein nicht gefordert, die beanstandeten Bestimmungen seien aus den Statuten zu entfernen. Sondern es wurde gleich der ganze Verein untersagt. Man wollte eben keinen Arbeiterverein. Das war der einzige praktische Erfolg meiner Tätigkeit in Waidhofen. Er wurde glücklicherweise für mich moralisch mehr als wettgemacht durch höchst erhebende Eindrücke der Liebe und des Zutrauens, die ich von dort heimbrachte. Den nächsten Sommer verbrachte ich in Feistritz bei Krieglach; dort gab es damals noch keine Genossen, oder wenn es welche gab, habe weder ich noch Robert Wagner, der mich dort besuchte, wie eben berichtet, etwas von ihnen erfahren. Um so reicheres Arbeiterleben fand ich im Jahr darauf 1878 in Hallstatt. Bergwerke liegen zumeist in schwer zugänglichen Gegenden. Fern von schiffbaren Flüssen und sonstigen Verkehrsstrassen. Das schloss in neuerer Zeit die Bergarbeiter oft ab von der übrigen Arbeiterbewegung, verzögerte ihren Anschluss an diese. Vordem aber erleichterte diese Abgelegenheit der Bergwerksgegenden die Erhaltung der Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Bewohner, und die Art ihrer Beschäftigung verlieh den Bergarbeitern Kühnheit und technisches Geschick. Das machte im Zeitalter der Reformation die Bergarbeiter zu den streitbarsten Anhängern des Protestantismus. Das galt auch für den Salzbergbau im Salzkammergut. Die Arbeiter der Bergwerke und Sudstätten im Tal der Traun von der Quelle bis zum Traunsee, von Aussee, Hallstatt, Goisern, Ischl bis Ebensee wussten in der Zeit der Gegenreformation ihren Protestantismus zu wahren, 321

als mit Blut und Eisen die ganze Umgebung katholisch [gemacht] wurde. Auch weiterhin wussten sie ihren hellen und kritischen Sinn zu bewahren. Sie sind protestantisch bis auf den heutigen Tag. Trotz dem modernen Staatswesen, das aus den Salzbergwerken staatliche Monopole machte und ihre Arbeiter einer strengen disziplinierten staatlichen Bürokratie unterwarf. Im Jahre 1848 wurden jene Gegenden ein Zentrum freiheitlicher, namentlich antiklerikaler Bewegung, und seit 1869 fand dann wieder die Lehre des Sozialismus schnell Eingang bei den Arbeitern der Berg- und Sudwerke des Salzkammerguts. Die dem politischen und dem Monopolcharakter der Betriebe am besten angepasste Form der Arbeiterorganisation war dort die des Konsumvereins. Der Hallstätter Konsumverein, den ich näher kennenlernte, war vorbildlich organisiert und geleitet. Er vermittelte den Hallstättern den Erwerb preiswerter, solider Erzeugnisse der Industrie, aber auch von Nahrungsmitteln, die in der felsigen unfruchtbaren Gegend nicht gediehen. Um 1878 konnten auch Nichtmitglieder im Konsumverein kaufen. Daher profitierte die ganze Bevölkerung von Hallstatt von ihm, samt Sommergästen und Passanten. Ich erinnere mich, dass eines Tages ein Trupp Hofschauspieler nach Hallstatt kam, der am nahen Grundlsee die Ferien verbrachte. Wie sooft am Fusse des Dachsteins kam über die Ausflügler plötzlich ein ausgiebiger Regen. Da flüchtete einer der Schauspieler, Ernst Hartmann, in den Konsumverein und erstand dort einen Regenschirm. Triumphierend wies er seinen Einkauf vor, rühmte die Billigkeit und Güte des Schirms. Aber nicht nur materielle Güter vermittelte der Verein der Bevölkerung. Indirekt bemühte sich seine Leitung, ihr höheres Wissen, neuere Ideen zugänglich zu machen. Der Obmann des Vereines war der Bergarbeiter J. (wenn ich nicht irre Josef) Viertbauer. Ebenso klug und wissensdurstig wie mannhaft und kühn, wusste er sich trotz aller Schikanen und Massregelungen durch tückische Vorgesetzte zu behaupten. Er hielt und verbreitete das Parteiorgan (1878 „Der Sozialist"). So bekam ich sofort seine Adresse und trat in Verbindung mit ihm. Wir fanden Gefallen aneinander, jeder hatte dem andern viel zu geben. So schlössen wir bald herzlichste Freundschaft. Und diese erstreckte sich nicht bloss auf mich. Ich kam nicht wieder zu längerem Aufenthalt nach Hallstatt, meine Mutter aber verlebte dort noch manchen späteren Sommer. Sie setzte unsern Freundschaftsbund fort und blieb mit Viertbauer auch in dauernder Korrespondenz — ich habe Briefe von ihm noch aus dem Jahre 1887 vorgefunden. Meine Mutter hat die Zustände der Salzarbeiter mit seiner Hilfe eingehend studiert und in mancher ihrer Arbeiten zur Darstellung gebracht. Sie lernte auch sehr gut noch einen andern einsamen Kämpfer jener 322

Gegenden kennen, die bis 1878 vom Weltverkehr ganz abgeschlossen waren. Gerade in diesem Jahr, in dem wir zum ersten Mal hinkamen, wurde die Eisenbahn dort eröffnet. Dieser andere Kämpfer war der freidenkerische Bauernphilosoph Konrad Deubler in Goisern, eine sehr interessante Persönlichkeit. Ich selbst kam nur einmal flüchtig mit ihm zusammen und kann um so eher davon absehen, hier ausführlicher von ihm zu reden, als der Züricher Professor Dodel ihm eine ausführliche Biographie gewidmet hat. Ganz in Vergessenheit ist dagegen bisher der Lebenslauf einer Persönlichkeit geraten, die für unsere Partei weit wichtiger war als Deubler. Mit ihm möchte ich mich daher ausführlicher beschäftigen. Es war der schon erwähnte Reinthal. e. Emil

Kaler-Reinthal.

Reinthal umgab eine Zeitlang die Mystik einer romantischen Abkunft. Er war ein Findelkind, hatte seinen Namen nach der Ortschaft erhalten, in der er gefunden worden. Ein Grazer Kleinmeister hatte sich des armen Wurms erbarmt, ihn zu sich genommen. Er wollte ihn ein Handwerk lernen lassen, doch der lerneifrige Knabe setzte es durch, unter den grössten Entbehrungen das Gymnasium zu absolvieren. Als aber Emil zur Universität kam, war er ganz auf sich allein angewiesen. Vielleicht starb der Pflegevater, vielleicht war er unzufrieden damit, dass der feurige Jüngling sich als Student der seit 1869 kraftvoll aufstrebenden Sozialdemokratie anschloss. Im Jahre 1872 hatte er in der Partei bereits so viel Ansehen gewonnen, dass er, wie schon berichtet, einigen Anhang fand, als er in Opposition gegen Oberwinder trat — früher als Scheu, der anfangs Reinthal zugunsten Oberwinders bekämpft hatte. Spaltung und Wirtschaftskrise machten dann 1873 die Partei bald klein und arm. Als Mann der Feder von der Parteiarbeit zu leben, wurde in Österreich damals fast ein unmögliches Beginnen. Auch Reinthal stand bald vor der Wahl: entweder die Parteitätigkeit aufgeben oder verhungern. Er zog das erste vor, wie bald nach ihm Andreas Scheu. Jener wie dieser verliessen Österreich, nicht um der Partei den Rücken zu kehren, sondern um neue Kräfte für die Parteiarbeit zu gewinnen. Während aber Scheu dauernd seiner Heimat fernblieb, ein tätiger Sozialdemokrat in England wurde, hielt es Reinthal nicht lange fern von der österreichischen Partei aus. Schon anfangs 1873 verliess Reinthal Wien, Scheu ging erst im Juni 1874. Reinthal begab sich nach Deutschland. Sonderbarerweise wendete er sich dort nicht zur Parteipresse, die allerdings sehr arm war, wenn auch nicht so hochgradig wie die österreichische. Er fand ein Unterkommen bei einem farblosen Lokalblättchen in Nordhausen. Dass es 323

ihm dort auf die Dauer nicht behagte, ist nicht zu verwundern. In Wien erhofften die Genossen auch, die Partei werde einen neuen Aufschwung nehmen, wenn ihre besten Köpfe wieder zurückkämen. Im Mai 1875 veranstalteten die österreichischen Genossen einen Parteitag in Marchegg. Sowohl Scheu wie Reinthal waren zur Teilnahme an ihm geladen. Scheu kam nicht, wohl aber Reinthal, der von da an wieder in Österreich wirkte und sich völlig der Arbeit in der Partei widmete, in 1 der er bald eine führende Stellung erlangte, dank seinem Wissen, seiner rednerischen und schriftstellerischen Begabung, seiner selbstlosen Hingabe an unsere Sache. Freilich, die Partei auf einen grünen Zweig zu bringen, vermochte auch er nicht. Das hätte unter den damaligen Verhältnissen das grösste Genie nicht erreichen können. Freudig, mit grossen Erwartungen, begrüsste ich ihn. War er doch unter den Genossen in Wien der einzige höher gebildete, mit dem ich zusammenkam, mit dem ich hoffte, viele Fragen der Theorie, die mich beschäftigten, erörtern zu können und von ihm Belehrung darüber zu erhalten. Indes wurde mein Verhältnis mit Reinthal, wenn auch ein freundschaftliches, nie ein so herzliches wie mit meinen andern bereits erwähnten Parteifreunden. Das mag zum Teil daran liegen, dass der Zeitraum meines persönlichen Verkehrs mit den andern ein viel längerer war als die Zeit seines Aufenthaltes in Wien. Mit den andern stand ich in ständigem und stetigem Kontakt von meinem Eintritt in die Partei bis zum Verlassen Österreichs — Januar 1875 bis Januar 1880 —, Reinthal lernte ich erst im Sommer 1875 kennen, und im Januar 1878 wurde er aus Wien ausgewiesen. Doch fand mein regelmässiger persönlicher Verkehr mit ihm schon früher ein Ende, denn im April 1877 wurde er zu einer längeren Haftstrafe verurteilt, aus der er im Januar 1878 herauskam, um gleich darauf aus Wien polizeilich „abgeschafft" zu werden. Seitdem habe ich ihn nur noch gelegentlich gesehen. Also mein regerer Verkehr mit ihm dauerte nur zwei Jahre. Immerhin hätte dieser Zeitraum genügt, zwei fast gleichaltrige — er war nur um einige Jahre älter — und gleichstrebende junge Männer zu einem innigen Freundschaftsbund zu vereinigen, wenn wir kongenial gewesen wären. Doch das traf keineswegs zu. Wohl huldigten wir damals dem gleichen verschwommenen eklektischen Gefühlssozialismus, aber dennoch hatte er bei ihm eine andere Färbung als bei mir. Ich war eingefleischter Materialist, er dagegen kam von Deutschland als Gegner des Materialismus zurück. Eine der ersten Vortragsserien, die er damals bei den Bildhauern hielt, galt der Bekämpfung des 1

In der Abschrift steht „von". B.K.

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Materialismus. Er trug über die Geschichte des Materialismus vor, wohl in Anschluss an Albert Langes gleichnamiges Werk, dessen zweite Auflage eben erschienen war. Reinthal war vor allem Ethiker, ich dagegen wendete mich damals unter dem Einfluss des Marxschen „Kapital" mit voller Kraft dem Studium der politischen Ökonomie zu, das mich schliesslich dem Marxismus entgegenführen sollte. Auf diesem Gebiete hatte mir Reinthal gar nichts zu sagen. Er enttäuschte mich sehr, wenn ich in ihm einen Lehrer zu finden hoffte. Auf dem Weg zum Marxismus bin ich ihm vorangegangen, ein begeisterter Marxist wurde er nie. Aber noch mehr als in der Theorie zeigten sich in der Praxis der Partei hie und da Differenzpunkte zwischen uns. Wie schon gesagt, erlangte er in der Partei bald eine führende Stellung, nachdem Tauschinsky unmöglich geworden war. Ich war weit entfernt davon, ihm diese Stellung bestreiten zu wollen. Ich selbst verspürte nicht die mindeste Eignung zum Parteiführer, war stets sehr glücklich, wenn sich in der Partei ein Mann fand, der dazu taugte, dem ich mein Vertrauen und meine Unterstützung geben konnte. Ich kam auch bald zur Uberzeugung, dass Reinthal anderen führenden Persönlichkeiten unserer Partei überlegen sei. Aber mitunter vermochte ich seiner Politik doch nicht zu folgen, ich wendete mich gegen sie. Heute weiss ich, dass ich dabei nicht immer im Recht, sehr oft er der Klügere war. Damals aber trugen solche Differenzen dazu bei, unser Verhältnis zu trüben. Ich gehörte zu der Richtung, die ihren Leitstern in dem abwesenden Andreas Scheu sah, zwischen diesem und Reinthal bestand aber eine starke persönliche Abneigung, noch aus der Zeit her, da dieser Oberwinder bekämpft und jener ihn verteidigt hatte. Reinthal mochte meinen, ich habe von Scheu diese Abneigung übernommen. Das stimmte in keiner Weise, doch fürchte ich, dass es ihn gegen mich misstrauisch machte. Persönlich schätzte ich ihn sehr hoch, wegen seiner Begabung, seines Wissens, seiner Unermüdlichkeit, seiner Überzeugungstreue. Die Hochschätzung wurde zur Sympathie, sobald ich merkte, ein wie tief unglücklicher Mensch der arme Reinthal war. Wahrscheinlich schon als schwächliches Kind geboren, hatte er nie etwas anderes erfahren als Not, Elend, Unsicherheit. Deren zerstörende Wirkung wurde noch verstärkt durch eine Fülle von Kerker strafen, die das elende „liberale" Regime auf ihn herunterhageln liess. Im November 1881 stand Reinthal in Mürzzuschlag vor Gericht, angeklagt wegen „Geheimbündelei", wofür er sechs Monate erhielt. In der Anklageschrift zählte der Staatsanwalt die Menge der Vorstrafen [auf], die der hartgesottene Sünder schon erlitten und die ihn doch noch immer nicht zu einem Verehrer der bestehenden Staatsordnung gemacht hatten. Schon 1872 war er zu drei Monaten verurteilt worden. 325

Dann kam eine Pause von fast zwei Jahren, die er ausserhalb Österreichs verbrachte. Zurückgekehrt erhielt er Haftstrafen, 1875, 1876, 1877 in Wien und dann eine längere in demselben Jahre in Graz. Zu Not und Kerkerhaft gesellte sich Einsamkeit. Keiner Familie gehörte er an. Nie hatte ein Mutterauge über ihn gewacht, keine Gattin half ihm sein Leid tragen. Wohl meldete sich in dem für ihn und auch für die Partei so ereignisreichen Jahr 1877 seine Mutter. Der Grund, der sie bewogen hatte, ihr Kind zu verheimlichen, war weggefallen, wenn ich nicht irre, durch den Tod des Gatten, der von der Existenz des vorehelichen Kindes nichts erfahren durfte. In der obenerwähnten Anklageschrift von 1881 wird behauptet, „Emil Kaier auch Reinthal genannt ist der uneheliche Sohn einer Dienstmagd". Hybesch dagegen behauptet in seinen „Erinnerungen" (1900), dass Reinthals Mutter einem altadeligen Geschlecht entstammte. Als der Wiener Polizeidirektor dem „Verbrecher" seine Ausweisung aus Wien ankündigte, fügte er hinzu, Reinthal sei jetzt ein Edler von Kaier und als solcher nach Graz zuständig. Wir alle hofften, das Zusammensein mit seiner Mutter werde sehr wohltätig auf Reinthal wirken. In Wirklichkeit blieb alles, wie es war. Mutter und Sohn scheinen keinen Gefallen aneinander gefunden zu haben. Der Sohn sprach nie von ihr. Nur eines änderte sich: die Polizei glaubte, den Einfluss, den der Wortführer auf die Massen gewonnen hatte, zu vermindern, wenn er nicht mehr den Namen tragen dürfte, unter dem er sieben Jahre lang mit ihnen gekämpft. Die Polizei drohte, ihn öffentlich nicht zu Wort kommen zu lassen, wenn er sich nicht als Kaier meldete. Das kennzeichnet die erbärmliche Kleinlichkeit und Dummheit der damaligen Polizei. Reinthal schlug den hochmögenden Herrn ein Schnippchen, indem er sich nunmehr „Kaler-Reinthal" nannte. Doch liess er bald das Reinthal weg. Mein Verkehr mit ihm vollzog sich von da an fast nur noch durch Briefe. Bloss ausserhalb Wiens kamen wir noch gelegentlich zusammen — diese Briefe brachten uns einander nicht näher. Kaier, wie wir ihn von nun an nennen müssen, da er selbst sich so nannte, zeigte sich in seinen Briefen noch verschlossener als im persönlichen Verkehr. In diesem wurde die Zurückhaltung immer wieder durchbrochen durch die geradezu krankhafte Reizbarkeit des Mannes. Damals klagte er ständig über quälende Kopfschmerzen. Seine Stimmungen wechselten oft und leicht. Zu Tode betrübt war er sehr oft, jedoch leider nie himmelhoch jauchzend. Höchstens schwermütig lächelnde Melancholie war der Grundzug seines Wesens. Mitunter wurde sie gehoben durch stolze Zuversicht zur Partei, nur zu oft aufs höchste gesteigert zu völliger Mutlosigkeit. Seine hochgradige Empfindlichkeit war die Hauptschwäche, die es verhinderte, dass er ein guter Führer wurde,

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wozu ihn sonst seine Begabung sehr geeignet machte. Unter allen jenen, die seit dem Abgang des Andreas Scheu (1874) bis zu dem Auftreten Victor Adlers, ein Dutzend Jahre später, in ihr wirkten, wäre er sicher der beste Führer gewesen, den wir haben konnten, wenn er aus etwas derberem Stoff gebaut gewesen wäre. Indes gerade seine körperliche wie psychische Zartheit rührte und gewann ihm manchen Anhänger, der nicht immer mit seiner Politik einverstanden war. Allerdings gab es auch manchen, der sie nicht begriff und sein Wesen verurteilte. Er fand nicht wenige Gegner in der Partei schon deshalb, weil die taktischen Probleme nicht abrissen und gar mancher nicht einsah, dass die Stagnation der Partei in den Verhältnissen tief begründet sei, und meinte, man brauche bloss die richtige Taktik aufzufinden, und der Aufschwung der Partei komme sofort. Dass er nicht kam, wurde dem Einfluss Kaler-Reinthals zugeschrieben und dieser darob scharf angegriffen. Kaier aber konnte eine scharfe Klinge führen, wenn er gerade in der richtigen Stimmung war. Dann antwortete er nicht mit Klagen, sondern mit scharfen Ausfällen. Da er sich dabei als der geistig Überlegene erwies, wurden sie von den Kritikern sehr übel vermerkt. Aus ihrem Lager stammten wohl die Berichte, auf die sich Brügel in seiner „Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie" stützte, wo er von Kaler-Reinthal recht absprechend spricht. Er beschreibt zum Beispiel im dritten Band, Seite 79, den steten Niedergang der Partei Ende 1877 und bemerkt dabei: „Reinthal, der Störenfried in der Partei, bemühte sich, da ihm der Boden in Wien zu heiss geworden war, ausschliesslich „Provinzialpolitik" zu treiben und begab sich nach Graz. Doch auch hier geriet er infolge seines herrischen Wesens mit den führenden Parteigenossen in Konflikte, so dass auch dort sein Bleiben nicht lange war." Ein Störenfried, ein Stänker ist Kaier nie gewesen. Wenn er der erste war, der gegen Oberwinder opponierte, so geschah das aus jugendlichem Uberschwang und Voreiligkeit. Er tat nur vorzeitig, was die Masse der Partei später auch tat. Seit seiner Rückkehr aus Deutschland war er bald im Sinne der Einigkeit und der Beilegung von Gegensätzen tätig, durchaus nicht als Störenfried. Als „herrisch" habe ich ihn auch nicht kennengelernt. Dass er Angriffe zurückwies, kann man nicht gut als „herrisches Wesen" betrachten. Was aber die Provinzialpolitik anbelangt, auf die er sich konzentriert haben soll, nachdem ihm der „Boden in Wien zu heiss geworden war", so ist ihm tatsächlich der Boden in Wien nie zu heiss geworden, d.h. er verliess [ihn] keineswegs aus dem Grunde, weil die Missstimmung gegen ihn in der Partei dort zu stark gewesen wäre. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es nicht eine Missstimmung der Parteigenossen, sondern 327

ein Ukas der Polizei war, die ihn zwang, von Wien wegzugehen. Die Parteigenossen antworteten darauf am 14. Januar 1878 mit einem Abschiedsfest für den Scheidenden, dem sie ihr vollstes Vertrauen und ihre wärmste Sympathie aussprachen. Nur das Einschreiten der Polizei hinderte, dass der Abschied zu einer machtvollen Demonstration wurde. So berichtet Brügel selbst (III 106). Dass sich Kaier nun nach Graz wendete, war natürlich. War er doch dort aufgewachsen und kannte daher die dortigen Verhältnisse aufs beste. Aber „Provinzialpolitik" trieb er dort nicht. Er blieb in Verbindung mit den Wiener Freunden und der Politik der Gesamtpartei. Es ist richtig, dass dort „seines Bleibens nicht lange war", doch nicht wegen eines Konflikts mit den führenden Genossen. Ich kam im Januar 1880 nach Zürich und sah dort, wie gerne Höchberg aufstrebende Parteitalente unterstützte. Ich bedauerte, dass die reichen geistigen Gaben Kaiers in einer kleinen Provinzstadt unbenützt brachliegen sollten, und veranlasste Höchberg, dass er Kaier einlud, nach Zürich zu kommen, um dort für die Partei tätig zu sein. Also ich war der Schuldige, der damals Kaier von Graz und Österreich überhaupt weglockte. Doch nicht für lange. Ihm behagte es in Zürich nicht so sehr wie mir. Er gehörte zu denen, die heimatlichen Boden unter den Füssen haben müssen, um tüchtig wirken zu können. Nach wenigen Monaten wendete er sich wieder nach der Steiermark, wo ihn die Genossen, die ihn angeblich vertrieben, freudig aufnahmen. Noch freudiger allerdings nahm ihn die Polizei in Empfang. Unter den damaligen Wortführern der Partei war Kaier wohl der am wenigsten gewalttätige, und doch haben Polizei und Gerichte keinen so sehr verfolgt wie ihn. So wurde er auch schon im August 1881 wieder bei einer geheimen Versammlung in Kindberg (Obersteiermark) verhaftet und in einem Prozess, der Ende November stattfand, zu sechs Monaten schweren Kerkers verurteilt. Diese Haft scheint ihn körperlich und seelisch völlig zermürbt zu haben. Nur so lässt sichs erklären, dass er vom Kerker aus ein Gnadengesuch an den Kaiser richtete, es möge ihm der Rest der Strafe erlassen werden. Und der Statthalter von Graz hatte gefunden, diese Bekehrung des begabten Mannes sei so wichtig, dass er dem Gnadengesuch den Wunsch hinzufügte, man möge für Kaier eine Regierungsstelle ausfindig machen. Ungefähr so, wie es wenige Jahre vorher für Tauschinsky geschehen war. Die Parteigenossen erfuhren davon nichts. Freudig empfingen sie ihn, als er den Kerker verliess. Aber in der Zwischenzeit hatte sich die Situation der Partei sehr verändert: die Anarchisten unter Peukerts Führung hatten die Massen gewonnen. Peukert, der die Verübung gemeiner Verbrechen propagierte und vorbereitete, hatte sich dabei 328

ganz anders als Kaier der Duldung und Sympathie der leitenden Polizisten und Staatsanwälte zu erfreuen. Im Sommer 1882 reifte die Saat, der erste der anarchistischen Raubmorde wurde vollzogen, 4. Juli 1882. Wir alle waren entsetzt. Solcher Untaten hatten wir die Anarchisten doch nicht für fähig gehalten. Kaier aber war nicht bloss entsetzt. Er brach völlig zusammen. Als der Zusammenhang der „Radikalen" mit den Raubmorden völlig klar zutage lag, anfangs September 1882, veröffentlichte ich, der damals in Wien weilte, in der „Wahrheit", dem Organ der Gemässigten, einen Artikel, in dem die Wiener Arbeiter aufgefordert wurden, einen deutlichen Trennungsstrich zwischen sich und dem Anarchismus zu machen, der für die proletarische Bewegung nicht nur eine Schande, sondern auch der Ruin sei. Anders protestierte in Graz Emil Kaier. Verzweifelt versuchte er sich zu töten, was seine Freunde allerdings verhinderten. Aber ohnmächtig musste er zusehen, wie in der Masse der bisher sozialdemokratischen Arbeiter der anarchistische Wahn immer mehr um sich griff, bis die Regierung, diesmal unter dem Beifall der grossen Mehrheit der Bevölkerung, energisch zugriff und den Ausnahmezustand verkündete, die Arbeiterorganisationen zertrümmerte, die Arbeiterpresse unmöglich machte (Januar 1884). Am Tage vor der Verhängung des Ausnahmezustandes hatte Peukert Wien verlassen, von seinen polizeilichen Gönnern vielleicht gewarnt. Kaier war von Graz schon Ende 1882 fortgegangen und hatte sich nach Innsbruck begeben, wo er in dem gastlichen Hause Holzhammers, trotz dessen damaliger Armut, gut und gern aufgenommen wurde. Dort konnte er sich erholen, ruhig wissenschaftlicher Arbeit obliegen, ungehemmt durch den Rauschzustand und die darauf folgende jahrelange Lähmung der Partei in Österreich. Ich gab von 1883 an in Stuttgart die „Neue Zeit" heraus; denn in Deutschland begann die Sozialdemokratie die ersten schwersten Schläge des Sozialistengesetzes zu überwinden. Das kam auch Kaier zugute. Einer der ersten, den ich zur Mitarbeit aufgefordert hatte, war Kaier gewesen. Er lieferte mir auch eine Reihe wertvoller Abhandlungen, allerdings nur vier binnen vier Jahren, den letzten Beitrag 1886. Von Innsbruck wendete er sich nach Zürich, wo er schon 1880 auf meine Veranlassung gewesen. Er studierte auch in Basel, machte dort, wenn ich nicht irre, seinen Doktor. Darauf begab er sich Dezember 1885 ausgerechnet nach Berlin, offenbar um dort ganz unpolitisch, bloss philosophisch tätig zu sein. Liebknecht versicherte ihn, er, Kaier, habe keine Ausweisung zu befürchten. So schrieb mir Kaier noch am 24. Dezember 1885. Am 17. Januar 1886 aber hatte er mir schon zu berichten, er sei nicht bloss aus Berlin, sondern aus Preussen ausge329

wiesen. Er wendete sich wieder nach Zürich. Die Herausgeber des „Sozialdemokrat" in Zürich, Bernstein, Schlüter, Motteier, interessierten sich für ihn, veranlassten ihn zu mancher Arbeit. Im Jahre 1886 verfasste er für sie seine Schrift über Wilhelm Weitling, eine Studie, die 1887 erschien. Mir erschien sie eine fleissige und verdienstvolle Arbeit zu sein, nur etwas langweilig. Strenger urteilte über sie Hermann Schlüter, der mir am 6. Januar 1887 schrieb: Kaier habe das reiche Material, das ihm zur Verfügung stand, nur ungenügend ausgenützt. Er habe die Arbeit ohne inneren Drang, bloss als bestellte Arbeit geliefert. Weiterhin schrieb Schlüter über Kaier, der sich wiederum nach Österreich gewendet hatte: „Du bist im Irrtum, wenn Du meinst, dass Kaier in Graz irgendwie für die Partei tätig sein wird. Ich bin vielmehr überzeugt, dass er sich immer mehr von uns entfernen wird und sich schon entfernt hätte, wenn ihn nicht materielle Bedenken hinderten. Der Mann ist für uns verloren!" Kurz vorher hatte Victor Adler Kaier in Zürich getroffen. Er schrieb mir von Wien — 16. November 1886 — über ihn: „Er schien mir in Zürich, wo ich ihn sah, sehr müde." Ich weilte damals in London, konnte Kaiers Entwicklung nicht verfolgen. Schlüter konnte das viel besser. Leider hatte er recht. Gerade damals begann sich der Himmel für uns Sozialdemokraten auch in Österreich aufzuhellen. Die Arbeitermassen begannen wieder sich zu rühren, und ihnen näherte sich nun der richtige Mann, anregend, informierend, schliesslich leitend: Victor Adler. Der überragte an Wissen, an Menschenkenntnis und politischer Erfahrung, aber auch an Unerschütterlichkeit und Klarheit alle die Führer, die das österreichische Proletariat bis dahin gefunden, und es schadete keineswegs, dass er noch in einem Punkte ihnen überlegen war: an materiellen Mitteln. Die Sozialdemokratie ist wohl eine antikapitalistische Partei, aber sie muss sich in einer kapitalistischen Gesellschaft gegen das Kapital durchsetzen, und das gelingt ihr bei sonst gleichen Umständen leichter dort, wo ihre Wortführer und Leiter über Kapitalien verfügen, die die Parteiarbeit unabhängig vom Parteieinkommen machen und der Partei vermehrte Mittel für Propaganda zur Verfügung stellen. Marx wäre nach 1850 zugrunde gegangen ohne die Wohlhabenheit seines Freundes Engels. Und Lassalle hätte ein ähnliches Schicksal gedroht, wenn er ein armer Federfuchser war, nicht ein Kapitalist, der von seinen Zinsen sehr auskömmlich lebte. Da wären auch die Wirkungen ausgeblieben, die der eine in der internationalen, der andere in der deutschen Arbeiterbewegung übte. Natürlich hätte das Geld nicht das Genie ersetzen können. Aber dessen Erfolg wurde durch die Verfügung über reiche Geldmittel 330

sehr gefördert, unter Umständen erst ermöglicht. Victor Adlers Reichtum, den ihm sein Vater hinterlassen, bedeutete einen ungeheuren Glücksfall für die österreichische Sozialdemokratie. Natürlich wäre die Arbeiterbewegung auch ohne Adlers Mittel, ja auch ohne seine geniale Führung in Österreich wieder in Gang gekommen, aber um wieviel später und mit wieviel mehr Opfern. Adlers Geld erlaubte es, dass mit der Wiederbelebung der Arbeiterbewegung Ende 1886 (11. Dezember) diese ein Blatt bekam, die „Gleichheit", die nun in Wien erschien. Damit erstand ein Organ, das Kaier nicht bloss als Tribüne dienen konnte, sondern ihm auch die Möglichkeit bot, eine materielle Lebensgrundlage zu gewinnen. Kaier kam tatsächlich in persönliche Beziehung zu Victor Adler. Diese Tatsache ist bisher in Parteikreisen unbekannt gewesen. Sie erhellt aus einer Postkarte, die am 1. Januar 1888 eine fröhliche Wiener Gesellschaft als Neujahrsgruss meiner Mutter sandte und die ich unter ihren Briefen fand. Sie ist unterzeichnet von Emma Adler, Victor Adler, Josefine Braun, Heinrich Braun, Adolf Braun, Leo Frankel, Clementine Spiegier und Emil Kaier.1 Dieser war also trotz seiner Ausweisung nach Wien gekommen, oder die Polizei hatte sie zurückgenommen. So erstaunlich das ist, so wirkt es noch erstaunlicher, dass Kaier nicht für das Parteiorgan arbeitete, das Adler herausgab, die „Gleichheit", sondern für das Organ Pernerstorfers, „Die Deutschen Worte". Adler und Pernerstorfer waren Studienfreunde vom Gymnasium her, hatten lange die gleichen politischen und sozialen Interessen verfolgt, schon früh sich für den Sozialismus interessiert. In dem bereits zitierten Brief vom 16. November 1886 schrieb mir Adler: „Andreas Scheu erinnert sich wohl kaum des jungen Studenten, der ihn 1869 und 1870 in der Redaktion oft besuchte." Seitdem hatte die Partei in Österreich an Anziehungskraft und Ansehen sehr verloren. Aber der herkömmliche Liberalismus verfiel gleichzeitig. Ihm gegenüber bildete sich eine neue, in Opposition zur bestehenden Staatsgewalt stehende Partei, die der DeutschNationalen (1879), die hauptsächlich aus unzufriedenen Intellektuellen bestand und in ihren Anfängen einen idealistischen Schwung aufwies. Sie 2 waren eine Art anti-habsburgischer Demokraten. Ihnen schlössen sich Adler und Pernerstorfer an. Es kamen in dieser Partei bald antisemitische Tendenzen auf. Adler entwickelte sich damals zum Sozialdemokraten. Denselben Weg sollte sein Freund Engelbert Pernerstorfer schliesslich gehen, doch dauerte es lange, ehe er sich hierzu entschloss. Für Pernerstorfers Zeitschrift, nicht mehr für meine „Neue Zeit", 1 Sie ist abgedruckt in „Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, gesammelt und erläutert von Friedrich Adler", Wien 1954, S. 43. B.K. 2 In der Abschrift heisst es „es". B.K.

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aber auch nicht für Adlers „Gleichheit", arbeitete Kaier nach 1887. Die Ursache, warum er sich bei Pernerstorfer wohler fühlte als bei mir, wird klarer, wenn man sich die Artikelreihe ansieht, die er dort von Januar bis August 1889 unter dem Titel „Die Moral der Zukunft" veröffentlichte. Sie läuft auf eine Ablehnung des Marxismus hinaus, „eine Theorie des Sozialismus, welche alle moralischen Bestandteile aus demselben zu entfernen sucht und alle Begründungen des Sozialismus auf moralische Forderungen als Utopie erklärt." 1 Wir haben bereits gesehen, wie unsere philosophischen Standpunkte schon damals verschieden waren, als wir uns kennenlernten. Das hatte unsere Zusammenarbeit in der Partei nicht verhindert, bei den rein praktischen Fragen, die sie damals beschäftigten. Seitdem hatte ich den dialektischen Materialismus kennengelernt, durchdacht, zur Grundlage meiner Parteitätigkeit gemacht. Seiner Propaganda, Anwendung und Fortentwicklung galt in erster Linie die Zeitschrift, die ich seit 1883 herausgab. Kaier aber war philosophisch der Gegner des Materialismus geblieben, der er 1875 gewesen. Meine Tätigkeit musste ihn immer mehr abstossen. Das wurde wohl einer der Gründe, warum er sich zu den „Deutschen Worten" wendete. Aber nicht bloss ich kam damals zum Marxismus. In der ganzen Partei gewann dieser immer mehr Verständnis und Zustimmung. Wohl war unter den Intellektuellen der Materialismus aus der Mode gekommen und durch den Neukantianismus ersetzt worden, aber diejenigen unter den Kantianern, die sich uns anschlössen, trachteten ihren kritischen Idealismus mit dem dialektischen Materialismus zu vereinbaren. Das brachte Kaier nicht fertig. Dadurch musste er jedoch in Gegensatz nicht nur zum Marxismus geraten, sondern auch zur Partei. Das wurde noch dadurch gefördert, dass die sozialdemokratische Partei, die nun in Österreich wiedererstand, aus einer Einigung von Resten der ehemaligen „Gemässigten" mit den früheren Anarchisten hervorging, die niemand so verabscheut hatte wie Kaier. Und die Sozialdemokratie war jetzt ein neues Gebilde unter neuer Führung. So sonderbar es klingen mag, die neue Führung nahm manchen der alten Führer gegen die neuerstehende Partei ein. Sie waren förmlich gekränkt darüber, dass sie, die die besten Jahre ihres Lebens der Partei geopfert hatten, nun zurücktreten sollten vor dem Neuling Victor Adler, der eben erst aufgetaucht war. Dass er durch seine machtvolle Persönlichkeit die Partei erst wieder neu schuf, beachteten sie nicht. Ob derartige Eifersucht sich auch in Kaier regte, weiss ich nicht. i

Die zitierte Stelle findet sich S. 243. B.K.

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Zwischen ihm und mir bestanden keine Beziehungen mehr, als Adler anfing, für uns etwas zu bedeuten. Sicher ist eines: seine Entwicklung und die Adlers vollzog sich damals in entgegengesetztem Sinne. Adler kam von den Deutsch-Nationalen zur Sozialdemokratie. Gleichzeitig ging Kaier von der Sozialdemokratie zu den Deutsch-Nationalen über. Die Mitarbeit an den „Deutschen Worten" wurde für Kaier nicht ein Übergang in das Lager Adlers, sondern in das der bürgerlichen Presse. Er wurde Redakteur des „Innsbrucker Tagblatts", des dortigen Organs der Deutsch-Nationalen. Durch derartige Fahnenflucht degradierte er sich selbst in den Augen seiner bisherigen Parteigenossen, löschte er die Erinnerung an sein ganzes, so opfervolles Wirken für sie aus, gerade in dem Moment, in dem sich die Partei zu neuem siegreichen Vormarsch anschickte. Kaier war leider nicht der erste unter den Intellektuellen in unsern Reihen, der seine Parteitätigkeit in dieser Weise abschloss. Ähnlich so, durch Untergang oder Übergang zum Feind, haben so ziemlich alle Intellektuellen geendet, die sich unserer Partei in ihren Anfängen damals anschlössen. Erst mit Victor Adler tritt sie in ein Stadium ein, das es ihr ermöglicht, Intellektuelle nicht nur anzuziehen, sondern auch festzuhalten und ihnen dauernd die Bedingungen zu fruchtbarer Arbeit in der Partei zu bieten. Kaier war das letzte Opfer aus der Zeit der Pioniere. Wenn mir das gleiche Schicksal erspart blieb, muss ich meinem Vater dafür dankbar sein, der mich während meines „Pionierdienstes" jeglicher materiellen Sorge enthob. Dass Kaier sich in seiner neuen Tätigkeit glücklich fühlte, ist nicht anzunehmen. Reue und Scham müssen seine ohnehin schwer geschwächte körperliche und geistige Gesundheit völlig untergraben haben. Dem schreibe ich es zu, dass er im Jahre 1897 durch einen Sprung in den Inn seinem verpfuschten Leben ein Ende machte. Seine Leiche wurde aüfgefunden und obduziert. Die Untersuchung ergab eine krankhafte Entartung des Gehirns, Tuberkulose der Gehirnhaut, wie mir Freund Holzhammer mitteilt, dem ich einige wertvolle Angaben über Kaier verdanke. An seinem Leichenzug beteiligten sich viele Deutsch-Nationale, doch auch einige Genossen. Viele seiner früheren Genossen hatte sein Verrat mit Entrüstung erfüllt. Doch sein Dasein war von seinem Beginn bis zu seinem Ende so jammervoll gewesen und seine selbstlose Hingabe an unsere Sache in ihrer ersten schwierigsten Zeit so gross, dass ihm nach seinem Ende nur bedauernde, nicht verurteilende Nachrufe zuteil wurden. Andere wenigstens habe ich nicht zu lesen oder zu hören bekommen. Auch Ludwig Brügel, der stellenweise, wie wir gesehen, sehr hart über ihn urteilt, erkennt schliesslich an: „Er war in den Sturm- und Leidensjahren des österreichischen 333

Proletariats ein mutiger Vorkämpfer voll Idealismus, unbekümmert um die Gefahren, die einem solchen im alten Österreich drohten." (Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, III, Seite 275/276.) Wenn er nicht standhielt, schliesst Brügel, so geschah es deshalb, weil ihn die Mächte der Reaktion einerseits und anderseits die „revolutionären" Verfechter gemeiner Verbrechen im proletarischen Lager „zermürbt und zerrüttet" hatten. f.

Parteisitzungen.

Kaum war ich der Partei beigetreten, da hatten mich die Genossen sofort mit Parteiarbeiten mit Beschlag belegt. Ja, sogar mit geheimer Parteiarbeit. Über das ungemessene Vertrauen, das man mir ohne weiteres bloss auf mein ehrliches Gesicht hin schenkte, war ich noch mehr erstaunt als über meine sofortige Aufnahme in die Partei. Noch sonderbarer jedoch berührte mich die Art und Weise, wie ich zu den geheimen Zusammenkünften zugezogen wurde. Ich war noch nicht lange in der Partei, da erschien eines Tages vor der Tür der Wohnung meines Vaters, in der auch ich hauste, ein junger Mensch. Er läutete, fragte das Dienstmädchen, ob „der Kautsky" da wohne, übergab ihr ein kleines Zettelchen und verschwand. Auf dem Zettelchen stand mit Bleistift, sehr schwer lesbar, der Name einer Person und der einer Strasse verzeichnet. Das Dienstmädchen brachte den Zettel der um den Mittagtisch sitzenden Familie, und nun ging ein Rätselraten los, wem er zugedacht sei und was er anzeige. Er konnte für meinen Vater bestimmt sein oder für mich oder für meinen jüngeren, damals 18jährigen Bruder Fritz. Sollte er die Einladung zu einem Rendezvous sein? Wir beachteten den Zettel nicht weiter, der ein blosser Scherz sein mochte. Doch etwa 14 Tage später wiederholte sich der Vorgang, nur standen auf dem Zettel diesmal andere Namen. Da begann mir eine Idee aufzudämmern. Ich ging zu Bardorf, zeigte ihm das Zettelchen und fragte ihn, ob er wisse, was es zu bedeuten habe. „Ja natürlich weiss ich das," erwiderte er. „Das ist der Name des Gasthauses, in dem heute abend die Parteisitzung stattfindet. Es ist doch beschlossen worden, Dich einzuladen." In der Partei duzte man sich damals sehr bald. Bardorf wunderte sich, dass ich nichts davon wisse. Vielleicht hatte man vergessen, jemand zu beauftragen, ich solle von dem Beschluss verständigt werden, oder der dazu Bestimmte hatte vergessen, den Auftrag auszuführen. Natürlich nahm ich nach erhaltener Aufklärung regelmässig an den Parteisitzungen teil. Schon lange ehe Victor Adler seinen berühmt gewordenen Ausspruch tat, dass in Österreich der Despotismus herrsche, gemildert durch die Schlamperei, hatte ich Gelegenheit, die Beobachtung zu 334

machen, dass die Sozialdemokratie Österreichs ein Geheimbund sei, stets gefährdet durch die Schlamperei der Mitglieder, doch auch sehr oft gerettet durch die Schlamperei der Behörden. Die Schlamperei hier und dort hielten einander die Waage. Allerdings bildete die geheime Organisation unserer Partei nicht eine Verschwörung mit unbekannten Obern, denen unbedingter Gehorsam zu schwören war, und mit Mitgliedern, die einander zum grössten Teil selbst nicht kannten. Die geheime Organisation war nur ein Notbehelf zum Ersatz für die ursprünglich öffentliche, gesetzliche Organisation, die von der Regierung aufgelöst und unmöglich gemacht worden war. Als Ersatz kamen nun zur gelegentlichen Verständigung Personen zeitweise zusammen, die das Vertrauen der Genossen besassen. Es gab damals keine anderen legalen Arbeiterorganisationen als die Gewerkschaften. Die wurden noch geduldet. Auf die musste nach der Auflösung der Partei, deren Organisation aufgebaut werden. Jede Gewerkschaftsleitung entsandte einen Delegierten zu den Sitzungen der Parteileitung in Wien, die nun geheim abgehalten wurden. Neben den Gewerkschaftsdelegierten nahmen die Parteifunktionäre daran teil, der Redakteur und der Geschäftsführer des Parteiorgans — bis 1877 die „Gleichheit". Seitdem ich für diese Leitartikel schrieb, wurde ich jedenfalls als zu ihr gehörig betrachtet und zu den Sitzungen zugezogen. Es war eine recht lose Organisation, die da die obersten Geschäfte der Partei besorgte, ganz von dem guten Willen der Gewerkschaften abhängig. Aber für gewöhnlich genügte sie. Und es gelang ihr in der Regel zu funktionieren, ohne von der Polizei gestört zu werden. Das war höchst merkwürdig angesichts nicht bloss der schon bemerkten Schlamperei, sondern auch der grossen Zahl der Beteiligten. Stets waren es mehr als 20, mitunter 30 Personen, die da zusammensassen. Nun wissen wir heute, dass die Polizei ihre Spitzel in fast jeder Arbeiterorgnisation sitzen hatte, die sie über alle Vorkommnisse auf dem laufenden hielten, und doch wurden wir höchst selten von der Polizei überrascht. Vielleicht war ihr bürokratischer Apparat doch zu schwerfällig, vielleicht auch bloss zu bequem, um sich wegen jeder Zusammenkunft in der Nachtruhe stören zu lassen. Bei wichtigen Veranstaltungen, namentlich Parteitagen, griff die Polizei meist prompt ein — allerdings auch da nicht immer. Trotz gelegentlicher Schlamperei trafen die obersten Organisationsleiter stets die sorgsamsten Vorkehrungen, um einer Überraschung durch die Polizei vorzubeugen. Der Ort der Zusammenkunft wurde oft gewechselt und den Teilnehmern erst einige Stunden vorher bekanntgegeben. Es muss nicht immer leicht gewesen sein, das nötige Zimmer zu beschaffen, zumeist das Hinterstübchen einer Gastwirt335

Schaft, deren Besitzer unserer Sache ergeben oder von Arbeiterkundschaft abhängig war. Es waren meist höchst armselige Gaststätten in den Proletariervierteln, die mir recht kaschemmenmässig vorkamen, Stücke der Unterwelt Wiens. Vor dem Gasthaus gingen stets ein bis zwei junge Genossen auf und ab, um über unsere Sicherheit zu wachen und Signal zu geben, wenn Gefahr drohte. Doch sorgte man auch für den Fall, dass wir überrascht wurden. Durch Erfahrung gewitzigt, vermied man jede schriftliche Aufzeichnung von Debatten oder Beschlüssen, die als Belastungsmaterial dienen konnte. Keiner der Teilnehmer durfte einen Brief bei sich haben, kein Protokoll wurde geführt, kein Beschluss registriert. Man musste sich ganz auf das gute Gedächtnis und die Loyalität der Anwesenden verlassen. Unter den vielen Sitzungen, an denen ich teilnahm, wurden nur zwei von der Polizei überrascht und gesprengt, aber bei keiner etwas gefunden, was Stoff zu einem Geheimbundsprozess hätte geben können. Ich erinnere mich noch mit Vergnügen, wie bei einem dieser Überfälle ein „Vertrauter" (Geheimpolizist) meine Taschen durchsuchte und ein Konvolut beschriebener Papiere fand. Triumphierend überreichte er es dem Kommissär: „Da haben wir doch was!", rief er. Der Kommissär entfaltete die Papiere und fragte mich, was sie darsstellten, und zeigte sich ungläubig, als ich bemerkte, es seien Kollegienhefte. Und doch war es so. Nachdem sich der Herr Kommissär überzeugt, dass meine Aufschreibungen nur von Pandekten handelten — vielleicht erinnerte ihn das an die eigene Studienzeit —, gab er mir die Papiere zurück. Und das war die einzige Beute gewesen, die von der Polizei damals gemacht worden. Schlimmer ging es bei dem zweiten polizeilichen Überfall, den ich erlebte. Unser Freund Louis Werner, Geschäftsführer der „Gleichheit", hatte sich einfallen lassen, eine Abrechnung über deren Geschäftsstand mitzubringen. Die war für die Herren Polizisten ein gefundenes Fressen. Freilich genügte das Papier nicht zu einem Geheimbundsprozess. Aber Werner war Ausländer, der Polizei schon lange ein Dorn im Auge. Seine Abrechnung wurde der Strohhalm, der den Rücken der Geduld des polizeilichen Kamels brach. Uns andern Teilnehmern konnte man nichts antun. Werner aber wurde landesverwiesen, zu unserm grossen Leidwesen, denn er war ein ebenso prächtiger Mensch wie tüchtiger Verwalter seines so dornenvollen Ressorts. Immer konnte man natürlich nicht ohne Schriftstücke auskommen, Abrechnungen, Listen, Entwürfe, namentlich dann, wenn es sich um aussergewöhnliche Zusammenkünfte von Genossen aus verschiedenen Kronländern handelte. Den Teilnehmern an solchen Sitzungen drohte 336

ein Geheimbundsprozess, wenn sie polizeilich erwischt wurden. Nicht wenige seiner vielen Gefängnisstrafen erwarb sich der arme Reinthal auf diese Weise. Ich verfehlte keine der Sitzungen, zu denen ich eingeladen wurde, doch kann ich mich nicht rühmen, mich sehr aktiv an ihnen beteiligt zu haben. Es wurde dort fast ausschliesslich über Dinge verhandelt, von denen ich fast nichts verstand oder doch weniger als die andern. Es handelte sich da zumeist um praktische Fragen der Organisation, der Taktik, der Geldbeschaffung, Fragen, die bei der durch die Polizei erzwungenen Gestaltung des Parteibetriebes in erster Linie den Gewerkschafter angingen, in keiner Weise den Theoretiker. Denn von den Gewerkschaften hing es ab, ob und wie die Beschlüsse der Parteisitzungen durchgeführt wurden, die Abhaltung von Volksversammlungen, von Vereinsvorträgen, der Vertrieb des Parteiorgans, die Einnahmen aus seinem Absatz, Unterstützungen und Darlehen zur Deckung des chronischen Defizits der „Gleichheit" oder ihrer Nachfolger. Alles das interessierte mich, [ich] hörte zu, lernte nicht wenig, aber es wäre mir unverschämt erschienen, über Dinge, von denen ich so wenig wusste und andere so viel, diesen meine Meinung vortragen zu wollen. g.

Vorträge.

Natürlich führte ich trotz meiner Abneigung gegen öffentliches Leben kein Trappistendasein in der Partei. Sobald die Genossen von meiner Existenz und meinen Universitätsstudien erfuhren, bestürmten sie mich immer wieder, ihnen wissenschaftliche Vorträge zu halten. Die ganze Parteitätigkeit vollzog sich, wie schon gesagt, in den Gewerkschaften. Neben ihnen kam für die Arbeiterbewegung noch der Arbeiterbildungsverein in Betracht. Weder ihm noch den Gewerkschaften waren bei ihren Zusammenkünften andere als „wissenschaftliche" Vorträge gestattet, d.h. solche,. die die Polizei als solche passieren liess, die sich bei jeder Versammlung durch einen Kommissär vertreten liess. Ein Studierter oder Studierender war am ehesten imstande, solche Vorträge abzuhalten, daher immer wieder die Aufforderungen an mich, Vorträge zu halten. Endlich überwand ich mein Widerstreben, arbeitete einen Vortrag aus und siehe, es ging. Es ging immer leichter und bald gab es kaum eine Woche — wenigstens im Winter —, wo ich nicht einen Vortrag hielt. Natürlich sollte er irgendwie mit unserem Bestreben im Zusammenhang stehen und doch unverdächtig wissenschaftlich aussehen. Das liess sich am ehesten bei historischen Themen machen, die ich auch schon aus dem Grunde bevorzugte, weil sie auch in mein eigenes Studiengebiet fielen. 337

Mein erster Vortrag war angezeigt als „Römische Geschichte". Natürlich behandelte ich die Bewegung der beiden Gracchen, ihre sozialen Bestrebungen und die brutale Gewalt, mit der die Besitzenden jedem Versuch begegnen, die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern. Dann gab mir ein Vortrag über Perikles die Gelegenheit, die attische Demokratie zu preisen und dem engstirnigen Spartanertum mit seinen Heloten entgegenzusetzen. Natürlich beschränkte ich mich nicht auf das Altertum. Ich trug „Geschichte des 16. Jahrhunderts" vor, das war eine Darstellung der Zustände, die zum Bauernkrieg führten, und die „Geschichte des 18. Jahrhunderts", über die ich viele Vorträge hielt, stellte sich als eine Geschichte der sozialen und politischen Missstände und der Ideen dar, die zur Revolution führten. Dass nichts von allem dem die Missbilligung des Kommissärs fand, der mich höchstens hie und da zu grösserer Mässigung mahnte, liess mich einmal einen kühnen Versuch unternehmen. Ich hielt bei den Buchdruckern eine ganze Vortragsserie über die „Geschichte des 18. Jahrhunderts" und geriet so allmählich so weit, dass ich bis zur Einberufung der Reichsstände in Frankreich, zu den Wahlen mit ihren „Cahiers" kam. So weit ging es noch. Aber der ahnungslose Kommissär war sehr verblüfft, als an einem Abend aus diesen Ereignissen die Erstürmung der Bastille hervorging. So weit durfte die „Geschichte des 18. Jahrhunderts" nicht gehen. Als ich zum nächsten Vortragsabend erschien, bedeutete mir der Regierungsvertreter, ich dürfe über den Gegenstand nicht sprechen. Die „Geschichte des 18. Jahrhunderts" hatte im Mai 1789 zu enden. Meinen historischen Vorträgen waren also enge Grenzen gesetzt. Aber je mehr ich mit der Partei vertraut wurde, desto mehr war ich veranlasst, ökonomische Studien zu treiben. Wirtschaftsgeschichte, ökonomische Theorie, Statistik lieferten mir zahlreiche Themen. Namentlich die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals lieferte zahlreiche Themata, die auf meine Hörer stark wirkten und doch vom Regierungsvertreter nicht beanstandet wurden. Knechtung und Ausbeutung (ausserhalb Österreichs in früheren Jahrhunderten) durfte man ungestört brandmarken. Bloss von einer Volkserhebung und gar einer siegreichen, durfte man nichts erzählen. Derartiges gehörte nicht zur „Wissenschaft". Meine Arbeit war viel begehrt, wurde aber auch anerkannt. Unter meinen Papieren habe ich jetzt einen Brief gefunden, den ich längst vergessen. Er ist datiert „Wien, am 1. Jänner 1879." Es ist ein Neujahrsglückwunsch, den Präsidium und Unterrichtssektion des Arbeiterbildungsvereins an mich richteten. Sie dankten mir für meine Arbeit zur Förderung „der heiligen Sache der Menschheit" und fuhren fort: 338

„Ihr aufopferungsvolles und uneigennütziges Wirken in unserm Verein hat demselben zu jenem Ansehen verholfen, dass heute sein Name allgemein mit solcher Achtung ausgesprochen wird, nach welcher er seit jeher strebt usw." Man kann in diesen Worten eine jener wohlwollenden Übertreibungen sehen, zu denen man sich in Nekrologen oder Glückwünschen berechtigt, ja oft verpflichtet glaubt. Und doch können sie ganz ehrlich gewesen sein, ohne dass ich Ursache hätte, auf sie besonders stolz zu sein. Denn im Grunde bedeutete die Anerkennung für mich nichts als ein Armutszeugnis für die Partei. In der Tat, seit KaierReinthals Verhaftung, April 1878, der seine Ausweisung im Januar 1879 folgte, war ich unter den Parteigenossen Wiens der einzige akademisch gebildete, der einzige, dessen Vorträge vor der Behörde als wissenschaftliche galten. Das war nicht etwas, worauf ich sehr stolz sein konnte. Immerhin bezeugt das Glückwunschschreiben den Eifer, mit dem ich meiner Vortragstätigkeit damals oblag. Ein Kuriosum ist es, dass der Brief von dem Obmann des Arbeiterbildungsvereins unterzeichnet wurde, A. Grosse. Zwei Jahre später gehörte er als Anhänger Peukerts zu jenen radikalen Genossen, die mich als elenden Verräter hassten und verachteten. Allerdings dauerte auch das nicht lange. Schon vor Hainfeld (1889) war er wieder bei der alten Sozialdemokratie und Victor Adler führte uns wieder zusammen. Alle diese Wandlungen spielten sich innerhalb eines Jahrzehnts ab. h. Parteijourruilistik. Obwohl kein Demosthenes, liess ich meine Zunge im Parteidienst nicht rasten, doch noch eifriger regte ich meine Feder. Das war die meiner Begabung am besten entsprechende Methode, mein Bedürfnis nach Mitteilung und Propaganda zu befriedigen. Dazu bedurfte es keines Drängens der Genossen. Ich war noch nicht viele Wochen in der Partei, da bot ich der „Gleichheit" schon einen Artikel gegen Oberwinder an, der an eine seiner jüngsten Enunziationen anknüpfte. Ich betitelte ihn „Oberwinders Schwanengesang". Ohne weiteres wurde er akzeptiert und gedruckt. Ich nehme an, dass er es war, der mir die Ehre verschaffte, zu den Geheimsitzungen der Partei zugezogen zu werden. Ihm liess ich bald eine längere Abhandlung folgen: „Darwin und der Sozialismus". Hatte schon die Veröffentlichung des ersten meiner Artikel mich mit dem beglückenden Stolz erfüllt, den ein junger Autor empfindet, wenn er sich zum ersten Male gedruckt sieht, so durfte das Schicksal des zweiten mich noch mehr befriedigen. Zu der deutschen Sozialdemokratie und ihrem Organ, dem „Volksstaat" 339

sahen wir armen Österreicher ehrfurchtsvoll empor. Wie sehr an Wissen und politischem Gewicht schienen sie uns überlegen zu sein! Dass die österreichische Parteipresse Artikel des „Volksstaat" nachdruckte, war etwas sehr Häufiges, das Umgekehrte etwas Ungewöhnliches. Es hob bedeutend mein Ansehen, als jetzt der „Volksstaat" meine Artikel nachdruckte. Allerdings hob er es nur in einem sehr engen Kreise. Denn ich hatte den Artikel nicht mit meinem Namen gezeichnet, ebensowenig den vorhergehenden. Und auch die nächsten erschienen anonym. Meine Anonymität war das Ergebnis einer langen Unterredung, die mein Vater mit mir hatte, als ich mich entschloss, der Partei beizutreten. Er erklärte mir, er halte diesen Schritt für einen sehr unglückseligen. Auf der Bahn, die ich da beträte, erwarteten mich schwere Enttäuschungen und bitteres Elend. Trotzdem versuche er nicht, mich von dem verhängnisvollen Schritt abzuhalten, denn er sehe, ich sei fest entschlossen, ausserdem kein Kind mehr, das sich einem Verbot fügen würde. Also möge ich tun, was ich nicht lassen könne. Er wünsche nur, dass seine düsteren Betrachtungen nicht einträfen. Auf eines aber müsse er mich aufmerksam machen: für jedes der Familienmitglieder, das im Verband der väterlichen Familie lebe, werde er, mein Vater, verantwortlich gemacht. Durch Unvorsichtigkeiten oder anstössiges Verhalten könnte ich also nicht nur mich, sondern auch den Vater und sein Atelier, damit aber die Existenz der ganzen Familie schädigen oder gefährden. Das sei wohl meine Absicht nicht, daher erwarte er von mir, dass ich, solange ich im Familienverband lebte, meine Parteitätigkeit in einer Weise gestalte, die meinen Namen nicht in die Öffentlichkeit bringe. Diese Forderung konnte ich nicht zurückweisen. Sie erschien mir sehr plausibel und widersprach um so weniger meinen Wünschen, als die agitatorische Tätigkeit in Volksversammlungen meinen Neigungen und Fähigkeiten ohnehin nicht entsprach. Dass ein Artikel, den ich verfasst, von mir nicht gezeichnet werden sollte, war mir allerdings nicht sehr angenehm, namentlich wenn er polemischer Natur, z.B. gegen Oberwinder gerichtet war, oder neue Gesichtspunkte entwickelte, die [nicht] auf allgemeine Zustimmung rechnen konnten. So bekannte ich z.B. in einem meiner ersten Artikel noch Sympathien für das anarchistische Endziel, was mir eine ablehnende Fussnote der Redaktion zu diesem Satze eintrug. Weder ich noch der Redakteur wussten damals (1875), dass Engels und Marx selbst das Absterben des Staates in der sozialistischen Gesellschaft erwarteten. Immer stärker empfand ich das Bedürfnis, meine Artikel zu kennzeichnen, soweit sie nicht rein agitatorischer, sondern kritischer Natur waren, in denen ich nicht im Namen der Partei, sondern nur für mich 340

sprach. Da ich sie nicht mit dem Familiennamen unterzeichnen wollte, wählte ich mir ein Pseudonym. Ich war noch nicht lange in der Partei, da verstieg ich mich bereits zur Abfassung einer Abhandlung, die zu lang war, um in der „Gleichheit" zu erscheinen. Ich sandte sie dem „Volksstaat", der sie auch nach langem Lagern brachte. Über ihren Inhalt habe ich später noch zu handeln. Hier ist über sie nur zu bemerken, dass ich es ihres strittigen Inhalts wegen für angemessen fand, sie mit einem Pseudonym zu versehen. Als echter Studiosus wählte ich ein griechisches: Promachos, zu deutsch: Vorkämpfer. Keinerlei Überheblichkeit leitete mich bei dieser Wahl. Ein Promachos ist kein Führer, der seine Mitkämpfer leitet, sondern einer, der in der ersten Reihe der Kämpfenden steht. Den Namen eines Promachos billigte ich jedem Genossen zu, der in der Partei ein Vertrauensamt bekleidet als Agitator, Organisator, Verwalter, Redakteur oder Mitarbeiter einer Parteizeitung. Doch das Wort konnte auch in einem überheblichen Sinne gedeutet werden, als wollte ich mich selbst zum Führer designieren, woran ich nicht einmal im Traum dachte. In diesem Sinne fasste es offenbar die Redaktion des „Volksstaat" auf. Ich habe darüber nur eine Vermutung; denn von ihr erhielt ich lange Zeit keine Zeile, weder über diese Abhandlung noch über andere Beiträge, die ich sandte und die alle veröffentlicht wurden. Ohne mir vorzuschlagen, ein anderes Pseudonym zu wählen, verlieh sie mir selbst eines. Aus dem Promachos machte sie einen Symmachos, einen Mitkämpfer. So eigenmächtig das war, ich akzeptierte gerne die Änderung. Sie machte mich darauf aufmerksam, wie leicht das Promachos missdeutet werden könne, der „Symmachos" schien mir ganz passend, obwohl das Wort historisch einen recht unangenehmen Sinn erhalten hat. Die Symmachoi der Athener, d.h. ihre Bundesgenossen, spielten zeitweise eine Rolle ähnlich der des Rheinbundes Napoleons I. Sie waren Kanonenfutter, das sich unter Umständen empörte. Aber es war nicht zu erwarten, dass meine Leser daran denken würden. Dem blossen Wortlaut nach war die Veränderung sicher eine Verbesserung. Ich protestierte nicht nur nicht dagegen, sondern behielt sie bei die ganze Zeit hindurch, als ich im Hause meines Vaters lebte. Erst als ich es verliess — Januar 1880 —, liess ich den Herrn Symmachos sterben und trat seitdem ungetarnt mit meinem Familiennamen auf. Wie wenig Überheblichkeit oder Autoreneitelkeit mich trieb, das Pseudonym Promachos zu wählen, ersieht man daraus, dass ich gar nicht daran dachte, meine Artikel zu sammeln. Von der ganzen grossen Anzahl Artikel, die ich für die Parteipresse in den ersten zwei Jahrzehnten meiner Parteitätigkeit geschrieben, habe ich keinen einzigen aufgehoben, ebenso keines der Flugblätter, die ich damals verfasste. 341

Für meinen „Nachruhm" war ich ganz unbekümmert. Mich erfüllte bloss der Gedanke an die glänzende Zukunft des Sozialismus. Die Gegenwart besass für mich nur insofern eine Bedeutung, als sie diese Zukunft vorzubereiten hatte. Soweit es Parteigeschichte bei uns gab, wurde sie nicht durch Sammlung und Erforschung von Quellen betrieben. Sie bestand in mündlicher Wiedergabe von Legenden, etwa so wie die Geschichte Christi, seiner Jünger, seiner Lehre in den ersten zwei Jahrhunderten des Christentums gebildet und verbreitet worden war. Es dauerte ein Jahrzehnt seit meinem Eintritt in die Partei, bis die Idee eines Parteiarchivs aufkam, und zwar nicht in der Sozialdemokratie Österreichs, sondern der Deutschlands. Für die Feststellung meiner Tätigkeit in der letzteren Partei stehen mir die, allerdings nicht lückenlosen Jahrgänge des „Volksstaat", des „Vorwärts" (bis 1878), der Zürcher „Sozialdemokrat" zur Verfügung. Später begann auch ich meine Artikel zu sammeln. Aber für meine journalistische Tätigkeit in Österreich von 1875—1880 besitze ich keine Stützen des Gedächtnisses. Die Jahrgänge der österreichischen Parteizeitungen jener Zeit vermochte ich bisher nirgends aufzutreiben. Zwei Wiener Sozialisten, Pappenheim und Mauthner, hatten ein sehr reiches Archiv österreichischer Parteipublikationen in langen Jahren eifriger und verständnisvoller Sammlertätigkeit zusammengetragen. Es enthielt auch die Jahrgänge der früheren Parteizeitungen. Rjasanoff, der davon Kunde erhielt, glaubte der Wissenschaft einen besonders grossen Dienst zu erweisen, wenn er diese umfassende Sammlung für das Marx-Engels-Institut erwarb, sie aus Wien nach Moskau brachte. Wie alle andern Einrichtungen des heutigen Sowjetrussland ist dieses Institut, dessen Titel durch Hinzufügung des Namens Lenin auf eine höhere Stufe gehoben wurde, nur noch für Stalinknechte zugänglich; es liegt wie alle Stätten „totalitärer" Wissenschaft ausserhalb des Bereichs der Zivilisation und der freien Forschung. In Wien selbst vermochte ich bisher alte Parteizeitungen aus der Zeit vor Victor Adlers Auftreten nicht aufzutreiben. Briefe mit Parteigenossen aus jener Zeit, die meinem Gedächtnis nachhelfen könnten, besitze ich auch nicht mehr. Der einzige Genosse, mit dem ich damals regelmässig korrespondierte, war Andreas Scheu in England. Kurz vor seinem Tode teilte er mir mit, er habe meine Briefe an ihn verloren. Auch ich kann keinen seiner Briefe wiederfinden. Wir wurden damals strengstens vermahnt, im engeren Verkehr mit Parteigenossen, mitunter aber auch öffentlich, in Zeitungsnotizen und sogar auf Parteitagen, keinen Brief eines Parteigenossen aufzubewahren. Für einen findigen Staatsanwalt könne auch das harmloseste Schreiben den Anhaltspunkt für eine Strafverfolgung abgeben. Und das war 342

damals nicht übertrieben. Es ist daher sehr wohl möglich, dass ich die Briefe, die ich von Andreas Scheu erhielt, mehr daraufhin ansah, was sie für den Staatsanwalt der Gegenwart, als was sie für einen künftigen Erforscher der Parteigeschichte bedeuten konnten, und sie vernichtete, sobald ich sie gelesen. So eifrig meine schriftstellerische Tätigkeit für die österreichischen Parteizeitungen schon seit 1875 war, heute vermag ich nichts Näheres mehr darüber zu berichten. Nur zwei Vorkommnisse aus jener Zeit sind mir im Gedächtnis geblieben. Beide vollzogen sich im Rahmen des „Sozialist". Wir haben gesehen, dass die Opposition gegen Oberwinder das Wiener-Neustädter Lokalblatt „Gleichheit" zu ihrem Organ gemacht hatte. Als diese Opposition auch in Wien erstarkte, wurde das Verlangen immer lauter, das Parteiorgan solle von WienerNeustadt nach Wien selbst verlegt werden, doch stellten sich dem immer wieder viele Hindernisse in den Weg. Endlich, nachdem Oberwinder völlig abgewirtschaftet hatte, kam es zur Wiedervereinigung der beiden Parteihälften. Damit sollte auch ein neues, gemeinsames Organ für die Partei geschaffen werden. Der Parteitag von Atzgersdorf (Ende Juni 1877) beschloss, die beiden Zeitungen der bisher streitenden Fraktionen, „Der Agitator" und „Die Gleichheit", sollten mit Ende September eingehen und an ihre Stelle ein neues Blatt treten, der „Sozialist", der in Wien herauskommen sollte. Die Parteileitung wurde von Wien nach Reichenberg verlegt. Bei einer späteren Zusammenkunft wurde dann beschlossen, das neue Organ solle von Bardorf verwaltet werden mit einem Wochenlohn von 15 fl. Zwei Redakteure wurden für das Organ bestimmt, Kaler-Reinthal und Robert Wagner, dieser mit einem „Gehalt" von 16 fl., jener mit 14 fl. wöchentlich. Der höhere Gehalt wurde Wagner wohl deshalb bewilligt, weil er verheiratet war. Die Bezüge wären nicht so schlecht gewesen, wenn sie regelmässig bezahlt wurden. Das war keineswegs der Fall, wofür die Wiener von den Reichenbergern zeitweise hart abgekanzelt wurden. Übrigens sollte Kaier sich seiner Redaktionsstellung nicht lange erfreuen, da er ja schon im Januar 1878 ausgewiesen wurde aus Wien. An seine Stelle trat Schwarzinger, der das Blatt bald allein redigierte, weil es die Bezahlung für zwei Redakteure nicht zu erschwingen vermochte. Doch alles Sparen nützte nichts, schon im Juli 1879 musste der „Sozialist" sein Erscheinen einstellen. Die Angestellten am „Sozialist" waren alle gute Freunde von mir. Seine Redaktion und Administration war nicht weit von meiner Wohnung untergebracht, da fand ich mich fast täglich dort ein, traf mich mit den führenden Genossen, tauschte Informationen und Gedanken mit ihnen aus, wurde beeinflusst und beeinflusste selbst. Zu zahlreichen Artikeln wurde ich damals angeregt, meine Teilnahme

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am Parteileben wurde höchst intensiv, was allerdings öffentlich nicht zutage trat. Mancher Genosse von auswärts, der den Genossen „Symmachos" zu sprechen wünschte, wurde an mich gewiesen und war erstaunt, dass ich ganz anders hiess. Zwei meiner Beiträge für den „Sozialist" kamen ihm leider teuer zu stehen. Sein Erscheinen fiel gerade in die Zeit des ersten revolutionären Aufschwungs in Russland, dessen Krieg gegen die Türkei (1877) hatte die Schwäche und Verkommenheit des Zarenregimes schonungslos blossgelegt. Die ganze russische Gesellschaft geriet in Unruhe; einzelne Feuerköpfe drängten gewaltsam vorwärts, und da es zu einer Massenkundgebung dort nicht kam, machten sie sich in einzelnen Attentaten Luft, die anfangs blosse Protestaktionen waren, wie der Schuss der Sasulitsch auf Trepov Januar 1878. Die Feuerzeichen aus Russland wirkten belebend auf uns in Österreich. In dieser Stimmung schrieb ich einen Artikel, in dem ich die Genossen darauf hinwies, sie sollten sich am Opfermut der russischen Revolutionäre ein Beispiel nehmen. Wie wenig verlange man von ihnen, nicht den Einsatz ihres Lebens, sondern nur die Propagierung des Absatzes ihres Parteiorgans. Soviel für dieses zu leisten, damit es lebensfähig sei, sei doch erbärmlich wenig im Vergleich zu dem, was die russischen Revolutionäre opferten. Eine Schande für die Sozialdemokratie Österreichs, wenn sie nicht einmal dazu imstande sei. So ungefähr war der Gedankengang des Artikels, den ich aus dem Gedächtnis reproduzieren muss. Er war, wie man sieht, sehr harmlos und zahm, ganz unserer damaligen Pressefreiheit angepasst. Aber ich hatte mich auf die russischen Revolutionäre berufen und ihren sittlichen Mut anerkannt, das war schon zuviel für einen Staatsanwalt jener Tage. Der Artikel wurde konsfisziert, das passierte damals so oft, dass es uns nicht aufregte. Doch diesmal geschah mehr. Gegen den bisher geübten Brauch begnügte sich der Staatsanwalt, Herr Lamezan, nicht mit dem „objektiven" Verfahren, mit der Konfiskation bloss des Objekts seiner Wut, des Artikels, er ging darüber hinaus zum subjektiven Verfahren, zu einer Anklage gegen das elende Subjekt, das den sträflichen Artikel verfasst hatte. Wer aber war dieses Subjekt? Ich weiss nicht mehr, ob ich den Artikel mit Symmachos gezeichnet habe, glaube mich aber zu erinnern, dass es so war. Wer war Symmachos? Der Artikel sollte das Vergehen der „Gutheissung" ungesetzlicher Handlungen „beinhalten", um österreichisch-deutsch zu reden. Eines schönen Tages, ich weiss das Datum nicht mehr, es muss im Winter 1878/1879 gewesen sein, erhielt ich eine Vorladung vor einen Untersuchungsrichter des Landesgerichts, um mich zu verantworten wegen des Artikels. Das war für mich eine unangenehme Über344

raschung. Die Gefängnisstrafe, die mir drohte, konnte mich freilich nicht schrecken, die paar Monate Haft, die abfallen würden, würden mir nicht weh tun. Der Partei gegenüber jedoch bedeutete eine solche Strafe eine hohe Auszeichnung, dasselbe, wie für den loyalen Staatsbürger 1 ein Ordensstern. Dabei war es nicht einmal ausgemacht, dass ich sitzen musste. Ich konnte ja freigesprochen werden, der Prozess kam vor die Geschworenen. Trotzdem war mir die Sache unerwünscht, denn wie immer sie ausgehen mochte, meine „umstürzlerische" Tätigkeit musste durch den Prozess an die Öffentlichkeit kommen. Das bedeutete eine Verletzung des Abkommens, das ich mit meinem Vater getroffen. Wohl sah ich nicht so schwarz wie er, ich befürchtete nicht, dass man ihn das Wirken des Sohnes entgelten lassen würde, aber freilich, beim Hof und beim Theater ging man nie sicher. Die geringste Schädigung meines Vaters durch mich wäre aber ein schwerer Vorwurf für mich gewesen. Dazu kam noch ein anderes Moment. Politische Prozesse bedeuteten für die Partei stets ausserordentliche Gelegenheiten erfolgreicher Propaganda selbst in Kreisen, die uns noch fernstanden. Würde mein Prozess auch propagandistisch wirken? Das und nicht die Freisprechung musste unser Ziel in einem solchen sein. Wäre der Prozess schriftlich ausgetragen worden, dann hätte ich mich des Erfolgs sicher gefühlt. Ich war der Güte meiner Sache bewusst, glaubte aber auch dem Staatsanwalt in einer schriftlichen Polemik gewachsen zu sein. Eine solche kam jedoch natürlich nicht in Betracht. Ich sollte mich in freier Rede mit Herrn Lamezan messen, einem Mann, der seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten die forensische Beredsamkeit gewerbsmässig und mit bestem Erfolg betrieb, während ich noch nie öffentlich als Redner, als Debatter aufgetreten war. Die englische Einrichtung der Debattierklubs war bei uns ganz unbekannt. Würde ich meinem Gegner gewachsen und fähig sein, meine und meiner Sache Überlegenheit in der Diskussion darzutun? Wenn mir das nicht gelang, bedeutete dann mein erstes Auftreten in der Öffentlichkeit nicht eine Blamage nicht bloss für mich, sondern auch für die Partei? Das war es, was ich befürchtete, weshalb mir der Prozess unerwünscht kam. Aber die Beschuldigung war da, da galt es nun die Sache zu einem möglichst günstigen Ausgang für unsere Partei zu bringen. Je weniger ich dabei auf mich baute, desto wichtiger erschien mir die Auswahl des richtigen Advokaten, dessen Beredsamkeit meinen Mangel an solcher wettmachen sollte. Ich fragte Josef Scheu, wen ich wählen 1

In der Abschrift steht „Strafbürger". B. K.

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solle. Er riet mir einen sehr energischen, tüchtigen Advokaten, der, ohne Parteigenosse zu sein, doch frei denke und meine Vertretung gerne übernehmen und bestens führen werde. Ich habe die beste Erinnerung an ihn, obwohl ich nur einmal mit ihm zu tun bekam. Um so mehr schäme ich mich, dass ich seinen Namen total vergessen habe und ihn mir nicht mehr wieder gegenwärtig machen kann, wegen Mangels jeder Stütze des Gedächtnisses. Ich ging zu ihm, zeigte ihm die Vorladung und den Artikel. Ohne weiteres erklärte er, ich könne auf ihn rechnen. Indes bemerkte er, der Artikel sei nicht mit meinem Namen gezeichnet und es sei keine Anklage gegen mich erhoben, sondern nur eine Untersuchung eingeleitet, also wüssten sie nicht, wer der Autor sei. Solange das der Fall sei, riet er mir, nicht die Autorschaft abzuleugnen, wohl aber jede Aussage zu verweigern. So tat ich auch. Ich fand mich beim Untersuchungsrichter ein. Ei war allein mit einem Schriftführer, als den ich einen Gymnasialkollegen erkannte, namens Finger. Ich tat, als würde ich ihn nicht kennen, da ich nicht wusste, ob er die Bekanntschaft mit mir nicht störend empfinden würde, und auch er tat ganz fremd. Nachdem die Formalitäten erledigt waren, kam der Richter auf den Artikel zu sprechen und fragte, in welcher Beziehung ich zu ihm stehe. Ich stellte die Gegenfrage, in welcher Eigenschaft ich vernommen würde, ob als Zeuge oder als Angeklagter. „Als Angeklagter, natürlich", meinte der Richter. „Dann habe ich das Recht, jede Aussage in der fraglichen Sache zu verweigern, und ich mache von meinem Recht Gebrauch." „Hm", entgegnete der Richter, „diesen Trick kennen wir schon, er wird Ihnen nicht viel helfen. Wir wissen bereits die Wahrheit, Sie werden uns nicht hinters Licht führen." Er redete dann einiges über meine Beziehungen zur Partei und zur Redaktion des „Sozialist", versuchte dabei, mir einige Aussagen zu entlocken, doch ich blieb stumm. Während dieses einseitigen Zwiegesprächs kam ein Amtsdiener herein und flüsterte dem Richter etwas ins Ohr. Dieser erhob sich und ging hinaus, für „Zwei Minuten", wie er sagte. Kaum war er draussen, erhob sich Finger, tauschte einen Händedruck mit mir und flüsterte mir zu: „Sag nix, sie wissen nix." Dann sass er steif wieder da, als der Richter hereinkam. Ich habe Finger nicht wiedergesehen, ich hatte keine Gelegenheit ihm zu sagen, wie sehr sein Freundschaftsbeweis mich erfreute. Der Untersuchungsrichter begann sein Verhör von neuem, aber ohne bessern Erfolg. Verdrossen entliess er mich mit der Versicherung: „Wir werden mit Ihnen schon fertig werden. Auf Wiedersehen." Dieser fromme Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Nach 346

einigen Wochen erhielt ich vom Landesgericht die Verständigung, die gegen mich eingeleitete Untersuchung sei niedergeschlagen. Über diesen Ausgang war ich sehr erstaunt. Seit mehr als vier Jahren arbeitete ich für die Parteipresse, seit Jahren beobachtete mich wie jeden tätigen Genossen die Polizei. Uber alle Partei-Interna zeigte sie sich unterrichtet. Daher war es auch zur Untersuchung gegen mich gekommen. Und sie sollte nicht imstande sein, meine Autorschaft nachweisen zu können? Man hätte annehmen dürfen, dass der Staatsanwalt über die Person des Autors genau unterrichtet war, als er sich entschloss, dem objektiven Verfahren das subjektive hinzuzufügen. Welchen Sinn hatte dieses jetzt? Lamezan wendete sich an den Redakteur Schwarzinger, den Drucker, den verantwortlichen Redakteur Leissner. Keiner hatte den Artikel gelesen, konnte etwas über ihn aussagen. Über den Autor verweigerten sie jede Aussage. So blieb von dem ganzen Unternehmen nichts übrig als eine Anklage gegen den verantwortlichen Redakteur. Damit diese doch nach etwas aussehe, wurde sie nicht wie üblich in solchen Fällen wegen „Vernachlässigung der pflichtgemässen Obsorge" erhoben, was nur eine kaum nennenswerte Strafe nach sich zog, meist nur eine Geldstrafe, sondern wegen des Inhalts des Artikels. So kam mein Freund Leissner meinetwegen vor die Geschworenen. Auch er hatte einen hervorragenden Advokaten als Verteidiger gewonnen, von dem wir hofften, er werde den Staatsanwalt über den Haufen rennen. Doch kam es ganz anders. Ich schwitzte Blut, als ich anhören musste, wie Leissners Vertreter meinen Artikel völlig missverstand und ihn aufs lächerlichste begründete. Völlig ausser mir geriet ich dann, als Leissner nicht nur von den Geschworenen schuldig gesprochen, sondern vom Gericht zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Nachdem ich das Urteil gehört, stürzte ich auf Schwarzinger zu und rief: „Das geht nicht, der Leissner darf nicht für mich sitzen. Ich gebe mich als Verfasser des Artikels zu erkennen." Darauf erwiderte Schwarzinger lächelnd: „Das würde dem Leissner nichts nützen. Das Urteil über ihn ist rechtskräftig." Wenn ich mich meldete, würde ich bloss bewirken, dass ausser Leissner auch ich noch zu sitzen hätte. Das leuchtete mir ein und beruhigte mich. Ich bedauerte nur, dass der Prozess wegen der verfehlten Verteidigung so unrühmlich, so gar nicht propagandistisch für uns verlaufen sei. Und es hat mich lange gequält, dass ein anderer eine Strafe auf sich nehmen musste wegen meiner Missetat, die ich verbrochen. Immerhin hat die Strafe Leissner nichts geschadet, er trug sie um der Partei, nicht um meinetwillen. Und weder er noch sonst jemand, der die Dinge kannte, hat mir meine damalige Zurückhaltung verübelt. Es war zum Glück das einzige Mal in meiner journalistischen Laufbahn, 347

dass ein verantwortlicher Redakteur eine Strafe für mich abzusitzen hatte. Bald nach dem Prozess verliess ich Wien und von da ab schrieb ich unter meinem Familiennamen, trug die volle Verantwortung für meine Äusserungen. Viel weniger beachtet als Leissners Prozess war ein anderes Vorkommnis, das mit meiner Tätigkeit am „Sozialist" zusammenhing. Die wirtschaftliche Krise, die dem Krach von 1873 folgte, unterschied sich von ihren Vorgängern nicht nur durch ihre Dauer und räumliche Ausdehnung, sondern auch dadurch, dass sie neben der Industrie die Landwirtschaft ergriff. Die Landwirtschaft der alten Länder Europas wurde schwer bedrängt durch die Getreidekonkurrenz junger Agrarstaaten, deren Produkte massenhaft und billig auf den Weltmarkt kamen, aus Rumänien, Russland und vor allem aus den Vereinigten Staaten. Das machte die sonst so konservativen Bauern des alten Europa stellenweise und zeitweise recht rebellisch, auch in Österreich. Bald hier, bald dort flammte eine Bauernbewegung auf, allerdings stets nur lokaler Natur. Aber uns in der Zeit der Parteistagnation schien jedes Anzeichen einer lebhafteren Volksbewegung ein erlösendes Moment zu sein. Ich machte mich daran, die agrarischen Verhältnisse zu studieren und schrieb darüber eine Serie von Artikeln für den „Sozialist" unter dem Titel: „Die Bauern und der Sozialismus", in denen ich den Bauern zu zeigen versuchte, dass nur im Sozialismus ihre Rettung liege. Die Artikel wurden nicht nur innerhalb der Partei gelesen, sondern auch von Bauern oder doch den Redakteuren von Bauernzeitungen, die hie und da erschienen. Einer von ihnen, der in Hadersdorf am Kamp in Niederösterreich (bei Krems) ein Gut oder Gütchen besass und dort ein Blatt herausgab, schrieb mir, d.h. an die Redaktion des „Sozialist", drückte mir seine Zustimmung aus und lud mich ein, ihn zu besuchen. Auch seine Tochter würde mich freudig begrüssen, die meine Artikel gelesen hatte. Das klang ja sehr verlockend, und wer weiss, welche interessante Bekanntschaft ich da verpasst habe; denn obwohl mich einige Male die Neugierde trieb, mir den Hadersdorfer samt Tochter näher zu besehen, war es damals noch mit zu viel Umständen verknüpft, diese Expedition zu unternehmen, als dass ich sie ohne dringenden Grund unternommen hätte. Und dieser Grund stellte sich nicht ein. Indes nicht bloss in Hadersdorf, auch in Wiener Parteikreisen gefielen meine Bauernartikel, sie waren einmal etwas Neues, sie schienen neue Möglichkeiten zu eröffnen. Daher beschloss die Parteileitung, sie gesammelt als Broschüre herauszugeben, und zwar in grosser Auflage, die auf dem Lande verbreitet werden sollte. Da fiel ein böser Reif in unsere Frühlingsnacht: der Staatsanwalt konfiszierte die Broschüre. Die Londoner „Freiheit" war unvorsichtig genug ge348

wesen, ihn schon vor ihrem Erscheinen auf sie aufmerksam zu machen. In ihrer Nr. vom 26. April 1879 berichtete sie aus Österreich: „Demnächst wird eine Broschüre erscheinen, betitelt ,Die Bauern und der Sozialismus', von der man sich eine gute Wirkung versprechen darf." Schwarzinger legte gegen die Konsfiskation Berufung ein, unter Hinweis darauf, dass sie bloss Artikel enthalte, von denen keiner konfisziert worden, ein Zeichen, dass keiner etwas Gesetzwidriges enthalten habe. Da könne doch in der Sammlung auch nichts Gesetzwidriges zu finden sein. Worauf der Richter kaltlächelnd erwiderte: dass ein Artikel nicht konfisziert worden sei, beweise bloss, dass dem Staatsanwalt in ihm bei der ersten Durchsicht nichts Gesetzwidriges aufgefallen sei. Bei erneuter Durchsicht sei es immer noch möglich, derartiges zu entdecken. Die Artikel seien in einem Blatt geschrieben, das für städtische Arbeiter bestimmt sei. Was die sich über den Sozialismus bei den Bauern dächten, sei ziemlich unerheblich. Die Broschüre sei aber zur Verbreitung bei den Bauern bestimmt gewesen, da habe er sich veranlasst gesehen, sie nochmals sorgfältig durchzusehen, und er habe eine Menge von Vergehen und Verbrechen darin entdeckt. Das war sicher zynisch und frech. Aber was erlaubte man sich damals nicht gegenüber den völlig wehrlosen Sozialdemokraten! Josef Hannich berichtet über eine Versammlung, die im April 1881 in Nordböhmen, Brüx, stattfinden sollte. In ihr sollte eine geplante Änderung des Volksschulwesens behandelt werden, also sicher ein ganz harmloses Thema. Die Versammlung war gedrängt voll. Ehe sie sich noch konstituiert hatte, forderte der erschienene Polizeikommissär, es solle jeder, der mit einem Stock erschienen sei, diesen abliefern. Das erregte ziemliches Murren, wurde aber befolgt. Dann verlangte der Herr Kommissär Einstellung des Rauchens. Endlich entrüstete er sich darüber, dass viele der Anwesenden ihre Kopfbedeckung aufhatten. Erst als alle diese Missstände abgestellt waren, durfte die Versammlung zur Wahl des Präsidiums schreiten. Kaum war dies geschehen und der erste Redner sollte sein Referat beginnen, da erhob sich der Kommissär und erklärte die Versammlung für aufgelöst! (Hannichs „Erinnerungen", Seite 66.) Wenn ihn die Teilnehmer wegen dieses geradezu bübischen Benehmens durchgeprügelt hätten, wäre ihm nur sein Recht geschehen. Doch passierte ihm nichts — jeden Hieb hätte die Bewegung zu teuer bezahlen müssen. Gegenüber dieser nordböhmischen Polizistenfrechheit war es noch bescheiden, wenn der Wiener Staatsanwalt das Recht in Anspruch nahm, eine Druckschrift, die er hatte passieren lassen, hinterdrein doch noch zu konfiszieren. Uns traf diese Konfiskation sehr hart. Stets vor dem Erscheinen 349

einer unserer Zeitungen oder anderer Druckschriften rechnete man mit der Möglichkeit einer Konfiskation und war bedacht, unbemerkt soviel Exemplare als möglich aus der Druckerei herauszubefördern, so dass die Polizei, wenn sie schliesslich eintraf, nur einen Rest der Auflage vorfand. Diesmal hatten unsere Leute keine Massnahmen dieser Art getroffen, im Vertrauen darauf, dass die Artikel nicht konfisziert seien, die Broschüre daher immun. Daher fiel die gesamte Auflage der Polizei in die Hände, kein einziges der gedruckten Exemplare entging ihr. Ich selbst bekam keines mehr. Der Gedankengang, den ich in den Artikeln verfolgte, war offenbar derselbe, den ich dann 1880 in Richters „Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" entwickelte (1. Jahrgang, 2. Hälfte, Seite 14 ff.) und in der Flugschrift: „Der Vetter aus Amerika", eine Erzählung für Landleute, von der Engels mir schrieb: „Das Flugblatt hat mir besser gefallen als alle Ihre früheren Sachen." („Aus der Frühzeit des Marxismus", Seite 59. 1 ) Auch von diesem Flugblatt besitze ich kein Exemplar mehr. Vielleicht findet sich noch eines im Parteiarchiv der deutschen Sozialdemokratie. Dass mich der Gegenstand noch weiterhin lebhaft beschäftigte, zeigte die Abhandlung über „Die überseeische Lebensmittelkonkurrenz", die ich in der zweiten Serie der „Staatswirtschaftlichen Abhandlungen" (1881/1882) veröffentlichte. Doch diese Arbeiten wurden nicht mehr in Wien verfasst. Als ich sie schrieb, hatte ich den Sitz meiner Parteitätigkeit bereits nach Zürich verlegt. Parteidifferenzen. Mit dem Abfassen von Zeitungsartikeln, dem Abhalten von Vorträgen, der Teilnahme an Parteisitzungen war meine Tätigkeit in der Partei nicht erschöpft. Eine gesetzliche Organisation war ihr verboten, um so öfter trafen sich die Parteigenossen in ganz formloser Weise, um Parteidinge zu diskutieren, freilich ohne Beschlüsse fassen zu können. Je besser ich mit den Parteigenossen bekannt wurde, um so eifriger beteiligte ich mich an diesen Diskussionen in Privatwohnungen oder Gasthausstuben, im Sommer auch bei Ausflügen ins Grüne. So klein die Partei war, als ich ihr beitrat, so gering ihre Anziehungskraft auf die Arbeiter noch für Jahre hinaus, diese Stagnation des Wachstums bedeutete doch keineswegs ein Ruhen des geistigen Lebens in ihr. Die Niederlage des Proletariats seit der Pariser Commune und dem Zerfall der Internationale, sowie schliesslich seit der Spaltung in Österreich verminderten wohl fühlbar die Zahl der Neu gedruckt in „Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, herausgegeben und bearbeitet von Benedikt Kautsky", Wien 1955, S. 39. B.K. 1

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Kämpfer in unsern Reihen, stellten aber gleichzeitig diese vor zahlreiche und schwere Probleme, die zu durchdenken und zu erörtern waren. Die Frage, die unsere Reihen bald nach der Zeit meines Eintritts am meisten beschäftigte, war die der Einigung der „Gemässigten" (Oberwinder) mit den „Radikalen" (Scheu). Ich habe schon bemerkt, dass ursprünglich die Spaltung recht wenig begründet war. Aber einmal vorhanden, vertiefte sie sich immer mehr, da zu den sachlichen Differenzen persönliche kamen. Die Radikalen ziehen viele der Gemässigten der Korruption, diese wieder warfen Scheu lockeren Lebenswandel mit russischen Studentinnen vor. Doch diese Angriffe hörten auf, als einerseits Andreas Scheu Österreich verlassen hatte und anderseits die Unternehmungen der Gemässigten, geschwächt durch die Spaltung, eine nach der andern verschwunden waren. Oberwinder selbst verlor bei seinen Anhängern immer mehr Respekt. Was man ihm vor der Spaltung wohl mit Unrecht vorgeworfen hatte, dass er im liberalen Solde arbeite, trat ein, sobald die Zeitungen der „Gemässigten" an Abnehmern verloren oder ganz untergingen. Er sah sich immer mehr darauf angewiesen, für die liberale Presse zu arbeiten, um leben zu können, und es fehlte ihm an Takt und Charakterstärke, dies mit Anstand zu tun. Sein Anhang schwand rasch dahin, damit hörte jeder Grund für die beiden getrennten Parteiflügel auf, sich weiter zu bekämpfen. Ihre Wiedervereinigung wurde möglich und notwendig. Doch gerade Kampfnaturen, die jeden Konflikt mit vollster Intensität ausfechten, können sich schwer dazu verstehen, den Gegner von gestern als Freund von heute, als Kampfgenossen von morgen zu betrachten. Erbitterung und Misstrauen wirken oft lange nach. So fand auch bei den Radikalen namentlich das Streben nach Einigung starke Widerstände. Der Widerstand war besonders stark bei dem Führer im Kampf gegen Oberwinder, bei Andreas Scheu in London. Diesen Widerstand teilte in Österreich namentlich sein Bruder Josef und dann Robert Wagner. Auf die Seite der Einigung stellten sich nicht bloss die meisten Genossen der Provinz, in Wien wurde ihre vornehmste Triebkraft Emil Reinthal. Aber auch Schwarzinger trat lebhaft für die Einigung ein und Bardorf wünschte sie auch. In beiden Lagern standen also liebe Freunde von mir. Indes waren Verehrung für Andreas Scheu ebenso wie mein revolutionäres Temperament noch übermächtig in mir und sie überwogen ruhiges Denken. Überdies kannte ich die Oberwindianer nur aus den Schilderungen ihrer Kritiker, neigte noch zu der naiven Anschauung, der politische Gegner sei vor vornherein ein verworfenes Subjekt. Ich gesellte mich also zu jenen, die die Einigung ablehnten. Das war zum 351

Glück für die Partei die Minderheit. Als Oberwinder die Redaktion des Organs der „Gemässigten", des „Agitator", niederlegte, im Mai 1877, liess sich die Einigung nicht mehr aufhalten. Die letzten Reste der Behinderung der Vereinigung entschwanden, als Oberwinder ein Jahr später, im Herbst 1878 Wien verliess. Er wendete sich nach dem Reich, wo er sich dem Antisemitismus Stöckers zuwendete und in dessen Gefolge eine würdelose Existenz fristete, zeitweise bis zum Polizeispitzel (in Paris) herabsank. Wieder ein Beispiel des Verkommens, oft finanziellen, stets moralischen, dem die meisten Intellektuellen anheimfielen, die sich vor Victor Adlers Auftreten der österreichischen Sozialdemokratie zuwendeten. Da ich auf diesen Gegenstand nicht mehr zurückkomme, so sei nur noch ein Beispiel dieser Art genannt: der stud. phil., später Volksschullehrer, Ignaz Metall, der der Partei in Wien schon in ihren Anfängen beitrat, sich in der Spaltung auf die Seite Oberwinders schlug und sich zur selben Zeit wie dieser von ihr zurückzog. Geschickter als Oberwinder, endete er nicht in Dürftigkeit und Verachtung, sondern als wohlbestallter Wiener Bürgerschuldirektor, freilich als ein Christlich-Sozialer, also auf der andern Seite der Barrikade. Schon im Sommer 1877 fand die Einigung keinen nennenswerten Widerstand mehr. Der Atzgersdorfer Parteitag, am 29. Juni 1877, hatte sie nicht zu beschliessen, er konnte konstatieren, dass sie vollzogen sei. Jedoch der Aufschwung, den man von ihr erwartete, blieb aus. Null plus Null ergibt eben nicht mehr als Null. Wie klein die Partei damals war, bezeugen einige Zahlen. An der Volksversammlung in Wien, in der die Zustimmung zum Einigungswerk ausgesprochen wurde, die also von den Anhängern beider Richtungen beschickt war, 18. Juni 1877, nahmen nach Brügel (III, Seite 73) gegen 320 Personen teil! Diese Versammlung rechnete man zu den gut besuchten. Als Parteisteuer galt damals, da die Parteiorganisation verboten war, die „Sozialpolitische Rundschau", eine Monatsschrift, die vom Parteivorstand herausgegeben wurde und von der ein Exemplar 5 Kreuzer kostete. Jeder Genosse war verpflichtet, ein Exemplar zu beziehen. Die Abnehmer wurden als Parteigenossen gezählt. In einem Mahnschreiben vom Anfang 1878 klagte die Parteileitung darüber, dass die Zahl der Abnehmer der „Sozialpolitischen Rundschau" nur in ganz Österreich 2800 betrage, von denen auf Wien ganze 430 entfallen. Über so viele zahlende Mitglieder verfügte die Partei! Diese Stagnation, die fast an Auflösung grenzte, stand im grellen Widerspruch zum Aufschwung der Bruderpartei im Deutschen Reich. Dort gab es das allgemeine Wahlrecht und das brachte unserer Partei 352

1871 125 000 Stimmen, 1874 schon 352 000, und 1877 fast 500 000! Die österreichische Sozialdemokratie war nur ein Ableger der deutschen. Sie verfügte über keine eigene Parteiliteratur, sondern bezog die ihre aus Deutschland. Die Organisation der Eisenacher war unser Ideal, die deutsche Parteipresse ein Objekt unseres Neides, allerdings eines wohlwollenden. Über die deutschen Parteizustände unterrichtete uns die Lektüre der aus dem Deutschen Reich kommenden Zeitungen und Parteiblätter, namentlich des „Volksstaat", der seit 1876 „Vorwärts" hiess. Im Jahre 1877 bekam ich Gelegenheit, die deutsche Bruderpartei aus eigener Anschauung kennenzulernen. Ich habe schon oben bemerkt, dass mich mein Vater wegen Geschäftsangelegenheiten des Dekorationsateliers im April 1877 nach Dresden und Leipzig schickte. Ich benützte natürlich die Gelegenheit, um im damaligen geistigen Zentrum der deutschen Sozialdemokratie mit ihr in Verbindung zu treten. Mein kurz vorher aus Wien ausgewiesener Freund Louis Werner diente mir als Vermittler und Fühl er. Er hatte in Leipzig in der Genossenschaftsdruckerei eine Stellung gefunden und war bereits mit den dortigen Verhältnissen wohl vertraut. Am meisten imponierten mir die Führer, das heisst nur die obersten, Liebknecht und mehr noch Bebel, obwohl dieser sehr kurz angebunden war. Eine Fülle von Arbeit lastete auf ihm. Ich hatte ihn in seiner Wohnung besucht. Mehr Zeit für mich fand Liebknecht, nicht nur in einer Kneipe, in die er mich bestellte, sondern auch in der Redaktion. Weniger grossen Eindruck machten auf mich Geiser und Hasenclever, die zum Redaktionsstab gehörten. Uber Hasenclever schrieb ich schon von Leipzig aus nach Wien: „Er ist so ziemlich eine Null." Er brachte mir keine hohe Meinung von den Lassalleanern bei, deren hervorragendster Führer er schliesslich geworden war. Auch Geiser liess mich kühl. Dagegen freundete ich mich rasch mit Motteier an, der in der Geschäftsführung des „Vorwärts" tätig war, ein anregendes und liebenswürdiges Original. Meine Mutter war als Verfasserin mit Beifall aufgenommener Erzählungen (veröffentlicht in der „Neuen Welt") bereits in Leipzig bekannt. Auch mein Vater, der kurz vorher die Dekorationen zu „Aida" für Leipzig gemalt hatte. Nur von mir konstatierte ich: es ist doch ungeschickt, dass ich als Symmachos schreibe. Den Schriftsteller Symmachos kennt hier jeder. (Natürlich nicht jeder Leipziger, sondern jeder Leser des „Vorwärts''.) Den Schriftsteller Kautsky nur die Redaktion. Nicht minder als einzelne Persönlichkeiten interessierte mich auch eine Parteiversammlung, an der ich teilnahm. Namentlich aber war es die Genossenschaftsdruckerei mit riesigem Setzersaal, ausgedehnten Räumlichkeiten für Redaktion und Verwaltung, die einen starken 353

Eindruck auf mich machte, wenn ich sie mit der Jämmerlichkeit der entsprechenden Wiener Einrichtung verglich. In Leipzig lernte ich überdies zum erstenmal eine Parteiorganisation kennen, die nicht bloss aus Proletariern bestand, sondern auch nicht wenige Intellektuelle in ihren Reihen zählte, Ärzte, Advokaten, Journalisten, Studenten. Unter diesen der Studiosus Neustädter, mit dem ich später öfter noch viel verkehrte. Er blieb bis zu seinem Tod der Partei treu, trat jedoch öffentlich in ihr nie hervor. Er landete, nachdem er seinen Doktor gemacht, bei der „Frankfurter Zeitung", nicht als politischer Mitarbeiter, sondern als Berichterstatter über ökonomische Dinge. Die grosse Zahl höher gebildeter Genossen und das rege geistige Leben, das unter ihnen herrschte, zogen mich sehr an. Ich kam zu der Überzeugung, in einem derartigen Milieu würde ich meine geistigen Fähigkeiten weit besser und rascher entwickeln können als in der Beengtheit nicht nur der Partei, sondern des ganzen Staatswesens Österreichs. In der deutschen Partei tätig sein zu können, wurde mein Traum. Aber wie ihn zur Wirklichkeit gestalten? Von meinem Vater konnte ich unmöglich verlangen, er solle mir noch mehr gewähren als den Familienunterhalt. In der deutschen Partei eine Stellung zu suchen, fiel mir aber nicht ein. Ich stand den deutschen Dingen doch zu fremd gegenüber und ich hatte den Eindruck, die deutschen Genossen verfügten über einen Überfluss an Intellektuellen, brauchten keine aus dem Ausland. Nur wenn ich eine von der Partei unabhängige ökonomische Basis gewann, durfte ich erwarten, den Traum von der Arbeit in der deutschen Partei realisieren zu können. Das wurde einer der Antriebe, die mich im Herbst 1877 drängten, die „Atlantique-Pacifique" zu verfassen. Aber diese erfüllte meine Erwartungen nicht, gleichzeitig schien die deutsche Partei selbst durch das Sozialistengesetz von der stolzen Höhe herabgestürzt zu werden, die sie erklomm. Jede Aussicht, im Rahmen der deutschen Sozialdemokratie wirken zu können, schien mir mehr als je verschlossen zu sein. i. Johann Most. Ein neues Vorbild für die Partei und das Proletariat schien damals zu erstehen in Russland — sonderbarerweise in jenem Staat, der weniger als ein anderer Europas eine Arbeiterbewegung aufzuweisen hatte. Aber seit dem Krieg gegen die Türkei war das Prestige des Zarismus im eigenen Volke aufs tiefste erschüttert. Freilich, die Volksmassen rührten sich trotzdem nicht, weder Kleinbürger, noch Bauern, noch Proletarier, die, auch wenn sie in Städten beschäftigt waren, doch Bauern blieben. Nur in einem Teil des Adels und der Bourgeoisie wuchs die oppositionelle Stimmung rapid, weniger unter den Kapita-

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listen, die sehr dünn gesät waren, als unter den Intellektuellen und [den Angehörigen der] freien Berufe, sogar in der Bürokratie. Vor allem aber und am entschiedensten unter den Studenten. Doch diese oppositionelle Stimmung führte zu keinen Taten. Das trieb die energischen Elemente der Opposition zu einer Taktik der Gewaltsamkeit, die es einigen wenigen Personen ermöglichte, die Regierung und ihre Organe merklich einzuschüchtern, und die der Opposition Mut machte. Es war die Taktik des individuellen Terrors gegen die Spitzen der Bürokratie, sogar gegen den Monarchen selbst. Diese Taktik erzielte einige Jahre hindurch bis 1881 grosse moralische Erfolge, liess sich aber auf die Dauer nicht fortsetzen, musste mit der Vernichtung ihrer kühnsten Elemente rechnen, wenn sie nicht rasch einen umstürzenden Erfolg erzielte. Der blieb aus, und so endete die Periode des Terrors mit langjähriger Lähmung alles politischen, ja alles geistigen Lebens in Russland. Von 1877 an bis 1881 aber wirkte sie sehr belebend auf alle wahrhaft fortschrittlichen Elemente Europas, vor allem natürlich auf die Sozialdemokraten. Wir alle jubelten den russischen Terroristen zu, auch Marx und Engels. Doch nicht alle unter uns zogen aus ihr die gleichen Schlussfolgerungen. Die Schablonenmenschen, die keinen Unterschied zu machen verstehen, wähnten, was für Russland gut sei, müsse es auch für alle Welt sein. Sie predigten den individuellen Terror und die Geheimbündelei auch für Westeuropa. Das wurde von der Mehrzahl der Sozialdemokraten abgelehnt. Wir wussten noch nicht, dass der individuelle Terror als System auch in Russland versage. Aber für Westeuropa verwarfen wir ihn schon damals. Was in einem primitiven Staat unter ganz verzweifelten Verhältnissen am Platz sein möge, könne doch ganz verfehlt sein und sehr verderblich wirken in einem ökonomisch und politisch höher entwickelten Staatswesen. So kam ein schroffer Gegensatz innerhalb der Sozialdemokratie auf, zwischen den Anhängern und den Verurteilern der Geheimbündelei und des individuellen Terrors. Es war zunächst ein taktischer Gegensatz, wurde aber bald ein prinzipieller. Denn die Anhänger der Geheimbündelei und des individuellen Terrors ausserhalb Russlands merkten bald, dass sie in der Sozialdemokratie keinen Boden fänden. Dagegen entsprach ihnen sehr die Denkweise des bakunistischen Anarchismus, mit dem sie sich immer mehr identifizierten, soweit sie ihm nicht von Haus aus angehörten. Besonders war es die Sozialdemokratie Österreichs, deren Denken damals durch den Anarchismus stark infiziert wurde. Zu derselben Zeit, in der die revolutionäre Bewegung Russlands in hellstem Glanz erstrahlte, brach das Ansehen, das die Sozialdemokratie Deutschlands unter den Sozialisten der Welt genossen hatte,

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mit einem Schlage zusammen. Die beiden gegensätzlichen Entwicklungen in Russland und Deutschland stehen in einem inneren Zusammenhang. Das russische Reich schien einer Revolution entgegenzutreiben. Das machte die Machthaber nicht nur dort, sondern auch in den Nachbarstaaten höchst nervös. Bismarck war seit langem wütend über den unaufhaltsamen Aufstieg der deutschen Sozialdemokratie, die er zur Zeit Lassalles und Schweitzers zu gängeln und zu benützen gehofft hatte und die nun immer mehr zu einer ebenso rücksichtslosen wie kraftvollen Oppositionspartei heranwuchs. Seit Jahren hatte er getrachtet, sie mit Gewaltmassregeln niederzuwerfen, aber dabei zunächst nur bei den Konservativen eine Unterstützung gefunden. Die Nationalliberalen hassten die Sozialdemokraten ebensosehr wie er selbst 1 , hofften aber doch noch, mit blossen propagandistischen Mitteln ihren Ansturm abwehren zu können, trugen Bedenken, Bismarck vermehrte Machtmittel zu gewähren, die er gegen den Liberalismus ebenso anwenden konnte wie gegen den Sozialismus. Doch wurden sie in ihrer Ablehnung einer Repressionspolitik erschüttert, als die revolutionäre Bewegung in Russland so machtvoll auftrat. Wenn es zur Revolution dort kam, drohte sie nicht auf Deutschland überzugreifen, zu einer sozialdemokratischen zu werden? In dieser Situation brachte ein verwahrloster Konfusionsrat eine historische Wendung. Es war der Klempner Hödel, der zuerst bei der Sozialdemokratie gewesen; aus ihr ausgeschlossen, hatte er sich den Nationalliberalen zugewendet. Plötzlich aber liess er sich einfallen, äusserlich die russischen Terroristen nachzuahmen. Am 11. Mai 1878 schoss er auf den alten Kaiser, ohne ihn zu treffen, vielleicht ohne auf ihn zu zielen, bloss um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Bismarck hoffte, die allgemeine Entrüstung ob dieser sinnlosen Tat mit Erfolg ausnützen zu können, und legte dem Reichstag schon am 23. Mai ein Sozialistengesetz vor. Der lehnte es mit grosser Mehrheit ab. (251 gegen 57 Stimmen.) Wir jubelten über die Niederlage Bismarcks. Doch zu früh. Wenige Tage später fand ein noch grösserer Konfusionsrat als Hödel, wahrscheinlich ein Wahnsinniger, Dr. Nobiling, es angezeigt, Hödel nachzuahmen. Nur blödsinniger Nachahmungstrieb konnte für ihn in Betracht kommen. E r war nie Sozialdemokrat gewesen, hatte mehrfach gegen die Partei gesprochen. Am 2. Juni schoss er auf den Kaiser. Die blosse Wiederholung des Attentats musste allein schon höchst erregend auf die Bevölkerung wirken. Noch mehr die Tatsache, dass diesmal der Kaiser nicht unverletzt davonkam, sondern sogar schwer verwundet wurde. Doch scheint Bismarck trotzdem der agitatorischen Wirkung des neuen Attentats 1

In der Abschrift steht „sehr". B.K.

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noch nicht genügend Durchschlagskraft zugetraut zu haben. Daher wiederholte er die Taktik, die er schon einmal mit der Fälschung der Emser Depesche so erfolgreich angewendet hatte. Er liess an demselben 2. Juni nachts eine Meldung in die Welt gehen, die besagte, Nobiling habe bei seiner gerichtlichen Vernehmung bekannt, dass er sozialistischen Tendenzen huldige. Das war eine schamlose Lüge. Denn nach dem Schuss auf den Kaiser hatte er sich selbst eine Kugel in den Schädel geschossen, mit dem Erfolg, dass er noch während der sofort vorgenommenen Vernehmung 1 völlig das Bewusstsein verlor und es erst am 6. Juni wiedererlangt hat. Am 10. September starb er, ohne jemals ein Wort geäussert zu haben, das als ein Ausdruck sozialdemokratischer Tendenzen und Beziehung gedeutet werden könnte. Auch andere Indizien für diese Annahme Hessen sich nicht finden. Aber das offiziöse Telegramm genügte in der damaligen erregten Atmosphäre, eine geistige Epidemie wildesten Tobens gegen die Sozialdemokratie hervorzurufen. Ein grosser Teil des deutschen Volkes wurde von dieser Geisteskrankheit befallen. Das benutzte Bismarck zu Neuwahlen, die ihm eine Mehrheit für seine reaktionären Pläne, auch für das neue Sozialistengesetz brachte, das er dem Reichstag am 9. September vorlegte und das am 19. Oktober nach der dritten Lesung mit 221 gegen 149 Stimmen angenommen wurde. Die Liberalen waren nicht bloss dezimiert, sondern auch kastriert, ihrer Mannhaftigkeit beraubt worden. Viel mehr als [durch] die Flut der behördlichen Verfolgungen, die damals über das sozialistische Proletariat hereinbrach, schon vor dem Sozialistengesetz hereinbrach, namentlich eine Fülle von Verurteilungen wegen Majestätsbeleidigungen und dergleichen, litt unsere Partei unter der allgemeinen Stimmung der Bevölkerung. Es ist eine bekannte Beobachtung schon bei Ameisen, dass sich ein Tierchen dieser Art auf das mutigste wehrt und lieber zu Grunde geht, als dass es seinen Posten verlässt, wenn es von Genossen umgeben ist. In der Vereinzelung verliert jedoch dasselbe Individuum leicht den Mut und sucht sich zu verkriechen. Dieselbe Beobachtung kann man beim Menschen machen. Gar manche Persönlichkeit stellt sich in Gemeinschaft mit Gesinnungsgenossen dem Gegner als mannhafter Kämpfer in kühnem Trotze entgegen. Weiss sie sich isoliert, sieht sie, dass ihre Umgebung die Sache im Stich lässt oder gar bekämpft, dann fühlt sie sich unsicher, wird ängstlich. Auf die allgemeine Stimmung der Bevölkerung nach den Attentaten führe ich es zurück, dass unsere Parteigenossen dem drohenden Soziai

In der Abschrift steht „Unternehmung". B. K.

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listengesetz gegenüber keine Spur einer energischen Protestbewegung an den Tag legten. Sie blieben still. Unsere Vertreter im Reichstag allerdings führten bei den Verhandlungen über das Sozialistengesetz eine sehr kraftvolle und kühne Sprache. Die Parteipresse dagegen zeigte sich sehr schwachmütig, ehe noch das Sozialistengesetz in Kraft getreten war. Sie war enorm gewachsen, bestand im Mai 1877 aus 41 politischen, darunter 6 täglichen, 14 gewerkschaftlichen Zeitungen und einem Unterhaltungsblatt. Es gab 14 Parteidruckereien. Alle die Redakteure, Verwalter, Setzer dieser Blätter sahen sich in ihrer Existenz bedroht, wenn die Parteiblätter verboten wurden. Nicht wenige unter den Redakteuren, Herausgebern, Druckern hofften, sich Duldung zu erkaufen, wenn sie eine höchst zahme, farblose Sprache führten, ohne eine Spur von Sozialismus oder Opposition. Aber nicht nur das, dass in Deutschland unter dem Sozialistengesetz eine unabhängige Arbeiterpresse unmöglich sei, lag für jeden Unbefangenen klar zutage. Um so wichtiger wurde es, den Erlass des Gesetzes sofort mit der Herausgabe eines für die deutschen Leser bestimmten Blattes im Auslande zu beantworten, das sie informierte und ermutigte, sowie alle Schandtaten der deutschen Behörden öffentlich an den Pranger stellte. Auch davon wollten viele massgebenden Personen vorerst nichts wissen. Man solle den übermächtigen erbitterten Gegner ohne Not nicht weiter reizen. Wir in Österreich warteten mit Sehnsucht auf das Erscheinen eines solchen Blattes. Die deutschen Blätter, namentlich der Leipziger „Vorwärts" sowie die „Berliner Freie Presse", waren die Hauptquellen unserer Informationen über den Lauf der Welt und unsere Wegweiser gewesen, denen wir unbedingt vertrauten. Nun versagten diese Informatoren und Wegweiser völlig. Um so dringender empfanden wir das Bedürfnis nach einem Ersatz, nach einem Organ der deutschen Partei im Ausland. Immer und immer wieder schrieb ich in diesem Sinn während der letzten Wochen vor dem Erlass des Ausnahmegesetzes an mir bekannte Genossen in Deutschland, an Liebknecht, namentlich aber an H. Lewy, einen Bankbeamten, der im Jahr 1877 während des russisch-türkischen Krieges gegen Liebknecht wegen dessen blinder Türkenbewunderung polemisiert hatte. Ich stand in Österreich damals in einem ähnlichen Gegensatz zu Kaler-Reinthal, der sich für die Türken einsetzte, indes ich die Sache der Südslawen vertrat. Das brachte mich in Verbindung mit Lewy, mit dem ich bald eifrig korrespondierte. Ich beschwor ihn, dahin zu wirken, dass ein Organ der Partei im Ausland gegründet werde, das kein Blatt vor den Mund nehme und der Mutlosigkeit entgegenwirke, die von aussen für uns noch grösser erschien als sie in Wirklichkeit war. Man nennt die Zeit des Sozialistengesetzes gern das Heldenzeit358

alter der deutschen Sozialdemokratie. Zu einem solchen gestaltete sie sich auch. Doch eingeleitet wurde sie durch eine Periode, die aussah wie völlige Kapitulation, Aufgeben jeglichen Weiterkämpfens. Tatsächlich konnte Bios damals die Selbstauflösung der Partei, den Anschluss der Genossen an die süddeutsche Volkspartei propagieren und er fand Anklang damit, allerdings nicht bei Marx und Engels, die ihm darob die Freundschaft kündigten. Diese anscheinende Schwäche und Feigheit der grössten sozialdemokratischen Partei der Welt kontrastierte seltsam mit der gleichzeitigen Kraft und Kühnheit der russischen Revolutionäre. Das sollte sich nach wenigen Jahren sehr ändern. Die deutsche Sozialdemokratie raffte sich auf, marschierte wieder vorwärts, von einer siegreichen Wahlschlacht zur andern, indes die russische revolutionäre Bewegung mit dem Zarenattentat (März 1881) ihren Höhepunkt erreichte und von da an rasch erlahmte. Bis dahin aber bestand unter den Revolutionären der Welt seit 1878 eine ähnliche Missachtung der deutschen Sozialdemokratie, wie sie dieser jüngst nach dem Reichstagsbrand nach 1933 zuteil wurde. Um so grandioser erschienen die russischen Revolutionäre. Für oberflächliche, durch blosse Sensationen bestimmte Beobachter wurden deren Methoden vorbildlich für den ganzen Erdkreis. Namentlich galt das für die Proletarier Österreichs, denen eine kurzsichtige und brutale Polizei und Gerichtsbarkeit alle Möglichkeiten der Organisation und der Bildung seither 1 und auch in der Zeit des „Liberalismus" vorenthalten hatte. Das deutsche Sozialistengesetz gab ihnen den Anstoss zum Übergang von deutschen Methoden zu russischen, von Lassalleanern 2 zu etwas vulgarisierten bakunistischen. Die russischen Terroristen brauchten keine bakunistischen zu sein. Viele von ihnen verlangten ein Parlament. Ausserhalb Russlands hatte der Terrorismus nur einen Sinn für Leute, die bakunistisch dachten. Der Führer auf dem Weg von der alten Sozialdemokratie zum Bakunismus wurde Johann Most. Geboren 1846 in Augsburg als Sohn eines Regierungssekretärs, war er doch nur Buchbinder geworden. Früh hatte er auf weiten Wanderungen nicht nur sein sozialistisches Herz, sondern auch seine rednerische und schriftstellerische Begabung entdeckt und entwickelt. In Zürich wurde er Sozialdemokrat, als solcher kam er nach Wien 1869 und beteiligte sich dort mit solchem Erfolg in der sozialistischen Bewegung, dass ihm die Ehre widerfuhr, in dem Hochverratsprozess, der 1870 gegen Führer der Sozialdemokratie inszeniert wurde, in erster Reihe neben Oberwinder und Scheu 1

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So in der Abschrift; es soll vermutlich „seit jeher" heissen. B. K. In der Abschrift steht „von Lassalleanisch". B. K.

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genannt zu werden. Er wurde zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt. Die Strafe wurde vom Obergericht ermässigt auf drei Jahre. Die Amnestie vom 7. Februar 1871 kam natürlich auch ihm zugute, leitete aber das Ende seiner Wirksamkeit in Österreich ein. Sofort nach seiner Freilassung stürzte er sich von neuem auf das lebhafteste in die Agitation, was ihm schon im Mai die Ausweisung aus Österreich eintrug, während Oberwinder, ebenfalls ein Ausländer, unbehelligt blieb. Diese Unterscheidung wurde in manchen Parteikreisen damals schon zuungunsten Oberwinders vermerkt. Jedenfalls war dieser weniger leidenschaftlich, aber überlegender als Most. Den Sozialisten Österreichs blieb Most in bester Erinnerung. Im Deutschen Reich setzte er seine Tätigkeit natürlich weit weniger gehemmt fort. Schon 1874 wurde er in den Reichstag gewählt. Erneut dann im Jahre 1877. Nach der Einigung zwischen Lassalleanern und Eisenachern, 1875, war von den Berliner Genossen die „Berliner Freie Presse" als erste sozialdemokratische Tageszeitung von längerem Bestand ins Leben gerufen worden. Sie erschien vom 1. Januar 1876 an. Most sass damals gerade eine Gefängnisstrafe ab. Sobald er sie hinter sich hatte, wurde er in die Redaktion der „Berliner Freien Presse" gerufen, die er bald ganz in die Hand bekam. Das war neben der Redaktion des Leipziger „Vorwärts" der wichtigste Posten in der deutschen Parteijournalistik. Witzig, intelligent, belesen, rührig, schlagfertig, gleich gewandt mit der Zunge wie mit der Feder, dabei von einer überschäumenden Lebhaftigkeit, die ihm alle Augenblicke eine Kerkerstrafe einbrachte, gewann er rasch bedeutendes Ansehen unter den Massen der Parteigenossen. Aber seine Oberflächlichkeit, Eitelkeit, Sensationssucht, Überheblichkeit und Verantwortungslosigkeit, sowie Mangel an Disziplin und Takt schufen ihm in den leitenden Kreisen der Partei, die Gelegenheit hatten, ihn näher zu beobachten, manchen Gegner. Der Gegensatz zwischen ihm und ihnen darf nicht als einer von Radikalismus und Mässigung schabionisiert werden. Most neigte wohl zu radikalen Ausdrücken, liess sich aber von dem in den letzten Jahren vor dem Sozialistengesetz grassierenden Professorensozialismus imponieren, von Dühring ebenso wie von Schäffle. Anlässlich der Wahlen in Frankreich, 1877, hatte Gambetta zur Sammlung aller Republikaner „ohne Unterschied der Fraktion" zum Zweck der Niederwerfung der klerikal-monarchistischen Reaktion aufgefordert. Erstaunlicherweise war es der „Vorwärts" (wahrscheinlich Hasenclever), der sich gegen die republikanische Sammlung aussprach und erklärte, je eher die bürgerliche Republik gestürzt werde, desto besser für das Proletariat. Die Mehrheit der Parteipresse stimmte diesem zwar radikalen, aber unsinnigen Standpunkt zu. 360

Gegen ihn aber erhob sich Johann Most in der „Berliner Freien Presse" Man sieht, Most musste nicht immer radikal und er konnte zeitweise auch vernünftiger sein als die Mehrheit der Genossen. In der Zeit des Kampfes um das Sozialistengesetz musste Most schweigend zusehen. Er sass im Gefängnis. Als er am 16. Dezember 1878 herauskam, hatte sich die Situation katastrophal gestaltet. Aus einem blühenden, kraftvoll aufstrebenden Organismus war über Nacht ein anscheinend toter Scherbenhaufen geworden. Sein Mandat zum Reichstag hatte er bei der Wahl am 30. Juli verloren. Sein Blatt, die „Berliner Freie Presse", war am 23. Oktober verboten worden. Most selbst wurde am Tage seiner Haftentlassung aus Berlin ausgewiesen. Nur 24 Stunden durfte er dort bleiben — lange genug, um Angst und Verwirrung in Parteikreisen feststellen zu können. Er wendete sich nach Hamburg, wollte versuchen, wie so mancher andere Parteiredakteur damals, durch Herausgabe eines farblosen Blattes sein Leben zu fristen, da erfuhr er, dass eine neue Anklage gegen ihn erhoben und ein Verhaftsbefehl erlassen sei. Unter solchen Umständen auszuharren, erschien ihm zwecklos. Er wollte nach Amerika, wählte aber den Weg über London, wo gerade der kommunistische Arbeiterbildungsverein beschloss, eine sozialdemokratische Wochenschrift herauszugeben, die illegaler Propaganda in Deutschland dienen solle. Mit Most erschien der gegebene Redakteur für dieses Blatt. Most übernahm die Aufgabe ohne Zögern. Schon am 3. Januar 1879 erschien die erste Nummer der „Freiheit". Die Herausgeber hatten es so furchtbar eilig damit, dass sie gar keinen Versuch machten, sich mit einem der leitenden Genossen im Reich darüber in Verbindung zu setzen. Über die Genossen im Reich hinweg wurde das neue Organ gegründet. Wie sehr persönliche Eitelkeit dabei im Spiele war, erhellt daraus, dass die Herausgeber ganz ausser acht liessen, dass eine Zeitschrift illegaler Propaganda gegen das Regime des Sozialistengesetzes bereits bestand. Einer unserer besten Parteiredakteure, Karl Hirsch, war z.Zt. des Attentatsrummels in Paris tätig. Nach dem Erlass des Sozialistengesetzes wies ihn die damals sehr reaktionäre französische Regierung aus, wohl aus Liebedienerei gegen Bismarck. Er ging nach Brüssel. Und wie so viele unter uns, hielt auch er nach der Unterdrückung der legalen Presse ein illegales Blatt im freien Ausland für unerlässlich. Auf eigene Faust gab er vom 15. Dezember 1878 an ein geschickt und energisch geschriebenes Wochenblatt heraus, die „Laterne". Das Nächste für die tatenlustigen Londoner Genossen wäre wohl gewesen, dieses Organ zu unterstützen und zu fördern, oder mindestens sich mit ihm zu verständigen. Aber Most wollte ein Blatt für sich selbst haben, und so wurde ein Akt sinnloser Verschwendung und Anarchie 361

begangen, wie ihn die Sozialisten der kapitalistischen Produktionsweise vorwerfen. Statt zur Deckung des Bedarfes ein kraftvolles Organ zu schaffen, wurden zwei konkurrierende in die Welt gesetzt, von denen eines zuviel war. Die „Laterne" konnte sich nicht lange behaupten, sie hatte keine Organisation hinter sich. Ende Juni 1879 musste sie ihr Erscheinen einstellen. Die „Freiheit" überlebte den Konkurrenten. Sie hatte nicht nur die ziemlich zahlreichen Arbeiter deutscher Nationalität in London hinter sich, Most war auch viel bekannter als Hirsch, er fand viel mehr Anknüpfungspunkte im Reich. Ausserdem aber schloss sich ihm sofort der damals in London lebende Andreas Scheu an, der für Österreich noch sehr viel bedeutete. Je mehr die österreichische Polizei der Parteipresse des eigenen Landes das Leben unmöglich machte, desto mehr hatten sich die Genossen im Habsburger-Staat daran gewöhnt, ihre Parteilektüre vom Auslande zu beziehen. Jetzt gab es keine Parteiliteratur in Deutschland mehr; da griffen wir alle in Österreich, die sozialistisch dachten, gierig nach dem ersten Ersatz aus dem Ausland, von dem wir Kunde erhielten. Von der „Laterne" erfuhren wir nichts. Wohl aber sorgte Andreas Scheu dafür, dass die „Freiheit" gleich in grösseren Mengen bekannten österreichischen Genossen zuging. Sie war frisch und gut geschrieben, brachte das, was wir brauchten. Sie wurde mit Begeisterung von uns aufgenommen und verbreitet. Bald zählte auch ich zu ihren Mitarbeitern. Eines Artikels entsinne ich mich genau, der in der Nummer vom 21. Juni 1879 erschien, betitelt: „Aus Österreich". Ich polemisierte gegen Leisetreter und Servilität, die sich in der „Volkshalle" breitmachten, einer „wissenschaftlichen" Zeitschrift, die der frühere Oberwindianer Gerbers herausgab, mit dem ich mich damals auch im „Sozialist" herumstritt, weil er behauptet hatte, höfischer Prunk sei dem Volke nützlich, weil er Geld unter die Leute bringe. Ich wies in meinem Artikel in der „Freiheit" ferner darauf hin, dass eine Versöhnung des Proletariats mit seinen Klassengegnern unmöglich sei. Wir könnten sie nie gewinnen. Was wir anzustreben hätten, sei, so stark zu werden, dass sie uns fürchten. Der Wahlspruch des römischen Kaisers Caligula (ich schrieb irrtümlich Nero) müsse auch der der Sozialdemokratie werden: „Oderint, dum metuant". „Sie mögen uns hassen, wenn sie uns nur fürchten." Vorher schon hatte ich ausgeführt, in Österreich sei die Parteipresse auch ohne Ausnahmegesetz durch die Polizei zum Verstummen gebracht: „Wir sind tot, solange und soweit wir auf dem gesetzlichen Weg verharren. Wieder muss dieselbe Agitationsweise in Österreich eingeschlagen werden, die dort vor dem Jahr 1848 üblich war: das 362

Einschmuggeln revolutionärer Schriften aus dem Ausland. Die geheime Propaganda muss betrieben werden, was nichts mit Geheimbündelei zu tun hat." In diesem Punkte waren wir in Österreich fast alle einig. Und doch bereitete sich bereits eine neue Spaltung in unseren Reihen vor. Ich hatte mich für geheime Propaganda ausgesprochen, jedoch gegen Geheimbündelei. Aber gerade damals, als ich das schrieb, traten die ersten Versuche zutage, unsere Partei in eine Verschwörung zu verwandeln. Most begann zu verlangen, es sollte im Gegensatz zur alten Partei eine neue gegründet werden, ein Geheimbund. Schon am 4. Mai 1879 kündigte er in der „Freiheit" an: „Die neue (geheime) Partei ist im Wachsen, während die alte zusammenschrumpft." Darob und wegen heftiger persönlicher Angriffe, -die Most gegen alte verdiente Parteigenossen, namentlich gegen Liebknecht richtete, polemisierte die „Laterne", also nicht ein Organ der Angstmeier, schon am 22. Juni 1879 gegen Most und warf ihm vor, dass er auf eine Spaltung hinarbeite. Die „Laterne" ging ein, doch nicht lange blieb die „Freiheit" das einzige Blatt der deutschen Sozialdemokratie im Ausland. Schon im August sollte in Zürich der „Sozialdemokrat" herauskommen. Technische Hindernisse brachten eine Verspätung mit sich. Am 28. September 1879 erschien die erste Nummer des „Sozialdemokraten". Die leitenden Genossen in Deutschland hatten erkannt, dass es ein Fehler war, die Herausgabe illegaler Blätter im Ausland, die für die deutschen Genossen bestimmt waren, dem Zufall zu überlassen. Ich spreche hier immer von den leitenden Genossen. Einen gewählten Parteivorstand gab es nicht mehr, seitdem das Sozialistengesetz die Parteiorganisation zerschlagen hatte. Aber eine Reihe von Genossen erfreuten sich so sehr allgemeinen Vertrauens, dass sie ohne besondere Bestallung die Parteigeschäfte führen konnten. Das waren Bebel und Liebknecht in Leipzig und dann die neu 1878 in den Reichstag gewählten Genossen. Unter ihnen wieder jene zwei, Bebel und Liebknecht, dann Bracke, Fritzsche, Reinders, Vahlteich, Wimmer 1 und Hasselmann. Auch unter diesen erlangten Liebknecht und Bebel die geistige Führung. Die Parteileitung konnte natürlich für sich kein Blatt im Ausland herausgeben. Auch das neue Blatt, der „Sozialdemokrat" war eine private Gründung, es beruhte auf den Geldmitteln Höchbergs, von dem noch mehr zu sprechen sein wird. Aber von Anfang an war es im Verein mit den „Leipzigern" geplant, war sein Programm und l

Gemeint ist Ph. Wiemer. B.K.

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sein Redakteur im Einvernehmen mit ihnen bestimmt worden. Der Redakteur war Georg von Vollmar, der damals auf dem linken Flügel der Partei stand. Für mich bedeutete der „Sozialdemokrat" eine freudige Genugtuung. Was ich seit dem Kommen des Sozialistengesetzes ersehnt hatte, brachte er. Ein Organ, das den Standpunkt der Partei unverwässert, aber auch nicht hyperradikal, verfälscht zur Geltung brachte. Schon für die erste Nummer schrieb ich einen Artikel, gezeichnet S .. s (Symmachos), in dem ich erklärte, „wir" in Österreich begrüssten den „Sozialdemokrat" mit Freuden. Ich durfte noch von „wir" sprechen, denn wir betrachteten „Freiheit" und „Sozialdemokrat" als zwei Arme des gleichen Körpers. Aber Most dachte anders. Wenn sich der „Sozialdemokrat" behauptete und bewährte, dann wurde eigentlich die „Freiheit" überflüssig. Um ihre Notwendigkeit zu erweisen, musste sie immer mehr jene Gebiete pflegen, die der „Sozialdemokrat" nicht kultivierte. Das war einerseits die Polemik gegen die Genossen, die in Deutschland geblieben waren und dort nicht im Sinne Mösts wirkten, anderseits war das das Kokettieren mit antiparlamentarischen und putschistischen Gedankengängen. Immer weiter rückte Most von der Masse der Partei und ihren Auffassungen ab. Im Dezember 1879 hatte er schon herausgefunden, dass der Zürcher „Sozialdemokrat" nichts tauge. In der Nummer der „Freiheit" vom 6. Dezember 1879 geht er gegen Leute los, die „sich ganz unverfroren mit der Partei identifizieren" und die „ein Jahr nach der Deklarierung des Sozialistengesetzes" mit der Begründung des „Sozialdemokrat" „wieder einen schüchternen Versuch machen, das nachzuholen, was bisher versäumt war." Die Massen dürften aber von diesem Versuch nicht sehr erbaut sein. „Denn jenes Blatt, das nun die verfahrene Karre wieder aus dem Sumpf kutschieren soll, scheint seine Aufgabe nicht zu kennen, vielmehr ist es schwer, überhaupt zu erraten, dass es sozialdemokratisch sein soll". Der Gegensatz, der sich da auftat, war für mich sehr bitter. Ich unternahm es, vermitteln zu wollen; das war natürlich ein ganz hoffnungsloses Beginnen. Das hätte ich vielleicht von vornherein erkannt, wenn nicht meine persönliche Sympathie für Andreas Scheu hier mitgespielt hätte, den ich schon vor meinem Eintritt in die Partei hoch verehrte und dessen überragende Persönlichkeit mich ungemein faszinierte. Doch trotzdem erkannte ich immer deutlicher, dass Most Wege einschlug, auf denen ich ihm nicht folgen konnte. Damit aber erwuchsen in mir auch Bedenken gegen Scheu und seinen sehr starken Anhang in Wien. Wenn es nicht gelang, die Zürcher und die Londoner unter einen Hut zu bringen, dann musste es zum offenen 364

Bruch zwischen ihnen kommen. Dann aber konnte, das erkannte ich bereits, mein Platz nicht an der Seite von Andreas Scheu, sondern nur an der Seite seiner Gegner sein. Zu dieser klaren Entscheidung kam es 1880. Aber damals arbeitete ich nicht mehr in Wien, sondern in Zürich. 4. T H E O R E T I S C H E

a. Meine erste theoretische

Abhandlung

ARBEITEN

im „Volksstaat".

Die bisherigen Darlegungen zeigten schon, dass ich reichlich beschäftigt war, seitdem ich mich der Partei angeschlossen. Das Hören der Vorlesungen an der Universität, die Versuche, eine Erwerbstätigkeit zu erlangen, die mich ökonomisch selbständig machte und mich der Notwendigkeit enthob, im Staatsdienst eine Existenz zu suchen, daneben noch eine rege Teilnahme an der propagandistischen Tätigkeit der Partei. Doch alles das genügte mir nicht. Seitdem ich denken konnte, hatte ich stets das Bedürfnis nach einer Weltanschauung empfunden. Es trieb mich „rerum cognoscere causas", die Ursachen der Dinge zu erkennen und die erkannten kausalen Zusammenhänge in einen widerspruchslosen Gesamtzusammenhang zu bringen. Dabei kam ich bald dazu, auf das Vordringen zu den „letzten Dingen" zu verzichten und mich auf das Gebiet der erkannten kausalen Zusammenhänge der Erfahrung zu beschränken. Innerhalb dieses Gebiets strebte ich aber nach völliger Einheitlichkeit der Erkenntnis. Gesellschaft und Natur beschäftigten mich in gleicher Weise. Die Gesellschaftswissenschaft betrachtete ich nur als ein besonderes Gebiet der Naturwissenschaft, etwa so, wie die organische Chemie nur ein Zweig der allgemeinen Chemie ist. Die Trennung der Wissenschaft in Geistes- und Naturwissenschaften, von denen jede ganz unabhängig sein soll von der andern, habe ich stets abgelehnt. Doch leugnete ich natürlich nicht, dass jedes Gebiet der Erscheinungen innerhalb des allgemeinen Zusammenhangs besonderen Gesetzen unterliegt, deren Aufdeckung für seine Erkenntnis unerlässlich ist. Der Drang nach dieser Erkenntnis war schon sehr lebhaft in mir, als ich mich der Partei anschloss. Aber ich wurde sehr enttäuscht, wenn ich meinte, in ihr bei meinem unsicheren Suchen und Tasten auf dem Gebiet der sozialen Theorie einen zuverlässigen und überlegenen Führer finden zu können. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die rein proletarische Zusammensetzung der österreichischen Sozialdemokratie in der Zeit meines Beitrittes zu ihr und noch einige Jahre später das Aufkommen und die Verbreitung theoretischen sozialistischen Wissens in ihr stark hemmte. Auch der bedeutendste Kopf, 365

der damals aus den Reihen des österreichischen Proletariats hervorging, Andreas Scheu, bildete keine Ausnahme. Er brachte es zu einer ansehnlichen allgemeinen Bildung und zu bemerkenswerter Beherrschung der Sprache — neben der deutschen auch der englischen. Er wurde ein glänzender Propagandist, aber er wurde nie ein Theoretiker und erhob auch nie den Anspruch einer zu sein. Nur zwei akademisch gebildete Personen umfasste die österreichische Sozialdemokratie jener Zeit: die eine, die ihr bald adieu sagte, Hippolyt Tauschinsky, war ein freireligiöser, die andere, Kaler-Reinthal, ein ethischer [Sozialist]. Keiner von ihnen hatte mir theoretisch etwas von dem zu bieten, was ich bei meiner materialistischen Einstellung verlangte: Einsicht in die Gesetzmässigkeit der Gesellschaft, Aufschluss über die Triebkräfte in ihr, die zum Sozialismus führten. Ausserhalb der Partei aber, ebenso unter meinen Kollegen an der Universität fand ich überhaupt keine Spur von Interesse, geschweige denn Verständnis für den Sozialismus. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der ausschliesslich proletarische Charakter in der österreichischen Sozialdemokratie in der Zeit von 1875—1880 mir ein tieferes Verständnis des proletarischen Klassencharakters erschloss, als den meisten Intellektuellen zugänglich ist, die unserer Partei beitreten, aber sich vornehmlich in Kreisen von Intellektuellen bewegen. Ausserdem glaube ich, diesem Zustand der Partei noch eine andere Fähigkeit zu verdanken: ich stelle mir als Leser meiner Schriften stets einen Proletarier vor, nicht einen ganz primitiven — einen solchen, der jeder Vorbildung entbehrt, ohne weiteres eine höhere Erkenntnis beizubringen, ist ausgeschlossen — sondern einen, an den Klassenkämpfen seiner Zeit rege teilnehmenden, in ihnen und durch sie gebildeten Proletarier, der gelernt hat, selbständig zu denken, von den Traditionen der Urväter loszukommen; der regelmässig seine Zeitung liest und öffentliche Versammlungen besucht und durch sie ein gewisses Mass allgemeiner öffentlicher Bildung und Erkenntnis des Zustandes der Welt gewonnen hat. Solche Arbeiter bildeten in der Zeit von 1875 bis 1880 fast meinen ausschliesslichen Verkehr ausserhalb meiner Familie. Mit ihnen und für sie redete und schrieb ich. Dabei kam ich dazu, stets auf möglichste Einfachheit und Klarheit der Darstellung bedacht zu sein, was mir viel wichtiger wurde als geistreiche Anspielungen und überraschende Wendungen oder gar als tiefsinnige Dunkelheiten. Mein Vorbild für Stil und Darstellung ist später, als ich ihn näher kannte, Friedrich Engels geworden. Wohl vermochte auch Marx klar, einfach, populär dort zu schreiben, wo er sich an Arbeiter wandte. Doch in seinen wissenschaftlichen Schriften setzte er ein höher gebildetes Lesepublikum voraus. Dabei absorbierte ihn das Ringen mit dem 366

Gedanken, das Ringen um den der Erscheinung oder dem Gesetz möglichst entsprechenden „adäquaten" Ausdruck. Das Streben nach Allgemeinverständlichkeit trat hierbei zurück. Meinen Stil habe ich nicht an den Erzeugnissen der österreichischen Arbeiterpresse jener Zeit gebildet. Die Parteijournalisten damals waren in der Regel keine Stilkünstler. Andreas Scheu allerdings schrieb einen bemerkenswert guten und eindrucksvollen Stil. Auch als Dichter hatte er manche schöne Leistung aufzuweisen. Doch im allgemeinen konnte ich von meiner Umgebung in der Partei in Österreich in bezug auf Stil oder Gedankenaufbau nichts lernen. In dieser Beziehung waren meine Lehrmeister damals Börne und Heinrich Heine, die ich mit Begeisterung verschlang. Von meiner Parteiumgebung aber lernte ich nur, wie ich es bei meinen Darlegungen nicht zu halten habe, wollte ich bei ihr Verständnis und Interesse finden. Doch wichtiger als die Formen war der Inhalt meines Denkens. Dazu, soweit es rein theoretischer Natur war, gab mir die Partei damals nichts, gar nichts, weder positiv noch negativ. Wohl erschloss sich mir nun die Parteiliteratur Deutschlands. Jedoch war diese keineswegs ausgesprochen auf eine bestimmte wissenschaftliche Erkenntnis begründet. Das „Kapital" lernte ich erst Ende 1875 kennen. Es dauerte lange, bis ich es verstand. Noch länger dauerte es, bis mir das „Kommunistische Manifest" in die Hand kam. Friedrich Engels' grundlegende Streitschrift gegen Eugen Dühring begann erst 1877 zu erscheinen. Am verbreitetsten in der Partei waren die Schriften Lassalles. Sie standen wissenschaftlich sicher weit höher als die übrige Propagandaliteratur in der Partei — nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland. Sie boten mir unendlich viel. Mein Verlangen nach einem wissenschaftlichen System des Sozialismus befriedigten sie jedoch in keiner Weise. Und doch wurde dieses Verlangen immer stärker, je mehr ich in die Parteiliteratur eindrang und mein Denken dadurch befruchtet wurde. Sosehr diese Literatur meine Erkenntnisse förderte, für deren Zusammenfassung zu einem widerspruchslosen Gesamtzusammenhang fand ich zunächst keinen Führer, keinen Leitstern. Wie in den Jahren von 1871 bis 1875 blieb ich auch weiterhin für meine Auffassung der Gesellschaft, ihrer Stellung in der Natur und des Verhältnisses der sozialistischen Idee zur Gesellschaft ganz auf mich selbst angewiesen. Ich blieb ein reiner Autodidakt. Noch gehörte ich nicht viele Monate der Partei an, da fühlte ich mich bereits gedrängt, aber auch berechtigt, meine Gesellschaftsauffassung in einer umfangreichen Abhandlung niederzulegen. Sie führte den Titel: „Die soziale Frage vom Standpunkt eines Kopfarbeiters aus betrachtet." Ich war kühn genug, sie dem Leipziger

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„Volksstaat" einzusenden, im Frühjahr 1875, ich glaube im Mai, doch bin in dessen nicht sicher. Der „Volksstaat" veröffentlichte wirklich die Abhandlung, trotz ihrer ungebührlichen Länge. Sie erschien von Mitte September an bis 8. Oktober (von Nr. 107 an bis Nr. 116). Als Verfasser hatte ich, wie bereits bemerkt, das Pseudonym Promachos gewählt, was die Redaktion in Symmachos umänderte. Die Arbeit enthielt eine Reihe von Gedanken, die mir auch heute noch als sehr richtig und fruchtbar erscheinen. Sie hatte nur einen Fehler. Andere waren schon vor mir auf dieselben Ideen verfallen, wovon ich aber bei meiner Unkenntnis der früheren sozialistischen Literatur keine Ahnung hatte. Mit Emphase verkündete ich sie als unerhörte Auffassungen und entdeckte dabei aufs neue Amerika. Das musste auf jeden Kenner der Parteiliteratur komisch wirken. Aber freilich, deren Zahl, auch in der Partei, war äusserst gering. Der Mehrzahl meiner Leser werden meine Sätze wirkliche Neuheiten gewesen sein. Meine Anschauungen über die sozialistische Gesellschaft, die wir anzustreben hätten, stimmte gar sehr mit denen anderer Sozialisten überein, die vor mir über denselben Gegensatz nachgedacht hatten. Doch auch da, wo ich recht hatte, fand ich nicht immer für meine Anschauungen die glücklichste Form. Noch kannte ich nicht das Marxsche Kapital, noch war ich in jener vulgär-ökonomischen Auffassung befangen, die Kapital und Produktionsmittel einander gleichsetzt. Allerdings wusste es der in Parteikreisen damals sehr angesehene Eugen Dühring auch nicht besser. In seiner „Geschichte der Nationalökonomie" (2. Auflage 1875) bemerkt er: „Vom Kapital hegt Herr Marx zunächst nicht den gemeingültigen ökonomischen Begriff, demzufolge es produziertes Produktionsmittel ist." (Seite 497 *.) Die völlig richtige Auffassung, dass der Sozialismus der Trennung der Arbeiters vom Produktionsmittel ein Ende machen will, formulierte ich (wie schon früher in einer ungedruckten Arbeit) dahin, der Arbeiter müsse Kapitalist werden, allerdings nicht Einzelkapitalist. Sondern die Arbeiterklasse ein Gesamtkapitalist. Das war natürlich sehr schief ausgedrückt. Die leitende Idee der Abhandlung war folgende: „Das höchste Prinzip, das gegenwärtig revolutionierend in der Wissenschaft wirkt, ist die Beseitigung des Dualismus und die Anerkennung des Monismus auf jedem G e b i e t . . . Es gibt keinen Geist, der etwas vom Körper Verschiedenes wäre, keinen Gott ausserhalb der Natur. Kraft und Stoff sind nicht unversöhnliche Gegensätze, die sich stets bekämpfen. Nein, sie sind untrennbar, eines ohne das andere kann nicht existieren. i

3. Aufl. 1879, S. 480. B.K.

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Beide zusammen bilden erst eine Einheit, nicht ein Doppelwesen." . . . „Beseitigung des Dualismus, Herstellung des Monismus auch in der Gesellschaft, das sei daher unsere Parole." Ein Dualismus sei der Gegensatz von Kapital und Arbeit, ebenso der von Herrschern und Beherrschten, im Dritten wieder der von Kopfarbeitern und Handarbeitern. Jeder dieser Dualismen sei zu beseitigen, auch der letztgenannte, was mir als eine besonders kühne und unerhörte Forderung erschien. „Der Handarbeiter muss Kopfarbeiter, der Kopfarbeiter muss Handarbeiter werden." Diese Dualismen werden aufgehoben durch Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, sowie durch die Demokratie und endlich durch allgemeine, intensive Volksbildung und Einführung eines Minimums physischer Arbeit, etwa zwei Stunden im Tag, das jeder, auch der Höchstgebildete, verplichtet ist zu leisten. Der Kampf gegen die Dualismen und ihre Uberwindung durch den Monismus ist im Grunde nur eine primitive Form der Hegeischen Dialektik. Nach ihr vollzieht sich die Entwicklung in der Weise, dass eine Erscheinung (These) ihren Gegensatz erzeugt (Antithese) und aus dem Kampf der beiden ihre Uberwindung durch Herstellung einer höheren Einheit (Synthese) hervorgeht. Nur war bei Hegel die Dialektik ein allgemeines, durch Beobachtung der wirklichen Entwicklung gewonnenes Gesetz. Bei mir dagegen war die Aufhebung der Dualismen eine Forderung, die ich aus eigener Machtvollkommenheit zur Beseitigung der „Fehler der modernen Gesellschaft", wie ich mich ausdrückte, und zum Ausbau einer fehlerlosen Gesellschaft aufstellte. Mit andern Worten, ich steckte noch tief im Utopismus drin, verspürte noch nichts von marxistischem Geiste. Kein Wunder, dass der Artikel unserm Engels wenig behagte, der schon am 15. Oktober 1875, also unmittelbar nach Abschluss der Serie (8. Oktober) zu Bebel sein Missvergnügen über mein Elaborat aussprach.1 Er hatte ganz recht. Doch gebührte sein Tadel vor allem der Redaktion, die eine unreife Arbeit veröffentlichte. Sie hätte ohne Zweifel mir mein Manuskript zurücksenden müssen. Allerdings war es doch derart, dass es eine auf Heranziehung des geistigen Nachwuchses bedachte Redaktion auf den Verfasser aufmerksam machen musste. Sie hatte ihm die Schwächen und Lücken der Abhandlung darzulegen und ihm Mittel und Wege zu weisen, damit er einwandDie Stelle lautet: „Aber es scheint unsern Leuten, wenigstens einer Anzahl darunter, unmöglich, sich in ihren Artikeln auf das zu beschränken was sie wirklich begriffen haben. Beweis die unendlichen Bandwürmer theoretisch-sozialistischen Inhalts von Ky, Symmachos und wie sie alle heissen und die mit ihren ökonomischen Schnitzern und falschen Gesichtspunkten und Unkenntnis der sozialistischen Literatur das beste Mittel abgeben, die theoretische Überlegenheit der bisherigen deutschen Bewegung gründlich zu vernichten." 1

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freie Arbeit liefere. Wie dankbar wäre ich für einen solchen Hinweis gewesen! Doch die Redaktion schickte mir keine Zeile. Sie schwieg sich mir gegenüber völlig aus. Indes hatte ich keine Ursache, mich besonders über Brieffaulheit der Redaktion des „Volksstaat" zu beklagen. Diese Faulheit zeigte sie auch anderen Leuten gegenüber. Zwei Fälle, die dafür charakteristisch sind, seien hier angeführt, obwohl sie strenggenommen mit meinen Erinnerungen nichts zu tun haben. b. Redaktionsunarten

des „Volksstaat".

Die beiden Fälle, über die ich berichten will, ereigneten sich bereits im Jahre 1873, lange ehe ich der Partei beigetreten war und begonnen hatte, den „Volksstaat" zu lesen. Wir haben gesehen, dass KaierReinthal der erste in der österreichischen Sozialdemokratie war, der sich gegen Oberwinders Führung in der Partei auflehnte. Er tat dies vorzeitig, wurde von der Masse der Genossen erbittert bekämpft, und gleichzeitig gingen ihm Polizei und Gerichte zu Leibe. Da hielt er es für angezeigt, sich vorübergehend nach dem Deutschen Reich zu begeben. Darüber schrieb der „Volksstaat" vom 8. Feburar 1873: „Folgenden Steckbrief finden wir in der Wiener „Presse": ,Graz, 28. Januar. Gestern abend fand hier eine stürmische Arbeiterversammlung statt. Reinlhal, Führer der Sezessionisten der Arbeiterpartei aus Wien, sprach zweimal gegen die erhobenen Anschuldigungen. Infolge eines eingetretenen Tumults wurde die Versammlung vom Regierungsvertreter aufgelöst. Reinthal reist heute nach Deutschland.' " Zu dieser Mitteilung der sehr rechtsliberalen „Presse" bemerkte die Redaktion des „Volksstaat": „Wir danken dem Wiener Bourgeoisblatt für den Steckbrief und bitten unsere Parteigenossen auf den p.p. Reinthal zu fahnden und ihm im Betretungsfall die verdiente Behandlung zuteil werden zu lassen. Reinthal ist ein Spiessgeselle der P f e i f e r und M ü h l w a s s e r (im Original fett gedruckt), mit denen er den löblichen Zweck verfolgt, die österreichischen Arbeiter im Interesse der Pfaffen, Bourgeois und Feudalen zu spalten. In Deutschland will er natürlich sein sauberes Handwerk fortsetzen. Also aufgepasstr Schwerere Beschuldigungen gegen einen Parteigenossen konnte man kaum erheben als hier geschah. Pfeifer war ein offenkundiger Sendling der Feudal-Klerikalen, Mühlwasser noch etwas Schlimmeres. Er war im Wiener Hochverratsprozess 1870 als Hauptbelastungszeuge gegen die Angeklagten aufgetreten, erwies sich als ein von der Polizei bezahltes Subjekt. Und nun diese Behauptungen über Reinthal! Die Notiz war so gehalten, dass der Leser annehmen musste, sie sei von 370

der Redaktion des „Volksstaat" selbst auf Grund zuverlässiger Berichte aus Österreich verfasst worden. Am 28. Februar sandte Reinthal von . Nordhausen aus dem „Volksstaat" eine Entgegnung, in der er dessen Behauptungen als „durchaus unwahr" zurückwies. Die Redaktion hätte schon, ehe sie ihre Notiz über Reinthal veröffentlichte, in Wien bei vertrauenswürdigen Genossen anfragen müssen, wie es sich mit den gegen ihn erhobenen Anklagen verhalte. Sie hätte erfahren, dass Reinthals Ehrlichkeit und Parteitreue ausser allem Zweifel stand. Die anklagende Notiz war offenbar auf Mitteilungen hin verfasst worden, die irgendein Wiener gesandt und die die Leipziger Redaktion ohne jede nähere Prüfung übernommen hatte. Nun, nachdem Reinthal die Anklage zurückwies, hätte die Redaktion erst recht alle Ursache gehabt, das Versäumte nachzuholen und einen Brief an die Wiener leitenden Genossen zu senden, in dem sie um Aufklärung ersuchte, damit sie je nachdem die Anklage aufrechterhalten oder sie offen zurücknehmen konnte. Doch auch jetzt sah die Redaktion davon ab, sich so viel Mühe zu machen, die ihr ganz überflüssig erschien. Sie druckte einfach den protestierenden Brief Reinthals ab (Nr. 22, 15. März) und bemerkte dazu: „Die Redaktion des „Volksstaat" muss den Wiener Gesinnungsgenossen, auf deren Mitteilung lediglich [sie sich] in ihrer Mitteilung gestützt hatte, das Weitere überlassen." Es hat in der Partei stets als unanständig gegolten, ehrverletzende Anwürfe eines Genossen gegen einen anderen Genossen anonym zu veröffentlichen. Die Redaktion des „Volksstaat" dagegen hielt es damals für angemessen, den Namen des Anklägers gegen Reinthal dauernd zu verschweigen, und sie war der Meinung, wenn sie Anklagen mitteilte, die irgend jemand gegen einen Genossen erhob, so sei das eine Sache, die sie selbst nicht das mindeste angehe. Sie hatte zugegeben, dass sie selbst gar nichts wusste, was gegen Reinthal sprach, beharrte aber dabei, ihn auch weiterhin mit dem Verdacht, ein Lump zu sein, behaftet zu lassen. Offenbar nicht aus Böswilligkeit; denn der Fall Reinthal in Österreich liess sie gewiss kalt. Sondern nur aus Bequemlichkeit. Die Klarlegung des Falles hätte einige Briefe erfordert. Die ersparte man sich und doch war man gleich bei der Hand gewesen, zu der leichtfertigen Anklage gegen Reinthal in den stärksten Tönen, die Aufforderung hinzuzugesellen, dem Angeklagten zu Leibe zu gehen, wo man nur könne. Jetzt erklärte man mit hochmütiger Überlegenheit, das Ganze sei eine Angelegenheit, mit der so hohe Herren wie die Redakteure des „Volksstaat" nicht weiter belästigt werden dürfen. Bald nachdem Reinthal Österreich verlassen, verschärfte sich in 371

der Partei dort die Opposition gegen Oberwinder. Sie erfasste bald einen sehr erheblichen Teil der Partei und führte zu ihrer Spaltung. Diesmal erliess der „Volksstaat" jedoch keinen Steckbrief gegen die Opposition. Er kennzeichnete sie nicht als „Spiessgesellen der Pfeifer und Mühlwasser", die im Interesse der „Pfaffen, Bourgeois und Feudalen" die österreichischen Arbeiter zu spalten versuchten. Er gab vielmehr dem Führer der Opposition, Andreas Scheu, das Wort zu einer ausführlichen Darlegung des Konflikts (Nr. 22, 15. März 1873). Dagegen liess sich gar nichts einwenden. Ebenso selbstverständlich erschien es, dass der „Volksstaat" dann auch eine Entgegnung Oberwinders brachte (29. März, Nr. 26). Doch musste es befremden, dass dieser Artikel nicht auf gleichem Fuss mit dem von Scheu behandelt wurde, denn seinen Abdruck begleitete die Redaktion mit folgender Notiz: „Für diesen als bezahlte Annonce eingesandten Artikel hat die Redaktion keine Verantwortlichkeit." Das wurde allgemein als eine Parteinahme der Redaktion für Scheu gegen Oberwinder aufgefasst, wobei man sich allerdings darüber wundern musste, dass die Redaktion diese Parteinahme nicht in einem eigenen Artikel begründete, sondern glaubte, diesen sich dadurch ersparen zu können, dass sie Oberwinders Einsendung als blosses Inserat abtat, für dessen Inhalt sie keine Verantwortlichkeit trage. Das war schon sonderbar genug. Doch noch sonderbarer erschien eine Erklärung der Redaktion des „Volksstaat" in der nächsten Nummer (27, 2. April), in der sie sich feierlich dagegen aussprach, dass man aus ihrer Fussnote eine Parteinahme gegen Oberwinder herauslese. Sie bleibe in dem österreichischen Parteistreit völlig unparteiisch. „Das einzige Motiv, welches uns leitete, waren die Interessen des „Volksstaat", dessen für die dringendsten Parteiinteressen kaum ausreichenden Raum wir nicht, ohne Entschädigung, durch Aufnahme einer so langen Erklärung in persönlichen Angelegenheiten1 noch mehr beschränken wollten." Der „Volksstaat" habe neutral zu bleiben und die Verantwortlichkeit ebenso für die Einsendungen Oberwinders als die von Scheu abzulehnen. Merkwürdig nur, dass er bloss bei der Einsendung Oberwinders die Ablehnung der Verantwortung ausgesprochen hatte. Noch merkwürdiger aber die Begründung, dass bloss Raummangel die Ursache war, dass man für die Veröffentlichung der Oberwinderschen Erklärung eine Inseratengebühr einhob. In der Notiz hatte es geheissen, die Erklärung sei als „bezahlte Annonce eingesandt" worden, also von Wien aus als solche geschickt worden, was eine vorhergehende Korrespondenz mit Oberwinder voraussetzte. Jetzt erfahren 1

In der Abschrift heisst es „persönlicher Sache". B.K.

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wir plötzlich, dass ein unerwarteter Raummangel des Leipziger Blattes seine Redaktion zwang, für den Abdruck eine Geldentschädigung zu verlangen. Was die Redaktion in erster Linie zu entscheiden hatte, war die Frage, ob es für die Leser des „Volksstaat" von Wichtigkeit war, die Dinge zu erfahren, von denen die Einsendungen handelten. Waren sie wichtig, dann musste man sie bringen, auch wenn das einige Kosten verursachte. Man durfte diese nicht dem Einsender aufbürden. Waren die berichteten Dinge ganz oder teilweise unwichtig, dann hatte man die Einsendung entweder direkt abzulehnen oder zu ersuchen, sie zu kürzen. Dass eine Redaktion, um sich die Unbequemlichkeiten einer Korrespondenz mit den Mitarbeitern zu ersparen, ihnen eine Geldstrafe auferlegt, wenn ihre Beiträge länger werden, als den Redakteuren oder der Geschäftsführung des Blattes lieb ist, war sicher eine geniale Erfindung. Doch scheint sie bei den deutschen Genossen nicht die gebührende Wertschätzung gefunden zu haben. Denn soviel ich sehe, wurde dies Verfahren im „Volksstaat" nie wieder angewendet und auch bei keinem andern Parteiorgan. Was die Leute vom „Volksstaat" trotz ihrer Neutralität anfangs 1873 veranlasste, so verkehrt zu handeln und eine so absurde Ausrede vorzubringen, ist heute nicht mehr festzustellen, ebensowenig ob an den erwähnten redaktionellen Entgleisungen bloss ein einzelner Redakteur oder die ganze Redaktion beteiligt war. Liebknecht sass infolge seiner Verurteilung im Hochverratsprozess von Leipzig noch auf der Festung. Während seiner Abwesenheit redigierten den „Volksstaat" A. Hepner und Wilhelm Bios. Hepner habe ich später als bescheidenen stillen, zurückhaltenden Menschen kennengelernt. Es ist schwer anzunehmen, dass er an so kecken redaktionellen Husarenritten teilnahm. Eher traue ich sie dem burschikosen Wesen des früheren Studenten W. Bios zu. Zu der Zeit, als ich mit dem „Volksstaat" zu tun bekam, war Liebknecht bereits in Freiheit gesetzt und hatte wieder die Leitung im „Volksstaat" übernommen. Es war ihm unmöglich, allein diese Aufgabe zu bewältigen. Als Abgeordneter zum Reichstag hatte er viel von Leipzig abwesend zu sein, und niemand ausser Bebel wurde so sehr als Redner im ganzen Reich verlangt wie er. Da bedurfte er für die Redaktion dringend einer Hilfskraft. Er holte sie sich aus Breslau in dem Studenten Bruno Geiser. Den lernte ich später als ausgesprochenen Feind jeglicher Korrespondenz kennen. Wenn die Redaktion 1875 es unterliess, [mit] mir wegen meines Artikels zu korrespondieren und mir die nötigen Winke zu geben, glaube ich den Schuldigen in ihm suchen zu müssen. Damals allerdings suchte ich nach keinem Schuldigen. Ich nahm einfach an, das Schweigen gegenüber 373

den Mitarbeitern sei allgemeiner redaktioneller Brauch. Doch verging kein Jahrzehnt, da war ich selbst Redakteur und da betrachtete ich die Erziehung des Nachwuchses durch eifrige briefliche Aufklärung und Anregung, die ihm von einer Parteiredaktion zuzukommen hatten, als eine der wichtigsten Aufgaben meines Amtes. Indes, selbst wenn die Redakteure des „Volksstaat" es für ihre Pflicht gehalten hätten, den Nachwuchs an geistigen Kräften zu erziehen und zu bilden, sie hätten es beim besten Willen nicht vermocht, mir wegweisend bei dem Streben nach theoretischem Wissen zur Seite zu stehen; denn ihr eigenes war sehr unzulänglich. Die Partei erzog Agitatoren und Tagesjournalisten, nicht Theoretiker. Am meisten unter den damaligen Wortführern der Partei wusste Wilhelm Liebnecht. Doch auch seine wissenschaftliche Ausrüstung stand tief unter der Ferdinand Lassalles, ja sogar unter der J. B. von Schweitzers, der 1875 starb. Gegenüber den jungen Leuten, die sich seit Lassalle der Partei anschlössen, bestand Liebknechts Überlegenheit in seinem höheren Alter und den reichen Erfahrungen, die ihm sein Geschick nicht nur in Deutschland, sondern auch ausserhalb beschert hatte. Im Jahre 1826 geboren, hatte er an den Revolutionskämpfen der Jahre 1848 und 1849 persönlich teilgenommen, hatte flüchten müssen, zuerst in die Schweiz, dann 1850 nach England, wo er ein Dutzend Jahre lebte. Er lernte englisches Wesen, vor allem auch die englische Arbeiterbewegung kennen, sowohl den Chartismus als die Gewerkschaften. In dieser Kenntnis war er Lassalle überlegen, als er 1862 nach Deutschland zurückkehren konnte, wo er eine aufstrebende Arbeiterbewegung vorfand. Seine Überlegenheit galt aber nicht für die sozialistische Theorie, auf diesem Gebiete war Lassalle besser beschlagen. Und doch hatte Liebknecht ein Dutzend Jahre schliesslich in enger Freundschaft mit Marx in London persönlich verkehrt und gearbeitet. Das hatte wohl genügt, ihn die ungeheure geistige Grösse seines Freundes ahnen zu lassen, doch Liebknechts Geistesrichtung war so ganz untheoretisch, dass es ihm in diesem langen Zeitraum nicht gelang, die theoretische Eigenart des Marxschen Sozialismus zu erfassen. Nach dem Tode Lassalles war er neben Schweitzer der kenntnisreichste Mann in der deutschen Bewegung; dem letzteren auch durch seine Erfahrungen aus den Revolutionstagen und der englischen Politik und Arbeiterbewegung überlegen, dabei in steter Korrespondenz mit Marx, der ihm wertvolle Fingerzeige gab, von denen er freilich nicht immer Gebrauch machte. Er verkündete den Arbeitern die Grösse eines Karl Marx. Allgemein galt in der Partei der Glaube, Liebnecht sei der Verkünder der Marxschen Wissenschaft: Marx ist Allah und Liebknecht sein Prophet. Auch ich huldigte diesem Glau374

ben an den Liebknechtschen Marxismus. Wie wenig tatsächlich von einem solchen gesprochen werden konnte, zeigt unter anderem die scharfe Kritik, die Marx 1875 in einem Privatbrief an dem Gothaer Programm-Entwurf übte. Nur in einem Punkt irrte damals Marx: Er schätzte die Erkenntnis Liebknechts höher ein, als sie war, und sah daher in den Schiefheiten und Nebelhaftigkeiten des Programms Konzessionen Liebknechts an die Lassalleaner. In Wirklichkeit war es Liebknechts eigener Geist, den es kundgab. Die Lassalleaner hatten keine Veranlassung, gerade auf theoretischem Gebiet Konzessionen von den Eisenachern zu fordern. Ihr theoretischer Kopf nach Lassalles Tod, J. B. von Schweitzer, verstand Marx weit besser, als Liebknecht es vermochte. Nach seinem Ausscheiden aus der Partei 1872 gab es unter den Lassalleanern nur noch beschränkte Empiriker, die keine besonderen theoretischen Ansprüche stellten. Man vergleiche damit die Mitteilungen Bernsteins in seinen „Sozialdemokratischen Lehrjahren" (1928). Er hatte den Verhandlungen der Eisenacher und der Lassalleaner als Delegierter beigewohnt und stellte jetzt fest, dass die Lassalleaner gar keinen Programm-Entwurf vorgelegt hatten. Bloss die Eisenacher hatten einen mitgebracht, und er stammte von Liebknecht. Liebknechts theoretische Einsicht stand tief unter der von Marx. Darum konnte auch er, geschweige denn seine jüngeren Mitredakteure, mir nicht Führer zu Marx werden, ja ich kann sagen, dass er meine Erkenntnis der Marxschen Gedankengänge zeitweise geradezu hemmte. Wie alle Welt nahm ich an, Liebknecht sei der Verkünder Marxscher Erkenntnis. Das bewirkte, dass ich manchen Gedanken für einen marxistischen hielt, der es gar nicht war. Unter den Liebknechtschen Ideen fanden sich jedoch nicht wenige, die meinen Widerspruch herausforderten. Das hielt mitunter meine Annäherung an Marx auf. Wenn sie doch schliesslich zustande kam, war Liebknecht dabei unschuldig. Ohne Führer musste ich meinen Weg zu Marx finden. c. Meine erste Geschichtsauffassung. Brachte mir mein Eintritt in die Partei auch keinen Führer zu höherer wissenschaftlicher Einsicht, so eröffnete er mir doch den Weg dazu. In der Partei wurde ich aufmerksam gemacht auf das Marxsche „Kapital", die Bibel des Sozialismus, wie man es damals nannte. Nur wenige hatten es gelesen, noch weniger zahlreich waren diejenigen, die es verstanden hatten. Aber das sagte damals schon jeder der Parteigenossen voll Ehrfurcht, dass im „Kapital" der wissenschaftliche Sozialismus seinen Gipfelpunkt erklommen habe. Natürlich beschaffte ich mir das „Kapital" und versenkte mich in

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sein Studium. Nicht alles begriff ich sofort. Manches habe ich zunächst falsch verstanden. Trotzdem brachte es mir rasch reichen wissenschaftlichen Gewinn, dadurch, dass es mir das ökonomische Denken näherbrachte. Für mich war der Sozialismus bis dahin eine Frage der Moral gewesen. Die ungerechte Verteilung der Güter dieser Erde sollte durch eine gerechtere ersetzt werden. Durch das „Kapital" wurde mir aber die Bedeutung der Produktionsweise klar. Das proletarische Elend entspross der kapitalistischen Produktionsweise. Sie abzuschaffen war die Aufgabe der Sozialisten. Doch bildete diese Produktionsweise die höchste Form, die der Produktionsprozess bisher erklommen. Zu einer minder leistungsfähigen Produktionsweise abzustürzen, würde dem Proletariat keine Verbesserung, eher eine Verschlechterung seiner Lage bringen. Es gilt, die kapitalistische Produktion durch eine höhere, leistungsfähigere zu ersetzen. Dazu gehören besondere Vorbedingungen. Und diese zu erkennen und ebenso die Gesetze der bestehenden Produktionsweise, ist eine unbedingte Notwendigkeit für jeden Sozialisten. Mit blosser moralischer Entrüstung oder revolutionärem Elan ist nichts getan. Je mehr mir diese Erkenntnis aufdämmerte, desto eifriger ging ich darauf aus, ökonomisches Wissen zu erwerben. Ich studierte nicht nur wiederholt das „Kapital" auf das genaueste, sondern ging auch dazu über, die damals gangbarsten Bücher der bürgerlichen Nationalökonomie durchzuackern. Vor allem die beiden als grundlegend anerkannten Werke von Adam Smith über den „Reichtum der Nationen" und David Ricardos „Grundsätze der politischen Ökonomie". Beide fesselten mich ungemein und brachten mir eine Fülle neuer Einsichten. Smith nicht nur in seinen theoretischen, sondern auch mit seinen wirtschaftshistorischen Ausführungen. Gegenüber den beiden schienen mir John Stuart Mills damals vielgepriesenen „Grundsätze der politischen Ökonomie" matt zu sein, trotz seines Radikalismus und seiner Arbeiterfreundlichkeit. Wilhelm Roscher galt als führender Geist auf dem Gebiet der deutschen Nationalökonomie. Die kritiklosen Zitatensammlungen seiner „Grundlagen der Nationalökonomie" erschienen mir bald komisch und erfüllten mich nicht mit Respekt für die deutsche ökonomische Wissenschaft. Gegen Ricardo wurde seit den 60er Jahren in Deutschland ein amerikanischer Ökonom ins Feld geführt. Die drei Bände seiner „Grundlagen der Sozialwissenschaft" wurden viel verbreitet. Sie imponierten nicht wenig dem Dr. Eugen Dühring, Privatdozent an der Berliner Universität (seit 1864), wo er Nationalökonomie dozierte. In seiner „Kritischen Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus", die 1871 erschien, 2. Auflage 1875, preist er Carey in höchsten Tönen. Ich lernte Carey früher kennen als Dühring und kam zu 376

seiner entschiedenen Ablehnung. Dadurch war ich auch gegenDühring gefeit, der in den Jahren vor dem Sozialistengesetz auf so viele der Intellektuellen, die in Deutschland zur Partei kamen, einen grossen Einfluss übte. Die scharfe Kritik, die Engels 1877 und 1878 an Dühring übte, hat wohl viele meiner gleichaltrigen Genossen tief geschmerzt, mir war sie aus der Seele gesprochen. Neben Eugen Dühring war es damals Albert Lange, der auf die Intellektuellen Deutschlands, namentlich Studenten, grossen Einfluss gewann, die durch die grossen Erfolge und das rasche Anwachsen der Sozialdemokratie auf sie aufmerksam wurden und in ihr eine kommende Macht erblickten. Dühring sollte im Antisemitismus enden. Lange begeisterte sich für den arbeiterfreundlichen Radikalismus John Stuart Mills und kam von dieser Seite dem Sozialismus nahe. So wie Mill war auch Lange der Uberzeugung, „wenn man wählen müsste zwischen dem Kommunismus... und dem gegenwärtigen Gesellschaftszustand", wäre nicht ein drittes möglich, dann würden „alle Bedenklichkeiten des Kommunismus, grosse und kleine, nur wie Spreu in der Waagschale sein." (Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie, Deutsch von A. Soetbeer, 3. Aufl., Leipzig 1881 , I, Seite 219, 220'). Mill sah dies Dritte in einer radikalen Bodenreform wie nach ihm Henry George. Albert Lange folgte Mill, wünschte vor allem eine ausgiebige Sozialpolitik, Achtstundentag, völlige Koalitionsfreiheit und ähnliches. In den Kämpfen des Alltags stand Lange stets auf seiten der Arbeiter. Sein Buch über die „Arbeiterfrage" war schon in erster Auflage 1865 erschienen, doch wenig beachtet worden. Dagegen fand in Parteikreisen grosse Beachtung die zweite Auflage, die 1874 erschien, ein Jahr, ehe ich der Partei beitrat. Lange wurde mir viel sympathischer als Dühring, schon wegen seiner kritischen Stellung gegen Carey. Dühring hatte schon 1875 ein Buch zur Verherrlichung des Amerikaners erscheinen lassen, der nicht die kapitalistische Produktionsweise, sondern die Engländer für alle Leiden des Proletariats verantwortlich machte und meinte, Absperrung von England durch Schutzzölle bringe der übrigen Welt allgemeinen Wohlstand. Diesem Buch, betitelt „Careys Umwälzung der Volkswirtschaft" antwortete Albert Lange schon ein Jahr später unter dem langatmigen Titel „John Stuart Mills Ansichten über die soziale Frage und die angebliche Umwälzung der Sozialwissenschaft durch Carey". Wie durch seine Gegnerschaft zu Carey fühlte ich mich von Lange dadurch angezogen, dass er versuchte, Darwinismus und soziale Erkenntnis miteinander zu vereinigen. Er war ein ebenso eifriger Darwinianer wie Sozialpolitiker. i

In der Abschrift steht „Leipzig 1869, 217, 218". B.K.

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Doch wirkte der revolutionäre Elan, den die Pariser Commune in mir entzündet hat oder, vielleicht richtiger gesagt, [mich] von einem materialistischen in ein sozialistisches Geleise überführt hatte, zu stark in mir nach, als dass das vorsichtige Umgehen der Revolution durch Albert Lange, sein Zaudern vor dem Kommunismus mich hätte befriedigen können. Dazu kam, dass Lange entschiedener Antimaterialist war, Kantianer, Verfechter der Kantschen Moral, von deren Sieg er die Aufrichtung eines Reiches allgemeiner Gerechtigkeit erhoffte. Das alles widersprach zu sehr Grundsätzen, die bereits tief in mir eingewurzelt waren, als dass ich mich Lange hätte anschliessen können. Ich habe manche wertvolle Anregung von ihm erfahren, während mir von Dühring keine zukam. Aber ich blieb ausserhalb des Bereiches seiner Welt- wie seiner Gesellschaftsanschauung. In jenen Jahren, in denen ich unsicher tastend nach einer solchen suchte, gab es in der Partei drei theoretische Richtungen. Zwei von ihnen zogen den Nachwuchs, namentlich den von den Universitäten kommenden am meisten an. Von ihnen stiess die eine — Dühring — mich von vornherein ab, obwohl die andere — A. Lange — mich auch nicht für dauernd zu fesseln vermochte. Um so mehr gewann die dritte Einfluss auf mich, nicht sofort einen beherrschenden Einfluss, wohl aber war es einer, der von Jahr zu Jahr wuchs, je mehr ich mit der Literatur dieser Richtung bekannt wurde. Es war die marxistische. Deren Erkenntnis ist mir nicht als reife Frucht in den Schoss gefallen. Mühsam hatte ich um sie zu ringen, jahrelang, von 1876 bis 1880. Zunächst aber gewann ich eine eigene Geschichtsauffassung. Indes nicht durch einen Historiker, sondern einen Naturforscher, Darwin. Das Interesse für diesen verband mich mit Albert Lange. Doch schied mich von diesem dessen Kantsche Auffassung der Moral, die aus dieser eine übernatürliche Erscheinung macht. Lange, der im November 1875 starb an einem Krebs, der schon 1872 eine Operation notwendig gemacht hatte, war kaum in der Lage, die Untergrabung der Kantschen und jeglicher metaphysischen Moral kennenzulernen, jedenfalls nicht mehr in der Lage, sie philosophisch zu verarbeiten, die Darwin vornahm in seinem Buch über die Abstammung des Menschen, dessen zwei erste Auflagen englisch 1871 und 1874 erschienen, und das 1875 auch deutsch herausgegeben wurde. Ich habe auf dieses Buch schon früher hingewiesen, es hat die tiefste Wirkung auf mich ausgeübt, mich in meinem Materialismus befestigt, aber auch meine Auffassung von der Gesellschaft aufs tiefste beeinflusse Die Herrschaft der Moral über den Menschen, die Unterscheidung von Gut und Böse, Pflichtgefühl, Gewissen, Hingabe der Persönlich378

keit, selbst unter Opferung des Lebens, an hohe Ideale, das heisst überpersönliche Ziele, schien lange Zeit nur erklärlich zu sein als Auswirkung einer Gottheit. Die Materialisten fanden keine Erklärungen für diese Erscheinungen. Sie sahen im Menschen bloss den Egoismus wirksam. Sie konnten den Altruismus nicht leugnen, die Liebe zum Nächsten und die Bereitschaft, ihm zu helfen, sowie idealistischen Enthusiasmus. Sie übten in der Regel selbst diese Tugenden im hohen Masse. Aber sie deuteten sie nur als „aufgeklärten", weiterblickenden Egoismus, der erkannt habe, dass die Menschen weiterkommen, wenn sie sich gegenseitig helfen. Doch diese Deutung der Moral als Ergebnis eines nüchternen Rechenexempels versagte zumeist, war nicht überzeugend. Da trat Darwin mit seiner Entwicklungslehre auf, die dartat, dass die höheren Formen der Lebewesen nicht durch Schöpfungsakte hervorgerufen wurden, sondern sich alle aus niederen Formen entwickelt hätten. Die Konsequenz war die Annahme, dass auch der Mensch aus der Tierwelt emporgestiegen sei. Diese Auffassung wurde schon früh von kühnen Anhängern der neuen Lehre verkündet, von Huxley, Lubbock, Vogt, Büchner, Haeckel. Relativ spät erst entschloss sich Darwin dazu, seine Ansicht in dieser Frage nicht bloss zu äussern, sondern auch eingehend zu begründen, in dem bereits genannten Buche, das 1875 in meine Hände kam. Bei seinen Ausführungen konnte sich Darwin nicht auf anatomische und physiologische Tatsachen beschränken, er musste auch die psychologische Verbundenheit des Menschen mit der Tierwelt dartun. Am gewichtigsten war der Einwand, dass der Mensch allein ein moralisches Wesen sei, dadurch der Gottheit näher als die Tiere. Diesem Einwand begegnete Darwin mit dem Hinweis auf die in Gesellschaft lebenden Tiere. Sie alle entwickeln Eigenschaften, die mit denen der menschlichen Moral übereinstimmen, gegenseitige Hilfsbereitschaft, Treue, Aufopferung für das Wohl der Gemeinschaft, das das „Gute" ist, dessen Missachtung das „Böse". Dieselben Eigenschaften fand Darwin bei den Wilden, die dem tierischen Stadium näher stehen als wir. Der Mensch ist eben schon von seinem tierischen Stadium an ein soziales Wesen, mit den einem solchen eigentümlichen sozialen Instinkten. Deren Gesamtheit, etwas anderes ist die Moral nicht. Diese Erkenntnis war nicht zu gewinnen, solange die Ansicht vorherrschte, die Urmenschen hätten als vereinzelte Individuen gelebt, die scheu durch des Gebirges Klüfte oder durch Steppen und Wälder streiften und sich die Schädel einschlugen, sooft sie einander begegneten. Erst höhere Intelligenz, meint man, habe sie veranlasst, sich einander zu nähern und friedliche Beziehungen zueinander zu 379

pflegen, die sich immer enger gestalteten und damit das Aufkommen der Moral ermöglichten. Tatsächlich ist durch blosse Beobachtung des Individuums keine natürliche Quelle der Moral zu entdecken. Erst die Erkenntnis, dass der Urmensch stets ein soziales Wesen war, schuf die Möglichkeit, diese Quelle zu erschliessen. Die Moral, das heisst die sozialen Triebe, und die Ökonomie, das heisst die gesellschaftliche Arbeit, sind die beiden starken Bande, die die Gesellschaft zusammenhalten. Die Identifizierung der Moral mit den sozialen Trieben schien mir eine grosse fruchtbare Entdeckung darzustellen. Von dieser Idee ging meine Arbeit