Entstehung und Krise des Modernen Romans 978-3-476-98760-0, 978-3-476-98761-7

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Entstehung und Krise des Modernen Romans
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Entstehung und Krise des Modernen Romans (Wolfgang Kayser)....Pages 5-35
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ENTSTEHUNG UND KRISE DES MODERNEN ROMANS

WOLFGANG KAYSER

ENTSTEHUNG UND KRISE DES MODERNEN ROMANS DRITTE AUFLAGE

MCMLXI J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART

Sonderdruck aus "Deutsche Vierteljahnschrift llir Literaturwissenschaft und Geiltesgeschichte" (DVjs.), Band XXVIII, Heft

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ISBN 978-3-476-98761-7 ISBN 978-3-476-98760-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-98760-0

© 1954 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH Stuttgart 1954

Wer ala Leser am literarischen Leben der Gegenwart teilnimmt, liest Romane. Die Zahl der Lyriker, die heute einem weiteren Publikum bekannt Bind, ist gering, und selbst einem literarisch Gebildeten wiirde es wohl schwer fallen , mehr ala ein halbea Dutzend Titel von lyrisehen Sammlungen aua den letzten Jahren anzugeben, Die Kenntnis von Gedichten wird durch zufallige Begegnungen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien vermittelt. Die Theater fullen sich allabendlich ; aber der Bestand an Dramatik ist trotzdem aohmachtig, die Wirkung eines Dramas reicht selten iiber daa Erlebnis der AuffUhrung hinaus. Die Literatur als Bereich, bei dem der einzelne sieh angeregt fiihlt, die Fiille der Erscheinungen zu siohten, zu vergleichen, zu werten und einzuordnen, wird heute im wesentlichen durch den Roman aufgebaut. Man muB die gleiche Feststellung fUr die letzten 150 bia 200 Jahre treffen. Daa Amt des Sichtens, VergleichenB, Wertens und Einordnena rant dabei heute der Literaturgeschichte zu. ZaWreiche und wichtige ihrer Kapitel gelten Schriftstellern, die nur sls Erzahler Geltung erlangt haben: Gotthelf, Raabe, Keller, Stifter, AlexiB, Fontane, um nur einige aus dem deutschen Schrifttum zu nennen ; aus dem fremdsprachigen drangen sioh Namen auf wie Dickens, Thackeray, Hardy, Joseph Conrad, James Joyce oder Flaubert, Stendhal, Balzac, Zola, Proust, Gide oder Gontscharoff, Dostojewski, Tolatoi. Seit etwa 200 Jahren besitzt der Roman einen solchen wesentlichen An. teil am Bereich der Literatur. Er hat ibn sieh in einem auffallig kurzen ProzeB erobert, und sozusagen aus dem Nichts. Denn die 10 Romane, die um 1740 jahrlich in Deutschland erschienen-), wurden nicht zur Dichtung gerechnet, und die literarischen Zeitschriften hesprachen noch auf Jahr· zehnte hinaus salcha Neuerecheinungen nicht zueammen mit den neuen Tragodien, Komodien, Gedichten, Epen u. s. f. : gaJten sie doch ala Lese. steff fiir das miiBige Frauenzimmer und den verbummelten Studenten. 1) Zu den Zahlen vgl. R. Jentzsch, Der dt.-latein. Biichermarkt, HJl2; H. H . Borcherdt, Der Roman der Goethezeit, 1040, S.230.

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Ersohienen um 1740 jii.hrlioh 10 Romane, so waren es um 1770 jii.hrlioh 100, und damals war der Eintritt in den Bezirk der Dichtung bereits vollzogen j um 1785 waren es dann jahrlich 300 und um 1800 jiihrlich 500 2 ) . In diesen Zahlen kommt mehr zum Ausdruok ala die Zunahme des Lesepublikums im 18. Jahrhundert, die man ffir Deutschland ebenso wie ffir England als eine Vermehrung um daa 12-14 faohe berechnet hat und die selber zu einem guten Teil die Folge (freilioh auoh eine Ursa.che) [enes Aufstiegs gewesen ist. DaB der Roman in der 1. Hiilfte des 18. J ahrhunderts nicht zur Dichtung gerechnet wurde, lag einmal an seiner Bindung an die Prosa. Zur Poesie gehorte der Verso Diesea Kriterium geriet freilich im Laufe des JahrhunderlB ins Wanken, ala die in rhythmischer Prosa gesohriebenen Idyllen GeBners Begeisterung weckten und mit dem burgerlichen Trauerspiel eine entsohiedene Prosa auf die Biihne drang; aber noch Schiller suchte sioh 1798 endgiiltig von Goethes 'Wilhelm Meister' mit der 'I'hese zu befreien, daB Prosa einen "puren ReaJ.ismus" bedinge , der "einen nichtpoetischen Ernst" hervorbringe. Abtrii.glich war weiterhin der Mangel an antiken Mustarn. Erst in hellenistischer Zeit, im 3. Jahrhundert n. Chr., erscheint der Roman mit Heliodors Aethiopischen Reisen als abendliindische Kunstform, und wenn aueh dieser iilteste Roman eines der ausstrahlendsten Werke der Weltliteratur geworden ist, dem noch das 17. Jahrhundert ala unerreichtem Vorbild huldigte, so gehorte er doch nioht zu dem Kanon der klassiaohen Werke, an dem sich das 18. orientierte. Denn, und daa ist nun der wichtigste Grund ffir die Geringachii.tzung: was seit dem Ende dea 17. J ahrhunderta als Roman erschien, das konnte keine Anspriiche ale Dichtung stellen. Der sogenannte galante Roman ala beherrschender Typus war Unterhaltungalektiire, ebenso wie die Spielarten des Studenten- und Abenteuerromans. Gerade die Geschlossenheit des galanten Romans, in dem eine Liebesgeschichte sua der hdfisehen Welt einem Leser dargestellt wurde, der ihr nicht angeborte, bot keine Entwicklungsmoghchkeit. Die Romane der Bohse , Hunold, Hamann, Schnabel u, s, f. waren ala Gebilde so rund und ausgeformt, wie es die Unterhaltungsliteratur aller Zeiten gewesen ist. GewiB kannte man noch die groBenWerke der Barockzeit, die hochste Anspriiche gestellt und erfiillt hatten. Noch die Generation Goethas las die Romane der A. Buchholtz, Anton Ulrich von Braunschweig, Lohenstein und Zigler-Kliphausen. Aber nun eben doch nicht mehr mit der Bereitschaft, den bildenden Gehalt anzuerkennen, wie as die Leserschaft des 17. Jahrhunderts getan hatte, sondern um der stofflichen Reize willen, an denen as diesen Romanen wahrlich nicht fehlte. Ihnen allen liegt eine Struktur zugrunde, die eben bei Heliodor rein &usgepriigt worden war 3 ) . Am Beginn steht die Begegnung des Paares. Aber I) 1m 20• .Tahrhundert erscheinen in Deutschland im .Tahresdurchschnitt 2000 Romane; fUr England wird die gleiche Za.hl angegeben. I) Vgl. z. B. MIne de Scudery: •.Te VOUB dirai donc que fBi pris et que je pren-

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sein Wunsch naehVereinigung, der eine zielbewuBte Kraft zur Weiterfiihrung des Geschehens darstellt, swBt auf Widerstii.nde. Hindernde Motive wie "Oberflille, Gefangenschaft, Schiffbriiche u. a . bringen die beiden auseinander. Da sie zugleich, und das ist wesentlich ffir den Baroekroman, Fiirsten sind. ihre Liebe also keine private. sondern eine hOchst politische Angelegenheit ist, greifen als Nebenbuhler oder Freunde die anderen Herrscher ein. Der Schauplate, iiber den die Kurven der beiden Geschicke laufen, weitet sich ins Ungeheure aus; mit Vorliebe ist es zeitlich wie raumlich die Welt des Imperium Romanum, bei Zigler-Kliphausen die des fernen Ostens, Die Romane sind so voll verwickelter, spannender Geschehnisse, daB sie deshalb noch hundert Jahre lang sls spannende Unterhaltung gelesen werden konnen, Sie erfullen, was Opitz am Anfang des 17. Jahrhunderts in seiner Poetik vom Epos verlangt hatte: es ..setzet viel, das ... neue und unverhoffet ist ... und was sonsten zur Erweckung der Verwunderung in den Gemiitem von noten ist". Oder was ein eingescbobener Erzahler in der 'Asiatischen Banise' verheiBt : ..seltsame und verwirrte Zufalle". Das Geschehen ist um so verwiokelter, ala der Erzahler in der Darstellung der in-mediaa-rea Technik des Heliodor folgt und die Vorgeschichte erst langsam und stiickweise durch eingeIegte Erzahlungen sufhellt. Die Dichter des 17. Jahrhunderts steigern die Verwirrung und das Halbdunkel, indem sie zu dem einen Hauptpaar zahlreiche andere stellen, so daB die Linien sieh fast unentwirrbar verschlingen. zumal die Gestalten selber Nsmen, Kleider und Stand vertausehen oder unter falsehem Namen und an fremdem Ort aufgezogen worden sind. Uberraschung, Umsehlagigkeit, Durchkreuzung, Widerspiel gegen die menschlichen Absichten, das sind die Gesetze, denen das reiche Geschehen gehorcht: in den Romanen wird das geistig als fortunabeherrschte Welt erfaBt. Und doch konnten sioh die Leser den Spannungen beruhigt hinge ben , denn alle Romane laufen auf die gliickliche Vereinigung des Paares und die AuflOsung aller Wirren als den AbschluB der Struktur zu. Wieder steht eine geistige Deutung bereit : tiber der Fortuna steht die Vorsehung, die sich schon vorher durch Omina oder offensichtliche Eingriffe kundgetan hat. und sorgt fur das gliickliche Ende. Aber mit den Motiven und der Fiigung des Geschehens haben wir doch erst einen Teil dieser Romane erfaCt. Der Blick des Erzahlers f8.Ilt zugleich auf die Menschen, die das Geschehen trifft oder von denen as ausgeht, Offensichtlich liegt da fur den Dichter der eigentliche Sinn seines Werkes beschlossen: in der Zeichnung, Deutung und Wertung der in die Fortunawelt verstrickten Menschen. Es ist notig. einen Augenblick bei der Menschengestaltung zu verweilen, von der sich zugleich die Frage naoh dem Erziililen dral toujours pour mes uniques modellea l'immortel Heliodor et Ie grand Urfe. Ce sont lea seula maitres que j'imite et lea seuls qu' U fa.ut imiter e.

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beantworten l80t. Zun&chst: diese Menschen existieren nur ala Teile der iibergreifenden Handlung. So wie wir sie an einem pragnenten Punkt mitten auf der Kurve des Geschehens kennenlernen, so ist und bleibt ihr ganzes Sein durch ihre Teilhabe an der Handlung bestimmt. Die Gestaltung der Menschen erfolgt ala Gestaltung ihres Verhaltens. Direkte Beschreibung durch den ErzaWer und indirekte XuBerung durch Rede und Ausdruoksgebsrden sind die Mittel der Darstellung. Dabei faUt dreierlei auf: 1. das Verhalten offenbart ala tiefste Schicht des menschlichen Seins die Gesinnung; 2. es waltet eine Kongruenz zwischen den Mitteln der Darstellung; direkte (durch den Erzii.hler) und indirekte (durch die Figur selber) decken sich in ihrem Aussagegehalt vollatii.ndig; 3. es herrscht ein auffslliges Vertra.uen zum Wort: es ist fahig, Verhalten und Gesinnung genau zu erfassen und zu deuten, d. h. den Aussagegehalt kIar snzugeben und damit in jedem Augenblick der Wertung zugii.nglich zu machen. Indem das Verhalten ala Gesinnungsii.uBerung erfaBt wird, vollzieht sieh eine Abstrahierung. Der Blick fallt nicht auf daa AugenblickIiche und Individuelle, sondern a.uf ein Dauerndes. Eine nicht sehr groBe Zahl von Ausdriioken steht bereit, um die Gesinnung mit dem deutenden Wort sls typisohe Form zu erfassen. Auf der negativen Seite finden sich etwa Bezeichnungen wie Grausamkeit, Gier, Tyrann, auf der positiven Seite Keuschheit, Tapferkeit, Edelmut, Treue u. s. f. Nun kann diese Konstsnte gewiB durch ein Momentanes iiberlagert werden. Es ist sogar ein offensichtliches Ziel des Erzii.hlers, die Gestalten in dieser AugenbliokIichkeit ihres Verhaltens, in den "heftigen Gemiitsregungen" angesichta der jeweiligen, iiberraschenden Lsge darsustellen. Aber auch dabei fli.llt die geringe Zahl auf, in die die Regungen spraohlich aufgegliedert sind. Lohenstein zii.Wt z, B. einmal auf: "Liebe, Furcht, Hoffnung, Eifersucht, Rache und Verzweiflung machten in seinem Herzen ein schreckliches Ungewitter, ala ein Orkan auf der See sein kann"t). Stellen wir dazu noch Bestiirzung, Trauer, und auf der positiven Seite Freude, Vergniigung und Entziicken, so haben wir die Skala ziemlich vollstsndig beisammen. Auch dabei handelt es sich nicht um eine individualisierende Sicht. Die Sprachgebung des zitierten Lohensteinschen Satzes ist schlechthin typisch: der Mensch wird zum Tummelplatz der im Raum schwebenden, immer mit sioh identischen Phii.nomene, er wird von ihnen ergriffen, sie bemaohtigen sich seiner, sie streiten sich in ibm. Aber es ist nun die Aufgabe, diese heftigen Gemiitsbewegungen zu beherrsehen bzw. ihnen keinen Eintritt in die Seele zu verstatten. Die Eigenschaft, die das vermag, heiBt einheitlich die GroBmiitigkeit. Sie hat zwei Aspekte, einen formalen und einen inhaltlichen. Ala formale Kraft ermoglioht sie die Beherrschung bzw. Befreiung von der momentanen Erregung und wird zur t)

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GroBmiitiger Feldherr Arminius, Zweiter Teil, 1690, S. 1160.

Vcrausseteung, daB die Gesinnung sich bewahren kann. Zugleich aber ist sie selber Gesinnung und gehOrt mit Standhaftigkeit, Treue aufs engste zusammen, Der erste Sinn uberwiegt z. B. in folgendem Zitat aus der 'Asiati. sohen Banise' : "GroBmutigkeit ist der Anfang aller wichtigsten Dinge, durch welche such die Unmoglichkeit selbst bekrieget und besieget wird " . Der zweite Sinn tritt hervor, wenn an anderer Stelle einem Prinzen zugerufen wird: "Eine solohe Verzweiflung steht nur niedrigen Gemiitern an . Wer zum Zepter geboren ist, der muB sich uber keinen Zufall ii.ndern: und GroB. mutigkeit ist der Prinzen hdehste Zierde'(6). Im iibrigen ist die Herrschaft der Normen in diesem Roman schon lockerer geworden; der Leser Lohensteins etwa wurde aus dem Zitat und noch klarer aus der gleich darauf folgenden Angabe : "Also konnte er sich mit sich selbst nicht vergleichen" geschlossen haben, daB es sich um keine vorbildliche Gestalt handelt, Durch GroBmiitigkeit wird selbst die Unmoglichkeit besieget ; die Romane zeigen fortlaufend, wie gut die (vorbildlichen) Helden tun, sich uber die momentane Verzweiflung odor Furcht oder Eifersucht zu erheben. Keine Situation - und standen sie gcfesselt auf dem Scheiterhaufen oder sei daa Schwert des Gegners auf ihre wehrlose Brust geauckt - ist so verzweifelt, daB nicht doch Rettung moglioh ware. Die Menschengestaltung mit der Augenblicklichkeit der Gemiitsvorgange und der Konstanz der GroBmutig. keit entspricht genau der Ordnung des Seins mit ihrer Schichtung in die Wechselfalle der launischen Fortuna und die endgiiltige Begliickung durch die stets waohsame Vorsehung. Aus allem aber ergibt sioh, wie wenig individualisierend die Gestaltung ist und aus dieser Blickrichtung sein kann. Diese Feststellungen begrdnden nun zugleich den Eindruck, den dss Er. zahlen macht: es wirkt durchaus unpersdnlieh. Der Erzii.hIer spricht gleiehsam als ein Anonymus, der keinen eigenen Standpunkt ala Person hat. Er sucht keinen Kontakt mit dem Leser, er tritt nicht mit eigenen Meinungen hervor und er begleitet ebensowenig dss Geschehen und die Figuren mit seiner personlichen Anteilnahme. Die Stimme des Erzii.Wers kommt aua weitem Abstand und hat etwas von dem metallenen Klang des Epos: der Sprechende selber bleibt unfaBbar. Aus dem stilbestimmenden Gesetz der Kongruenz zwischen direkten und indirekten Mitteln der Darstellung erklart sioh aber auoh, weshalb er so haufig das Wort abgibt: tatsii.chIich uberwiegen in den Barockromanen in auffalligem MaBe die direkten Reden bzw. die ErzaWungen durch Figuren, und wo auBere Indizien feblen, da halt es schwer, aUB einer willkiirlich aufgeschlagenen Seite zu entnehmen, ob der Erzabler oder eine der Figuren spricht. Gerade, weil jenes Gesetz herrscht, wirkt as so verwirrend, wenn eine Gestalt "sich verstellt", wenn ein Prinz Ii)

Banise, hrsg. F. Bobertag, Kiirschners Dt. National-Literatur,

Bd 37, S.25.

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Kleider und Namen vertausoht, oder wenn eine gefangene Prinzessin den werbenden Tyrannen zu erhoren soheint, urn eine Frist zur Rettung zu gewinnen. In solchem Falle pflegt selbst der heimlich anwesende echte Liebhaber von Eifersucht ergriffen zu werden, so sehr gilt das gesprochene Wort und so vollig fehIt es an innerem Verstehen. Die tieferen Sehichten der Men· Bohen mit ihren Bindungen gibt es nioht, und die Verstellung erfolgt nur ala ein Akt vollster BewuBtheit. GewiB ware im einzelnen zu differenzieren. Wie in der 'Asiatischen Banise' die Normen lockerer werden, so zeigt sieh aueh im Inhalt eine Bereicherung der GefiiWsskala und in der Haltung des Erziihlers eine leichte Erweichung der starren Anonymitiit. Der ErzahIer, der sich in bewuBtem Gegensatz zu dem hohen Stil von Lohensteins "unvergleichIichem 'Arminius' durchgehends einer leichten und gewdhnliehen Redensart (hat) bedienen wollen", kann gelegentlich personliche Anteilnabme an seinen Gestalten zeigen ("So wurde unser Prinz". . . "Reise nur bin, du vergniigtes, doch ungliickliches Paar .. .") 6); er tritt sueh gelegentlich als Erzabler hervor und bezieht dadurch das Publikurn bewuBt ein ("unser Prinz"; "Wir wollen aber einen kleinen Vorsprung tun und unsem verliebten Fliichtlingen in etwas naoh gehen'"}; "Wo lassen wir aber die entziickte Banise 1")8). Es sind erste An. zeichen einer "empfindsamen" Haltung, die sich, im franzoslschen empfindsamen Roman vorgebildet, dann im "galanten" Sehrifttum weiter auspragt"), Der Erziihlstil des .Jiohen" hcfisohen Barockromans kennt derlei nicht, und zu seiner Veransehaulichung sei zum AbsehluB der behandelten Zusammenhange eine Stelle sus Lohensteins Arminius wiedergegeben und kurz besprochen; es hsadelt sieh urn das Ende des Varus 10) : "Denn als er seine noch standhaltende HandVolksauf allen Seiten umringt und nirgendshin einige Ausflucht mehr sahe, bezeugto er endlich groBere Herzhaftigkeit zu sterben als zu ldi.mpfen, und redete die nll.chsten mit diesen Worten an: Lasset uns, ihr ehrlichen Romer, diesen letzten Schlag des verli.nderlichen Glucks beherzt ertragen, und !ieber dem Tode frisch in die Augen sehen, als aus einer bevorstehenden Gefli.ngnis noch einige Erlosung erhoffen, und also eine freiwillige Entleibung einer knechtischen Dienstbarkeit fiirziehen. Mein GroBvater Sextus Varus hat in der Pharsalischen Schlacht durch seine eigene, mein Vater Varus Quintilius in dem Philippinischen Kriege durch seines Freigelassenen Hand sich !ieber hingerichtet, ehe sie sich der Willkiir ihrer Feinde, die doch ROmer waren, unterwerfen wollten. Ich will es ihnen nachtun, ehe ich in dieser Barbaren Hil.ndefalle, und euch ein Beispiel, der Nachwelt aber das Urteil hinterlassen... Von dem Tode mehr Worte zu machen, ist ein Stucke der Kleinmiitigkeit. Wie 7) ebda S. 262. s) ebda S. 397. ') VgI. L. Brogelmann, Studien zum ErzAhlstil im "idealistischen" Roman von 1643-1733, mit bes, Beriicksichtigung von August Bohse, Diss, Gottingen 1953. 10) GroBmiitiger Feldherr Arminius, Erster Teil, 1689, S. 49 f. I) ebda S.261.

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feste ich mir zu sterben fiirgesetzt, konnet ihr dahero schlieBen, daB Ich niemandem einige Schuld beimesse, Denn sich iiber Menschen und Gotter beklagen, stehet nur dem an, der lAnger zu leben begebret. Ein Konig aber Bollseines Reiches, ein Knecht seines Herrn, ein Kriegsmann seines Obersten, ein Fcld-Hauptmann seines Heeres Wohlstand nicht iiberleben. Hiennit umhiillete er mit seinem goldgestickten Purpur-Mantel sein Haupt und staeh seinen Degen ihm biB an den Griff ins Henze. Also verhiillete aich auch der ennordete Pompejus und Julius; wormit niemand ihre sterbenden UngebArden sehen mochte, Die FUrnehmsten und Herzhaftesten taten es ihrem Heerliibrer nach und benahmen durcb eigene Entseelungen dem Feindc die Lust und die Ehre, von seinen Streieben zu fallen. I I

Die Worle des Erzahlers und die Worle und Taten der Figuren sind kongruent. Varus' Rede und Verhalten bestil.tigen die "endlich erreichte" Herzhaftigkeit, die der Erzahler ibm zuerkennt. Alles ist bestimmt durch Nor. men, die von dem Erzahler und der Figur gewuBt und ausgesprochen werden . Es waltet nioht der geringste Zweifel an der Fahigkeit der Sprache, d88 Gemeinte auszudrtioken und zu iibermitteln (der Unssgbarkeltstopos, d. h. die Beteuerung der Unfahigkeit, eine Szene gebiihrend zu beschreiben, findet sich wiederum im empfindsamen Roman haufiger). Uns mag der Tod des Varus, wie er hier erzahlt wird, blaB, leer, unindividuell vorkommen. Wir vermisaen vielleicht die personliohen Empfindungen des Varus, vermissen die Gestaltung seines Endes, vermissen die Geetaltung der Tatsaehe, daB hier ein mensehliches Geechick seinen AbschluB findet, dessen gesamter Verlauf doch noch einmal siohtbar werden sollte, Riick-Sicht ist in unserem Text gewiB da, aber sie erfaBt nicht die Geschichte eines Menechen, sondem einzelne Falle der Normerfiillung. Sinus Varus und Varus Quintilius sind beispielhaft gestorben, und wenn der Erzahler noch berichtet, daB Varus sich mit seinem Mantel umhiillt, so ist auch das nicht als individuelle Geste gesehen, sondem wiederum ala Normerfiillung: auoh Pompejus und Ciisar verhiillten, so fiigt er hinzu, die Ungebiirden des Sterbens. Wieder gerat man in die Versuchung sich vorzustellen, wie ein moderner Schriftsteller den Mantel verwendet hii.tte, der hier lediglich ala Attribut des Oberbefehlshabers Sinn hat: wie er dem Farbenspiel von Gold, Purpur und Blut und seinem Gerafftwerden und Sinken vielleicht den eigentlichen Gehalt der Szene anvertraut hatte. Der Mantel konnte einem heutigen Autor zum dichterischen Mittel werden, mit dem er, die Kongruenz der barocken Darstellungsmittel und die Beschrankung der Sprache auf ihr bezeiohnendee Vermogen iiberwindend, das Uneagbsre individuell-gesohichtlicher und atmosphiirischer Gehalte sagbar maohte. Dort aber steht die Auswahl des Er· zii.hlten wie die Art dee Erzii.hlens durohgangig unter der Herrsohaft fiberpersonlicher, gewuBter Keine persdnliohe Teilnahme an dem Poblikum oder dem Geechehen bringt una den Erziihler seIber ala Gestalt naher: er spricht in der kalten Anonymitil.t des blofsen Wissens und Wertens. 11

FUr mehrere Jahrzehnte sinkt danach der Roman ab zur Unterha.ltungs-

literatur, bis er um die Mitte des Jahrhunderts, in England und Deutschland, in verhli.ltnismli.Big kurzer Zeit die fiihrende Stellung im Bereich der Literatur erobert. Was fortan in dieser Form geschrieben wird, steht in einem engen Zusammenhang der Tradition. Wenn noch heute zahlreiche Romane des 18. Jahrhunderts lebendig sind, so weist das auf nur geringfiigige Ab. wandlungen der Form im Verlauf dieser zwei J ahrhunderte : damals entsteht, was wir als modernen Roman zu bezeichnen pflegen. Es ist eine der reizvollsten Aufgaben der Literaturgeschiehte, diese ploteliohe Heraufkunft zu verstehen, zu der tiefgreifende Wandlungen im sozia.len und geistigen Leben der Zeit beitragen und in der sich zugleieh eine neue Einstellung zur Diehtung spiegelt. Deutlich genug ist es nieht die Tat eines einzelnen Genius, der ein neues, weithin wirkendes Muster gibt. An der Prii.gung des modernen Romans sind eine Reihe von Dichtern beteiligt: Richardson, Fielding, Smollet, Goldsmith, Sterne in England, Gellert, Wieland, Goethe in Deutsch. land, um nur die bekanntesten zu nennen. Die Erscheinung, von der aus wir versuchen wollen, das Besondere des entstehenden Romans zu erfassen, ist die Erzahlweise. Es ist den Werken der genannten Autoren gemeinsam, da.B hier auf eine neue Art erzii.hlt wird. GewiB flndet aueh eine Verschiebung im Stoffbereich statt ; dar Schauplatz verengt sich, die Geschehniaae riieken nliher, und vor allem verschwindet das Personal der Fiirsten und Prinzessinnen und mit ihnen die hofisehe Reprii.Bentanz der erzlihlten Welten. Aber wenn wir statt dessen bei Gellert in eine Welt der Biirgerlichkeit und eines biirgerlich gesehenen Adela treten, so hat sieh garnicht so viel gesndert ; es herrschen aueh hier Normen, von denen Auswahl und Gesta.ltung und vor allem die Ha.ltung des Erzablera bestimmt werden. Mogen es aueh statt der hofischen die Normen einer biirgerlichen Ethik sein, - der Erzabler spricht in der gleichen Kslte und Unbewegtheit des Wi88enden wie der Erzahler des hohen Barockromans. Zu dieser ersten Stufe, auf der sich also nur Stoffbereich und Inhalt der Romane geandert haben, gehort auch Gellerts Vorbild Richardson. Freilich miissen wir hinzufiigen: seiner Absicht naoh, wie sie sich etwa in dem Untertitel seines ersten Romans von 1740/41 'Pamela or Virtue rewarded' ausspricht. Auch die Wahl der Briefform geschah noeh aus normativer Einstellung; wie die vieIen eingelegten Briere in den Barockromanen sollten auch die des ersten Romans Muster des Schreibens werden. DaB sie dann etwas anderes wurden, daB die Form, vor allem in der 'Clarissa', ganz neue Moglichkeiten offenbarte, gesehah gleiohsam wider Willen. Die Zeitgenossen hielten sich an die Absicht. Gellert zitierte den Englander in seinen Moral. vorlesungen; er fand zwar eine Entschuldigung notlg, daB er es wa.ge, Romane zu nennen - "aber wenn es die Romane eines Richardson sind ..." Seine 'Schwedische Gratin' zeigt, wie wenig er von dem dichterisch Neuen 12

des Vorbildes erfaBt und wie stark ibn die Tatsa.che beeindruckt hatte, daB die verachtete Romanform dooh verdienstlich sein konnte. Gellerts Roman bedeutete einen Riickschritt hinter Richardson; er blieb im ubrigen der heimischen Tradition des Unterhaltungsromana starker verhaftet, ala seinem Autor erlaubt war. Der modeme Roman trat in Deutschland erst Jahre spater und nun unvermittelt in die Erscheinung: 1764 erschienen Wielands •Abenteuer des D. Sylvio von Rosalva" , Nicht darin lag dsa Neue, daB sieh am Ende statt einer Belohnung der Tugend der Sieg der Natur tiber die Schwarmerei ergab; das Noue wurde sohon in den ersten Sii.tzen horbar : In einem alten bauflll1igen Schlosse der spanischen Provinz Valencia. lebte vor einigen .Tahren ein Frauenzimmer von Stande, die zu derjenigen Zeit, do. sie in der folgenden Geschichte ihre Rolle spielt, bereits tiber ein halbes .Tahrhundert unter dem Namen Donna. Mencia von Rosalva - sehr wenig Aufsehens in der Welt gemacht hatte, Die Dame hatte die Hoffnung, sieh durch ihre personllchen Annehmllchkeiten zu unterscheiden, schon seit dem Sukzessionskriege aufgegeben, in dessen Zeiten sie zwar [ung und nicht ungeneigt gewesen war, einen wiirdigen Liebhaber glucklich zu machen, aber immer 80 empfindliche Krll.nkungen von der Kaltsinnigkeit der Ma.nnspersonen erfahren hatte, daB sie mehr ala einmal in Versuchung geraten war, in der Abgeschiedenheit einer Klosterzelle ein Herz, dessen die Welt sich so unwiirdig bezeugte, dem Himmel aufzuopfern. Allein ihre Klugheit lieB sie jedesmal bemerken, daB dieses Mittel, wie alle diejenigen, welche der Unmut einzugeben pflegt, ihre Absicht nur sehr unvollkommen erreichen und in der Tat die Undankbarkeit der Welt nur an ihr selbst bestrafen wiirde.

Wir horen einen personliohen Erzahler. Schon im Rhythmus, im Tonfa.ll dieser reich gegliederten Satze spiiren wir ibn, spiiren ihn in der Bewu13theit, mit der er sich daran maoht, una die "folgende Geschichte" zu erzahlen, tiber die er offenbar vollen tJberblick hat, horen una von ibm unmittel, bar angesprochen; denn den kleinen Einachub mit seiner psychologischen Weisheit (wie aile diejenigen, welche der Unmut einzugeben pflegt) spricht or, einen Augenblick und mitten im Satz den Kopf vom Erzahlten abwendend, zu uns heriiber. Schon durch diose dauernd weehselnde Blickrichtung (bald auf die gesamte Gescbichte, bald auf eine Figur und ihre Geschichte, bald zum Leser im Einverstandnis tiber kleine Lebensweisheiten) kommt eine besondere Lebendigkeit in dieses personliche Sprechen. Sie steigert sich nooh durch das besondere Verhii.ltnis zur Sprache. Die Sprache ist bier nicht sohlechthinnige Mitteilung, wird nicht in naiver Glaubigkeit an ihre Bezeichnungskraft verwendet, sondern ganz bewuBt und gerade unter Ausnutzung ihrer Mehrdeutigkeit. Wir mussen als Leser ziemlich aufpassen und werden dennoch immer wieder angefiihrt. Gleich im ersten Satz beginnt es: immer hoher spannen sioh die Bogen, vom spanischen SchloB zum Frauenzimmer von Stande, ihrer Rolle in der Geschichte, ihrem klangvollen Namen - aber 13

unsere Erwartung stiirzt in das Loch des Satzachlusses. Der durch den syntaktischen Bau ala Spannung und Entspannung gefiigte Kontrast, von (scheinbarem) Anspruch und (realer) Nichtigkeit wirkt komisch und lii.llt una lii.cheln. Auf andere Weise wird im nachsten Abschnitt das Lii.cheln erzeugt. Der Erzahler schaut offenbar mit den Augen der Person auf die Welt : wiirdiger Liebhaber, gliicklich maehen, empfindliche K.rii.nkungen, Kaltsinnigkeit der Mannspersonen, unwiirdige Welt, dem Himmel aufopfem - daa ist aus der Perspektive der wiirdigen Donna Meneia geeagt, Gerade durch die Hii.ufung und Steigerung der pathetischen Wendungen wird aber diese Perspektive ala kiinstlich, alaVerkleidung, ala Illusion merklich. Eine zweite Perspektive der Desillusionierung lagert sich an; Erzii.hler und Leser wissen, wie die Dinge in Wirklichkeit liegen (obwohl dieses Wissen garnieht explizit ausgesprochen wird). Der Leser fiihlt sich nicht nur geschmeichelt, wenn der Erzahler so merklich mit seinem Scharfsinn rechnet, er spUrt zugleich die Bande der Gemeinsamkeit mit dem Erzahler und ist vertrauansvoll bereit, ibm weiterhin zu folgen. Er wird erIeben, wie sieh diese Gemeinachaff steigert, indem der Erzahler sioh ihm in ausfiihrlichen Erortcrungen zuwendet. Verstli.ndnis fiir ironisches Sprechen und Kenntnis der Welt, das ist die Grundlago der Gemeinsa.mkeit zwischen Leser und Erzahler; im iibrigen ist ihr Verhii.ltnis schon in diesem Anfang des Romans recht vielseitig und gegen. fiber den diirftigen Beziehungen selbst im empfindsamen Roman geradezu unerschopfhoh. Kenntnis der Welt: daa meint Einblick in ihre Schichtung, das meint vor allem die Fahigkeit, im menschlichen Verhalten Schein uod Sein zu unterscheiden. Die Menschen diesea Buches sind alle nur zu bereit, sieh etwas vorzumachen, die Wirklichkeit mit ihren Dlusionen, ihrer Eitelkeit oder ihrer Torheit zu verstelleo. DaB wahre Sein, ihre wahre Natur liegt tiefer - damit ist jenes Gesetz der Kongruenz zwischen direkten uod indirekten Mitteln der DarstelIung aufgehoben. 1m Reden und Verhalten des Menschen offenbart sich oicht mehr die ihm selbst bewuOte Gesinnung ala letzte Schicht, sondern zunachst nur eine Oberflii.che. Es gilt, tiefer zu dringeo und die oft unbewuOten Mii.chte der seelischen Natur und die Gesetze ihres Wirkens zu erfassen. Es ist fiir Wielands Erzii.hlweise typisch, dall in dem Leser die Gewillheit erzeugt wird, diese Tiefen erkennen zu konnen. Scharf. sinn, Einsicht in die Schichtung, Weltkenntnis, Uberlegenheit, Milde gegen. liber dem, was sich der Mensch als Schein aufbaut, Nachsicht mit allen seelischen Schwii.chen - das sind einige Wesensziige des Erzahlers, die schon in unserem Anfang dem Leser spiirbar werden. Dazu gehort die schalkhafte Ironia, mit der er spricht. DaB Verhii.ltois zur Sprache hat sich gewandelt. Der Leser darf dem Wort oicht mehr blindlings trauen, sondern mull dafiir empfanglioh sein, dall mehrere Perspektiven walten. Er mull wie die Welt 14

so such die Sprache durchschauen und die Kunst der Andeutung verstehen. Und er mull schlieBlich sein eigenes Rollenspiel durchsohauen. Denn so wie der Erzahler in die verschiedenen Haltungen des Autors, Ubersetzers, Kommentators schliipfen kann, mit denen er dann spielt, so drangt er dem Leserdie verschicdensten Rollen auf, mit denen er dann gleiohfalls sein Spiel treibt. Diese neue Erzahlprosa ist plotzlioh da, Sie iiberrascht such, wenn man Wielands frtihere Verauche heranzieht. Die so beliebte Kategorie der Entwicklung seheint hier zu veraagen - ob wir von der Geschichte des deutschen Romans 11) oder der des Autors her schauen. Tatsachlich gelangt Wieland zu seiner Erzahlweise durch eine Begegnung, durch die Begegnung mit Fielding. Dessen erster Roman 'The History of the Adventures of Joseph An. drews and his friend Mr. Abraham Adams' (1742) begann als Parodie auf Richardsons 'Pamela'. Auch hier waltete eine doppelte Perapektive: wir miissen das tugendhafte Verhalten des Heiden als ideologische Veratellung der Wirklichkeit erkennen, fiir die sich die " Nat ur" raohen wird. Auch hier horen wir einen sehr personliohen Erzahler, such hier wird eine enge Gemeinschaft mit dem Leser hergestellt. Im 'Tom Jones' laBt ibn der Erzahler in halb ernst-, halb scherzhaften ausfiihrlichen Erorterungen an seinen tech. nischen Sorgen teilnehmen. Solche Reflektionen, vor allem iiber die Zeitgestaltung, werden sich im "modcrnen" Roman immer wieder finden (Raabe, Th. Mann) ; sie bauen den Erzdhlee auf, sorgen fiir ein enges Verhaltnis zum Leser und schaffen, wenn sie gut integriert sind, an der Atmosphare des Werkes 12) . Wie Joseph Andrews, so steht such der gute Adam in mehreren Perspektiven. Hier liegen die Dinge Bogar komplizierter. Denn es handelt sieh nicht nur urn die klare Zweischichtung in Schein und Sein, in Verstellung und Natur, sondern um verschiedene und dabei gleichzeitige Betrachtungswcisen auf die eine Gestalt. Wir lachen iiber ibn, aber zugleich riihrt er UDB, wir erkennen das Obertriebene und Sehwarmerische und empfinden zugleich darin den Kern der Echtheit. DaB fiir die Ausbildung von Fieldings Erzii.hlweise mit ihrem Reichtum an Perapektiven seine friihere Tii.tigkeit ala Biihnenschriftsteller bedeutsam war, kann ala featstehend gelten; in diesem FaIle hilft das Denken in "Entwicklungen". Aber doch nur zu einem Teil. Auch Fielding stand wieder unter dcm Eindruck einer Begegnung, die ihn zu jener fiir den Gang der europsisohen Literatur symptomatischen Wendung 11) Wir lassen hier und im Folgenden den franzOsischen Roman aus der ersten HiUfte des 18. .Tahrhunderls beiseite, 80 gewill seine Erzii.hltechnik manche Ubereinstimmungen aufweist und auf Wieland, den die Zeitgenossen den deutschen Crebillon nannten, gewirkt hat. Zu dlesen franzosischen Romanen und ihrer Wirkung vgl. H. Friedrich, Abbe Prevost in Deutschland, 1029, und.T. R. Foster, History of the Pre-Romantic Novel in England, London 1949. 12) H. Meyer, Zum Problem der epischen Integration, Trivium 1950.

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vom Biihnenstiick zum Roman brachte und dabei insbesondere seine Erzii.h1weise bestimmte. "Written in imitation of the manner of Cervantes" ist der Untertitel jenes ersten Romans. Der Hinweis ist verschieden interpretiert worden 13). Meinte Fielding damit seine Menschen 1 Meinte er die durch das " P aar" bestimmte Struktur 1 Zusammenhsnge sind bier wie da offenkundig. Aber una scheint, da13 der Untertitel zugleich auf die Erzahlweise anspielen soll . Die neue Deutung des CD. Quijoto' gerade durch die damalige Literaturkritik Englands und Frankreichs 14 ) und gerade durch Fielding gibt dazu ein Recht. DaB 17. Jahrhundert hatte den 'D. Quijote' so plan gelesen, wie wir es von der Erzii.hlweise des Barockromans kennen: in den Worten und Taten des irrenden Ritters bekundete sich ein Narr, ein Verriickter, ein Gegenbild richtigen Verhaltens, dessen ZusammeDBtoBe mit der wirklichen Wirklichkeit naoh der Absicht des Dichters reines Lachen hervorrufen sollten, So hatte ibn noch der junge Fielding gelesen, wenngleich er schon, an der Umdeutung der Gestalt teilnehmend, das Allgemein-Menschliche an der madnesa des D . Quijote betonte. In der Vorrede zu 'David Simple' (1744) aber bezeichnete er D. Quijote ala "at once amiable, ridiculous, and natural". D. Quijote war nicht mehr der Narr, der Ganz-andere, sondern lii.cherlich, weil die Eitelkeit als Quelle seiner affectation ibm standig etwaa vorspielte, Damit stand er una allen nahe, war er gii.nzlich "natiirlich"16), denn wir alle verfalschen die Wirklichkeit in swkerem oder geringerem Grade mit den Wunschbildern unserer Illusionen. D. Quijote war dariiber hinaus in besonderem Malle liebenawiirdig; der Dichter erkannte in ibm die edlen Eigenschaften und stellte ibn in solcher personlichen Wertschatzung dar. Gerade die Mehrzahl der Perspektiven, die mehrfache Schichtung mit ihrer Desillusionierung der Desillusion war fUr Fielding, wenn wir recht sehen, das Besondere an des Cervantes Erzii.hlweise, die er nun auf seine Art erneuerte und fortbildete. (Die Umdeutung, die sich am D. Quijote vollzog, laBt sich in einer Formel erfassen : er wurde vom komischen Roman - bei dem das Lii.cherliche ganz im Gegenstand bleibt - zum humoristischen Roman: denn im Humor wird das Komische der Gegenstii.nde in die - auf irgendeine Art positiv stellungnehmende - Auff&BBung eines personlichen Beobachtera einbezogen 16). Der 13)

Gerhard Buck: Written in Imitation of the Manner of Cervantes, G R M.

XXIX, 1941. It) Harri Meier, Zur Entwicklung der europalschen Quichote-Deutung, Romanische Forschungen, LIV, 1940. 11) Die Bedeutungsverschiebung vom pejorativen "ungebildet" zum anerkennenden "urspriinglich" kiindet sich wohl schon in dem Fieldingschen Zitat an. It) Vgl. N. Ha.rtmann, Asthetik, 1953, S. 415: "Daa Komische ist Sache des Gegenstandes, seine QuaJitAt, - wenn such nur "fUr" ein Subjekt, was ja fiir alle li.stbetischen GegenstAnde gilt, - der Humor dagegen ist Sache des Betrachters oder des Schaffenden (des Dichters, des Schauspielers). Denn er betrifIt die

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personliche Erzahler ist die unerlallliche Voraussetzung IUr den humoristischen Roman. Dieser aus der Asthetik gewonnene Satz wird durch die Geschichte bestatigt : mit Fielding beginnt, und zwar sehr kraftig einsetzend, der "humoristische" Roman.) Das also scheint uns das Eigene und Neue im Erzahlen der Cervantes, Fielding und Wieland zu sein : dall ein durchgehend persdnlicher Erzahler als Vermittler hervortritt, der von sehr vielseitigem Wesen ist; dall das Erzahlte in mehrere Perspektiven geriickt und die Sprache damit untergriindig wird; dall der Leser einbezogen wird und mit Aufmerksamkeit dabei sein mull, urn das Untergriindige zu erfassen, daB es aber bei allen Uberraschun, gen, die sich der Erzahler mit ihm erlaubt, zuletzt in dem Glauben an die "Natur" eine Gemeinsamkeit des Deutens und nachsichtigen Wertens zwischen beiden gibt. Der Glaube an die Natur weiB alle "Wirrungen des Her. zens und des Kopfes" ala natiirlich zu nehmen, urn eine Lieblingswendung des 18. Jahrhunderts zu gebrauchen; sie erscheint bei Crebillon als Romantitel und konnte vielen Romanen jener Zeit als Titel dienen. Die Natiirlichkeit aller Verirrungen und die letzte Unbekanntheit der Natur und damit der Wahrheit fiihren zu jener heiteren Nachsichtigkeit, die fUr Fieldings und Wielands Ton des Erzii.hlens kennzeichnend ist, In der Bedeutung, die dem Erzahler zukommt, erfassen wir Wesentliches von dem neuen Formtypus Roman, wie er damals gepragf wird. Aber wer ist der Erzii.hler des Romans 1 Die Antwort, daB Cervantes den 'D. Quijote', Fielding den 'Tom Jones', Wieland den 'D. Sylvio' erzahlt, ist so naheliegend wie falsch. Wer einmal Kindern ein Marchen erzahlt hat, der weill, daB er sich verwandeln muBte . Brachte er es nicht fertig, sein eigenes Ich abzulegen und seine aufgeklarte Denkweise ala Erwachsener, gelang es ibm nioht, sich zum naiven Erzii.hler zu machen, der an all das Wunderbare sehlicht glaubt, daa er zu berichten hat, 80 verfehlte er mit Gcwillheit seine Aufgabe. Der Erzii.hler ist immer eine gedichtete, eine fiktive Gestalt, die in das Ganze der Dichtung hineingehdrt, Kate Friedemann hat in ihrem 1910 erschienenen Buch 'Die Rolle des Erzahlers in der Epik' den ErzaWer ala einen "organi. schen Best&ndteil seines eigenen Kunstwerkes" bezeichnet. Das ist eine fiir die Poetik der ErzaWkunst grundlegende Einsicht, die nicht wieder verloren gehen darf11).

Art, wie der Mensch das Komische ansieht, aufgreift, wiederzugeben oder dieh-

terisch zu verwerten weill." 17) Wiehtige Studien zur Poetik der Epik verdanken wir in den letzten .Tahren Kate Hamburger. In ihrem letzten Aufsatz iiber das "epische Pl'l\teritum" (DVJS. XXVII, 1953) behandelt sie eine Reihe von tiefiiegenden Problemen. Die Ltisungen scheinen mir dadurch schiel geworden zu sein, daB die Vf. den ErzAhler a.usdriieklieh zum "niehtftktiven Faktor" macht. 17

Der Erzahler des 'Agathon' ist ein merklich anderer als der des 'D. Sylvio', und es ware einer der naivsten Fehlscbliisse, wollte man den Wandel in der Erzii.hlhaltung bei einem Romanschriftsteller einfa.ch ala Folge seiner gewandelten Personlichkeit deuten. Dar Erzahler ist ein Teil des gedichteten epischen Werkes, und sein Wescn muB notwendigerweise auf das Erzablte abgestimmt sein. Dabei zeigt sich nun gleich eine Besonderheit des modernen Romans: im Unterschied zum Barockroman, im Unterschied aber auch zum Epos, zum Marchen, selbst zur Novelle ist sein Antell ala personlicher Erzahler ungleich groBer und merklicher und ist sein Verhii.ltnis zum Erzablten ungleich vielfaltiger. Das Epos verlangt den unpersonlichen, von dar Muse ergriffenen, herausgehobene Sanger, das Marchen den naiven, glau. bigen Wieder-Erzabler. Im Roman ist die Rolle des Enahlers nicht von vornherein durch das Erzahlte eindeutig bestimmt ; selbst wenn wir die Frage, was denn im Roman erzahlt, wird, noch zurUckstellen, so weiB doch jeder Leser, daB unheimliche, bedrangende Schicksale hier in einem ergriffenen, dort in einem kiihl distancierenden, bei einem dritten Roman in einem ironischen Ton ala durchgangiger Haltung erzahlt werden konnen . Ebenso aber, wie der Erzabler nicht mit der biographisoh faBbaran Gestalt des Dichters identisch ist, ist der biographisch faBbare und sich selbst bekannte Besitzer eines Romans identisch mit dem Leser, der im Roman sngesprochen, getli.uscht, befrsgt und auf manoherlei Weise einbezogen ist: such dieser Leser ist ein fiktives Wesen, in das wir uns erst verwandeln. Aber wiihrend es sw. rend wirken kann, wenn der Autor dem Erziihler iiber die Schulter blickt, scheint es der li.sthetischen Aufnahme des Romans nichts auszumachen, wenn wir uns ala solchem Leser selber zuscha.uen18). Es ware eine eigene Aufgabe, in den groBen Romanen des 18. Jahrhunderts den Erzabler zu bestimmen. Tritt der des 'Peregrine Pickle' weniger ala personliohe Gestalt hervor denn der des 'Tom J ones', so erscheint der des 'Vicar of Wakefield' sogar ale Figur im Erzahlten seIber und wird da.mit um so leibhafter. Der groBe Ruhm dieses Romans griindete gerade auf der 80 vielfa.ch aufgebauten Gestalt des Erzablers : dieses schliehten, giitigen, gottergebenen Predigers, dessen Amt seiner Anlage zum Beobachten und Meditieren so entgegenkommt und der, in na.chsichtigerKenntnis der menschlichen Sehwachen, aueh sich selber und seinen Fehlern mit leisem Humor gegeniibersteht. Vollig einzigartig aber - und zwar innerhalb des Romanschaffens aller Zeiten - ist der Erzabler des 'Tristram Shandy'. Es ist ein offensichtlich unordentlicher Geist, der da zu dem Leser sprieht ; as gelingt 18) Das Problem: wer ist der Leser, an den sich der Embler wendet?, iBt bisher von der Poetik des Romans noch nicht bearbeitet worden. Die Bemerkungen iiber voice and address in Shipley, Dictionary of World Literature, New York 1943,beriicksichtigennicht den grundlegendenUntersehied zwischen dem auBerhalb des Werkes stehenden realen und dem einbezogenen tlktiven Leser.

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ihm nicht, bei seiner Erzahlung zu bleiben und ihr die klare Ordnung des Nacheinander und stetigen Fortschreitens zu wahren. Immer wieder unter, bricht er die Zusammenhange, springt voraus oder in die Erziihlgegenwart oder eine Vorvergangenheit. Ebenso mischen sich die Tone, und die Skala der Perapektiven ist nun ungleich reicher als sie Fielding fUr den Erzahler des 'D. Quijote' ermittelt hatte: vom Riihrenden springt der Erziihler ins Spottische, vom Satirischen ins Pathetische, und meist iiberlagert sich daa zu gleicher Zeit, so daB der Leser nicht weiB, worauf es dem Erzabler eigentlich ankommt und in einen Strudel wideraprechender Empfindungen gerii.t. Der Leser, von Beginn an einbezogen und sich sogar sprechen hdrend, sieht sieh iiberhaupt dauernd genarrt, seine Erwartungen werden stiindig getiiuscht : so wenn er etwa statt einiger Kapitelleere Seiten findet oder mittendrin auf das Vorwort stoBt. Jene enge Gemeinsamkeit zwischen Erzdhler und Leser, jene letzte Sicherheit, die bei Fielding und Wieland waltete, hat sieh aufgelost, [a sie verwandelt sich in Abgriindigkeit, wenn aIle Ordnungen, mit denen das 18. Jahrhundert die Welt deutete, hier ad absurdum gefiihrt werden 19). Goethe und Jean Paul haben einen letzten Beziehungspunkt der Perspektiven gespiirt und ihn als Humor bezeichnet. Aber wenn Goethe von Sterne sagt: Er "ist der sehonste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn Iiest, fiihlt sich sogleich frei und sehon, sein Humor ist unnaehahmlieh" oder "Er war der erste, der sich und una sus Pedanterie und Philisterei emporhob", 80 fragt sich, ob dabei nicht das Abgriindige in der Erziihlhaltung, die besessene Damonie des Erziihlers und damit das Groteske der Gestaltung verdeckt wird. In dem 'Tristram Shandy' ist jedenfalls ein AuBerates erreicht: in keinem anderen Roman der Weltliteratur hat der Erzii.hler einen solchen Vorrang vor dem Erzahlten gewonnen. Sterne macht noch einmal offenbar, worin das Neue der modernen Romanform gegeniiber dem Barockroman lag : in dem fiktiven, aber so merklichen personlichen Erzah1er mit seinem persOnlichen Blick auf das Dargestellte und seinem personlichen Verhaltnis zu dem (fiktiven) Einzelleser. In diesem modernen Roman spiegelt sich jene Neuorientierung am Individuum, die von der Geistesgeschichte in ihrem Inhalt und ihrem Verlauf eindringlich beschrieben ist, Unmittelbare Nachwirkungen von Leibniz' Monadologie, Sakularisation des Pietismus, Umschichtungen in der sozialen Struktur und andere Bewegungen der Zeit, - sie fiihren zu jenen Verkiindigungen von der ahnenden, fiihlenden Individualitat als dem Sinn des Daseina, als der von Gatt gewollten Lebensform, ala der einzigen Stiitte echter Offenbarungen. "Und daB Du mich immer mit Zeugnissen paeken willstl Wozu die 1 Brauch 18) Theodore Baird, The Time-scheme of Tristram Shandy, Publ, of the Mod. Lang. Assoc. LI, 1936; D.W. Jefferson, Tristram Shandy and the Tradition of Learned Wit, Essays in Criticism, I Nr 3, 1951. Zum Zeitproblem vgl. such das Sterne-Kapitel in A. A. Mendilow, Time and the Novel, London 1952.

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ioh Zeugnis, daB ich bin 1 Zeugnis daB ich fuhle 1 - Nur BO schatz, lieb, bet ich die Zeugnisse an , die mir darlegen, wie Tausende oder einer vor mir eben dss gefiihlet haben, dsa mich krii.ftiget und starkt", schreibt der junge Goethe in dem ganzen Uberschwang der neuen Erfahrung an Lavater, nennt den 'Werther' in einem Briefan Sophie von La Roche " auch wieder das Testament" und ruft beirn Anblick des Schattenrisses der ihm noch un bekanntenFrau von Stein aus: "Es war ein herrliohes Schauspiel zu sehen, wie sieh die Welt in dieaer Seele spiegelte." Die Welt in der Seele eine s (gediohteten) Erzahlers zu spiegeln - das war eben, wie die Fielding, Goldsmith, Sterne, Wieland, Sophie von La Roche, Goethe offen barten, das besondere Vermogen des Romans. So war die Form neu geprsgt worden, und so eroberte sich der Roman seine bevorzugte Stellung unter den Iiterar, Formen. Es ist nur eine Bestatigung, was die immer nur nachfolgende Poetik in den nschsten Jahren zu sagen weill, und zugleich bestii.tigt sie, daB es Cervantes, Fielding und Wieland waren, die den modernen Roman schufen : "Wenn das menschliche Geschlecht den Grad von Vollkommenheit noch bei meinen Lebzeiten wird erreicht haben, welchen Confuzius und Sokrates und alle deren Nachfolger ihm wiinschten", so ii.uBerte Heinse ironisch in der Vorrede zu seiner Ubersetzung des Petronius (1773), "dann will ich grauBarner als Gregor der Griechenverbrenner, unerbittlicher ala der Pfarrer im D. Quichotte mithelfen ins Feuer werfen - . .. alle KomOdien - auBer zwoen von Lessingen - alle TragOdien - auBer denen von Shakespeare - und * und *** und *•• * - und alle Romanen - auBer meinem D. Quichotte, Tom Jones und Agathon I (Das konnt ich unmoglich tun, und wenn ma.n mich mit der Tortur dazu zwingen wollte ...)". Noch symptomatischer und folgenreicher war es, daB selbst Schiller in einem Augenblicke (er ii.uBerte sieh spater zuriickhaltender) den Roman zur hoohsten Dichtung zaWte. In dem Abschnitt 'Satirische Dichtung' aus dem Aufsatz uber 'naive und sentimentalische Dichtung' lesen wir nach der Behandlung der 'l'ragOdie und KomOdie: "Dnter den Neuern, welchen groBen und schonen Charakter driickt nicht Cervantes bei jedem wurdigen Anlall in seinem D. Quixote aus I Welch ein herrlichas Ideal mu13te nicht in der Seele eines Dichters leben, der einen Tom Jones und eine Sophie erschufl Wie kann der Lacher Yorick, sobald er will, unser Gemut 80 groB und mll.chtig bewegenI Auch in unserm Wieland erkenne ich diesen Ernst der Empflndung ... und nimmer fehlt ibm die Schwungkraft, uns, sobald as gilt, zu dem Hochsten emporzutragen!" Nicht das Erzahlte, sondern der Geist des Erzahlt"lls erscheint Schiller alB das Eigentliche, das Dichterische all der genannten Werke. Cervantes und Sterne werden dann auoh - UUl ihres Erzahlens willen - von Fr. Schlegel als graBte Kunstler gefeiert, Bei ihm bekommt nun der Roman, der die Offen. barung des Genies im komplexen Erzahlen ermoglicht, den hoehsten Rang unter allen Kunstformen zugesprochen : "Der Roman ist ein romantisches Buch", und das heiJ3t: die dichterische Form iiberhaupt.

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Aber iiber Gebiihr lange haben wir den Askept des persdnlichen Erzahlens als Eigenart des modernen Romans isoliert. Denn das Personliche im Erzahlen wird [a nur spiirbar, indem etwas erzahlt wird ; beides steht, wie wir sahen, in einer geheimen Korrelation. So stellt sich denn die Frage nach dem Erziihlten, naoh dem Weltgehalt, der in die neugepragte Form eingehen kann. Es ist nicht so, daB statt der hoflsch-politdschen Welt mit ihren Fiiraten und Prinzessinnen im Barockroman jetzt im 18. Jahrhundert durchweg die biirgerliche Welt, die Bezirke des Heims, der Familie, des Dorfes, der kleinen Stadt zu finden seien, so gewiB sie alle fiir den Roman erobert werden. Aber gerade der SchloBbezirk, in dem Wielands 'D. Sylvio' spielt und von dem Fieldings 'Tom Jones' seinen Ausgang nimmt, laBt den Unterschied erkennen: Diese Schlosser sind nicht mehr die Stii.tten reprlisentativen Menschenturns, sondern die genau beschriebenen, abgeschlossenen Raumlichkeiten, in denen Menschen leben, die genau so torieht, kauzig, scheinheilig , schwarmerisch, so schwaoh und so giitig, so sanft und so stiirmisch, mit einem Worte so gemischt und natiirlich sind wie alle Menschen. Wohl gibt es Romane mit ganz engem Schauplatz, - der 'Tristam Shandy' spielt fast in einem einzigen Zimmer, - aber der gleicho Sterne fiihrt uns in seiner 'Sentimental Journey' von England naoh Frankreich und verheiBt noch Italien, Wieder steIlt dieser Roman, an den sich ein eigener Typus des Reiseromans scbloB, ein AuBerstes dar. Denn wenn Yorick naoh Paris kommt, dann erfahren wir nichts vom Louvre und den Tuilerien und allem, was zum offlzieIlen Paris gehort. Auf den LandstraBen, in Wirtshausern, auf den StraBen und Briicken von Paris, in kleinen Laden, im Hotelzimmer machen wir mit Dienern und Zofen und Verkauferinnen und Kindem und Tieren die kleinen Erlebnisse des Reisenden mit, diese bald komischen, bald riihrenden, bald bedenklichen oder peinlichen, immer aber ganz privaten Erlebnisse, fiihlen alle die kleinen Regungen und, durch die Kunst dieses Erzablers, aueh die unsagbaren, unbewuBten seelischen Schwingungen, von denen alles begleitet ist. Nicht auf das reprlisentative Leben, nicht einmal auf die Alltagsgeschehnisse kommt es an, die oft genug fragmentarisch bleiben, sondern auf den seelischen Innenraum des Reisenden; Weltgehalt ist die Fiille , Folge und Verworrenheit der seelischen ErIebnisse dieses Individuums, und bei aller auBeren Fragmentarik ist in der Totalitii.t, in der Rundung zu einem seelischen Kosmos die Einheit gegeben. DaB der Held zugleich der Erzabler ist, und zwar ein Erzabler, der in jedem Augenblick die Distanz aufheben und sich ganz in den Erlebenden einstimmen kann, steigert die Einheit des kleinen Werkes. In 'Tom Jones' sind beide getrennt; der Erziihler findet sich einer Fiille von Schauplii.tzen und Figuren gegeniiber. Wenn man Fielding ala Gestalter des englischen Lebens riihmt, so ist die Einschrankung notwendig, daB es 21

eich nicht um das Leben des Ganzen, der Nation, nicht, wie im Epos, um das von GOttern bestimmte Schicksal von Volkern und Stii.mmen handelt. Die eo bunten Rii.umlichkeiten, die Schlosser, Dorfer, Wirtshii.user, LandetraBen und die groBeStadt London sind die Schauplii.tze fiir komische Situetionen und Konetellationen, in welche die einzelnen , schsrf gezeichneten Gestalten hineingeraten. Ihre oft so starren und mechanischen Anlagen und Eigenheiten, ihre so natiirlichen Triebe und Strebungen, und der Zufall ala Dritter im Bunde sind die bewegenden Krii.fte in dieser Welt. Fielding beschwort wohl die blinde Gottin Fortuna als Lenkerin, aber das ist Ironie : im ganzen modernen Roman wird der nun nicht mehr transzendent bezogene Zufall zu einer bestimmenden Macht des Seins, gehort er zu den Konventionen, die Autor und Leser heimlich miteinander geachlossen hsben. Der Leser des 'Tom Jones' sber genieBt alle die Verwirrungen in unbeschwerler Heiterkeit, in vollster Sicherheit, denn der Erzii.hler beweist von Beginn an seine Ubersioht und sein Vermogen, die gauze Welt, von der er erzii.hlt, zu erfassen und zu deuten. Hier wird eine Enge der Romanform deutlich. GewiB, der Weltgehalt braucht sioh nicht auf solehe faBlichen Elemente und Krii.fte zu beschrii.nken wie im 'Tom Jones'. Der Erzii.hler des 'Wilhelm Meister' breitet Welt in grdBerem Reichtum, mit tieferem Blick und in zuriickhaltenderor Ofl"enheit fUr GeheimnisvoIles aus. Die Rii.umlichkeiten schon sind nicht Schauplii.tze, an denen sioh etwaa abspielt, sondern umfassende Bereiehe. Aber dennoch : ala von einem personliehen Erzii.hler erfaBte Bereiche lenken sie den Blick auf die personliohen Gesta.lten, die sie erfiillen und erst bilden. Die Welt des Biirgertums heiBt Werner, die des Theaters heiBt Herr und Frau Melina und Ma.rianne, Serlo und Amalia, die der Religion erscheint ala der Lebensweg dieser Stiftsdame, und selbst Mignon, die ratselhafteste, ungebundenste Ge. stalt, die wie ein Wesen aus einer anderen Welt erscheint, wird zu einer Person, deren Geschichte wir - mit Ieisem Bedsuern dariiber, daB sie eine haterzii.hltbekommen. Das Sein der Personen im modernen Roman des 18.Jahrhunderts erhellt sich durch ihre Geschichte. Beim Blick auf den Knaben Lenker oder Euphorion, in denen das Mignon-Motiv von neuem dichterische Gestalt wird, zeigt sich, wie begrenzt der Weltgehalt ist, den die Romanform hereinlii.Bt. Und as zeigt sich noch deutlicher, wenn kurz danaeh W. Scott den Bereich bestimmter Geschichtsepochen darzustellen sucht: die Welt der Kreuzziige - das wird im Roman die ganz persOnliche Geschichte Ivanhoes, das Zeitalter Elisabethe die der ungliicklichen Anny Robsart und des Earl of Leicester und des Schurken Richard Varney (,Kenilworth'). Die Tendenzen Goethes und Scotts: nicht bloBe Sohauplatee, sondern Lebensbereiche zu erfaesen und nun in ihrer historischen Binmaligkeit, vereinigen sieh und sohaffen im 19. Jahrhundert den Zeitroman. 'Moeurs de province'. so lautet der Untertitel der 'Madame Bovary', 'Chronique du

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XIXe eleele', der von 'Rouge et Noir', - aber ala Romane werden die Werke je liinger je mehr zur Geschichte der zentralen Personen. Wenn Balzac seine Romane ala 'Comedie humaine' zusammenfaBt, so offenbart gerade der heraufbeschworene Vergleich mit der 'Commedia divina' , was dem Roman moglioh ist und was nicht. Ziehen wir unsererseits noch den Kosmos der groBen Barockromane zum Vergleich heran, so zeigt sich, daB die dort ala iiberpersonIich gefaBten Machte wie Liebe, Zorn, Gier und Grausamkeit u. s. f. jetzt volllg zu personlichen Empfindungen oder individuellen An. lagen geworden sind. Ailes endet oder beginnt in dem lebenden Wesen der Person, in der Person ala Lebewesen. So ergibt sich: das Erzablen vom per. sonlichen Erzii.bler aus, die Einbeziehung des persdnlichen Lebens und die Begrenzung des Erzahlens aufindividuelles Leben und personliehe Geschichte gehoren innerlichst zusammen. Selbst menschenIeere Raumlichkeiten, selbst die Natur wird in der Darstellung durch den personlichen Erzabler im Ro· man zurn wahrgenommenen Landschaftsbild oder zum Schauplatz oder zum AufenthaItsraum. Der Gehalt, den die Natur birgt (irn Sinne von Aullermenschlichem) ist im Roman des ganzen 19. Jahrhunderts enger ala in der gleichzeitigen Novellenkunst, und vielleicht lii.Bt sich das Aufbliihen der Novellenform im Zeitalter des Romans als eine heimliche Ergii.nzung zur Romanform im Rahmen der Prosaepik verstehen. Wir haben versucht, den entstehenden modernen Roman auf das Erzii.hlen wie auf seinen Weltgehalt zu befragen. Es bleibt die dritte Frage, wie die Romane denn Bucher werden, wie sie Anfang und Ende bekommen und sioh zu einem jeweils geschlossenen Ganzen runden. Es scheint, als hsbe Goethe in seinen drei Romanen, dem 'Werther', dem 'Wilhelm Meister' und den 'Wahlverwandtschaften' (wie es ebenso Wieland mit dem 'D. Sylvio', dem 'Agathon' und den 'Abderiten' tat) die drei Moglichkeiten durchgespielt und vorgefiihrt, die sich dem modernen Roman darbieten und von denen wir annehmen moohten, daB es die einzigen Arten des Romans iiberhaupt sind. Die Zuordnung eines Romans zu einer der im folgenden skiz· zierten Arten kann nichts dariiber besagen, welchen Anteil die jeweils sls tragend angesehene Strukturschicht an der Gesamtgestalt des Werkes besitzt. Ihre Bedeutung steht, wie es Sterne und Jean Paul erkennen lassen, oft in umgekehrtem Verhaltnis zu der des Erzablers. Die klare Struktur des Barockromans mit seinem Paar, das zusammengefiihrt, dann durch die von der Fortuna geschickten Hemmungsmotive auseinander gehalten und aohlielllich vereint wird, haben wir als Handlungsroman bezeichnet. Sie liegt gewiB manchem Roman des 18. Jahrhunderts zugrunde (auoh der D. Sylvio Wielands schiebt sich ihr immer nsher), erobert sieh aber in voller Starke den Trivialroman. Die Motive entpolitisieren und verbiirgerlichen sich; der abweisende Schwiegervater, der feindliche Gutsherr, falsehe Freunde, finanzielle Bedrangnis, standische Unterschiede bilden jetzt die Motive der

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VerWnderung in einer Welt, in der von der Fortuna nur das Spiel des Zufalls iibrig geblieben ist, Es ist ein krisenfesterTypus, den noch der heutige Unterhaltungsfilm benutzt. Goethe hat ibn mit den 'WaWverwandachaften' in die Hohe reiner Dichtung gefiihrt und dabei seine Moglichkeit offenbart, Tragik darzustellen, freilich - dem Roman gemaB - eine durchaus individuelle Tra.gik. W. Scott hat auoh den historlschen Roman auf die Bahn des Handlungsromans gelenkt. Fielding hat wohl die Spannung um das liebende Paar ala Rahmen fiir seinen 'Tom Jones' benutzt. Sein eigentliches Anliegen aber war, wie sich uns schon ergab, umfassender und auf die Fiille der Welt gerichtet. Wir nennen Romane, in denen nicht eine bestimmto Handlung, sondern die VeracWeden. heit und FiiIle von Rsumliohkeiten die strukturtragende Schicht bildet, Raumromane. Goethe hat diese Form, fiir die mit der Yielzahl der Schauplatse die Vielzahl episodischer Figuren und Begebnisse kennzeichnend ist, mit dem 'Wilhelm Meister' erprobt. Machte Fielding die iiberraschende, komische Situation zum Strukturgesetz seiner Sohauplatze (Wieland in seinen 'Abderiten' die Narretei aUS fixer Ideologie) , so machte Goethe die aus unrichtiger personlicher Strebung, aUS " falscher Tendenz" sta.mmende menschliche Irrung zum Strukturgesetz seiner Bereiche. In Immermanns 'Epigonen', die den deutschen Zeitroman begriindeten, eracheinen in dieser Funktion die Hohlheit und Briichigkeit. In seinem 'Miinchhausen' handelt es sieh nicht um ein einheitliches Strukturgesetz, unter dem alle Raumlichkeiten erfaBt werden, sondern urn ein kontrastierendes, deutlich korrelatives Paar von Strukturgesetzen, wie auoh (als Krankheit und Gesundheit) in Gotthelfs Zeitgeist und Berner Geist. Es ergibt sich als dringende Aufgabe fiir die Interpretation des im 19. Jahrhundert so beliebten Raumromans, die innere Ordnung bzw. Unordnung des einzelnen Bereichs zu bestimmen und dann die Relation dieser Ordnungsprinzipien aufzudecken, aus der jeder Roman seinen StH gewinnt. Aber aueh da, wo der StH des Romans einheitlich geworden ist, wird es wenige Verfasser des Raumromans gegeben haben, die nicht wie die beiden eraten groBen Erzahler von der "Welt" im modernen deutschen Schrifttwn, der der 'Abderiten' und der des 'Wilhelm Meister', den Drang zu einer Fortsetzung ihres Romans gespiirt hatten. Die groBen Zyklen des 19. und 20. Jahrhunderts gehOren fast alle diesem Typua des Raumromans zu. Aber das Problem des Romans ohne Ende ist zum eraten Male - in der Unterredung Napoleons mit Goethe - nicht im AnschluB an den Raumroman, sondem an den Figurenroman gestellt worden. Nach allem , was vom Wesen des modemen Romans gesagt wurde, verateht es sioh leieht, daB dieser Typus, bei dem das ganze Buch die Spiegelung der Welt in einer Einzelseele darsteIlt, gerade damals ausgepragt, und dann immer wieder gepflegt wurde, Und aus dem Glauben der Zeit - nicht nur an die Lebensform der Indivi24

dualitat, als bevorzugten Sinngehalt alles Seins, sondern an die sllmshliehe Ausbildung und Entwicklung konstanter, eingeborener und zur geschlossenen Gestalt drangender Anlagen im Kontakt mit der Welt - versteht sich, daB der Figurenroman als "Lebensgeschichte" eines Menschen auftritt 20) . 'Geschichte Agathons' ist der Titel von Wielands Roman, der im deutschen Schrifttum den ersten Figurenroman darstellt, und aueh der Herausgeber des 'Werther' hat die Materialien von dessen "Geschichte" gesammelt. Indem aber die "Geschichte" einem AbschluB zudrangt, kann das Problem des Romans ohne Ende beim Figurenroman des 18. Jahrhunderts zunachab noch nicht akut werden, Ebensowenig in dem sogenannten Bildungsroman. Denn hier steht ja das Ende, die zur Totalitat ausgebildete, gereifte Gestalt, von vornherein fest . Indom aber aller Weltkontakt zum harmonischen Aufbau beitragt, bekommen diese Romane leicht etwas Kiinstliches : die geistigen Gehalte der Form wirken zu konstruktiv. (Es ist die eigenartige Monumentalitat des ErzaWens mit ihrem Gehalt, die uns als Leser von Stifters 'Nachsommer' heute noch festhalt, nicht aber die abstrahierbare Bildungsideologie, von der die Struktur bestimmt ist .) Und doch ware die Annahme falsch, als konne der Figurenroman nur sus den geistigen Grundlagen des 18. und 19. Jahrhunderts erwachsen, so gewiB er in diesem Bezug, namlich ala Entwicklungsroman, in die Erscheinung getreten ist ; und keineswegs braucht er immer von der geistigen Transparenz und erzaWerischen Sicherheit zu sein, deren Ruhe uns heute beim Lesen eines Bildungsromans leicht etwas unruhig macht. Der Figurenroman kann z, B. aus der Reihung von Streichen erwachsen. Zur Struktur des Streiches gehoren der Ubeltater, das Opfer, die Provo. kation und die Tat, und zwar so, daB der Ubeltdter eine empfundene Provokation an dem ahnungslosen Opfer durch eine heimlich vorbereitete Tat vergilt, die es der Laeherliohkeit preisgibt. (Dumm ist der Streich, wo die Lacherlichkeit ausbleibt und nur eine Schadigung eintritt.) Schon das vollig auBerliterarische Erziihlen neigt wie beirn Witz so auoh beim Streich zur Reihung. In dem Augenblick a.ber, da die Ta.ten demselben tJbeltater zugeschrieben werden, beginnt er als Figur seine Funktion innerhalb der Streiche zu iiberwachsen - wir treten in das Reich der Litera.tur. Auf der Schwelle steht gleichsam das Volksbuch vom Eulenspiegel, dessen noch unerloste Gestalt deshalb immer wieder zu einer Dichtung gereizt ha.t j ahnliches gilt fUr weite Teile des Faustbuches. Der pikarische Roman, der zunachst als Raumroman in Erscheinung tritt, kann leicht zum Figurenroman, d. h. zum Roman vom Helden gereihter Streiche, heriiberwechseIn. Wir stehen da wieder vor einem zeitlosen Typus, der iiberall moglioh ist. Von 20) 1m 'Tristram Shandy' wird natiirlich aueh diese Ordnung in Unordnung gebracht.

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Fieldings 'Jonathan Wild' bis zu Beheim-Schwarsbeoha 'Diebischen Freuden des Herm von Bisswange-Haschezeck' lieBen sich vieleWerke nennen. (Ihnen iat mit den beiden genannten oft die ironische Verkliirung des 'Obeltii.ters durch den Erzahler gemeinsam ; noch reichere Moglichkeiten der Diskrepanz zwischen bewertender Erzahlhaltung und zu hewertendem Erzahlinhalt hietet fiir diesen Typus des Schelmenromans die gleiohfalls beliehte Ieh-Erzahlung, wie sie etwa Rudolf Huch in 'Brinkmeyers Abenteuer' angewendet hat.) GroBen Erfolg hat eine neue Variation dieses Typus gefunden : da wuchsen durch die Wiederholung nun aueh des Opfers, aber so, daB der Streich des einen zur Provokation fiir den andern wurde und sieh die Rollen fortlaufend vertauschten, zwei Gestalten hervor, die in der Schicht des Streichgeschehens zu Gegnern, in der tieferen Schicht ihrer Persdnllchkeiten sber zu heimlich verhundenen und uber alle anderen Personen herausgehobenen Freunden wurden. An dem Erfolg solcher Bucher hat die eigenstii.ndige Form groBeren Antell als der Autor. Wir haben mehrfach die Linie his zur Gegenwart durchgezogen, in der der Roman, wie ea heiBt, in eine Krise geraten iat . Um von Krise zu spreohen , muB man den Roman ala Form anerkennen. Denn ware der Roman ein ganzlieh formloses Gebilde, und verdiente jade Prosaerzahlung von mehr ala 50000 Worten lediglich urn soleher Ausdehnung willen die Gattungsbezeichnung, so konnte es zu einer Krise nur aus Papierknappheit kommen. Wir fassen zusammen, was sich bisher aus der Beobachtung des im 18. Jahr. hundert entstehenden modemen Romans ergeben hat : der Roman iet die von einem (fiktiven) personliehen Erzabler vorgetragene, einen personliohen Leser einbeziehende Erziihlung von Welt, soweit sie als personliche Erfahrung faBbar wird. Der einzelne Roman gewinnt Geschlossenheit dadurch, daB er entweder eine Handlung oder den Raum (d. h. eine Vielzahl von Raumlichkeiten) oder eine Figur zur atrukturtragenden Schicht macht. Ein ganz bestimmtes Ereignis hat die Begrenztheit der Romanform erkennen lassen und damit grundsatelioh Bedenken gegen ibn erweckt. Dieses Ereignis war der ersteWeltkrieg. Wohl gibt es eine gauze Reihe von beriihmten Romanen, die mit dem Beginn des Krieges enden, aber alle Versuche, ibn seIber in die Romanform zu bringen, wirkten ala zu eng oder als geradezu peinliche Verzerrung: jede ihr mogliohe Sinngebung erwies sich sls durchaus inadaquat. Am lesbarsten waren noch die anapruchslosen und sich nicht als Form und damit in einem Sinngehalt schliel3enden Tatsachenberichte. Auf dem Feld zwischen dem niiehternen Sachbericht und der fiktiven Erzahlung ist seit dem ersten Weltkrieg ein breites Schrifttum aufgebliiht, ala hiogrsphiache bzw. hiatorische und als geographiache Belletriatik vor allem in Buchform, ala mediziniache BelIetristik vor allem in Aufsatzform. Zur kraftigeren Beglaubigung erscheint sie fast immer im Bunde mit der photographiaohen Abbildung und weckt, auch wo sie fur den Faehmann deutlich 26

genug in die Bereiche der reinen Fiktion hiniiberwuchert, in dem gutgIaubigen Leser keinerlei Zweifel ; denn wie waren sie erlaubt, wo es sich urn Berichte aus dem Leben der Wissenschaft handelt 1 Es scheint literarsoziologisch bernerkenswert, daB auf der Frankfurter Buohmesse von 1953 das sogenannte Tatsachenschriftturn zum ersten Male an Menge die bis dahin fiihrende Gruppe der Romane iibertraf. Die Enge der Romanforrn wird auch deutlich, wo es sioh urn Gestaltung des Myth08 handelt. Wir Meinen damit nicht die Bucher, in denen Mythen psychologisch durchleuchtet werden das ware ein durchaus legitimes Berniihen der Rornanform. Aber die Zweifel, die etwa Th . Manns