Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues und die Folgen 9783737003841, 9783847103844, 9783847003847

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Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues und die Folgen
 9783737003841, 9783847103844, 9783847003847

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Erich Maria Remarque Jahrbuch / Yearbook XXIV2014

Herausgegeben von Thomas F. Schneider im Auftrag des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums

Thomas F. Schneider (Hg.)

Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues und die Folgen

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dbb.de abrufbar. ISSN 0940-9181 ISBN 978-3-8471-0384-4 ISBN 978-3-8470-0384-7 (E-Book) Veröffentlichungen des Universitätsverlages Osnabrück erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. © 2014, V&R unipress in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titel: Illustration aus Peter Eickmeyers Graphic Novel Im Westen nichts Neues. © Peter Eickmeyer 2014. Redaktion: Thomas F. Schneider Satz: Thomas F. Schneider Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Alexandra Ivanova »Ob als Freund oder Patient oder vermutlich beides« Eine Studie über die Beziehung Erich Maria Remarques und Karen Horneys

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Roman R. Tschaikowski, Nadezhda A. Gossmann, Valentina V. Michalewa, Svetlana B. Christoforowa Erste Übersetzungen des Romans Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque ins Russische

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Oleg Pochalenkow Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer in Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues

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Heinrich Placke Doberdo – ein Roman des Slowenen Prežihov Voranc /Lovro Kuhar über den I. Weltkrieg an der Isonzo-Front

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Jan Decker [remark]. Ein Werkstattbericht. [remark]. Hörspiel

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Neue Remarque-Publikationen

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BeiträgerInnen und Herausgeber dieses Bandes

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Alexandra Ivanova

»Ob als Freund oder Patient oder vermutlich beides« Eine Studie über die Beziehung Erich Maria Remarques und Karen Horneys

Wer sich eingehend mit der Biographie Erich Maria Remarques beschäftigt, stößt unweigerlich auf das Thema der Psychoanalyse. Es wird von einer »(Psycho-)Therapie« oder »Behandlung« mit Beginn im Sommer 1950 berichtet, die er bei oder mit der Analytikerin Karen Horney durchgeführt habe (vgl. Gilbert 1995: 343; Hohler 2002: 54; Nadeždin 2008: 150; Remarque 1998/5: 662f.; Tims 2003: 156; zur Biographie Horneys vgl. Paris 2006; Quinn 1987; Rubins 1980; Schädlich 2006). Allerdings spricht der Remarque-Biograph Wilhelm von Sternburg allgemeiner von »Gesprächen« mit Horney (1998: 342). Weiter arbeitet Heinrich Placke mit Blick auf Remarques Roman Die Nacht von Lissabon (Original 1962) das Motiv des »Sich-Erinnerns und Aussprechens« heraus (2001: 91). Dieses Motiv bringt Placke in Zusammenhang mit möglichen psychoanalytischen Konzepten von Remarque. Dessen »Erinnerungstheorie« sei »wohl eher eine […] Privattheorie«, die beispielsweise auf Freud kaum zurückzuführen sei. Hier wird nun auf »die Psychoanalytikerin Karen Horney« verwiesen, mit der Remarque »eine jahrelange Vertrautheit verband« (2001: 100f.). In zwei Anmerkungen (Fußnoten 17 und 18, 2001: 101) skizziert Placke eine mögliche Beschäftigung Remarques mit der Psychoanalyse, auf deren einzelne Stationen einzugehen das Vorhaben dieses Beitrags ist. In diesen Anmerkungen Plackes wird der Beziehung zu Karen Horney, »Vertreterin der Neopsychoanalyse«, jedoch bereits eine Bedeutung für die Auseinandersetzung Remarques mit psychoanalytischen Inhalten zugesprochen (2001: 101, Anm. 18). Gleichwohl beendet Heinrich Placke seine Überlegungen mit der Feststellung, Remarque habe »als Schriftsteller« die Psychoanalyse, »wenn überhaupt«, dann »auf die Weise« verwendet, »wie er sie verarbeitet« habe (2001: 101f.). Katharina Schulenberg schließt in ihrem Artikel zu Remarques New York-Roman Schatten im Paradies/Das gelobte Land (Erscheinung 1971/1998) mit folgender Fußnote an Placke an: 7

Alexandra Ivanova

Heinrich Placke weist darauf hin, daß die Erinnerungstheorie, die Remarque in seinen Romanen verarbeitet, eine privat aufgestellte sein muß und nicht auf Sigmund Freud oder C. G. Jung zurückzuführen sei. Die Wurzeln dieser Gedanken könnten laut Placke bei Karen Horney liegen, ohne daß Placke jedoch näher darauf eingeht. Dies wäre eine interessante Forschung, der an dieser Stelle leider nicht nachgegangen werden kann. (2006: 84, Anm. 54)

Unabhängig davon, inwieweit die These einer werkimmanenten »Erinnerungstheorie« gestützt werden kann, wird in der Passage als wissenschaftliches Desideratum die Frage nach den »Wurzeln dieser [d. h. psychoanalytischen; Anm. AI] Gedanken« Remarques aufgeworfen, die hypothetisch in der Beziehung zu Karen Horney – »bei« ihr – liegen könnten. Als biographischer ›Fakt‹ in Remarques Leben taucht die Bekanntschaft mit Karen Horney zum Beispiel in seiner »Kurzbiographie in Daten« (verfasst von Thomas F. Schneider) auf: Am 13. August 1949 habe es eine »erste Begegnung mit Karen Horney« gegeben (Remarque 1998/5: 661). Tatsächlich heißt es dazu in Remarques unpubliziertem Tagebuch1 (im Folgenden TB) im Eintrag vom 13. August 1949 mit der ersten Erwähnung Karen Horneys recht nüchtern, am 11. August abends seien »Brigitte Horney u. Mutter« mit anderen »zum Essen« in seinem Haus im schweizerischen Porto Ronco (bei Ascona, Tessin) gewesen (TB 13.08.1949). Brigitte Horney (1911–1988), Karen Horneys älteste Tochter, wurde als Theater- und Filmschauspielerin der 1930er–1940er2 Jahre bekannt (vgl. Horney 1993) und lernte Remarque im September 1948 in Porto Ronco kennen (vgl. Remarque 1998/5: 661). Von diesen Daten weichen unterschiedliche Quellen ab, in denen widersprüchliche Einschätzungen der persönlichen Beziehung aller erwähnten Personen geäußert werden. Die Ausführungen in diesem Beitrag orientieren sich an den Datierungen in Remarques Tagebüchern. Im Folgenden soll es um eine möglichst genaue biographische Rekonstruk­tion dieser persönlichen, und spezifischer: intellektuellen Beziehung zwischen Remarque und Karen Horney gehen. Dabei entwerfe ich eine Mikrosoziologie der

1 Die Originale der Tagebücher Remarques sind Teil des Nachlasses, der sich in der Fales Library der New York University, New York, USA befindet. 2 Brigitte Horney blieb auch unter dem Nazi-Regime als Schauspielerin tätig und emigrierte erst 1945 aus Berlin zunächst in die Schweiz, dann in die Vereinigten Staaten. In den späten 1970er Jahren kehrte sie in die Bundesrepublik zurück, wo sie als Fernsehschauspielerin in Serien und Abendfilmen engagiert war und bis zu ihrem Tod 1988 lebte. Aus ihrer (posthum) von ihrer Freundin Gerd Høst Heyerdahl aufgezeichneten »Auto«-Biographie (Horney 1993) kann auf ihre ablehnende Haltung dem Nazi-Regime gegenüber geschlossen werden, die sie als den sogenannten »inneren Emigrantinnen« zur Zeit des deutschen Faschismus zugehörig erscheinen lässt. Vgl. für eine Übersicht zum Begriff der »inneren Emigration« zum Beispiel Philipp 1994; zu einem Film mit Brigitte Horney, diskutiert im Kontext der »inneren Emigration« Hermand 2010: 150f.

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Erich Maria Remarque und Karen Horney

einzelnen Etappen der Beziehung. Dadurch tritt die Theorie der Psychoanalyse Horneys, die gemeinhin als »Neo-Freudianismus« bezeichnet wird, hier zunächst in den Hintergrund. Es sei an dieser Stelle nur knapp darauf hingewiesen, dass diese psychoanalytische Strömung sich als eine starke Revision der Psychoanalyse Sigmund Freuds verstehen lässt, da sie Kernkonzepte dieser, wie zum Beispiel die Triebtheorie, verwirft und an ihre Stelle neue Konzepte setzt – etwa eines »Selbst« (vgl. hierzu als Übersicht Birnbach 1961; Brinich/Shelley 2002; Brown 1961; Grossman 1986; Hale 1995). Besonders kritisiert wurde der Neo-Freudianismus von Vertretern der Kritischen Theorie, so von Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno, auf welchen der Terminus »Neo-Freudianismus« auch zurückgeführt werden kann (vgl. Adorno 1990; Marcuse 1998). Erich Maria Remarque und Karen Horney. Eine Beziehungsbiographie In biographisch-wissenschaftlicher Literatur über Karen Horney wird Remarque eine eigentümliche Stellung zugeschrieben. Die beliebteste Episode handelt von einem Abend, den Horney mit Remarque und ihren Zeitgenossen, dem Reli­ gionswissenschaftler Paul Tillich (1886–1962) und seiner Ehefrau Hannah (1896– 1988), verbracht haben soll. Während dieses Abends soll viel getrunken worden sein. Anschließend habe man von Remarques Bekanntschaft mit dem Maler Salvador Dalí (1904–1989) profitieren und ihn kennenlernen wollen; Karen Horney und Paul Tillich seien jedoch, da alkoholisiert, nicht im Stande gewesen, eine rege Unterhaltung zu führen, sodass sie von Remarque letztlich entweder in ein Taxi oder zunächst in einen Streifenwagen gesetzt worden sein sollen (vgl. Quinn 1987: 280; Rubins 1980: 233; Schädlich 2006: 144). Zum 2. Februar 1951 trägt Remarque in sein Tagebuch ein, er habe den Abend unter anderem mit »Karen« verbracht, gefolgt von den Notizen: »Getrunken. Noch mit anderen zum El Morocco. Blau. Entsinne mich an Dalí« (TB 04.02.1951), sodass eine solche Begebenheit durchaus stattgefunden haben kann. Neben dieser Anekdote fallen noch andere Charakterisierungen der Beziehung zwischen Remarque und Horney auf, die zwar illuster, aber wenig fundiert und aus der Sphäre der Klatschkommunikation übernommen wirken. In einer in wissenschaftlichen Verlagen erschienenen einschlägigen Biographie Horneys berichtet zum Beispiel Bernhard J. Paris, »wir« wüssten von »Affären« Horneys mit Remarque zur Zeit von Horneys Beziehung zum Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) in den 1940er Jahren (2006: 279). Paris zitiert unter Verwendung eines Interviews Aussagen Hannah Tillichs, wonach Horney von Remarque »›wie ein kleines Mädchen‹« behandelt worden sei; er sei »›hart‹« zu ihr gewesen und habe sie »›du kleine Gans‹« genannt (2006: 279). Jack Rubins, ebenfalls Verfasser einer Horney-Biographie und der Interviewer Hannah Tillichs, schreibt, dass Ende 1942 ein New Yorker Intellektuellenzirkel um Horney herum entstanden sei, 9

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zu dem auch Rermarque gehört habe (1980: 249). Dessen Haltung der Psychoanalytikerin gegenüber habe sich wesentlich von der anderer unterschieden; er sei zwar warm, aber – im Gegensatz zu anderen – nur er sei auch gebieterisch zu ihr gewesen, während sie dies gemocht zu haben schien (1980: 250). Daraufhin habe Horney im Sommer 1950, so wiederum Paris, »ihre Freundschaft« mit Remarque »erneuert«, der »auch mit Brigitte befreundet und mehr als zehn Jahre zuvor Karens Patient und Liebhaber gewesen« sei (2006: 317). In dieser Literatur verwirrt zum Einen die Zeitrechnung. Gravierender ist, dass es neben Jack Rubins‘ Interview mit Hannah Tillich keine Quelle gibt, die diese New Yorker Verbindung stützen würde. Zwar hielt sich Remarque Ende 1942 in der Tat in New York auf (vgl. Remarque 1998/5: 657) und schloss später Bekanntschaft mit Paul Tillich (vgl. TB 04.02.1951), über den er möglicherweise auch Hannah Tillich kannte. Es existieren allerdings in Remarques Tagebucheinträgen weder Anhaltspunkte für mit Karen Horney geteilte soziale Umfelder, noch für ein Patientenverhältnis, noch für ein Liebesverhältnis im New York der 1940er Jahre. Daneben enthält die »Auto«-Biographie Brigitte Horneys bedauerlicherweise ähnlich irreführende Informationen: 1947 seien Brigitte Horney und Gerd Høst Heyerdahl, ihre Freundin und Biographin, in der Schweiz unterwegs zu Remarque gewesen, »der ein Freund von Biggys Mutter« gewesen sei (Horney 1993: 168). Zwischen 1939 und 1948 ist Remarque laut Kurzbiographie nicht in Porto Ronco gewesen (vgl. Remarque 1998/5: 654). Über das Jahr 1950 heißt es ferner, in Ascona hätten Mutter und Tochter Horney unweit von Remarque gewohnt, der »früher in New York Patient bei Dr. Karen Horney gewesen« sei, »die er wegen seiner Depressionen aufgesucht« hätte (1993: 184). Auch diese Aussage kann nicht belegt werden. In Porto Ronco 1950 – Beginn der Beziehung Im Gegensatz zu einer New Yorker Behandlung lässt sich jedoch vorerst fixieren, dass jedwede Art persönlicher Beziehung zwischen Remarque und Horney sich nach 1949 entwickelt haben muss. In Tagebucheinträgen Remarques taucht Karen Horney in diesem Jahr ausschließlich kurz als »Mutter« Brigitte Horneys auf (vgl. TB 13.08.1949; 10.09.1949). Beiden begegnet er als Teil des deutschsprachigen Asconeser Bekanntenkreises bei gemeinsamen Essen (Karen Horney) oder Spaziergängen auf der Piazza (Brigitte Horney) – Sommeraktivitäten im Urlaub also, und Brigitte Horney wird im Tagebuch von Remarque mehr Beachtung geschenkt als ihrer Mutter (vgl. TB 01.09.1949). Mutter und Tochter verlassen die Schweiz Anfang September 1949 (vgl. TB 10.09.1949); Remarque reist Ende September 1949 zurück nach New York (vgl. Remarque 1998/5: 662), und fast ein Jahr lang gibt es keinen dokumentierten Kontakt zwischen den dreien. Remarque begibt sich im Mai 1950 erneut nach Porto Ronco (1998/5: 662), und im Juli 1950 scheinen dann auch Brigitte und Karen zum jährlichen Sommerurlaub dort angekommen zu sein. 10

Erich Maria Remarque und Karen Horney

Ab dem 2. Juli berichtet Remarque in seinem Tagebuch von gemeinsamen Unternehmungen; am 8. Juli 1950 schreibt er: […] Noch zu den Horneys. Am sechsten, glaub ich, wieder Party. Isole [Name einer Bar, Anm. AI], Bier getrunken, die Horneys, Pancaldis u. mehrere […]. Folgender Abend mit den Horneys. Der alten Karin [originale Fehlschreibung, gemeint ist Karen; Anm. AI] ein Halsband […] geschenkt, das im Laden von Franz lag; ihn geholt, der gerad mit einer Frau Hagner über gemeinsamen Selbstmord diskutierte, Halsband raus, Nellybar3. Dort mit allerlei. […] schließlich um 11 morgens bei den Horneys. (TB 08.07.1950)

Die ›Fehlschreibung‹ des Namens Karen als »Karin« kommt im Verlaufe der Tagebucheinträge auch dann noch vor, als sich beide bereits in einer stabilen Bekanntschaft befinden, und ist demnach nicht nur auf eine anfängliche Verwechslung zurückzuführen. Vielmehr scheint angebracht, von einer Fehlleistung4 zu sprechen, die möglicherweise – in psychoanalytischer Interpretation – der Mehrdeutigkeit der Beziehung von ihrem Beginn an Rechnung trägt. Auf die Urlaubsatmosphäre kann von der Beschreibung tratschartiger Gespräche, der Barbesuche und »Parties« geschlossen werden. Nicht zuletzt wirkt das Geschenk Remarques an Karen Horney wie eine galante Initialgeste, wobei es sich um den Ausdruck nachbarschaftlicher, freundschaftlicher und/oder tatsächlich romantischer Sympathie handeln kann. Weiter entwickelt sich die Bekanntschaft zwischen Remarque und Karen Horney mit der Abreise Brigittes aus Porto Ronco um den 11. Juli 1950 herum für ein Schauspielengagement (vgl. TB 11.07.1950). Wie Georg Simmel soziologisch analysierte, ändert sich die Dynamik einer Beziehung mit der Umwandlung der ursprünglichen Triade zur neuen Dyade: »Es gibt kein noch so inniges Verhältnis zwischen dreien, in dem nicht jeder Einzelne gelegentlich von beiden andren als Eindringling empfunden würde« (1992: 115). Eine Zweiergruppe dagegen sei von »der reinen Individualität« ihrer Beteiligten abhängig, wobei Simmel der »Intimität« dieser Beziehung eine fundamentale Funktion zukommen lässt (1992: 104). Es ist anzunehmen, dass diese erstmalige Entstehung der Zweiergruppe, Karen Horney und Remarque, dazu führt, dass der 13. Juli 1950 in vielen Biographien markiert wird als Tag der »ersten Therapiesitzung«, auf die »weitere kontinuierli-

3 Die Nelly-Bar (auch Nellybar, Nelly Bar oder Nelly‘s Bar) ist eine bei vielen prominenten ExilantInnen beliebte Asconeser Barkneipe gewesen, zu deren Stammgästen auch Remarque gezählt hat, vgl. Riess 1977: 115f. 4 »Handlung, deren ausdrücklich angestrebtes Ziel nicht erreicht, sondern durch ein anderes ersetzt wird.« Laplanche/Pontalis 1973: 153; also »Karen« zu schreiben meinen, während tatsächlich »Karin« geschrieben wird.

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che Sitzungen bis zur Abreise Karen Horneys am 6. September« 1950 gefolgt seien (Remarque 1998/5: 662; vgl. ebenfalls Placke 2001: 101, Anm. 18; Schneider in Remarque 1998/2: 436f.; Westphalen in Remarque 2011: 462f.). Remarque kommentiert in seinem Tagebuch wie folgt: […] Abends Karen Horney. Über N. als Typ. Begriff der Rachsucht, des Stolzes usw. Könne ihre eigene Liebe schwer verzeihen. Attackieren. Welle u. Felsen. Karen: Wenn sie merken, daß sie den andern haben, verlieren sie das Interesse. Wenn er entgleitet, krallen sie nach. Auch: sie drücken nieder, weiter – bis es nicht mehr geht. Zerstörer. Typisch: die Rache für etwas von früher. Haben ihr Gefühl; versuchen es zu verdrängen durch Herrschsucht, Oberhand-bekommen. Besser: nicht – in sich selbst. Sie fragte: Definition von Liebe, – was ich wolle? Nach Nachdenken: Außer mir sein. Außer-sich-sein. Nicht In-sich. Gefahr. Der andere Mensch, der habe, was Vernunft, Verstand nicht geben könne. Außer-sich-sein. Ferner: Die Illusion gegen die Einsamkeit des gegliederten, unerkennbaren ­Chaos. (Remarque 1998/5: 425f.)

Die Figur »N.« steht in Remarques Eintrag für Natalia (Natalie/Natasha) Pavlovna Paley (1905–1981). Natasha Paley, die in Frankreich geborene Cousine des letzten russischen Zaren, siedelte in den 1930er Jahren in die USA über, wo sie als Model und Schauspielerin arbeitete. 1941 wird sie auf einer Party Remarque vorgestellt, woraus sich eine zehn Jahre währende Liebesbeziehung entspinnt (vgl. Gilbert 1995: 239; Tims 2003: 125). Obgleich gerade der Trennung von Natasha ein immenser Stellenwert in der Biographie Remarques zukommt, was unter anderem durch die therapeutisch-analytischen Gespräche mit Horney sowie in Remarques Tagebüchern deutlich wird, liegen zur Beziehung zwischen Paley und Remarque bislang keine Untersuchungen vor. Bisher ist nur eine Biographie Paleys erschienen (vgl. Liaut 2005). Die Zeit der Trennung von Natasha beginnt im Frühjahr 1950 (vgl. Remarque 1998/5: 662) und dauert vermutlich bis zur Stabilisierung von Remarques nächster längerfristigen Beziehung zur Schauspielerin Paulette Goddard um den Anfang des Jahres 1952 (zur Beziehung vgl. Gilbert 1995). Zudem lässt sich in der Trennung eine Folie für Remarques Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Horneys erkennen, wie durch das Nachstehende veranschaulicht wird. Es deuten sich erste Begriffsdiskussionen zwischen Analytikerin und Analysand an – der »Rachsucht, des Stolzes usw.«, sowie eine zentrale Frage – nach der »Definition der Liebe«, für Remarque mit einem »Außer-sich-sein« assoziiert. Inhaltlich weist dieses erste quasi-analytische Gespräch bereits auf mehreren Ebenen auf den Analyseverlauf hin, obwohl formal das Gesprächssetting kaum dem einer klassischen psychoanalytischen Sitzung gleicht. Denn wenn das therapeutische Setting einer Analyse in einem klassischen Patientenverhältnis nach den weitesten Grundsätzen der Psychoanalyse charakterisiert werden sollte, so gäbe es 12

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wenig Anlass, Remarques Gespräche mit Karen Horney als ›Therapie‹ zu bezeichnen. Remarque sucht Karen Horney nicht von sich aus wegen Beschwerden auf, er kontaktiert sie nicht als Ärztin oder Therapeutin. Die Begegnung mit ihr passiert durchaus zufällig und erfolgt nach dem Prinzip der Geselligkeit: »Jeder soll dem anderen dasjenige Maximum an geselligen Werten (von Freude, Entlastung, Le­ben­ digkeit) gewähren, das mit dem Maximum der von ihm selbst empfangenen Werte vereinbar ist« (Simmel 1911: 7). Beide sind Teil der deutschsprachigen Personen, die vorwiegend ihren Sommerurlaub in Ascona verbringen. Der Kontext der Treffen hat eben diese Färbung der sommerlichen Urlaubsatmosphäre, die sich in einer sensualästhetischen Dimension niederschlägt. Häufig finden die von der Remarque-Biographie zur »kontinuierlichen Therapie« verknappten Gespräche in einem Ambiente statt, das Elemente des Genusses einfließen und zu Objekten der Kommunikation werden lässt. Im Sommer in Porto Ronco wird häufig zusammen gegessen: Abends Karin Horney in vielem Hellblau u. einer Halskette aus Granaten, die nicht richtig schloß. Hühner, Pfifferlinge, Pflaumenkuchen. Im Regen sie nach Hause gefahren. Gesprochen. Weg, wie, was tun? Sie fand, einfach einstweilen weiter finden, finden lassen, wirken lassen. (TB 19.08.1950)

Es fällt auf, wie viel Beachtung Remarque in seinen Beobachtungen von Farben, Witterung, Essen, solchen Details wie der sich nicht schließenden Halskette schenkt, jene Elemente des Genusses und der Sinnlichkeit – der Situation, der Beziehung – betonend, wobei der vorangehende exemplarische Beleg nur einer unter vielen ist. Karen Horney schreibt zur selben Zeit in Briefen an ihre Tochter Brigitte nach Berlin, »Boni«5 gefalle ihr immer besser, und sie seien »oft zusammen – alleine und plaudern wirklich sehr nett« (1. August 1950) (Horney 1993: 184). Zwei Wochen später, in einem weiteren Brief, datiert auf den 16. August 1950 und ebenfalls in der Biographie Brigitte Horneys abgedruckt, heißt es: Boni und ich haben uns weiter angefreundet. Und er ist wirklich reizend zu mir. Ich habe ihm die Druckfahnen zu meinem Buch kommen lassen, weil ich dachte, es kann ihm was geben. Und sieh da, nicht nur liest er es, sondern er sagte gestern abend – fast feierlich – daß heute ein bedeutsamer Tag wäre – Es seien ihm einige Lichter aufgegangen über sich selbst. Er fange an, Dinge in sich zu verstehen, die er immer gesehen, aber nicht begriffen habe. Na, das ist doch schön. (Horney 1993: 184)

5 »Boni« ist ein Spitzname Remarques, eine Ableitung von »Bonifazius« (vgl. hierzu Marton 1993: 33f.), der zum Beispiel von Ruth Marton (vgl. 1993: 33f.) sowie von Karen und Brigitte Horney (vgl. Horney 1993: 168) benutzt worden ist.

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Die Zusendung der Buchfahnen setzt, wie sich nachverfolgen lässt, den Rahmen für die Entwicklung der im weitesten Sinne therapeutisch-analytischen Gesprächslage zwischen Karen Horney und Remarque. Bisher ist man davon ausgegangen, dass es sich bei dem Buch um Horneys The Neurotic Personality of Our Time (Original 1937) handeln müsse (vgl. von Sternburg 1998: 345) oder der Titel gänzlich unbestimmbar sei (vgl. Remarque 1998/5: 619). Einiges spricht allerdings dafür, dass Remarque die Fahnen zu Neurosis and Human Growth: The Struggle toward Self-Realization (vgl. Horney 1975) erhalten hat. Neurosis and Human Growth war zum Zeitpunkt der Übergabe zwar noch nicht erschienen, das Erscheinungsdatum soll aber auf den 6. Oktober 1950 terminiert gewesen sein, wie aus einer Rezension in der US-amerikanischen Zeitschrift Library Journal vom 1. Oktober 1950 hervorgeht (vgl. Scherer 1950: 1655). In einem Brief Karen Horneys an ihre Tochter Brigitte vom 22. September 1950 heißt es, ihr Buch komme »Anfang Oktober raus« (Horney 1993: 185). Remarque schreibt in seinem Tagebuch, Karen Horney habe ihm die Druckfahnen eines Buches am 8. August 1950 vorbeigebracht (vgl. TB 09.08.1950). Nach dem Erhalt der Fahnen notiert er am 14. August 1950, er habe nachgedacht und »ein Stück« des Buches gelesen (TB 14.08.1950). Der darauf folgende Tag gilt vielen BiographInnen Remarques als »Beginn der Selbstanalyse aufgrund der Psychoanalyse Karen Horneys«, begleitet von Remarques Anmerkung im Tagebuch, es sei ein »wichtiger, wichtiger Tag« (Kurzbiographie: Remarque 1998/5: 662; vgl. auch von Sternburg 1998: 345). Mit dem Thema der Selbstanalyse wird in diesem Zusammenhang – wohl interpretativ – die Programmatik der Selbstanalyse Karen Horneys aufgegriffen, wie sie im gleichnamigen Werk Self-Analysis (1941; deutsch: Selbstanalyse 1974) aufgestellt wird. Das Individuum soll, so Horney in der Einleitung, im Verlaufe einer »konstruktiven Selbstanalyse« nicht nur »besondere Gaben« entwickeln, sondern wichtiger noch »die Entfaltung seiner inneren Kräfte als starker, integrierter Mensch, frei von lähmenden Zwängen« verfolgen. Psychoanalyse könne »zwar nicht die Leiden der Menschheit beheben«, sie könne aber »zumindest einige der Schwierigkeiten und Mißverständnisse klären«, also »Haßgefühle, Ängste, Kränkungen und Verwundbarkeiten, von denen diese Leiden Ursache und Wirkung zugleich« seien (1976: 7). Selbstanalyse bedeutet für Horney den Versuch, »gleichzeitig Patient und Analytiker zu sein«, weshalb sie den »psychoanalytischen Prozess« in einen »Patientenanteil« und einen »Analytikeranteil« aufteilt. Freie Assoziation, »Einsicht« und Wunsch zur »Veränderung« zählt die Autorin zu den wesentlichen Aufgaben des Patienten (1976: 76). Horney weist ausdrücklich auf die Schwierigkeiten und Grenzen der Selbstanalyse hin, die besonders in den Widerständen gegenüber der Auseinandersetzung mit unbewussten Motiven oder unliebsamen Eigenschaften lägen (vgl. 1976: 202ff.), und bestreitet die Vorteile der Analyse mit einem Analytiker keineswegs (vgl. 1976: 228). Gleichwohl betont sie die positiven Erfahrungen der Selbstanalyse und beendet das Werk mit den (ermutigenden?) Worten, das Le14

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ben sei »Kampf und Streben, Entwicklung und Wachstum« und die Analyse »eines der Mittel, die bei diesem Prozeß helfen« könnten (1976: 230). Horney vermittelt Remarque durch die inhaltliche Besprechung seiner Konflikte eben dieses Verständnis der Analyse. So sei man, wie Remarque am 26. August 1950 vermerkt, »ohne Analyse« bestimmten Illusionen hingegeben, während man »in der Analyse« »nur der Staatsanwalt von sich« sein müsse, »nicht auch Verteidiger«. Die Verteidiger seien »ohnehin da, in der Neurose selbst« (Remarque 1998/5: 443). Für Remarque bedeutet die analytische Hilfe Horneys damit offensichtlich, dass die Äußerung seiner subjektiven Leiderfahrungen, die er in der Figur des »Staatsanwalts« als Missstand ›anklagen‹ kann, keiner zusätzlichen Rechtfertigung, einem Verteidiger gleich, vor ihr bedürfen. Durch diese Metaphorik aus der Welt des Rechts bringt er die analytische Praxis mit seinen eigenen Begrifflichkeiten zusammen. Eine Lektüre von Self-Analysis kann anhand der Tagebücher Remarques meines Wissens nicht nachgewiesen werden. Trotzdem gibt der Tonfall der Tagebucheinträge mit Beginn der therapeutisch-analytischen Gespräche und der HorneyLektüre durchaus Anlass, von einer selbstanalytischen Praxis Remarques in Sinne der Horneyschen Selbstanalyse zu sprechen. Es wird sich ferner zeigen, dass Remarques selbstanalytische Einträge die konkret therapeutisch-analytische Beziehung zu Horney überdauern. Deshalb mag die Einschätzung stimmen, es fände neben der psychoanalytischen Therapie bei Horney auch eine »Selbstanalyse aufgrund der Psychoanalyse Karen Horneys« (Kurzbiographie: Remarque 1998/5: 662) statt. Der Biograph von Sternburg schildert Remarques Analyse zwar mit recht viel Pathos, liefert aber dennoch die wohl passendste Interpretation der therapeutischanalytischen Dimension zwischen Horney und Remarque, indem er schreibt, der Sommer »in der Nähe von Karen Horney« münde »in eine ganz entscheidende Periode der Selbsterforschung« (1998: 344). Von Sternburg hebt die Lektüreerfahrung Remarques hervor: Diese habe ihn »ganz offensichtlich elektrisiert«, und das Gelesene sei »in langen Gesprächen mit Karen Horney« vertieft worden. Unter »der klugen Leitung der Psychoanalytikerin« sei es ihm möglich geworden, durch »intensive Selbstbeobachtung« in »langen Tagebuchmonologen« bereits »verschüttete Erlebnisse und Erfahrungen« aus dem Unbewussten »aufzubrechen« (1998: 345). Von Sternburg subsumiert nach ausführlichen Zitaten aus den Tagebüchern Remarques, dieser habe »eine radikale Analyse über sich selbst« in jenen Tagen im Sommer 1950 durchgeführt, die von Karen Horney und »ihrem Buch« ausgelöst worden seien (1998: 347). Ungeachtet der starken Überzeichnungen – Remarque durchbreche als einer der wenigsten Menschen »die Blockade der Verdrängung, offenbart vor sich selbst illusionslos, warum er leidet« (1998: 348) – wird von Sternburg gewiss der Eigenart des analytischen Vorgangs bei Remarque gerecht, da er gänzlich auf den Begriff der »Therapie« verzichtet, welcher ein bestimmtes Setting einschließen müsste. Alternativ dazu spricht von Sternburg von vertiefen15

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den Gesprächen in ihrer Synthese mit der Lektüre von Horneys Werken, begleitet von reflexiven Niederschriften im Tagebuch. Dies scheint die bestmögliche Charakterisierung der therapeutisch-analytischen Beziehung zwischen Remarque und Horney zu sein. Was die persönliche Dimension der Beziehung anbelangt, so wird sie maßgeblich von der Dynamik zwischen allen dreien Personen – Remarque, Karen und Brigitte Horney – geprägt worden sein. Mit erneutem Verweis auf Simmel liegt der besondere soziologische Charakter einer Triade darin, dass »in feinsten stimmungsmäßigen Zusammenhängen drei sogleich drei Parteien – zu je Zweien – zu bilden und damit das einheitliche Verhältnis des je einen zu dem je andern aufzuheben« pflegen (Simmel 1992: 115). In der Tat zeigt sich, jenseits der Spekulationen über mögliche Affären, wie sie sich in der Biographik finden, in Briefen und Dokumenten, dass Brigitte Horney, die Ende August 1950 von Dreharbeiten zurück nach Porto Ronco gekehrt war, wohl Gefühle über die Freundschaft hinaus zu Remarque entwickelt (vgl. TB 29.08.1950). Die Abendessen und Tavernenbesuche zu dritt werden wieder aufgenommen, und die Zusammenfassungen konkreter analytischer Gesprächsverläufe in Remarques Tagebuch nehmen im Vergleich zur Zeit vor Brigitte Horneys Ankunft ab, wenngleich die Psychoanalyse weiter Thema bleibt (vgl. TB 02.09.1950). Nach der Abreise ihrer Mutter nach New York am 6. September 1950 muss Brigitte Horney ihr von einer vertieften Freundschaft mit Remarque berichtet haben, denn am 22. September 1950 antwortet ihr Karen Horney: »Schön ist Deine Freundschaft mit Boni. Ich glaube gar nicht, daß er mich besonders lieb hat – sondern, daß wir uns alle drei irgendwie verbunden fühlen…«. Am 1. Oktober 1950, sie »persönlich« liebe Remarque »nicht‚ in diesem Sinn«, wobei sie es für »sicherer« für ihre Tochter befände, »sich nicht zu arg in ihn zu verlieben«. Remarque, wie Horney in selbigem Brief einschätzt, könnte »wahrscheinlich nichts besseres tun«, als Brigitte zu heiraten. In der Dyade Karens mit ihrer Tochter steht die zwischenmenschliche Beziehung im Vordergrund, während sie sich in ihrer Rolle als Therapeutin Remarques zurückhält. »Aber«, schreibt sie weiter, »er hat ja meistens im Leben nicht gerade das getan, was für ihn das beste wäre. […] Einstweilen ist es wunderschön, daß wir drei uns so unmittelbar verstehen…« (Horney 1993: 185f.). Remarques Notizen zufolge geht die Initiative vermehrt von Brigitte Horney aus; er wisse nicht, wie er »da raus komme, ohne rücksichtslos zu sein. Habe es nicht verschuldet. Nie etwas gesagt. Einmal zusammen betrunken hier angekommen« (TB 30.09.1950). Unter Berücksichtigung dieser Dokumente wird es meiner Einschätzung nach möglicherweise romantische Verwicklungen zwischen Remarque und beiden Frauen gegeben haben. Es liegt aber keine Explikation im Falle Karen Horneys vor, die sich ihrer Tochter gegenüber loyal verhält und die Dreierkonstellation aufrecht erhalten will. Es wird sich gleichwohl im Weiteren zeigen, dass die Beziehung zwischen Brigitte Horney und Remarque die Entwicklung seiner Beziehung zu Karen Horney mit beeinflussen und in gewisser Hinsicht mit beenden wird, wobei die 16

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Theorie Simmels von der »quantitativen Bestimmtheit der Gruppe« sich als durchaus tragfähig erweist (vgl. 1992: 63ff.). New York 1950/51 – Zur Zweiseitigkeit von Remarques Beziehung zu Karen Horney Mitte November kehrt auch Remarque aus Porto Ronco nach New York zurück, und nur zwei Tage nach seiner Ankunft stattet er Karen Horney einen Besuch ab: Ging um 1/2 8 zu Karen Horney. Schöner Blick, 240 Central Park South. Über den Park. Aßen. Flasche Forster 43. Anstrengend für mich, mit ihr zu sprechen, wie schon in Porto Ronco, da sie zuhört, wenig spricht. Gut für ihren Beruf; schwieriger für einen selbst. Ging um zwölf. (TB 18.11.1950)

An diesem Eintrag, der in der Kurzbiographie Remarques als Fortsetzung der Therapie bei Karen Horney bezeichnet wird (vgl. Remarque 1998/5: 663), lässt sich paradigmatisch die Mehrdeutigkeit der Beziehung zeigen. Remarque erscheint nicht in bloßer Interaktionsrolle, sondern reflektiert über Horney als Privatperson, die er in einem Außenblick mit ihrem Beruf in Verbindung bringt (»Gut für ihren Beruf«). Ob das Reden mit der Analytikerin »schwierig für einen selbst« als Analysand oder als Privatperson sei, bleibt ungeklärt und drückt damit das Ineinandergehen der analytischen und privaten Gespräche aus. Es folgen viele Aufzeichnungen Remarques, in denen er von Gesprächen bei und mit der Analytikerin berichtet. Wie jedoch schon im Schweizer Sommer­urlaub sind viele der Treffen keine im üblichen Sinne therapeutischen Sitzungen. Die Gespräche sind erneut begleitet von gemeinsamem Essen und Trinken, und es kommen Klubabende (vgl. TB 04.02.1951), gelegentliche Theater- (vgl. TB 29.11.1950), Stadion- (vgl. Rubins 1980: 316) und Flugplatzbesuche (vgl. TB 21.12.1950) hinzu. Außer des intellektuellen Austauschs, bei dem zum Beispiel Remarque weitere Bücher Horneys rezipiert, existiert eine sinnliche, personale Austauschebene, die Remarque über Geschenke adressiert. Neben dem »Halsband«, das er Karen Horney zum Beginn der intensiveren Bekanntschaft schenkt, berichtet Karen Horney ihrer Tochter Brigitte beispielsweise von einem Parfüm, das ihr von Remarque zu Weihnachten 1950 überreicht wird. Sie und er seien »öfters zusammen«, er lebe »jetzt sehr zurückgezogen« und sei somit »mehr auf der gehässigen Seite –, sozusagen schwarz und daher gut«, dabei aber »doch sehr reizend«, und einmal seien sie »auch im Theater« gewesen (Horney 1993: 188). Wie Gerd Høst Heyerdahl, die Biographin Brigitte Horneys, schreibt, erinnert sie jenes auch von Brigitte Horney benutzte Parfüm Femme »an die drei innig verbundenen Menschen: Brigitte und Karen Horney und Erich Maria Remarque« (1993: 189). Zur selben Zeit vermerkt Remarque, wie Karen Horney bei einem Restaurantbesuch »entzückt über 17

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ihr Steak« gewesen sei, sich über alles freue, Ruhe ausstrahle; »mit dem grauen, weißen Haar, dem Mantel, dem etwas schiefen Hut, den sie für elegant hält, den Ohrringen von Brigitte u. den zwei Armbanduhren, von denen eine für die Tochter geschmuggelt wurde.« Er käme sich dagegen leicht »phony«, also ›falsch‹ vor, mit seiner »Vorliebe für elegantere Frauen, Society etc.« (TB 21.12.1950). Diese »Vorliebe« wird durch Karen Horney gebrochen. Remarque erkennt sich demnach als ›falsch‹, wo er bezogen auf einen eleganten Lebensstil eigentlich ›richtig‹ liegt – anders als Karen mit ihrem »etwas schiefe Hut, den sie für elegant hält«. Umgekehrt mag sich Horney in der Welt der Eleganz und Society ›falsch‹ verhalten, angesichts einer Welt des »Tiefgangs« jedoch auf der ›richtigen‹ Seite sein – eine Paradoxie der Beziehung, wandeln sich doch die Machtverhältnisse je nach Deutung, während sie gleichzeitig und wechselbezogen nebeneinander bestehen. Horney hält Remarque von Beginn dazu an, Träume zu beobachten; sie sei der Meinung, »da sei zweifellos im Augenblick soviel Aufwühlendes, daß Störungen etc, Schwankungen kommen müßten« (TB 19.08.1950). Dementsprechend finden sich im Weiteren zahlreiche ausführliche Traumschilderungen in Remarques Tagebuchaufzeichnungen. Remarque verwendet denn einige Male den Ausdruck, etwas sei »für Karen« – ein Traum, ein »Stoff« (TB 09.11.1950) – so, als sei die »Materie« nicht nur seine Angelegenheit, sondern als halte er seine Person für einen Fall, den die Analytikerin mit Interesse verfolgt; gewissermaßen spricht er aus ihrer Perspektive. Mitunter sind die Grenzen zwischen Selbstanalyse und einer Analyse mit Analytikerin gänzlich verwischt, zum Beispiel wenn Remarque »Vorwärts auf den Wegen, Analytiker!« notiert und nicht klar ist, ob diese Ermunterung ihm selbst, Karen Horney (die physisch nicht anwesend ist zu diesem Zeitpunkt) oder einer Allgemeinheit Analysierender gilt (TB 12.10.1950). Er beobachtet sich selbst in der therapeutisch-analytischen Gesprächssituation, etwa eigene Widerstände gegen die Analyse: »Ärgerliches Ausweichen, als Karen darauf bestand: Zeichen, daß auf dem richtigen Wege« (TB 07.02.1951). Mit Horney bespricht er die Aufgabe der Analytikerin: »Suggestionen und Erkenntnisse« »aus sich heraus zu bringen«, »außer­dem zu richten, zu dirigieren« (TB 27.11.1950). Hier fasst Remarque spezifischer, was er, wie wir gesehen haben, anlässlich des Gesprächs vom 18.11.1950 als »gut für ihren Beruf; schwieriger für einen selbst« bezeichnet hat. Viel später, im Mai 1951, ähnlich: »Das Gefühl des Ausgepreßtseins nach Abend mit Analytikerin. Sie sind gewohnt, zuzuhören. Zu sehr« (TB 08.05.1951). Remarque beobachtet Horney als Analytikerin und bekundet aktives Interesse an der Praxis der Analyse, die über seine eigene Belange hinausreicht. Am 15. Dezember 1950 begleitet er Horney nach seinem Besuch bei ihr (er spricht »über mich«) zu einem Seminar (vgl. auch von Sternburg 1998: 349): Mit ihr zu ihrem Seminar. Schmales Vortragszimmer. Ärzte, die dort Psycho-analyse studieren. Stühlerücken, Husten, Interesse. Karen unconcerned. Über Träume; Be-

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deutung, Funktion, Warnung, Weg, Heilung, Expression des unbewußten, unterbewußten Ichs in vielen Variationen. Später mit Karen u. drei Ärzten zu ihrer Wohnung. Gefühl, mit vernünftigen, interessierten Menschen zu sprechen. (TB 15.12.1950)

Ein solches aktives Eintreten in die Sphäre der psychoanalytischen Ausbildung ist sicherlich weiterer Beleg für die im Vergleich zu klassischen Patienten-AnalytikerBeziehungen außergewöhnliche Konstellation zwischen Horney und Remarque. Die Vielfältigkeit der persönlichen Beziehung, die freundschaftliche, gegebenenfalls romantisch-sinnliche sowie therapeutisch-analytische Aspekte umfasst, bedingt die Vielfältigkeit der Zugänge Remarques zur Psychoanalyse und seiner Beobachtungen einzelner ihrer Ausprägungen: die Lektüre, die Gespräche, die Reflexion über die Position, Ausbildung, Funktion der Analytikerin. Remarque berichtet in diesem Sinne von einem Gesprächsabend in New York im Frühjahr 1951: Gestern abend zu Karen mit einer Flasche Hallgartener 49, Löwenstein, Wertheim, Rosenbez. Sauerbraten. Ein Bild kam, von einem tibet. Gelehrten, Röchling, das ich der armen Karen zerfetzte; sie wurde, unerklärlich ihr selbst, traurig, – u. wir mußten lachen, – der Klient war plötzlich zum Lehrer, der Lehrer zum Schüler geworden, u. wir forschten nach der verborgenen Neurose, – ›nicht wagen wollen‹ in ihr. (Für eine kleine Geschichte zu gebrauchen, – wie plötzlich der Patient über den Arzt mal die Oberhand kriegt.) Karen: Die Selbstverachtung, das Selbstmißtrauen bei mir sei ein Hauptproblem, anzufassen. Damit die Selbstdestruction. Das Weglaufen von mir selbst. Da liege vieles, zu entdecken Ich: daß bei mir das Selbstvertrauen etc. menschlich u. künstlerisch schwer zu trennen sei, – für mich wenigstens. Das eine sei intertwined mit dem andern. Das künstlerische Mißtrauen sei gerechtfertigt als Kritik u. Bremse. (TB 13.02.1951)

An dieser Passage zeigt sich exemplarisch die Gleichzeitigkeit aller Facetten der Beziehung: Remarque kann als bekannter Sammler (vgl. hierzu Schneider 2001: 118ff. sowie aktuell Schneider/Jaehner 2013) in der Rolle des Kunstexperten auftreten, was die Umkehrung des therapeutischen Verhältnisses verursacht. Die Emotionalität der geschilderten Szene, also Horneys Traurigkeit sowie das wohl befreiende Lachen über die groteske Wendung, zeugt von dem Vertrauen, das im Zuge der nun ein halbes Jahr währenden regelmäßigen Treffen entstehen konnte. Darauf basiert die Reziprozität, die Ausdruck findet in der Diskussion von Horneys Belangen, wenn sich auch ein gelindes Triumphieren Remarques über den Rollentausch mit dem Gewinn der »Oberhand« herauslesen lässt. Der geschilderte Dialog erhält zudem eine durchaus widerständige, rebellische Dynamik: Die von Horney zur Pathologie erklärte »Selbstverachtung«, das »Selbstmißtrauen« machen 19

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in der Remarques eigener Interpretation seine Qualität als Künstler erst aus. Wie sich die Psychoanalyse auf seine künstlerische Praxis auswirken könne, bespricht Remarque mit den Horneys übrigens bereits im Sommer 1950: »Wohl könne eine Bereicherung der Einfallsbasis erfolgen; zu den andern auch noch solche, in die die psychoanal. Einsicht nutzbar gemacht sei« (TB 02.09.1950). Remarque begreift sich erneut nicht als Patient, sondern ermächtigt sich wie im vorangegangenen Abschnitt der Analyse, indem er sie auf »nutzbare Einsichten« für sein Schaffen oder, wie im vorangegangenen Zitat vom 13. Februar 1950, »Brauchbares« »für eine kleine Geschichte« hin prüft. Zwei Wochen nach der Kunstkritik-Episode »lösten« sie, so Remarque, »Karens Depression«; begleitet von vier Flaschen Wein, bevor sie in einen Klub »marschierten«, wo er dann Karen Horney aus den Augen verloren hätte (TB 26.02.1951). Ein von Horneys Mitarbeiter Harold Kelman in seiner Biographie zitierter Brief untermalt die Reziprozität im Verhältnis zwischen ihr und Remarque, da sie in ihm von obigem Erlebnis der Umkehrung des therapeutischen Verhältnisses hin zum freundschaftlichen Dialog erzählt: Horney often wrote to me because writing helped clarify her feelings and ideas. Her letter of February 27, 1951 reads: Dear Harry: … The whole upheaval developing now – since last fall – has, I think to do with the completion of Human Growth. Remarque to whom I intimated the troubles in work, said something to this effect: that with the last book I had, as it were, finished one road and that something new was developing, which is not yet articulate. This struck me as right. Of course, if right, it is only a background. I am looking forward to talking with you – and I do not expect miracles – and I am grateful. Cordially yours, Karen (Kelman 1971: 30)

Wenngleich Horney Remarques Interpretation ihrer Belange letztlich nur für ›einen Hintergrund‹ hält, wertet sie ihn als kompetenten Gesprächspartner, und eventuell mehr als Freund denn als Analysanden. In den Erinnerungen Ruth Martons6, einer engen Freundin Remarques, findet sich hierzu die treffende Formulie-

6 Zu Ruth Marton (1912–1999), Autorin und Übersetzerin, Tochter des Schriftsteller-KritikerPaares Kurt und Alice Mühsam, existiert neben ihren eigenen publizierten Erinnerungen an Remarque (1993) nur äußerst sporadische veröffentlichte biographische Information (vgl. Hahn 2007; Landau-Mühsam 2010: 11; Nadeždin 2008: 120; Schneider 2001: 160), obwohl das Erich Maria Remarque-Friedenszentrum in Osnabrück den umfangreichen Briefwechsel zwischen Remarque und Marton beherbergt und es ein digitalisiertes Archiv der Familie

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rung, dieser habe »ob als Freund oder Patient oder vermutlich beides« viel Zeit mit Horney verbracht, »und in den späteren Jahren bezog er sich oft auf sie und das, was sie ihn gelehrt hatte« (Marton 1993: 106). Das Ende der faktischen Beziehung 1951/52 Auf den produktiven, miteinander geteilten New Yorker Winter (1950) und Frühling (1951) folgt der letzte gemeinsame Sommerurlaub in Porto Ronco, welcher eher unharmonisch endet, was zweierlei Aspekten geschuldet sein mag. Die Beziehungssituation mit Brigitte Horney betrachtet Remarque als zunehmend angespannt; er weiche ihr aus, wehre sie ab (vgl. TB 05.07.1951), es entstünden irritierende Momente beim gemeinsamen Abendessen zu dritt, worauf Remarque reflektiert: »Meine Schuld. Empfinde, was sie möchte, kann nicht, werde irritiert« (TB 10.07.1951). Wenngleich er zur selben Zeit weiterhin Träume aufschreibt und psychoanalytisches Vokabular verwendet (»Gespanntheit weiter. Mars oder Neurosen« (TB 16.07.1951)), taucht Karen Horney nur noch als Teil »der Horneys« auf, wenn er aufzeichnet, dass man gemeinsam gegessen oder sich von ihnen die Grippe geholt habe (vgl. TB 23.07.1951). Wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Irritationen zwischen Brigitte Horney und Remarque kommt es schließlich zu einem Zerwürfnis fast politischer Art, das gleichzeitig von persönlichen Beziehungsgeflechten durchzogen ist. Remarques frisch fertiggestellter Roman Der Funke Leben, in dem die Situation ­eines Konzentrationslagers kurz vor der Befreiung geschildert wird, stößt noch vor Erscheinen zunächst bei dem Schweizer Verleger Alfred Scherz auf solche Empörung, dass er den Vertrag zurückzieht (vgl. Remarque 1998/5: 142ff., 461f., 625). Es kommen die Reaktionen von Karen und Brigitte Horney hinzu. »Die beiden Horneys. Karen: warum so destruktiv. Brigitte: Man würde ablehnen, wenn nicht –«, gibt Remarque im Tagebuch am 4. August 1951 wieder, und beurteilt dazu: »Deutsche Reaktionen.7 Man darf Deutsche nie erinnern. Mörder, die empfindlich sind. Verkratzen« (1998/5: 462). In der Heftigkeit des Urteils ist die Enttäuschung der Ablehnung, nicht zuletzt durch Karen Horney, zu spüren. Zumal der Roman das

Mühsam gibt (vgl. archive.org/details/muehsamfamily (27.10.2012)). Den publizierten Erinnerungen Martons zufolge ist sie (wohl vermehrt über den Kontakt zu Remarque) durchaus aktiver Teil der deutschsprachigen EmigrantInnenszene in den Vereinigten Staaten gewesen. Wie im Falle der Biographie Brigitte Horneys sind die Erinnerungen Martons subjektiv gefärbt und verzichten auf Quellenverweise – und müssen demnach unter Berücksichtigung dieser Umstände konsultiert werden. 7 Für eine Übersicht der ›Reaktionen‹ auf Der Funke Leben in Deutschland siehe Glunz 1992; Schneider 1994; für Materialen zum Thema Der Funke Leben als KZ-Roman siehe Schneider/ Westphalen 1992.

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Projekt Remarques war, an dem er den gesamten Zeitraum der intensiven, weitestgehend analytischen Gespräche mit Horney über gearbeitet hat (vgl. 1998/5: 662), ihn also durch diese Begleitung vermutlich in enger Verbindung zu ihr sieht. Zum ersten Mal dokumentiert er einen politischen Unterschied zwischen sich und Horney. Unbekannt ist, ob es zuvor Konflikte politischer Art zwischen ihnen gegeben hat – zumindest ist dies der erste, der als Konflikt um die Radikalität der Position Remarques, Deutsche seien Mörder, notiert werden will. Dass Horney selbst bereits seit langem US-amerikanische Staatsbürgerin ist und Deutschland nicht viel später als er verlassen hat, dass sie sich als deutschsprachige ExilantInnen zunächst verbunden fühlten, wird von diesen Reaktionen überschattet. Im selben Eintrag hält er kryptisch fest: »Übersetzung von Karens Buch« (1998/5: 461). Hierbei muss es sich um eine unerwähnte Beteiligung Remarques, womöglich durch Endredaktion, an der Übersetzung von Horneys Werk The Neurotic Personality of Our Time (1937) aus dem Englischen ins Deutsche handeln, das 1951 mit Gertrude Lederer-Eckardt, der Schwiegermutter von Horneys Tochter Marianne (vgl. Paris 2006: 268), als Übersetzerin mit dem Titel Der neurotische Mensch unserer Zeit publiziert worden ist. Dafür spricht nicht nur der Zeitpunkt des Eintrags, sondern auch das deutschsprachige Buchexemplar von 1951, das in der Bücherliste zu Remarques Bibliothek erfasst wird (vgl. EMRC o. J.: 75). Anhand der Eingebundenheit Remarques in das Projekt Horneys zeigt sich einerseits, in langfristiger Perspektive, erneut die Gegenseitigkeit ihrer auch intellektuellen Beziehung, dass also Horney Remarque (gegebenenfalls ›mittlerweile‹, nach den analytischen Gesprächen und seiner Horney-Lektüre) für befähigt hält, an einer fachlichen Übersetzung teilzunehmen. Andererseits fällt die Einbindung in eine Zeit, in der eine abnehmende Frequenz der analytischen Gespräche nachverfolgt werden kann, und könnte als Zeichen einer Ablösung Remarques von Horney und vice versa interpretiert werden. Remarque beendet den Eintrag mit den Worten, er sei »gestört durch Buchreaktionen. Gestört, nicht geändert« (Remarque 1998/5: 461). Der nächste Eintrag erfolgt erst am 21. August 1951, was unter anderem an der Ankunft Paulette Goddards ungefähr am 8. August 1951 liege könnte. Sicherlich trägt dieses Ereignis, das auf eine beginnende Stabilität oder Seriosität in Remarques Liebesbeziehung mit Goddard hinzuweisen scheint, zu den Spannungen zwischen ihm und Karen und Brigitte Horney bei. Remarque schreibt am 21. August 1951: Die Horneys. Scherz hatte Angst vor Buch. Horneys lasen es. Lehnten es ab. Unerquicklicher Abschied, – nicht deshalb. Wegen Paulette. Getäuschte Erwartungen. Mutter – Tochter plötzlich. Und fremd dazu, wegen der Reaktionen. (1998/5: 462)

Die Loyalitäten sind klar verteilt, und die zumindest an der Oberfläche harmonische Beziehung zu dritt, wie sie noch ein Jahr zuvor möglich gewesen ist, kann mit der Ankunft Paulette Goddards nicht aufrechterhalten werden. Die Reaktionen auf 22

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den Roman »verfremden« zusätzlich. Die auch vorher stets vorhandene MutterTochter-Dyade tritt für Remarque »plötzlich«, also überraschend zutage. Dabei scheint er sich abrupt in der Rolle des Dritten, gegen den sich die Dyade verbunden hat, wiederzufinden (vgl. Simmel 1992: 143). Obgleich darauf noch weitere Begegnungen in New York folgen, nimmt die therapeutisch-analytische Konstellation spätestens hier ihr Ende. Eine letzte Aufzeichnung zu Horney beschreibt einen Abend in New York im Frühsommer 1952, an dem der japanische Autor Daisetz Suzuki zu Gast bei Karen Horney ist:8 Einen Abend bei Karin H. Prof. Suzuki, – belagert von einem halben Dutzend Psychoanalytikern, die die dümmsten Fragen stellten. Der alte Mann mit der Aura passiver Abwehr, – wenig zu erfahren dadurch. (TB 10.06.1952)

Erkennbar steht Remarques Wahrnehmung der Psychoanalytiker in scharfem Kontrast zu seinem Seminarbesuch im Dezember 1950, bei dem er noch das »Gefühl, mit vernünftigen, interessierten Menschen zu sprechen« hatte (TB 15.12.1950). Seinen Tagebüchern ist keine weitere Zusammenkunft mit Karen Horney mehr zu entnehmen, einmal kommentiert mit »Nicht gesehen: Peter, Horneys, andere. Aus keinem anderen Grund, als dem, keine Zeit zu haben« (TB 23.11.1952). Die Wirkung Horneys und ihrer Vermittlung der Psychoanalyse bleibt jedoch jenseits der persönlichen Treffen eindrücklich bestehen. Nach den Spannungen im Sommer 1951 reflektiert er zum Beispiel im Winter 1951 im Hinblick auf seine private Situation, er sei »wie jemand, der viel versteckt hat u. sich tot gestellt hat«. Dieser Reflexion und ihren Ausführungen schließt er an: »Psychoanalytisch bezeichnend« (Remarque 1998/5: 463). Noch Anfang 1954 finden sich in seinen Tagebüchern Einträge, die im Stile Horneys Selbstanalyse verfasst worden sind (vgl. 1998/5: 488). Karen Horney erkrankt im Oktober 1952 an Krebs; vermutlich Ende Oktober schickt Remarque einen rührenden Brief ab, der mit den Worten »Mein geliebter Engel« beginnt: Das habe er nun davon, schreibt Remarque, dass er längere Zeit nicht in New York gewesen sei und auf sie aufgepasst habe; er erinnert an die Zeit, als er noch »sonntäglich regierte am Tisch und Kamin« und man zu »mitternächtigen Stunden« durch »Schnee und Eis im Central Park« spaziert sei, während er »ein neurotisches Geheul ausstieß, darüber aber keinen Augenblick vergaß«, Horney »die Psychoanalyse zu erklären«. Er mahnt an: »Vorläufig brauchen wir Dich alle noch dringendst für unsere Neurosen, Paraneurosen und Ausflüge in die Schi-

8 Zu Karen Horneys Bekanntschaft mit Suzuki und ihrer Faszination bezüglich des japanischen Zen-Buddhismus sowie ihren Interpretationen dessen für die Psychoanalyse vgl. DeMartino 1991.

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zophrenie. Du hast noch kein Recht, müde zu sein […]«. Es sei ferner ein Wein reserviert für die Zeit der Genesung (Remarque 1998/5: 154f.). Mitte November schreibt er erneut, und hier sind mehrdeutige Anspielungen auf die Beziehung noch prägnanter enthalten: »Engel«, beginnt der Brief, »ich schicke Dir hier zu Thanksgiving das, womit unsere Liebesaffäre begonnen hat: Wein«, und endet humorvoll mit »Dein Eusebius (The phlegmatic-vindictive Typ)« (Horney 1993: 204). Remarque markiert sich also ironisch in seiner Rolle des Analysanden, nimmt sie gleichsam völlig an, reduziert sich selbst auf sein »neurotisches Geheul« und reflektiert seine zeitweise ›Übernahme‹ der Rolle Horneys, der er die Psychoanalyse »zu erklären« »nicht vergaß«. Vor dem Hintergrund der existentiellen Situation zählen diese Überschreitungen oder Spannungen jedoch nicht mehr, die Aushandlungen sind überflüssig und können ironisiert werden. In Remarques Tagebuch finden sich Ende November 1952 Aufzeichnungen bezüglich des Krankheitsverlaufs Horneys (TB 26.11.1952). Der wahrscheinlich letzte Brief Remarques an Horney liegt einem Strauß Tigerlilien bei, mit dem er ihr »ein bißchen Frühling, Mai, Porto Ronco, Moscia und Welt« schicken will. »Wenn wir wieder munter sind, wollen wir aber nur noch das Edelste futtern und trinken«, heißt es weiter (Remarque 1998/5: 156). Jenseits aller Konflikte sind hier Remarque und Horney wieder zu einem »wir« geworden, eine Zweierbeziehung, die keiner rollengebundenen Bestimmungen darüber hinaus bedarf. Am 4. Dezember 1952 stirbt Karen Horney an den Folgen der Erkrankung. Mit nachstehendem Eintrag endet somit auch die zumindest leiblich präsente Beziehung zu Karen Horney: Mittags 12 Uhr Trauerfeier Karen H. Nicht so geschmacklos, wie man es erwartet. Blumen, Orgelspiel. Fast Tränen, – aber dann als Prof. Dr. Tillich sprach, Fassung durch seine entsetzliche Aussprache des Englischen. Schnitzer: To know … one has to look at the behind, – anstatt of: beyond. (Hatte mit Trauer nichts zu tun; nur mit Fassung) War sehr gut gemeint; er hatte Tränen zum Schluß; aber Prediger sind Prediger. Ich ging zu Parke, Bernet, Tische ansehen. Wußte, warum. Eines hat mit dem anderen nichts zu tun. die Trauer nichts mit dem Ritual der Trauer. Sonderbar: die Menschen, die einem nachher auf der Straße begegnen; die Sinnlosigkeit ihrer Existenz (zwei, arguing über Business, andere, Frauen, über andere Frauen) u. der Trost zur selben Zeit. Schlafen mit Tabletten. Erinnerung an Goethes Ausweichen. Das sanfte Licht, die klare Luft, der angebetete Nachmittag des Lebens. (TB 06.12.1952)

Auch nach Karen Horneys Tod ist Remarques Anerkennung ihrer psychoanalytischen Inhalte durch Transfer an andere zu belegen. Ruth Marton berichtet von privaten Zusammenkünften mit seinem Agenten und Übersetzer Denver Lindley (zu Lindley vgl. Remarque 1998/5: 556) im Anfang des Jahres 1958, bei denen Remarque folgendermaßen argumentiert haben soll: 24

Erich Maria Remarque und Karen Horney

Er hatte Denver erklärt, er weigere sich nur noch aus neurotischer Verblendung, zuzugeben, daß seine Ehe ein Fiasko sei – aus und vorbei – genauso wie er, Boni, ein Idiot gewesen sei und viel zu lange sein Leben ruiniert habe aus lauter Angst vor dem endgültigen Bruch, bis die gute alte Horney ihm dies und jenes beigebracht hatte; all diese Weisheit gab er nun an Denver weiter. […] Als Denver mir von diesen Ratschlägen, die er erhalten hatte, erzählte und von dem Vortrag über Karen Horney, war er offensichtlich sehr beeindruckt. »Bei Psychiatern ist alles nur Theorie«, bemerkte er, »bei Boni ist es das Leben selbst«. (Marton 1993: 130ff.)

Letztlich wird nicht nur anhand solcher Zeugnisse, sondern gerade mit dem posthum erschienenen Werk Remarques Schatten im Paradies/Das gelobte Land der Einfluss Horneys evident: Es hat in seinen Fragmenten die Leben Horneys und Remarques überdauert, ist aber aus dem »Buch N.« entstanden – auf Anraten Horneys und mit einem hohen Maß an Introspektion geschrieben (vgl. Schneider in Remarque 1998/2: 436f.; Westphalen in Remarque 2011: 462f.). Remarque als »Neurotiker«? Zu Remarques Rezeption der Psychoanalyse Horneys Wie im Vorfeld erörtert, haben die therapeutisch-analytischen Gespräche im Sommer 1950 in Porto Ronco begonnen. Dem kompletten Tagebucheintrag vom 15. August 1950 folgend, scheint Remarque die eigene Situation zu erfassen bemüht, in der er das »Gefühl« habe, »die guten Gedanken, die plötzliche Fülle nicht jemand geben zu können«. Diese Selbsterkenntnis möchte er »noch ausdenken u. mit Karen H. besprechen« (Remarque 1998/5: 428) – ein Verweis auf die entstehende therapeutisch-analytische Beziehung. Die Aneignung des Gelesenen spiegelt sich in der Verwendung des von Horney entwickelten Vokabulars wider, mit welchem Remarque weiterfolgende reflexive Interpretationen notiert. Er gebraucht den Begriff der »Neurose«, wie ihn Karen Horney definiert, nämlich als den Zustand subjektiv empfundenen Leides in allen möglichen Ausprägungen, wobei Horney den »neurotischen Prozess« für eine »spezielle Form menschlicher Entwicklung« hält, die dem »gesunden menschlichen Wachstum« entgegensteht (Horney 1975: 11). Entscheidend für das Horneysche Modell ist die Idee der »sittlichen Erfordernis der Evolution«, die bedeute, dass »in jedem Menschen konstruktive evolutionäre Kräfte vorhanden« seien, die diesen »zur Verwirklichung der ihm gegebenen Möglichkeiten« drängten (1975: 13). Dem Modell liegt die Vorstellung eines »wahren Selbst« (»real Self«) (Horney 1950: 15) zugrunde, von dem sich das Individuum im Zuge des kindlichen Entwicklungsprozesses durch bestimmte Umstände, allen voran den der »Wettbewerbsgesellschaft«, in welcher das Diktat des Strebens nach Ruhm und Ehre vorherrsche, »entfremde« (Selbstentfremdung; »alienation from Self«) (1950: 19). Auf die Entfremdung reagiert das Individuum laut Horney durch die »umfassen25

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de neurotische Lösung« der »Selbstidealisierung« (»ideal Self«), einer Phantasie, mithilfe derer eine Ersatzidentität geschaffen werde und die »immer eine generelle Selbstverherrlichung« einschließe (1950: 20). Horney macht früh die Institution der »Analyse« – also Therapie – stark: »Erst in der Analyse« könnten bestimmte Facetten der Neurosen »zum Vorschein kommen« (1950: 21); »nur die Analyse kann erhellen«, welche »treibende Kraft hinter« neurotischen Zügen stehe (1950: 27). Als Neurose zählen so alle »inneren Konflikte« »zwischen den konstruktiven Kräften des wahren Selbst und den obstruktiven Kräften des Systems des Stolzes« (1950: 414). Das Verfahren der Typologisierung, wodurch Horney Phänomene und Verhaltensweisen scheinbar zugänglich macht, sollte generell als eine wichtige Ausprägung der Horneyschen Theorie gewertet werden. Horney klassifiziert so etwa drei Möglichkeiten eines Kindes, sich anderen gegenüber zu verhalten, im Hinwenden, Abwenden und Gegenwenden zu anderen Menschen (vgl. 1950: 19ff.), oder die von Remarque bald adaptierte Klassifikation von »neurotischen« Verhaltensweisen in einen »expansiven« (»expansive«), »selbstverleugnenden« (»self-effacing«) und »resignierten« (»resigned«) Typ. Der expansive Typ verherrliche sich selbst, der selbstverleugnende fixiere sich auf die Liebe und die Selbstkritik, und für den resignierten Typ sei »Freiheit« das Wichtigste (1950: 76f.). Untergruppen des expansiven Typs bezeichnet Horney weiterführend als »narzisstischen« (»narcissistic«), »perfektionistischen« (»perfectionistic«) und »arro­ gant-rachsüchtigen« (»arrogant-vindictive«) Typ. Remarque identifiziert sich als selbstverleugnenden Typus und benutzt diese Kategorie häufig; mitunter auf durchaus humorvolle Art: »Karen lachte, als ich sagte: Unter Neurotikern: der self effacing Type ist mir dann doch noch sympathischer als der arrogant vindictive« (TB 24.09.1950). Er übernimmt auch im Zuge der Lektüre die Ausdrücke »alienation from/of Self« (Horney 1950: 21; 35; deutsch: Selbstentfremdung), »morbid dependency in love«, »lovable«, »neurotischer Stolz«, »idealisiertes (Neurotic) Selbst« (Remarque 1998/5: 428 f.). Diese Übernahme erfolgt sowohl in der Originalsprache des Manuskriptes, Englisch, sowie auch in der Übersetzung ins Deutsche sowie in eigentümlicher Mixtur, etwa »Alienation von einem Selbst, das nicht acceptabel war« (1998/5: 431). Gleichzeitig entwickelt er eigene Metaphern: Er bezeichnet sich idiosynkratisch als »Opferkrebs« (1998/5: 428), womit er aller Wahrscheinlichkeit nach auf sein Sternzeichen (Krebs) und die eigene Leidensbereitschaft referiert (zu Remarques Faible für Astrologie vgl. zum Beispiel Marton 1993: 142; Remarque 1998/5: 437; zum »Opfer« 1998/5: 431; Marton 1993: 104). Mithilfe dieser Begriffe entfaltet Remarque eine selbstreflexive Deutung nicht nur seines, sondern auch Natashas Charakters – der gegenüber er »sofort den Wunsch« verspürt, »Karens Buch zu schicken« (Remarque 1998/5: 430). Über sich schreibt Remarque zunächst, ihn träfe, dass er »mehr sein oder scheinen« wollte, und zwar »immer« (1998/5: 428). Ferner habe er in einem »Gespräch 26

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mit Röschen«, also seiner Haushälterin in Porto Ronco, Rosa Kramer (vgl. Tims 2003: 76), »eine Quelle meiner Neurosen vielleicht gefunden«. Mit »Neurosen« sind das zuvor beschriebene »Mehr-Scheinen-Wollen« und, mit Horneyschen Worten, eine »fast ›morbid dependency in love‹«, eine fast krankhafte Abhängigkeit in der Liebe gemeint. Die Ursache, so Remarque, könne die eigene Kindheit sein (Remarque 1998/5: 428f.). Zweierlei scheint hieran bemerkenswert: Zunächst, dass die unmittelbare Gesprächssituation mit einer anderen Person als Karen Horney Anstoß zur Verfolgung der selbstreflexiven Gedanken gibt. Ferner, dass Remarque seinen Fokus auf sein Kindheitserleben legt, das er besonders auf die Krankheit und den frühen Tod seines älteren Bruders Theo hin zentriert, neben dem sich Remarque »zurückgesetzt« gefühlt habe, was in ihm in seiner autobiographischen Interpretation »Lebensunsicherheit, Einsamkeit, Ablehnung etc.« sowie das »Gefühl: nicht ›lovable‹ zu werden« ausgelöst habe (1998/5: 429). Dafür existiert in Horneys Kindheitsmodell nun die Prämisse eines »wahren Selbst als innerer Kraft«, stellt die Kindheit eine Etappe dar, die essentiell zur »Selbstrealisation« hin verlaufen soll (vgl. 1950: 17f.). Einer anthropologischen Konstante gleich geht Horney von einer Neigung eines jeden Individuums (»human individual«) zum »Wachstum« aus, womit sie die freie, »gesunde« Entfaltung der im Individuum angelegten Möglichkeiten meint (1950: 17, Anm. 1). Dieses »Wachstum« kann durch die Umwelt gestört werden, wodurch laut Horney bei einem Kind eine »Grundangst« (»basic anxiety«) entsteht, die dann alle neurotischen Züge nach sich zieht; insbesondere das erwähnte Streben nach Ruhm und Ehre mit der einhergehenden Selbstidealisierung und daraus folgendem Selbsthass bei der Nichtrealisation dieser (1950: 18). Besondere Kindheitserfahrungen ­seien bedeutsam für den »selbstverleugnenden« Verhaltenstyp, dem sich Remarque zurechnet: In der Regel sei dieser aufgewachsen »im Schatten« einer anderen Person, eines Geschwisters, oder dominanter Elternteile (vgl. 1950: 221f.). Um sich einem solchen Umstand anzupassen, entwickle der selbstverleugnende Typ Qualitäten, die ihm besonders »liebenswert« (»lovable«) vorkommen (1950: 222). Die frühe Erfahrung, um die Liebe mit jemandem konkurrieren zu müssen, lasse sein Liebesbedürfnis in ein neurotisches Ausmaß wachsen, sodass eine Abhängigkeit von anderen entstünde (1950: 226). Daran anschließend erinnert sich Remarque dem Eintrag zufolge bewusst an einzelne Kränkungen während seiner Kindheit, aus der die Verbindung der Empfindungen von »Weltangst, Chaos, Sinnlosigkeit« mit einer übertriebenen Sinnbetonung der Liebe, die für das Gegenteil stehe, resultiere (Remarque 1998/5: 429). Er scheint sich somit in dem Gelesenen wiederzufinden, seine biographische Erzählung fügt sich in Horneys Schema ohne Widerstand ein. Er sieht bei sich Ausprägungen der neurotischen Mechanismen, wie Horney sie postuliert, zum Beispiel im »Day dreaming; Luftschlösser bauen, – mein großes Laster, – typisch für Alienation of self« (1998/5: 430). 27

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Es folgt eine schnelle analytische Entwicklung, die in den auf obigen Tagebuchvermerk folgenden Tagen von Remarque niedergeschrieben wird und in der Karen Horney zunehmend in der Rolle der Analytikerin ›auftritt‹. Sie sei »erfreut« gewesen über die »Funde« Remarques, habe vor Schwierigkeiten gewarnt, es »sei noch Arbeit, viel sogar, die Erkenntnis praktisch wirksam zu machen«. In der Rolle des Analysanden verzeichnet Remarque die »Erleichterung«, viele seiner »Schwächen« und ihm »unerklärlichen schlechten Qualitäten, wie Snobismus, Angeberei etc.« nach der Lektüre und im Gespräch mit Horney »erklärt, eingeordnet, verständlich« zu befinden (Remarque 1998/5: 431f.). Die Auseinandersetzung mit Natasha erfolge nun in »anderen ›terms‹ dazu«, und »Karen bestätigte« seine Interpretationen (1998/5: 432), wobei die Bestätigung einmal mehr von der Rollenvermischung zeugt, da sie wie ein professionelles Urteil zur Interpretationsfähigkeit Remarques wirkt, der damit eher in der Rolle eines Analytikers erscheint denn der des Patienten. Man kann anhand des Tagebucheintrags am 18. August 1950 nicht nur die weiterfolgende Adaption des Vokabulars ersehen, sondern Remarques Eindruck, er habe Horney »ahnungslos« etwas von sich erzählt, das im Zusammenhang mit der Lektüre weiter eingebunden werden kann: Zur »Self-destruction«, dem typischen Neurosen-Faktor, – self-effacing Type – meine Trinkjahre, das absichtliche Verbummeln nach meinem ersten Buch; – den Erfolg »appeasen« – zeigen, daß man nicht durch ihn anders geworden sei, (Irr-Schluß) das Schicksal »appeasen«. Die Überbescheidenheit, das Einstimmen in Kritik, das Gefühl, durch Schwindel so weit gekommen zu sein. Trinken, um »außer-sich« zu sein, wie ich Karen (vor dem Lesen ihres Buches) ahnungslos erklärte. »Außer-sich«, ein »anderes«, von »sich weg« – geglaubt, daß ich nicht tränke aus Kummer etc, sondern aus Freude am Leben, – ja, aber um zu Über-Leben; Über mich-weg-leben. Nicht tiefer mich leben. (TB 18.08.1950)

Hier ordnet sich Remarque durch die Auflistung seiner ›Symptome‹ weiter in die Typologisierung Horneys ein. Er sieht Züge der »Selbstzerstörung«, wie sie für den »selbstverleugnenden« Neurotiker-Typ kennzeichnend seien: Dieser werde seine inneren Konflikte zu lösen versuchen, indem er sich anderen unterordne und eigene Leistungen herunterspiele, beschwichtige (»to appease«), um auf keinen Fall für arrogant oder überheblich gehalten zu werden (vgl. Horney 1950: 215ff.). Daraufhin rücken Selbstvorwürfe in Remarques Introspektionen in den Fokus. So am 20. August 1950, an dem im Tagebuch auf die Frage »Was hast du, großer Liebender, mit all deiner Hingabe deiner Familie gegeben?« die Selbstbeschuldigung folgt, nicht aktiv die nazistische Ermordung seiner Schwester Elfriede Scholz (1903–1943)9 verhindert und zu wenig seinen Vater unterstützt zu haben. 9 Elfriede Scholz, Remarques jüngste Schwester, wegen »Wehrkraftszersetzung« in Polizeihaft genommen, ist am 29. Oktober 1943 wegen »monatelangen maßlos hetzenden defätistischen

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»Du wolltest nie wirklich geben«, schreibt er und: »Denk an dein Gerede über Wohltätigkeit. Was hast du schon getan?« (Remarque 1998/5: 437). Sollte diese fast kathartische Passage einem Transfer Horneyscher Konzepte entspringen, kann sie womöglich als Remarques Unternehmung interpretiert werden, sein »idealisiertes Selbst« (hier der »große Liebende«, der er gerne zu sein glaube) zu dekonstruieren und sich so seinem »wahren Selbst«, das sich Niederlagen und Versagen eingestehen muss, zu nähern. Ob Remarque sich nun in der Tat nach dem Schema dieses Neurotiker-Typus verhält und eben dies im Tagebuch dokumentiert oder ob er sich nach der Lektüre gleichsam einer selbsterfüllenden Prophezeiung in das typologische Verhalten versenkt, kann sich anhand der Ausführungen in diesem Beitrag nicht mit aller Sicherheit feststellen lassen. Gleichwohl konnte durch die vorgelegte Analyse eine der Lücken in der Remarque-Forschung, wie sie eingangs von Heinrich Placke und Katharina Schulenberg formuliert worden ist, geschlossen werden. Zwar kann nach Sichtung des Materials, vor allem der Tagebücher Remarques, von einer klassischen psychoanalytischen Therapie Remarques nicht ausgegangen werden. Trotzdem stellt die Beschäftigung mit diesem Thema unter Rückgriff auf Techniken (wie die Selbstanalyse) und ein spezifisches Vokabular (wie aus der Neurosenlehre) Karen Horneys einen wichtigen Bestandteil im Leben Remarques nach 1950 dar. Zugleich wird mit der Dokumentation einer teilweise komplizierten, aber rührenden Freundschaft zweier herausragender Persönlichkeiten ein Stück Zeitgeschichte des vergangenen Jahrhunderts geborgen. Daran mit Studien zum literarischen Werk Remarques, allen voran des Textes Schatten im Paradies/Das gelobte Land, anzuschließen und in solchen psychoanalytische, vermutlich Horneysche Motive zu untersuchen, bleibt vorerst ein spannendes und erkenntnisreiches Desiderat der interdisziplinären Remarque-Forschung.

Äußerungen gegenüber einer Soldatenfrau« vom faschistischen Volksgerichtshof in NaziDeutschland zu Tode verurteilt und mit dem Fallbeil geköpft worden (Weisenborn 1974: 315). Aus dem Urteilsdokument geht eindeutig hervor, dass Scholz mit Remarque in Verbindung gebracht wurde (vgl. 1974: 317), und einem Zeitzeugen zufolge soll der exekutionsverantwortliche Faschist Roland Freisler gesagt haben, sie sei zum Tode verurteilt worden, da man ihren Bruder »nicht greifen« hätte können – sie müsse anstelle seiner leiden (Junk 1988: 106; vgl. ferner Glunz/Schneider 1997). Remarque erfährt von der Ermordung erst 1946: »Vor wenigen Tagen Brief von meiner Schwester Erna. […] Meine Schwester Elfriede 1943, wegen staatsfeindlicher Bemerkungen, gefangen, von einem Volksgerichtshof verurteilt, im Dez. 1943 hingerichtet«, heißt es dazu am 11. Juni 1946 in seinem Tagebuch (Remarque 1998/5: 393).

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Roman R. Tschaikowski, Nadezhda A. Gossmann, Valentina V. Michaleva, Svetlana B. Christoforova

Erste Übersetzungen des Romans Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque ins Russische

Erich Maria Remarque ist einer der bekanntesten und beliebtesten fremdsprachigen Schriftsteller in Russland. Seine Werke werden seit über 85 Jahren ins Russische übersetzt und herausgegeben. Das Leserinteresse an Remarque in Russland war schon immer sehr groß, obwohl man politisch bedingt oft versuchte, dieses Interesse zu unterdrücken. So waren seine Werke in der Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts inoffiziell verboten und wurden aus ideologischen Gründen weder übersetzt noch herausgegeben. Die darauffolgende russische Generation war darauf angewiesen, auf neue Übersetzungen und neue Ausgaben seiner Werke zwanzig Jahre zu warten. Aber die Spur, die die ersten Romane von Remarque in den 1920er und 1930er Jahren bei den russischen Lesern hinterlassen hatten, war so bedeutend, dass sie ihn auch in den 1930er und 1940er Jahren nicht vergessen haben, als seine Werke für sie im sowjetischen Russland damals unerreichbar geworden waren. Als seine Romane in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in der Sowjetunion wieder zur Publikation freigegeben wurden, fanden sie sofort Resonanz nicht nur bei den Lesern, die Remarque wegen seiner zwei ersten hervorragenden Romane liebgewonnen hatten, sondern auch bei denen, die ihn erst jetzt kennen lernten. In Zeiten der Stagnation während der Regierung Brezhnevs (Ende der 1960er– 1970er und in den 1970er–1980er) grenzte der sowjetische ideologische Apparat die Herausgabe seiner Werke erneut ein. Zum Glück folgte die Zeit der Perestroj­ka (Mitte der 1980er) und der russische Leser wurde mit den Büchern seines deutschen Lieblingsautors überhäuft: Es erschienen mehrbändige Sammelwerke, solide Einbänder und einzelne Ausgaben aller seiner Romane. Russische Verlage haben sich moderne typographische Ausrüstung angeschafft, und Remarques Bücher bekamen farbenfrohe Einbände, was ebenfalls dazu beitrug, das Interesse an seiner Prosa erneut zu erwecken. Heutzutage sind alle Romane von E. M. Remarque, von verschiedenen Verlagen herausgegeben, auf dem russischen Büchermarkt zu finden. Der Hunger an Remarques Werken ist damit endlich gestillt. 33

Tschaikowski / Gossmann / Michaleva / Christoforova

Viele seiner Romane wurden mehrfach übersetzt. Allerdings werden in der Regel immer die gleichen Übersetzungen neu herausgegeben, während andere Übersetzungen zu bibliographischen Raritäten geworden sind. Dieser Prozess bedarf genauer Untersuchung. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es auch Übersetzungen von Remarques Romanen gibt, die bereits in Vergessenheit geraten und selbst Remarque-Kennern unbekannt sind. Unser Artikel ist die erste Arbeit aus einer Essay-Reihe, die den Übersetzungen von Remarques Prosa aus den Jahren 1928–1938 gewidmet ist. In diesem Beitrag werden wir uns mit den ersten russischen Übersetzungen des Romans Im Westen nichts Neues befassen, die aus unserer Sicht schon damals zu übersetzerischen Entdeckungen gehörten. Sie spielen eine große Rolle, wenn man nachvollziehen will, wie russische Leser Remarques Werke kennen gelernt haben. Diese Frage beschäftigte bereits fragmentarisch Magadaner Remarque-Forscher [Savarsina, Michaleva]. In unserer Essay-Reihe beabsichtigen wir, die Übersetzungsgeschichte der vergessenen Übersetzungen von Remarques Werken systematisch aufzuarbeiten und sie vorzustellen. Die Möglichkeit dieser Untersuchungsarbeit entstand sowohl dank der Autorenarbeit anhand der Bücherbestände der Nationalbibliotheken Frankreichs und Österreichs (2002, 2007, 2009) und der Universitätsbibliotheken Deutschlands, als auch dank des bibliographischen Band es von J. Abysov A izdavalos’ eto v Rige [Abysov, 2006]. Außerdem bedanken wir uns für die Hilfe bei den Kollegen Dr. T. Schneider (Osnabrück, Deutschland), A. und E. Ozols (Riga, Lettland), E. Tamachina-Plotto (Paris, Frankreich). Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues war sein erster Roman, der ins Russische übersetzt wurde, obwohl Remarque zu diesem Zeitpunkt bereits drei Romane geschrieben hatte (Die Traumbude, Gam und Station am Horizont), von denen zwei in den 1920er Jahren erschienen sind. Die Übersetzungsgeschichte von Remarques Im Westen nichts Neues enthält einige interessante Fakten. So erschien z. B. die erste Übersetzung des Romans als Buchausgabe dank Z. Kaganski unmittelbar nach der Beendigung des Vorabdrucks in der Berliner Vossischen Zeitung [Erich Maria Remarque. Bibliographie, 1989: 9] (am 9. Dezember 1928) in Berlin und ging damit der ersten Buchausgabe des Romans in der Originalsprache um einen Monat voraus. Als Buchausgabe erschien das Original erst am 29. Januar 1929. Das Erscheinen der ersten Romanübersetzung in Berlin stellt eher eine Gesetzmäßigkeit als eine Zufälligkeit dar. Diese für jene Zeit ungewöhnlich schnelle verlegerische Vorgehensweise lässt sich erklären. Nach der Oktoberrevolution in Russland wanderten viele russische Verleger aus. Die meisten von ihnen siedelten sich in Berlin und in Riga an. Seit dem Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts entstanden in Berlin immer mehr Verlage, die die Literatur in russischer Sprache veröffentlichten: »Vozrozhdenie«, »Mysl«, »Ogonki«, »Petropolis«, »Skify«, »Slovo«, Z. I. Grzhebins Verlag u. a. [Juniverg]. 34

Übersetzungen von Im Westen nichts Neues ins Russische

Die verlegerische Aktivität russischer Immigranten in Berlin zu jenem Zeitpunkt wurde dadurch unterstützt, dass dort viele bekannte russische Schriftsteller zu verschiedenen Zeiten bereits gelebt und gearbeitet hatten. Unter anderen waren das M. Gorkij, A. Tolstoj, A. Belyj, N. Berberova, V. Chodasevich, V. Nabokov, V. Shklovskij, A. Remizov, G. Ivanov, I. Erenburg, B. Pasternak u. a. Berlin wurde auch von solchen bekannten russischen Schriftstellern wie M. Zwetajeva, S. Jesenin und W. Majakowski besucht. Über S. L. Kaganski, der einer solcher Berliner Verleger war, gibt es sehr wenige Informationen. Er wurde offensichtlich im Jahre 1884 in der weißrussischen Stadt Lida geboren, lebte in Litauen und in Russland. In Moskau gründete er die Zeitschrift Rossija, die nach nicht bestätigten Angaben in Berlin gedruckt wurde. S. Kaganski war ebenfalls der Inhaber des Verlags »Rossija«. Auf dem Titelblatt der Übersetzung des Romans Im Westen nichts Neues finden wir die Angabe: Ausgabe von Z. Kaganski. Das bedeutet, dass Z. Kaganski in 1928 offiziell noch kein Verlagsinhaber war. Sein eigener Verlag wurde offensichtlich erst im Jahre 1930 gegründet und hieß »Buch und Bühne«. In diesem Verlag erschienen Bücher von V. Katajev, L. Leonov, J. Olesha, A. Tolstoj u. a. [Ravdin, 2013: 202]. Die russische Presse bezeichnet Z. Kaganski als einen »Gauner«. So wurde er beispielweise von M. Bulgakow genannt, dessen Romane er ebenfalls gedruckt hatte [s. z. B. Vladimirov, 2000: 15], obwohl sich später herausstellte, dass Z. Kaganski juristisch gesehen alle Rechte eines gesetzlichen Vertreters von M. Bulgakow gehabt hatte [Čudakova, 1988: 373]. Wie man nach seiner Biographie urteilen kann, war Z. Kaganski ein tätiger und unternehmungslustiger Mensch. Er verließ mit der Zeit Deutschland Richtung Paris, wo er als literarischer Agent arbeitete. Danach ging er nach Casablanca, Marokko, wo er unter seinem Namen einen Verlag gründete und Bücher in französischer Sprache herausgab. Verwunderlich ist Kaganskis Feingefühl als Verleger: Er erkannte bereits aus den ersten Romankapiteln in der Vossischen Zeitung sowohl die Bedeutung des ganzen Romans als auch die schöpferische Kraft seines Autors. Die von ihm beauftragten Übersetzter haben die in der Zeitung abgedruckten Kapitel direkt nach jeder Zeitungsausgabe übersetzt, sodass der ganze Roman bereits im Dezember 1928 übersetzt, zum Druck gesetzt und herausgegeben wurde. (Man kann aber auch annehmen, dass Z. Kaganski ein Typoskript des Originals noch vor der kompletten Veröffentlichung des Romas in der Vossischen Zeitung gehabt hatte. In diesem Fall konnten die Übersetzer mit dem ganzen Text arbeiten, ohne auf die nächste Zeitungsausgabe warten zu müssen). Auf dem Titelblatt der von Z. Kaganski unternommenen Übersetzung steht: »Die einzige autorisierte und vollständige russische Ausgabe«. Diese Angabe kann bezweifelt werden, weil Erich Maria Remarque des Russischen nicht mächtig war und damit die Autorisierung der Übersetzung gar nicht vornehmen konnte. Möglicherweise benutzte Z. Kaganski das Wort »Autorisierung« in einer anderen Bedeutung und zwar als »vom Autor für die Verbreitung oder Übersetzung in eine 35

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andere Sprache genehmigt«. Allerdings fehlen jegliche Informationen darüber, dass Remarque Kaganski die offizielle Erlaubnis für die Übersetzung gegeben haben sollte. Auf der Rückseite des Titelblattes ist die Angabe zum Copyright vorhanden: »Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1928 by Ullstein A. G., Berlin«. Diese Angabe bestätigt das Copyright des Verlags Ullstein auf den Roman selbst, aber nicht auf dessen russische Übersetzung. In der russischen Presse sind Aussagen über Z. Kaganski zu finden, der sich anscheinend »mit der Ausgabe des Romans ›Im Westen nichts Neues‹ von E. M. Remarque skandalös einen Namen gemacht hatte« [Izdatelstvo »Izdatel Z. Kaganski«]. Der deutschen Presse konnten wir darüber bis jetzt keine Informationen entnehmen. In der Ausgabe von Z. Kaganski fehlen die Namen der Übersetzer. Sie erscheinen in den darauf folgenden Ausgaben dieser Übersetzung in Moskau und in Leningrad im Jahre 1929. Die ersten Übersetzer des Romans ins Russische waren Sergej Mjateshnyj und Pjotr Čerevin. Unter dem Pseudonym S. Mjateshnyj verbarg sich die Bühnenschriftstellerin S. A. Apraksina-Lavrinajtis, die Autorin einiger Theaterstücke, unter anderem Onkel Pascha [Masanov, 1957: 205]. Bezüglich P. Čerewin verfügen wir über keine zuverlässigen Informationen. Beide Übersetzer müssten sich am Ende des Jahres 1928 in Berlin aufgehalten haben, weil sie angeblich nach jeder Zeitungsausgabe weiter an der Übersetzung arbeiteten. Nach der Veröffentlichung der ersten Übersetzung in Berlin wurde der Roman einige Male von verschiedenen Verlagen Moskaus und Leningrads herausgegeben und zwar in sehr unterschiedlichen Redaktionen. Im Verlag »Federazija« erschien er unter der Redaktion von A. Efros und im Verlag »Semlja i fabrika« (SiF) unter der Redaktion von D. Umanski. Die letztere Ausgabe unterscheidet sich durch mehrere Redaktionskorrekturen von der ersten Ausgabe von Z. Kaganski und der im Verlag »Federazija«, die fast identisch sind [Savarsina, 1998: 63]. Die russischen Veröffentlichungen von 1929 hatten in der Regel tendenziöse Vorworte. Das Vorwort für die Romanausgabe des Verlages »SiF« schrieb der Publizist und bekannte Kampfgenosse von Lenin Karl Radek (1883–1959). In der Ausgabe der Roman-Gaseta finden wir das Vorwort D. Manuilskis (1883–1959), ein bekannter bolschewistische Funktionär, der zur Zeit der Veröffentlichung Mitglied des ZK der KP der Bolschewiken war. K. Radek vergleicht den Roman von Remarque mit denen von J. Hašek und A. Zweig und schätzt ihn wesentlich bedeutsamer ein, indem er behauptet, dass er »das Beste ist, was über den imperialistischen Krieg je geschrieben wurde« [Radek, 1929: 5]. Allerdings bezieht sich K. Radek dabei auch auf die kommunistische Presse Deutschlands, die Remarque wohl die »Wahrheit« über seinen Roman sagt: Du hast sie verraten, Remarque, deine Kameraden, die auf den Kampfeldern Frankreichs verrecken, denn du rufst nicht zum Kampf auf gegen diejenigen, die sie in den Tod geschickt haben. Du beweinst die Toten, du rufst nicht nach Lebenden! [Radek, 1929: 5–6].

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Ähnliche ›Vorwürfe‹ werden danach in mehreren Arbeiten der sowjetischen Literaturwissenschaftler gemacht, die Remarques Schaffen als »kleinbürgerlich« und »begrenzt« bezeichneten. D. Manuilski geht mit seiner Kritik noch weiter, indem er behauptet: »unser Bauer aus dem entferntesten Dorf von Rjasan-Gebiet wird den klassischen Sinn des Krieges besser erklären können als einer der hervorragenden Schriftsteller der modernen westlichen Literatur« [Manuilski, 1930: 2]. Remarque wird also empfohlen sich in einen Krähwinkel im Rjasan-Gebiet zu begeben, um den Sinn des Krieges zu erfassen.... Ähnlicher Unsinn ist in fast jedem Absatz des ›Opus‹ D. Manuilskis zu lesen. Die Ausgabe der Roman-Gazeta hat statt Kapitelnummerierung eigene Kapitelnamen: I – Gestern wurden wir abgelöst; II – Das Bett Nr. 26; III – Unteroffizier Himmelstoß; IV – Es fing an...; V – Wenn Frieden gekommen wäre...; VI – Der Rest von vielen Namen; VII – Die Etappe; VIII – Hinter dem Stacheldrahtzaun; IX – Wer hat Recht?; X – Das Militärspital; XI – Sommer 1918; XII – An diesem Tag war es still an der Front... Es ist wichtig zu betonen, dass der Übersetzung des Romans von Remarque viele Rezensionen in den sowjetischen Medien folgten. Uns liegen alleine für das Jahr 1929 etwa zwanzig Rezensionen und Presseäußerungen vor. Ihre Autoren sind P. Barantschikov, K. Bolschakov, V. Bucharkin, B. Kirejev, Z. Lippaj, B. Orlov, B. Pesis, F. Rubiner, J. Frid und andere. Ihre Artikel wurden sowohl in den Zeitschriften Zwezda, Molodaja gwardija, Nowyj mir, Oktjabr, Kniga i revoljuzija, Pechat’ i revoljuzija, Vestnik inostrannoj literatury, Na literaturnom postu, Na Podjeme als auch in den Zeitungen Vetschernjaja Moskva, Izvestija, Komsomolskaja pravda, Krasnaja gazeta, Krasnaja zvezda, Literaturnaja gazeta, Prawda. Die zweite und die dritte Übersetzung von Remarques Roman erschienen im Jahr 1929 in Riga. Seit 1924 wurde auch hier von vielen Verlagen Literatur in russischer Sprache herausgegeben. Dazu gehören solche Verlage wie »Pressa«, »Orient«, »Chronos«, »O. Strok«, »Gramatu draugs«, »Lateraturas draugs«, »Salamandra«, »M. Didkovskij«, »N. Gudkov«, »Obshchedostupnaja biblioteka«, »Zhizn i kultura« und andere. Die meisten von ihnen wurden nach dem offiziell deklarierten ›freiwilligen‹ Beitritt Lettlands zur Sowjetunion, der dem Land in Wirklichkeit aufgezwungen wurde, geschlossen. Viele Verleger wurden verhaftet, inhaftiert und erschossen [Abysow, 2006: 356, 361]. Zwischen 1929 und 1939 wurden in Rigas Verlagen vier Bücher von Erich Maria Remarque in russischer Sprache herausgegeben: Im Westen nichts Neues (zweimal in 1929), Die Traumbude und Der Weg zurück; in zwei Zeitungen wurden auch zwei Romane gedruckt: Der Weg zurück (1930) und Drei Kameraden (1939). Eine der Übersetzungen des Romans Im Westen nichts Neues von A. Kossovič erschien im Verlag »Orient«. Der Übersetzer A. Kossovič arbeitete seit 1920 bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und war in literarischen Kreisen Rigas ziemlich bekannt. In verschiedenen Verlagen erschienen seine Übersetzungen aus dem 37

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Französischen und Deutschen. Er arbeitete bei der Zeitung Segodnja, war seit 1933 Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift Dlja was. Der Verlag Ullstein, dem das Copyright für alle Werke von Remarque gehörte, verklagte den Leiter des Verlages »Orient«, S. W. Karatschevtzev, nachdem die Übersetzung von A. Kossovič erschienen war. Diese Klage wurde allerdings zurückgewiesen [Abysov, 2006: 203]. Diese Übersetzung wurde ohne Remarques Epigraph und noch in der alten russischen Orthographie gedruckt. Als Motto ist der Text verwendet: »›Der Mensch, der den Krieg mit eigenen Augen gesehen hat, wird nie danach streben.‹ Marschall Foche«. Die Information über eine erneute Ausgabe von A. Kossovičs Übersetzung in Rigas Verlag »Orient« im Jahre 1941 ist zwar auf Remarques Internetseite vorhanden [Liste Remarques Ausgaben...], bleibt aber weder bestätigt noch widerrufen. Laut J. Abysov existierte der Verlag »Orient« von 1925 bis 1936 [Abysov, 1991]. Folglich konnten 1941 von diesem Verlag keine Bücher herausgegeben werden. Die andere Übersetzung, die vermutlich von L. Mejerson (1893–1940) vorgenommen worden war, erschien in zwei Teilen 1929 ebenfalls im Rigaer Verlag »Literaturas Draugs«. Laut Remarques Internetseite wurde der erste Teil dieser Übersetzung in demselben Jahr in Tula veröffentlicht [Liste Remarques Ausgaben...]. Meyersons Übersetzung von 1929 ist ohne Angaben zum Verlagsort im Bibliographieverzeichnis von G. Kromina und T. Schneider zu finden [Kromina, Schneider, 1991: 90], obwohl sowohl auf dem Buchumschlag als auch auf der Titelseite des zweiten Teils folgende Angaben vorhanden sind: »Verlag ›Literaturas Draugs‹ G. M Schlossberg, Riga, ul. Ključevaja, Nr. 30.« Nach der Oktoberrevolution 1917 lebte und arbeitete L. S. Meyerson in Riga, wo etwa zehn seiner Buchübersetzungen aus verschiedenen Sprachen in einigen Zeitungen und Verlagen erschienen, unter anderem Juli 1914 von Emil Ludwig (1929), Flucht in die Dunkelheit von A. Schnitzler (1931), Bolschewismus und Europa (Stalin & Co.) von R. N. Kudegove-Kallery (1931) und andere. Laut J. Abysov wurde L. Meyerson von NKWD 1941 verhaftet und beim Fluchtversuch erschossen [Abysov, 2006: 361], [Abyzov, 1991], [Stalin & Co.]. Die Information über weitere Ausgaben von Remarques Roman in Kazan’ und Berlin im Jahre 1930 bleibt weiterhin unbestätigt. Auch in größten Bibliotheken Russlands sind keine Ausgaben dieser Übersetzungen vorhanden. Die Information über die Übersetzungsausgabe des Romans in der Leningrader Zeitung Krasnaja Gazeta in 1929 müsste ebenfalls noch bestätigt werden. Die nächste Romanübersetzung erfolgte durch J. Afon’kin und erschien im Jahr 1959. Seit 1990 ist sie stets auf dem russischen Buchmarkt. Alle anderen Übersetzungen sind vergessen worden. Der Roman von Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque wurde folglich in den Jahren 1928–1929 dreimal in die russische Sprache übersetzt und zwar von S. Mjateshnyj und P. Čerevin, A. Kossovič und L. Meyerson. Die Übersetzung von S. Mjatezhny und P. Čerevin wurde sowohl als volle Ausgabe als auch in Aus38

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zügen zehnmal herausgegeben. Die Übersetzung von L. Meyerson erschien nach unbestätigten Informationen zweimal. Die Übersetzung von A. Kossovič erlebte eine bis heute bestätigte Ausgabe im Jahre 1929. Damit sind die Angaben im 6. Band der Kurzen Literaturenzyklopädie nicht korrekt und sollten geändert werden [siehe Kratkaja literaturnaja entziklopedija, 1971: 248]. Die erste Übersetzungsausgabe des Romans Im Westen nichts Neues in die russische Sprache sollte auf das Jahr 1928 datiert werden.

Als Anlage fügen wir fünf verschiedene Übersetzungen der ersten Absätze des großen Romans von E. M. Remarque bei. Diese sind der Ausgaben von S. Kaganskij, der Verlage »Zemlja i fabrika«, »Orient« und »Literaturas Draugs« und der Übersetzung von J. Afon’kin entnommen. Die letztere ist in Russland zum Kanon geworden.

Мы стоим в десяти километрах позади фронта. Вчера нас сменили; сейчас наши желудки полны фасолью и говядиной; мы сыты и довольны. Даже для вечера каждый из нас сумел набрать котелок; кроме того у нас двойные порции колбасы и хлеба. Такого случая уже давно не было: повар, со своей красно-томатовой головой, прямо набивается с этой едой; каждого, кто проходит мимо, он подзывает черпаком и одним взмахом наполняет ему котелок. Он в полном недоумении, так как не знает, как опорожнить свою походную кухню. Тьяден и Мюллер раздобыли себе по умывальному тазу и наполнили их до краев, прозапас. Тьяден делает это из прожорливости. Мюллер – из предусмотрительности. Куда Тьяден умещает все это – загадка. Он как был, так и остается тощей селедкой. Самое же важное то, что нам выдали также двойные порции табаку. На каждого десять сигар, двадцать папирос и два куска жевательного табаку, – это вполне прилично. Я обменялся жевательным табаком с Катчинским на его папиросы, так что у меня получилось сорок штук. Этак уже можно прожить день. [Издание З. Каганского. Перевод С. Мятежного и П. Черевина, 1928].

Мы расположились в десяти километрах позади фронта. Вчера нас сменили; сейчас наши желудки полны фасолью и говядиной; мы сыты и довольны. Даже на вечер каждый из нас сумел набрать полный котелок; кроме того, у нас двойные порции колбасы и хлеба. Такого случая уже давно не было: повар с красной, как помидор, головой, прямо-таки навязывает еду; каждого, кто прохо-

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дит мимо, он подзывает черпаком и одним взмахом наполняет ему его котелок. Он в полном недоумении, так как не знает, как опорожнить свою походную кухню. Тьяден и Мюллер раздобыли себе по умывальному тазу и наполнили их до краев, про запас. Тьяден делает это из прожорливости. Мюллер – из предусмотрительности. Куда Тьяден все это девает – загадка: он как был, так и остается тощей селедкой. Но самое главное то, что нам выдали также двойные порции табаку. На каждого десять сигар, двадцать папирос и два кулька жевательного табаку – это вполне достаточно. Я обменял свой жевательный табак на папиросы Катчинского, так что у меня получилось сорок штук. Этак уже можно продержаться день. [Перевод С. Мятежного и П. Черевина. Под ред. Дм. Уманского. 1929].

Сегодня мы в девяти километрах от фронта. Вчера нас сменили, теперь мы досыта наелись белых бобов с мясом и довольны. Даже вечером еще каждый желающий мог наполнить свою манерку едой. К тому еще – двойная порция колбасы и хлеба!. Это уже совсем основательно! Такого случая, получить еду прямехонько из ротной кухни, из горячего котла, с красным, в виде томата, медным колпаком, – нам давным-давно не представлялось. Всякому, кому не лень, кто просто идет мимо, ничего не стоит наложить себе ложкой из этого котла здоровую порцию. А котел поистине кажется неистощимым. Тьяден с Мюллером разыскали где-то даже пару консервных банок и до верху напихали их про запас белыми бобами и мясом. Тьяден – из обжорства, он все это скоро съест, Мюллер – из предусмотрительности и запасливости. И куда только все это у Тьядена девается – непостижимо. Вечно он тощ, как сухая сельдь и таким, наверно, будет и впредь, сколько бы ни жрал. Самое важное сегодня, однако, – двойная порция курева на брата – по десятку сигар, двадцать папирос и по две плитки жевательного табаку. Совсем прилично! Свой табак я обменял у Кацинского на папиросы. Таким путем, у меня теперь четыре десятка папирос. На денек, другой – хватит. [Перевод А. Коссовича, 1929].

Мы находимся в девяти километрах позади фронтовой линии. Вчера нас сменили, а теперь мы поели досыта говядины с бобами и довольны. Каждый из нас мог налить себе полный котелок даже на ужин. Кроме того выдали двойную порцию колбасы и хлеба. Вот это да! Такого случая давно не бывало. Рыжий кашевар с головою, похожей на помидор, в отчаянии: он не знает, как опорожнить полевую кухню. Он кивает каждому подходящему и наливает ему в котелок до отказа.

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Тьяден и Мюллер достали где-то пару умывальных тазов и дали наполнить их до краев – про запас, так сказать, – Тьяден из обжорства, Мюллер – на всякий случай. Но куда девается все это у Тьядена – загадка: он неизменно тощ, как селедка. Самое существенное однако то, что выдали двойную порцию курева: по десяти сигар, двадцати сигареток и по два куска жевательного табаку на брата – это весьма прилично. Я выменял у Качинскаго свой жевательный табак на его сигареты, так что у меня оказалось сорок сигарет. Этого за глаза хватит на день. [Перевод Л. Мейерсона, 1929].

Мы стоим в девяти километрах от передовой. Вчера нас сменили; сейчас наши желудки набиты фасолью и мясом, и все мы ходим сытые и довольные. Даже на ужин каждому досталось по полному котелку; сверх того мы получаем двойную порцию хлеба и колбасы, – словом, живем неплохо. Такого с нами давненько уже не случалось: наш кухонный бог со своей багровой, как помидор, лысиной сам предлагает нам поесть еще; он машет черпаком, зазывая проходящих, и отваливает им здоровенные порции. Он все никак не опорожнит свой «пищемет», и это приводит его в отчаяние. Тьяден и Мюллер раздобыли откуда-то несколько тазов и наполнили их до краев, – про запас. Тьяден сделал это из обжорства, Мюллер – из осторожности. Куда девается все, что съедает Тьяден, – для всех загадка. Он все равно остается тощим, как селедка. Но самое главное – курево тоже было выдано двойными порциями. На каждого по десять сигар, двадцать сигарет и по две плитки жевательного табаку. В общем, довольно прилично. На свой табак я выменял у Качинского его сигареты, итого у меня теперь сорок штук. Один день протянуть можно [Перевод Ю. Афонькина, 1959].

Dieses kurze Fragment aus fünf Übersetzungen zeigt uns, wie unterschiedlich die Übersetzer an das Original herangegangen sind und welche sich voneinander unterscheidende Übersetzungsstrategien sie genutzt haben. Auffällig ist die Behebung der Fehler, die in der Übersetzung von S. Mjateshny und P. Čerevin in Z. Kaganskis Ausgabe vorhanden sind, in derselben Übersetzung unter Dm. Umankskis Redaktion, Fehler in der Übersetzung von A. Kossovič (in seiner Übersetzung ›verschwand‹ der ungeschickte Koch), die ziemlich hohe Qualität der Übersetzung von L. Meyerson, erhöhte Expressivität in J. Afon’kins Übersetzung etc. Eingehende vergleichende Sprachanalysen einschließlich der Analyse der künstlerischen Qualität aller Romanübersetzungen von Im Westen nichts Neues und deren Redaktionen stellen eine wichtige Aufgabe für russische Remarque-Forscher dar. 41

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Abschließend ist es notwendig, folgende Besonderheiten der übersetzerischen Rezeption des Romans von E. M. Remarque in Sowjetrussland in den Jahren 1928– 1929 hervorzuheben: 1. Die russische Übersetzung erwies sich als die erste Buchausgabe des Romans (Berlin, 1928). 2. In den Jahren 1928–1929 wurde der Roman dreimal in die russische Sprache übersetzt. 3. Die Übersetzung von S. Mjatezhny und P. Čerevin erlebte in den Jahren 1928– 1929 insgesamt an die zehn Ausgaben. 4. Alle drei ersten Übersetzungen sind unbegründet in Vergessenheit geraten. 5. Erich Maria Remarque wusste vermutlich nichts über den Ruhm, den ihm sein Roman in den 1920er und 1930er Jahren in Russland verschafft hat.

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Liste der Übersetzungen Ремарк Э. М. На Западном фронте без перемен. Единственное авторизованное и полное русское издание. Берлин: Издание З. Каганского, 1928. 299 с. Ремарк Э. М. »На Западном фронте без перемен. Главы из романа. Авторизованный перевод с немецкого С. Мятежного и П. Черевина«. Молодая гвардия (1929), 14, 2–14. Ремарк Э. М. »На Западе без перемен. Авторизованный перевод с немецкого С. Мятежного и П. Черевина (под редакцией Дм. Уманского)«. Вестник иностранной литературы (1929), 4, 5–65. Ремарк Э. М. На западном фронте без перемен. Перевод С. Мятежного и П. Черевина (под редакцией Дм. Уманского). Предисловие К. Радека. М.–Л.: Земля и Фабрика, 1929. 224 с. Ремарк Э. М. На западе без перемен. Авторизованный перевод с немецкого С. Мятежного и П. Черевина (под редакцией А. Эфроса). М.: Федерация, 1929. 299 с. Ремарк Э. М. На западном фронте без перемен… Перевод А. Коссовича. Рига: Orient, [1929]. 224 с. Ремарк Э. М. На Западном фронте без перемен. В 2 ч. [Перевод Л. Мейерсона]. Рига: Literaturas Draugs, 1929. Ч. 1. 112 с.; Ч. 2. 115–208 с. Ремарк Э. М. »На Западе без перемен. [Перевод С. Мятежного и П. Черевина]. Предисловие Д. Мануильского«. Роман-газета (М.: Госиздат РСФСР »Московский рабочий«, 1930), 2. 45 с. .

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Oleg Pochalenkow

Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer in Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues

Die Arbeit am Roman Im Westen nichts Neues wurde von Erich Maria Remarque, wie er selbst gemeint hat, mit den Zielen der »Selbsttherapie« geführt. (Remarque, 106) Der Schriftsteller hat nicht einmal bekannt, dass das Werk einen autobiographischen Charakter hat und der Held – Paul Bäumer – in vielem von ihm selbst abgeschrieben wurde. Paul Bäumers Gestalt hat drei Entwicklungsstadien, die sich im Rahmen der entsprechenden Chronotope zeigen. In diesem Artikel betrachten wir drei Stadien der Gestaltentwicklung, deren Analyse uns gestattet, die Veränderungen in Bäumers Auffassung vom totalitären Staat und seines Begreifens des »Anderseins« sicherzustellen. Die Gestaltenanalyse im Roman wurde auf dem Niveau der Tropen, mit Verwendung der Methodik von N.W. Pawlowitsch durchgeführt, der die Gestaltenparadigmenanalyse zugrunde liegt. Unter poetischer Wortgestalt versteht Pawlowitsch »einen kleinen Textauszug, in dem sich im weiteren Sinn widersprüchliche Begriffe identifizieren, d.h. solche Begriffe, die in einer normativen allgemeinliterarischen Sprache nicht identifiziert werden (unähnliche, semantisch weite, unvereinbare, gegenseitige Begriffe). Mit anderen Worten wird die Gestalt wie ein Widerspruch im breiten Sinn oder wie eine Annäherung des Unähnlichens verstanden«. (Pawlowitsch, 14) Das Gestaltparadigma, nach N.W. Pawlowitsch, ist eine »Invariante der ihm ähnlichen Gestaltensreihe, die aus zwei miteinander von Identifizierungsverhältnissen verbundenen stabilen Bedeutungen besteht«. (Pawlowitsch, 14) Die Gestaltinvariante stellt eine komplizierte Bedeutung X → Y dar, wo X und Y widersprüchliche Begriffe sind, der Zeiger → die Identifizierungsrichtung X und Y bestimmt. Unter Chronotop verstehen wir die Definition von M.M. Bachtin, der es als »eine wesentliche Wechselbeziehung der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse, die in der Literatur kunstvoll verwertet wurden«, versteht. Die Beziehung von Zeit und Raum sieht er im folgendermaßen: »In einem literarisch-kunstvollen Chronotop gibt es eine Vereinigung von räumlichen und zeitlichen Merkmalen in einem 45

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verständigen und konkreten Ganzen. Die Zeit wird hier verdichtet, wird dicker, wird kunstvollsichtbar; der Raum wird identifiziert, wird zu Zeitbewegung, Inhalt, Geschichte verführt. Die Zeitmerkmale werden im Raum geöffnet, der Raum wird von Zeit durchdacht und gemessen. Von dieser Reihenkreuzung und Merkmalvereinigung wird ›das kunstvolle Chronotop‹ charakterisiert«. (Bachtin, 14) Bäumer-Soldat (Chronotop Front) Paul Bäumer, Protagonist des Romans, begegnen wir am Anfang der Geschichte – gerade seine Erzählung führt uns in die Handlungsumstände ein: Wir liegen neun Kilometer hinter der Front. Gestern wurden wir abgelöst; jetzt haben wir den Magen voll weißer Bohnen mit Rindfleisch und sind satt und zufrieden. Sogar für abends hat jeder noch ein Kochgeschirr voll fassen können; dazu gibt es außerdem doppelte Wurst- und Brotportionen – das schafft. (11)

Aus diesem Textauszug wird ersichtlich, dass Bäumer ein Soldat ist und dass er sich, wie auch die anderen Regimentskameraden, nicht weit von der vordersten Linie befindet: Vor vierzehn Tagen mußten wir nach vorn, um abzulösen. Es war ziemlich ruhig in unserm Abschnitt, und der Furier hatte deshalb für den Tag unserer Rückkehr das normale Quantum Lebensmittel erhalten und für die hundertfünfzig Mann starke Kompanie vorgesorgt. (11).

Weiter betont Remarque Bäumers Meinung davon, dass »es im Krieg nicht so schlecht ist«: Wir waren nachts eingerückt und hatten uns gleich hingehauen, um erst einmal anständig zu schlafen; denn Katczinsky hat recht: es wäre alles nicht so schlimm mit dem Krieg, wenn man nur mehr Schlaf haben würde. Vorne ist es doch nie etwas damit, und vierzehn Tage jedesmal sind eine lange Zeit. (12).

Im Chronotoprahmen »Front« wirkt Bäumers Gestalt mit anderen Gestalten der handelnden Personen zusammen, die eine besondere thematische Kriegsgestalt bilden: 1) Dienstkollegen; 2) Kommandeure; 3) Staat. 46

Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer

Bäumer wirkt mit diesen drei Personengruppen zusammen, und gerade das hat Einfluss auf die Bildung des Stadiums Bäumer-Soldat. Wenn wir meinen, dass das erste Stadium von Bäumers Gestaltsentwicklung seine »Soldatenphase« ist, wird eine enge Vereinigung mit den Gestalten der anderen Soldaten bestimmt. In erster Linie sind das seine Mitschüler: Eine halbe Stunde später hatte jeder sein Kochgeschirr gegriffen, und wir versammelten uns vor der Gulaschmarie, die fettig und nahrhaft roch. An der Spitze natürlich die Hungrigsten: der kleine Albert Kropp, der von uns am klarsten denkt und deshalb erst Gefreiter ist; – Müller V, der noch Schulbücher mit sich herumschleppt und vom Notexamen träumt; im Trommelfeuer büffelt er physikalische Lehrsätze; – Leer, der einen Vollbart trägt und große Vorliebe für Mädchen aus den Offizierspuffs hat; er schwört darauf, daß sie durch Armeebefehl verpflichtet wären, seidene Hemden zu tragen und bei Gästen vom Hauptmann aufwärts vorher zu baden; – und als vierter ich, Paul Bäumer. Alle vier neunzehn Jahre alt, alle vier aus derselben Klasse in den Krieg gegangen. (12)

Weiter erzählt Bäumer von seinen anderen Dienstkollegen, die keine Mitschüler von ihm sind, mit denen er aber freundschaftliche Beziehungen hat: Eine halbe Stunde später hatte jeder sein Kochgeschirr gegriffen, und wir versammelten uns vor der Gulaschmarie, die fettig und nahrhaft roch. An der Spitze natürlich die Hungrigsten: der kleine Albert Kropp, der von uns am klarsten denkt und deshalb erst Gefreiter ist; – Müller V, der noch Schulbücher mit sich herumschleppt und vom Notexamen träumt; im Trommelfeuer büffelt er physikalische Lehrsätze; – Leer, der einen Vollbart trägt und große Vorliebe für Mädchen aus den Offizierspuffs hat; er schwört darauf, daß sie durch Armeebefehl verpflichtet wären, seidene Hemden zu tragen und bei Gästen vom Hauptmann aufwärts vorher zu baden; – und als vierter ich, Paul Bäumer. Alle vier neunzehn Jahre alt, alle vier aus derselben Klasse in den Krieg gegangen. Dicht hinter uns unsere Freunde. Tjaden, ein magerer Schlosser, so alt wie wir, der größte Fresser der Kompanie. Er setzt sich schlank zum Essen hin und steht dick wie eine schwangere Wanze wieder auf; – Haie Westhus, gleich alt, Torfstecher, der bequem ein Kommißbrot in eine Hand nehmen und fragen kann: Ratet mal, was ich in der Faust habe; – Detering, ein Bauer, der nur an seinen Hof und an seine Frau denkt; – und endlich Stanislaus Katczinsky, das Haupt unserer Gruppe, zäh, schlau, gerissen, vierzig Jahre alt, mit einem Gesicht aus Erde, mit blauen Augen, hängenden Schultern und einer wunderbaren Witterung für dicke Luft, gutes Essen und schöne Druckposten. (12)

Remarque schafft ähnliche Kennzeichnungen der Gestalten von Bäumer und anderen Personen extra, um ihr gleiches Alter, ihre gleichen Meinungen u.s.w. zu betonen. Wie er selbst meint, »spricht er auf solche Weise im Namen der ganzen 47

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Generation«. (103) Das gibt auch die Mőglichkeit, Bäumer als einen Vertreter der Anderer-Gruppe zu betrachten, die Remarque im Text den Staatsvertretern gegenüberstellt. Solche Gegenüberstellung äuβert Remarques Protagonist Bäumer: Sie sollten uns Achtzehnjährigen Vermittler und Führer zur Welt des Erwachsenseins werden, zur Welt der Arbeit, der Pflicht, der Kultur und des Fortschritts, zur Zukunft. Wir verspotteten sie manchmal und spielten ihnen kleine Streiche, aber im Grunde glaubten wir ihnen. Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschlicheres Wissen. Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung. Wir mußten erkennen, daß unser Alter ehrlicher war als das ihre; sie hatten vor uns nur die Phrase und die Geschicklichkeit voraus. Das erste Trommelfeuer zeigte uns unseren Irrtum, und unter ihm stürzte die Weltanschauung zusammen, die sie uns gelehrt hatten. (18)

In diesem Fragment wird die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Opposition wir–sie (sie–wir) gerichtet, die Remarque mit Hilfe einer stilistischen Wiederholung während des ganzen Textauszugs betont. Unter dem Pronomen »sie« versteht der Held seine Lehrer. »Sie«, seiner Meinung nach, haben ihnen falsche Gefühle und Vorstellungen eingeflößt. Remarques Logik nach, ist es »ihnen« gelungen, Bäumer und seine Mitschüler trotzdem sich ähnlich zu »machen«. Das bestätigt sich auch mit Bäumers Worten: Früher war auch das anders. Als wir zum Bezirkskommando gingen, waren wir noch eine Klasse von zwanzig jungen Menschen, die sich, manche zum ersten Male, übermütig gemeinsam rasieren ließ, bevor sie den Kasernenhof betrat. Wir hatten keine festen Pläne für die Zukunft, Gedanken an Karriere und Beruf waren bei den wenigsten praktisch bereits so bestimmt, daß sie eine Daseinsform bedeuten konnten; – dafür jedoch steckten wir voll Ungewisser Ideen, die dem Leben und auch dem Kriege in unseren Augen einen idealisierten und fast romantischen Charakter verliehen. (24)

Zum ersten Mal haben wir mit einer negativen Bewertung anderer Personen bei Erwähnung des ehemaligen Schullehrers Paul Bäumers, Kantorek, zu tun: Kantorek war unser Klassenlehrer, ein strenger, kleiner Mann in grauem Schoßrock, mit einem Spitzmausgesicht. Er hatte ungefähr dieselbe Statur wie der Unteroffizier Himmelstoß, der »Schrecken des Klosterberges«. (17)

Im angeführten Textauszug zeigt Remarque zwei Personen, Kantorek und Himmel­ stoß. Der Schriftsteller vergleicht seinen ehemaligen Schullehrer mit einem Tier, mit einer Maus (Paradigma Schullehrer → Maus). Außerdem fügt er zwei Kennzeichnungen hinzu, die diesem Tier eigen sind: kleine Größe und graue Farbe. 48

Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer

Großes Paradigma

Kleines Paradigma

Gegenüberstellungsgestalten

Mensch → Tier

Lehrer → Maus

ein strenger, kleiner Mann in grauem Schoßrock, mit einem Spitzmausgesicht.

Die Maus erscheint in den Sagen und Legenden Deutschlands und ihre Gestalt hat sowohl positive als auch negative Aspekte. Da Kantoreks Gestalt eine negative Konnotation hat, betrachten wir auch sie. Vor uralten Zeiten hat man gemeint, dass Mäuse nicht nur Vorräte vernichten, sondern auch, wie Ratten, epidemische Krankheiten übertragen. In diesem Zusammenhang wurden die Mäuse zu Menschen feindlichen Kräften. Das deutsche Wort »mausen« (von »Maus«) hat »stehlen« bedeutet. Remarque, der auf die Mausmöglichkeit der Krankheitsübertragung basiert, entwickelt dieses Merkmal metaphorisch in folgender Kennzeichnung von Kantorek, der ein Ideenträger ist: Kantorek hielt uns in den Turnstunden so lange Vorträge, bis unsere Klasse unter seiner Führung geschlossen zum Bezirkskommando zog und sich meldete. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er uns durch seine Brillengläser anfunkelte und mit ergriffener Stimme fragte: »Ihr geht doch mit, Kameraden?« Diese Erzieher haben ihr Gefühl so oft in der Westentasche parat; sie geben es ja auch stundenweise aus. Doch darüber machten wir uns damals noch keine Gedanken. (17)

Kantorek-Maus, wie ein Redner, der unmerklich auf die Menschen einwirkt und sie zwingt, wider Willen Taten zu vollbringen, betont auf solche Weise seine unmerkliche Auswirkung auf die Schüler: Man kann Kantorek natürlich nicht damit m Zusammenhang bringen; – wo bliebe die Welt sonst, wenn man das schon Schuld nennen wollte. Es gab ja Tausende von Kantoreks, die alle überzeugt waren, auf eine für sie bequeme Weise das Beste zu tun. (17)

Remarque vergleicht Kantorek auch mit einer anderen Person, die wir auch der Gestalt eines totalitären Staates zurechnen werden – mit Himmelstoß: »Er hatte ungefähr dieselbe Statur wie der Unteroffizier Himmelstoß, der ›Schrecken des Klosterberges‹«. (17) In diesem Beispiel macht der Autor diese Personen gleich, um ihre allgemeinen Züge zu zeigen: Es ist übrigens komisch, daß das Unglück der Welt so oft von kleinen Leuten herrührt, sie sind viel energischer und unverträglicher als großgewachsene. Ich habe mich stets gehütet, in Abteilungen mit kleinen Kompanieführern zu geraten; es sind meistens verfluchte Schinder. (17)

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Außer einer kleinen Größe hat Himmelstoß andere besondere Eigenschaften: Zu dreien und vieren wurde unsere Klasse über die Korporalschaften verstreut, zusammen mit friesischen Fischern, Bauern, Arbeitern und Handwerkern, mit denen wir uns schnell anfreundeten. Kropp, Müller, Kemmerich und ich kamen zur neunten Korporalschaft, die der Unteroffizier Himmelstoß führte. [...] aber kleingekriegt hat uns dieses wildgewordene Postpferd nicht. (25)

Eine besondere Aufmerksamkeit zieht die Beschreibung des Äußeren dieses Tyrannen auf sich, Remarque richtet sein Hauptaugenmerk auf die rote Farbe seines Schnurrbartes. Weiter präzisiert der Schriftsteller, dass Himmelstoß vor dem Krieg Briefträger war: »›Der Himmelstoß ist als Briefträger sicher ein bescheidener Mann‹, sage ich, nachdem sich Alberts Enttäuschung gelegt hat, ›wie mag es nur kommen, daß er als Unteroffizier ein solcher Schinder ist?‹« (38) Himmelstoß‘ Gestalt existiert auf solche Weise auf zwei zeitlichen Ebenen: im Krieg (hier–jetzt) ist vor uns »ein Tyrann, Menschenschinder, eine tollwütige Postmähre«, die nur eine negative Reaktion bei Bäumer und seinen Dienstkollegen hervorruft. Seine vergangene Vorkriegsverkörperung – ein bescheidener Briefträger – wird in Wechselbeziehung mit der Verwandlung nicht gebracht, die im Rahmen des Kriegschronotopes geschehen ist. In den Kennzeichnugen, die Remarque Himmelstoß‘ Gestalt gibt, zieht die Farbe seines Schnurrbartes – rot – die Aufmerksamkeit auf sich. Dem Symbolwörterbuch nach ist die rothaarige Farbe ein Sündesymbol; darum ist es vorgeschrieben, für eine Opferung eine rothaarige Färse zu wählen. Die negative Symbolik dieser Farbe zeigt sich in der westlichen Tradition, wo sie mit Untreue, Betrug, Verrat verbunden wurde. (Günter, 5) Solche Deutung dieser Äußerlichkeit erklärt seine Doppelnatur, die sich in der Unstimmigkeit von seinem friedlichen Beruf und seinem Verhalten in der Kriegszeit zeigt. Das hat folgende Motivierung: Himmelstoß personifiziert eine Verhöhnung der jungen Leuten, die sofort von der Schule in die Kasernen geraten sind, gerade darum nennt Remarque ihn »tollwütig«. Wenn wir in einer Metapher die Meinungen von Himmelstoß vereinigen, so bekommen wir »tollwütiges rothaariges Pferd«. In der Enzyklopädie von Symbolen, Zeichen, Emblemen gibt es einen Artikel, der dem Pferd gewidmet ist und in dem es heißt: »In der Johannes-Offenbarung werden 4 Pferde erwähnt. Das weiße Pferd bedeutet Pest, das rothaarige Pferd Krieg, das rabenschwarze Pferd Hunger, das bleiche Pferd Tod. 4 Pferde der Apokalypse bilden ein eschatologisches Motiv des Weltunterganges«. (58) Die angeführte Interpretation erklärt die Textfunktionen von solchen Personen wie Kantorek und Himmelstoß. Sie personifizieren auch zwei Merkmale des zukünftigen Totalitarismus in Deutschland. Die beiden Personen sind Lehrer für junge Leute, sie haben die Möglichkeit ihnen Ideen (Ideologie) einzuflöβen und sie zu erziehen, um die jungen Leute als eine willenlose Waffe in ihren Händen zu be50

Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer

nutzen. Kantorek ist vor den jungen Leuten aufgetreten, hat ihnen eingeflößt, dass man dem Staat dienen muss und dass nichts über dem Staat ist. Himmelstoß hat Kantoreks Ideen in die Praxis umgesetzt. Er hat eine unkontollierte Macht auf die jungen Leute ausgeübt, die kein festes Bewusstsein hatten, und hat sie gezwungen, sich dem Willen des Machthabers unterzuordnen.

Großes Paradigma

Kleines Paradigma

Gegenüberstellungsgestalten

Mensch → Tier

Lehrer → Pferd

aber kleingekriegt hat uns dieses wildgewordene Postpferd nicht.

Es gibt also Gründe, zwei Schaffensmodelle einer totalitären Gestalt im Roman auszuzeichnen: 1. Kantorek – Gestalt eines Ideologen des totalitären Staates; 2. Himmelstoß – Ideologie- und Machtverwirklichung, die der totalitäre Staat gibt. Kantorek und Himmelstoß und die genannten Modelle beziehen sich auf die Gestalt des totalitären Staates, was die Worte des Romanprotagonisten Bäumer bestätigen: »Der Himmelstoß ist als Briefträger sicher ein bescheidener Mann«, sage ich, nachdem sich Alberts Enttäuschung gelegt hat, »wie mag es nur kommen, daß er als Unteroffizier ein solcher Schinder ist?« Die Frage macht Kropp wieder mobil. »Das ist nicht nur Himmelstoß allein, das sind sehr viele. Sowie sie Tressen oder einen Säbel haben, werden sie andere Menschen, als ob sie Beton gefressen hätten.« »Das macht die Uniform«, vermute ich. (38)

Bäumers Meinung nach ist die Macht in der Uniform enthalten, es entsteht aber eine Frage: welche Macht meint er? Die Antwort auf diese Frage ist in seinen Worten enthalten: Der Kommiß besteht nun darin, daß immer einer über den andern Macht hat. Das Schlimme ist nur, daß jeder viel zuviel Macht hat; ein Unteroffizier kann einen Gemeinen, ein Leutnant einen Unteroffizier, ein Hauptmann einen Leutnant derartig zwiebeln, daß er verrückt wird. Und weil er das weiß, deshalb gewöhnt er es sich gleich schon etwas an. (38)

Dieser Textauszug veranschaulicht nicht nur Wehrdienst und die Frontsitaution während des Ersten Weltkrieges – solche Lage der Dinge war Deutschland in die51

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ser Zeit eigen, das war ein Land, das Züge eines totalitären Staates hatte. Es gibt die Meinung, das es eine totalitäre Monarchie war. (Wituschkin) Man muss auch berücksichtigen, dass Remarque den Roman zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, in der Zeit der Entstehung des zukünftigen Dritten Reiches geschrieben hat. Außerdem benutzt die Person Kantorek nicht einmal die Vergleiche, die einer totalitären Kultur eigen sind. Zum Beispiel vergleicht er seine Schüler, die in den Krieg ziehen, mit »eiserner Jugend« (das Paradigma Schüler → eiserne Jugend): Wir gehen weiter, eine lange Zeit. Kropp hat sich beruhigt, wir kennen das, es ist der Frontkoller, jeder hat ihn mal. Müller fragt ihn: »Was hat dir der Kantorek eigentlich geschrieben?« Er lacht: »Wir wären die eiserne Jugend.« Wir lachen alle drei ärgerlich. Kropp schimpft; er ist froh, daß er reden kann. – »Ja, so denken sie, so denken sie, die hunderttausend Kantoreks! Eiserne Jugend. Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber jung? Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.« (22)

Das Epitheton »eisern« ist eine typische Kennzeichnung einer totalitären Gesellschaft. Solche Meinung hat Hans Günter, der meint: [...] eine solche Metaphorik wurde im Nationalsozialismus nicht weniger verbreitet. Im E. Jüngers Buch »Der Kampf als inneres Erlebnis« (1922) figurieren die Soldaten als »kriegerische Stahlnaturen« und »Stahlgestalten« mit Adlerblick, als Verwirklichung eines neuen Menschen, einer neuen Rasse. »Stahlkőrper der Soldaten« und eine Erziehung mit Hilfe des Sports bis zur Stahlspannung – so waren Hitlers ideale Vorstellungen, Goebbels hat bei der Erőffnung des Kulturamtes des Reichs im Jahre 1933 von »Stahlromantik« gesprochen.« (Günter, 746)

Bäumer, wenn er an die Front geht, beginnt, allmählich seinen Glauben an Kantoreks Ideen zu verlieren, er fühlt, dass er schon kein Teil der »eisernen Jugend« ist. Die Andererseinsempfindung fühlt Bäumer nicht sofort, diese Empfindung hat einige Etappen. Die erste ist der Tod seines Dienstkollegen Kemmerichs. Diese Episode wird zu einem Abzählenspunkt, zum Beginn Bäumers Verwandlung in einen »Anderen« (»Neuen«). Er ist nicht der erste, den ich so sehe; aber wir sind zusammen aufgewachsen, da ist es doch immer etwas anders. Ich habe die Aufsätze von ihm abgeschrieben. Er trug in der Schule meistens einen braunen Anzug mit Gürtel, der an den Ärmeln blankgewetzt war. Auch war er der einzige von uns, der die große Riesenwelle am Reck konnte. Das Haar flog ihm wie Seide ins Gesicht, wenn er sie machte. Kantorek war deshalb stolz auf ihn. Aber Zigaretten konnte er nicht vertragen. Seine Haut war sehr weiß, er hatte etwas von einem Mädchen. (29)

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Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer

Was ist hier für Bäumer ungewöhnlich, wenn er, wie er selbst meint, nicht einmal den Tod gesehen hat? Für einen Soldat ist ein Kriegstod üblich. Kemmerichs Tod aber, zum Unterschied von vorigen Todesbeschreibungen im Roman, hat Remarque auf neue Weise dargestellt. Wenn Bäumer den Krieg und den Frontalltag unbeteiligt wahrgenommen hat – er fixiert sie einfach – beschreibt Remarque das allmähliche Absterben von Kemmerich in allen Farben, und zum ersten Mal ist diese Situation für Bäumer nicht gleichgültig. Sie ist für ihn besonders peinlich, weil er keine Idee findet, im Namen derer sein Freund untergegangen ist: Wir versuchen manchmal, einen Überblick und eine Erklärung dafür zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht recht. Gerade für uns Zwanzigjährige ist alles besonders unklar, für Kropp, Müller, Leer, mich, für uns, die Kantorek als eiserne Jugend bezeichnet. (23)

Für Bäumer ist Kemmerichs Tod mit einem Mord an einem unschuldigen Wesen gleichbedeutend. Er vergleicht sich und seine Dienstkollegen bewußt und mehrmals mit Jungen, Mädchen, Kindern: Ich blicke auf meine Stiefel. Sie sind groß und klobig, die Hose ist hineingeschoben; wenn man aufsteht, sieht man dick und kräftig in diesen breiten Röhren aus. Aber wenn wir baden gehen und uns ausziehen, haben wir plötzlich wieder schmale Beine und schmale Schultern. Wir sind dann keine Soldaten mehr, sondern beinahe Knaben, man würde auch nicht glauben, daß wir Tornister schleppen können. Es ist ein sonderbarer Augenblick, wenn wir nackt sind; dann sind wir Zivilisten und fühlen uns auch beinahe so.Franz Kemmerich sah beim Baden klein und schmal aus wie ein Kind. Da liegt er nun, weshalb nur? (29)

Später nennt er die Soldaten schon »Wickelkinder«: Wir bekommen Ersatz. Die Lücken werden ausgefüllt, und die Strohsäcke in den Baracken sind bald belegt. Zum Teil sind es alte Leute, aber auch fünfundzwanzig Mann junger Ersatz aus den Feldrekrutendepots werden uns überwiesen. Sie sind fast ein Jahr jünger als wir. Kropp stößt mich an: »Hast du die Kinder gesehen?« (33) Großes Paradigma

Kleines Paradigma

Gegenüberstellungsgestalten

Mensch → Mensch

Mitschüler → Mädchen Soldat → Kind Soldat → Wickelkind

• Seine Haut war sehr weiß, er hatte etwas von einem Mädchen; • eiserne Jugend bezeichnet; • Knaben, ein Kind.

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Dank dieser Fragmente können wir die Evolution der Heldensmeinungen verfolgen. Bäumer begreift endgültig, dass in diesem Krieg Mordtaten an unschuldigen Menschen und nicht Heldentod geschehen: Angriff, Gegenangriff, Stoß, Gegenstoß – das sind Worte, aber was umschließen sie! Wir verlieren viele Leute, am meisten Rekruten. Auf unserem Abschnitt wird wieder Ersatz eingeschoben. Es ist eines der neuen Regimenter, fast lauter junge Leute der letzten ausgehobenen Jahrgänge. Sie haben kaum eine Ausbildung, nur theoretisch haben sie etwas üben können, ehe sie ins Feld rückten. Was eine Handgranate ist, wissen sie zwar, aber von Deckung haben sie wenig Ahnung, vor allen Dingen haben sie keinen Blick dafür. Eine Bodenwelle muß schon einen halben Meter hoch sein, ehe sie von ihnen gesehen wird. (93)

Das führt dazu, dass Bäumer den Krieg, den seine Heimat führt, als etwas Fremdes fasst. Die Verlorenheit und das Begreifen, dass er ein Teil des passierenden Schreckens ist, zwingen Bäumer außerdem, nachdenklich zu werden, wer um ihn herum ist. Der Gedanke, zu dem der Held kommt, bedeutet die nächste Etappe seines Werdens. An der Front stößt er mit seinen offiziellen Feinden zusammen: mit Franzosen, Russen… Einmal, als er auf Posten neben dem Russenlager gestanden hat, begreift er den ganzen Schrecken der Situation: er hat keinen Haß auf die Russen – die Feinde seines Staates – gefühlt. Er zieht den Schluß, dass seine echten Feinde seine Landsmänner sind: Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schüler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch würden wir wieder auf sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wären. (134) Großes Paradigma

Kleines Paradigma

Gegenüberstellungsgestalten

Staat (Mensch) → Feind

Lehrer → Feind Unteroffizier → Feind

• der Unteroffizier Himmelstoß; Kantorek war unser Klassen­lehrer. • Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schüler ein schlimmerer Feind als sie uns.

Bäumer beginnt in seinen Kriegsfeinden solche Opfer zu sehen, wie er selbst eines ist. An einem Tag beschließt er das Essen mit den Russen zu teilen, das ihm seine Mutter, die an Krebs erkrankt ist, übergegeben hat. Ein solches Verhalten des deutschen Soldaten zu den gefangenen Russen trägt Versöhnungscharakter. Weiter, schon an der Front, kommt Bäumer in Gesprächen mit seinen Freunden auf seine Űberlegungen zurück. Einmal versuchen sie eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Gründe es für den Krieg gegeben hat: 54

Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer

»Dann kann ich ja erst recht nach Hause gehen«, beharrt Tjaden, und alles lacht. »Ach, Mensch, es ist doch das Volk als Gesamtheit, also der Staat« –, ruft Müller. »Staat, Staat« – Tjaden schnippt schlau mit den Fingern –, »Feldgendarmen, Polizei, Steuer, das ist euer Staat. Wenn du damit zu tun hast, danke schön.« »Das stimmt«, sagt Kat, »da hast du zum ersten Male etwas Richtiges gesagt, Tjaden, Staat und Heimat, da ist wahrhaftig ein Unterschied.« (140)

Aus diesem Texteauszug kann man verstehen, welche Antwort die Soldaten auf ihre Frage gefunden haben. Für Bäumer, für seine Dienstkollegen auch, wurde eine klare Teilung in Staat und Heimat am Romanende (d.h. am Kriegsende) deutlich: die Heimat assoziiert sich für sie in erster Linie mit Familie und Dienstkollegen, der Staat mit Lehrer (mit Schule als einer Anstalt), mit Armee. Diese Schlussfolgerung widerlegt alles, was man ihnen in der Schule eingeflößt hat und womit sie in den Krieg gezogen sind. Eine der vorigen Devisen hat so gelautet: »›Wir Deutsche fürchten Gott, sonst niemand in der Welt, oder wir Deutsche...?‹ gebe ich zu bedenken.« Solche Worte zwingen die Jugend, ihren Lehrern zu glauben, ohne nachzudenken. Gerade darum wurde Bäumer zu einem Anderen: Er hat mehr dem Staat nicht geglaubt und konnte ihm nicht folgen. Wir haben auf solche Weise betrachtet, wie Paul Bäumer zum Begreifen kommt, dass er nicht zu einem totalitären Staat zu gehören will und kann, der ihn so verwandeln wollte wie auch die anderen. Bäumer-Sohn (Chronotop »Haus – voriges Leben«) Das Stadium Bäumer-Sohn entsteht im Rahmen des Chronotopes »Haus – voriges Leben« einigen Ursachen nach: 1) in der Front kommt er in seinen Erinnerungen zum Haus und zur Familie oft zurück; 2) die Gedanken an das Vorkriegsleben waren eine wichtige Quelle für den Vergleich seiner vorigen und neuen Meinungen vom Leben und vom Staat; 3) der Urlaub zu Hause hat eine wichtige Rolle in seiner endgültigen Enttäuschung von seiner gesamten Umwelt gespielt. 4) Am Romananfang wird der Beriff »Haus« für Bäumer (wie für seine FreundeDienstkollegen auch) mit Heimatstadt, Familie, Kinder- und Jugenderinnnerungen assoziiert – d.h. mit dem, wozu er zurückkehren wollte. Für Bäumer (für seine Generation entsprechend) spielen das Haus und Familienmeinungen (dabei auch Lehrer) in der Anfangsetappe seines Andersseinsbegreifens eine wichtige Rolle, was der Hinweis auf seine Angehőrigkeit zur AltersgenossenDienstkollegen-Gruppe bestätigt, mit dem der Roman beginnt: »Dem Soldaten ist sein Magen und seine Verdauung ein vertrauteres Gebiet als jedem anderen 55

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Menschen. Drei Viertel seines Wortschatzes sind ihm entnommen, und sowohl der Ausdruck höchster Freude als auch der tiefster Entrüstung findet hier seine kernige Untermalung. Es ist unmöglich, sich auf eine andere Art so knapp und klar zu äußern. Unsere Familien und unsere Lehrer werden sich schön wundern, wenn wir nach Hause kommen, aber es ist hier nun einmal die Universalsprache.« (15) Das Haus wird für Bäumer zu einem idealen Topos: Dort gibt es keinen Krieg, keinen Tod, es gibt dort Liebe, die Nächsten. In der Szene mit dem sterbendem Kemmerich zum Beispiel deuten einige von seinen Freunden unzweideutig darauf an, dass er im Falle Kemmerichs Verwundung eine Chance hat, nach Hause zurückzukehren: »›Hat einer von euch Kemmerich noch mal gesehen?‹ ›Er liegt in St. Joseph‹, sage ich. – Müller meint, er habe einen Oberschenkeldurchschuß, einen guten Heimatpaß.« (17) Die ursprüngliche romantische Kriegsauffassung ist mit dem Haus, mit Jugendträumen und Hoffnungen verbunden. Das Haus wird gerade in Bäumers Bewusstsein mit den Hoffnungen assoziiert, Schriftsteller zu werden, und gerade an das Haus erinnert er sich, wenn ein Ideale- und Werte-Umbruch in seinem Bewusstsein geschieht: Es ist für mich sonderbar, daran zu denken, daß zu Hause, in einer Schreibtischlade, ein angefangenes Drama »Saul« und ein Stoß Gedichte liegen. Manchen Abend habe ich darüber verbracht, wir haben ja fast alle so etwas Ähnliches gemacht; aber es ist mir so unwirklich geworden, daß ich es mir nicht mehr richtig vorstellen kann. (23)

Im Begreifensmoment der Tragik des Geschehens wird gerade das Haus für Bäumer mit allem assoziiert, wofür man an der Front kämpfen und leben muss. In der Anfangsetappe wurden das Haus und die Front in Bäumers Bewusstsein entgegengestellt: Oh, ihr dunklen, muffigen Korporalschaftsstuben mit den eisernen Bettgestellen, den gewürfelten Betten, den Spindschränken und den Schemeln davor! Selbst ihr könnt das Ziel von Wünschen werden; hier draußen seid ihr sogar ein sagenhafter Abglanz von Heimat, ihr Gelasse voll Dunst von abgestandenen Speisen, Schlaf, Rauch und Kleidern! (37)

Nach dem Begreifen seines Andersseins beginnt das Haus in seinem Bewusstsein die anziehenden Züge zu verlieren, die ihm früher eigen waren. Eine solche Verwandlung geschieht einigen Ursachen nach. Erstens, die äußeren Lebensveränderungen – die Front, Abschied von der Familie – rufen einen Innenumbruch hervor. Vieles, was für ihn teuer war, zeigt sich in Wirklichkeit als falsch. Er beginnt, seine Entfremdung zu begreifen, die ihn im Endergebnis zum Gedanken bringt, dass seine echte Familie nicht diese weiten Figuren und Gesichter, sondern sei56

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ne Dienstkollegen-Mitschüler sind. Das Haus ist für ihn schon nicht seine Heimatstadt, sondern Baracken, wonach er nach der Schlacht zurückzukehren strebt. Haus: »›Was hast du, Kat?‹ – fragt Kropp. »›Ich wollte, wir wären erst zu Hause‹ – ›Zu Hause‹ – er meint die Baracken.« (52) Zweitens, Bäumers Urlaub, der, seinen Vermutugen nach, vorigen Gefühle und Empfindungen in ihm wiedererleben sollte, bringt in sein Weltbild eine Űberzeugtheit, dass eine Entfremdung von allem, was für ihn mit dem Haus assoziiert wurde, die bei ihn in der Front entstanden ist, richtig war (das Haus ist hier ein Synonym zu »Staat«). Zu Hause erinnert er sich an die Vergangenheitsbilder, Jugendzeitbilder, die seine Frontgegenwart betonen: In dieser Konditorei haben wir Eis gegessen und uns im Zigarettenrauchen geübt. In dieser Straße, die an mir vorübergleitet, kenne ich jedes Haus, das Kolonialwaren­ geschäft, die Drogerie, die Bäckerei. Und dann stehe ich vor der braunen Tür mit der abgegriffenen Klinke, und die Hand wird mir schwer. (111)

Die Ablehnung und das Unverständnis des Geschehens im Friedensleben – zu Hause – zwingen Bäumer, sich seiner Familie entgegenzusetzen: Ich sitze an ihrem Bett, und durch das Fenster funkeln in Braun und Gold die Kastanien des gegenüberliegenden Wirtsgartens. Ich atme langsam ein und aus und sage mir: »Du bist zu Hause, du bist zu Hause«. (113)

Bäumer aber sagt, dass er mit seinen Nächsten solche Themen, die ihn aufregen, nicht besprechen kann. Er versteht sein Anderssein und begreift sein »anderes« Denken: »Es sind ein Schleier und ein Schritt dazwischen.« (114) Ein solches Gefühl von Bäumer wird nicht nur von seiner Frontvergangenheit hervorgerufen. Es wird vom Autor, in folgenden Ereignissen, die mit Bäumer in seiner Heimatstadt geschehen, und von seinem Zusammenstoß mit der Staatsmaschinerie in ihrer totalitären Äußerung erklärt. Im Urlaub stößt Bäumer mit den Personen zusammen, die, wie Himmelstoß, den Staat verkörpern (wie hat Bäumer gesagt – Die Sache liegt in der Uniform): Es ist mein Deutschlehrer, der mich mit den üblichen Fragen überfällt. »Na, wie steht es draußen. Furchtbar, furchtbar, nicht wahr? Ja, es ist schreckich, aber wir müssen eben durchhalten. Und schließlich, draußen habt ihr doch wenigstens gute Verpflegung, wie ich gehört habe, Sie sehen gut aus, Paul, kräftig. Hier ist das natürlich schlechter, ganz natürlich, ist ja auch selbstverständlich, das Beste immer für unsere Soldaten!« (117)

Außerdem erkennt er plötzlich in seinen Bekannten sich selbst vor dem Krieg, seine Weltanschauung, die von der Ideologie verschleiert wurde: »›So, Sie kommen 57

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von der Front? Wie ist denn der Geist dort? Vorzüglich, vorzüglich, was?‹« (117) Zum Urlaubsende beginnt Bäumer das Leben klar zu teilen: die Welt, in der er vor dem Krieg gelebt hat, und die Welt, die er bei der Rückkehr gesehen hat: Ich habe mir den Urlaub anders vorgestellt. Vor einem Jahr war er auch anders. Ich bin es wohl, der sich inzwischen geändert hat. Zwischen heute und damals liegt eine Kluft. Damals kannte ich den Krieg noch nicht, wir hatten in ruhigeren Abschnitten gelegen. Heute merke ich, daß ich, ohne es zu wissen, zermürbter geworden bin. Ich finde mich hier nicht mehr zurecht, es ist eine fremde Welt. Die einen fragen, die andern fragen nicht, und man sieht ihnen an, daß sie stolz darauf sind; oft sagen sie es sogar noch mit dieser Miene des Verstehens, daß man darüber nicht reden könne. Sie bilden sich etwas darauf ein. (118)

Öfter, sogar in seinem Zimmer, das seinen persönlichen Raum bildet, fühlt er sich als Fremder und spricht davon, dass das Vorkriegsleben schon in der Vergangenheit ist: In diesem Zimmer habe ich gelebt, bevor ich Soldat wurde. [...] Ein fürchterliches Gefühl der Fremde steigt plötzlich in mir hoch. Ich kann nicht zurückfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig spüre ich Furcht, sie zu sehr zu beschwören, weil ich nicht weiß, was dann alles geschehen könnte. Ich bin ein Soldat, daran muß ich mich halten. (120–121)

Bäumer-Anderer (Chronotop »Front – Rückkehr«) Eine wichtige Rolle im Evolutionsverständnis, das im Bäumers Bewusstsein betreffs des Staats und sich selbst geschehen ist, spielt die Feindgestalt. Früher haben wir Bäumers Werden und Begreifen seines Andersseins betrachtet. Der Urlaub zu Hause hat seine Seelenkrise verstärkt und ihn gezwungen, an der Front seine Verständnis des Feindes zu verändern. Am Romananfang hat Bäumer seine Eindrücke von seiner Begegnung mit einem Feind an der Front beschrieben: Aus uns sind gefährliche Tiere geworden. Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung. Wir schleudern die Granaten nicht gegen Menschen, was wissen wir im Augenblick davon, dort hetzt mit Händen und Helmen der Tod hinter uns her, wir können ihm seit drei Tagen zum ersten Male ins Gesicht sehen, wir können uns seit drei Tagen zum ersten Male wehren gegen ihn, wir haben eine wahnsinnige Wut, wir liegen nicht mehr ohnmächtig wartend auf dem Schafott, wir können zerstören und töten, um uns zu retten und zu rächen. (83)

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Die Entwicklungsstadien der Gestalt von Paul Bäumer

Bemerkenswert ist, dass Bäumer am Kriegsanfang die Feinde als einen verkörperten Tod auffasst und er, wie auch andere Soldaten, sich verteidigen soll, weil sein Leben davon abhängt. Er vergleicht die Soldaten mir Tieren (Paradigma Mensch → Tier), in seinen Feinden sieht er Menschen (»Wir werfen Granaten in die Menschen«). Remarque erklärt weiter dieses Paradigma und legt aus, dass es für einen Soldaten, wie auch für ein Tier, im Nahkampf unwichtig ist, gegen wen er sich verteidigt – es arbeitet ein Selbsterhaltungstrieb. Nach dem Urlaub verändert Bäumer sein Verhalten zu den Feinden: Es ist sonderbar, diese unsere Feinde so nahe zu sehen. Sie haben Gesichter, die nachdenklich machen, gute Bauern gesichter, breite Stirnen, breite Nasen, breite Lippen, breite Hände, wolliges Haar. Man müßte sie zum Pflügen und Mähen und Apfelpflücken verwenden. Sie sehen noch gutmütiger aus als unsere Bauern in Friesland. (134)

Wie das Beispiel zeigt, hat sich nicht nur Bäumers äußeres Verhalten zu den Staatsfeinden verändert – die Stilistik des inneren Monologes hat sich auch verändert. Wenn die Kriegsthematik im ersten Auszug geherrscht hat, was mit Hilfe des Paradigmas Soldat → Tier und des Vergleiches der Feinde mit verschwommenen Wesen mit Händen und Beinen betont wurde, herrscht eine Friedensthematik jetzt vor, die mit Hilfe der Assoziationen von Dorf und Bauern (Paradigma Feind → Bauer) akzentuiert wird. Solche Veränderung in Bäumers Verhalten zum Feind ist in erster Linie mit der Evolution seines Verhaltens zum Staat verbunden, für den er kämpft. Das wird mit den Worten Bäumers bestätigt: »Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schüler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch würden wir wieder auf sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wären.« (134) In diesem Zitat steht Bäumers Gebrauch der Wörter »Unteroffizier« und »Klassenlehrer« wie Synonyme zum Hauptlexem »Feind« im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das bestätigt noch einmal die Richtigkeit unserer Zurechnung dieser Personen zur Gestalt eines totalitären Staates. Schlussfolgerungen 1) Paul Bäumers Gestalt wird von Remarque im Roman in drei Hypostasen im Rahmen der entsprechenden Chronotopen realisiert; 2) Die Hypostase Bäumer–Soldat wird in zwei Chronotopen realisiert: »Front« und »Front – Rückkehr«. Im Rahmen des Chronotops »Front« geschehen der Evolutionsanfang in Bäumers Bewusstsein und sein Begreifen des Andersseins. 3) Zwischen den Chronopen »Front« und »Front – Rückkehr« befindet sich das Chronotop »Haus – voriges Leben«, in dem Bäumer vorige Ideale ablehnt und sich dem Vorkriegsleben entgegenstellt. Hier wird er in der Hypostase Bäumer– Sohn verkörpert 59

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4) Nach der Rückkehr an die Front (Chronotop »Front – Rückkehr«) verwandelt sich Bämer endgültig in einen »Anderen«; 5) Die Chronotope »Front« und »Haus – voriges Leben« sind verbunden, weil das Werden von Bäumers neuer Persöhnlichkeit mit einer anderen Weltanschauung und einem anderen Begreifen vom Staat als einem totalitären Staat in ihrem Rahmen geschieht; 6) Im Chronotop »Front – Rückkehr« entsteht als ein Evolutionergebnis eine neue Hypostase von Bäumer – Bäumer – Anderer.

Literaturverzeichnis M. M. Bachtin. Literarisch-kritische Aufsätze. Moskau 1986. H. Günter, E. Dobrenko (eds.). Der sozrealistische Kanon. Sankt Petersburg: Akademitscheskij Projekt, 2000. Die Enzyklopädie von Symbolen, Zeichen, Emblemen. Moskau: Lokid – Mif, 1999. http:// sigils.ru/symbols/zvet.html. N.W. Pawlowitsch. Die Gestaltensprache. Moskau: Asbukownik, 2004. Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Mit Materialen und einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1999. Erich Maria Remarque. Die Geschichte von Annettes Liebe: Erzählungen. Publizistik [Sammelband: übers. aus dem Deutschen]. Moskau: AST, 2009. D. Wituschkin. »Die politischen Parteien als ein Gesellschaftsinstitut im Europa am Ende des IXX. – Anfang des XX. Jahrhunderts« http://politanaliz.land.ru/party1.htm.

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Doberdo – ein Roman des Slowenen Prežihov Voranc / Lovro Kuhar über den I. Weltkrieg an der Isonzo-Front

Das Kollektivbewusstsein vom I. Weltkrieg bei den Lesern nördlich und südlich der Alpen Remarque hat mit seinem Romantitel Im Westen nichts Neues, wenn wir an den I. Weltkrieg denken, die Hauptblickrichtung unserer kollektiven Erinnerung gekennzeichnet. In Frankreich und Flandern spielte sich für das Bewusstsein deutscher Leser dieser erschreckende Krieg ab. Von der Ostfront ist uns lediglich ein Stichwort erinnerlich: »Tannenberg«.1 Es ist etwa so bekannt wie »Langemarck« im Westen. Der Krieg im Osten war eben bei weitem nicht so von verbissenen und verlustreichen Grabenkämpfen geprägt wie der im Westen und verlief letztendlich durch die Novemberrevolution, die vom Deutschen Kaiserreich befördert worden war, für die Mittelmächte erfolgreich. Mit dem Kriegsgeschehen im Westen beschäftigten sich nicht nur namhafte deutsche Autoren, sondern auch französische und englischsprachige. Exemplarisch sei hier der Franzose Henri Barbusse mit Le feu. Journal d’une escouade (Roman 1916) genannt, ferner der Amerikaner John Dos Passos mit seinem Roman Three Soldiers (1921) und Robert Graves mit seiner Autobiografie Goodbye to All That (1929). Das Wort »Doberdo« sagt dem deutschen Leser dagegen in der Regel nichts. Es bezeichnet eine Hochebene im slowenischen Karstland südlich von Görz/Gorizia/Nova Gorica, die nach dem I. Weltkrieg zu Italien kam.2 Während des »Weltkriegs« war sie Teil der in zwölf 1 Vgl. hierzu Andreas Kossert. »Der Mythos von Tannenberg«. DIE ZEIT, 13.02.2014, 20f., sowie Ludger Heid. »Im Reich Ober Ost«. DIE ZEIT, 20.02.2014, 19. 2 Der Hochebene Doberdo ist westlich ein Hügel vorgelagert, auf dem die italienischen Faschisten 1938 ein Mausoleum für ca. 100.000 an der Isonzofront gefallene italienische Soldaten in pompös-heroischem Stil einweihten, den Cimiterio Monumentale degli Invitti, der auch heute noch als Sacrario (Heiligtum!) Militare bezeichnet und so auf Autobahnschildern ausgewiesen ist. Zu besonderen Anlässen finden hier Paraden und Aufmärsche des italienischen

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Schlachten verlustreich umkämpften Isonzofront – als Stichwort vielleicht auch hierzulande erinnerlich –, die sich in das österreichische Kollektivbewusstsein und das der Nachfolgestaaten des Habsburger Reiches eingeprägt hat, also auch in das slowenische, um dessen Ausprägung es im vorliegenden Roman geht. Für uns Deutsche war das letzte Stichwort aus dem südalpinen Vorland das Attentat auf das österreichische Thronfolgerehepaar. Der österreichische Kronprinz Franz Ferdinand und seine Frau wurden am 28. Juni 19143 von dem serbischen Nationalisten Gavrilo Princip in Sarajevo, der Hauptstadt des seit der Annexion 19084 zum Habsburger Kaiserreich gehörenden Bosnien-Herzegowina, erschossen. Nach Kriegsausbruch5 Ende Juli/August aber war das Gebiet südlich der Alpen nicht mehr im deutschen Blickfeld, und Entsprechendes gilt umgekehrt. Kein Wunder also, dass »Nordfrankreich, fast ganz Belgien« lediglich beiläufig in diesem slowenischen Roman Erwähnung finden (227). »Die Tatsache, dass die Russen in den Karpaten standen, dass die Deutschen an der französischen Westfront stecken geblieben und die Österreicher aus Belgrad rausgeworfen worden waren, […]« (35) bringt den westlichen Kriegsschauplatz gelegentlich im ziemlich abstrakten militärtechnischen Unterricht zur Sprache. Das Stichwort »Doberdo« macht deutlich, dass es für die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) kein gemeineuropäisches historisches Bewusstsein gibt. Alle Länder haben ihre eigenen Vorstellungen vom »Weltkrieg«. Polen z.B. brachte er die Wiederentstehung eines eigenen Staates, den Slowenen, Kroaten und den Bewohnern von Bosnien/ Militärs statt. Einen militärischen Grund, die italienischen Gefallenen als Invitti (Unbesiegte) zu ehren, gab es allerdings nicht; im Herbst 1917 durchbrachen die österreichischen Truppen die Isonzofront. Es gelang ihnen mit deutscher Hilfe, die Friaulische Ebene zu überrennen und die Italiener bis zum Piave-Fluss zurückzuwerfen. Lediglich die Tatsache, dass Italien bei Kriegsende zur Partei der Sieger gehörte, bewirkte, dass das bisher zur Donaumonarchie gehörende Triest samt Umland zu Italien kam. (Vertrag von Saint-Germain, 10.09.1919) 3 Der Zufall der großherzoglichen Terminplanung wollte es, dass der Besuch und das Attentat ausgerechnet auf diesen Termin fiel, der für das großserbische Bewusstsein von so hoher Bedeutung war. Denn am 28. Juni 1389 fand die Schlacht auf dem Amselfeld gegen das osmanische Reich statt, die zwar für Serbien nicht siegreich ausging, deren Andenken aber bis in die Gegenwart das serbische Nationalbewusstsein stärkt. 4 Bei dieser Annexion wurde Österreich/Ungarn lediglich von Deutschland unterstützt; in diesem Zusammenhang entstand das Stichwort »Nibelungentreue«, die sich dann im I. Weltkrieg noch bewähren sollte. 5 Hier ist das Stichwort »Blankovollmacht« relevant: Kaiser Wilhelm II. versichert in einem Telegramm vom 6. Juli, »im Einklang mit seinen Bündnisverpflichtungen und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich/Ungarns [zu] stehen.« Gerd Krumeich. Juli 1914. Eine Bilanz. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2014, 72. Danach erklärt Österreich am 27. Juli Serbien den Krieg, was dann die bekannten Schachzüge auslöste, die den I. Weltkrieg samt Zweifrontenkrieg eröffneten. Unter Historikern ist strittig, wieweit sich Deutschland durch diesen Blankoscheck für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie am Ausbruch des I. Weltkriegs schuldig machte.

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Herzegowina eigene souveräne Staaten. Österreich ging als deutscher Rumpfstaat aus »Kakanien«6 hervor und wendete einen nostalgischen Blick auf das untergegangene Habsburgerreich, dessen Nachfolgeländer sich heute als »Mitteleuropa« verstehen. Ganz anders ist die Vorstellung der Türkei:7 Für sie fand der I. Weltkrieg auf der Halbinsel Gallipoli8 statt, und für die australischen und neuseeländischen Soldaten, die dort die Türken bekämpften, auch. Angesichts der dargestellten Verhältnisse kann man nun von einer Analogie sprechen: Was den Deutschen und Franzosen das Stichwort »Verdun« bedeutet, das bedeutet den Österreichern und Slowenen das Wort »Isonzofront«. Und was Ersteren z.B. das »Fort Douaumont« ist, bedeutet Letzteren der »Doberdo«. Kein Wunder also, dass dieser Name zum Titel eines Romans gemacht wurde, der 1940 erschien. Der Autor Verfasser ist der slowenische Politiker Lovro Kuhar, der unter dem Künstlernamen Prežihov Voranc schriftstellerisch tätig war. »Als Audiodidakt wurde Lovro Kuhar (1893–1950, bekannt als P. Voranc) zu einem der besten Prosaschriftsteller der Literatur des sozialen Realismus. Fast sein gesamtes Werk ist an heimatliche Region gebunden; für die meisten seiner Helden hatte er lebende Prototypen. […]. Zu Beginn des I. Weltkrieges wurde er zur Armee einberufen und war unter anderem auch Soldat in den Schlachten an der Isonzofront. Ein Teil dieser Erfahrungen

6 Nostalgisch-ironische Bezeichnung für die k.u.k. Donaumonarchie des österreichischen Schriftstellers Robert Musil. 7 Der Nahostexperte Udo Steinbach postuliert eine »inklusive Wahrnehmung«. Er exemplifizierte dies in einem Vortrag für den I. Weltkrieg folgendermaßen: Es sei zu beachten, dass damals nicht nur die drei europäischen Kaiserreiche untergegangen seien, sondern auch das Osmanische. Nur so seien die politischen Vorgänge im Nahen Osten zu verstehen. Vgl. hierzu: Bernhard Zand. »Hundert Jahre Krieg. Im Zuge des Ersten Weltkriegs eroberten Großbritannien und Frankreich den Nahan Osten und teilten ihn untereinander auf. An keinem Schauplatz sind die Folgen des damaligen Konflikts so gegenwärtig wie in der arabischen Welt. [Teil V einer Serie zum I. Weltkrieg].« DER SPIEGEL, 27.01.2014, 58–63. 8 »In Deutschland kaum bekannt, starben bei den Kämpfen auf der Halbinsel [Gallipoli] vermutlich mehr Soldaten als bei der Schlacht vor Verdun, die hierzulande als Sinnbild für die immensen Verluste dieses Krieges steht. Nur waren es in Gallipoli keine Deutschen, [...], die auf dem Schlachtfeld blieben.« Burkhart Ewert. »Massaker – Menschenverachtung – Menetekel. Vor hundert Jahren begann der erste Weltkrieg: Serienprojekt mit Spurensuche in Deutschland und der Region startet.« Neue Osnabrücker Zeitung, 11.01.2014, 3. »Ihren ersten großen Kriegseinsatz feiern die Australier heute als Gründungsmythos der Nation – obwohl sie 1915 auf der türkischen Halbinsel Gallipoli eine verheerende Niederlage erlitten.« Artikeluntertitel in DER SPIEGEL, 27.01.2014, 64.

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floss in den nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Antkriegsroman Doberdo ein. Nach dem I. Weltkrieg war er politisch sehr aktiv und musste 1930 als illegaler Kommunist aus dem Königreich Jugoslawien fliehen; er reiste von da an kreuz und quer durch Europa und kam in Wien dreimal ins Gefängnis. 1939 kehrte er illegal nach Jugoslawien zurück und schloss sich der Widerstandsbewegung an. 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und ins KZ Mauthausen gebracht. Die Nachkriegszeit verbrachte Prežih trotz höherer Funktionen in seinem Heimatort Kotlje. Er schrieb drei große Romane, zahlreiche Novellen, Reiseerzählungen und Kinderbücher.«9 Der Begriff »sozialer Realismus« grenzt das schriftstellerische Werk des Kommunisten Kuhar vom sozialistischen Realismus ab, der ja von Propaganda geprägt war. Sozialer Realismus ist vielmehr im Sinne von sozialer Dichtung zu verstehen, wie sie etwa von Gerhart Hauptmann (der allerdings im I. Weltkrieg sich als Kriegstreiber hervortat, der das Massensterben glorifizierte; s. »Der Krieg und die Kunst«. Neue Osnabrücker Zeitung, 24. 02. 2014, 5), Emile Zola und Heinrich Mann geprägt ist.10 Kuhar war Verfechter von Gebietsansprüchen auf den slowenischen Teil von Kärnten: »Dies hat, zusammen mit seinem Engagement für die Kommunistische Partei und die Partisanenbewegung während des II. Weltkrieges, seine Beachtung und Rezeption im deutschen Sprachraum lange verhindert, während er in Jugoslawien und auch von Teilen der slowenischen Volksgruppe in Österreich geschätzt wurde.«11 Die Rezeption des Romans nördlich und südlich der Alpen Das ist ein deutlicher Beleg für die unterschiedlichen Sichtweisen auf den I. Weltkrieg. Interessant in diesem Zusammenhang ist ein editorischer Hinweis in der deutschen Ausgabe von 2008: »Gedruckt mit Unterstützung des Programmes Kultur (2007–2013) der Europäischen Union«. (4) Die EU scheint bestrebt zu sein, dem offensichtlichen Fehlen eines gemeineuropäischen Geschichtsbewusstsein entgegen zu wirken und einem vormaligen Partisanen, der das Großdeutsche Reich bekämpft hatte, nach Ende des Kalten Krieges im gesamten deutschsprachigen Bereich eine Chance zu verschaffen. 9 www.mohorjeva.at/shop/autor/lovro_kuhar_-_prežihov _voranc/, Zugriff am 21.01.2014. Bei diesem Internettext handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung des Klappentextes der deutschen Romanausgabe. 10 Lovro Kuhar – Prežihov Voranc. Doberdo. Slowenischer Antikriegsroman. Klagenfurt: Hermagoras, 2008; 365 S. Slowenische Originalausgabe: Doberdob. Vojni roman slovenskega narodna. Ljubeljana: Naša založba, 1940. 11 »Prežihov Voranc – Wikipedia«. de.wikipedia.org/wiki/Prežihov_Voranc, Zugriff am 22.01.2014.

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Von Interesse sind auch die unterschiedlichen Versionen des Roman-Untertitels in den beiden Sprachen. Während die deutsche Version »Slowenischer Antikriegsroman« (2) lautet, bedeutet der slowenische Untertitel etwa: Kriegsroman der slowenischen Nation. (s. o. Wikipedia-Eintrag) Die beiden Fassungen erscheinen zunächst widersprüchlich und dem Kontext der jeweiligen Erscheinungszeit geschuldet, aber das täuscht. Bei der Romanlektüre erschließt sich dem Leser bald, dass das Entstehen eines slowenischen Nationalbewusstsein und einer pazifistischen Haltung (»[...]Unrecht. Menschen waren doch keine Karnickel, die man einfach so abknallen konnte!« 185) lediglich die beiden Seiten derselben Medaille sind. Denn die Überzeugung, dass dieser unmenschliche Krieg der letzte sein und dass er einen slowenischen Staat hervorbringen müsse, ist nicht trennbar: »Nieder mit dem Krieg…! Wir wollen kein Blutvergießen mehr…! Nach Hause! Nach Hause! Es leben die Slowenen, es lebe die slowenische Heimat…! Es lebe die Freiheit!« (301) »Wir haben uns gegen Österreich und gegen den Krieg gestellt [...].« (352) Ein besonderes Merkmal dieses Romans ist seine reichhaltige Personalausstattung: Es gibt mehr als hundert Personen,12 die, namentlich genannt, agieren und sprachlich interagieren. Und aus den Gedanken, Erlebnissen, Diskussionen oder auch Gefühlen, Widersprüchlichkeit dieser Vielzahl von Personen kristallisiert sich im Laufe der Kriegsereignisse ein Bewusstsein heraus: der Wunsch nach nationaler slowenischer Emanzipation zunächst erst innerhalb Österreichs, dann als souveräner Staat. Quell dieses Emanzipationswunsches ist zunächst die herabwürdigende Behandlung von slawischen Soldaten beim österreichischen Militär als »politisch Verdächtige«, sodann aber die Frage, wofür man eigentlich kämpft. An dieser Stelle kommt der pazifistische Zug in den Roman. Dass das Ganze sich dann in einer militärischen Rebellion entlädt, widerspricht dieser pazifistischen Tendenz nicht. Dann aber wird der Aufstand niedergeschlagen. Verfahrensweise Wie lässt sich nun der gedankliche Gärungsprozess, der zunächst zur Artikula­ tion des Emanzipationswunsches führt, hier darstellen? Idealerweise müsste man die Interdependenz und die Konterdetermination der Meinungen aller Beteiligten analysieren. Die Totalität dieses Beziehungsgeflechts ist aber nicht darstellbar. Also kann man sich nur darauf beschränken, an einzelnen Beispielen zu zeigen, wie die wechselseitige Abhängigkeit und Beeinflussung funktioniert. Dazu muss man zunächst das integrale Ganze differenzieren, also den Diskurs entflechten und einzelne Diskursstränge wie z. B. die Relevanz Russlands im Längsschnitt betrachten. Um Irritationen vorzubeugen, die bei der Analyse verschiedener Längsschnitte

12 Die Anzahl der hier namentlich genannten Romanfiguren konnte auf 33 begrenzt werden.

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entstehen könnten, sei hier unterstrichen: Der Roman wird von einem personalen Erzähler vorgetragen und dies kontinuierlich in der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse. – Ferner: Der Kreis von Personen, die hier beobachtet werden, hätte sich auch anders zusammensetzen können; diese sollen also nicht sonderlich hervorgehoben werden. Die Vielzahl der Personen bei geringer Hervorhebung dieses Kreises scheint in der grundsätzlichen poetologischen Romankonzeption dieses sozialistischen Autors begründet zu sein. Das Strafbataillon Unter der Vielzahl agierender und interagierender Romanfiguren sind viele Mitglieder der militärischen Einheit, die vorerst im Zentrum der Romanhandlung steht. Sie hat die offizielle Bezeichnung »[...] 1. Schwarm des 1. Zugs der 1. Kompanie des Bataillons Nr. 100«. (164) Der Leser lernt sie im ersten der vier Teile des Romans kennen, der den Titel »Landsturm« (7) trägt.13 Mit der Bezeichnung »Landsturm« wird häufig die Assoziation ›letztes Aufgebot‹ verbunden. Dass sich der Eindruck auch hier – und zwar aus Sicht der militärischen Führung – einstellt, zeigt schon gleich das Schicksal des Infanteristen Amun, der – für ihn unverständlicherweise – von seiner bisherigen Einheit »zum Bataillon Nr. 100 transferiert« wird. Er hat sich schon am nächsten Morgen dort zu melden: »Solche Soldaten wie Sie brauchen wir hier nicht«. (8) Und ab sofort wird er von seinen bisherigen Kameraden geschnitten bzw. angefeindet als »[e]ine Schande für das ganze Regiment«. (9) Nur einen Bettnachbarn, der sonst mit ihm geplaudert hatte, kann er mit einem Päckchen Tabak zumindest zu einer neutralen Haltung bewegen; von ihm erfährt er, was offenbar alle Anderen schon wissen: Amun ist »P. V., politisch verdächtig«. (10) Dass das an seiner slowenischen Nationalität liegt, kann er vorerst nur vermuten. Und dass er beim Attentat auf den Kronprinzen daheim geäußert hat »Da hat es den Richtigen getroffen!«, (12) kann hier niemand wissen. Trotzdem empfängt ihn der diensttuende Korporal mit dem Kommentar »Das Üb-

13 Teil 1, aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof; Teil 2 »Doberdo«, übersetzt von Karin Almasy,; Teil 3 »Lebring«, übersetzt von Olof und Teil 4 » Judenburg«, übersetzt von Almasy. Die Übersetzer haben das slowenische Original passenderweise in ein leicht österreichisch gefärbtes Deutsch übertragen. Die letzteren Kapitelüberschriften bezeichnen zwei steirische Ortschaften. Über Lebring heißt es bei Wikipedia u. A: »Im Jahre 1915 wurde ein riesiges Barackenlager gebaut, die großen Baracken wohl hundert an der Zahl wurden in vier quadratischen Gruppen geteilt und waren für militärische Zwecke bereit. Hauptzweck der Unterkünfte war in erster Linie die Unterbringung des Kaders bzw. des Ersatzbataillons des bosnisch-herzegowinischen Infanterie Regimentes Nr.  2. Ein großer Teil des Lagers diente als Kriegsgefangenenlager.« de.wikipedia.org/wiki/Lebring-Sankt_Margarethen, Zugriff am 23.01.2014.

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liche! Sarajewo«. (13) Und Feldwebel Rom droht ihm: »Aber warte Bürschchen! In einem Monat ist der Krieg zu Ende, und dann stellen wir dich an die Wand.« (14) Nun ist er also bei seiner neuen Einheit und hört, »dass das so ein Strafbataillon ist, zusammengestellt aus Deserteuren, politisch Verdächtigen, Marodeuren und Ähnlichem«, (16) ein Sammelplatz für den Abschaum der österreichisch-ungarischen Armee [...], eine jener zahllosen Einheiten, in denen zahllose Unglückliche verschiedener Säuberungsaktionen in Garnisonsgerichten, Strafanstalten, Irrenhäusern zusammengefasst wurden, eine jener namenlosen Einheiten, die später an der Isonzofront im Feuer der italienischen Granaten zerschmelzen [...] sollten. (21f.)

Das Bataillon besteht aus zwei zunächst eindeutig unterscheidbaren Gruppen; den Kern der Mannschaft bilden »so genannte Zuverlässige« (22), Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaftsdienstgrade, die die Verdächtigten in Schach halten sollen. Der andere Teil der Mannschaft bestand aus so genannten politisch Verdächtigen. Unter ihnen waren in erster Linie solche, die der Militärverwaltung als Angehörige unterschiedlicher nationaler, demokratischer und ähnlicher Bestrebungen bekannt waren, von denen die Militärverwaltung meinte, sie seien für den Weiterbestand der Monarchie schädlich. (22)

Im Internierungslager Thalerhof hatte man zu Beginn des Krieges gleich Tausende von Bukowinern und Galiziern zusammengezogen, von denen man annahm, sie würden mit dem russischen Feind (»[D]ie Russen sind von unserm Blut.« 68) sympathisieren. Es fanden sich aber auch Ukrainer, Juden, Polen, Rumänen, Slowaken und ›Deutsche‹ – gemeint sind Deutsch-Österreicher – unter den Thalerhofern. Die Zustände sind in diesem Internierungslager dermaßen unerträglich, dass sich die Insassen dem Militär als Freiwillige geradezu aufdrängen. Um beim Militär genommen zu werden, fälschen sie notfalls ihr Geburtsdatum. Hinzu kommen noch die erwähnten Deserteure, Marodeure und Kriminellen. Schicksale einzelner Kameraden In diese Gesellschaft kommt nun Amun und wird mit den Leidensgeschichten einiger Kameraden konfrontiert. Der schon fast sechzigjährige (22), aus Tarnopol (im österreichisch-ungarischen Kronland Galizien) stammende ukrainische Infanterist Matejčuk war zu Kriegsbeginn in seinem Haus von Kosaken überfallen worden, die ihn ausgeraubt und seine zwanzigjährige Tochter verschleppt hatten. Danach kamen die Ungarn und vertrieben ihn und seine kränkelnde Frau. Hinter der Front wurden sie aufgegriffen und als russische Spione verurteilt. Die Frau 67

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starb, und Matejčuk kam, nachdem man ihn zum Tode verurteilt hatte, nach Thalerhof. Als er dort seine Suppe nicht aus einer Schüssel essen wollte, die den Soldaten zuvor als Nachtgeschirr gedient hatte, schlugen sie ihm die Zähne ein (24f.). Kašul, ein fast gleichaltriger Ukrainer, wurde aus einem nichtigen Grund, der sich im Nachhinein als falsch erwies, mit einem Sexualstraftäter in eine Zelle gesperrt. Da er von der Wachmannschaft keine Hilfe erhielt, konnte er sich der brutalen Übergriffe des Wahnsinnigen nur dadurch erwehren, dass er ihn erwürgte. Von da an litt Kašul an Fallsucht. (25) Matejčuk und Kašul versuchen schließlich zu desertieren, werden aber erwischt und müssen sich ihr eigenes Grab ausschaufeln. (254ff.) – Dem Infanteristen Held, einem ›Deutschen‹ aus Galizien und »äußerst fanatische[n] Deutschnationale[n]«, (25) war sein Patriotismus zum Verhängnis geworden. Er hatte vorbeimarschierenden österreichischen Truppen zugejubelt und war als agent provocateur festgenommen worden. Obwohl er allen Vorgesetzten gegenüber seine nationale Gesinnung beteuerte, an der er auch trotz seiner reichhaltigen Ungerechtigkeitserfahrung eisern festhielt, glaubte man ihm nicht: »Wir kennen solche Vögel!« (26) – Der Infanterist Popovič, der sich früher als »Serbe aus Bosnien« bezeichnet hatte – inzwischen nennt er sich vorsichtshalber Bosnier (37) –, war in der k.u.k. Armee Leutnant der Reserve gewesen. Beim Attentat von Sarajewo war die Meute in das Haus seines Vaters eingedrungen, hatte die Einrichtung hinausgeworfen und angezündet und seinen Vater und ihn besinnungslos geprügelt (26f.). Er kam für vier Monate in Festungshaft, wo er sich die Schwindsucht zuzog, (153, 220) an der er letztendlich stirbt. (229f.) Weil man ihm keine Illoyalität nachweisen konnte, degradierte man ihn zu einem Mannschaftsdienstgrad und schickte ihn in das Bataillon 100. Was man aber nicht bemerkt hatte: »Er kannte nur eine Sache – sein Serbien.« (154) Und obgleich er sich abseits hält, wird er, der Erfahrenere, mit der Zeit zu jemandem, den seine Kameraden um seine Meinung fragen: »Gehen wir zu Popovič! Der weiß eine Menge.« (79) Soweit ein paar Schicksale aus diesem Strafbataillon, in dem Amun sich jetzt wiederfindet. Die Verdächtigen – die Zuverlässigen Es lässt sich bei den Romanfiguren sowohl eine individuelle als auch eine Entwicklung durch die Interdependenz und Konterdetermination der Soldaten beobachten. Das zeigt sich auch bei den »so genannte[n] Zuverlässige[n]«. (22) Der ›deutsche‹ Infanterist Barfuss ist anfänglich auch der Ansicht, »dass diese Leute nach dem Krieg erschossen werden« (17) sollen. Er wird im Laufe der Ereignisse einer der besten Freunde der zum Aufstand tendierenden Slowenen. Der ›deutsche‹ Infanterist Holcman sieht die Aufgabe der ›Zuverlässigen‹ zunächst darin, dass »wir die Katze am Schwanz packen, wenn wir an die Front kommen.« (16) Dennoch zeichnet sich bald auch eine andere Tendenz ab: Holcman und Barfuss, die von den Thalerhofern »zu den verstocktesten und eingebildetsten Zuverlässi68

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gen« (73) gezählt werden, greifen nämlich »völlig unerwartet auf Seiten Amuns und seiner Kameraden« ein, als diese in einem Wirtshaus von Soldaten anderer Einheiten provoziert werden. Die beiden ›Deutschen‹ werden gegenüber den Provokateuren sogar handgreiflich. Als Barfuss viel später (»Auch Barfuss war noch da – von der alten Garde. Der hatte sich unglaublich verändert [...].« 199) als Ortskundiger die aufständischen Slowenen unter Beschuss loyaler Truppenteile durch Judenburg führt, riskiert er sein Leben für seine Freunde und verliert es. (333) Betrauert wird er von seiner Schwester Trude, »dem anziehenden Mädchen«, (278) neuerdings Kellnerin im Judenburger Wirtshaus Zaparka. (275) Die Romanfigur Barfuss ist ein Beispiel für die differenzierte Personenzeichnung und Diskursführung des Autors. Barfuss nämlich entwickelt sich durchaus nicht zum eindeutigen Sympathieträger, denn er hat seine Schwester vom heimischen Hof verjagt. Sie hatte in seiner Abwesenheit von einem Russen, der dort schon über zwei Jahre als zuverlässiger Knecht gearbeitet hatte, ein Kind bekommen. Barfuss aber ist voller Ressentiments: »Meine Schwester, das schönste Mädchen im Dorf, hat es mit einem Russen getrieben – mit einem Russen!« (213) Dabei hatten die Kameraden Barfuss umzustimmen versucht – vergeblich. Und Holcman hatte, als sie ihren Bruder in der Landsturm­kaserne besuchte, sich in das schöne, fröhliche Mädchen verliebt und wollte sie »[n]ach dem Krieg« (63) heiraten. Holcman aber lebt nun schon lang nicht mehr. Er war an einem Tag gefallen, der so still war, dass österreichische Feldmarschall Conrad von Hötzendorf meldete: »An der Isonzofront herrscht Ruhe.« (168f.) Der Infanterist Rainer, ein ›Deutscher‹ und zudem einer der ›Zuverlässigen‹, fällt Amun und anderen Slowenen positiv auf, (18f.) zumal er dem impertinenten Feldwebel Rom Contra gibt, (59) obwohl er als ›Deutscher‹ und ›Zuverlässiger‹ aus Sicht der Slowenen auf dessen Seite gehört. Er ist sehr belesen, Sozialdemokrat, und seine Persönlichkeit wirkt auf die meist bäuerlichen Slowenen sehr anziehend. Amun z.B. ist Sohn eines Kleinbauern, der halb als Bauernsohn, halb als Tagelöhner gelebt hat. Sein Vater war schon Anhänger der Slowenenpartei gewesen, die mit der mächtigeren Deutschenpartei konkurrierte, der alle Einflussreichen im Dorf angehörten. Lediglich die Geistlichkeit stand auf Seiten der Slowenen. (12) So gesehen war ihm jemand wie Rainer fremd. Zwar war Rainer gegen die staatliche Willkürherrschaft und für die Mitbestimmung des Volkes, aber mit Nationalitätenfragen hatte er als Internationalist nichts im Sinn, so dass den Slowenen seine Ansichten wieder auch nicht ins Konzept passten. Aber eins imponiert Amun: Rainers unbedingter Glaube an seine Ideale. (59f.) Rainer ist für Amun ein guter Kamerad, so dass sie überlegen, gemeinsam zu desertieren. (91) Als es aber so weit ist, versichert Rainer Amun zwar seiner Sympathie, bleibt aber der Truppe treu. (200) Das wird er später anders beurteilen: »Ich bereue nur eine einzige Sache, und zwar, dass ich nicht mit Amun zusammen desertiert bin.« (258) Natürlich gibt es außer den Freunden der Soldaten vom Bataillon 100 auch eine ganze Phalanx von deren Gegnern. So etwa den Soldaten Segal, eine bizarre Figur. 69

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Er war im Zivilleben Kommerzienrat und hatte sich trotz seines Alters von 50 Jahren freiwillig zur Armee gemeldet. Er war ein äußerst fanatischer Austriake[14], [und obwohl praktizierender Jude] ein Großgermane, ein Verfechter aller möglichen germanischen imperialistischen Brückenköpfe [...] und ein unerbittlicher Gegner der nationalen Minderheiten Österreichs. (20)

Die Kameraden vom Bataillon 100 ahnen, dass er ein Vertrauensmann des Bataillonskommandos ist, hier jedenfalls gehört er zu den Zuverlässigen und bleibt das auch. Ende 1917 – Segal ist trotz aller Rückschläge ein unerschütterlicher Patriot – zeigt er doch als Beweis seiner Loyalität zur k.u.k. Monarchie seine Unterhose bei Kriegsbeginn vor: »Das war meine damalige Unterhose... Heute würden drei Segals hineinpassen... seht her... drei Segals...« Die Kameraden amüsierte dass, denn es war nicht das erste Mal, »dass Segal die internationale Oligarchie mit seiner einstigen Unterhose verteidigte.« (229) Das österreichische Militär betreibt eine ziemlich stumpfsinnige Indoktrinierung seiner Soldaten. Aus dieser ragt noch die hurra-patriotische Predigt des Feldkuraten Fanedl hervor, die dieser hält, als die Truppe an die Front aufbricht. (100f.) Aber der Geistliche, ein ›Deutscher‹, war – anders als beispielsweise Segal – von der Kriegserfahrung »gebrochen an Seele und Leib«: »Er stumpfte ab und wurde gegenüber allem gleichgültig, was ihm vor der Zeit noch heilig und allein seligmachend gewesen war.« (264) Hauptmann Hering und Reserveleutnant Herrgott erscheinen dagegen robuster. Hering hatte das allmorgendliche Absingen der Kaiserhymne eingeführt, weil er die politisch unzuverlässigen Soldaten »mit dem Singen zum Patriotismus erziehen wollte.« (105) Herrgott, im Zivilleben »Gymnasialsupplent«15 (34) aus Schlesien, erteilt seiner Truppe politischen Unterricht. »Als Lehrer in den militärtechnischen Wissenschaften [genoss er besonderes Ansehen] als Ausbildner, der der Mannschaft die für das Militär notwendige Moral, Disziplin und unbedingten Gehorsam beizubringen verstand.« (34) Dabei stellt er Fragen wie »Was ist der einzige Wunsch eines österreichischen Soldaten?« Die erwartete korrekte Antwort hat zu lauten: »Der Wunsch eines jeden österreichischen Soldaten ist es, auf dem Felde des Ruhmes und der Ehre sein Leben für Kaiser und Vaterland zu geben.« Die korrekte Antwort auf die Frage »Was ist das Gewehr?« muss heißen: »Das Gewehr ist der Gott des Soldaten!« Entsprechendes gilt für die Frage »Was ist der soldatische Geist?« (36) »Der soldatische Geist ist der Geist des Siegeswillens und der Kame-

14 Etwa: Anhänger des Habsburger-Reichs, der habsburgischen Politik. 15 »Supplent«: österreichisch für Vertrags- bzw. Hilfslehrer.

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radschaft.« (37) Und dann die Frage »Was sind Sie?«, auf die als Antwort die Angabe von Name, Dienstgrad, Bezeichnung der militärischen Einheit etc. erwartet wird. Der ehemalige Forstassistent Petrika, »ein gefährlicher Zyniker [...], der über alles seinen Hohn« ausgießt, antwortet aber: »Melde gehorsamst, Herr Leutnant, ehemaliger Hochverräter!« (37) Somit riskiert ein Thalerhofer hier schon eine renitente Äußerung, und der Leutnant lacht lediglich bitter auf. Die Repressionen der Führung zeigen aber mit der Zeit das Gegenteil des erwünschten Effekts. Amun in einem Streit: »Was mich betrifft, sage ich euch, dass ich jedem in die Fresse schlage, der mich einen Verräter schimpft! [...]. Trage ich nicht die gleiche Kokarde wie zum Beispiel Segal [...]?« (75) Zugführer Erdkönig, der Amun gleich sympathisch war: Mit diesen Beschimpfungen muss ein für allemal Schluss sein. Dass mir das Wort Verräter oder etwas Ähnliches nicht wieder zu Ohren kommt! Wie wollt ihr euch dann an der Front verhalten? Wollt ihr einander in den Rücken schießen? (76)

Noch in die militärische Ausbildungszeit des Bataillons 100 fallen zwei Kriegsereignisse, die die Emotionen der Soldaten gleich welcher Ethnie nicht unberührt lassen. »Italien hat uns den Krieg erklärt…«16 (77) Das wird besonders von den austriakisch gesinnten Kreisen als Verrat angesehen. Bei gelenkten Empörungsdemonstrationen wird die Kaiserhymne abgesungen und es kommt es zum Rufen wie »Es lebe Österreich!«, »Nieder mit Italien!« und »Es lebe der Krieg!« (78f.) Man spricht davon, dass Italien deshalb in den Krieg eingetreten sei, »weil es von Österreich Triest, Dalmatien und Südtirol haben wolle.« (79) Die slawischen Soldaten fragen sich, welche Folgen dieser Kriegseintritts wohl für ihr Schicksal hat. Der Infanterist (24) Demark zu Amun über die Erwägungen zu desertieren: »Zu den Italienern würde ich nicht überlaufen, zu den Russen oder Serben schon. Ich bin Kroate! Istrianer!« (147) Die Relevanz Russlands Die andere Wendung im Kriegsverlauf ist die Eroberung der in Galizien gelegenen, für uneinnehmbar gehaltenen österreichischen Festung Przemysl durch Russ­ land(46).17 Die Reaktionen der Soldaten unterscheiden sich nach deren Herkunft. »Der Weg nach Wien steht den Russen offen«, äußert kleinlaut der ›Deutsche‹ Bar-

16 Italien gehörte ursprünglich mit Österreich und Deutschland zum »Dreibund«, hatte sich aber bei Kriegsausbruch für neutral erklärt. Am 23. Mai 1915 trat es auf Seiten der Entente in den Krieg ein.

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fuss (»– mit einem Russen!«). »Vielleicht ist der Krieg jetzt vorbei«, hofft der politisch verdächtige Tscheche Janoda. »Österreich hat die Festung übergeben, weil es das unsinnige Blutvergießen beenden wollte«, (48) sagt der notorische Austriake Segal und bedient sich damit der beliebten Mär von der »Frontbegradigung«. Die slawischen Soldaten hoffen auf das Vordringen der Russen nach Westen, das ihren Völkern die Freiheit bringen könnte. »Und die Russen sind von unserm Blut...« (68) Diesen Satz hat der istrianische Kroate Demark hoffnungsvoll geäußert, aber der personale Erzähler gibt dazu einen ernüchternden Kommentar: Zu ungefähr der selben Zeit hatte der Gesandte des Zaren, Sazonov, in London einen Pakt unterzeichnet, durch den Demarks Geburtsort und noch ein Gutteil slowenischen und kroatischen Landes an Italien fallen würde… (68)

Dennoch zieht sich auf weite Strecken ein Phänomen durch das Buch, das man als Russland-Relevanz bezeichnen könnte. Auf die Frage, an welche Front er am liebsten kommen würde, antwortet der aus Laibach stammende Infanterist Grum offenherzig: »Am liebsten würde ich an die russische Front. Ich garantiere euch, dass ich von dort nicht zurückkäme.« (67) Russland aber wird in ganz neuem Sinn für die Soldaten relevant, als nach dem Frieden von Brest-Litowsk die österreichischen Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehren. Diese Soldaten sind von revolutionärem Geist erfüllt und nicht mehr bereit, sich von ihren Vorgesetzten etwas sagen zulassen. Sie singen revolutionäre Lieder, und über Strafen spotten sie höchstens: »Bitte sehr; auch du rettest deinen Arsch nicht mehr…« (266) »In unseren Unteroffizieren und Offizieren sehen sie eine Weiße Garde...« (266), klagt Feldwebel Rom über diesen eklatanten Autoritätsverlust. Revolutionärer Geist aber herrscht gegen Ende der Ausbildung noch nicht im Bataillon 100. Trotzdem kommt es beim letzten Manöver zu einem Zwischenfall, der die Frontlinie zwischen den späteren Aufständischen und der Führung schon erkennen lässt und zum Abbruch des Manövers führt. Während wie üblich mit Manövermunition geschossen wird, ist plötzlich eindeutig das »eindeutige Knallen scharfer Munition« (92) zu hören. »Die Wahrheit war, dass gegen die Gruppe der Offiziere auf dem Bergrücken mehrere scharfe Schüsse gefallen waren, doch absichtlich so, dass die Kugeln über die Köpfe der Offiziere hinwegpfiffen.« (93) Die Schützen sind nicht festzustellen. Das gesamte Bataillon 100 wird wegen des »verbrecherischen Vorfalls« mit Gefängnis bestraft. »Es folgte ein Schweigen, aber ein Schweigen voller leiser Genugtuung, die die Mehrheit der Mannschaft erfüllte.« (95) 17 Die galizische Festung wurde am 29. März 1915 nach 194tägiger Belagerung eingenommen. Russland machte dabei fast 120.000 Gefangene, darunter 2.000 Offiziere und 9 Generäle. S. »Weltkriegsfestung in Ostpolen - Träume vom Kanonendonner ...«. einestages.spiegel.de › einestages › Zeitzeugen, Zugriff am 09.02.2014.

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Und schließlich dampft der Truppentransportzug in Richtung Front, versehen mit den üblichen Kreideaufschriften. Aber außerdem gibt es erste kleine Anzeichen neu gewonnenen slawischen Sebstwertgefühls: Aus einigen Waggons flatterten kaiserliche Fähnchen. Und plötzlich wehte aus dem Waggon des 1. Zugs der 1. Kompanie eine slowenische Fahne. [...]. Die slowenische Fahne flatterte auch aus zwei weiteren Waggons, aus mehreren anderen wehte die tschechische Fahne und dann kam noch eine ukrainische. (102)

An der Front Teil 2 des Romans trägt den gleichen Titel wie der Roman selbst: Doberdo. Im Teil 2 finden die verheerenden Schlachtszenen statt, die den Ruf des Doberdo prägen. Es ist von »Abertausenden von Granaten« die Rede, »die vom Feuerschlund jenseits des Isonzo unaufhörlich gegen Osten gespien« (106) werden. Im Osten erhebt sich »eine einzige hohe, brennende Wand«, (107) auf die sich das Bataillon mühselig zubewegt. Es gibt Leuchtraketen, ratternde Maschinengewehre, Granattrichter, Schützengräben, Trommelfeuer und Höllenlärm, eben die Szenerie von »Stahlgewittern« (»der stählerne Sturm«, 127), von den schweren Verlusten unter den Soldaten ganz abgesehen. Solche Szenerien kennt man schon aus Schilderungen der Schlachten um Verdun und Ypern. Ähnliches findet sich aber auch in Romanen, die von Kämpfen südlich der Alpen handeln; so etwa im Roman Ein Jahr auf der Hochebene (1938) des italienischen Schriftstellers und Politikers Emilio Lussu und in Ernest Hemingways Roman In einem anderen Land (1929). Es gibt aber auf Doberdo auch Grabenkämpfe wie an der Westfront. Da die Schilderung derartiger Schlachtszenen dem Leser nördlich der Alpen nicht fremd sind, sollen sie hier nur in soweit Beachtung finden, als sie den im Focus stehenden 1. Schwarm betreffen und die Diskursführung verdeutlichen.18

18 Es wird im gegebenen Kontext überhaupt Vieles übergangen, das zur Gesamtheit dieses Romans gehört, so die Mehrheit der Romanfiguren sowie auch z. B. Naturschilderungen, schwankhafte oder ernsthafte Szenen wie die Mutation einer Geländeübung zu einer Sauftour, bei der Bauern den Soldaten großzügig Most spendieren, (85–90) der vermeidbare Tod eines Schlafwandlers unter den Soldaten, (51–56) die späte, reuevolle Rückkehr von Kalivodas treuloser Braut (212) oder die Invalidität Janodas, dem eine explodierende Handgranate die Testikel weggerissen hatte (236) und die Reaktion seiner Frau darauf. (237–241) Diese und viele andere Episoden werden nicht näher untersucht, weil sie nicht vorrangig der Diskursführung dienen.

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Pazifistische und situationsgebundene Antikriegshaltung Der slowenische Infanterist Štefanič kommt beim Grübeln über Sinn und Ziel des Krieges zu dem Schluss: »Ich würde auch kämpfen, wenn ich wüsste wofür.« (68) Es gibt auch weitere in Kriegsromanen allgemein gängige, pazifistische Sinnerörterungen: »Man musste das eigene Leben verteidigen [...].« (117) Über einen Kameraden, der, nachdem neben ihm eine Granate explodiert ist, irre redet: »Was macht der Kommiss aus einem Menschen!« (211) Selbst die (freilich nicht gegebene) Theodizee wird zur Propagierung des Friedens angeführt. Als er von einem Kameraden gefragt wird, ob er denn nicht an Gott glaube, antwortet »Palir, ein alter Roter«: (48) »Warum treiben sie uns dann in den Tod, wenn es einen Gott gibt?« (98) Folgende Frage wird im Zusammenhang mit dem quälenden Hunger gestellt: »Ich frage euch, sind wir noch Menschen oder schon Tiere?« (207) Eine Äußerung nach der Exekution von Matejčuk und Kašul lässt sich im Zusammenhang mit der häufig benutzten Floskel »Krieg ist Krieg« verstehen, die Bedenken beiseite wischen soll: »Natürlich ist das Krieg, was da geschieht! Ist doch Krieg für sich genommen schon die größte Barbarei auf der Welt.« (257) Die zitierten Textstellen sind hinreichend situationsabstrakt, um sie als allgemein pazifistische Äußerungen zu verstehen. Die folgenden Zitate erklären sich dagegen aus der spezifischen Situation der Soldaten dieser multiethnischen österreichischen Armee. Ein übergelaufener Italiener verflucht den Krieg. Rainer fragt: »Wer hat sie denn in den Krieg gezwungen – die Italiener?« Darauf Demark: »Und wer hat uns gezwungen?« (140) Kurz vor Ausbruch des Aufstands konstatiert Zugführer Rogelj: »Den Krieg haben alle satt, auch die Deutschen!« (284) Schon relativ früh äußert Popovič: »An jeder Front kämpfen sie für ein gemeinsames Ziel: Österreich zu zerschlagen!« (154) Gegen Ende des Jahres 1917 fasst ein Rekonvaleszent im Lazarett seine Erfahrungen folgendermaßen zusammen: »Ich habe mein Urteil gefällt: Der Krieg ist gegen das arme Volk gerichtet[,] und solange wir nicht die Nase voll haben, wird das Morden kein Ende nehmen. Das ist die ganze Wahrheit!« (228) Schon früh hatte Amun klassenkämpferisch geäußert: »Das wird ein Krieg zwischen den Herren und den armen Leuten…» (49)19

19 »Der Krieg ist gegen das arme Volk gerichtet« und »ein Krieg zwischen den Herren und den armen Leuten« – klassenkämpferische Töne? Oder könnten solche Texte nicht auch von Flugblättern aus den Bauernkriegen stammen? S. »Windischer Bauernkrieg« 1515 u. kroatischslowenischer Bauernaufstand 1573. Vgl. hierzu: Mirko Messner. Prežihov Voranc und die Bauern. Klagenfurt/Celovec: Slowenisches wissenschaftliches Institut, 1980. Die Veröffentlichung ist vom Geist des sozialistischen Jugoslawien geprägt. »Der Stellenwert der Bauernfrage in der Geschichte des slowenischen Volkes« (17) wird dementsprechend hervorgehoben, aber von einem Zusammenhang zwischen den Bauernkriegen und dem Roman Doberdo ist nicht die Rede.

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Kurz vor Ausbruch des Aufstands meint Korporal Hafner noch, »dass die Janezi[20] rebellieren, die Waffen wegwerfen und sich über die Berge nach Slowenien absetzen sollten.« (284) Dem aber widerspricht der Laibacher Grum in einem dialektischen Sprung (›letztes Gefecht‹) entschieden: »Wenn wir Frieden erreichen wollen, müssen wir für ihn kämpfen. Wenn wir die Gewehre wegwerfen, haben wir noch keinen Frieden erreicht. Unter den Soldaten gibt es auch viele, die das verstehen. [...]. Wenn ich schon umkommen muss, dann werde ich für eine gute Sache umkommen, damit ich weiß, wofür, und damit die Welt weiß, wofür. Ich habe nichts zu verlieren als mein Leben. Darauf aber pfeife ich, wenn es so ist, wie ich jetzt lebe und wie ich vielleicht später werde leben müssen.« (285)

Und damit ist dann auch die Frage »Wofür kämpfen?« geklärt. In der Schlacht Zu Beginn des IV. Kapitel von Teil 2 »Doberdo« heißt es: »Noch waren alle am Leben und heil geblieben.« (121) Der 1. Schwarm hat sich unter schwerem Beschuss – auch unter friendly fire – in eine geräumige »Kaverne« (123) mit sicheren Felswänden zurückziehen können; das ist eine der für das wasserdurchlässige Karstgebirge wie den Doberdo typischen Höhlen. Wohl gemerkt: die Truppe hat die Kaverne nicht etwa vom Feind erobert. Immer neue Granateinschläge haben auf dem Weg zur Kaverne Fontänen von Dreck und Steinen aufgeworfen, und jetzt stellt Palir fest: »Held fehlt!« (123) »Held war genau genommen ein Schwein, in jeder Hinsicht ein Schwein und ein Wüstling.« (126) Der Slawenhasser hatte manchem Kameraden übel mitgespielt, einen sogar in den Selbstmord getrieben. (70ff.) Trotzdem wird er jetzt als Kamerad, als Mensch betrachtet; man will ihn finden und ausgraben. Er wird auch tatsächlich noch lebend aufgefunden. Man muss sich aber mühselig zu ihm vorgraben, und da macht selbstverständlich auch der Austriake Segal mit. Aber die Zeit, ihn unter Lebensgefahr zu bergen, ist kurz, denn die Granateinschläge kommen immer näher. Der slowenische Infanterist Pekol meldet sich freiwillig, den Verschütteten zu bergen. Der tschechische Infanterist Kalivoda (27), ein Sozialdemokrat, (28) schließt sich ihm an, was ihm zum Verhängnis wird. Denn kaum haben die Retter den Verschütteten erreicht, schlägt hinter Held eine Granate ein, die diesen tötet und Kalivoda schwer verwundet: »[E]in kleines Projektil hat seinen rechte Kiefer durchschlagen, ein paar Zähne ausgeschlagen und die Zunge zerrissen. [...] sehr schmerzvoll.« (128)

20 »Janez, pl. Janezi ( »Johann«), Eigenbezeichnung der Slowenen.« (217, Fußnote 8)

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Danach gibt es ein an den Nerven zerrendes Warten auf einen italienischen Angriff, der aber nicht kommt. Der abgerissene Kontakt zur eigenen Truppe muss dringend wiederhergestellt werden. Demark und Pekol melden sich freiwillig, denn die Truppe ist schon den dritten Tag isoliert, ohne warmes Essen und ohne Möglichkeit, den Durst zu stillen, einer tagelangen Kanonade ausgesetzt. Und niemand weiß, ob die Emissäre überhaupt zu den österreichischen Linien durchdringen. Die Soldaten fühlen sich in der Kaverne wie Gefangene und wären froh, wirklich welche zu sein. Der Slowene Štefanič wünscht sich, dass der verhasste Feldwebel Rom, ein Scharfmacher, jetzt anwesend wäre, damit er auch mal einer solchen Situation ausgesetzt wäre. Der Gedanke, [...], riss sofort alle mit. In ihren Seelen begann eine Flamme aufzulodern, dass sie auf den zusammengebissenen Lippen brannte. Nur [der Gefreite] Almer [Anführer der Truppe] und Segal senkten den Kopf wie zwei Schuldige.… (134f.)

So die tatsächliche Situation des 1. Schwarms, der bald einer verfälschenden Heroisierung ausgesetzt ist. Aber dann kommen Demark und Pekol unversehrt mit zwei weiteren Kameraden und erstem Proviant und der Order zurück: »Der Stützpunkt mit der Kaverne soll um jeden Preis gehalten werden.« (136) Kommentar der personalen Erzählers: »Der 1. Schwarm hatte mehr Glück als Verstand gehabt.« (136) Die propagandistische Überhöhung der Ereignisse »[...] begannen heiße Blicke sie zu beäugen. Die Gesandten aus der anderen Welt waren irgendwie aufgebauscht.« (136) Weshalb aufgebauscht, das erfahren die Soldaten aus dem Bericht des Oberkommandos: Die italienische Offensive am Isonzo war erfolglos. Sie wurde durch das tapfere Verhalten unserer Landsturmeinheiten zurückgeschlagen. Besonders hat sich das Bataillon Nr. 100 hervorgetan, das vier Tage lang im stärksten Feuergefecht ausgeharrt und mit einem Gegenangriff [...] einen wichtigen Punkt am Monte San Michele [...] erobert hat. (141)

»Dieser wichtige Punkt war die Kaverne, in dem der Trupp vier Tage lang auf den Tod gewartet hatte.« (142) Man beachte den scharfen Kontrast in den Formulierungen dessen, was in diesen vier Tagen geschehen sein soll. Als dann ein Maschinengewehrtrupp auftaucht und die Kaverne übernehmen will, verweigert der 1. Schwarm die Übergabe mit dem Hinweis darauf, dass er die Kaverne dem Feind »abgenommen« (143) habe und erwartet daraufhin ein Donnerwetter von oben. Aber Leutnant Herrgott ist »die Liebenswürdigkeit in Person« (143) und gratuliert 76

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Almers und dem 1. Schwarm für die Heldentaten, die man für das Vaterland vollbracht habe. Almers Leute wollten ihren Ohren nicht trauen. War es wirklich eine so große Sache, wenn man auf der Flucht in einem sicheren Schützenloch Zuflucht findet, einige Tage herumhockt und sich erst dann wieder sehen lässt, weil man nur die eigene Haut retten wollte ? (144)

Das aber ist nur der Anfang sich weiter steigernder Ehrungen. Denn bald erscheint der Brigadekommandant, »ein Generalmajor mit einem ganzen Schweif von Offizieren« (164) beim 1. Schwarm, um diesen zu belobigen. Während dessen hat es für das Bataillon 100 schwere Verluste gegeben. Umso wichtiger ist für die Moral der Truppe eine außerordentliche Heldenehrung. Als eines Tages die Reste des Bataillons antreten müssen, erscheint diesmal gar der Divisionskommandant, um – in hierarchischer Abstufung – Orden zu verteilen. Die höheren, goldenen Orden bekommen die dem Schwarm vorgesetzten Offiziere, die gar nicht vor Ort waren. Die Anderen erhalten silberne oder bronzene Auszeichnungen. Alle 14 Mitglieder des 1. Schwarms werden ausgezeichnet, auch die nunmehr drei Gefallenen und die beiden Verwundeten. Zum Schluss defiliert das Bataillon vor den Ausgezeichneten: Amun, Štefanič, Palir und Demark standen wie Statuen und fast irgendwie beschämt, als [der belesene Infanterist] Poznik, [48f.] Petrika und andere an ihnen vorbeimarschierten, deren Gedanken ihnen mehr oder weniger bekannt waren. Die, die immer alles verhöhnt hatten, die der ganzen Mannschaft als eine Art stiller Aufrührer bekannt waren, standen jetzt als Ausgezeichnete vor ihnen. (173)

Noch am selben Abend verabreden sich Štefanič und Amun zu desertieren: »Wenn wir unserem Volk etwas nützen wollen, müssen wir am Leben bleiben.« (174) Dieses Vorhaben realisiert aber nur Amun, wogegen der Leser Štefanič und die Kameraden Hafner, Demark, Grum, Rogelj, Palir und Poznik später unter den Aufständischen wiederfindet. Die mühselige Emanzipation vom Habsburger-Reich: Endspurt Bemerkenswert ist, dass die eigentliche Diskussion unter den slawischen Soldaten, wie es denn nun weitergehen soll, erst nach dem »stählerne[n] Sturm« (127) auf dem Doberdo einsetzt, als die Truppe sich in dem riesigen Barackenlager in Lebring befindet, wo sie zur Ruhe kommt. Zwar ist schon früh einmal von einer »südslawischen [= jugoslawischen] Verschwörergemeinschaft« (29) die Rede, aber dabei handelt es sich um eine Unterstellung der Polizei. Ansonsten herrscht, ohne 77

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dass daraus konkrete Konsequenzen gezogen würden, eine gewisse Solidarität unter den slawischen Soldaten, ohne dass die ›Deutschen‹ dabei grundsätzlich ausgeschlossen würden, weil die ja den Krieg auch satt hätten. Die Frontlinie bildet sich also nicht zwischen den Ethnien, sondern zwischen den Stützen des k.u.k Regimes21 und den Soldaten. Dazu trägt nicht zuletzt die völlig unzureichende Verpflegung der Truppe bei, die zu einem Auslöser der Soldatenrevolte wird. In der so genannten »schwere[n] Stunde« (204) wird jeden Morgen das Brot verteilt und bestimmt, wie viele Personen diesmal mit einem Brotlaib auskommen müssen. Die schreckliche Aufgabe des gerechten Teilens bei ungleicher Dicke des Brotes müssen die Soldaten selbst übernehmen. (204–211) Der Hunger wird auf drastische Weise formuliert. Da ist beispielsweise von »ungezügelter, blutrünstiger Hungerstimmung« die Rede oder vom »ungezügelte[n], gierige[n] Krampf« (208), auch vom »Herrschertrieb des Magens« und den »Schmerzen des Zahnfleischs« (209). Und dagegen gibt es »Stacheldraht«, ein »stinkendes Gemüse aus wer weiß was für einem getrockneten, niemandem bekannten Unkraut«. (209) Natürlich ist das Streben nach nationaler Emanzipation nicht erst im I. Weltkrieg entstanden. Wie in anderen Ländern gibt es auch in Slowenien Bibelübersetzungen in die eigene Volkssprache. 1584 legt der Reformator Jurij Dalmatin (nach Luthers Beispiel) eine slowenische Übersetzung der gesamten Bibel aus dem hebräischen und dem griechischen Urtext vor.22 Wie in anderen Nationen dürfte auch in Slowenien die politische Romantik im 19. Jahrhundert die Bibelübersetzung für den Ausgangspunkt der eigenen Nation-Werdung in Anspruch genommen haben. Nun im »Weltkrieg« aber kommen die national-emanzipatorischen Bestrebungen zum Durchbruch, wie man am Entstehen vieler Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches ersehen kann. Und beim Bataillon 100, dem »Marschbataillon«, (283) das kurz vor dem Abmarsch an die Front steht, treten diese Bestrebungen gerade in ihre heiße Phase. Prinzipiell: Es ist vom »Sturm« die Rede, »den niemand mehr aufhalten kann«, (281) und von der »Flamme des Freiheitsdurstes«. (282) Konkret: Der Gefreite Možina war einer der Anführer derjenigen gewesen, die aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt waren. (277) Er plädiert jetzt dafür, das Marschbataillon für den Aufstand zu gewinnen, weil es reif dafür sei, zumal er selbst, Korporal Hafner, Grum und Palir je eine Kompanie begleiten. Možina ist für eine gründliche Vorbereitung des Aufstands: Kontaktaufnahme zu benachbarten slowenischen Garnisonen und zu den streikenden Arbeitern im

21 Dabei wird differenziert: »Das Marschbataillon hatte das Glück, dass es von Offizieren kommandiert wurde, die wahre Teufel waren. Zwar war die Situation so, dass auch ein guter Offizier nicht viel von dem, was sie ertragen mussten, hätte erleichtern können, aber wenn der Offizier ein Mensch war, wie es manche waren, waren Hunger, Mangel und Krankheit leichter zu ertragen.« (280) Es gibt also auch vertrauenswürdige Offiziere. 22 de.wikipedia.org/wiki/Jurij_Dalmatin; Zugriff am 03.03.2014.

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Garnisonsort Judenburg, danach Aufstand und Gefangennahme nicht vertrauenswürdiger Offiziere.23 (284) Hafner: Die Zeit ist knapp, weil sonst das Marschbataillon zur Schlachtbank geführt wird. (285) (Und tatsächlich zeigt sich am Ende, dass der Erfolg des Aufstands von der gründlichen Vorbereitung abhängt.) Es wird ein Komitee gegründet mit Hafner als Hauptverantwortlichem und Možina als seinem Stellvertreter. (288) Und dann kommt eine schwere Provokation der hungernden Soldaten: Anlässlich der Inthronisation der neuen Kaisers Karl I. nach dem Tod Franz Joseph I. wird eine »Karlswoche« (290) begangen, deren Ende mit einem »Festtagsessen mit Schweinebraten und anderen guten Dingen« (291) begangen werden soll. Die Mannschaften aber werden um diesen gastronomischen Lichtblick betrogen und bekommen statt dessen etwas Ungenießbares vorgesetzt, das sie noch mehr verabscheuen als die berüchtigten »Stacheldrahtsuppen«. (291) Trotz »beißenden Hungers« wird die Brühe meistens »in den Kanal gegossen.« (294) Der ganze Stolz von Oberleutnant Seunig ist seine Dobermannhündin »Nora«. Und dieser große Offiziershund wird nun mit den restlichen Schweinebratenteilen aus der Offiziersküche gefüttert. Das bemerkt und empört die Mannschaft. Es hat also doch Schweinebraten gegeben, aber nur für Offiziere und Hunde! (296) Die Soldaten, die Seunigs Burschen diese Leckerbissen abnehmen, verzehren diese nicht etwa in ihren Hungerqualen, sondern zeigen sie in der gesamten Baracke herum, was ungeheure Empörung auslöst. Mannschaften der anderen Kompanien strömen herbei, und es kommt zu Tumulten. »Das ist ein Skandal, wie sie mit uns umspringen. Für uns das Spülwasser, für die Hunde Braten.« Es steigt jäh »eine glühende Flamme aus Kampfbereitschaft, Feindseligkeit und Rebellion« auf. »Nieder mit den Offizieren, nieder mit Möbius, nieder mit Seunig…! Wir haben Hunger! Zum Magazin, zum Magazin.« (298) Und weit und breit lässt sich kein Offizier blicken. Nun ist vom »Losschlagen« (299) die Rede. Palir: »Das Kriegsübel wird hier geboren, erhält sich hier am Leben, in der Etappe. Hier ist das Gehirn des Krieges, hier müssen wir zuerst zuschlagen…[...]. Noch heute Nacht muss die Entscheidung fallen!« (300) Während die Soldaten in den Baracken slowenische Volkslieder und ein russisches Revolutionslied singen, wird im Offizierskasino gefeiert – mit Damen. Man verabschiedet die an die Front gehenden Offiziere. Doch auch im Offizierskorps gibt es Spannungen. Möbius und Seunig halten Oberleutnant Vesevk für einen »unsicheren Kantonisten und Aufsässigen.« Bei der Mannschaft ist er beliebt und bei den aus russischer Gefangenschaft Heimgekehrten »geradezu ein Idol«. (303)

23 »Major Möbius, Kommandant des Marschbataillons, war kein Mensch. Die ganze Judenburger Garnison wusste, was er an der Front mit den Ukrainern Matejčuk und Kašul gemacht hatte. [...].Des Majors Schildknappe, Oberleutnant Seunig, und noch einige andere quälten die Mannschaft bis aufs Blut.« (280f.)

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Dann stellt Vesevk mit ruhiger Stimme fest: »Meine Herren, draußen wird geschossen!« (318) Der Aufstand ist ausgebrochen, und die Stützen des Habsburger Regimes flüchten unter teilweise würdelosen Umständen. Was die nun folgenden dramatischen und siegreichen Kampfhandlungen der Aufständischen betrifft: Für eine Diskursanalyse sind sie wenig ergiebig. Možina hat die letzte Besprechung vor Ausbruch des Aufstands mit folgenden Worten beendet: »Wir sind eben Anfänger, aber auch das ist etwas wert, dass es [...] die Slowenen sind, die anfangen. [...]. Aber kein Opfer ist vergebens und unsere werden es noch weniger sein, weil uns diese Sache heilig ist… Mein Freund, gehen wir…!« (310f.)

Man ist also im Bewusstsein einer Mission, und zwar einer slowenischen, in den Kampf gegangen, der jetzt beendet ist. Das Marschbataillon war der Sieger, [...]. Kaum waren die Feuergefechte der stürmischen Nacht verstummt, brach auch schon eine begeisterte Triumphstimmung aus [...], dass das verhasste Militärkommando aufgerieben war, dass sich Major Möbius mit seinen Halunken in unbekannte Richtung abgesetzt hatte [...]. Der Soldatenmenge war das einstweilen genug. (333)

Die Anführer des Aufstands aber können nicht zufrieden sein; es hat zu viele Tote gegeben, auch unter dem Führungspersonal. Und von erwarteten Aufständen an anderen Orten ist nichts bekannt. Die Soldaten werden von einer »berauschende[n] Sorglosigkeit« (336) ergriffen. Možina ist zunächst aus Sicherheitsgründen dafür, »dass wir uns noch heute auf den Weg machen – sofort!« (334) Hafner aber will trotz seiner beim Kampf erlittenen Verwundung erst mit der Nachhut aufbrechen, um die Truppe beim Abzug nicht allein zu lassen. Dem schließt sich auch Možina an. Štefanič bedauert, dass kein Eisenbahnzug die Janezi in ihre Heimat bringt: Wäre es nach Možina gegangen, hätte es einen gegeben. Das Problem der zu kurzen Vorbereitungszeit macht sich bemerkbar. Aber es kommt noch schlimmer, denn die letzte Besprechung Možinas und Hafners vor dem Aufstand war belauscht worden, und die Anführer hatten schon beim Befreiungskampf den Eindruck gewonnen, »dass ihnen jemand ins Handwerk gepfuscht hatte…« (334) Das Habsburger-Reich schlägt zurück Die Art und Weise, wie das »verhasste Militärkommando« (333) der Aufständischen wieder Herr werden konnte, braucht im gegebenen Zusammenhang nicht zu interessieren, egal, ob man die Diskursstruktur des Romans im Sinne Michel Foucaults analysiert oder (wie hier) nicht. Die vier unter den Anführern der 80

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Aufständischen, derer man habhaft geworden war, werden, weil sie »aus rein revolutionärem, antiösterreichischem Antrieb« einen Aufstand angezettelt haben, »zum Tod durch Erschießen verurteilt« (350): Hafner, Možina, Štefanič und als jüngster der Bosnier Dautovic, der erst später zur Truppe gestoßen und in den inneren Zirkel gelangt war. Dautovic trifft es am härtesten, er reagiert mit »hellen, heißen Tränen«. (350) Die Vier mutmaßen, was man wohl über sie denken mag. Einige werden sie für Esel halten, »die zu früh mit etwas begonnen hätten, für das die Zeit noch nicht reif war.« (352) Andere hielten den Aufstand wohl primär für eine Hungerrevolte. Auf diese mutmaßliche Unterstellung reagiert Možina wütend: »Wir haben uns gegen Österreich und gegen den Krieg gestellt, um die Knechtschaft abzuschütteln [...]. Ich bin überzeugt, dass nach dem Zerfall Österreichs ein freies Slowenien entstehen wird… [...], werden wir unseren Kopf nicht umsonst zu Markte getragen haben [...]; wir waren sozusagen die Ersten unter einer Million Mitbrüdern auf dieser Seite Europas, die mehrheitlich so denken und fühlen wie wir.« (352)

Damit ist als neues Element ins Spiel gebracht worden: der Europagedanke, also ein transnationales Element, das über den zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal errungenen slowenischen Nationalstaat hinausweist. Und das in diesem 1940 im Original erschienenen Roman, zu einer Zeit also, als an das Ende des II. Weltkriegs noch gar nicht zu denken ist, geschweige denn darüber hinaus! Als der Feldkurat Fanedl in Begleitung eines »Offiziersstellvertreter[s]« bei den Verurteilten in der Zelle erscheint, bringt der Anblick des Geistlichen Dautovic »völlig durcheinander«. Der Kurat spricht die Todgeweihten »mit fast scheuer Stimme« (354) an. Aber die übrigen Verurteilten sind gefasst und nehmen ihr Schicksal hin: »Obwohl wir uns wegen unseres Handelns keine Vorwürfe zu machen haben und eigentlich jene gestehen sollten, die uns hierher geschickt haben.« (355) Die letzten Briefe weisen die gleiche Tendenz auf: man werde als Rädelsführer hingerichtet, sei aber für »die anständige slowenische Sache gestorben.« (Štefanič, 355) Možina lässt Grüße ans Marschbataillon ausrichten, auch an diejenigen, die nicht mitgemacht haben, weil ihnen die Zeit noch nicht reif erschien. Dem das Exekutionskommando befehligenden Hauptmann gelingt es nicht, für das Erschießungspeloton sechs Freiwillige zusammen zu bekommen. Ihm fehlen noch vier Schützen, die er wütend selber bestimmt, was wegen der psychischen Belastung der unfreiwilligen Schützen die Treffsicherheit des Pelotons beeinträchtigt. Die zu Disziplinierungszwecken zur Exekution befohlenen Soldaten – auch das nach der Rebellion gefangengesetzte Marschbataillon – marschieren zur Exekutionsstätte am Friedhof. Der Vorgang ist im steierischen Garnisonsort Judenburg nicht unbemerkt geblieben, zumal die rebellierenden Soldaten mit den streikenden Judenburgern sympathisiert hatten. Immer mehr Zivilisten begleiten die Soldaten. 81

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»Die alldeutsche[24] Obrigkeit trieb die slowenischen Aufständischen zur Exekutionsstätte, aber das deutsche Volk [(!)], in dessen Namen die Obrigkeit das tat, erwies den Aufständischen mit seinem Geleit die letzte Ehre. (360)

Die Exekution findet hinter dem Friedhof an der Friedhofsmauer statt. Als erster wird der Jüngste, Dautovic, erschossen. Den Offizier, der ihm an Hände und Kopf Binden anlegt, fragt er, warum er so jung sterben muss: Oberleutnant Metnitz war ein Mensch, er ermannte sich und sagte: »Ich kann nichts tun. Dein Leben liegt nicht in meiner Hand…« Die Stimme des Menschen war für den Verurteilten wie Balsam. (362)

Als Štefanič aufgerufen wird, ruft er auf Slowenisch »Hier« und wird dafür gerüffelt. Nach der Salve, die weniger glatt als die erste verläuft, zuckt er im Todeskampf. Možina ruft vor seiner Exekution mit erhobenen gefesselten Händen und fester Stimme: »Aus meinem Blut wird hundertfache Saat gedeihen!« (363) Die Szene zeigt exemplarisch, wie Diskurse in einem Roman auch durch Handlungen geführt werden. Korporal Haffner erbittet vor seiner Exekution noch eine Zigarette, die er von Kurat Fanedl bekommt. Als er danach aufgerufen wird, antwortet auch er auf Slowenisch, wird aber nicht mehr zur Ordnung gerufen. Seine letzten Worte klingen ähnlich wie die von Štefanič. Dem Marschbataillon ruft er noch zu: »Macht‘s gut, Männer, bleibt aufrecht!« Und dann an die Schützen gewandt: »Und ihr da, schießt ordentlich!«, was ihnen aber nicht gelingt: »Die Nerven versagten sogar jenen drei Exekutoren, die bisher tadellos geschossen hatten.« Und Haffner ist nicht tot, sondern windet sich mit gekrümmtem Rücken und gebundenen Händen auf dem Rasen. Selbst der Gnadenschuss des Pelotons verfehlt seine Wirkung, was zu Unruhe unter den Soldaten und zu Protestrufen der Zivilisten führt: »Schweinerei, was macht ihr denn, ihr Schlächter!« (363) Der Stellvertreter des Peloton-Kommandeurs erschießt ihn mit seiner Pistole. Die Todgeweihten hatten den Eindruck gehabt, das ihnen nicht alle Offiziere, die der Exekution beiwohnten, feindlich gesonnen waren: »Grüßten da nicht die Augen einiger Offiziere?« (361) Unter diesen war jedenfalls Oberleutnant Vesevk gewesen, der nach beendeter Exekution mit zwei Kameraden den Rückweg antritt, während ihnen das gefangen gesetzte Marschbataillon folgt. Vesevk zu den beiden Offizieren:

24 Vgl. im Deutschen Kaiserreich »Alldeutscher Verband« und im Habsburger-Reich »Alldeutsche Partei«.

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»Ich schäme mich – – – vor diesen armen, blutbefleckten, abgerissenen Männern, die hinter uns herschleichen – – – vor der Geschichte, die einmal darüber geschrieben wird, was sich heute und dieser Tage in Judenburg zugetragen hat… Nicht einer unserer Offiziere war dabei… [...] allein – ohne uns an die Stätte ihrer Exekution getreten [...]. Wo waren wir [...…]? [...]…die Wahrheit ist, dass gerade diese unbedeutendsten, diese am meisten vergessenen Söhne unseres Volkes mit ihrem Blut und ohne uns mit dem heutigen Tag eine der leuchtendsten Seiten im Buch unserer dürftigen Geschichte geschrieben haben… Habt ihr gesehen, wie sie gestorben sind?« (365)

So die Glorifizierung des Marschbataillons und seines Aufbegehrens in Vesevks Worten. Aber seine Offizierskameraden schweigen. Der personale Erzähler jedoch hört aus dem Schritt Aberhunderter nachrückender Soldaten ein geheimes Zeichen der Hoffnung für die Zukunft Sloweniens heraus. (365) Der jeweilige Bewusstseinshorizont Kein Zweifel: Die Lektüre von Doberdo bietet dem deutschsprachigen Leser die Möglichkeit, seine Vorstellungen vom I. Weltkrieg zu erweitern. Das gilt in gewissem Maße auch für Österreicher, deren Kollektivbewusstsein ja von der habsburgischen Sicht des ›Weltkriegs‹ geprägt ist, denen aber die Sicht der Menschen in den Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie nicht geläufig sein dürfte.25 Es stellt sich für deutsche (deutsch-schweizerische, luxemburgische, ostbelgische, nordschleswigsche und eventuell auch elsässische)26 Leser die Frage, ob es in der historischen Realität Ereignisse gab, die dem Aufstand der Slowenen im Roman Doberdo entsprechen und die das slowenische Kollektivbewusstsein geprägt haben. In einer Chronologie des I. Weltkriegs, die auf die österreichischen Aspekte der Ereignisse ausgerichtet ist, findet sich folgende Notiz: »12. Mai [1918]: [...] Meutereien in Judenburg, Murau, Fünfkirchen, Rumburg und Radkersburg (bis 24. Mai)« (Auch die im Roman

25 Sabine A. Haring spricht mit Blick auf Doberdo gar von einer »›Gegenerinnerung‹ zu den offiziellen und semi-offiziellen Darstellungen« (61) und fügt folgendes Beispiel an: »Die Geschichte des sogenannten ›Internierungslagers Thalerhof‹ im Ersten Weltkrieg ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Steierer und Steierinnen weitgehend verschwunden, während sie bei den Angehörigen der vorwiegend aus der Ukraine stammenden und teilweise zu Tode gekommenen Inhaftierten nach wie vor präsent und mit starken Emotionen behaftet ist.« Sabine A. Haring. »›Kameradschaft‹ in der Habsburger Armee. Eine emotionssoziologische Untersuchung«. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie, 2014, 10: Krieg, Mythos und Literatur (März 2014), 54–79, hier 65. 26 Abgesehen von der Schweiz und Luxemburg handelt es sich um (mehr oder weniger – Elsass) deutschsprachige Landesteile von Nachbarländern, die durch den I. Weltkrieg entstanden sind.

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erwähnte österreichisch-ungarische Streikbewegung, an der im Januar 1918 rund 700.000 Arbeiter teilnahmen, ist verzeichnet.)27 Und da ­Kuhar/Voranc (im Februar 1916) wie auch sein Alter Ego Amun (202) zu dieser Zeit längst zu den Italienern desertiert waren, könnte sich die gern diskutierte Frage nach der Authentizität eines Romantextes entzünden, in dem ein Autor Ereignisse darstellt, an denen er gar nicht selber teilgenommen hat. Die aber erübrigt sich jedenfalls beim Stichwort Doberdo, bei dem sowohl der reale Autor als auch sein fiktives Geschöpf anwesend waren. In der Einleitung zu dem Buch Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg findet sich eine für Doberdo aufschlussreiche Unterscheidung zwischen kriegsbejahenden und kriegsverneinenden Einstellungen. »Zur slowenischen Perspektive auf den Ersten Weltkrieg: Slowenische Helden gegen verräterische Italiener [kriegsbejahend] versus nationalslowenischer Aufstand gegen habsburgische Unterdrückung [kriegsverneinend]« lautet ein Zwischentitel in der Einleitung.28 Als Beispiel für die kriegsbejahende Haltung wird die Ernennung eines slowenischen Generals aus k.u.k. Zeiten zum Ehrenbürger von Ljubljana angeführt, der den Beinamen »Löwe vom Isonzo« trug und diese Ehrung erfuhr, als Slowenien in postjugoslawischer Zeit zum souveränen Nationalstaat wurde.29»In diametralem Gegensatz dazu steht der eindrucksvolle Roman Doberdo [...]. Er enthält eine nationalslowenische Deutung der mörderischen Gefechte an der Isonzofront und betont vor allem den Repressionscharakter der militärischen Organisation der habsburgischen Monarchie.« (Kuzmics 29) Schluss Die Diskursanalyse des Romans hat es erfordert, die einzelnen Stränge des Diskurses zu entflechten und differenziert darzustellen. Die Lektüre von Doberdo lässt die integrale Gesamtheit dieses Geflechts aufscheinen und ist somit nicht nur interessant, sondern bereitet dem Leser intellektuelles Vergnügen. 27 S. August 2013: 1914–2014. Grundlagenpapier Österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. www.schule.at/.../Grundlagenpapier_1914-2014_DEUTSCH.pdf, 45; Zugriff am 13.03.2014. 28 Helmut Kuzmics, Sabine A. Haring. Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg. Soziologische Studien zum militärischen Untergang der Habsburger Monarchie. Göttingen: Vandenhoek & Ru­ precht, 2013, 28ff. 29 Es gab unter Slowenen und Kroaten einen tiefen Groll gegen die Italiener, als diesen nach dem I. Weltkrieg (abgesehen von Südtirol) nicht nur Triest, sondern auch Istrien zugesprochen wurde (vgl. die Gestalt des Istrianers Demark, dessen »Geburtsort und noch ein Gutteil slowenischen und kroatischen Landes an Italien fallen« sollte.) Diese Regelung wurde erst nach dem II. Weltkrieg korrigiert, zeigt aber bis in jüngere Jahrzehnte ihre Nachwirkungen. Vgl. hierzu: Veit Heinichen. Die Toten vom Karst. Roman. München: Zsolnay Verlag, 2002; zur Entwicklung nach 1945 hier speziell 183ff.

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[remark] Ein Werkstattbericht

Das Hörspiel [remark], das als Zusammenarbeit von Germanistik-Studenten der Universität Osnabrück, der Erich Maria Remarque Gesellschaft und dem Theater Osnabrück entstand, sollte sich, so die Grundidee, dem Leben und Werk des Schriftstellers Erich Maria Remarque nähern und gleichzeitig an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 erinnern. Damit war klar, dass das Thema Krieg eine zentrale Rolle spielen würde. Dank einer Förderung der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten konnte [remark], das in Jan Deckers Seminar Hörspiel nach 1945 im Sommersemester 2014 organisiert und produziert wurde, professionelle Kräfte versammeln: Den Leipziger Komponisten Fabian Russ, der Musik für das Hörspiel zur Verfügung stellte, den Tontechniker Falk Ostendorf, der an zwei Tagen im Tonstudio des Instituts für Musikwissenschaft und Musikpädagogik die Aufnahmeleitung übernahm, und schließlich die Schauspieler des Theater Osnabrück, Andrea Casabianchi und Oliver Meskendahl, die die Rollen von Ilse Jutta Zambona und Erich Maria Remarque einsprachen. Der zentrale ästhetische Gedanke des Hörspiels war es, den Geburtsnamen Remarques, (Erich Paul) Remark, über das Buchstabieren dieses Namens zu ­einem Kapitelhörspiel mit Assoziationen von a wie Amerika bis r wie Romane zu machen. Jedes der sechs Kapitel hatte dadurch eine unterschiedliche Thematik und Ästhetik. Eine fiktive Rahmenhandlung stellte Szenen aus dem New Yorker Exilantenleben von Remarque und Zambona nach. Die Integration von Originaltönen in das Hörspiel war sicherlich der ungewöhnlichste Aspekt der Produktion. So bezog der Afghanistan-Bericht des 27jährigen ehemaligen britischen Soldaten Alexander Donald Remarques Roman Im Westen nichts Neues in eindringlicher Weise auf die Gegenwart. Die öffentliche Ursendung des Hörspiels fand am 17. Juli 2014 im Remarque-Friedenszentrum Osnabrück statt, die Erstausstrahlung im Rundfunk am 27. Juli 2014 auf osradio 104,8. Das Hörspiel war von einer erfreulichen Presseresonanz begleitet, so berichteten die Neue Osnabrücker Zeitung (zweimal) und NDR 1 Niedersachsen. 85

Jan Decker

[remark] Hörspiel

Personen Ilse Jutta Zambona Erich Maria Remarque Im O-Ton zu hören Pastor Heyl Tilman Westphalen Osnabrücker Passanten Alexander Donald

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[remark]. Ein Werkstattbericht

Vorspann Musik [Fabian Russ: Find My Voice] 1946. Ambassador Hotel, New York City. Ein Abend unter zwei Exilanten. Die Szene einer Ehe Zambona Wer bist du? Remarque Du bist übernächtigt, Peter. Zambona Sag. Wer bist du? Remarque Du weißt es. Du unter allen Frauen weißt es. Zambona Mein Ehemann? Remarque Auch das. Noch. Zambona Sag es. Wer bist du? Remarque Erich Maria Remarque. Zambona Wirklich? Remarque Wer sonst? Zambona Erich Paul Remark aus Osnabrück. Remarque Und du? Zambona Deine Ehefrau. Remarque Ilse Jutta Zambona aus Hildesheim. Zambona Dein Peter. Remarque Eine Tänzerin. Zambona Mach mir einen Drink. Einen Wodka Martini. Aber geschüttelt, nicht gerührt. Hörst du, Erich? Remarque (bereitet Zambona Wodka Martini) Dein letzter für heute. Zambona Sag. Wer bist du? Remarque Dein dummes Spiel, Peter. Zambona Sag. Remarque Erich Paul Remark aus Osnabrück. Zambona Cheers. Remark. Mit k am Ende. Sag ich doch. Remarque Peter. Du bist übernächtigt. Zambona Los, buchstabieren. Und lass nach jedem Buchstaben etwas Platz. Für das, was mir zu dir einfällt. Die Buchstaben schütteln, nicht rühren. Ganz langsam, Erich. Du schaffst das. Mit k am Ende. Remark. 1 Musik [Fabian Russ: The Dongrakt] Zambona (sagt an) [remark]. Remarque m. Zambona Verwunderlich. 87

Jan Decker

Remarque Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona

e. Reich. r. Viel gesehen. k. Um die Welt gereist. a. Ein Charmeur, der auch sehr eifersüchtig werden kann. r. Romane.

Zitat Remarques aus Fernseh-Interview mit dem SFB 1963, andere Tonebene Remarque Denn ich wusste natürlich von Anfang an, dass ich von nun an im Schatten von Im Westen nichts Neues leben würde. Snapshot 1, Geräusch eines altmodischen Fotoapparats 1946. Ambassador Hotel, New York City. Ein Feuerwerk in der Nacht Remarque Ich wache auf. Peter, meine Ehefrau, ist weg. Ich wollte am Tag leben. Ich greife nach einer Zigarette, die ich nicht rauchen darf. Ich suche das Glas mit dem Drink, der mir ärztlicherseits verboten ist. Die Veröffentlichung von Arc de Triomphe bringt mir wieder ­einen sehr hohen Betrag. Mein Leben ist voller Alltagswirrwarr. Paul Bäumer und seine Kameraden flüstern mir zu.
(zitiert aus Im Westen nichts Neues) Die Front ist ein Käfig, in dem man nervös warten muss, auf das, was geschehen wird. Jeder Soldat bleibt nur durch tausend Zufälle am Leben und jeder Soldat glaubt und vertraut dem Zufall.
(Pause) Ist es Zufall, ob ein Roman erfolgreich wird? Take 1 Pastor Heyl Naja, er ist ja auch in die Welt, wie soll man das sagen, gestoßen worden, könnt‘ man fast sagen. Den haben se rausgeschmissen hier, und dann ist er woanders groß anerkannt worden. Und in den USA war The Roaring wat weiß ich, Thirties, Forties, was auch immer, und da hat er, da hat er gelebt, klar. Take 2 Pastor Heyl Zum Beispiel hab ich auch ein Kabarett, das heißt: Geht’s noch? Szenen aus der Psychiatrie. Mit dem tingele ich durch die Gegend. Und da ist zum Beispiel, der Anfang ist eine Entspannungsübung, die fang ich immer an mit seinen Worten. Wir gehen eine Allee mit Rosskastanien hinauf und kommen in den Park der Irrenanstalt. 88

[remark]. Ein Werkstattbericht

Wir gehen in die Kirche... Also, genau das, was im, was im Schwarzen Obelisken drinsteht. Und erzähle dann auch immer, das ist lange her, ganz lange her, 100, über, fast 100 Jahre genau, und heute ist es natürlich nicht mehr so. Snapshot 2, Geräusch eines altmodischen Fotoapparats 1946. Ambassador Hotel, New York City. Am nächsten Morgen. Im Hintergrund Orgelmusik Zambona Remarque, was schreibst du? Remarque Unwichtig, Peter. Warum muss ich dich immer wie eine Katze vom Schreibtisch verscheuchen? Zambona Gib her! (nimmt Brief, lacht) Das ist amüsant. Ein Brief nach Osnabrück. In einer schwachen Stunde geschrieben. Remarque Gib her, Peter! Zambona (liest Brief genüsslich vor) Lieber Hanns-Gerd! Ich erzähle dir eine Geschichte aus Osnabrück. Erinnerst du dich? Wir gingen eine Allee mit Rosskastanien hinauf und kamen in den Park der Irrenanstalt. Es war der Ort der Heimatlosen in der Stadt Osnabrück. Ich bin heute einer von ihnen. Ein Heimatloser. (blendet über in) Remarque Damals in Osnabrück war ich es noch nicht. Es sind so viele Jahre ins Land gezogen, seitdem ich das letzte Mal dort war. Und noch etwas anderes kam hinzu: Man entzog mir die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich kam einst zum Schreiben zurück in diese Stadt. Die Verlage erwarteten Texte von mir. Ich hatte Verträge unterzeichnet, nach Im Westen nichts Neues sollte ich weitere solcher Bücher schreiben. Ich dachte zurück an meine allerersten Jahre. Und schon damals, vor dem Zweiten Weltkrieg, fühlte ich mich in Osnabrück abgelehnt. Dann kam der Krieg. Er veränderte alles. Osnabrück ist zerstört worden. Ich würde die Stadt heute nicht wiedererkennen. Alpträume über den Tod meiner Schwester, Angst und Wut werfen einen Schatten auf die guten Erinnerungen. Es schmerzt sehr, sich an Osnabrück zu erinnern. (blendet über in) Zambona Das wollte ich dir sagen. Dein Erich. (kichert) Remarque Gib her! 2 Musik [Fabian Russ: Der Kosmotrop] Zambona (sagt an) [remark]. Remarque k. 89

Jan Decker

Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona

Im Westen nichts Neues. r. Provokateur, der in der Uniform durch Osnabrück schlendert. m. Ein Schreibtalent. a. Liebe. r. Viele verschiedene Frauen. e. Erich.

Zitat Remarques aus Fernseh-Interview mit dem SFB 1963, andere Tonebene Remarque Meine Mutter ist gestorben um diese Zeit auch im Kriege, so dass man also als junger Mensch doch sehr viel mit dem Tod zu tun gehabt hat. Zambona

Sie werden in Deutschland so etwas über dich schreiben wie: Wir wollten ihn eigentlich totschweigen, den sauberen Herrn Remarque, der in Osnabrück geboren ist und sich nun damit brüstet, Amerikaner zu sein.

Take 3 Tilman Westphalen Also wir wissen, dass die Familie Remark untere Mittelschicht war und finanziell schlecht gestellt war. Take 4 Westphalen Und dass deswegen die Remark-Familie fünf-, sechsmal hin und her umgezogen ist in Osnabrück. Zambona

Aber er hat uns herausgefordert. Als er kürzlich Deutschland besuchte, hatte er überall, wo er auftauchte, eine schlechte Presse.

Take 5 Westphalen Dann war in jener Zeit für Kinder aus nichtbegüterten Schichten im Grunde genommen keine Chance etwa, Abitur zu machen, auf die Universität zu gehen oder so. Take 6 Westphalen Soldaten, die ihr Studium, oder in dem Fall ihre Lehrerausbildung, abgebrochen hatte, in einem halben Jahr oder so die Möglichkeit zu geben, noch Examen zu machen. Das hat Remark auch gemacht. Zambona 90

Inzwischen war nämlich sein neuestes Buch Arc de Triomphe be-

[remark]. Ein Werkstattbericht

kannt geworden, worin ein deutscher Exilant einen deutschen SSMann ermordet. Take 7 Westphalen Aus der Jugendzeit wissen wir nicht sehr viel. Es gibt einige Bemerkungen in seinen Tagebüchern und in seinen Romanen, aus denen hervorgeht, dass er sehr interessiert war an Literatur und Lesen. Take 8 Westphalen Weiterhin wissen wir, auch aus Im Westen nichts Neues, dass er dann, als er nach Hause kommt auf Urlaub, in seiner Wohnung seine Bücher wieder sieht. Er war also sehr bildungsbeflissen. Zambona

Und das schreibt Erich Maria Remarque, obwohl er als Deutscher geboren wurde.

Take 9 Westphalen Remark, nicht... Also nicht Remarque, sondern r e m a r k mit Osnabrücker Anfangsbetonung, Erich Paul Remark. Take 10 Westphalen Und dann is er ja auch Aushilfslehrer geworden für Lehrer, die im Krieg gefallen, oder in Kriegsgefangenschaft, oder mental beschädigt waren... Zambona

Ja, damit brüstet sich Erich Maria Remarque, denn es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, so sagte er jetzt in Paris, einen geschichtlichen Beitrag zu den ungeheuren Gräueln zu liefern.

Take 11 Westphalen Was soll ich euch erzählen, ihr jungen Menschen, wenn so was, das Töten mit Gas, Mord und Blei – brauchen Sie nur nachlesen, ne – möglich is oder notwendig is? Take 12 Westphalen Er war ein sehr neugieriger, äh, auf vielen Bereichen interessierter junger Mensch, von dem wir ja 1916, da war er 18 Jahre, ein erstes schriftliches Produkt haben. Über die Freuden in der Jugen... In der Jugendwehr, heißt das. Take 13 Westphalen Remarque ist eingezogen worden. Er hat sich nicht freiwillig gemeldet. Das wissen wir konkret, ne. Zambona

Ein echter Remarque! Darum sind wir froh, dass er Deutschland wieder verlassen hat. 91

Jan Decker

Take 14 Westphalen Blumenliebe, Malereiliebe, Verehrung, also sein... Äh, ich sag dann immer Guru nach den Begriffen, ne, ist so was wie so’n Guru damals für die Beatles oder war, war dieser Hörstemeier für ihn. Take 15 Westphalen Es war ein schwärmerischer, intellektuell sehr wacher und offener junger Mensch, der darunter gelitten haben dürfte, dass er nichts davon weitermachen konnte durch den Krieg, und auch die Lehrerrolle hatte ihn zweifellos mehr genervt als befriedigt nach dem Krieg, ne. Zambona

Hoffentlich kommt er nicht wieder!

Take 16 Westphalen Und dann später ist in dem Tagebuch ein langer, äh... Passage über die ideale Liebe und die Ehe. Und äh, Ehe ist schrecklich, nein, schrecklich sagt er nicht, aber das ist nicht die wahre, die ideale Liebe. Take 17 Westphalen Als Jugendlicher dürfte er an das Ideal der Liebe geglaubt haben. Take 18 Westphalen Ich schätze, dass das ziemlich realistisch ist, dass er als idealistisch Schwärmerischer relativ früh Sex entdeckt hat, und auch seine ersten Sexualkontakte hatte. Obwohl, wir wissen nicht, wann und mit wem. Tut mir Leid, ja? 3 Musik [Fabian Russ: Morgengrauen Im Fuchsbau] Zambona (sagt an) [remark]. Remarque r. Zambona Selbstkritik. Remarque m. Zambona Ständige Selbstzweifel. Remarque k. Zambona Und hoher Alkoholkonsum. Remarque a. Zambona Continental. Remarque e. Zambona Autor. Remarque r. 92

[remark]. Ein Werkstattbericht

Zambona

Reporter.

Zitat Remarques aus Fernseh-Interview mit dem SFB 1963, andere Tonebene Remarque Ich war damals Redakteur und schrieb Artikel und alle so etwas, und musste also abends arbeiten. Da ich nichts vorher geschrieben hatte, hatte ich nichts zu verteidigen und es war ziemlich leicht, zu schreiben. Take 19 Osnabrücker Passantin 1 Ja, ich glaube, dass ich ihn kenne. Also, vom, ausser, aus dem Deutschunterricht, aus der Schule, damals, ja. Ist glaub ich ein, gehört zumindest auf jeden Fall zur Literatur. Aber wie genau, weiß ich nicht. (lacht) Take 20 Passantin 2 Okay, Erich Maria Remarque, wenn ich mich nicht irre, ist ein südamerikanischer Schriftsteller, der Romane, aber auch, ich glaube, auch in dem, also mit Gedichte sich beschäftigt hat. Take 21 Passantin 3 Ich verbinde mit Erich Maria Remarque Im Westen nichts Neues. Das hab ich gelesen, als ich 16 war. Das ist jetzt schon 35 Jahre her. Oder, hab ich richtig gerechnet? Ja, so ungefähr. Und habe mir vor kurzem vorgenommen, das noch mal zu lesen. Take 22 Passantin 2 Ich glaube, er ist vor kurzem gestorben sogar. Nicht so lange. Ist nicht gestorben? Und deswegen gab es auch vor kurzem im Internet die Möglichkeit, alle seine Werke herunterzuladen, weil der Anniversary, also Jahrestag von dem Tod oder so, wenn ich mich nicht irre. Take 23 Passantin 3 Ich bin sehr beeindruckt vom Erich Maria Remarque-Zentrum hier auf dem Marktplatz, ähm, da war ich mal drin mit ner Freundin, die zu Besuch war aus Berlin, und habe dort erfahren, in wie viel Sprachen beispielsweise Im Westen nichts Neues übersetzt war, und war sehr beeindruckt von den vielen Titelblättern dieses Buches, ja, in allen erdenklichen Sprachen dieser Welt. Take 24 Passantin 2 Ich hab selber was gelesen. Ich will nicht aber was Falsches sagen. Ich glaube, Hundert Jahre von Einsamkeit. Also, ich habe das in einer anderen Sprache gelesen. Aus Spanisch hab ich das gelesen, ähm. Take 25 Passantin 4 Er hat glaub ich irgendwo Richtung Italien gewohnt, Lugano oder so. 93

Jan Decker

Take 26 Passant 6 Take 27 Passant 6 Take 28 Passant 8

Also, Schriftsteller. Geboren in Osnabrück. Name Kramer, hat sich nachher den Künstlernamen Remarque zugelegt. Seine Schwester äußerte während des Zweiten Weltkrieges Zweifel am Endsieg, und wurde deswegen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ja also, Erich Maria Remarque ist mir nur bekannt über den Erich Maria Remarque-Ring, das Erich Maria Remarque-Hotel. Und dass es hier öfter mal in der Zeitung steht, dass es irgendwas war. Sonst kann ich leider nicht mehr dazu sagen.

Take 29 Passantin 9 Ich weiß gar nicht, ob’s ein Philosoph ist oder ein Dichter oder sonst wer, ein Musiker, ein Artist. Take 30 Passant 6 Und es gibt eine Schilderung, da sitzt er oben auf dem Gertrudenberg, hat einen Artikel geschrieben, und bekommt also während der Hyperinflationszeit in den 20er Jahren Geld in Schweizer Franken, die also wertbeständig waren, und das war also für ihn also das tollste Geschenk, was es überhaupt gab, also, fast so gut wie der Dollar. (lacht) Snapshot 3, Geräusch eines altmodischen Fotoapparats 1963. Fernseh-Interview mit dem SFB. Ein Studio. Remarque sitzt auf einem Stuhl, wird gepudert, seine Haare werden gekämmt. Eine Kamera ist aufgebaut Remarque (leicht grummelig) Es ist, wie es ist. Ein Autor, der nicht für ein Fernseh-Interview geschminkt wird, existiert nicht. Warum also lamentieren? Weil es elf Uhr am Morgen ist, eine Uhrzeit, die ich immer mit Geringschätzung behandelt habe? Weil meine Lippen nach einer Zigarette gieren? Weil sie etwas zittern, drei Tage nach dem letzten Drink? Sie möchten wissen, was der Reichtum aus mir gemacht hat? Hier bin ich. Gestatten, Remarque. Ich war auch Reporter. Wussten Sie das nicht? Aber Sie sind ja noch gar nicht da. Warten ab, bis ich geschminkt bin. Glauben Sie mir, ich wurde in Deutschland für meinen ersten Roman mehr kritisiert als gelobt. Trotz der Verkäufe. Ja, trotz der Verkäufe. Und was verkaufen Sie? Unterstellungen? Mutmaßungen? Klatsch? Sie hören ja. Ich spreche fast besser Englisch als Deutsch. Dass ein unfassbarer Schmerz dahinter steht, hören Sie nicht. Sobald die Nase gepudert ist, kann sie nicht mehr rot anlaufen beim Lügen. Also. Lügen wir los. (räuspert sich, ruft) Ich bin so weit. Legen wir los. 94

[remark]. Ein Werkstattbericht

4 Musik [Fabian Russ: Unterm Rad] Zambona (sagt an) [remark]. Remarque r. Zambona Kettenraucher. Remarque e. Zambona Villen. Remarque m. Zambona Reichtum. Remarque a. Zambona Viele Bekanntschaften. Remarque r. Zambona Wenig Einsamkeit. Remarque k. Zambona Krieg. Zitat Remarques aus Fernseh-Interview mit dem SFB 1963, andere Tonebene Remarque Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg. Bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind. Besonders die, die nicht hineingehen müssen. Take 31 Alexander Donald Guten Tag, mein Name ist, äh, Alexander Donald. Ich bin 27 Jahre alt, ähm. Ich bin, oder ich war seit dem 18. Lebensjahr bis zum 25. Lebensjahr, äh, im Dienst einer der Militären. Ähm, ich hab mein, meine Wehrpflicht geleistet und bin im Anschluss von der Wehrpflicht, äh, den britischen Streitkräften beigetreten. Ähm, und dort, äh, knapp sechs Jahre gedient, und habe den, äh, Dienstgrad des Lance Corporals, ähm, erreicht. Meine Einsatzgebiete, wo ich stationiert war, ähm, waren Deutschland in Osnabrück, äh, dann war ich, äh, im Einsatz im Irak und, äh, in Afghanistan. Take 32 Donald Äh, wir haben Nachschub, äh, gefahren, äh, Patrouille, und waren auch, äh, die sogenannte QR-acted, Quick Reaction Force. Ähm, das heißt, wenn’s irgendwo brenzlig wurde, äh, dann mussten wir dort mit hin, äh, um entweder als Fahrzeuge einfach nur als Abschreckung zu dienen, oder auch, äh, gegebenenfalls auch halt, ähm, äh, zu unterstützen. Und, äh, den, äh, den sogenannten Feind, äh, zurückdrängen, ähm, ja. Take 33 Donald Man hat das Problem halt auch gehabt, dass es, äh, dass Waffen dort 95

Jan Decker

Take 34 Donald

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drüben leicht zu bekommen sind. Was heißt, leicht zu bekommen sind, aber die, der, die werden an Kinder gegeben oder an, äh, Bauern, und die werden dann oft gesagt: Pass auf, hier hast 15 Euro, ähm, schieß das ganze Magazin leer, auf die ISAF-Leute, und dann kriegst das Geld, oder so. Und, ähm, das passiert des Öfteren. Und, äh, der Kontakt ist halt, äh, bei einer, ähm, routinemäßigen, ähm, Absitzen passiert, wo wir dann halt kontrollieren, dass da auf dieser Strecke in dem Bereich keine, äh, Minen oder Sprengkörper verbuddelt sind. Ähm, da ist dann der Kontakt passiert. Sind aufgesessen, sind weitergefahren, ähm, beim Weiterfahren, äh, ich war der, äh, ähm, ich war das letzte Fahrzeug, äh, der Kommandeur des letzten Fahrzeuges und, ähm, beim... Ich hab noch‘n Funkspruch gekriegt von meinem, äh, von dem, äh, Führer der Patrouille, ich wollte ihn gerade, ähm, umschalten das Funkgerät, dass ich dem antworten konnte, und beim Umschalten, ähm, hab ich dann vor mir, äh, das, äh, Führungsfahrzeug nur noch gesehen, wie da auf einmal eine 50 Meter hohe, ähm, Staubwolke, ähm, mit Schmutz und, äh, diversen Fahrzeugteilen, äh, sich aufbaute. Und mein, äh, mein Funkspruch sich von, äh, von, von einer Antwort, äh, auf ’n, auf einen neuen Funkspruch, äh, umwandelte und, äh, dass ich dann den Feindkontakt, äh, melde. Ähm, mit Uhrzeit und, ähm, und, äh, halt was passiert ist. Wir sind dann angehalten, haben dann, äh, haben versucht, noch mal den Funkkontakt aufzubauen. Das war, ähm, nicht unbedingt möglich. Sind halt, ähm, haben dann aufgeschlossen, äh, die Besatzung war in Ordnung, war okay, nur leicht, leicht geschüttert, äh, durch die Explosion. Es gab, äh, dann gab’s, ähm, Kontakt vom Feind noch mal, mit, ähm, diesmal mit, äh, großkalibrigen, ähm, äh, Bewaffnung. Und dann hat man gemerkt, dass, ähm, also während halt, äh, ist uns aufgefallen, dass, äh, halt geplant war, dass das der Feind, dass das seine Vorgehensweise war, dass der uns zuerst, äh, bei einer routinemäßigen, ähm, bei einer routinemäßigen Untersuchung quasi, äh, beschießt, dass wir dann zurückschießen, aufsitzen, und dann durch das, ähm, durch das, äh, Gebiet durchfahren, wie, ähm, dass man halt den Kontakt bricht, weil man ihn nicht, äh, ähm, weil man nicht ihn verfolgen kann, muss man ihn brechen und durchfahren, um unser eigentliches Ziel, äh, des Transport der, äh, der Besatzung zu, äh, zu erledigen. Beim Durchfahren sind wir dann halt auf eine andere Mine gestoßen, bevor wir das machen konnten. Ja, bevor wir anhalten konnten, äh, ist dann halt, äh, die Explosion, äh, geschehen. Ähm, dann war das so, dass das Fahrzeug, das Führungsfahrzeug komplett, äh, unbrauchbar war, äh, die

[remark]. Ein Werkstattbericht

Vorderachse komplett zerrissen, ähm, Kühler- und Motorhauben, äh, entfernt gewaltsam von der Explosion. Ähm, dann haben wir uns zurückgezogen mit den anderen beiden Fahrzeugen, und haben von dort aus dann, äh, uns, äh, in dem Graben links, war auch ein kleiner Graben, ähm, äh, gesichert. Wir haben, äh, wir haben halt, äh, gewartet, dass, äh, wir Unterstützung bekommen, welche, ähm, eigentlich nur ne Stunde oder zwei hätte brauchen dürfen, sollen, äh, aber knapp 23 Stunden brauchte. Und wir für die 23 Stunden lang mit, äh, mit circa 16 Mann, ähm, in einem Graben saßen. Mit, äh, über sieben feindlichen Positionen, oder über sieben, ähm, Orten, von denen der Feind geschossen hatte, oder noch am Schießen war. Ähm, dann, das ging so weit gut, dass wir keine Verletzten hatten erst mal bis zum nächsten Morgen ähm, wo ich dann mit äh, zwei anderen, äh, Soldaten, äh die Straße zum äh, zum Westen hin äh, gesichert hab im Graben, ähm. Und es war grad äh, des war früh morgens und ähm, wir haben gefrühstückt. Und dann sind wir, wir haben halt im, abwechselnd Wache gehalten und so was, und halt in dem Moment hab ich dann, äh, mir was zu essen rausgeholt, weil’s nicht mein, weil die anderen beiden dran waren, dass die schauen und sichern. Dann hab ich halt, beim Essen is dann äh, ein äh, ne RPG gekommen und äh, die ist dann explodiert. Es hat uns dann vorne komplett in Staub gehüllt, ähm, haben dann den, den Feind probiert, die feindliche Stellung zu finden, zu sehen, konnten sie nicht sehen und äh, haben dann gecheckt, äh, geguckt, wer dabei, ob alles okay is, und haben festgestellt, dass äh, der eine Soldat, der, der bei uns war, ähm, von äh Splitter getroffen wurde inner Schulter, und circa ein äh, knapp zwei Euro großes Loch äh dort, dort hatte. Ähm, wir mussten, wir haben dann äh weitergesichert, ähm, erste Hilfe, äh, geleistet, äh, haben ihn dann, äh zu ner sicheren Position gebracht. Wir hatten Glück, dass wir auch den äh, den Arzt von unserer, von unserer Außenstelle dabei hatten, ähm, was natürlich ein Riesenvorteil war. Wir haben dann gleich auch äh, den Hubschrauber angefordert und, ähm, glücklicherweise, ähm, waren wir auch bei diesem Zeitpunkt, äh, äh, ist auch die Verstärkung eingetroffen, das heißt, wir hatten, ähm, ne ordentliche Anzahl an ähm, freundlichen, ähm, Kameraden dabei, die uns ähm, mitgesichert haben, und äh, für das äh, Extrahieren des äh, zerstörten Fahrzeuges, ähm, äh, Werkzeug und äh, Material mitgebracht hatten. Ähm, und äh, dann mussten wir halt, dann is der ähm, Hubschrauber angekommen und äh, der Hubschrauber sollte eigentlich im Feld zum Süden landen, konnte dort nicht landen aus irgendwelchen Gründen, und ist dann im Feld zum Norden gelandet, äh, welches natürlich zwischen 97

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Take 35 Donald

dem Feind und uns war, ähm. Das heißt, wir mussten dann äh, probieren, wir mussten dann erst mal, ähm, musste die Einheit, ähm, Deckungsfeuer legen. Und wir sind dann mit äh, mit dem verwundeten Kameraden, haben wir ihn dann, äh, über die Straße, ähm, durch den Graben auf der anderen Seite, welcher natürlich, äh, die ähm, den Abhang runter, äh, knapp zwei, zwei Meter, und sind dann ähm, durch, äh, mussten leider durch das Wasser durch, äh, welches dann auch mal, ähm, bis zur Brust kam, oder fast bis zum Hals. Und haben dann den äh, Kameraden auf der anderen Seite rausgekriegt und äh, in, in Hubschrauber bringen können, ähm, und wir haben uns dann zurückgezogen. Wo der Hubschrauber dann äh natürlich weggeflogen is, ähm, is das, is dies, dieser, dieses noch mal gut gegangen. Der Hubschrauber is, äh, nicht angeschossen worden. Aber ähm, das heißt nicht, dass es immer gut geht. Es ist immer... Wir haben auch drei Kameraden verloren, ähm, der eine, die sind alle zu früh aus dem Leben gerissen worden. Zwei davon waren, äh, einer davon war verheiratet und hat Kinder, der andere, da bin ich mir nicht so sicher. Ich meine, er hat auch Frau und Kind gehabt. Und der andere hatte ne Freundin, aber alle hatten Familie. Ähm und äh, es war, der eine is ähm, is in den Kopf geschossen worden, der hat’s wohl nicht mehr so mitgekriegt, ähm, der andere hat n’ Schuss in die Seite gekriegt, und ähm, ist äh langsam ausgeblutet, äh und hat, der wusste auch, angeblich wusste er am Anfang gar nicht, dass er ähm, dass er getroffen wurde, und ähm, hat gedacht, er ist nur ausgerutscht. Ähm und äh, der andere äh da, der ist auch getroffen worden, und äh, ist auch ähm leider daran ähm gestorben, ähm und... Es ist, ja, es ist immer ne traurige Sache, wenn, wenn jemand vor einem stirbt, vor allem, wenn man alle drei kannte, und ähm, mit denen auch eigentlich gut dabei war. Danke.

5 Musik [Fabian Russ: Wiege des Lebens] Zambona (sagt an) [remark]. Remarque e. Zambona Viel Glück gehabt. Remarque m. Zambona Gigolo. Remarque r. Zambona Osnabrücker. 98

[remark]. Ein Werkstattbericht

Remarque Zambona Remarque Zambona Remarque Zambona

r. Weltbürger. k. Zweifelhafter Schreibstil eines Autors. Nicht für jeden etwas. a. Amerika.

Zitat Remarques aus Fernseh-Interview mit dem SFB 1963, andere Tonebene Remarque Dass wir also Deutschland haben verlassen müssen, und dass wir uns draußen haben herumtreiben müssen, bis wir endlich mal wieder nach Europa zurückgehen konnten. Snapshot 4, Geräusch eines altmodischen Fotoapparats 1946. Ambassador Hotel, New York City. Ein Abend unter zwei Exilanten. Die Szene einer Ehe Zambona Wieder ein Schreibversuch, Remark?
 Remarque (liest Text vor) Harold saß am Tisch in der Ecke, sein Bier halb aufgetrunken, die Krawatte adrett gebunden, wie immer ließ er den Blick durch den Raum schweifen; daneben der alte Mann, der mit dem Stock, der keine Ahnung hatte, was dieser Neunmalkluge eigentlich von ihm wollte. Weiter hinten im Raum tanzte die D. ausgelassen mit einem jungen Burschen, dann mit einer Frau im roten Dress, dann wieder die Rolle rückwärts. Die Mädchen wirbelten umher, die Männer tranken oder tanzten mit, es war die gleiche Show wie jeden Freitag, nur der Mann am Tresen wirkte fahl, ausgelaugt, irgendwie fremd in dieser Nacht, die eigentlich wie immer war. Zambona Etwas anderes probiert? Was hast du noch? Remarque Jetzt kommt der Dialog. ›Etwas zu trinken, Sir?‹ Der Kneipenwirt richtete seinen Blick auf den Mann, der seinen Hut neben sich gelegt hatte. ›Erich, ich heiße Erich.‹ Es war offensichtlich, dass der Mann am Tresen gar nicht auf die Frage des Wirtes eingehen wollte. ›Was darf ich Ihnen anbieten Sir? Bier, Wein, Schnaps, einen Cocktail?‹
›Nein, das macht das Herz nicht länger mit‹, antwortete der Mann am Tresen, der gar nicht so recht in die Szenerie des Abends passen wollte, und strich sich durch die Haare, die vor Pomade glänzten. ›Zigarette?‹ Zambona Pomade! Erich! Das bist du, Remarque. Remarque (fährt ungerührt fort) ›Ich lehne dankend ab. Das Herz, die Lunge, Sie wissen schon. Es tut weh. Hier.‹ Der Mann am Tresen deutete auf sein Herz. ›Innen, ein kleiner Stich. Man braucht ein starkes 99

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Herz, um ohne Wurzeln zu leben.‹ Der Wirt schenkte sich ein Glas Schnaps ein, stellte dem Mann am Tresen, dessen Hut noch immer auf dem leeren Stuhl neben ihm lag, auch ein Glas hin. Der Mann am Tresen nippte kurz am Schnaps, kippte ihn dann runter und forderte den Wirt auf, nachzufüllen. Zambona Und? Remarque Aus dem Reader‘s Digest. Nicht von mir. (lacht) 6 Musik [Fabian Russ: Lola Für Cello] Zambona (sagt an) [remark]. Remarque e. Zambona Künstlerkneipe. Schnäpse für zwei Mark. Remarque r. Zambona Sonnenaufgang. Remarque k. Zambona Nachdenklich und sentimental. Remarque r. Zambona Emigration. Remarque a. Zambona Alkohol. Liebe. Und Freundschaft. Remarque m. Zambona Marlene. Zitat Remarques aus Fernseh-Interview mit dem SFB 1963, andere Tonebene Remarque Es hat schon seine Haken – nicht so sehr in Bezug auf den Reichtum oder diese Dinge. Viel schwieriger fand ich, ist, dass Sie durch einen solch großen Erfolg nicht mehr als das gewertet werden, was Sie eigentlich doch sind, nämlich als ein Anfänger, der sein erstes Buch geschrieben hat. Snapshot 5, Geräusch eines altmodischen Fotoapparats 1946. Ambassador Hotel, New York City. Der Morgen eines Exilanten Remarque Ein Brief von Peter aus dem Hotel gegenüber. Liest Brief vor Lieber Erich, warum machst du das? Warum tust du mir das an? (blendet über in) Zambona Ich spaziere in einen Drugstore in New York. Schlage eine beliebige Zeitung auf und sehe es schwarz auf weiß. Du und diese Paley. Ich höre Freunde von einer Garden Party in Los Angeles erzählen. 100

[remark]. Ein Werkstattbericht

Und was sahen sie? Du und diese Paley. Ich wache aus schrecklichen Träumen auf, in denen ich einsam bin und du mich auch noch verlässt. Take 36 Pastor Heyl Das muss im Sommer 1969 gewesen sein. Take 37 Pastor Heyl Äh, in seiner Villa am Lago Maggiore in Porto Ronco. In dieser Villa, die momentan zum Verkauf steht, und um die sich die Osnabrücker, ja, irgendwie bemühen. Da saß ich auf der Terrasse. Take 38 Pastor Heyl Wunderschön. Das muss man schon sagen. Es war ein herrlicher Blick, also es... Traumhaft, ja. Remarque (liest Brief weiter) Die Dietrich. Die Garbo. Die Paley. Du kannst sie alle haben. Aber verlasse mich nicht. Take 39 Pastor Heyl Dann sagt er: Junge, wir fahren mal einfach in die Schweiz. Ins Tessin, und wir gucken mal, ob wir den Remarque besuchen. Und ähm, ja, nun sagte ich, er arbeitete mit der Schwester zusammen, die hieß Erna Rudolph Remark. Und dann sind wir da runter gefahren, und mein Vater hat dann einfach Remarque angerufen. Und der war nicht erbaut davon, das war irgendwie in der Mittagszeit. Aber der sagte: Wenn Sie schon da sind, kommen Sie rein. Take 40 Pastor Heyl Dann hat er uns in kurzen Hosen empfangen, also wirklich so, wie man, also, man würde so fast sagen, heute würde ich meinen, ich wär irgendwo im Hafen gewesen, was weiß ich, meinetwegen in Rimini, und er lädt uns in seine, auf seine Yacht ein. So kam er uns entgegen. Kurze Hose, Schlappen an, Hemd irgendwie locker da draußen, Zigaretten auf ’m Tisch, sehen Sie da, Schachteln ohne Ende. Take 41 Pastor Heyl Ich hab schon das Gefühl gehabt, er lebt leicht und locker, ja. Abspann Musik [Fabian Russ: Find My Voice] 1946. Ein mondänes Hotel am Ende der Welt. Ein Abend unter zwei Exilanten. Die Szene einer Ehe, die im lautlosen Krach endet Zambona Krieg. Viele Frauen. Lehrer. Und Highlife. Viele Städte. Viele Län101

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der. Viele Reisen. Wie er mit seinem Schäferhund durch Osnabrück läuft. Remarque Es ist gut, Jutta. Zambona Lago Maggiore. Ächtung durch die Nationalsozialisten. Marlene. Das Puma. Remarque Das Spiel ist vorbei. Take 42 Pastor Heyl Und dann ist mir klar geworden: Er ist ein Kosmopolit gewesen zum Schluss. Also ein Weltenbürger, und vielleicht auch ein Weltenbummler, auch vielleicht ein Bummler zwischen den Welten, was weiß ich, wie soll ich’s ausdrücken. Er fühlte sich nicht mehr als Osnabrücker, fühlte sich auch von den Osnabrückern sagen wir mal, ein wenig, ja, nicht, nicht wertgeschätzt genug. Er hat ja die deutsche Staatsbürgerschaft verloren, und 69 hätten sie ihm die längst zurückgeben können. Und er sagte, das weiß ich noch, das sagte er auch: Ich bettel nicht um die deutsche Staatsangehörigkeit, das tu ich nicht. Remarque [remark]. Ilse Jutta Zambona: Andrea Casabianchi. Erich Maria Remarque: Oliver Meskendahl. Komposition und Musik: Fabian Russ. Ton und Technik: Falk Ostendorf. Eine Produktion des Seminars »Hörspiel nach 1945« am Institut für Germanistik der Universität Osnabrück unter der Leitung von Jan Decker in Zusammenarbeit mit der Erich Maria Remarque Gesellschaft, dem Erich Maria Remarque-Friedenszentrum und dem Theater Osnabrück. Gefördert durch die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.

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Neue Remarque-Publikationen

›Wiederentdeckte‹ Texte Remarques Juan de Lavalette. »Die Kamera als Reisekamerad«. Scherl‘s Magazin (Berlin) 1 (1928), 7 (Juli), 811–816 + 820. Wichtige Ausgaben Peter Eickmeyer, Gaby von Borstel. Im Westen nichts Neues nach dem Roman von Erich Maria Remarque. Bielefeld: Splitter, 2014, 176 pp. Ausgabe als Graphic Novel mit den Grafiken von Peter Eickmeyer und in der Bearbeitung von Gaby von Borstel.

»Pasakyk, kad mane myli...«: Ėrichas Marija Remarkas – Marlena Dytrich. Aistros įrodymai. Rašytojo ir kino aktorės laiškai. Vilnius: Gimtasis žodis, 2013, 238 pp. Erste litauische Ausgabe des Briefwechsels mit Marlene Dietrich in der Übersetzung von Vilija Žemaitaitytė.

Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1365), 415 pp. Textkritische Ausgabe in der Fassung der Erstausgabe von 1931 mit im Vorabdruck enthaltenen Passagen im Anhang und einem Nachwort zur Entstehung und Rezeption.

Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1366), 590 pp. Textkritische Ausgabe in der Fassung der deutschsprachigen Erstausgabe von 1938 mit frühen Fassungen und Entwürfen im Anhang und einem Nachwort zur Entstehung und Rezeption.

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Neue Remarque-Publikationen

Erich Maria Remarque. L‘Ennemi. Nouvelles traduites de l‘anglais (États-Unis) par Frédérique Campbell-Nathan. Paris: LGF, 2013 (Le livre de poche 33150), 92 pp. Neuübersetzung der Erzählungen Der Feind ins Französische durch Frédérique Campbell-Nathan.

Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013, 360 pp. Textkritische Ausgabe in der Fassung der Erstausgabe von 1929 mit frühen Fassungen und Entwürfen im Anhang und einem Nachwort zur Entstehung und Rezeption. Auch Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1368).

Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1367), 464 pp. Textkritische Ausgabe in der Fassung der Erstausgabe von 1929 mit frühen Fassungen und Entwürfen sowie Materialien zur Publikation, zum Marketing und zur Rezeption im Anhang und einem Nachwort zur Entstehung und Rezeption.

Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues in einfacher Sprache. Münster: Spaß am Lesen Verlag, 2014, 152 pp. Ausgabe in einfacher Sprache von Marion Döbert mit Erläuterungen und Glossar..

Erich Maria Remarque. »Kleines Schicksal oder: Kleines Schicksal in einer großen Stadt«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 10–18. Erich Maria Remarque. »Monteur Hagen«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 19–36. Erich Maria Remarque. Obeliscul Negru. Povestea unei tinereţi întârziate. în româneşte de Sanda Munteanu. Bucureşti: Vivaldi, 2012, 409 pp. Neuübersetzung des Romans Der schwarze Obelisk ins Rumänische durch Sanda Munteanu.

Erich Maria Remarque. Tre camerati. Traduzione da tedesco di Chiara Ujka. Vicenza: Neri Pozza Editore, 2013, 475 pp. Neuübersetzung des Romans Drei Kameraden ins Italienische durch Chiara Ujka.

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Neue Remarque-Publikationen

Wissenschaftliche Publikationen Noah Berlatsky. War in Erich Maria Remarque‘s all quiet on the western front. Detroit, et al.: Gale Cengage Learning, 2013, 135 pp. Saskia Fares. »Filmanalyse Bobby Deerfield«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 51–95. Mahnaz Farnaghinejad. Gesellschaft und Politik als Kulissen der Kriegsliteratur in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung des Werks Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque. Teheran: Universität Teheran, Fakultät für Weltstudien, Fachrichtung »Studien deutschsprachiger Länder« [Magister-Arbeit], 2013, VI + 80 pp. Walter Michael Maria Feilchenfeldt. »Boni und Feilchen. Der Sammler und sein Händler«. Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 14–53. Walter M. Feilchenfeldt, Thomas F. Schneider, Suzanne Schwarz Zuber. »Die Gemäldesammlung Remarque«. Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 161–472. Esther Tisa Francini. »›Wenn man keinen Pass hat, muss man im Zimmer reisen‹. Der Aufbau der Kunstsammlung von Erich Maria Remarque im Schweizer Exil 1933–1939«. Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 72–89. Dayton Henderson. »11 December 1930: Ban of All Quiet on the Western Front. Highlights Tensions over Sound Technology«. Jennifer M. Kapczynski, Michael D. Richardson (eds.). A New History of German Cinema. Rochester, NY; Camden House, 2012, 219–225. Lisa Hennig. Männlichkeit im 1. Weltkrieg. Anspruch und dargestellte Wirklichkeit im Roman ›Im Westen nichts Neues‹ von Erich Maria Remarque. München: Grin, 2014 (E-Book). Denis Herold. »August Perk und Erich Maria Remarque. Der Beitrag der Grafschaft Bentheim zur Weltliteratur oder Warum Nordhorn eine August-Perk-Stra105

Neue Remarque-Publikationen

ße haben sollte«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 110–119. Denis Herold. »Im Zeitalter der Sachlichkeit muß man romantisch sein, das ist der Trick«. Formen und Funktionen der Neuen Sachlichkeit in Erich Maria Remarques Romanen. Marburg: Tectum, 2014 (E-Book). Jennifer Karl. Zwei Seiten des Krieges in Remarques ›Im Westen nichts Neues‹. Ein Widerspruch in sich? München: Grin, 2014 (E-Book). Jakub Kazecki. Laughter in the Trenches. Humour and front experience in German First World War narratives. Newcastle-upon-Tyne: Cambridge Scholars Publ., 2012, 133–174. Wolfhard Keiser. Textanalyse und Interpretation zu Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues. Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen. Ergänzt von Karla Seedorf. Hollfeld: Bange, 2013 (Königs Erläuterungen 433), 132 pp. Melanie Latus. »Die Filme Der letzte Akt und Der Untergang im Vergleich«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 37–50. Lektürehilfen. Erich Maria Remjarque. Im Westen nichts Neues. Stuttgart: Klett, 2014, 128 pp. Stefan Lochner. Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Literatur der Weimarer Republik. Am Beispiel von Ernst Jüngers »In Stahlgewittern« (1920) und Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« (1929). München: GRIN, 2013 (E-Book). Stefan Lochner, Georg Fichtner, Reinhard Keßler, Marlon Drees, Andrea Benesch, Rebekka Grupe, Julia Altmann. Remarque, Jünger und der Erste Weltkrieg. Literatur der Schützengräben. München: ScienceFactory, 2013, 228 pp. Lark Mason. »Erich Maria Remarque: Ein kultiviertes Auge kommt nach Amerika«. Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 120–141. Christine Mersiowsky. Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues und weitere Texte zum Krieg. Paderborn: Schöningh, 2014, 152 pp. 106

Neue Remarque-Publikationen

Charlton Payne. »Der Pass zwischen Dingwanderung und Identitätsübertragung in Remarques ›Die Nacht von Lissabon‹«. Exilforschung 31 (2013), 343–354. Remarque und Literatur des 1. Weltkrieges. Stuttgart: Klett, 2014 (Klett Box Abitur Deutsch). José António Conceição Santos. »Metaphernfelder und Themenbereiche der Metaphorik. Eine Dualität des ideologischen Ausdrucks in zwei Klassikern der deutschen Kriegsliteratur«. Estudios filológicos alemanes 24 (2012), 423–433. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 124 pp. Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 495 pp. Thomas F. Schneider. »Remarques Listen. Vom Umgang eines Schriftstellers mit seiner Kunstsammlung«. Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 54–71. Thomas F. Schneider. »Fenster in die Unendlichkeit. Die Kunst im Werk Erich Maria Remarques« Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 142–160. Thomas F. Schneider. »Fenster in die Unendlichkeit. Erich Maria Remarque und die Kunst«. Roman R. Tschaikowskij (ed.). Iazyk, kul’tura, perevod. Materialy II mezhunarodnoj ochno-zaochnoj nauchnoj konferetsii. Magadan: SVGU, 2013, 185–189. Thomas F. Schneider. »›Wir passen nicht mehr in die Welt hinein‹. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues«. Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013, 330–360. Thomas F. Schneider. »›Nur eines haben sie ausgelassen: Nie wieder‹. Erich Maria Remarques Erzählungen über den Ersten Weltkrieg«. Erich Maria Remarque. Der Feind. Sämtliche Erzählungen zum Ersten Weltkrieg. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1364), 105–127.

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Neue Remarque-Publikationen

Thomas F. Schneider. »›Das Leben wiedergewinnen oder zugrundegehen‹. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Der Weg zurück«. Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1365), 395–411. Thomas F. Schneider. »›Weder Krieg noch Politik. Schicksale von Menschen, die arbeiten und leben‹. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Drei Kameraden«. Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1366), 573–588. Suzanne Schwarz Zuber. »Kunst im Exil. Die Remarque-Sammlung im Amerika der 1940er Jahre«. Thomas F. Schneider, Inge Jaehner (eds.). Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 90–119. Brygida Sobótka. »Stil und Sprache Erich Maria Remarques am Beispiel der Exilromane Liebe Deinen Nächsten und Arc de Triomphe«. Studniem. Studia Niemcoznawcze. Studien zur Deutschkunde 49 (2012), 587–596. Roman R. Tschaikowski, E.V. Narbut, E.A. Kovyneva. »Iskra zhizni pod severnym nebom (remarkovedenie v SVGU)/ Der Funke Leben unter dem Himmel des Nordens (Remarque-Forschung an der SVGU, Magadan)«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 104–109. Benjamin Ziemann. Contested Commemorations. Republican war veterans and Weimar political culture. Cambridge, New York Melbourne et al.: Cambridge University Press, 2013, 235–265. Benjamin Ziemann. Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933. Bonn: J.H.W. Dietz, 2014, 269–301.

Matthias Zipp. Die Remarque-Oper der austro-amerikanischen Komponistin Nancy Van de Vate. All Quiet on the Western Front. Im Westen nichts Neues. Göttingen: V&R unipress, 2013 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 29), 277 pp.

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titel

Film Der letzte Akt. Cosmopolfilm, Österreich 1955. Regie: Georg Wilhelm Pabst. Drehbuch: Fritz Habeck nach einem Entwurf von Erich Maria Remarque. DVD. Filmverlag Filmjuwelen 2014, 107 Min. Erste Ausgabe des Films auf DVD.

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Beiträgerinnen und Herausgeber dieses Bandes Svetlana B. Christoforowa; Nord-Östliche Staatliche Universität Magadan (Russland). Jan Decker; Freier Autor und Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück; [email protected]. Nadezhda A. Gossmann; Nord-Östliche Staatliche Universität Magadan (Russ­ land). Alexandra Ivanova, M.A.; Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität Frankfurt/Main; [email protected]. Valentina V. Michaelewa; Nord-Östliche Staatliche Universität Magadan (Russland). Heinrich Placke, Dr. phil.; Germanist; [email protected]. Oleg Pokhalenkov, Dr. [email protected]

phil.;

Universität

Smolensk

(Russland);

Thomas F. Schneider, Dr. phil. habil.; Erich Maria ­Remarque-Friedens­zen­trum, Universität Osnabrück; [email protected]. Roman R. Tschaikowski, Prof. Dr. phil.; Nord-Östliche Staatliche Universität Magadan (Russland); [email protected].

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