Erinnerungen
 3-88680-453-4

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Hans-Dietrich

Genscher

Erinnerungen Siedler

Hans-Dietrich

Genscher Erinnerungen

Siedler

Am 3. Oktober 1990 erlebten wir vor dem Reichstag in Berlin die unvergeßliche mitternächtliche Stunde der deutschen Einheit. Man sagt, daß Menschen, die den Tod nahen sehen, ihr Leben noch einmal wie im Zeitraffer durchleben. Vielleicht geht es einem in einem Moment, der einmalig ist, genauso. Die Einheit war nicht von selbst gekommen. War sie ein Geschenk, wie so oft gesagt wird? Ja, wenn damit gemeint ist: ein Geschenk nach allem, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geschehen und von Deutschen anderen Völkern angetan worden ist. Aber die Einheit hatten sich die Deutschen in Ost und West auch verdient - mit friedlichem Aufbau, mit der Schaffung einer freiheitlichen Demokratie im Westen und mit der friedlichen Freiheitsrevolution im Osten.

»Unser Außenminister war in unserer Welt die vertrauens­ bildende Maßnahme in Person. Das ist es, was sein Ansehen in der Welt begründet, damit hat er sich Vertrauen und Achtung bei seinen eigenen Mitbürgern erworben.« Richard von Weizsäcker

ISBN 3-88680-453-4

In diesem Buch ergreift der Mann das Wort, der der dienstälteste Außenmini­ ster der Welt und die feste Größe der nationalen wie internationalen Politik gewesen ist. Hans-Dietrich Genscher, in der Regierung Brandt/Scheel zunächst fünf Jahre lang Bundesminister des Inneren, hat seit 1974 der deutschen Politik im internationalen Raum zu einem Ansehen und Einfluß verhelfen, wie es ihn seit Ende des Zweiten Welt­ kriegs nicht mehr gegeben hat. RAETerrorismus und Guillaume-Affäre, NATO-Doppelbeschluß und Koalitions­ wechsel, vor allem aber der Fall der Mauer und was er nach sich zog: die Zwei-plus-Vier-Gespräche, das Treffen im Kaukasus und der Vertrag mit Polen über die Oder-Neiße-Grenze - blickt man auf die letzten fünfundzwanzig Jahre deutscher Geschichte, wird man kaum ein Ereignis finden, mit dem Genscher nicht auf die eine oder andere Weise in Verbindung steht. Wie sieht das Leben dieses Mannes aus, was waren die Erfahrungen, die ihn geprägt haben? Es war eine politische Biographie von Anfang an. Geboren 1927, gehörte Hans-Dietrich Genscher zu jenen Jahrgängen, die als Generation der fünfzehnjährigen Flakhelfer noch in die letzten Gefechte des Zweiten Welt­ kriegs hineingezogen wurden. Genscher, im Frühjahr 1945 der sogenannten Armee Wenck zugeteilt, wurde dabei Zeuge des Ansturms, mit dem die Sowjetarmee von der Oder aus auf Berlin vordrang. Daß er damals nicht nach Osten, sondern mit Wenck nach Westen zu den Amerikanern zog, nennt er die politische Grundentscheidung seines Lebens. Nach 1945 in seine Heimatstadt Halle zurückgekehrt, beginnt er zunächst ein Jura-Studium, das er noch in der Sowjetischen Besatzungszone ab­ schließt. Vor allem aber faßt er 1946 einen Entschluß, der für sein Leben maßgeblich werden soll: Er wird Miglied der LDPD, der Liberal-Demo­

kratischen Partei Deutschlands. 1952 verläßt er die DDR, um nach Bremen zu gehen. Von nun an ist seine Geschichte nicht mehr nur die eines jungen Mannes und seines Hochkommens. Die Rolle, die Genscher zunächst in seiner Partei, dann auch in der Bundespolitik spielt, gewinnt binnen kurzer Zeit erheblich an Bedeutung. Mitte der fünfziger Jahre wechselt er nach Bonn, wo er im Laufe von zwei Jahrzehnten eine jener Persönlichkeiten wird, die in der Welt­ politik Geltung haben. Außenminister, Staats- und Regierungschefs werden seine Gesprächspartner und engen Ver­ trauten, ja in vielen Fällen seine Freun­ de. In den Monaten, in denen sich die deutsche Vereinigung entscheidet, sind die Präsidenten Amerikas und der Sowjetunion, George Bush und Michail Gorbatschow, an seiner Seite. Wahr­ scheinlich hat das Vertrauen, das die Welt in die Bonner Politik setzte, für Deutschland niemals eine so große Rolle gespielt wie in jenen Tagen. Ein beträchtlicher Teil davon geht ohne Zweifel auf das Konto des Mannes aus Halle. Als er im September 1989 auf den Bal­ kon der Deutschen Botschaft in Prag trat, um den seit Wochen Wartenden zu sagen, daß ihre Ausreise endlich be­ schlossene Sache sei, fragte er in den aufbrandenden Jubel hinein: »Sind denn auch Hallenser da?« Für HansDietrich Genscher schloß sich damals ein Kreis. Aber was immer er in seinem Buch auch berührt, sei es die Studenten­ revolte oder das Geiseldrama während der Münchner Olympiade, die Kontro­ verse um die Pershings oder SDI, es ist bereits Geschichte geworden. So sind diese Erinnerungen vieles zugleich - ein persönliches wie ein politisches, ein erzählerisches wie ein analytisches Buch und das Resümee eines Lebens, dessen Bogen sich vom Untergang des alten Deutschlands über die Teilung des Landes bis zur Vereinigung zieht.

Hans-Dietrich Genscher Erinnerungen

Hans-Dietrich Genscher Erinnerungen

Siedler Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen/Hans-Dietrich Genscher. 1. Aufl. - Berlin: Siedler, 1995 ISBN 3-88680-453-4

Das Register wurde von Robert Groh, Klaus und Brigitte Kochmann erstellt. Das Glossar verfaßten Robert Groh und Klaus Kochmann.

© 1995 by Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH, Berlin. Der Siedler Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann. Alle Rechte Vorbehalten, auch das der fotomechanischen Wiedergabe. Satz: Ditta Ahmadi, Berlin Bebilderung: Thomas Schulz, Berlin Reproduktionen: Michael Dittbemer, Berlin Schutzumschlag: Brigitte und Hans-Peter Willberg, Eppstein, unter Verwendung eines Fotos von Helmut R. Schulze, Heidelberg Druck und Buchbinder: GGP, Pößneck Printed in Germany 1995 ISBN 3-88680-453-4 Erste Auflage

INHALT

Zum Geleit

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Statt einer Einleitung:

Der Kreis schließt sich

13

T E IL I

Von Halle über Bremen nach Bonn Kapitel 1

Kindheit und Jugend bis 1945

27

Familien wurzeln • In und um Halle • Ein fünfzehnjähriger Flakhelfer • In der Armee Wenck • Heimkehr nach Halle Kapitel 2

Jahre der Orientierung

55

In der SBZ und der DDR • Von Deutschland nach Deutschland • Von Bremen nach Bonn • Politische Vorbilder • Nach mehr als zehn Jahren: Gesundung im Schwarzwald Kapitel 3

Entscheidungen

85

Persönliche Zwischenbilanz • Liberale Opposition • Die Stuttgarter Rede: Für eine neue Deutschlandpolitik • 1968/69 - eine neue Zeit klopft in Europa an die Tür, in Deutschland beginnt sie • Die Bundes­ präsidentenwahl von 1969 - eine Weichenstellung • Die Bundestags­ wahl 1969 und die neue Regierung Brandt/Scheel Kapitel 4

Beginn als Innenminister Innere Reformen • Der Öffentliche Dienst • Der Umweltschutz eine liberale Initiative • Der liberale Rechtsstaat ist ein starker Staat: Über Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz • Das Münchner Geiseldrama bei den Olympischen Spielen 1972 • Konsequenz aus Für­ stenfeldbruck: Die Bildung der GSG 9 • Neue Aufgaben für den BGS • Ein ernster »Fall« • Im BGS: Entscheidungen für die Menschlichkeit •

113

Bilanz 1972 • Kulturpolitik des Bundes • Erfahrung im Ministerium und im Kabinett • Guillaume und die Folgen

TEIL II

Beginn als Außenminister Kapitel 5

Schwieriger Anfang

207

Kontinuitäten und Brüche • Der Artist in der Kuppel - Henry Kissinger • Ein scheidender Präsident und neue Herausforderungen • Die ersten Gespräche mit Moskau Kapitel 6

Der Osten - das ist mehr als Moskau

247

Stationen mühsamer Annäherung: Prag, Sofia, Budapest und Buka­ rest • Deutschland und Polen: Eine schwierige Nachbarschft • Neue Vertragsvereinbarungen mit Warschau 1975/76 • Ein Blick voraus: Der Umbruch in Polen und die Politik der Regierung Kohl/Genscher Kapitel 7

Beziehungen zum Vatikan

283

Auch hier die Wirkungen der deutschen Teilung • Der Papst und der Liberale: Einig in dem Willen, die Konfrontation in Europa abzubauen

TEIL III

Drei Säulen deutscher Verantwortungspolitik Kapitel 8

KSZE-Prozeß - multilaterale Ostpolitik auf dem Weg zur deutschen Einheit

299

Ringen um die Schlußakte • Helsinki 1975: Geburtsort und -stunde eines neuen Europa • Ein Prozeß kommt in Gang: - Die KSZE-Folgetrejfen und -Foren • Berlin 1991: Ein neuer Abschnitt in der KSZEGeschichte beginnt Kapitel 9

Die Bundesrepublik in der UNO Die Bestätigung der Regierung Schmidt/Genscher bei der Bundes­ tagswahl 1976-auch eine Bestätigung ihrer Außenpolitik • Für eine menschenwürdige Welt • Für eine aktive Afrika-Politik: Gegen Apart­ heid • Weltweite Interdependenz - das Netz der internationalen Zusam­ menarbeit wird dichter • Tage in New York: Als deutscher Außenmini­ ste rauf der UN-Vollversammlung • Die Bundesrepublik Deutschland in weltweiter Verantwortung

325

Kapitel 10

Europäische Einigung: Von Stuttgart nach Maastricht

359

Stagnation im Einigungsprozeß • Eine Rakete wird gezündet: Die Genscher-Colombo-Initiative • Die Einheitliche Europäische Akte • EUREKA -Ausdruck europäischer Selbstbehauptung • Kontinuität deutsch-französischer Kooperation • Die Europa-Politik - ein Schwer­ punkt der Regierung Kohl/Genscher • Die Kultur als Ausdruck euro­ päischer Identität, die Währungsunion als Ziel europäischer Integra­ tion • Die DDR und die EG • Ein Quantensprung: Maastricht und die Folgen

TEIL IV

Neue Herausforderungen und Krisen Kapitel 11

Bonn und die Sprachlosigkeit der Supermächte

403

Die Neutronenbombe und ihr Begräbnis zweiter Klasse • Demütigung einer Weltmacht: Geiselnahme in Teheran • Der NATO-Doppelbeschluß • Die Fronten verhärten sich: Afghanistan und der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau • Wir wollen verhandeln • Weitere Stationen des NATO-Doppelbeschlusses - zwei Besuche • Vorder Stationierung ein letzter Appell an Gromyko Kapitel 12

Vorboten des Wandels in der deutschen und internationalen Politik

435

Die letzte Regierungserklärung des Kabinetts Schmidt/Genscher • Ein neuer Akteur auf der internationalen Bühne: Ronald Reagan in Cancün Kapitel 13

Die Wende

445

Die SPD wendet sich ab • Das Ende • Bilanz gemeinsamer Außen­ politik' Im neuen Kabinett' Kontinuität realistischer Außenpolitik • Entscheidung in Berlin

TEIL V

Zeitenwende mit neuen Partnern Kapitel 14

Beginn einer neuen Ära Mit ganzer Kraft für die Außenpolitik • Ein neuer Mann und eine neue Politik im Kreml • Ein feiger Mord • Folgen eines Interviews • Ringen um neue Bestätigung: Der Bundestagswahlkampf1987 • Überzeu-

487

gungsarbeit - im Bündnis wie zu Hause • Stabilitätspolitik für. Süd- und Zentralamerika • Überraschende Anerkennung • Die Rüstungskon­ trolle kommt in Gang • Reisen und Besuche • Das Jahr der doppelten Nullösung • Die doppelte Nullösung und das Problem der Pershing lA Kapitel 15

Der Kampf gegen die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen

581

Eine überflüssige Diskussion: Die Modernisierung der Lance-Raketen • Die Kontroverse um Lance • Kleine Schritte der Annäherung: Washington und Bonn im Gespräch • Denuklearisierung Europas ? Ein schwieriger Tag in Washington • !m nationalen Interesse • Der politische Hintergrund der Lance-Debatte • Entscheidung beim NATOGipfel in Brüssel: Washington und Bonn finden sich Kapitel 16

Der Wind der Veränderungen in Europa nimmt zu der Sieg der Freiheitsrevolutionen

623

Bonn als wichtigster Partner der zwei Weltmächte • Umdenken in Moskau • Ein kleines Volk öffnet den Eisernen Vorhang: Der Mut der Ungarn • Von New York nach Prag • Die Mauer ist offen • Nichts wird mehr so sein, wie es war, nicht im Osten, aber auch nicht im Westen • Die Vier und die Einheit I: Gespräche in Washington • Die zehn Punkte des Bundeskanzlers • Die Vier und die Einheit //: Gespräche in Lon­ don, Paris und Moskau • Kontrollrat oder Partner? • Am Ende eines historischen Jahres Kapitel 17

Zwei plus Vier Standortbestimmung für das vereinigte Deutschland: Wir gehören in EG und NATO ■ Akkord in Washington • Öffnung in Moskau • Ottawa Geburtsort von »Zwei plus Vier« • Kundgebung unter den fünf Türmen • Endlich - das Gesetz über den Auswärtigen Dienst • Auf dem Weg zu Zwei plus Vier: Mit Baker und Schewardnadse in Windhuk • KSZE in Bonn • Zwei deutsche Außenminister • Erstes Zwei-plus-Vier-Treffen in Bonn • Die Frage aller Fragen: Die NATO-Mitgliedschaft und das Treffen mit Schewardnadse in Genf' Auf dem Weg zur Überwindung des Ost-West-Konflikts • Das Signal von Tumberrry ■ Durchbruch in Brest • Treffen in Münster: Es geht weiter voran • Zwei plus Vier in Berlin: Ein Rückschlag oder innenpolitische Rücksichten Scheward­ nadses ?' Begegnung in Moskau und im Kaukasus • Zwei plus vier in Paris-Akkord mit Polen • Die Einheit der Liberalen • Die letzte Runde: Das Zwei-plus-Vier-Treffen in Moskau • Ein Stolperstein in letzter Minute • Es ist vollbracht: Der Vertrag wird unterzeichnet •

709

Erlebnis der Einheit in Halle, in Berlin, in Wuppertal und Bonn • Die Entscheidung für Berlin • Am Ende eines langen Weges: Der deutsch­ polnische Grenzyertrag

T E IL V I

Neue Krisen und neue Entwicklungen Kapitel 18

Deutschland und der Golfkrieg

899

Einmarsch in Kuwait: Die Völkergemeinschaft reagiert • Die deutsche Haltung • Ein Bundeswehreinsatz im Irak ? Außenpolitische Erwägun­ gen zu einer innenpolitischen Debatte • Gespräche in Israel und im Nahen Osten • Der deutsche Beitrag zur Befreiung Kuwaits Kapitel 19

Krieg in Jugoslawien: Für eine europäische Entscheidung

927

Die Ausgangslage • Ursprünge der Krise • Der Krieg gegen Slowenien und Koratien • Für das Ende des Krieges gegen Kroatien und Slowe-

Kapitel 20

969

Neue Entwicklungen nach der großen Wende in Europa Die neuen Verträge mit unseren östlichen Nachbarn • Ein Putsch und seine Folgen • Besuch in Kasachstan und in der Ukraine • Weitere Schritte der Vertragspolitik • Besuch bei einem Freund Kapitel 21

Der Rücktritt

999

Eine persönliche Entscheidung • Auf den Tag genau nach achtzehn Jahren • Verabschiedung • Im Kreis der europäischen Freunde • Bilanz und Ausblick • Rückblick und Dank in Halle

Nachbetrachtung

1029

Glossar

1031

Register

1051

Bildverzeichnis

1088

M E IN E N ELTERN

KURT GENSCHER UND HILDA GENSCHER, GEBORENE KREIME

Zum Geleit

Erinnerungen - meine Erinnerungen Dies ist kein Geschichtsbuch und auch kein Geschichtenbuch, es ist auch nicht der Versuch, achtzehn Jahre deutscher Außenpolitik in allen Aspekten darzustellen und zu erläutern. Dafür ist der Abstand zu gering. Für eine solche umfassende Darstellung ist die Zeit noch nicht gekommen. Die Beschreibung der Zielgeraden auf dem langen und schweren Weg zur europäischen und deutschen Einheit hat beim Schreiben fast den Charakter eines Tagebuchs angenommen. Das konnte auch gar nicht anders sein; zu stark waren in jenen Monaten persönliche Emp­ findungen und die Verantwortung des Amts miteinander verwoben ohne Jemals in Widerspruch zu einander zu geraten. Vielleicht spürt der Leser, daß vieles doch schwerer war, als es im nachhinein er­ scheint. Es wurde uns wirklich nichts geschenkt. Zudem hoffe ich, daß es mir bei meinen Erinnerungen gerade an diese Zeit gelungen ist, das Menschliche auch in den Reaktionen anderer und im Verhält­ nis der Handelnden zueinander erkennbar werden zu lassen. Der Ter­ minkalender, der dabei immer wieder einmal sichtbar wird, zeigt, daß Außenpolitik von Menschen und nicht im luftleeren Raum gemacht wird. Mein Dank gilt allen, die mir bei diesem Buch geholfen haben durch Rat und Tat und durch gemeinsames Erinnern, durch Gegen­ lesen und Korrektur. Dieser Dank gilt vor allem alten Mitstreitern und meinen früheren und Jetzigen Mitarbeitern.

STATT EINER EINLEITUNG

Der Kreis schließt sich

Die Stunden in der deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989 gehören zu den bewegendsten meines Lebens. Schon im Herbst 1988 hatte ich gegenüber dem sowjetischen Außenminister Scheward­ nadse in New York die Erwartung geäußert, daß es im nächsten Som­ mer in der DDR zu Protestkundgebungen kommen werde, wenn es bis dahin keine Reformen gäbe. Der fortschreitende Zerfall der sozia­ listischen Staats- und Gesellschaftsstrukturen war unübersehbar, diese Entwicklung würde vor der DDR nicht haltmachen. Im Gegen­ teil: Seit Anfang 1989 beschleunigte sie sich auf dramatische Weise. Am 2. Mai 1989 hatte Ungarn begonnen, die Grenzsicherungen nach Österreich abzubauen; damit war der Eiserne Vorhang an entschei­ dender Stelle geöffnet. Am 27. Juni 1989 durchschnitten die Außen­ minister Ungarns und Österreichs, Horn und Mock, den Stacheldraht, der West- und Osteuropa trennte - ein historischer Tag, dessen Be­ deutung wohl nur von wenigen erkannt wurde. Schließlich war Un­ garn neben der Tschechoslowakei das bevorzugte Reiseland der DDR-Bewohner. Nun konnten sie von dort aus in den Westen gelan­ gen. Einige Monate zuvor, am 18. Januar 1989, hatte ich in meiner Rede vor der KSZE-Folgekonferenz in Wien gesagt: »Die Schlußakte von Helsinki ermutigt die Kräfte, die Jetzt in verschiedenen Staaten auf grundlegende Reformen drängen ... Was in den letzten Tagen in Leipzig und Prag gegen friedliche Demonstranten geschah, darf sich nicht wiederholen.« Das gemeinsame Haus Europa »muß ein Haus sein mit offenen Türen und Fenstern, in dem Menschenrechte und Menschenwürde geachtet werden, in dem jeder ohne Angst leben kann. Es ist eine historische Tatsache: Auch Jahrzehnte der Trennung, auch Jahre des kalten Krieges haben aus einem Europa nicht zwei ge­ macht, und auch aus einer deutschen Nation nicht zwei. Alles, was künstlich trennen soll, wird immer anachronistischer - die Mauer in Berlin ist ein solches Relikt. Nutzen wir die Möglichkeiten, die Lage in Europa grundlegend zu verändern, gehen wir den Weg, den eu­ ropäischen Friedensweg, entschlossen weiter ... Wenn Europa zu sich selbst zurückfindet, finden alle Europäer zueinander. Die Bun­ desrepublik Deutschland wird weiter, wie es im Brief zur deutschen

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Einheit heißt, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, im dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.« Im August 1989 bereitete ich mich wie üblich auf meine Reise nach New York zur UN-Vollversammlung vor. Es war die Zeit, als die Lage in der deutschen Botschaft in Prag dramatische Formen annahm. Die Ost-Berliner Anwälte Wolfgang Vogel und Gregor Gysi waren nach Prag gereist, um die DDR-Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen; was sie den Menschen zusicherten, war Ausreise innerhalb von sechs Mo­ naten nach der Rückkehr. Sie mußten unverrichteter Dinge zurück­ kehren. Unterdessen ließ sich der Flüchtlingsstrom nicht mehr bewältigen. Alle Botschaftsangehörigen waren auf den Beinen, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Unser Botschafter Huber, seine Frau und die ge­ samte Besatzung leisteten Übermenschliches. Aber die normalen Bordmittel reichten nicht mehr aus. Wir entsandten immer mehr Mit­ arbeiter aus der Zentrale und von anderen Botschaften in die tsche­ choslowakische Hauptstadt, die dort in Hotels untergebracht wurden. Die Behörden duldeten das, obwohl das alte ZK der Kommunisti­ schen Partei noch im Amt war. Offensichtlich war man innerhalb der Führung unsicher geworden. Gleichzeitig verschärfte sich die Lage für die DDR-Flüchtlinge von Tag zu Tag. Immer mehr DDR-Bewohner suchten Zuflucht, und dieser Strom schwoll noch dramatischer an, nachdem die ungarische Regierung am 11. September die Grenze nach Österreich für alle ausreisewilligen DDR-Bürger im Lande ge­ öffnet hatte. Am Samstag, dem 23. September, reiste ich zur UN-Vollversamm­ lung nach New York. Im Flugzeug begleiteten mich Professor Kessler und sein Oberarzt. Sie hatten eine komplette kardiologische Ausrü­ stung dabei, falls es über dem Atlantik zu einem Herzinfarkt kommen sollte. Diese Gefahr war nicht auszuschließen, nachdem ich am 20. Juli 1989 einen Herzinfarkt erlitten hatte, und so hätte man im Flugzeug notfalls eine sogenannte Lyse machen können. Auch im Hotel waren die Ärzte unmittelbar neben der Suite untergebracht, in der meine Frau und ich wohnten. Meine Rede vor der Vollversammlung hielt ich am Vormittag des 27. September 1989. Sie schloß eine Passage zur deutschen Ostgrenze ein, die ich auf dem Flug nach New York wieder und wieder überar­ beitet hatte. Angesichts der Entwicklung in der DDR und in den ande­ ren sozialistischen Staaten war eine solche Stellungnahme notwendig geworden, denn wenn sich die Möglichkeit der Überwindung des Eisernen Vorhangs und damit auch der deutschen Teilung abzeich­

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nete, dann durfte unsere Haltung zur Ostgrenze nicht unklar sein. Die Frage nach der Oder-Neiße-Linie würde von allen Seiten in Ost und West gestellt werden. Schwiegen wir uns hier aus, dann räumten wir der DDR die Rolle eines Garanten der polnischen Westgrenze ein. Wozu aber hätte das führen können? Zu einer Verfestigung der deut­ schen Spaltung? Deshalb war ein deutliches, ein in der Sache ver­ pflichtendes Wort unumgänglich. So erklärte ich fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Welt­ kriegs in feierlicher Form vor dem Forum der Welt, der General­ versammlung der Vereinten Nationen: »Das polnische Volk ist vor fünfzig Jahren das Opfer des von Hitler-Deutschland vom Zaun ge­ brochenen Krieges geworden. Es soll wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird. Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht. Wir wollen mit Polen für ein besseres Europa der Zukunft arbeiten. Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa.« Mit dieser Passage wandte ich mich direkt an den polnischen Außen­ minister Skubiszewski, der, wie ich wußte, im Plenarsaal anwesend war. Die internationale Wirkung der Rede war groß. Das bestätigte ihre Notwendigkeit und Dringlichkeit. Nach der Sitzung der Generalversammlung hatte uns Außenmini­ ster Schewardnadse zum Mittagessen in die Residenz des sowjeti­ schen UN-Botschafters geladen. Zu Beginn bedankte ich mich für einen sehr persönlich gehaltenen Brief Schewardnadses. Dieser wie­ derum würdigte meine Rede vom Vormittag. Offensichtlich hatte er die Botschaft verstanden, denn ich hatte mich nicht nur zur Frage der deutschen Ostgrenze geäußert, sondern auch zu den Rahmenbedin­ gungen für die sich abzeichnende deutsch-deutsche Annäherung und Vereinigung: »Kein Staat wird sich dieser Entwicklung«, gemeint war die Reformentwicklung, »auf Dauer entziehen können. Wer auf das Scheitern der Reformen hofft, wird von der Entwicklung über­ rannt werden. Auch im Westen sollte niemand die neuen Möglichkei­ ten unterschätzen, sondern sie entschlossen im Interesse des ganzen Europa nutzen. Die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht zu wieder­ holen. Ich appelliere an die Staaten Europas, diese geschichtliche Stunde nicht zu versäumen ... Die Bundesrepublik Deutschland sieht in der europäischen Friedensordnung auch den Rahmen für das Ziel, das der Brief zur deutschen Einheit formuliert hat, nämlich: auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deut­ sche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dieses Ziel wollen wir unter voller Achtung der von uns geschlosse­ nen Verträge erreichen. Das kann nur mit allen Staaten in Europa und

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nicht gegen sie geschehen. Niemand in Europa hat Anlaß, unsere Politik zu fürchten. Sie ist eingebettet in das Schicksal des ganzen Kontinents. Sie ist europäische Friedenspolitik. Das schließt natür­ lich Alleingänge aus.« Das war der Rahmen, in dem wir das Ziel, das wir im Brief zur deutschen Einheit formuliert hatten, erreichen wollten. Im Lauf des Gesprächs kam ich auch auf Schewardnadses UNRede vom Vortag zu sprechen. Er hatte darin die alte Koalition des Zweiten Weltkriegs beschworen und vor einem in Deutschland neu aufkommenden Revanchismus gewarnt, der versuche, die Nach­ kriegsordnung in Europa in Frage zu stellen. Niemand, so sagte er, dürfe willentlich oder unwillentlich die Kräfte des Revanchismus er­ mutigen. Zutiefst bestürzt und alarmiert hatte ich den Text dieser Rede gelesen, denn wir konnten solche Polemik mit allen ihren Fol­ gen gerade jetzt nicht gebrauchen. Nach Beratung mit meinen Mitar­ beitern packte ich den Stier bei den Hörnern. Mit großer Offenheit, so begann ich unser Gespräch, wolle ich seine Ausführungen vom gestrigen Tag ansprechen. Sie habe in der deutschen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden, weil man nach dem Stand unserer Beziehungen derartige Äußerungen nicht mehr für möglich gehalten habe. Der sowjetische Außenminister er­ widerte, Anlaß dazu seien einige Elemente in der Rede des Bundes­ kanzlers auf dem CDU-Parteitag in Bremen gewesen, vor allem die Passage über die Wiedervereinigung Deutschlands in den alten Gren­ zen. Er habe bewußt keine Namen genannt, um die Sache nicht zu verschlimmern, aber er halte die Lage für ernster als nach dem Inter­ view des Bundeskanzlers von 1986. Diese Beurteilung der Bremer Rede wies ich zurück. Es gebe, so betonte ich, keinen Anlaß zu einer solchen Bewertung. Im übrigen wisse ich sehr genau, wie der Bundeskanzler zur Grenzfrage stehe; er sehe die Dinge nicht anders als ich, und meine Rede am Morgen sei wohl hinreichend klar gewesen. Mit großer Entschiedenheit legte ich Schewardnadse unsere Politik dar: Sie nehme ernst, was in der deutsch-sowjetischen Erklärung vom Frühsommer 1989 vereinbart sei - keinesfalls dürften wir uns um die Früchte des gemeinsam Er­ reichten bringen. Schließlich war Schewardnadse mit einer gemein­ samen Sprachregelung für die Öffentlichkeit einverstanden: Man sei sich einig, die Beziehungen in vollem gegenseitigen Vertrauen zwi­ schen der sowjetischen Führung und der Bundesregierung weiter zu entwickeln. Als diese heikle Frage geklärt war, kam ich auf mein eigentliches Thema zu sprechen, die Lage in der DDR. Schon bei früheren Begeg­ nungen, sagte ich zu Beginn, hätte ich ihn auf die Notwendigkeit von

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Reformen in der DDR hingewiesen, denn die Ursachen der allgemei­ nen Unzufriedenheit und der Fluchtbewegung lägen nicht vornehm­ lich im materiellen Bereich. Dann schilderte ich dem sowjetischen Außenminister die immer unerträglichere Lage in unserer Prager Bot­ schaft, beschrieb die ähnliche Situation in Warschau und bat nach­ drücklich um Hilfe für unser Bemühen, diese Probleme zu lösen und von der DDR-Führung die Zustimmung zur Ausreise zu erlangen. Schewardnadse, der zu erkennen gab, daß auch er Reformen in der DDR für notwendig hielt, versprach, Generalsekretär Gorba­ tschow unverzüglich über unser Gespräch zu unterrichten. Diesmal war er offensichtlich von meiner Analyse überzeugt. Ein Jahr zuvor, als ich ihn - ebenfalls in New York - schon einmal auf die bei ausblei­ benden Reformen unvermeidlichen Entwicklungen in der DDR hin­ gewiesen hatte, äußerte er noch erhebliche Zweifel an meiner Ein­ schätzung. Aber auch damals sicherte er die Unterrichtung Gorba­ tschows zu. Am Abend des 27. September 1989 traf ich in unserer UN-Vertretung zu einem Abendessen mit DDR-Außenminister Oskar Fischer zusam­ men. Unsere Begegnungen waren zu einer nützlichen Tradition ge­ worden, durch die wir in den Ost-West-Fragen im allgemeinen, im KSZE-Prozeß und in aktuellen Problemen zu einem Meinungsaus­ tausch mit der DDR kamen. Bilaterale Fragen standen, entsprechend unserer Zuständigkeitsverteilung in der Bundesregierung, nicht auf der Tagesordnung. Nichts wäre der DDR-Seite schließlich lieber ge­ wesen, als wenn von den Außenministern Themen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR besprochen worden wären. Das hätte die These der DDR, daß beide deutsche Staaten füreinander Ausland seien, unterstrichen. Humanitäre Fragen hingegen warf ich immer wieder auf, und erfahrungsgemäß konnten Fälle, die bei solchen Gelegenheiten Erwähnung fanden, auch gelöst werden. Bei dieser Begegnung bat ich Außenminister Fischer zunächst um ein Gespräch unter vier Augen. Mit Bundesminister Seiters, der für die Beziehungen zur DDR zuständig war, hatte ich vereinbart, daß ich mit Fischer die gegenwärtige Situation behandeln würde. So erläu­ terte ich ihm die Lage in unseren Botschaften in Prag und in War­ schau, wobei die Lage in der tschechischen Hauptstadt zweifellos dramatischer war. Wiederholt nickte Fischer bei meinen Darlegungen; offensichtlich war er über die Situation vor Ort umfassend infor­ miert. Sodann machte ich ihm zwei Vorschläge, wie man die Ausrei­ sefrage für die Zufluchtsuchenden in den Botschaften lösen könne. Die erste Alternative lautete: Wir gestatten Konsularbeamten der

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DDR, in unserer Botschaft die Pässe der Deutschen aus der DDR mit der erforderlichen Ausreisegenehmigung zu versehen; dann reisen diese mit Sonderzügen der Bundesbahn von Prag direkt in die Bun­ desrepublik Deutschland. Der Souveränitätsanspruch der DDR wird durch die Paßeintragungen gewahrt. Zweite Alternative: Die Sonder­ züge fahren von Prag aus über DDR-Gebiet in die Bundesrepublik Deutschland. Dann können Formalitäten unterwegs erledigt wer­ den. Vorausgegangen war ein offener, ernsthafter Meinungsaustausch. Ich erklärte Außenminister Fischer, daß die Deutschen aus der DDR auf keinen Fall bereit sein würden, an ihre alten Wohnorte zurückzu­ kehren. »Warum genügen nicht sechs Stunden anstelle der bisher üblichen sechs Monate?« fragte ich. Damit spielte ich auf die zweite Alternative an, die ich danach präsentierte. Mein Eindruck war: Fischer sah die Notwendigkeit einer Lösung. Überhaupt lernte ich ihn an diesem Tage von einer Seite kennen, die mit seinem Verhalten bei unseren ersten Begegnungen vor fast an­ derthalb Jahrzehnten kaum zu vergleichen war. Plötzlich hörte ich nicht mehr die Sprache eines Mannes, der Erklärungen des Politbüros oder Zentralkomitees wiedergab. Auch Fischer suchte einen Weg und versprach, sofort nach seiner Rückkehr mit Honecker zu sprechen; telefonisch oder schriftlich sei das nicht möglich. Nach meiner Ein­ schätzung war der Grund für diese Haltung nicht böser Wille oder Uneinsichtigkeit, sondern die Sorge, daß irgend jemand - doch wer? gegensteuem könne. Rechnete Fischer mit einem Einlenken Honeckers, hatte aber Sorge vor anderen Kräften? Auf meine Frage, wann er wieder in Ost-Berlin sei, sagte er: »Am Wochenende.« »Das ist zu spät«, war meine Antwort. Er müsse Jetzt tätig werden. Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr rief ich Fischer an. Erneut in­ formierte ich ihn über die immer unerträglicher werdende Lage in der Botschaft. Auf meine dringende Bitte hin versprach er schließlich, meine Vorschläge nach Berlin weiterzuleiten. Nach meinem Eindruck gab sich Oskar Fischer Mühe, eine Lösung nach einem meiner Vor­ schläge herbeizuführen. Noch am selben Tag appellierte ich in einem persönlichen Ge­ spräch an ÜSSR-Außenminister Johanes, zu einer Lösung beizutra­ gen. Es müsse etwas geschehen. Johanes sagte nur zu, er werde Prag von meinen Ausführungen informieren; persönlich allerdings schien er nicht sehr berührt und meinte, diese Sache müsse zwischen Bonn und Berlin geregelt werden. Seine Regierung trage keine Verantwor­ tung für die entstandene Lage. »Das ist nicht das Problem«, erwiderte ich. Es gehe darum, den Menschen zu helfen. Im Ton war ich um Zurückhaltung bemüht, denn immerhin tolerierte die Regierung der

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CSSR alle unsere Aktivitäten - die Verpflegungszufuhr, die medizini­ sche Betreuung, die Abordnung von zahlreichen Angehörigen des Auswärtigen Amts nach Prag. Das waren zwar Selbstverständlichkei­ ten, doch noch ein paar Monate früher wäre alles anders gewesen. Das ungarische Beispiel wirkte wenigstens insoweit bis nach Prag. Am späten Abend gab es ein Abendessen der Sieben, das heißt der USA, Kanadas, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans und Deutschlands. Als ich auch dort über die Lage berichtete, sagten Jim Baker und Roland Dumas sofort Hilfe zu. Die entscheidende Wende ging aber offensichtlich von dem Gespräch mit Schewardnadse am Nachmittag in der sowjetischen Vertretung aus. Über den Leiter des Ministerbüros, Frank Elbe, ließ ich ihn dringlich um ein persönliches Gespräch bitten. Mein sowjetischer Kollege reagierte auf der Stelle: Ich möge bitte sofort kommen. Da jedoch für den Nachmittag bereits Begegnungen mit anderen Außenministern in meiner Hotelsuite vor­ gesehen waren, standen mir unsere Fahrzeuge nicht zur Verfügung, und so sprach Elbe die Besatzung eines Streifenwagens der New Yor­ ker Polizei an. Kurz erläuterte er die Lage, dann stiegen wir ein. Mit Blaulicht und Sirene ging es zur sowjetischen Botschaft, wo diese un­ gewöhnliche Art der Vorfahrt verständlicherweise einiges Aufsehen erregte, vielleicht aber auch den Ernst der Lage unterstrich. Sche­ wardnadse erwartete mich. Er hatte den jugoslawischen Außenmini­ ster Loncar, der ebenfalls eingetroffen war, für die Verzögerung ihres Treffens um Verständnis gebeten. Mit großem Nachdruck erläuterte ich Schewardnadse die Lage. Ich bäte um Hilfe; es gehe um die Zustimmung zum unverzüglichen Beginn der Ausreise und um eine sofortige gesicherte Unterbringung auch außerhalb der Botschaft, weil wir mit stündlich ansteigenden Zahlen rechneten. Der sowjetische Außenminister fragte: »Sind Kin­ der dabei und wieviele?« »Viele.« »Ich helfe Ihnen.« Er wollte sich an Gorbatschow, auch an Ost-Berlin und an Prag wenden und zeigte sich zutiefst betroffen über meine Schilderung. Der sensible Mann empfand als Mensch, er versteckte sich nicht hinter einer ideologi­ schen oder einer vermeintlichen Staatsräson. Er erinnerte sich wohl daran, was ich ihm vor einem Jahr an gleicher Stelle gesagt hatte. Als ich die Botschaft verließ, dankte ich ihm. Seine rechte Hand ergriff ich mit beiden Händen. Am Freitag, dem 29. September, war ich gegen 17 Uhr gerade im Be­ griff, das Hotel zum Rückflug nach Bonn zu verlassen, als das Tele­ fon klingelte: Ein Mitarbeiter von Außenminister Fischer - Botschaf­ ter Niklas - informierte uns, der Ständige Vertreter der DDR werde am Morgen des nächsten Tages mit neuen Instruktionen ins Bonner

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Auswärtige Amt kommen. »Herr Fischer läßt Herrn Genscher sagen, es lohne sich immer, mit ihm zu sprechen.« Daraufhin ließ ich Fischer ausrichten, der Ständige Vertreter möge nicht im Auswärtigen Amt, sondern wie üblich im Kanzleramt vorstellig werden. Gerade in die­ ser dramatischen Phase der deutsch-deutschen Beziehungen wollte ich auf keinen Fall die Zuständigkeiten innerhalb der Regierung ver­ wischen, weshalb ich auf korrekter Verfahrensweise bestand. Hier ging es nicht um formale Kompetenz-, sondern um Statusfragen. Da die DDR für uns nicht Ausland war, blieb sie der einzige Staat, mit dem die bilateralen Beziehungen in der Zuständigkeit des Bundes­ kanzleramts lagen. Noch vor Verlassen des Hotels informierte ich te­ lefonisch den Bundeskanzler und Bundesminister Seiters. Diese Woche war in vieler Hinsicht symbolträchtig für die Verän­ derungen in Europa und in der Welt. Während ich noch darum rang, von der DDR-Führung die Zustimmung zur Ausreise der Deutschen aus Prag zu erhalten, übergab mir der Außenminister Ungarns, Gyula Horn, ein Stück des Stacheldrahts, der einmal an der ungarisch-öster­ reichischen Grenze Europa geteilt hatte. Dieses Symbol der Einheit hat einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek gefunden, um mich stets an das zu erinnern, was war, und auch daran, daß nichts unmöglich ist, nicht die Teilung Europas, aber auch nicht ihre friedliche Überwin­ dung. Während der Unterhaltung mit Gyula Horn erfuhr ich, daß er Pro­ bleme mit seinem Rückflug nach Europa hatte. Ich lud ihn zum Mit­ flug in unserer Bundeswehrmaschine ein, und so saß, während ich auf dem Weg von New York nach Bonn war, neben mir der Außenmi­ nister eines Landes, das noch immer Mitglied des Warschauer Pakts war. Offen erörterten wir in seiner Gegenwart unsere Absichten und Sorgen für den nächsten Tag. Wir vertrauten ihm; er gehörte zu uns. Er hatte Menschlichkeit bewiesen, hatte gezeigt, daß Ungarn längst einen neuen Weg beschritten hatte. Am Morgen des 30. September 1989 landeten wir in Bonn. Zu Hause machte ich mich frisch, dann fuhr ich ins Kanzleramt. Als der Ständige Vertreter Ost-Berlins, Neubauer, Bundesminister Seiters und mir erklärte, man habe sich beim Abwägen der beiden von mir vorgeschlagenen Varianten für die zweite entschieden, also für die Fahrt durch die DDR, antwortete ich: »Die Lage hat sich inzwischen weiter verschärft. Es ist deshalb notwendig, daß die Züge von hoch­ rangigen Beamten der Bundesregierung begleitet werden. Außerdem werde ich selber nach Prag reisen, weil die Stimmung, wie sie alle Beobachter schildern, inzwischen so gespannt ist, daß die Flüchtlinge die Botschaft nicht verlassen wollen. - Ich muß Ihnen die Lage so schildern, wie sie ist. Die Flüchtlinge vertrauen Ihnen nicht. Aber ich

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bin sicher, daß ich die Menschen durch eine Art persönlicher Bürg­ schaft bewegen kann, durch die DDR zu reisen. Wichtig wird sein, daß Herr Seiters und ich sowie hohe Beamte die Züge begleiten als eine Art vertrauensbildende Maßnahme.« Neubauer fuhr daraufhin in sein Büro nach Bad Godesberg, telefonierte mit Ost-Berlin, kam zurück ins Kanzleramt und erklärte das Einverständnis. Noch am selben Nachmittag flog ich zusammen mit Kanzleramts­ minister Seiters nach Prag. Ich legte Wert auf seine Mitreise, weil ich in dieser Lage auch nach außen den Schulterschluß von Regierung und Koalition zeigen wollte. Begleitet wurden wir von Staatssekretär Priesnitz aus dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehun­ gen, von Ministerialdirektor Kastrup aus dem Auswärtigen Amt, Mi­ nisterialdirigent Duisberg aus dem Kanzleramt sowie von Ministe­ rialdirektor Jansen aus dem Auswärtigen Amt und dem Leiter des Ministerbüros, Frank Elbe. Kurz bevor die Türen der Bundeswehrma­ schine geschlossen wurden, rief mich ein Unteroffizier ans Telefon. Ich erfuhr, daß die Situation sich noch einmal geändert hatte: Der Ständige Vertreter der DDR sagte nun, abweichend von unserer Ver­ ständigung vor wenigen Stunden, daß die Führung der DDR mit der Mitreise der beiden Bundesminister Seiters und Genscher in den Son­ derzügen nicht einverstanden sei. Ich nahm diese Nachricht zur Kenntnis und machte mir nun die größten Sorgen, wie wir unter die­ sen Umständen das Vertrauen der Menschen für eine Fahrt durch die DDR noch gewinnen könnten. Unsere Mitreise hätte die Sache frag­ los erleichtert. Ich kündigte ein weiteres Gespräch mit Botschafter Neubauer aus Prag an. Kurz danach startete eine zweite Maschine mit Staatssekretär Dr. Sudhoff nach Warschau. Auf dem Flug dachte ich darüber nach, was ich in Prag zu den in der Botschaft versammelten Menschen sagen sollte. In dieser Stunde war mir bewußt: Jetzt würden nicht nur einige Tausend Deutsche aus der DDR unsere Botschaft in Richtung Bundesrepublik verlassen können, es kündigt sich Historisches an: Die DDR ist am Ende. Was sich hier vollzieht, ist im Grunde der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten; das Ende der Mauer rückt in Sichtweite. War die Ausreise aus Ungarn noch gegen den wütenden Protest der Führung in Ost-Berlin geschehen, so reisten die Menschen aus der Prager Botschaft - nur zwanzig Tage später - mit ihrer Zustimmung aus. Der Flüchtlingsstrom verwandelte sich in einen Urstrom der Ge­ schichte. Es wurde wahr, was ich immer wieder in meinen Reden ge­ sagt hatte: »Selbst Jahrzehnte der Trennung können aus einem Volk nicht zwei machen.« Auch erinnerte ich mich, daß in der Bundesre­ publik die Aufnahme von Deutschen aus der DDR in unseren Bot­ schaften in Mittel- und Osteuropa mitunter als eine unnötige Störung

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» Wir sind zu Ihnen gekommen ...«Mit der Botschaft von Prag schließt sich der Kreis, für fast fünf Jahrzehnte deutsch-deutscher Politik wie für Hans-Dietrich Genscher persönlich. »Dies war die bewegendste Stunde meines politischen Lebens«, sagte er später.

der Entspannungspolitik empfunden worden war. Die Forderung OstBerlins, wir sollten Deutschen aus der DDR in unseren Botschaften keine Aufnahme gewähren, fand durchaus offene Ohren - ein An­ sinnen, das ich immer zurückgewiesen hatte. Wir durften uns nicht zu Hilfskräften der Abgrenzungspolitik machen, durften die Mauer nicht administrativ an den Toren unserer Botschaften noch einmal errichten. Am Flughafen in Prag begrüßte mich am Nachmittag ganz offiziell der Staatssekretär im tschechoslowakischen Außenministerium. Die Regierung brachte damit zum Ausdruck, daß sie diesen Besuch offi­ ziell zur Kenntnis nahm. Unverzüglich fuhren wir zu unserer Bot­ schaft, vorder wir auf eine unser Kommen gespannt erwartende große Menschenansammlung stießen. Wir gingen durch die Tür des Gebäu­ des und sahen schon im Torbogen die Betten dreifach übereinander stehen: Ein Teil der Flüchtlinge mußte liegen, weil nicht genug Be­ wegungsfläche für alle da war. Botschafter Huber geleitete mich den Gang hinunter. Zunächst, so bemerkte ich, realisierten die Menschen gar nicht, daß der Außen­

minister angekommen war. Über Schlafende hinweg stiegen wir die Treppe hinauf ins obere Stockwerk zur Wohnung des Botschafters, von wo ich noch einmal mit Botschafter Neubauer telefonierte, um ihn auf die möglichen Folgen aufmerksam zu machen, wenn Seiters und ich nicht mitreisten. Neubauer teilte mir mit, er habe keine neuen Weisungen aus Ost-Berlin. So mußten wir versuchen, das Vertrauen der Flüchtlinge auf andere Weise zu gewinnen. Nachdem wir die wei­ teren Einzelheiten besprochen hatten, sagte ich: »Herr Huber, es ist wohl Zeit, auf den Balkon zu gehen, um von dort die Menschen zu in­ formieren.« Wir traten hinaus. »Liebe Landsleute« - ein Jubelsturm brach los. Dann begann ich: »Wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen ...« Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, noch einmal unbe­ schreiblicher Jubel. Auch heute, im Rückblick der Jahre, ergreift mich bei dieser Erinnerung noch immer tiefe Bewegung. Dann erklärte ich: »Der erste Zug fährt schon heute. Ich bitte Sie, daß vor allem die Kranken und Mütter mit kleinen Kindern Platz finden.« Und weiter sagte ich: »Ich will Sie noch über den Weg, der vor Ihnen liegt, infor­ mieren. Die Züge werden die Grenze zwischen der tschechoslowaki­ schen Republik und der DDR überqueren.« Plötzlich wurde große Unruhe spürbar. »Ich bitte Sie, mich anzu­ hören!« fuhr ich fort. »Die Züge werden ohne Halt durchfahren. Sie müssen die Züge nicht verlassen. Ich weiß, was Sie empfinden. Sie sind alle in einem Alter, in dem ich war, als ich die DDR verlassen habe. Deshalb kann ich nachfühlen, was Sie in diesem Augenblick empfinden, auch Ihre Sorge.« Nur persönliche Glaubwürdigkeit, spürte ich, konnte die Menschen überzeugen: »Wenn jemand, der ei­ nen Lebensweg, der ein Schicksal hinter sich hat wie ich. Ihnen sagt, ich verbürge mich dafür, daß die Versprechungen eingehalten werden, dann dürfen Sie das glauben.« Wieder gab es Beifall. »In jedem Zug werden zwei Beamte von uns sein, aus dem Kanzleramt und aus dem Auswärtigen Amt. Hier stehen sie.« Ich stellte die Beamten nament­ lich vor: »Das ist der Ministerialdirektor Dr. Jansen. Das ist der Vor­ tragende Legationsrat Elbe. Hier steht der Ministerialdirigent Duisberg aus dem Bundeskanzleramt und hier Staatssekretär Priesnitz. Sie alle werden in den Zügen sein. Sie können uns vertrauen.« Dann wandte ich mich noch an Flüchtlinge aus meiner Heimatstadt: »Sind denn Hallenser da?« Sofort riefen einige Stimmen: »Ja, hier!« Es war ein unvergeßlicher Moment, für mich ebenso wie für die in der Bot­ schaft versammelten Menschen, und noch heute höre ich bei zufälli­ gen Begegnungen immer wieder: »Wir waren damals in der Botschaft in Prag mit dabei!«

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Der erste Zug verließ schon am Abend des 30. September 1989 Prag in Richtung DDR. Die mitreisenden Beamten riefen mich am nächsten Morgen an: »Sie können sich nicht vorstellen, was wir erlebt haben!« Die Sympathiekundgebungen unterwegs waren überwältigend. Über­ all an der Bahnstrecke hatten DDR-Bürger gewinkt. Manch einer hatte sogar Bettücher aus den Fenstern gehängt. Wenn man mich nach dem Gespräch mit Außenminister Fischer in New York gefragt hätte, welche der beiden »Varianten« die DDR wohl wählen würde, hätte ich auf die erste, die des direkten Weges in die Bundesrepublik Deutschland, getippt. Wie konnte die Führung in Ost-Berlin unterschätzen, welchen psychologischen Effekt der Trans­ port tausender Flüchtlinge durch die DDR haben würde? Die Wir­ kung war unübersehbar. Bei einer direkten Ausreise wie der von Ungarn über Österreich wären die Konsequenzen kaum so schwer­ wiegend gewesen; nun aber hatte der politische Urstrom sich in Be­ wegung gesetzt und schob sich ungehindert durch die DDR. Dieses Urstromtal nahm seinen Ausgang in Prag, der europäischsten aller europäischen Städte. Aber ihre Kräfte empfing die Entwicklung vom Willen der Menschen nach Freiheit und Selbstentfaltung. Wie lange hatte ich darauf gewartet, wieviel Zeit meines Lebens dafür einge­ setzt! Lange schien das Ziel schwer und nur in ferner Zeit erreichbar, dann wurde es als Möglichkeit sichtbar und zuletzt so schnell greif­ bar, daß ich zu träumen glaubte. Als ich von Prag nach Bonn zurück­ flog, als Außenminister des freien Deutschland, gingen meine Gedan­ ken zurück zu meiner Kindheit und Jugend in Halle: Was hätten wir damals, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dafür gegeben, gemeinsam neu anfan­ gen zu können in einem geeinten demokratischen Deutschland? Nun hatte ich die Hoffnung, es werde mehr als vierzig Jahre später mög­ lich sein.

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T E IL I

Von Halle über Bremen nach Bonn

K A P IT E L 1

Kindheit und Jugend bis 1945

Familienwurzeln Am 21. März 1927 wurde ich im oberen Stockwerk des großelter­ lichen Bauernhauses in Reideburg bei Halle geboren. Der Hof gehörte den Eltern meiner Mutter; er war fünfunddreißig Hektar groß. Meine Eltern kamen beide vom Land, meine Mutter Hilda, geborene Kreime, stammte aus Reideburg, heute ein Teil von Halle. Sie war in demselben Bauernhaus geboren worden wie ich. Reideburg war damals ein Dorf von etwa fünftausend Einwohnern, in dem viele Beamte des mittleren und gehobenen Dienstes wohnten. Die Reichsheimstätte, das Beamten-Heimstättenwerk, wie es heute heißt, hatte in dem Ort gebaut. Einen anderen, ebenfalls erheblichen Teil der Bevölkerung bildeten Facharbeiter, die in der chemischen In­ dustrie beschäftigt waren. Das wiederum war für die Landwirtschaft in Reideburg von Bedeutung, denn die Löhne mußten mit dem, was die Industrie bezahlte, konkurrieren können. So kam es, daß sich un­ ser Vorort immer mehr zum »Gemüsedorf« für Halle entwickelte, was eine intensive Nutzung der Anbaufläche mit modernen Methoden, einschließlich künstlicher Beregnung eines umfänglichen Teils und Einsatz von Traktoren, notwendig machte. Meine Mutter wurde am 4. Juni 1901 geboren. Von 1907 an be­ suchte sie die Volksschule in Schönnewitz, einem späteren Teil von Reideburg; bis zur ihrer Heirat arbeitete sie in Haus und Hof, und die schwere landwirtschaftliche Arbeit hat sie denn auch geprägt. Über­ haupt hatte diese Generation, um die Jahrhundertwende geboren, kein leichtes Leben zu bestehen: zwei Weltkriege, den Zusammen­ bruch des Kaiserreiches, die Weimarer Republik, die Hitler-Diktatur, danach den erneuten Zusammenbruch gesellschaftlicher, wirtschaft­ licher und politischer Strukturen. Das war viel für ein Menschen­ alter. Mein Vater, Kurt Genscher, stammte von einem Bauernhof in Klepzig, einem Hof mit fünfundzwanzig Hektar, sieben Kilometer östlich von Reideburg gelegen, damals zum Kreis Delitzsch, heute zum Saalkreis gehörend. Meine Großeltern väterlicherseits hatten fünf Kinder, eine Tochter und vier Söhne. Letztere schickte er in die

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Kreisstadt Delitzsch »in Pension«, wie er sagte, wo sie die Oberreal­ schule besuchten. Zwei von ihnen gingen mit dem »Einjährigen« der Mittleren Reife - von der Schule ab und wurden Bauern; der eine von ihnen - Artur - übernahm später den väterlichen Betrieb. Mein Vater hingegen und sein Jüngster Bruder, Max, studierten. Eigentlich zog es meinen Vater zur Malerei, aber der Großvater hielt das für brotlose Kunst, er drängte seinen ältesten Sohn nachdrücklich zum Jurastudium. Und so begann mein Vater nach dem Ersten Weltkrieg 1919 in Halle, genau wie ich später nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1946, Rechtswissenschaft zu studieren. Nach der Heirat hatten meine Eltern ihre erste gemeinsame Woh­ nung auf dem Bauernhof in Reideburg. Er war seit Ende des Dreißig­ jährigen Krieges im Besitz der Familie meiner Mutter, der Kreimes. Erst 1933 zogen wir nach Halle, wo mein Vater als Justitiar in einem Landwirtschaftsverband arbeitete. So oft wie möglich aber fuhr ich auch dann noch mit der Straßenbahn nach Reideburg, manchmal auch noch weiter zu meinen Großeltern nach Klepzig - sieben Kilometer, die ich mit dem Fahrrad zurücklegte. Mein Vater hatte sich an der Front im Ersten Weltkrieg eine Nieren­ erkrankung zugezogen, die nie ausheilte. Ende 1936 bekam er eine schlimme Kiefemhöhlenvereiterung, die eine todbringende Blutver­ giftung nach sich zog; Penicillin stand noch nicht zur Verfügung. Er starb am 26. Januar 1937. Ich war damals neun Jahre alt, und der Tod meines Vaters war für mich ein schwerer Schlag. Immerhin half mir, daß ich in einer großen Familie aufwuchs. Auf dem Bauernhof, von dem meine Mutter stammte, lebten noch beide Großeltern, außerdem wohnten dort der unverheiratete, zehn Jahre jüngere Bruder meiner Mutter und die ver­ witwete Schwester mit ihren Kindern. Ihr hatten meine Eltern mit dem Umzug nach Halle Platz gemacht, als sie ihren Mann, einen Gastwirt, verlor. Mein Großvater, Otto Kreime, wurde nun anstelle meines Vaters zu meiner männlichen Hauptbezugsperson. Er war recht verschlossen, gebildet und von großer persönlicher Autorität. Ich verehrte ihn sehr. Er hatte Lehrer werden wollen, doch sein Vater, mein Urgroßvater also, entschied: Du bist der Älteste und über­ nimmst den Hof. Also mußte er mit dem »Einjährigen« von der Schule abgehen. Seinen Wehrdienst leistete er vor der Jahrhundert­ wende im lothringischen Diedenhofen, von wo er als Bewunderer alles Französischen zurückkam. Er las viel, auch französische Zeitungen und Bücher, und ich erin­ nere mich noch, wie er sich einen großen Saba-Rundfunkempfänger kaufte, damit er Sendungen in französischer Sprache hören konnte. Wenn ich sonntags bei ihm saß, erzählte er von Frankreich. Das sei

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Letzter Urlaub mit Vater und Mutter 1936 im Thüringer Wald. Der Vater, in je ­ nen Jahren schon schwer erkrankt, starb ein halbes Jahr später. Photograph war der Autor.

ein wunderbares Land, mit dem es nie wieder Krieg geben dürfe! Als Hitler 1940 Frankreich überfiel, brach für meinen frankophilen Großvater eine Welt zusammen. Bitter empfand er, daß sein Sohn, mein Onkel, 1945 als Kriegsgefangener aus Norwegen nach Frank­ reich gebracht wurde, von wo er beim Tod meines Großvaters 1947 noch nicht zurückgekehrt war. Immer hatte Großvater gehofft, daß er ihn noch einmal sehen werde, ja er hatte sich verzehrt in der Sorge, den Hof für den Sohn erhalten zu können, was unter der sowjetischen Besatzungsmacht nach 1945 keineswegs leicht war. Im einen Jahr mußte er ein hohes »Milchsoll«, im nächsten ein hohes »Fleischsoll« erbringen, dann wurde wieder das »Milchsoll« erhöht, nachdem man inzwischen, um das »Fleischsoll« zu erfüllen, Kühe geschlachtet hatte. Mit diesen Schikanen sollten die Bauern in Abhängigkeit ge­ zwungen werden. All das lastete nun, nach dem Tod meines Großva­ ters, auf den Schultern der jungen Frau meines Onkels, meiner Tante, die nur sieben Jahre älter war als ich. Großvater Kreime, von großer Vitalität und niemals krank, genoß in seiner Familie großes Ansehen. Als er im Sterbebett lag, saßen wir

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alle um ihn herum, seine beiden verwitweten Töchter, die Schwieger­ tochter, die auf ihren in französischer Kriegsgefangenschaft zurück­ behaltenen Mann wartete, und die größeren Enkel. Abends schlief er ganz friedlich ein. Mein Großvater väterlicherseits, Franz Genscher, war ein eher au­ toritärer Mann. Alles hatte er fest in der Hand, er war Herr im Hause. Was für ihn vor allem zählte, war der berufliche Erfolg. Wenn wir uns Ostern auf seinem Hof zum Familientreffen einfanden, setzte er sich nach dem Essen mit seinen Söhnen zusammen, die ihm dann über ihre berufliche Situation berichten mußten: wie es mit der Ernte stehe, ob die Hypothek schon abbezahlt sei, ob in der Familie mit dem Geld sparsam umgegangen werde. Später einmal fand ich einen hand­ schriftlichen Brief meines Großvaters an meinen Vater: Die Kirche verpachtete einen Acker; mein Großvater wollte ihn pachten. Ohne Erfolg. Ein anderer Bauer erhielt den Vorzug. Daraufhin schrieb der Großvater sinngemäß an meinen Vater: »Mein lieber Sohn, es ist eine große Enttäuschung für mich, daß Du mir abrätst, gegen den Pfaffen zu klagen. Dafür habe ich Dich nicht unter großen Opfern Jura studie­ ren lassen. Dein trauriger Vater.« In und um Halle Zeit meines Lebens war ich stolz auf Halle, meine Heimatstadt, eine moderne und weltoffene Industriemetropole, ein Kulturzentrum, eine Universitätsstadt. Das Bildungsbürgertum in Stadt und Umgebung bestimmte den Charakter Halles genauso wie die selbstbewußte, hochqualifizierte Industriearbeiterschaft. Inzwischen ist die Bevölke­ rung von zweihundertzweiundzwanzigtausend auf dreihunderttau­ send Einwohner gewachsen. Am Westrand von Halle wurde zu Zeiten der DDR die Satellitenstadt Halle-Neustadt errichtet, heute ein Teil von Halle selber. Industrielle Bedeutung besaß Halle durch seine chemischen Fabri­ ken, durch den Waggonbau und den Bau von Spezialmaschinen. Hatte hier einst die Aufklärung mit mancher Kontroverse das Klima bestimmt, so wurden auch die sozialen Spannungen in der aufstreben­ den Industriestadt offen ausgetragen, und Arbeiter- wie Gewerk­ schaftsbewegung beeinflußten die Entwicklung der Stadt. In den zwölf Jahren des Nationalsozialismus gab es in Halle - wie überall im Deutschen Reich - Verfolgung aus politischen und aus rassischen Gründen. Es gab allerdings auch Widerstand aus allen politischen La­ gern, und es gab aktive Beteiligung an der Vorbereitung des 20. Juli 1944.

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Die Stadt, in der ich aufwuchs, zeichnete sich nicht nur durch eine bedeutende Industrie aus. Halle wurde gleichfalls geprägt durch die Kunstwerkstätten auf Burg Giebichenstein, Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre eng verbunden mit dem Bauhaus in Des­ sau. Der letzte Direktor von Giebichenstein - bis 1933 - war der große Bildhauer Gerhard Mareks. So freute es mich besonders, als ich in den achtziger Jahren Gelegenheit hatte, bei einer Marcks-Ausstellung in Köln in einer Festrede hervorzuheben, daß ich in ihm nicht nur einen bedeutenden Künstler sehe, sondern auch einen herausra­ genden Mann, der in Halle ein Opfer der NS-Verfolgung geworden war. In der Rede sprach ich den Wunsch aus, ihn eines Tages in Halle würdigen und dabei auch des Unrechts gedenken zu können, das ihm dort widerfahren war. Ein großer Förderer der Hallenser Kunst war Richard Robert Rive, der schon zu Kaisers Zeiten Stadtoberhaupt gewesen war. Vom 2. April 1906 bis Anfang 1933 stand er an der Spitze der Stadt, Kunst und eine moderne Kommunalpolitik auf vorbildliche Weise miteinan­ der verknüpfend. Ähnlich wie Konrad Adenauer in Köln, Emst Reu­ ter in Magdeburg, Carl Goerdeler in Leipzig gehörte er zu den bedeu­ tendsten Oberbürgermeistern der Weimarer Zeit. Er veranlaßte, daß in einem Turm der Moritzburg Lyonei Feininger Aufnahme fand und ein Atelier unterhielt. Es waren die Jahre, in denen Feininger nicht nur seine berühmten Halle-Bilder, sondern auch mitteldeutsche Kirchen­ motive malte. Die traditionelle Verbindung der schönen Künste mit Politik und Wirtschaft reicht in Halle indessen noch weiter, ja bis ins 18. Jahrhundert zurück. In »Reichards Garten« - Reichard war ein Kunstmäzen und Bankier - trafen sich herausragende Vertreter der deutschen Romantik, darunter Joseph von Eichendorff. Im 17. Jahrhundert wurde Halle mit den Franckeschen Stiftungen zu einem pädagogischen Zentrum. Nach dem Tod ihres Gründers August Hermann Francke im Jahre 1727 verloren die Stiftungen all­ mählich ihren pietistischen Charakter; mehr und mehr wurden sie zu einem bedeutenden Schulzentrum und mit dem Waisenhaus zu einer europäischen sozialen Einrichtung. Übrigens beeinflußte Francke, der sich entschieden gegen die Aufklärung wandte, den preußischen Kö­ nig Friedrich Wilhelm I. so nachhaltig, daß dieser den aufklärerischen Philosophen Christian Wolff 1723 aus Halle abberief. Wolff hatte an der 1694 gegründeten Universität gelehrt und ihr zusammen mit dem Philosophen Christian Thomasius sehr schnell einen bedeutenden Ruf verschafft. So wurde Halles Universität zu einem Mittelpunkt deutschen Geisteslebens, vor allem für die Aufklärung. In Halle war man fortschrittlich: Schon 1754 erwarb hier eine Frau den medizinischen Doktortitel - die erste in Deutschland, Dorothea

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von Erxleben. Überhaupt hatten die Universität und die Schulen - die Franckeschen Stiftungen und die städtischen Schulen - großen Ein­ fluß auf das Denken der Hallenser, auch wenn die Rechtswissenschaft zuletzt in den Schatten der berühmten Jura-Fakultät in Leipzig geriet. Landsmannschaftlich gesehen sind die Hallenser Sachsen, haben allerdings staatsrechtlich nie zum Königreich Sachsen gehört. Bis über den Dreißigjährigen Krieg hinaus war Halle Teil des Bistums Magdeburg, bis es 1680 - ein Ergebnis des Westfälischen Friedens von 1648 - an Brandenburg-Preußen fiel. 1815 wurde die Stadt Teil der preußischen Provinz Sachsen - mit Magdeburg als Provinzhaupt­ stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß die Provinz dann bis 1952 »Land Sachsen-Anhalt«. Halle wurde Hauptstadt. Meine Kindheit war - soweit das in jener Zeit möglich war - unbe­ schwert. Bis zu unserem Umzug nach Halle 1933 wuchs ich auf dem Land auf. Haus und Hof, Stallungen, Wiesen und Felder bildeten meine kleine Welt. Ich sah zu, wenn Kühe kalbten, Schweine ihre Jungen warfen. Mit dem Hund »Döll« - einem Deutsch-Drahthaar teilte ich oft die Hundehütte, und im Pferdestall besprach ich vor al­ lem mit dem Fuchs abends meine alltäglichen Sorgen. In Halle mieteten meine Eltern in der Lindenstraße Nr. 2 eine FünfZimmer-Etagenwohnung. Kurz nach Ostern zogen wir ein; nach einer Woche Schule in Reideburg wechselte ich in die Johannes-Volks­ schule in Halle. In die Schule ging ich gern. Das Lernen fiel mir nicht schwer, manchmal machte es sogar Spaß. Ich glaube, ich bin immer ein neugieriger Schüler gewesen. Stolz war ich in jener Zeit vor allem auf mein Fahrrad, das mein Vater mir - gebraucht - für zehn Reichsmark gekauft hatte, damals eine große Geldausgabe. An meinen Vater erinnere ich mich deutlich: Er war ein fürsorglicher und liebevoller Mann mit künstlerischen Neigungen. Vielleicht habe ich von ihm die Neigung zu Harmonie und Ausgleich geerbt, für seine musische Begabung gilt das leider nicht. Er hatte wohl eine konservative Grundhaltung - wie fast alle in beiden Zweigen der Familie. Als Mitglied der Deutsch-Nationalen Volkspartei, der DNVP, war er gegenüber dem Nationalsozialismus kritisch eingestellt. Nie werde ich vergessen, wie er immer wieder sagte: »Hitler, das bedeutet Krieg.« Mit mir war mein Vater sehr nachsichtig. Einmal allerdings, es war kurz vor Weihnachten 1936, also wenige Wochen vor seinem Tod, ging ich nach dem Schlittschuhlaufen noch mit zu einem Freund. Die Eltern schwebten in großer Angst: Sollte mir etwas passiert sein? War ich vielleicht beim Schlittschuhlaufen im Eis eingebrochen? Mehrere Stunden nach Einbruch der Dunkelheit hielt es meinen Vater nicht

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Das obligatorische Photo am ersten Schultag Ostern 1933.

mehr zu Hause, er suchte nach mir. Als ich ihm schon nach wenigen hundert Metern pfeifend entgegenkam, setzte es auf der Stelle eine Tracht Prügel mit dem Gehstock. Das war das einzige Mal, daß ich von ihm geschlagen wurde.

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Am Abend des 26. Januar 1937 kam meine Mutter aus dem Kranken­ haus zurück. An ihrem Gesicht konnte ich sehen, was geschehen war. Mein Vater war gestorben. Ich weinte, bis ich erschöpft auf der Liege im Wohnzimmer einschlief. Nach dem Tod meines Vaters wurde die Bindung zwischen meiner Mutter und mir, ihrem einzigen Kind, noch enger. Zugleich ereignete sich etwas, was später für den Innen- und Außenminister Genscher eine gewisse Bedeutung erlangen sollte. Meine Mutter, beim Tod meines Vaters erst fünfunddreißig Jahre alt, war einsam geworden. Deshalb redeten ihr Bekannte und Verwandte gut zu, jemanden in un­ sere Wohnung aufzunehmen, damit sie nicht die ganze Zeit mit mir allein sei. So kam Marianne Bedners, die aus einer deutschen Familie in Kronstadt in Siebenbürgen stammte, zu uns. Die Achtzehnjährige besuchte das Lehrerseminar in Halle und blieb für die nächsten zwei Jahre bei uns, wobei sie viel von ihrer Heimat in Siebenbürgen er­ zählte. Als ich 1969 Innenminister wurde, übernahm ich auch das Vertriebenenministerium und in dieser Eigenschaft zugleich die Betreuung der Deutschen in Siebenbürgen und im Banat. 1971 folgte ich einer Einladung nach Rumänien. In Bukarest äußerte ich den Wunsch, auch Kronstadt zu besuchen. Zu meinem rumänischen Amtskollegen sagte ich: »Ich habe übrigens eine Bekannte in Hermannstadt. Ich wäre dankbar, wenn Sie dafür sorgten, daß ich sie sehen kann.« Ich wußte, daß Marianne wiederholt, aber immer vergeblich die Ausreise für ihre Familie beantragt hatte. Wir kamen abends in Kronstadt an, und am nächsten Morgen um halb acht war Marianne schon da. Als wir uns in meinem Zimmer unterhielten, gab sie mir ein Zeichen, und ich verstand und sagte: »Es ist so schönes Wetter, wir sollten an die frische Luft gehen.« Unter­ wegs - ohne Mikrofon in der Nähe - erzählte sie mir dann, was in der Nacht passiert war. Um Mitternacht war sie zum Polizeipräsidenten bestellt worden; man hatte sie gefragt, ob sie den Innenminister Gen­ scher kenne. Darauf hatte sie geantwortet, sie kenne eine Familie Genscher in Halle, aber keinen Innenminister dieses Namens. Tat­ sächlich wußte sie nicht, was aus dem kleinen Jungen aus Halle ge­ worden war. Daraufhin ließ man sie erst einmal gehen. Doch um drei Uhr morgens wurde sie erneut aus dem Bett geholt, wieder zur Polizei gebracht, wo man ihr eröffnete: »Sie werden jetzt nach Brasow (Kronstadt) gefahren, aber bilden Sie sich ja nicht ein, daß Sie hier rauskommen mit Ihrer Familie, nur weil Sie den Innenminister Gen­ scher kennen.« Um sie für die Zukunft zu schützen, bat ich deshalb meinen Gastgeber, den Innenminister, meine Bekannte an unserem gemeinsamen Frühstück teilnehmen zu lassen. Das war wie ein

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Schutzschirm. Und schließlich konnten wir dann doch erreichen, daß unsere Freundin mit ihrer gesamten Familie schon wenige Monate später ausreisen durfte. Zurück ins Jahr 1937: Es hätte für mich nahegelegen, die Ober­ schule der Franckeschen Stiftungen zu besuchen, zumal wir ganz in der Nähe wohnten. Aber mein Vater war offenbar durch die Erfahrung geprägt, daß er in Delitzsch sein Abitur auf einer Oberrealschule ab­ gelegt hatte, auf der kein Latein gelehrt wurde. Erst als Student machte er nach dem Ersten Weltkrieg das Große Latinum nach. Des­ halb sagte er meiner Mutter unmittelbar vor seinem Tod: »Schicke den Jungen auf das Reform-Realgymnasium; dort lernt er Latein.« So kam es, daß meine Mutter mich dort anmeldete. Mein Vater konnte nicht wissen, daß im Rahmen einer Schulreform seit 1937 an allen Oberschulen Latein gelehrt wurde. An meiner neuen Schule waren wir die erste Klasse, die in der Sexta mit Englisch als erster Fremd­ sprache begann ; in der Quarta kam dann Latein hinzu. Nachdem ich meine Aufnahmeprüfung für die Oberschule bestan­ den hatte, kam Großvater Genscher zweispännig mit der Kutsche in Halle vorgefahren. Zum Prüfungsergebnis sagte er: »Na, das ist doch selbstverständlich«, und schenkte mir zwei »Kanaldeckel«, wie mein Vater immer die Fünfmarkstücke genannt hatte. Dies war das einzige Mal, daß ich von Großvater Genscher eine Anerkennung bekam. Das Schulgeld betrug fünfundzwanzig Mark, eine Summe, die für meine Mutter, die nur von einer kleinen Angestelltenrente lebte, nicht leicht aufzubringen war. Ich entwickelte es daher zu einem Sport, die Schulbücher - soweit nicht neue eingeführt wurden - gebraucht zu kaufen und nach Gebrauch am Beginn des neuen Schuljahres minde­ stens zum Anschaffungspreis weiterzuverkaufen. Überwiegend besaß die Schule für mich Unterhaltungs- und Informationswert. Ich hatte einen weiten Schulweg: Hundert Meter von der elterlichen Wohnung entfernt hielt die Straßenbahn, die ich zumeist im Dauerlauf in letzter Sekunde erreichte. Es machte mir viel Spaß, auf die Straßenbahn auf­ zuspringen, und mein Stammplatz war die vordere Plattform des An­ hängewagens. Hier traf ich Klassenkameraden, die einen noch weite­ ren Schulweg hatten als ich. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Latein. Turnen war nicht gerade meine Stärke, aber ich liebte das Völ­ kerball- und das Fußballspiel. Als Sextaner wurde ich an Hitlers acht­ undvierzigstem Geburtstag, also am 20. April 1937, wie alle Jungen meines Jahrgangs in das Deutsche Jungvolk aufgenommen. Dem Jungvolk gehörte man von zehn bis vierzehn Jahren an. Dann fand in der Regel die Überführung in die HJ statt, und so war auch ich von Herbst 1942 an in der Motor-HJ. Den Dienstgrad als »Bestätigter Jun-

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Der Markt in Halle mit den berühmten flinf Türmen, der Lionel Feininger und Ernst Ludwig Kirchner zu ihren Bildern inspiriert hat.

genschaftsführer«, den ich im Jungvolk gehabt hatte, gab ich auf: Mitglied der HJ war ich ohne Dienstgrad. Im Winter 1942/43 wurden wir vornehmlich für die Führerscheinprüfung ausgebildet, daraus wurde aber nichts. Am 15. Februar 1943 mußte ich zur Flak als Luft­ waffenhelfer einrücken. Als zehnjähriger Sextaner gründete ich in der Klasse einen Verein für Biochemie. Das war die Tarnung für die Durchforschung der elter­ lichen Bücherschränke nach Sexualliteratur. Wir waren vier, fünf Jun­ gen, und eines Tages kam einer mit van de Veldes Buch »Die voll­ kommene Ehe« an, damals ein Standardwerk. Auf solcher Grundlage fand dann der »Erfahrungsaustausch« statt. Später gründeten wir einen »Fahrradklub« und unternahmen gemeinsame Ausflüge, als Kontrast-

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Programm zum öden Marschieren im Jungvolk. Zu sechst radelten wir jede Woche einmal in die Umgebung der Stadt und an schöne Plätze. Sogar eine Satzung hatten wir. In unserer Schule fanden wir 1937 noch ein offenes Klima vor. Un­ ter unseren Lehrern gab es nur wenige Anhänger des Nationalsozia­ lismus, auch wenn unser Direktor, Dr. Hanf, 1938 als »Systempoliti­ ker« abgelöst und vorzeitig pensioniert wurde. Der neue Oberstudien­ direktor trug das Parteiabzeichen, konnte jedoch nicht lange Einfluß nehmen, weil er 1939 bei Kriegsbeginn als Offizier eingezogen wurde. Von 1939 an leitete Oberstudienrat Florstedt, Mitverfasser der Grammatik Florstedt-Stieber, die Schule. Er gehörte zur alten Garde um den entlassenen Oberstudiendirektor Hanf. Bald wurde unsere Schule von Reform-Realgymnasium in Friedrich-Nietzsche-Schule umbenannt. In diesem Zusammenhang erin­ nere ich mich an eine Episode, die sich ereignete, als wir am 15. Fe­ bruar 1943 Luftwaffenhelfer wurden. In der Flakstellung waren wir mit Schülern der Mackensen-Schule zusammen. Unser Untergrup­ penkommandeur, Oberstleutnant Meßthaler, ein reaktivierter Offizier aus dem Ersten Weltkrieg, der in Halle in »Grüns Weinstuben« einge­ heiratet hatte, besuchte unsere Flakstellung. Mit Monokel, im Leder­ mantel mit Pelzkragen und mit seinem großen Hund wirkte er wie eine Gestalt aus einer anderen Zeit. Als er fragte: »Von welcher Schule seid ihr denn?«, antwortete einer: »Mackensen-Schule«. Dar­ aufhin der Oberstleutnant: »So, Mackensen. Ich habe die Ehre, in jedem Jahr an der Geburtstagstafel des Feldmarschalls sitzen zu dür­ fen.« Da meldete sich einer von uns und rief: »Friedrich-NietzscheSchule.« Daraufhin Meßthaler: »Nietzsche, Nietzsche. Wer ist denn das?« Der Schüler antwortete: »Ein bedeutender deutscher Philo­ soph.« »So, so, ein Philosoph«, antwortete Meßthaler, »ich wußte bis­ her nur, daß Nietzsche im Kriege 70/71 Krankenträger war, sechzig Kilometer hinter der Front.«

Ein fünfzehnjähriger Flakhelfer Als der Zweite Weltkrieg begann - ich war zwölf Jahre alt -, sagte meine Mutter: »Na, Gott sei Dank, mein Zwölfjähriger braucht dies­ mal nicht mit. So lange dauert kein Krieg.« Es war für sie deshalb ein großer Schock, daß ich mit fünfzehn Jahren Flakhelfer werden mußte. Für sie begann eine Leidensperiode. Ende Januar 1943 war die Schlacht von Stalingrad zu Ende gegangen; am 15. Februar 1943 wur­ den überall im Reich die ersten Luftwaffenhelfer eingezogen, dar­ unter auch ich, ein fünfzehnjähriger Untersekundaner, den nun der

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Krieg unmittelbar erreicht hatte - wie viele, viele Gleichaltrige auch. Einen Tag zuvor, am Sonntag, hatte meine Tante Lydia Heinemann Geburtstag. Beim Kaffeetrinken auf ihrem Bauernhof in Reideburg verzehrte ich vierzehn Stücke Pflaumenkuchen, während die ganze Familie sich mit dem armen Jungen befaßte, der am nächsten Tag ein­ rücken sollte. Meine Mutter ermahnte mich: »Iß’ doch nicht so viel!« Da wehrten die anderen ab: »Laß ihn doch, wer weiß denn, ob er das noch mal kriegt!« Die Einberufung der Jahrgänge 1926 und 1927 zur Flak, und zwar der Oberschüler und mancher Mittelschüler, nicht hingegen derjeni­ gen, die als Lehrlinge in der Produktion standen, war die Reaktion auf die Wende von Stalingrad und die Vernichtung der 6. Armee. Man stellte eine neue 6. Armee auf - durch Auskämmen der Einheiten, die im Reich stationiert waren. Dazu gehörten viele Soldaten in den zahl­ losen Flakbatterien, die nun aus der Heimatverteidigung herausge­ nommen wurden. In unserer Flak-Batterie gab es drei Gruppen: Zunächst war da die Stammbesatzung, die sich aus Unteroffizieren und Offizieren sowie aus einigen Soldaten, die Ladekanoniere waren, zusammensetzte. Wir, die Schüler, fünfzehn und sechzehn Jahre alt, bildeten die zweite Gruppe. Die dritte Gruppe bestand aus russischen Hilfswilligen, die sich freiwillig aus den Kriegsgefangenenlagern ge­ meldet hatten, sogenannten »Hiwis«. Rechtlich gesehen waren wir Wehrmachtsgefolge. Noch immer hatten wir wöchentlich dreimal fünf Stunden Schulunterricht. Dabei entfielen die neusprachlichen Fächer, also Englisch und Französisch, Latein aber wurde fortgesetzt, ebenso Deutsch, Geschichte und die Naturwissenschaften. Manchmal, wenn auch nur höchst selten, wur­ den wir sogar nach Halle in die Schule gebracht, wo wir einen ganzen Vormittag naturwissenschaftliche Experimente nachholen konnten eine angenehme Unterbrechung. Der »normale« Schulunterricht bei der Flak war demgegenüber natürlich seltsam. Für die eine Klasse fand er in der Kantine statt, für die andere in der Dorfkneipe. Unsere Lehrer kamen aus Halle zu uns in die Flakstellung. Hatte es in der Nacht Alarm gegeben, durften wir länger schlafen, und der Unterricht fiel aus. Das fanden wir gar nicht so unangenehm. Jedenfalls hatten wir keine schulischen Entzugserscheinungen: Der Erfolg des pädago­ gischen Bemühens unserer Lehrer war begrenzt. Da wir im »militärischen Einsatz« waren, bekamen wir einen Fronturlauberschein. Der normale Urlauberschein war auf rein wei­ ßem Papier gedruckt, über den Fronturlaubsschein war diagonal ein grüner Strich gezogen. Das gab kleine Privilegien. Man konnte zum Beispiel leichter an Theaterkarten kommen, man mußte sich nicht erst anstellen.

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Der Fünfzehnjährige als Luftwaffenhelfer nach dem 15. Februar 1943. Die Hoffnung der Mutter, die am ersten Kriegstag im September 1939 gesagt hatte: »Mein zwölfjähriger Junge muß in diesem Krieg nicht mit«, erfüllte sich nicht.

Bei einem Urlaub wollte ich mit meiner Mutter ins Theater gehen. Da wir im Urlaub Zivil tragen durften, hatte ich kurze Hosen und Kniestrümpfe an. Vor der Theaterkasse wachte die Feldgendarmerie, die gefürchteten »Kettenhunde«. Man sagte mir: »Wenn dein Vater ins Theater will, muß er selber kommen.« Ich erwiderte: »Der Front­ urlauber bin ich.« Wir gehörten zur Flakgruppe Halle-Leuna. Die Flakhelfer lebten in Baracken, eingeteilt in Geschütz- und Meßstaffel. Ich war am FunkMeßgerät - Radar - eingesetzt. Unser Vorteil war, daß wir im Geräte­ raum saßen; wir brauchten also nachts, vor allem im Winter, nicht im Freien zu stehen. Als erste wußten wir, wann und wo sich Flugzeuge im Anflug befanden; die Flugabwehr war sehr dicht, weil in Leuna das synthetische Benzin hergestellt wurde und in den Buna-Werken synthetischer Gummi. Später wurden wir überraschend zur Flak­ gruppe Leipzig versetzt, wo wir den furchtbaren Angriff am 4. De­ zember 1943 erlebten. Eintausenddreihundertzweiundachtzig Tonnen Bomben wurden auf die Stadt geworfen, mehr als eintausendund­

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einhundert Menschen kamen ums Leben. Die Innenstadt wurde völlig verwüstet, unsere Flakstellung in Engelsdorf blieb unzerstört, aber in unmittelbarer Nähe schlugen zahlreiche Bomben ein. Wir hatten keine Verluste. Unser Einsatz begann nicht erst, wenn die Sirenen heulten, son­ dern vorher, in den Stufen Alarmbereitschaft und Feuerbereitschaft. Erst in der dritten Stufe erfolgte der Luftalarm für die Zivilbevölke­ rung, die man beim Anflug zunächst noch schlafen ließ. Alarmbereit­ schaft gab es oft, weil nicht genau abzusehen war, ob die sich nähern­ den Flugzeuge unser Gebiet angreifen oder ein anderes Ziel ansteuern würden. Im Grunde waren wir noch Kinder, als wir die Flak bedienten. Nach einem Jahr folgte die erste Beförderung; da bekam man eine Litze. Zehn Mann mußten vortreten - darunter ich -, dann wurde uns eröffnet, daß wir zum Oberluftwaffenhelfer befördert seien. Darauf­ hin machte ich eine schriftliche Eingabe: Wir seien nicht Helfer bei der Oberluftwaffe, sondern Oberhelfer bei der Luftwaffe. Es heiße ja auch Reichsbahnobersekretär und nicht Oberreichsbahnsekretär. Diese Eingabe reichte ich beim Hauptwachtmeister, dem »Spieß«, ein. Der erklärte mich für verrückt, nahm aber das Schreiben an und leitete es bis zum Luftgaukommando Dresden weiter. Später kam eine Anweisung, der Dienstgrad heiße tatsächlich Luftwaffenober­ helfer. Vom Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 erfuhren wir in der Flakstellung aus dem Radio. Mit meinem Freund Friedrich Kräger saß ich an jenem Abend auf meinem Bett, das Ohr an den kleinen Volksempfänger gepreßt, um aus den Nachrichten von Radio London Näheres zu erfahren. Wir hofften, der Umsturz würde Erfolg haben. Heute, fünfzig Jahre danach, ist es wohl schwer sich vorzustellen, daß junge Menschen einerseits ihren Dienst als »Luftwaffenhelfer« leiste­ ten, andererseits aber hofften, die nationalsozialistische Führung werde beseitigt. Doch in diesem Zwiespalt waren viele Soldaten der Wehrmacht. Für uns galt: Dieses Regime ist nicht unsere Regierung, Deutschland jedoch ist unser Vaterland. So empfanden nicht wenige, und im Kreis meiner Freunde in der Flakstellung war keiner, von dem ich gesagt hätte, er sei überzeugter Nationalsozialist. Mancher war uninteressiert oder auch indifferent. Aber viele waren - wie wir es da­ mals ausdrückten - »dagegen«. An den von der Propaganda immer wieder beschworenen »Endsieg« jedenfalls glaubte kaum jemand. Nach dem Attentat wurden wir zum gemeinschaftlichen Rund­ funkempfang zusammengerufen. Propagandaminister Goebbels hielt eine Ansprache und sagte: »Als ich hörte, daß ein Anschlag auf den

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I^uhrer begangen worden sei, hatte ich das Gefühl, der Boden wanke unter meinen Füßen.« Mitten hinein rief ein Berliner Obergefreiter: »Det gloob ick dir!« Im September 1944 wurden wir als Luftwaffenhelfer entlassen: Wir kamen nun ins Wehrertüchtigungslager. Danach ging es zum Arbeits­ dienst und schließlich zur Wehrmacht. Unser Lager lag in Helbra am Harz. Jeder mußte drei Wochen lang die sogenannte Wehrertüchtigung ableisten, eine Art vormilitäri­ scher Ausbildung, die im wesentlichen aus militärischer Unterwei­ sung, Geländespielen und politischem Unterricht bestand. Als »altge­ diente« Flakhelfer kamen wir uns hier wie im Kindergarten vor. Wir hatten unsere militärische Grundausbildung, so fanden wir, doch schon längst hinter uns gebracht! In Helbra - inzwischen war es Herbst 1944 - machten wir aus un­ serer politischen Haltung kaum noch ein Hehl. Auch unter den Kame­ raden von anderen Schulen trafen wir Gleichgesinnte; offen wurde über die Sinnlosigkeit des Krieges gesprochen. Zudem zeigte das At­ tentat vom 20. Juli 1944 seine Wirkung: Mit großem Respekt spra­ chen wir von Stauffenberg und den anderen. Man hatte das Gefühl, man müsse etwas tun - doch was? Eines späten Abends - die Ausbil­ der waren außerhalb des Lagers auf einem Bierabend - rissen wir mit einer großen Gruppe die HJ-Fahne vom Mast, was von Rufen wie »Nieder mit dem Gesinnungslappen!« begleitet wurde. Im Oktober und November 1944 wurde ich für sieben Wochen zum Reichsarbeitsdienst - RAD - nach Frauenstein im Erzgebirge beor­ dert. Auch wenig mehr als ein halbes Jahr vor der bedingungslosen deutschen Kapitulation gehörte die Ableistung des Arbeitsdienstes noch immer zum Ausbildungsprogramm. Mit der Flak hatten wir um­ zugehen gelernt, jetzt mußten wir mit dem Spaten exerzieren. Alles ging von vorne los: militärischer Drill mit Hinlegen, Robben, Stramm­ stehen, allerdings immer mit Spaten. Bei extremer Witterung wurden Sumpfgebiete entwässert und Drainagerohre gelegt - bei Minusgra­ den wirklich kein Zuckerschlecken! Mit zehn Mann bewohnten wir eine Barackenstube, die mit einem Kanonenofen beheizt wurde. Den ersten Trupp, dem ich - der Körpergröße wegen - angehörte, bildete eine sehr gemischte Gesellschaft. Ein Luxemburger war darunter. Da Luxemburg gewaltsam dem Deutschen Reich einverleibt worden war, mußten die männlichen Einwohner nun zwangsweise zur Wehr­ macht und auch zum Arbeitsdienst. Unser Luxemburger sagte eines Abends zu mir: »Ihr wißt gar nicht, wie mich das alles ankotzt. Ich bin Luxemburger.« Das konnte ich verstehen. Und daß er seine Ab­ neigung gegen den RAD mir gegenüber so deutlich zum Ausdruck

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brachte, war für mich ein Vertrauensbeweis, der mich ein wenig stolz machte. Gern hätte ich ihn nach dem Krieg gesucht, aber ich habe sei­ nen Namen vergessen. Ein anderer Junge, dessen Vater in Berlin Anwalt war, sagte mir eines Tages beim Abendessen, sein Vater habe sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Ziemlich forsch erwiderte ich: »Will er den Endsieg retten?« Er antwortete leise: »Was sollte er tun? Er sollte als Pflichtverteidiger vor dem Volksgerichtshof auftreten. Meine Mutter meinte, für eine solche Farce gibt sich ein Anwalt nicht her, die Ur­ teile stehen doch schon vorher fest.« Darauf sagte ich: »Dann habe ich großen Respekt vor deinen Eltern. Ich dachte, dein Vater sei ein Hundertfünfzigprozentiger.« Als wir am Abend zur Kantine gingen, um das Eßgeschirr zurück­ zubringen, sprach mich der Kamerad an, mit dem ich Stubendienst machte. Wegen seines Bürstenhaarschnitts wurde er »Stalin« ge­ nannt. Wir mochten uns, und so vertraute er mir an: »Hat mir gefal­ len, was du vorhin gesagt hast. Ich habe schon immer den Eindruck, du bist auch dagegen.« »Ja, und du?« »Ihr wißt gar nicht, was für eine Ehre es ist, daß ihr mich Stalin nennt. Ich bin Kommunist.« Da entfuhr es mir: »Das ist aber auch nicht besser.« »Du hast keine Ah­ nung, das ist typisch«, erwiderte er. »Mein Vater war in den zwanzi­ ger Jahren in der Sowjetunion zur Schulung. Die Sowjetunion bedeu­ tet die Zukunft. Hier ist bald alles zu Ende. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Dann laufe ich zu den Russen über.« Er hatte eine klare Vorstellung von der Zukunft, die er suchte, auch ich hoffte ja auf ein baldiges Kriegsende und auf einen neuen Anfang. »Wie soll es denn bei uns werden, wenn du von der Sowjetunion auch nichts hältst?«, fragte »Stalin«. Ich sagte: »So ähnlich wie in England und in Ame­ rika.« Diese beiden Staaten standen in meinem Denken für »Demo­ kratie«. Viele Jahre später las ich in der Zeitung den Namen eines Kandi­ daten für das Politbüro der SED: Dr. Werner Jarowinsky. Es war »Stalin«. Später rückte er zum Vollmitglied auf, und einmal habe ich ihm über den Ständigen Vertreter der DDR in Bonn Grüße bestellen lassen - ohne Reaktion. Aber eines Tages, es war 1988, fragte mich unser Ständiger Vertreter in Ost-Berlin, Hans-Otto Bräutigam: »Ken­ nen Sie Jarowinsky? Ich habe bei einem Essen neben ihm gesessen. Er trug mir Grüße an Sie auf. Er kenne Sie aus alten Zeiten.« Gegenü­ ber meinen Biographen Schwan und Filmer, die er erstaunlicherweise empfangen hat, schilderte er die Begebenheit fast genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Gern hätte ich ihn wieder getroffen, doch dazu kam es nicht mehr. Er starb im Frühjahr 1990, wenige Monate nach der Wende.

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Diese Begebenheit finde ich überaus erinnerungswürdig. Sie zeigt: Zwei junge Menschen, die einander in schwerer Zeit begegneten, sind sich, jeder von ihnen auf seine Weise, treu geblieben. In der Ableh­ nung des Dritten Reiches waren wir uns 1944 einig, von der Zukunft indes hatten wir völlig entgegengesetzte Vorstellungen. Jeder ging den Weg, den er sich vorgenommen hatte - Jarowinsky als Kommu­ nist in der DDR, ich als Liberaler, der sich für Deutschland eine Demokratie nach angelsächsischem Vorbild wünschte, in der Bundes­ republik Deutschland. Die Zeit im Erzgebirge ging schnell zu Ende. Am 2. Dezember 1944 kehrte ich nach Halle zurück, wo ich meinen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht fand. Die Luftwaffe wurde zum 15. Dezember einberu­ fen, das Heer erst am 6. Januar, und so hatte ich noch über einen Mo­ nat freie Zeit. Regelmäßig gab es Fliegeralarm. Eine Oberschule für Mädchen hatte für Tagesangriffe einen bestimmten Bunker zugewiesen bekom­ men. Meine Freunde und ich besuchten deshalb ein Cafe ganz in der Nähe, um bei Alarm ebenfalls dorthin zu eilen. Im Bunker wurden dann Verabredungen für den Nachmittag getroffen. Die letzte Kriegsweihnacht verbrachte ich allein mit meiner Mut­ ter; Silvester saßen wir mit Freunden zusammen. Würde das neue Jahr endlich das Ende des schrecklichen Krieges bringen? Was kam danach? Wie würden die Alliierten mit Deutschland umgehen? Diese Fragen beschäftigten uns immer wieder.

ln der Armee Wenck Wie alle Jungen meines Jahrgangs war ich schon 1943 bei der Flak für die Wehrmacht gemustert worden: Tauglich für schwere Artillerie und Pioniere, hieß es (damals wog ich achtundsiebzig Kilo bei einer Größe von einem Meter sechsundachtzig). Unter meinen Klassenka­ meraden in der Flakstellung war Günter Prenz, ein Freund, der 1945 in den letzten Tagen des Krieges gefallen ist. Ihm und seinen Eltern bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sein Vater war als Hauptmann der Reserve im Wehrbezirkskommando Halle beschäftigt. Eines Ta­ ges kam Günter Prenz vom Wochenendurlaub zurück. Er hatte For­ mulare bei sich, auf denen man sich als Reserveoffiziersbewerber melden konnte: Wer von der Wehrmacht angenommen sei, könne nicht mehr von der Waffen-SS erfaßt werden, sagte Günter. Mit ande­ ren meldete ich mich daraufhin zur Wehrmacht und erhielt auch schnell einen Annahmeschein. Das half mir, als bald danach eine

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hochrangige Werberkommission der Waffen-SS mit massivem Druck die körperlich Größeren unter uns, daß heißt die über einen Meter achtzig Großen, als »Führerbewerber« - so nannte sich der Offiziers­ nachwuchs der Waffen-SS - verpflichten wollte. Als ich meinen Schein mit dem »angenommen als Reserveoffiziersbewerber Heer« vorwies und die Werbung der Waffen-SS ablehnte, hörte ich nur das Wort: »Raus!« Mit einer Kehrtwendung verließ ich erleichtert den Raum. Am 6. Januar 1945 rückte ich im Alter von siebzehn Jahren zu den Pionieren nach Wittenberg ein. Dort erhielt ich zunächst eine militäri­ sche Grundausbildung, dann auch die harte Ausbildung als Pionier. All das fiel in die ungünstige Jahreszeit von Januar bis März. Es war bitter kalt und feucht. Wir mußten Stahlpontons schleppen, Behelfs­ brücken bauen. Der Pionier Hans-Dietrich Genscher blieb bis Ende März in Wittenberg. Meine Mutter besuchte mich an jedem zweiten Sonntag. Als sie sich Ende März von mir verabschiedete, sagte ich: »Das war wohl dein letzter Besuch. Die Front rückt näher. Wir kommen bald zum Einsatz, und es ist möglich, daß du lange nichts von mir hörst. Du darfst dann nicht denken, ich sei gefallen. So schnell es geht, werde ich mich melden.« So versuchte ich, meine Mutter auf das Kom­ mende vorzubereiten. In die Zeit in Wittenberg fielen die Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945. Wir hatten einige Dresdner auf der Stube. Nach der Bombardierung bekamen sie zwei Tage Sonderurlaub, von denen sie als veränderte Menschen zurückkehrten. Was sie von ihren Angehöri­ gen, von der Zerstörung Dresdens und über die Zahl der Toten berich­ teten, lastete schwer auf ihnen und auch auf uns. Während Jener Ausbildungsmonate nahe der Elbe zogen über die Elbbrücke endlose Trecks von schlesischen Flüchtlingen - Pferdewa­ gen mit älteren Männern, Frauen und Kindern. Sie zogen in eine un­ gewisse Zukunft, meist ohne Ziel, nur immer nach Westen. Das Elend des Krieges hatte die Deutschen nach dem Bombenkrieg nun auch mit dem Verlust der Heimat, mit Flucht und Vertreibung betroffen. Beklommen, schweigend und sehr traurig sahen wir die Wagen an uns vorbeiziehen. Damals konnte ich nicht ahnen, daß etwa zur glei­ chen Zeit meine spätere Frau mit ihrer Mutter und ihrem fünfzehnjäh­ rigen Bruder - der Vater war als verwunderter Oberleutnant dabei mit dem Pferdewagen auf der Flucht aus Nikolstadt bei Liegnitz in Niederschlesien nach Sachsen war. Von dort kam sie nach der Rück­ kehr des Vaters und dem Tod der Mutter, die kurz nach Kriegsende starb, 1948 nach Siegburg bei Bonn.

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Der Siebzehnjährige als Pionier 1944 in Wittenberg.

Von Wittenberg wurden wir nach Dessau/Roßlau transportiert. Dort bereitete sich die Armee Wenck, die 12. Armee, zum Marsch auf Berlin vor. Sie bestand aus den Divisionen Scharnhorst, Gneisenau und Ulrich von Hutten. Wir bekamen »Frontverpflegung«, darunter Blechbüchsen mit Schoka-Cola und Zigaretten. Die Zigaretten tauschte ich, weil ich schon damals Nichtraucher war, gegen Wurst oder Schoka-Cola ein. Meine Einheit marschierte zunächst an der Elbe entlang, um auf­ zuklären, ob die von Westen kommenden Amerikaner schon die Elbe erreicht hatten. In einem Dorf gerieten wir unter Beschuß. Neben mir ging ein älterer Soldat, der leichtsinnigerweise seinen Stahlhelm nicht aufgesetzt hatte. Er erhielt einen Kopfschuß. Er war der erste Soldat, der an meiner Seite fiel. Wir zogen uns über die Elbe zurück; der eigentliche »Marsch auf Berlin« begann. Seit dem Beginn der sowjetischen Oder-Offensive am 16. April hatte sich die Lage an der Ost-Front dramatisch ver­ schlechtert. Bereits am 22. April erreichten sowjetische Spitzen süd­ lich von Berlin die Linie Treuenbrietzen-Zossen. Gleichzeitig wurde im Norden Berlins, in Frohnau, schon gekämpft, die Einschließung der Stadt war fast vollzogen. Da Hitler entschieden hatte, nicht nach Süden auszuweichen, sondern in der Reichshauptstadt zu bleiben, ak­ zeptierte er den Vorschlag von Generaloberst Jodl, die gegen die Amerikaner gerichtete Front umzudrehen und die dadurch gewonne­

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nen Truppen, darunter die 12. Armee, zum Entsatz der Reichshaupt­ stadt einzusetzen. Die 9. Armee unter General Busse, im Raum Frankfurt/Oder ste­ hend, war zu jener Zeit von der vorrückenden Roten Armee bereits eingeschlossen. Der General versuchte daraufhin, sich mit den Resten seiner Truppen zur 12. Armee südlich von Berlin durchzuschlagen; bei ihm waren viele Verwundete, die General Busse in der Mitte sei­ ner Soldaten mit sich führte, um sie zu schützen und zu retten. Alle Befehle aus dem Führerhauptquartier gingen damals völlig an der Wirklichkeit vorbei, so auch die Order Hitlers, Berlin zu befreien, die Generalfeldmarschall Keitel dem General Wenck in dem bei Beelitz gelegenen Forsthaus »Alte Hölle« überbrachte. Offensichtlich be­ schloß Wenck, den Führerbefehl zum Entsatz von Berlin, von dessen Undurchführbarkeit er überzeugt war, nicht zu befolgen. Einen für den 26. April geplanten Angriff hingegen, der der Rückgewinnung des Städtchens Beelitz und der dort gelegenen Heilstätten galt, hielt er gegenüber den ihm anvertrauten jungen Soldaten auch unmittelbar vor dem Ende des Krieges für verantwortbar, weil es galt, die Ver­ wundeten aus den Lazaretten im Operationsbereich der Armee und die Reste der 9. Armee vor sowjetischer Gefangenschaft zu bewah­ ren. Das größte Lazarett in jener Gegend war der Komplex BeelitzHeilstätten, der fünfundvierzig Jahre später als Zufluchtsort von Erich Honecker bekannt werden sollte. Wenck bezeichnete diese letzte mi­ litärische Aktion der 12. Armee als Rettungswerk. In diesen dramatischen Tagen erhielt ich eine Lehrstunde über jene Führungseigenschaften, die man heute als Fähigkeit zur inneren Führung bezeichnen würde: Unser Bataillon, das sich ungefähr acht Kilometer südlich von Beelitz befand, mußte sich im Kreis aufstellen, General Wenck war selbst gekommen. Er sagte: »Kameraden, ich verspreche, euch über die Elbe in amerikanische Gefangenschaft zu führen. Ihr kommt nicht in sowjetische Gefangenschaft, aber ihr müßt noch drei Tage hier aushalten. Aus dem Raum Frankfurt an der Oder versuchen sich unsere Kameraden von der 9. Armee zu uns durchzu­ schlagen. Sie haben viele Verwundete dabei, dazu Krankenschwe­ stern, Nachrichtenhelferinnen, wir müssen sie mitnehmen. Das sind wir ihnen schuldig.« Es war unsere Einheit, auf die die Spitze der 9. Armee als erste traf. Ein Stoßtrupp von etwa dreißig Offizieren, Maschinenpistolen in der Hand, ging voran. Alle zu Fuß, ohne Fahrzeuge. Die Verwundeten wurden von russischen Gefangenen getragen, Krankenschwestern schritten neben ihnen her. Tausende in endloser Karawane. Nur nachts hatten sie marschieren können, weil die sowjetischen Flug­ zeuge am Tag einen gnadenlosen Luftkrieg führten. So versteckten

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sie sich, solange es hell war, in den Wäldern. Nach ihrem Eintreffen und einer eintägigen Rast setzten wir uns zusammen nach Westen in Marsch. Dann erfolgte noch etwas, was für Wencks Denken und Haltung charakteristisch war: Sein Tagesbefehl aus Anlaß des Todes von Hit­ ler am 30. April. Zum Verständnis ist daran zu erinnern, daß nach dem 20. Juli 1944 anstelle des militärischen Grußes der Hitler-Gruß auch für die Wehrmacht befohlen worden war. Diese Vorschrift, bisher nur für die Waffen-SS gültig, sollte die Wehrmacht demütigen. Wencks Tagesbefehl lautete nun etwa so: »Soldaten der 12. Armee! Der Füh­ rer ist tot. Von heute an wird die Ehrenbezeichnung wieder durch An­ legen der rechten Hand an die Kopfbedeckung erwiesen. Wenck, Ge­ neral der Panzertruppen.« Wie auffallend unterschieden sich Tonart und Inhalt dieser Worte von dem schwülstigen Tagesbefehl des Großadmirals Dönitz, den Hitler zu seinem Nachfolger als Staats­ oberhaupt bestimmt hatte! Viele Jahre später meinte ich zu Wenck bei einem Essen, das Thomas Dehler gab: »Sie haben mit zwei Sätzen mehr gesagt als zahllose Leitartikler in ihrem ganzen Leben.« Im Stab des Generals befand sich übrigens ein Offizier, der 1963 bis 1967 Fraktionsvorsitzender der Freien Demokraten im Bundestag war: Knut Freiherr von Kühlmann-Stumm. Die Soldaten unseres Bataillons hatten in diesen Tagen nur noch ein Ziel: den Krieg zu überleben. Außerdem bewegte uns die Frage nach dem Schicksal unserer Angehörigen. Von unseren Vorgesetzten gab es keine Durchhalteparolen; sie hätten auch kein Gehör gefunden: Wir hatten Angst vor sowjetischer Gefangenschaft. Schlimmes hatten wir schon von den Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs gehört. Später erfuhren wir, wie begründet diese Angst gewesen war. Instink­ tiv sagten wir uns: Wenn Kriegsgefangenschaft schon unausweich­ lich ist, dann auf keinen Fall die sowjetische. Wenck hatte vorgesorgt. Auf Tangermünde in der Altmark zumar­ schierend, erreichten wir das Ostufer der Elbe um den 5. Mai, zwei Tage vor Kriegsende. Als ich eine Nacht in einer Scheune in Bis­ marcks Geburtsort Schönhausen verbrachte, war mir die traurige Symbolik dieser Orte noch nicht bewußt. Fast fünfzig Jahre sollte es dauern, bis wir Deutsche wieder in einem Staat würden leben können. Über die Trümmer der Elbbrücken hatte man einen Laufsteg ge­ schlagen, den die Amerikaner jeden Tag von 8 bis 18 Uhr öffneten. In dieser Zeit konnten die Reste der 9. und der 12. Armee, mehrere Zehn­ tausend Mann, die Elbe überqueren, was insgesamt drei Tage dauerte. Zu den Bedingungen der Amerikaner gehörte freilich, daß nur Solda­ ten, nicht jedoch Zivilisten hinüber durften. Nun waren aber am

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Zehntausende deutscher Soldaten der Armee Wenck und der 9. Armee überque­ ren zwischen dem 5. und 7. Mai 1945 bei Tangermünde die Elbe auf einem Holzsteg, unter ihnen der Autor.

Nachmittag des 7. Mai 1945, als ich die Elbe erreichte, unter den etwa zehntausend Soldaten, die dort noch warteten, auch Frauen. Ich sah, wie Landser ihnen Stahlhelme überstülpten und Soldatenmäntel an­ zogen, um die amerikanischen Posten am anderen Elbufer zu täu­ schen, und diese ließen sich wohl auch gern täuschen. Ich selber über­ querte die Behelfsbrücke am späten Nachmittag des 7. Mai, kurz be­ vor die Rote Armee, die von Norden, Osten und Süden auf den immer kleiner werdenden deutschen Brückenkopf drückte, die Elbe auch an dieser Stelle erreichte. Als ich den Fluß überschritt, sah ich die Ameri­ kaner auf der anderen Seite; die sowjetischen Soldaten hingegen be­ fanden sich in eintausend bis zweitausend Metern Entfernung östlich von uns. So gehörte ich zu den wenigen deutschen Soldaten, die in

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dieser Stunde die Chance zu einer eigenen Entscheidung hatten. Amerikaner oder Sowjets - die Wahl fiel nicht schwer. Und sie war mehr als ein Entschluß angesichts der aktuellen Lage. Als ich schließlich das Westufer der Elbe erreichte, fühlte ich mich wie in einer anderen Welt. Dort standen etwa dreißig Sanitätsfahr­ zeuge; Sanitäter, Krankenschwestern, Ärzte, deutsche und amerikani­ sche, nahmen die Verwundeten und Kranken in Empfang. Die Gesun­ den zogen in Zwölferreihen durch Tangermünde. Im Gehen schrieb ich einige Zeilen an meine Mutter, sie sollte wissen, daß ich überlebt hatte. Bewohner am Straßenrand bat ich, den Brief weiterzuleiten. Plötzlich ertönte der Ruf: »Tritt aufnehmen! Augen rechts!« Auf einem schmalen Platz standen in einem offenen Pkw General Wenck und ein amerikanischer General, um die Ehrenbezeugung der vorbei­ ziehenden Offiziere entgegenzunehmen. Schon nach tausend Metern gab es die ersten Gerüchte: In einer nahegelegenen Kaserne, so hieß es, würden wir in amerikanische Uniformen gesteckt. Dann gehe es los - gemeinsam gegen die Rote Armee. Wie sonst sei es möglich, daß der amerikanische General und General Wenck gemeinsam den Vorbeimarsch, der mehr ein Vorbeilaufen war, abnähmen? Es war die Art von Gerüchten, die im Landserjargon »Latrinenparolen« genannt wurden. Das Schicksal war gnädig mit mir gewesen. Nur kurze Zeit war ich unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt, was ich als Gnade im weitesten Sinne des Wortes empfunden habe - keineswegs als Selbst­ verständlichkeit. Ich war froh, daß alles vorbei war, daß ich es heil überstanden hatte. Was war mit meiner Mutter geschehen? Wie würde es weitergehen? Erst nach und nach konnte ich an die Gedan­ ken anknüpfen, die wir in den letzten Jahren im Freundeskreis be­ sprochen hatten. Was würde nach Hitler kommen? Würde es so sein, wie Jarowinsky es mir in Frauenstein geschildert hatte, oder so, wie ich es mir wünschte, wie ich es ihm damals gesagt hatte? Oder ganz anders? Alles war möglich. Fühlten wir uns befreit, damals? Von einer Last, ja; von Hitler und seinem System, ja; vom Kriege, von Angst und Schrecken, ja. Aber würde diese Befreiung auch Freiheit bedeuten? Was würde mit Deutschland geschehen? Und wer hätte uns das sagen sollen? Die Schrecke^n des Krieges haben mich für den Rest meines Le­ bens geprägt. Für mich gab es keine Landserromantik. Furcht und Angst hatte ich oft empfunden; jetzt, nach dem Ende des Krieges, dachte ich: »Irgendwie geht’s weiter. Ich habe das überlebt.« Als ich mit Tausenden meiner Kriegskameraden in amerikanische Gefangen­ schaft zog, dachten wir an das Leben und an die Zukunft. Ich mar­ schierte zusammen mit einem Stubenkameraden aus der Rekruten­

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zeit. »Worüber denkst du nach?« fragte er mich. »Ich habe eben zwei wichtige Entscheidungen getroffen. Erstens: so schnell wie möglich abhauen und nach Hause, zweitens: von nun an will ich nur tun, was ich gerne tue, was mir Spaß macht.« Rückblickend kann ich sagen, das mir dies im großen und ganzen gelungen ist. Wir, die Überlebenden der Armee Wenck, marschierten in Rich­ tung Stendal. In der ersten Nacht rasteten wir auf einem Feldflug­ platz. Meine Mutter hatte mir bei einem ihrer letzten Besuche einen Ring meines Vaters mitgebracht. »Junge, nimm den mit.« Er sollte so etwas wie ein Talisman sein. Vielleicht hatte er seine Aufgabe nun er­ füllt. Ich trug ihn im Brustbeutel, doch wegen der »Schmuck- und Uhrensammler« unter den amerikanischen Soldaten, die uns filzten, steckte ich den Ring in den Mund und schlief ein. Am nächsten Mor­ gen war der Ring verschwunden; ich habe ihn nie wiedergesehen. Unser Quartier in Stendal war die Hindenburg-Kaserne, von den Amerikanern »Hindenburg Camp« genannt. Auf einer Stube, die nor­ malerweise rund zehn Mann Platz bot, waren nach dem Ausräumen allen Mobiliars etwa dreißig Mann zusammengedrängt. Ein bunt zu­ sammengewürfelter Haufen. Wir schliefen auf dem Fußboden. Schon in der ersten Nacht erschien amerikanische Militärpolizei. Wir muß­ ten den Oberkörper freimachen, die Arme hochheben, und sie schau­ ten unter die Achseln. Wir wußten nicht, warum. Als sie den Raum verlassen hatten, klärte uns ein Sanitätsunteroffizier auf: »Wißt ihr das denn nicht? Die SS hat die Blutgruppe unter dem Arm. Ich weiß das aus dem Lazarett.« Man suchte Waffen-SS-Angehörige; auf unse­ rer Stube fand sich niemand. Wir bekamen amerikanische Militärverpflegung, in Wachskartons abgepackt. Sie erschien uns fürstlich: Büchsenwurst, Butter, Schoko­ lade, Tabletten, zum Entkeimen von schmutzigem Wasser, dazu Toi­ lettenpapier, sogar Präservative! Nach acht Tagen zogen die Ameri­ kaner ab, sie übergaben das Gebiet und die Gefangenen den Englän­ dern. Statt »fürstlicher« Verpflegung gab es nun dünne Suppe mit wenig Brot. Die Behandlung jedoch war korrekt, und es gab keine Übergriffe. Da die Engländer ihre eigenen Truppen kaum ausreichend versorgen konnten, brachten sie uns, das heißt rund hunderttausend deutsche Soldaten, in die fruchtbare Altmark. Dort wurden wir auf einzelne Ortschaften verteilt. Die kolonialerfahrenen Briten ernann­ ten deutsche Offiziere zu Ortskommandanten, die für die Einhaltung der Sperrstunde, für Ruhe, Ordnung und Sicherheit verantwortlich waren. Wir sollten auf den Bauernhöfen helfen und die Ernte einbringen. Die Bauern waren, sofern sie überlebt hatten, in den wenigsten Fällen schon aus dem Krieg zurückgekommen, und die ausländischen Zwangsarbeiter bereits in ihre Heimatländer zurückgekehrt.

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So landete ich, der Bauernenkel Hans-Dietrich Genscher, auf einem altmärkischen Hof in Flechtingen. Die etwa fünfundzwanzig­ jährige Bäuerin mit ihren zwei kleinen Kindern wartete auf ihren Hhemann, der noch kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Sie hatte eine mehrere Jahre jüngere Schwester, die auf der gegenüberlie­ genden Straßenseite bei den Eltern wohnte. Der Vater war - wenn ich mich recht erinnere - beim Landratsamt beschäftigt, was sich sehr bald als äußerst nützlich erweisen sollte. Mit der Schwester freundete ich mich an. Nach etwa fünf Wochen, in denen ich auf dem Bauernhof arbeitete, wurde dieses Idyll abrupt beendet. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1945 klopfte es kurz vor Mitternacht heftig an die Tür: »Alle Wehrmachtsangehörigen mit vollem Marschgepäck am Dorfplatz antreten!« Fast hatte ich solche Kommandos schon vergessen. Nach einer Stunde marschierten wir in das nächstgelegene größere Dorf, wo auf einem großen Platz etwa tausend deutsche Soldaten standen, bewacht von Engländern mit Maschinenpistolen. Auch dergleichen war schon fast vergessen. Als wir im großen Halbkreis zusammen­ standen, hielt ein deutscher Oberst in Gegenwart eines britischen Colonel eine kurze Ansprache: »Kameraden, die Alliierten haben be­ schlossen, daß Sachsen, Thüringen und die frühere Provinz Sachsen an die Rote Armee übergeben werden. Die Rote Armee wird morgen Mittag um 12 Uhr hier erscheinen. Wir werden jetzt auf Lkw verladen und nach Westdeutschland transportiert. Es besteht aber eine Abspra­ che unter den Alliierten, wonach deutsche Soldaten nicht gegen ihren Willen aus diesem Gebiet verbracht werden dürfen. Soldaten, die hierbleiben wollen, müssen sich in sowjetische Gefangenschaft bege­ ben. Die warten dort in der Schule, bis gegen Mittag die Rote Armee eintrifft.« Dann fragte er noch: »Wer will hierbleiben?« Da traten zwei Mann vor. Einer davon war ich. Der andere fragte mich: »Bist du auch Kommunist?« Darauf ich: »Nein, ich entlasse mich selbst. Ich fahre nach Hause zu meiner Mutter.«

Heimkehr nach Halle Während der Abtransport begann, nahm ich mein Bündel und wanderte in »mein Dorf« zurück. Früh am Morgen kam ich dort an. Ich weckte »meine« Bäuerin: »Um 12 Uhr kommen die Russen. Ich will meine Mutter nicht allein lassen; so bald wie möglich fahre ich nach Halle.« Alle warteten jetzt voller Angst und Sorge auf die Rote Armee. Wir wußten nicht, daß die Grenzen der Besatzungszonen schon sehr viel früher festgelegt worden waren. Am 5. Juni 1945 hatten die

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vier Mächte diese Vereinbarung bekräftigt, und so mußten die Westal­ liierten die den Sowjets zugesprochene Altmark räumen. Die Schwe­ ster der Bäuerin sagte: »Wir haben noch die Tiroler Jacke vom Vater; wir schneiden die Knöpfe ab und machen dir aus deiner Uniform­ jacke eine Ziviljacke, und die Militärhose kürzen wir.« Dann aber gab es noch ein Problem: »Ich habe ja gar keinen Entlassungsschein.« Der Vater beruhigte mich. Am Abend brachte er mir vom Landratsamt einen neuen Personalausweis mit. Beruf: »Schüler«. Mein Soldbuch steckte ich in die Tasche, den Ausweis dagegen hatte ich zur Hand. Den ganzen Tag über geschah nichts. Am späten Nachmittag, ich brachte gerade die Kühe zum Teich, fuhr ein Lastwagen mit sowjeti­ schen Soldaten durch Flechtingen. Die Rotarmisten beachteten mich nicht. Offensichtlich fuhren sie zu einem anderen Ort. Am folgenden Samstag brachten mich Freunde aus dem Dorf mit dem Pferdewagen zur nächsten Bahnstation. Dort löste ich eine Fahr­ karte nach Halle. Die Züge fuhren planmäßig. In Magdeburg mußte ich umsteigen. Vom Bahnsteig aus sah ich deutsche Kriegsgefangene, die unter scharfer sowjetischer Bewachung auf dem Gleiskörper mar­ schierten. Das war mir erspart geblieben! Würde es so bleiben? Die Bahnsteige und Züge waren, wie ich während der Fahrt beob­ achten konnte, überfüllt mit Flüchtlingen aus Schlesien und aus dem Sudetenland. Am 7. Juli 1945 traf ich gegen Mittag in Halle ein. Meine Mutter schaute gerade aus dem Fenster, als ich mit meinem Persil-Karton unter dem Arm, in kurzen Hosen und mit umgearbeite­ ter Jacke auf das Haus zukam. Ich winkte. Das Wiedersehen war un­ beschreiblich. Als erstes rief Mutter meine Großeltern in Reideburg an: »Der Junge ist da!« Das Telefon ging also wieder. Auch die Stra­ ßenbahn hatte den Betrieb wieder aufgenommen. Äußerlich lief alles normal, und auch die Zerstörungen waren in Halle nur gering; ledig­ lich die Wohnviertel entlang der Bahnlinie hatte es hart getroffen. Der Einmarsch der Roten Armee im Rahmen des Gebietsaustausches war überwiegend geordnet verlaufen. Meiner Mutter mußte ich nun genau erzählen, was ich seit unserer letzten Begegnung Ende März in Wit­ tenberg erlebt hatte. Die Aufteilung in Besatzungszonen betrachteten wir damals als eine vorübergehende Angelegenheit. Erst recht hätten wir es für un­ möglich gehalten, daß Deutschland in zwei Teilstaaten zerfallen würde - unter gänzlichem Verlust der Ostprovinzen. Zugleich wurden nun erstmals in wachsendem Maße Fragen nach der Vergangenheit gestellt. Daß es Konzentrationslager gab, in denen Menschen gefan­ gengehalten und gequält wurden, haben wir alle gewußt, und wer es angeblich nicht gewußt hat, sagt die Unwahrheit. Er wollte es nicht wissen. Hieß es nicht immer wieder, wenn jemand über die Lage

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schimpfte oder am »Endsieg« zweifelte: »Vorsicht, wenn das einer hört, bringen sie dich noch ins KZ«? Das ganze Ausmaß der Juden­ vernichtung indessen - die Existenz von Vernichtungslagern wie Auschwitz und Majdanek - erfuhr ich, wie wohl die meisten Deut­ schen, erst nach dem Krieg. Aber Jeder wußte, daß eine unglaubliche Hetzkampagne gegen die Juden entfacht worden war. Hatte nicht jeder die NS-Parole gehört: »Die Juden sind unser Unglück«? Kannte nicht jeder die vom »Stürmer« verbreitete menschenverachtende For­ derung: »Juda, verrecke«? Hatte nicht jeder gesehen, daß Juden den Judenstern tragen mußten? War nicht die verharmlosend »Reichskri­ stallnacht« genannte Pogromnacht mit Gewalttaten gegen Juden und jüdisches Eigentum jedem bekannt? Wer will behaupten, er habe nicht bemerkt, daß die Menschen mit dem Judenstern nach und nach aus dem Straßenbild verschwanden, daß unter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, sie würden nach Osten transportiert! Die einen flü­ sterten es schadenfroh, die anderen bedauernd. Die wenigen »Ge­ rechten«, die halfen, konnten sich nicht zu erkennen geben. Wir fühlten, das alles würde tiefe Spuren hinterlassen. Die Welt würde uns zur Rechenschaft ziehen für das, was von Deutschen und in deutschem Namen angerichtet worden war. Auch dafür, daß Deutschland ganz Europa, ja auch Länder außerhalb unseres Konti­ nents mit Krieg überzogen hatte. Wie aber würde die Abrechnung aussehen? Für mich war es keine Selbstverständlichkeit, daß sich die Tore un­ serer Hochschulen schon bald wieder öffneten. Noch am Tage meiner Rückkehr klingelte es an unserer Wohnungstür. Draußen stand ein Pfarrer, der Vater eines Kriegskameraden. Seine Frau hatte geträumt, der Sohn sei gefallen. »Wissen Sie etwas über meinen Sohn?« Ich konnte ihn beruhigen: »Ihr Sohn lebt. Ich habe ihn noch im Mai im Gefangenenlager gesehen.« Der Pfarrer bat mich, diese freudige Nachricht seiner Frau persönlich zu überbringen; ich zögerte, gab schließlich nach - zu meinem Glück. Es war, als ob der liebe Gott die Hand im Spiel gehabt hätte: Während meine Mutter und ich zu dem Pfarrhaus und nicht - wie wir es eigentlich vorgehabt hatten - nach Klepzig, dem Geburtsort meines Vaters, radelten, waren russische Soldaten in Klepzig eingerückt und hatten alle Männer zwischen sechzehn und sechzig mitgenommen. Dazu gehörten auch der Bruder meines Vaters, Artur, der den Hof übernommen hatte, und Onkel Max aus Torgau. Er war zu Besuch gekommen, um nach der Familie zu sehen. Die Vorgeschichte dieser Verhaftungsaktion wurde mir so geschil­ dert: Unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee Anfang Juli waren nachts zwei russische Soldaten mit einem Motorrad nach Klep­

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zig gekommen und hatten Frauen gesucht. Der noch von den Ameri­ kanern eingesetzte Bürgermeister, gleichfalls ein Bauer, hatte darauf­ hin einige Männer, darunter meinen Onkel, zusammengeholt. Ge­ meinsam wurde vereinbart, daß die Frauen beim nächsten Besuch dieser Art auf Kochtöpfe schlagen und um Hilfe rufen sollten. Tat­ sächlich kamen die beiden wieder. Sie wurden vertrieben, und man hat sie wohl auch verprügelt. Daher erschien nun die russische Ein­ heit zu einer Strafaktion und nahm fast alle Männer mit. Wenn ich an jenem Tag, wie vorgesehen, nach Klepzig gefahren wäre, wäre ich da­ bei gewesen. Onkel Max wurde kurze Zeit im Zuchthaus in Halle festgehalten und dann entlassen. Was er dort erlebt hat, muß sehr schlimm gewe­ sen sein; er sprach nie darüber. Noch Jahre später, als ich ihn unmit­ telbar vor seinem Tod 1986 im Bonner Malteser-Krankenhaus be­ suchte, verfolgten ihn Schrecknisse. Er hatte wohl Wahnvorstellun­ gen: »Du bist doch Minister. Daß du das zuläßt! Jetzt sind sie alle wieder da, die mich im Zuchthaus gequält haben. Sie kommen nachts. Auch wenn sie weiße Kittel haben, es sind die von damals.« Im Ange­ sicht des Todes muß er unter dieser schrecklichen Erinnerung ein letz­ tes Mal gelitten haben. Die Verhafteten wurden nach und nach entlassen. Sieben Männer aber, darunter der Bürgermeister und mein Onkel Artur, der Hoferbe, erlitten, wie hinter vorgehaltener Hand berichtet wurde, ein furchtba­ res Schicksal: Die Rote Armee brachte sie wenige Wochen später ins Dorf zurück. Im Schulgebäude wurde offensichtlich eine Art Kriegs­ gericht abgehalten; anschließend wurden alle Bewohner, auch Frauen und Kinder, am Dorfteich zusammengetrieben. In russischer Sprache verlas man die »Urteile«; dann wurden drei der sieben Inhaftierten vor den Augen der Dorfbewohner erschossen. Die Leichen warf man auf einen Lkw und fuhr mit ihnen und den vier Überlebenden, darun­ ter mein Onkel, davon. Wir haben von keinem von ihnen je wieder et­ was gehört. Keiner kehrte zurück.

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K A P IT E L 2

Jahre der Orientierung

In der SBZ und der DDR Nachdem ich in meine Heimatstadt zurückgekehrt war, beschäftigte mich wie die anderen jungen Leute in Halle vor allem eine Frage: Wie würde die politische Gegenwart und Zukunft aussehen? Genau erinnere ich mich an den Schock, den ich empfand, als mein Großva­ ter in Reideburg sagte: »Junge, täusche dich nicht, die teilen Deutsch­ land fünfzig Jahre auf.« Er hat recht behalten. Ich dagegen hoffte auf die Amerikaner; sie würden ihre Vorstellungen von Demokratie in ganz Deutschland und Europa durchsetzen. Deshalb war es für mich zunehmend unbegreiflich, warum die westlichen Demokratien zu­ ließen, was in der Tschechoslowakei und in Polen geschah. Polens wegen hatte der Krieg mit Hitler begonnen, und Großbritannien und Frankreich hatten nach dem deutschen Überfall auf Polen im Septem­ ber 1939 die Politik der Beschwichtigung, die bei der Besetzung der Tschechoslowakei Hitler nur ermutigt hatte, endlich beendet. Das politische Leben in der Sowjetisch Besetzten Zone begann im Sommer 1945 mit den Gründungsaufrufen der vier Parteien KPD, SPD, CDU und LDPD. Ich wollte mich politisch engagieren, denn wie die meisten Deutschen war ich der Ansicht: Was gewesen war, dürfe sich nicht wiederholen. Wie konnte ich am besten dazu beitragen? Die KPD kam für mich nicht in Betracht. Bei der SPD störte mich der Sozialismus. Die Ideen der CDU fand ich ansprechend. Meine Eltern waren evangelische Christen, so hatten sie mich erzogen. Superinten­ dent Brünecke in Reideburg hatte zur Bekennenden Kirche gehört, er war im Dritten Reich mehrmals verhaftet worden. Politik aus christli­ cher Verantwortung - das beeindruckte mich. Aber mir mißfiel im Aufruf der CDU die Forderung nach einem »Christlichen Sozialis­ mus« - paßte das wirklich zusammen? Ein Nachbar, mit dem ich dar­ über sprach, verwies mich auf die Bergpredigt; ich hatte dennoch meine Zweifel. Was in der Sowjetisch Besetzten Zone als Sozialis­ mus dargestellt wurde, hatte mit der Bergpredigt doch wenig zu tun. Und konnte die Bergpredigt wirklich Handlungsmaxime für tägliche Politik sein? Die Zweifel, die der Achtzehnjährige hatte, sind dem Äl­ teren später immer aufs neue bestätigt worden.

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Eines Tages besuchte ich eine Versammlung der LDPD, in der der Chefredakteur der Hallenser »Liberaldemokratischen Zeitung« auf­ trat, Harold W. Esche. Dieser mitreißende Redner gewann mich mit folgendem Satz: »Der Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu allen Formen der Unfreiheit.« Das überzeugte mich. Und tatsäch­ lich war die LDPD in Halle diejenige Partei, die die deutlichste Spra­ che gegenüber dem Machtanspruch der Kommunisten führte. Am 30. Januar 1946 trat ich der Liberaldemokratischen Partei Deutsch­ lands bei. Im Vergleich zum Parteienspektrum der westlichen Besat­ zungszonen war die LDPD eher fortschrittlich. Später hätte man ge­ sagt: Sie war nicht nationalliberal, sondern sozialliberal. Schon im Sommer 1945 konnte man sich an der Martin-LutherUniversität als Studienbewerber einschreiben. Ich tat es am 11. Juli 1945. Alles kam mir ganz unwirklich vor. Da hatte ich nun mein Stu­ dienbuch in der Hand, ausgestellt auf den 11. Juli 1945. Erst zwei Mo­ nate war es her, daß ich in einem endlosen Gefangenenzug in ameri­ kanische Kriegsgefangenschaft gegangen war. Nun war ich Student so dachte ich jedenfalls. Später mußte dann die Zulassung noch ein­ mal erfolgen; so wurde der 11. Juli 1945 als Tag der Immatrikulation durch den Mai 1946 ersetzt. Die Universität nahm im Juli 1945 den Vorlesungsbetrieb noch nicht auf. Damals wurden die Studienbewerber aufgerufen, sich bei der Trümmerbeseitigung und bei ersten Wiederherstellungsarbeiten an zerstörten Universitätsgebäuden zu betätigen. Ich meldete mich. Bis Ende November 1945 war ich Bauhilfsarbeiter. Vom 1. Dezember 1945 an saß ich wieder auf der Schulbank der Friedrich-Nietzsche-Schule, die wenig später in Friedrich-EngelsSchule umbenannt wurde. Neben einigen Klassenkameraden der Jahrgänge 1925 und 1926 waren es im wesentlichen dieselben Schü­ ler, aber auch dieselben Lehrer wie in der Flakhelferzeit. Dann kamen zwei weitere ehemalige Schulkameraden zu uns - der eine aus unse­ rer Klasse, der andere aus der Klasse darüber. Ihre Väter waren Juden, beide Offiziere aus dem Ersten Weltkrieg und wegen Tapferkeit vor dem Feind mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Der eine hatte sich 1938 nach seiner Entlassung aus vorübergehender Gestapohaft er­ schossen ; er hatte geahnt, was kommen würde. Der andere war vor Kriegsbeginn in die USA ausgewandert. Die Söhne, nach den Nürn­ berger Gesetzen sogenannte Halbjuden, waren kurz nach unserem Einzug zur Flak in Zwangsarbeitslager gebracht worden, wo sie Schreckliches erlebt hatten. Jetzt saßen wir wieder zusammen auf der Schulbank. Was mögen sie empfunden haben? Hatten wir ein Recht, sie zu fragen? Mit dem Älteren von ihnen, den ich früher nur flüchtig gekannt hatte - er war ein Jahr älter, und wie gesagt, eine Klasse über

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mir - entstand eine feste Freundschaft. Gemeinsam erlebten wir un­ sere Jugend nach schwerer Zeit mit einer Unbeschwertheit, wie man sie wohl nur in jenen Jahren hat. Oft habe ich mich gefragt, ob einer von uns in dieser Zeit persön­ lich schuldig geworden ist. Ich habe es damals nicht glauben können, und ich glaube es bis heute nicht. Aber Verantwortung tragen wir alle - sie bleibt. Auch daran mußte ich denken, als Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag zum vier­ zigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa sprach. Die Rede, gehalten von einem unserer großen Präsidenten, bedeutet vieles. Die Worte von Weizsäcker machten jenen Tag zu einem Tag der inneren Befreiung, und zwar durch das Ja zur gemein­ samen Verantwortung. Es wäre angemessen gewesen, wenn der Deut­ sche Bundestag sich, nachdem Richard von Weizsäcker geendet hatte, erhoben hätte; einen Moment lang erwog ich, spontan aufzu­ stehen und auf diese Weise ein Zeichen zu setzen. Dann aber fürchtete ich, daß nicht alle folgen würden. Heute bin ich der Meinung, ich hätte es trotzdem tun sollen. Wenn wirklich jemand sitzen geblieben wäre, dann hätte halt gegolten: Die Geister können sich nicht früh genug scheiden. Dieser 8. Mai 1945 war auch für uns Deutsche der Tag der Befrei­ ung. Tag der Niederlage war er für ein verbrecherisches Regime. Es hatte nicht nur die anderen Völker Europas mit Krieg überzogen, es hatte Völkermord begangen und das eigene Volk gezwungen, den Krieg bis zum letzten zu führen, um die Zeit seiner Herrschaft zu ver­ längern. Wir wollen dabei gleichwohl nicht vergessen, daß Befreiung vom Nationalsozialismus nicht für alle Deutschen auch Freiheit be­ deutete. Für viele folgte lange Kriegsgefangenschaft, für viele Verlust der Heimat, Erniedrigung, Mißhandlung und auch Tod bei der Beset­ zung, bei der Vertreibung, in den Gefangenenlagern. Am Ende des viermonatigen Abiturergänzungskurses mußten wir einen Aufsatz schreiben: Lehren aus dem Nürnberger Prozeß. Was von 1933 bis 1945 geschehen war, durfte sich nicht wiederholen. Aber ich schrieb auch über den Prozeß selbst: Die Hauptverantwortlichen für die schrecklichen Verbrechen der NS-Zeit hatten Verteidiger und andei‘e Rechtsmittel. Menschen mit geringer oder gar keiner Schuld hingegen würden einfach verhaftet und man höre nicht mehr von ihnen. Das müsse sich ändern. Dabei dachte ich an Onkel Artur. Ich dachte an das KZ Buchenwald, das jetzt unter sowjetischer Bewa­ chung stand. In den Hauptfächern gab es eine schriftliche und eine mündliche Prüfung. An letzterer wäre ich beinahe gescheitert, denn ich hatte mich am Vormittag des mündlichen Abiturs mit zwei jungen Damen

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im Cafe »Zorn« in der Leipziger Straße verabredet, in der Annahme, in keinem Fach zwischen zwei Noten zu stehen und daher nicht zur mündlichen Prüfung antreten zu müssen. Das war eine Fehleinschät­ zung. In Latein stand ich nach Meinung der Lehrer auf der Kippe zwi­ schen zwei Noten, die mündliche Prüfung sollte entscheiden. Man fand mich in der Schule nicht. Nichterscheinen zur Abiturprüfung aber galt als klarer Regelverstoß; eigentlich wäre ich durchgefallen. Als ich mittags zur Schule zurückkehrte, um mein Zeugnis zu holen, blieb mir deshalb fast das Herz stehen. Aber meinem Klassenlehrer war es mit größter Anstrengung gelungen, den mir nicht sehr wohlge­ sinnten Lateinlehrer zum Verzicht auf die mündliche Prüfung zu be­ wegen. An diesem 17. April 1946 also bestand ich die Ergänzungsreifeprü­ fung. Endlich wurde mir ein vollwertiges Zeugnis der Reife zuer­ kannt. Der Weg zur Universität war frei - soweit. Wir veranstalteten eine Abiturfeier, ausgelassen und fröhlich, so als wäre alles, was ge­ schehen war, ein böser Traum gewesen, so als gäbe es die alten Schat­ ten und die neuen Zeichen an der Wand nicht. Im Gefangenenlager war ich davon ausgegangen, daß man uns nach allem, was geschehen war, nicht studieren lassen würde. Des­ halb hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, auf einem Schiff als Steward anzuheuem. Ich wollte ins Ausland, um mein Schulenglisch zu verbessern, daher abonnierte ich den liberalen »Manchester Guar­ dian«, die einzige englischsprachige Zeitung, die man damals per Post beziehen konnte. Mit meinem Freund Dieter Strich schrieb ich später einen Brief an Winston Churchill, um ihm für seine Rede vom Sep­ tember 1946 in Zürich zu danken. Eine Antwort erhielten wir nicht. Es gab auch einen Briefwechsel mit einem Mädchen in Toronto, Kanada. Für das Sommersemester 1946 immatrikulierte ich mich an der Universität Halle für das Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaft. Ein Kommilitone, mit dem ich im Herbst 1945 bei der Trümmerbeseitigung in der Universität gearbeitet hatte, half mir bei der Zulassung, denn die Mitgliedschaft in der LDPD war eher hin­ derlich als hilfreich. Die LDZ, die Zeitung unserer Partei in Halle, noch mehr jedoch das sogenannte Zentralorgan der LDPD, »Der Morgen«, der in Berlin erschien, waren meine Informationsquellen. Sie unterschieden sich anfangs durchaus von der »Freiheit« und dem »Neuen Deutschland«, den Parteizeitungen der SED. Dazu kamen die Sendungen der westli­ chen Radiostationen, vor allem der populäre RIAS Berlin. Gelegent­ lich bekam man auch westliche Zeitungen in die Hand; aus West-Ber­ lin den »Telegraf«, den »Kurier«, den »Tagesspiegel«. Sie gingen un­ ter guten Freunden von Hand zu Hand.

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Im Herbst 1946 gab es in den Ländern der Sowjetisch Besetzten Zone Landtags- und Kommunal wählen. Auf dem Lande wurden LDPD und CDU stärker behindert, in den Großstädten weniger, aber bis zu einem gewissen Grade doch. So hatte die LDPD eine Groß­ kundgebung mit dem Partei Vorsitzenden Wilhelm Külz im Stadt­ schützenhaus für 20 Uhr angesetzt, und als wir um 19 Uhr dort anka­ men, war der Saal besetzt von Anhängern der SED, die von der Volks­ polizei vorzeitig eingelassen worden waren. Vor der Tür drängten sich Tausende unserer Anhänger; für sie mußten die Reden nach draußen übertragen werden. Im Saal störten die SED-Anhänger. Zu meinen frühen politischen Erfahrungen in Halle gehört auch die Gründung eines antifaschistischen Jugendausschusses. Die Grün­ dungsinitiative war, wie wir erst später feststellten, von oben lanciert. Die Gründungsversammlung fand in einem großen Saal statt. Die LDPD - ein paar hundert Anwesende dokumentierten dies - war hier erkennbar die stärkste politische Gruppe, stärker als die SED. Da stand ein Redner von der SED auf und erklärte, er schlage in Abstim­ mung mit dem antifaschistisch-demokratischen Block vor, neun Vertrauensleute in den Ausschuß zu wählen, fünf von der SED, zwei von der LDPD und zwei von der CDU. Die Parteien sollten Namen nennen. Ich erhob mich und protestierte: Hier müsse demokratisch gewählt werden; erst die Wahl entscheide über die Zusammenset­ zung. Der SED-Vertreter weigerte sich: Das sei im Block anders ab­ gesprochen. »Wir sind aber nicht der Block«, sagte ich, »sondern der antifaschistisch-demokratische Jugendausschuß.« Damit setzte ich mich durch. Die Wahl ergab, daß eine Parteilose zur Vorsitzenden ge­ wählt wurde. Fünf Ausschußmitglieder stellte die LDPD, zwei die CDU. Ein SED-Mitglied wurde zum Sportwart gewählt. Wir hatten, so zeigte sich, eindeutig überzogen. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Wenige Tage später teilte der Magistrat der Stadt mit, daß die SMAD, die Sowjetische Militäradministration, die Wahlen annulliert habe. Am Tag der Neuwahl standen zur Gründung eines neuen Ju­ gendausschusses fünf Mannschaftswagen des NKWD vor dem Ver­ sammlungsgebäude, drei sowjetische Offiziere waren im Saal. Ein Redner vom Ausschuß auf Landesebene sagte, jetzt gelte es, die ganze Kraft für den antifaschistischen Kampf einzusetzen; aus die­ sem Grund müßten wir immer das Blocksystem beachten. Wieder meldete ich mich zu Wort. Wählen heiße auswählen, und wenn wir das nicht mehr dürften, bäte ich die Freunde von der LDPD, den Saal zu verlassen! Viele zogen mit mir aus, darunter wohl auch CDU-Anhänger. Beim Hinausgehen legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ein sowjetischer Offizier fragte: »Warum tun Sie das?« Ich

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antwortete: »Wir hatten gehofft, daß jetzt bei uns eine Demokratie be­ ginnt, und nun wird wieder von oben vorgeschrieben, was wir zu tun haben.« Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn ich hatte, als der Offizier mich ansprach. Schlim­ mes befürchtet; wenig später wäre die Sache wohl auch anders ausge­ gangen. Meine Angst wich der Enttäuschung. Hatte es Sinn, sich zu enga­ gieren? Meine Zweifel wurden immer größer. Mit meinen parteipolitischen Aktivitäten in der LDPD war es schon Ende 1946 vorbei. Zum einen, weil ich in jugendlicher Rigorosität den Kurs der Parteiführung für zu angepaßt hielt, zum anderen, weil ich vor Weihnachten 1946 schwer erkrankte. Auf eine Kiefernhöhlen­ vereiterung folgte eine Stirnhöhlenvereiterung, dann eine Lungenent­ zündung, schließlich eine feuchte Rippenfellentzündung. Im Elisa­ beth-Krankenhaus in Halle fand ich Aufnahme. Chefarzt der Inneren Abteilung war Professor Walter Hülse, ein Überlebender des 20. Juli, ein Freund Carl Goerdelers. Professor Hülse sollte für meine Ent­ wicklung in den kommenden Jahren zentrale Bedeutung haben: Sein persönliches und politisches Schicksal beeindruckte mich sehr. An­ ders als Goerdeler hatte Hülse überlebt. Eines Tages setzte sich dieser eindrucksvolle Mann an mein Kran­ kenbett. Er duzte mich, wie er das bei allen Studenten tat. »Du stehst jetzt vor einer Grundentscheidung. Entweder du ergibst dich dieser Krankheit oder du gehst gegen sie an! Du hast eine Krankheit, die dich dein ganzes Leben lang begleiten wird. Gibst du auf, wirst du versagen. Du wirst dein Studium nicht zu Ende führen, weil du krank bist. Du wirst kein Examen ablegen, weil du Lungentuberkulose hast. Weil du krank bist, wirst du bei den Mädchen scheitern. Du wirst einen Mißerfolg nach dem anderen mit deiner Krankheit entschuldi­ gen. Aber es geht auch anders! Wenn du den Willen hast, überall der Erste und Beste zu sein, dann kannst du es packen. Aber du mußt den Kampf gegen deine Krankheit aufnehmen, diesen Willen mußt du haben! Die Überwindung deiner Krankheit ist zu fünfzig Prozent ab­ hängig von deinem Willen und von deiner inneren Kraft. Entwickelst du diese innere Stärke, dann kannst du es schaffen!« Kurz: In einer Zeit, in der es noch keine Chemotherapie und praktisch keine Opera­ tionsmöglichkeiten gab, hat Hülse mir Lebenshilfe verordnet. Immer wieder setzte er sich an mein Bett und diskutierte mit mir über Politik. Er war parteilos, er hatte die CDU in der Provinzialregierung Sach­ sen-Anhalt in den ersten Monaten vertreten. Noch im Laufe des Jah­ res 1945 war er wegen seiner Vorbehalte gegen die sowjetische Besat­ zungspolitik zurückgetreten.

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Im Krankenhaus beging ich bei ihm meinen zwanzigsten Geburts­ lag, Ende März 1947 wurde ich endlich entlassen. Das Studium der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaft hatte ich mit dem Sommersemester 1946 begonnen. Der mehrmonatige Krankenhausaufenthalt im Winter 1946/47 und 1947/48 ließ ein gere­ geltes Studium nicht zu, doch Kommilitonen halfen mir bei der Be­ schaffung der Testate - also der Anmelde- und Abmeldebestätigun­ gen bei den Professoren, die die Vorlesungen hielten. Weil ich den Sommer 1948 über in Friedrichsbrunn im Harz war, um dort bei Frischluft zu Kräften zu kommen, hatte mein Freund Friedrich Wil­ helm Kirchhoff im Sommersemester 1948 alle An- und Abtestate für mich geholt und die Vorlesungen sowie die Namen der Professoren mit Druckbuchstaben ins Studienbuch eingetragen. So stand ich am Ende des fünften Semesters mit ordentlich belegten Vorlesungen, mit einem Kenntnisstand, den ich mir autodidaktisch aus den Lehrbü­ chern erworben hatte, und mit nur einem einzigen wichtigen Übungs­ schein - von sechs, die ich zum ersten Staatsexamen brauchte - da. Für das sechste Semester - ich wollte, eingedenk der Mahnung von Professor Hülse, das Staatsexamen zum frühest möglichen Termin ablegen - wechselte ich zur Universität Leipzig. Dort lehrten an der Juristenfakultät eine Reihe von großen Namen: Werner Weber, Artur Nikisch, Hans-Otto de Boor, Erwin Jacobi. Im sechsten Semester er­ warb ich die noch fehlenden fünf Übungsscheine. Es war eine große Anstrengung. Täglich fuhr ich mit der Eisenbahn von Halle nach Leipzig und zurück. Am 16., 17., 19. und 20. Mai 1949 wurden die Klausuren geschrie­ ben, dann folgte die Hausarbeit und zuletzt im Oktober die mündliche Prüfung. Am 5. Oktober 1949 bestand ich das erste juristische Staats­ examen - zwei Tage vor der Gründung der DDR. Noch vor diesem Datum examiniert zu sein, war mir symbolisch wichtig. Vorsitzender der Prüfungskommission war der Landgerichtsdirektor Thierfelder, Beisitzer waren Professor Dr. Nikisch und Professor Dr. Jacobi sowie ein Ministerialdirektor Dr. Grafe aus der sächsischen Landesregie­ rung in Dresden. Der Studieninhalt in Halle und in Leipzig unter­ schied sich damals nur wenig von dem an einer westdeutschen Uni­ versität. Etwa vierzehn Tage nach dem Examen bekam ich die Aufforde­ rung, nochmals 'zur Universität Leipzig zu kommen. Dort warteten schon viele Kommilitonen: »Was ist denn los?« fragte ich. »Die Ben­ jamin ist da. Sie spricht mit jedem einzeln.« Hilde Benjamin war die gefürchtetste Juristin der eben entstande­ nen DDR. Als ich zu ihr gerufen wurde, saßen in dem Raum außer Frau Benjamin noch ein Mitglied der SED-Hochschulgruppe und ein

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Leipzig, 5. Oktober 1949, zwei Tage vor Gründung der DDR: Das erste juristi­ sche Staatsexamen ist bestanden. Das Bild zeigt den zweiundzwanzigjährigen Hans-Dietrich Genscher mit seinem Studienfreund Helmut Schurz vor dem Hauptbahnhof der Stadt.

Mann vom sächsischen Kultusministerium. Sie führte das Wort: »Sie sind Herr Genscher von der LDPD?« - »Ja.« - »Wir haben festge­ stellt, daß Sie keine gesellschaftlichen Aktivitäten entfalten, nicht in der FDJ, nicht in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freund­ schaft.« - »Ich bin in der Liberaldemokratischen Partei.« - »Was ma­

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chen Sie denn außer Ihrem Studium?« - »Ich lese politische Literatur, auch die Klassiker des Marxismus-Leninismus.« Das war kein Scherz. Während meiner Krankheit hatte ich viel Zeit gehabt und ver­ sucht zu ergründen, warum so viele Menschen den Sozialismus faszi­ nierend fanden. »So, was haben Sie den zuletzt gelesen?« Ich zählte auf: den »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)«, Stalin, »Fragen des Leninismus«, Lenin, »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«. Daraufhin stellte sie mehrere Wissens­ fragen, deren Beantwortung anscheinend zu ihrer Zufriedenheit aus­ fiel: »Das ist ja sehr interessant. Sie haben das wirklich gelesen. Aber warum sind Sie dann in der LDPD?« - »Gerade weil ich dies gelesen habe, wenn Sie es so offen wissen wollen.« Frostig fragte sie: »Was wollen Sie werden?« - »Rechtsanwalt.« - »Das ist sehr klug von Ihnen, denn für Leute wie Sie haben wir in unserem Staat keinen Platz.« Ich durfte den Raum wieder verlassen. Die Mitgliedschaft in der LDPD hatte damals eher demonstrative Be­ deutung. In diesem Sinne habe ich mich fünfundvierzig Jahre später auf dem F.D.P.-Parteitag in Suhl gegen das Pauschalurteil der »Block­ flötenpartei« gewandt: »Hier sitzen Freunde aus den neuen Bundes­ ländern, die in der Vergangenheit keiner Partei angehörten. Hier sit­ zen Freunde aus den neuen Bundesländern, die in der Vergangenheit der LDPD angehört haben, und hier sitzen Freunde aus den neuen Bundesländern, die in der Vergangenheit der NDP angehörten. Ihnen allen gemeinsam ist die Nichtmitgliedschaft in der SED. Viele waren bereit, um ihres Berufes oder der Familie willen, nicht der SED beizu­ treten, obwohl sie es dann leichter gehabt hätten.« Vier Wochen nach der Begegnung mit Hilde Benjamin wurde ich als Referendar zugelassen. Ob ein Zusammenhang bestand, weiß ich nicht, weil die politische Überprüfung vor der Zulassung normaler­ weise neun Monate dauerte. Schon im März 1949 hatte ich deshalb meine Zulassung beim Justizministerium in Halle beantragt; zustän­ dig war nach meiner Erinnerung ein Ministerialrat Jeschke. Er fragte, warum ich jetzt schon käme, ich müsse doch erst noch die erste juri­ stische Staatsprüfung ablegen. Ich entgegnete, daß ich es mir nicht leisten könne, ein dreiviertel Jahr auf das Ergebnis seiner Ermittlun­ gen zu warten, schließlich hätte ich meine verwitwete Mutter zu un­ terstützen. So dauerte die Wartezeit am Ende nicht neun, sondern »nur« sieben Monate. Offensichtlich hatte meine Vergangenheit - bis 1945 - keinen Anlaß zur Beanstandung gegeben, und um diese Zeit vor allem ging es damals noch. Am 22. November 1949 trat ich im Al­ ter von zweiundzwanzig Jahren meinen Dienst als Referendar beim Amtsgericht Halle an.

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Von Deutschland nach Deutschland An der Spitze des Amtsgerichts in Halle stand Amtsgerichtspräsident Dr. Heine. Er hatte als Jude und Kommunist Auschwitz überlebt. Staatsanwalt Dr. Geißler, in der Weimarer Zeit Mitglied des Zentrums und bis 1933 Oberbürgermeister von Gleiwitz, ist mir ebenfalls noch unvergessen. Er sagte zu mir: »Adenauer will von uns im Osten nicht viel wissen. Ich kenne ihn aus dem >Kränzchen< der preußischen Oberbürgermeister von der Zentrumspartei.« Durch Geißler bekam ich Zweifel, ob die Wiedervereinigung für Adenauer Herzenssache sei. Es beruhigte mich zunächst noch, daß alle im Osten abgelegten Examina ohne Zusatzprüfung im Westen anerkannt wurden, denn der Westen war und blieb unser Orientierungspunkt. Deshalb achtete ich darauf, daß mein juristischer Werdegang dem herkömmlichen Ausbil­ dungsweg entsprach. Am 15. Oktober 1950 nahm ich erstmals in meinem Leben an Wahlen teil, diesmal zur DDR-Volkskammer. Bei dieser Scheinwahl machte ich meinen Wahlzettel ungültig. Im Gebäude des Amts- und Landgerichts in Halle trafen wir Refe­ rendare uns regelmäßig in der Bibliothek. Sie wurde für uns, meistens während der Frühstückspause, ein Ort offener Aussprache. Der Bi­ bliotheksverwalter, Justiz-Obersekretär Hilbert, verkörperte den klas­ sischen Beamten alter Schule, bis hin zu den Ärmelschonern, die er trug. Er stand auch politisch auf unserer Seite. Kam jemand herein, dem er nicht traute, grüßte er vernehmlich und nannte laut den Na­ men, um uns zu warnen. In unserer kleinen Welt der Gerichtsreferendare lebten wir mit zahllosen Widersprüchen. Mit Kommentar und Lehrbuch - den glei­ chen wie im Westen übrigens - schrieben wir Urteilsentwürfe in Zivilsachen, auch in Strafsachen des allgemeinen Strafrechts. Zur gleichen Zeit fanden in Halle politische Strafverfahren statt, von de­ nen wir ferngehalten wurden. Der berüchtigte Artikel 6 der DDR-Ver­ fassung, »Boykotthetze«, diente damals in wachsendem Maße als Grundlage für die Verurteilung Mißliebiger. Schlimmes hörten wir von den sogenannten Waldheimprozessen. Mehr und mehr Menschen entzogen sich der Rechtsunsicherheit, der zunehmenden ideologi­ schen Bevormundung durch die Flucht in den Westen. Die Ablehnung der DDR als Staat wie ihres Systems wurde bei mir immer tiefer. In Gesprächen machte ich kein Hehl daraus. In West-Berlin hatten inzwischen aus der DDR geflüchtete Juristen den Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen gegründet, der sich mit der Aufklärung von politischen Strafverfahren und dem

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Schicksal willkürlich Verhafteter befaßte. Er versuchte auch, Spuren von Menschen zu finden, die plötzlich verschwunden waren. Ich ent­ schloß mich, Kontakt zu dem UFJ zu suchen. Bei einem Besuch im damals noch frei zugänglichen West-Berlin meldete ich mich. Zu meiner Überraschung war ich dort kein Unbekannter, ja, man kannte meine politische Haltung sehr genau. In der folgenden Zeit fuhr ich wiederholt nach West-Berlin. Jede Reise, vor allem jeder Besuch im Hause des UFJ war mit einem hohen Risiko verbunden, für mich so­ gar in besonderem Maße, denn mit meiner Tuberkuloseerkrankung hätte ich eine lange Haft - insbesondere unter den Bedingungen der DDR-Strafanstalten - schwerlich überlebt. Im Frühsommer und Som­ mer 1952 verdichteten sich dann die Hinweise auf Nachfragen nach mir, die oft Vorboten einer Verhaftung waren. Nach dem, was ich freimütig über meine politische Haltung geäußert hatte, gab es nach den Maßstäben der DDR Anlaß genug, mich zu verhaften. Noch schlimmer wäre meine Lage gewesen, wenn man die Verbindung zum UFJ festgestellt hätte. Materiell ging es mir damals gut: Das Gehalt eines Referendars betrug im ersten Jahr fünfzig Prozent eines Richtergehalts, im zwei­ ten Ausbildungsjahr gab es sechzig und im dritten schließlich fünf­ undsiebzig Prozent. Außerdem verdiente ich mir ein Zubrot, indem ich für Rechtsanwalt Fritz Herzfeld arbeitete. Einige Monate lang wurden wir auch als Richter kraft Amtes eingesetzt. Immer deutlicher wurde mir, daß es in der DDR für mich keine Perspektiven gab. Das war nicht mein Staat. Ich wollte nicht auf Dauer meine politischen Auffassungen verbergen müssen; das er­ schien mir unaufrichtig. Dann aber, so sagte ich mir, mußte man auch die Konsequenzen ziehen und die DDR verlassen - mit oder ohne ak­ tuellen Anlaß. Als die Hinweise über Erkundigungen nach mir sich verdichte­ ten - aufgefallen war ich oft genug, auch wie ich dachte, wußten viele -, war es für mich Zeit zu gehen, und zwar sofort. Am 20. Au­ gust 1952 war es soweit. Getarnt als Urlaubsreisender traf ich mich mit zv'ei Freunden auf dem Hauptbahnhof von Halle. Um bei Kon­ trollen keinen Verdacht zu erregen, fuhren wir in verschiedenen Waggons; außerdem löste ich eine Karte nach Stralsund, also über Berlin hinaus, um bei Kontrollen im Zug nicht aufzufallen. Mein Koffer war wie ein Ferienkoffer gepackt. Mit meiner Mutter, die sich schweren Herzens mit meiner Entscheidung abgefunden hatte, ver­ einbarte ich, daß sie in den folgenden Tagen nach West-Berlin kom­ men solle, um mir Wäsche und Kleidung zu bringen. Zudem hatte ich einen Studienfreund in Ost-Berlin, der mir noch unauffälliger das Nötigste zukommen lassen konnte, wenn er am Sonntagabend von

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Halle nach Berlin zurückfuhr. 1952 durfte man die Sektorengrenze noch überqueren. Als ich zusammen mit meinen beiden Studienfreunden am 20. Au­ gust 1952 in West-Berlin eintraf, hörten wir, daß Kurt Schumacher ge­ storben war. Ihn hatte ich wegen seines konsequenten Eintretens für die deutsche Einheit verehrt, seinen wirtschafts- und gesellschaftspo­ litischen Vorstellungen dagegen konnte ich nichts abgewinnen. In Berlin-Marienfelde durchliefen wir das Notaufnahme-Verfahren; schließlich wurden wir als Politische Flüchtlinge anerkannt. Nach fünfwöchigem Aufenthalt und einem kurzen Wiedersehen mit meiner Mutter bei meiner Tante in Berlin-Lichterfelde flogen wir am 24. Sep­ tember 1952 mit der BEA nach Hamburg. Von dort ging es am näch­ sten Tag weiter mit der Bahn nach Bremen. Mit einem der beiden Freunde - unverheiratet wie ich - bezog ich am ersten Tag in Bremen über eine Wohnungsvermittlung ein gemeinsames Wohn-Schlafzimmer. Kurz darauf zogen wir in den Arbeitervorort Bremen-Walle: Dort hatten wir ein Zimmer und eine kleine Küche, nicht mehr, und doch konnten wir uns diese Wohnung nur gemeinsam leisten. Bald wurden wir als Gerichtsreferendare in den Justizdienst des Landes Bremen übernommen. Meine Ernennung datiert vom 6. Oktober 1952. Drei Jahre und einen Tag zuvor hatte ich in Leipzig das Referen­ darsexamen abgelegt. Welten lagen mittlerweile zwischen diesen bei­ den deutschen Städten, Leipzig und Bremen, und ich hatte sie durch­ schritten. Bei meiner Mutter in Halle war unter dem 19. September 1952 ein an mich gerichteter Brief eingegangen, in dem mir die Ent­ lassung aus dem Justizdienst des Landes Sachsen-Anhalt mitgeteilt wurde, da ich die DDR verlassen hätte. Von Halle bin ich ungern fortgegangen. Ich ließ schließlich nicht nur die Stadt zurück, die mir viel bedeutete, sondern auch einen gro­ ßen Verwandten- und Freundeskreis. Dennoch, ich mußte mich von meiner Heimatstadt trennen, auch ohne die Sorge vor einer Verhaf­ tung wäre ich früher oder später gegangen. Mit meiner politischen Umwelt wollte ich im reinen sein. Später entstand in der Bundesrepublik Deutschland eine Vereini­ gung ehemaliger Hallenser, die einzigartig war, weil eine westdeut­ sche Stadt, Kaiserslautern, die Patenschaft übernahm. Dort amtierte ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister, Dr. Sommer, selbst Hal­ lenser. Wir trafen uns alle zwei Jahre auf Einladung des rührigen Vor­ sitzenden Albert Deutschbein. Über Hallesche Geschichte hätte ich wohl nie soviel gelesen, wenn ich dort geblieben wäre. Wann immer ich später in irgendeinem An­ tiquariat ein Buch über Halle fand, habe ich es, bewegt von Wiederer­

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kennungsbedürfnissen und -gefühlen, gekauft. Einmal reichten diese Empfindungen bis nach Amerika: Als ich mit Bundespräsident Scheel Ende der siebziger Jahre zu einem Staatsbesuch in Washington war, traten im Weißen Haus plötzlich zwei Frauen und ein großgewachse­ ner Mann auf mich zu und sagten in unserem breiten Dialekt: »Das ist aber richtig schön, hier einen Hallenser zu treffen.« Der Mann war Großgrundbesitzer gewesen, im Rahmen der Bodenreform 1945 ent­ eignet worden und ausgewandert. Nun bewirtschaftete er mit seinen Schwestern eine Farm, auf der der Sohn von Präsident Gerald Ford Reiten gelernt hatte; deshalb waren die beiden bei unserem Besuch ins Weiße Haus geladen worden. Es war ein schönes Gefühl für mich, jenseits des Ozeans Landsleute zu treffen. Bremen, die Heimat der nächsten Jahre, hat es mir, bei aller Zunei­ gung zu Halle, leichtgemacht. Das Bremer Bürgertum zeigte sich hanseatisch weltoffen und aufgeschlossen. Freilich lebte ich dort als Flüchtling aus der DDR auf schmaler finanzieller Grundlage: Der mo­ natliche Unterhaltszuschuß für ledige Gerichtsreferendare betrug 182 DM netto, eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem Refe­ rendargehalt in Halle. Der Zwang zur Sparsamkeit war deshalb groß. Wie schon in Halle und auch heute noch stand ich morgens früh gegen 6 Uhr auf, absolvierte vormittags die Ausbildungsstationen des Referendariats und arbeitete nachmittags zunächst bei dem da­ mals schon sehr kranken Dr. Franke für 50 DM im Monat halbtags in der Anwaltspraxis. Ein besonderes Erlebnis der ersten Wochen in Bremen stärkte mein Gefühl, »in einer anderen Welt« angekommen und dort in einem übertragenen Sinn tatsächlich zu Hause zu sein. Bald war ich zur Ge­ schäftsstelle der Freien Demokraten gegangen und F.D.P.-Mitglied geworden. Bei einem nächsten Besuch in der Landesgeschäftsstelle, einige Wochen danach, sagte der Landesgeschäftsführer Eugen Schade zu mir: »Hören Sie, da kommen dieser Armschdrong« (so sprach er den Namen des berühmten Jazztrompeters aus) »und diese Fitzgcrald« (mit ganz ulkiger Betonung). »Wir haben drei Karten be­ kommen für ein Konzert in der >GlockeStiftung Preußischer KulturbesitzBogenhausener Hof