Entgrenzung der Medizin: Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? [1. Aufl.] 9783839413197

Der Boom der Schönheitschirurgie, die Nutzung von Medikamenten zur Verbesserung der Stimmung oder Gedächtnisleistung sow

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Entgrenzung der Medizin: Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? [1. Aufl.]
 9783839413197

Table of contents :
INHALT
Einleitung
Entgrenzung der Medizin: Transformationen des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive
I. Gesundheit, Krankheit und Optimierung aus medizinhistorischer und -theoretischer Sicht
Konzepte von Gesundheit und Krankheit – Die Historizität elementarer Lebenserscheinungen zwischen Qualität und Quantität
Enhancement vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte von Gesundheit und Krankheit
Das »Recht auf optimale physiologische Lebensmöglichkeiten«. Die Verbesserung und Verjüngung des Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
II. Entgrenzung der Medizin Vier Fallbeispiele
Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung? Zur Problematik der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit am Beispiel ADHS
Mach mich schön! Geschlecht und Körper als Rohstoff
Hintergründe, Dynamiken und Folgen der prädiktiven Diagnostik
Ausweitung der Kampfzone: Anti-Aging-Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung
III. Recht und Ethik als Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung
Ungleich besser? Zwölf Thesen zur Diskussion über Neuro-Enhancement
Professionsethische Aspekte aktueller Praktiken der Optimierung der menschlichen Natur
Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher. Grundbegriffe – am Beispiel von Indikation und Information
Autorinnen und Autoren

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Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin

Band 4

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

2011-02-10 09-38-08 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0336264956746976|(S.

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Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.)

Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?

Gedruckt mit Unterstützung des DFG-Sonderforschungsbereichs 536 »Reflexive Modernisierung«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Michael Ernst-Heidenreich, Willy Viehöver, Peter Wehling Satz: Michael Ernst-Heidenreich Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1319-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung Entgrenzung der Medizin: Transformationen des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive PETER WEHLING/WILLY VIEHÖVER

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I. Gesundheit, Krankheit und Optimierung aus medizinhistorischer und -theoretischer Sicht Konzepte von Gesundheit und Krankheit – Die Historizität elementarer Lebenserscheinungen zwischen Qualität und Quantität HEINER FANGERAU/MICHAEL MARTIN Enhancement vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte von Gesundheit und Krankheit CHRISTIAN LENK Das »Recht auf optimale physiologische Lebensmöglichkeiten«. Die Verbesserung und Verjüngung des Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts HEIKO STOFF

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II. Entgrenzung der Medizin – Vier Fallbeispiele Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung? Zur Problematik der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit am Beispiel ADHS FABIAN KARSCH Mach mich schön! Geschlecht und Körper als Rohstoff PAULA-IRENE VILLA

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Hintergründe, Dynamiken und Folgen der prädiktiven Diagnostik THOMAS LEMKE/REGINE KOLLEK

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Ausweitung der Kampfzone: Anti-Aging-Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung TOBIAS EICHINGER

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III. Recht und Ethik als Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung Ungleich besser? Zwölf Thesen zur Diskussion über Neuro-Enhancement JOHANN S. ACH/BEATE LÜTTENBERG

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Professionsethische Aspekte aktueller Praktiken der Optimierung der menschlichen Natur DIRK LANZERATH

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Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe – am Beispiel von Indikation und Information REINHARD DAMM

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Autorinnen und Autoren

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Entgrenzung der Medizin – Transformationen des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive PETER WEHLING/WILLY VIEHÖVER

1. Was heißt »Entgrenzung der Medizin«? In der renommierten Zeitschrift Nature plädierten im Dezember 2008 sieben prominente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den USA und Großbritannien, darunter Mediziner und Neurowissenschaftlerinnen, ein Jurist, ein Ethiker sowie der Chefredakteur der Zeitschrift, für die »verantwortungsvolle Nutzung« von Medikamenten zur kognitiven Leistungssteigerung durch gesunde Menschen (Greely et al. 2008). Ein Jahr später zogen in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Gehirn und Geist wiederum sieben deutsche Forscherinnen und Forscher aus Medizin, Philosophie und Rechtswissenschaft nach. In ihrem Memorandum Das optimierte Gehirn vertraten sie die Auffassung, »dass es keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche gibt« (Galert et al. 2009: 47). Auch die Bioethiker Robert Ranisch und Julian Savulescu sind der Ansicht, »prinzipielle ethische Bedenken gegenüber der Verbesserung der menschlichen Biologie« seien nicht aufrechtzuerhalten (Ranisch/Savulescu 2009: 49). Sie gehen indes noch einen wesentlichen Schritt weiter und sprechen von einer ethischen Verpflichtung von Eltern, ihre Kinder biologisch zu »verbessern«: »In der Form, in der wir die Pflicht haben, Krankheiten unserer Kinder zu behandeln, haben wir die Verpflichtung, ihre Biologie zu verbessern.« (ebd.: 36)

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PETER WEHLING/WILLY VIEHÖVER

Im Frühjahr 2010 berichtete der ARD-Weltspiegel über aktuelle Praktiken der medizinisch-chirurgischen Körpergestaltung in Südkorea. Gezeigt wurden zum einen Versuche, die individuelle Körpergröße »positiv« zu beeinflussen, zum anderen spezielle Angebote der ästhetischen Chirurgie. Im ersten Beispiel wird von Jungen und Mädchen berichtet, deren Größenwachstum im vorpubertären Alter gesteigert werden soll, mittels »Streckmaschine« oder durch spezielle Tränke aus der chinesischen Heilkunde, die angeblich die Wachstumsphase des Körpers verlängern. Für die Behandlung ihres siebenjährigen Sohnes in einer so genannten »Wachstumsklinik« bezahlt eine Familie der Sendung zufolge gut 450 Euro monatlich, und dies auf unbestimmte Zeit und mit ungewissem Ausgang. Weiter heißt es: »Jedes dritte Kind in dieser Wachstumsklinik ist völlig normal entwickelt. Aber auch deren Eltern glauben, dass ein paar Zentimeter mehr entscheidend sein können für den Erfolg im Leben.« (Schmidt 2010: 1) Im zweiten Beispiel steht die chirurgische Veränderung der Gesichtszüge im Mittelpunkt. Erwünscht sind in Südkorea schmale, feine Gesichter mit weichen Zügen. Doch bei den entsprechenden Eingriffen, die vor allem junge Frauen vornehmen lassen, geht es nicht einfach darum, »schön« oder »normal« auszusehen; auch hier spielen vielmehr Ziele wie beruflicher Erfolg und bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle. In dem Fernsehbericht wird der Chef einer Schönheitsklinik mit den Worten zitiert: »Koreaner tun alles, um einen guten Job zu bekommen und im harten Konkurrenzkampf der südkoreanischen Gesellschaft zu überleben. Viele wollen eine Schönheitsoperation, wenn sie ihnen hilft, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.« (Schmidt 2010: 2) In seinem Buch Ending Aging, das im Jahr 2010 unter dem Titel Niemals alt! auch in einer deutschen Ausgabe erschienen ist (de Grey/ Rae 2010), geht der britische Alterungsforscher Aubrey de Grey davon aus, dass sich das Altern des menschlichen Körpers durch eine Reihe gezielter medizinischer Interventionen in absehbarer Zeit nicht nur verlangsamen, sondern sogar umkehren lässt. De Greys Thesen waren lange Zeit höchst umstritten, finden inzwischen aber auch in der etablierten Medizin offenbar zunehmend Anerkennung. Er ist überzeugt davon, dass heute bereits lebende Menschen eine deutliche Verlängerung ihres Lebens erreichen können und dass in absehbarer Zeit sogar eine Ausdehnung der menschlichen Lebensspanne auf bis zu 1000 Jahre möglich sein werde. Notwendig seien hierfür aber die Abkehr von der fatalistischen Annahme, Altern sei ein unabwendbares Schicksal, sowie die Ausrufung eines regelrechten »Krieges gegen das Altern« (de Grey/ Rae 2010).

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ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

So unterschiedlich diese Beispiele sind (und weitere ließen sich mühelos hinzufügen), so haben sie doch eines gemeinsam: Sie deuten darauf hin, dass sowohl die gesellschaftlichen Erwartungen, die an die Medizin herangetragen werden, als auch die Ziele, welche sie sich selbst setzt, zunehmend über den Handlungsrahmen und -horizont der Heilung oder Prävention von Krankheiten sowie der Kompensation körperlicher Beeinträchtigungen (infolge von Unfällen oder Krankheiten) hinaustreiben. Offenbar werden medizinische Mittel und Techniken in wachsendem Maße auf die Behandlung gesunder und »normaler« Menschen ausgeweitet, begleitet und unterstützt von ethischen Argumentationen, die mitunter sogar eine Pflicht zur »Verbesserung« postulieren. Der Zweck solcher Interventionen besteht dementsprechend nicht mehr in der Therapie, sondern in der Optimierung des menschlichen Körpers und Geistes, wofür sich inzwischen auch in der deutschsprachigen Diskussion der Begriff »Enhancement« eingebürgert hat (vgl. Schöne-Seifert/ Talbot 2009a). Wir schlagen vor, solche Phänomene und Tendenzen als Indizien und Symptome eines seit einigen Jahren beobachtbaren Prozesses der »Entgrenzung« der Medizin zu begreifen. Ganz allgemein verstehen wir darunter einen Transformationsprozess des medizinischen Feldes, der aufs Engste damit verknüpft ist, dass die Grenzen medizinischen Handelns sowie des medizinischen Gegenstands- und Zuständigkeitsbereichs unscharf und uneindeutig werden oder sich sogar ganz auflösen. Entgrenzung steht dabei für ein vielschichtiges und heterogenes Geschehen, das sowohl Elemente der Grenzverschiebung, der Grenzüberschreitung, der Grenzverwischung sowie der Grenzpluralisierung mit einschließt (vgl. hierzu auch Viehöver et al. 2004). • Im Fall der Grenzverschiebung werden vormals als gesund erachtete Menschen nunmehr als krank begriffen. Ein Beispiel hierfür aus jüngerer Zeit bildet der Wandel in der Wahrnehmung von Schüchternheit, deren Symptome zunehmend als Anzeichen einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung, der so genannten Sozialphobie, gedeutet werden.1

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Der prominente US-amerikanische Psychologe Philip Zimbardo erklärte Mitte der 1970er Jahre sogar die Schüchternheit selbst zu einer »Volkskrankheit« von geradezu epidemischen Ausmaßen (Zimbardo 1994: 20). Vgl. zur Neubewertung von Schüchternheit ausführlicher Scott (2006); Lane (2007) und Wehling (2008a) mit weiteren Literaturhinweisen. 9

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Grenzüberschreitung bedeutet demgegenüber, dass medizinische Mittel und Praktiken auch bei gesunden Menschen zum Einsatz kommen, ohne dass diese als »krank« oder »abweichend« definiert würden. Beispiele hierfür sind die weite Verbreitung der »Schönheitschirurgie« oder die eingangs erwähnte Forderung, gesunden Personen die Einnahme von mutmaßlich leistungssteigernden Medikamenten zu ermöglichen. Von Grenzverwischung sprechen wir, wenn zwischen Gesundheit und Krankheit keinen klaren Abgrenzungen mehr bestehen und die Übergänge »fließend« sind oder wenn bestimmte Personen sogar als gleichzeitig gesund und krank betrachtet werden. Diese paradoxe Situation betrifft vor allem die durch Techniken der prädiktiven Gendiagnostik konstituierte Gruppe der so genannten »healthy ill«. Mit diesem Begriff werden Menschen bezeichnet, die aktuell gesund sind, bei denen jedoch genetische Dispositionen für zukünftige Krankheiten entdeckt worden sind, so dass sie vielfach als »gesunde Kranke« angesehen werden (vgl. Kollek/Lemke 2008 sowie Lemke/Kollek in diesem Band). Beim Phänomen der Grenzpluralisierung dagegen existieren durchaus klare Abgrenzungen zwischen gesund und krank, allerdings werden diese Grenzen in Bezug auf bestimmte Krankheitsbilder von verschiedenen Akteursgruppen je unterschiedlich gezogen. Solche Differenzen können sowohl zwischen professionellen Akteuren und »Laien« auftreten als auch zwischen unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen, etwa zwischen Psychotherapeuten auf der einen und biomedizinisch orientierten Psychiatern auf der anderen Seite. Ein bekanntes Beispiel stellt die nach wie vor stark umstrittene Diagnose der Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung ADHS dar (vgl. hierzu Leuzinger-Bohleber et al. 2006 und den Beitrag von Karsch in diesem Band). Inwieweit hyperaktives, unkonzentriertes Verhalten bei Kindern noch »normal« oder bereits Symptom von ADHS ist, wird aufgrund fehlender klarer diagnostischer Kriterien höchst unterschiedlich bewertet.

In vielen Fällen überlagern und durchdringen sich diese ohnehin nur analytisch unterscheidbaren Teilaspekte der Entgrenzung der Medizin. So stellt der Fall der Schüchternheit nicht nur eine Grenzverschiebung dar, sondern auch eine Grenzpluralisierung und tendenziell auch eine Grenzverwischung, denn wo genau die »Grenze« zwischen normaler Schüchternheit und pathologischer Sozialphobie zu ziehen ist, kann anscheinend nicht mehr eindeutig und konsensuell festgelegt werden. Dementsprechend weisen die Schätzungen darüber, wie viele Menschen 10

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an einer Sozialphobie leiden, eine beträchtliche Schwankungsbreite zwischen rund einem Prozent und fast 20 Prozent einer Bevölkerung auf (vgl. Wehling 2008a). Die Entgrenzung der Medizin hat somit sowohl zur Folge, dass für das medizinische Feld konstitutive Unterscheidungen und Grenzziehungen unscharf und uneindeutig werden, als auch, dass das medizinische Handeln sich (im Fall von Grenzüberschreitungen) nicht mehr ausschließlich an diesen Grenzziehungen orientiert. Als entscheidend erweist sich hierbei die Erosion der Unterscheidungen zwischen gesund und krank (oder normal und pathologisch) sowie zwischen Heilung und Verbesserung (Enhancement). Die konstitutive Rolle der Unterscheidung von gesund und krank für die Funktionsweise des medizinischen Systems moderner Gesellschaften und für die Begrenzung seines (legitimen) Zuständigkeitsbereichs ist von der soziologischen Theorie Niklas Luhmanns besonders prominent hervorgehoben worden. Dieser Theorie zufolge handelt es sich bei der Medizin der Moderne nicht um ein offenes Praxisfeld, sondern um ein operativ geschlossenes Kommunikations- und Funktionssystem, das sich von seiner sozialen Umwelt durch den binären Kommunikations-Code von »krank« und »gesund« eindeutig abgrenzt.2 Mit dieser Unterscheidung, so Luhmann (1990: 186; vgl. kritisch Bauch 1996: 75 ff.), legt das moderne System der Krankenbehandlung nicht nur einen klaren Kommunikationsbereich der Ärzte und ihrer Patienten fest; es weist den beiden Polen des Codes bei der medizinischen Körperbeobachtung zugleich Positiv- und Negativwerte zu (wobei »positiv« und »negativ« hier nicht in einem wertenden Sinn zu verstehen sind). Während Krankheit als positiver operativer Wert für die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen im Medizinsystem sorgt, dient der negative Wert der Gesundheit nur als Reflexionswert (und Zielformel in einem), der anzeigt, was fehlt, wenn jemand erkrankt (Luhmann 1990: 187, 190). Als oberstes Ziel institutionalisierter medizinischer Praktiken steht, so Luhmann (1990: 187), die Befreiung von Krankheit allen sekundären Ziel- und Programmdefinitionen voran. Kurz gesagt: nur Krankheiten seien für den Arzt instruktiv, bei Gesundheit hingegen gäbe es nichts zu tun. Einem gleichsam inhaltsleeren Gesundheitsbegriff im Singular steht also der operative Wert »Krankheiten« im Plural gegenüber.

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Dies entspricht bekanntlich der allgemeinen systemtheoretischen Darstellung gesellschaftlicher Funktionssysteme, die sich durch die ausschließliche Orientierung an einem je spezifischen binären Code (im Recht etwa Recht/Unrecht, in der Wissenschaft wahr/unwahr, in der Kunst schön/ hässlich) voneinander und von ihrer gesellschaftlichen Umwelt abgrenzen sollen. 11

PETER WEHLING/WILLY VIEHÖVER

Bemerkenswerterweise schlichen sich aber schon bei Luhmann angesichts der wachsenden Bedeutung der Genetik Zweifel ein, ob diese Funktionsweise des medizinischen Systems sich auch in der Zukunft als stabil erweisen werde.3 Im Bereich der Gentechnologie glaubte er, die Herausbildung einer Art »Zweitcodierung« beobachten zu können: »Das, was nach traditionellen Kriterien als gesund (nicht akut krank) zu gelten hat, wird nochmals gespalten in genetisch o.k./genetisch bedenklich.« (Luhmann 1990: 193) Das daraus resultierende Problem vermutete Luhmann vor allem in der »Verunsicherung der Kriterien«; deshalb könne es »zu eigendynamischen Entwicklungen kommen, die nicht mehr über vorgegebene Kriterien kontrolliert werden können« (ebd.).4 Allerdings bleiben diese Andeutungen bei Luhmann kursorisch, und am Ende bekräftigt er die orthodox-systemtheoretische Sicht, dass die Autonomie des medizinischen Systems durch derartige Entwicklungen nicht eingeschränkt werde: »Wie immer Arbeitsämter und Versicherungsträger, Parlamentsausschüsse oder Ethikkommissionen, Priester, Familienangehörige, Automobilumbautechniker und nicht zuletzt, psychisch und emotional, die Patienten selbst involviert sein mögen: die Konstruktion der Krankheit, also Diagnose und Behandlung, Auskunft und Beratung bleibt Sache der Medizin.« (Luhmann 1990: 195)

Daran sind heute jedoch, angesichts der prominenten Rolle vor allem von Pharma-Unternehmen, aber auch von Selbsthilfeorganisationen, bei der »Konstruktion« von Krankheiten, erhebliche Zweifel angebracht (vgl. Conrad 2005 sowie Bauch 1996). Die zweite für die Entgrenzung der Medizin wesentliche Unterscheidung, diejenige zwischen Heilung und Verbesserung, ist als explizite Unterscheidung neueren Datums. Sie wird zum Thema vor allem durch die gegen Ende der 1990er Jahre aufkommende Debatte um mut3

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Zudem habe bereits die Schwerpunktverlagerung von Infektions- zu Zivilisationskrankheiten in den letzten Jahrzehnten den »Relevanzbereich« des medizinischen Systems auf die gesamte Lebensführung ausgeweitet (Luhmann 1990: 190). Bauch (1996) weist ebenfalls darauf hin, dass der Code gesund/krank sich in dem Augenblick als zu eng erweise, als die Medikalisierung der Gesellschaft den Menschen nicht nur in Bezug auf die klassische Rolle des Kranken inkludiert, sondern seinen Alltag in immer umfassenderer Weise prägt und dabei den Relevanzbereich des Gesundheitssystems »auf die gesamte Lebensführung« ausdehnt (Bauch 1996: 79). Die Transformation des medizinischen Codes in einen Gesundheitscode (lebensfördernd/ lebenshinderlich) führe dazu, dass dieser zu einem Leitcode und Topos der Risikogesellschaft werde.

ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

maßlich neue Möglichkeiten zur Optimierung des menschlichen Körpers, bspw. in der Genetik, Neuro-Pharmakologie oder Ästhetischen Chirurgie.5 Man kann allerdings annehmen, dass das Interesse an Enhancement-Praktiken nicht nur einen Effekt neuer medizinischtechnischer Optionen darstellte. Einen wichtigen Antriebsfaktor bildete auch die seit den 1990er Jahren intensivierte neoliberale Rhetorik der Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und permanenten Arbeit daran, eigene Schwächen zu überwinden, um so die individuelle Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern (vgl. Bröckling 2007; Wehling 2008b). Neu ist ohnehin weniger der Umstand, dass sich die Medizin der »Verbesserung« der Menschen zuwandte oder mit entsprechenden Erwartungen konfrontiert wurde (vgl. Stoff in diesem Band sowie die Beiträge in Coenen et al. 2010). Neu ist jedoch die Einführung des übergreifenden Begriffs »Enhancement« für solche Optimierungsmöglichkeiten und -bestrebungen in unterschiedlichen medizinischen Feldern (SchöneSeifert/Talbot 2009b). Zunächst wurde Enhancement in erster Linie durch die Abgrenzung von der klassischen medizinischen Aufgabe der Heilung definiert: Enhancement ist demnach zu verstehen als die Anwendung medizinischer Mittel und Techniken bei »gesunden« oder »normalen« Menschen, mit dem Ziel, deren Aussehen zu verbessern oder deren körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zu steigern. Dem amerikanischen Bioethiker Eric Juengst (2009: 25) zufolge fungiert Enhancement somit als Grenzbegriff in zwei wichtigen Kontexten: in der Debatte um die angemessenen Grenzen der Biomedizin sowie in Diskussionen um eine Ethik der Selbstverbesserung (oder der »Verbesserung« von Kindern) und deren mögliche Grenzen. Obwohl dem Grenzbegriff Enhancement also eine Orientierungsfunktion für angemessenes medizinisches Handeln zukommen sollte, erwies sich die zugrunde gelegte Unterscheidung von Therapie und Enhancement von Anfang an als höchst umstritten und uneindeutig (vgl. Synofzik 2006). Der wichtigste Grund hierfür ist darin zu sehen, dass die Differenz von Therapie und Enhancement offensichtlich eng an die Abgrenzungen krank/gesund oder normal/pathologisch gebunden ist. Nur wenn sich präzise zwischen Krankheit und Gesundheit unterscheiden lässt, gewinnt die Gegenüberstellung von Heilung kranker Menschen einerseits, Verbesserung gesunder (oder normaler) Menschen andererseits, klare Konturen. Wie wir oben bereits verdeutlicht haben, ist die Abgrenzung von gesund und krank in den letzten Jahren jedoch ihrerseits unscharf und problematisch geworden (soweit sie es nicht immer 5

Vgl. die Beiträge in Parens (1998), einem der ersten Bücher, das sich ausdrücklich mit der Problematik des Enhancements und dessen präziserer begrifflicher Bestimmung beschäftigte. 13

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schon gewesen ist) – und das Gleiche gilt für die Unterscheidung von normal und pathologisch (vgl. Juengst 2009: 32-35). In vielen Fällen, etwa der Einnahme von Methylphenidat durch Menschen mit Konzentrationsschwierigkeiten oder von Antidepressiva durch Schüchterne, bleibt somit unklar und umstritten, ob es sich dabei um eine medizinisch indizierte Therapie gegen ADHS oder Sozialphobie handelt. Oder hat man es stattdessen mit einer unausgesprochenen Enhancement-Maßnahme zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit von Personen zu tun, die nicht krank sind, aber möglicherweise den extern vorgegebenen oder selbstgesetzten Verhaltens- und Leistungsansprüchen nicht genügen? Noch schwieriger zu treffen ist die Unterscheidung zwischen Prävention und Enhancement (vgl. Juengst 2009: 29-31), vor allem dann, wenn Prävention sich nicht auf eine spezifische Krankheit bezieht, sondern auf eine allgemeine prophylaktische Stärkung der Abwehrkräfte und des Immunsystems ausgerichtet ist. Wäre etwa eine gentechnische Intervention zur generellen Verbesserung des Immunsystems als ein Fall von Enhancement zu begreifen oder könnte man darin noch eine Präventionsmaßnahme sehen? Nicht wenige Bioethiker ziehen aus solchen Abgrenzungsproblemen die Konsequenz, den Begriff Enhancement vollständig aus der Gegenüberstellung zur Therapie herauszulösen und stattdessen jegliche Art von Verbesserung der Situation des Menschen, unabhängig davon, mit welchen Mitteln sie erreicht wird, als Enhancement zu bezeichnen (vgl. z.B. Harris 2007; Ranisch/Savulescu 2009). Doch abgesehen davon, dass es keineswegs zwingend ist, eine Unterscheidung allein deshalb aufzugeben, weil sie in einzelnen Fällen nicht »trennscharf« und eindeutig gezogen werden kann,6 wird der Begriff Enhancement auf diese Weise gänzlich aus dem historisch-gesellschaftlichen Kontext herausgebrochen, in dem er geprägt wurde. Er verliert als Begriff jede Differenzierungsfunktion, wenn die Erfindung des Rades, eine Tasse Kaffee, der Computer, Schulunterricht für Kinder ebenso wie eine gentechnische Intervention zur Steigerung der Intelligenz gleichermaßen als Enhancement etikettiert werden. Die politisch-strategische Absicht hinter solchen 6

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Ungeachtet aller oben beschriebenen Schwierigkeiten, die Begriffe krank und gesund klar voneinander abzugrenzen und im Einzelfall eindeutig zuzuordnen, hätte der Vorschlag, auf diese Unterscheidung ganz zu verzichten, in modernen (und wohl auch in vielen anderen) Gesellschaften kaum Aussicht auf Realisierung. Denn offensichtlich erfüllt die Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Menschen in zahlreichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern eine entscheidende Rolle für die Differenzierung und Legitimierung sozialer Praktiken, von der gerechtfertigten Abwesenheit vom Arbeitsplatz bis hin zu abgestuften Urteilen in der Rechtsprechung.

ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

Begriffsverwendungen ist ohnehin nicht zu schwer zu erkennen: Durch die begriffliche Parallelisierung mit gesellschaftlich verbreiteten und als nicht begründungsbedürftig erachteten Praktiken und Techniken sollen die Möglichkeiten des biomedizinischen und biotechnologischen Enhancements entproblematisiert und legitimiert werden. Ranisch und Savulescu (2009: 26) formulieren dieses Ziel sogar recht offen: »Soweit wir eine Reihe von etablierten Techniken zur Verbesserung des Menschen akzeptieren, vielleicht sogar als selbstverständlich voraussetzen, stellt sich die Frage, warum wir vergleichbare Möglichkeiten der Humanbiotechnologien anders bewerten sollten?« Derartige Argumentationen erscheinen allerdings nur vordergründig als plausibel, denn sie setzen stillschweigend voraus, was genauerer Klärung bedürfte: nämlich ob und inwieweit die anvisierten Humantechniken einerseits, eingespielte Praktiken zur Verbesserung menschlicher Lebensumstände, Leistungen und Befindlichkeiten andererseits tatsächlich vergleichbar im Sinne einer Gleichartigkeit sind. Zumeist wird die These der Vergleichbarkeit darauf gestützt, dass biomedizinische Enhancement-Technologien und bereits etablierte Praktiken den gleichen Zielen dienten. Doch schon dies ist fraglich, denn man kann durchaus darüber streiten, ob eine Tasse Kaffee zu trinken tatsächlich dem gleichen Ziel dient wie ein Medikament zur Steigerung der Wachheit einzunehmen.7 Davon abgesehen würde jedoch selbst aus der Vergleichbarkeit der Ziele keineswegs zwingend folgen, dass auch die Mittel vergleichbar und gleichartig sind und es daher keinen Unterschied mache, welcher Mittel man sich bedient. Dennoch: auch wenn derartige Argumentationen ihre strategischen Absichten nur schlecht kaschieren können, bleibt festzuhalten, dass die Unterscheidung von Therapie und Enhancement kaum geeignet erscheint, klare medizinische und ethische Orientierungen zu bieten, geschweige denn konsensfähige Grenzen legitimen medizinischen Handelns zu benennen. Sowohl die Dynamik der Medizin selbst als auch die gesellschaftlichen Erwartungen an sie treiben offensichtlich über diese Grenze hinaus; der Boom der ästhetischen Chirurgie, die »radikalen« Visionen der Biogerontologie und Anti-Aging-Medizin wie auch das

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Kaffee zu trinken dient wohl nur selten dem entkontextualisierten Ziel, die eigene kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern, sondern wird in der Regel auch als Genuss empfunden, ist in alltägliche Rituale (zum Frühstück, nach dem Mittagessen etc.) und soziale Interaktionen eingebunden, ermöglicht eine kurze Pause im Arbeitsablauf usw. Daher basiert die von vielen Bioethikern vorgetragene Behauptung einer Identität der Ziele auf einer unausgesprochenen Reduktion des Kaffeetrinkens auf eine reine Enhancement-Maßnahme. 15

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eingangs erwähnte Plädoyer, »Neuro-Enhancer« auch für gesunde Menschen zugänglich zu machen, sind einige der prägnantesten Beispiele hierfür. Entgrenzung der Medizin beinhaltet daher auch, dass die Beschränkung medizinischen Handelns auf kurative oder präventive Zwecke mehr und mehr infrage gestellt wird – sei es weil die Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement kaum eindeutig zu treffen ist, sei es weil die Bestrebungen zunehmen, diese Grenze bewusst zu überschreiten und auch die Optimierung des menschlichen Körpers als ein Ziel zu etablieren, das legitimerweise mit medizinischen Mitteln verfolgt werden solle.

2. Vier Dynamiken der Entgrenzung Es wäre ein Trugschluss anzunehmen, die Entgrenzung der Medizin stelle eine lineare und homogene Tendenz dar. Sie verläuft vielmehr in verschiedenen medizinischen Handlungsfeldern in je spezifischen Formen, folgt jeweils anderen Logiken und bringt vermutlich auch unterschiedliche Wirkungen hervor. Bringt man die beiden für die aktuellen Debatten zentralen Unterscheidungen Krankheit vs. Gesundheit und Heilung/ Therapie vs. Verbesserung/Enhancement in heuristischer Absicht in die Form einer Kreuztabelle so lassen sich nach ihrem »Richtungssinn« idealtypisch vier Dynamiken der Entgrenzung der Medizin unterscheiden: • Ausweitung medizinischer Diagnosen • Krankheitsunabhängige Verbreitung medizinischer Techniken • Entzeitlichung von Krankheit • Direkte Optimierung des menschlichen Körpers Da diese Differenzierungen wesentlich zu einem reflektierten soziologischen Verständnis der aktuellen Entwicklungen, ihrer Hintergründe, Antriebskräfte und möglichen Konsequenzen beitragen, wollen wir sie im Folgenden etwas näher erläutern (vgl. hierzu auch Wehling et al. 2007).

Ausweitung medizinischer Diagnosen Der Entgrenzungs-Typus Ausweitung medizinischer Diagnosen bezeichnet eine gesellschaftliche Dynamik, in deren Verlauf physische und/oder mentale Phänomene (Körper- und Gefühlszustände, Verhaltensformen oder Handlungsweisen), die zuvor nicht in medizinischen Termini wahrgenommen wurden, nun in Begriffen von »Krankheit«, »Störung« oder »Pathologie« definiert und therapeutisch behandelt werden. Im »Richtungssinn« dieser Dynamik liegt es somit, dass bis dahin als ge16

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sund und normal geltende Menschen nun als behandlungsbedürftig und krank angesehen werden.8 Die explizite oder implizite Konsequenz einer solchen auf den ersten Blick eher klassisch zu nennenden Dynamik besteht häufig in der Verschiebung des Ursachenraums: Entsprechend werden Phänomene nun vorrangig oder ausschließlich als physisch, somatisch oder biologisch und nicht als mental, psychisch oder »sozial« bedingt angesehen und »pathologisiert« (Buyxs/Hucklenbroich 2009). Ein ebenso bekanntes wie umstrittenes Beispiel für eine solche Entwicklung bildet die Re-Definition kindlicher Verhaltensprobleme und Konzentrationsschwierigkeiten als Aufmerksamkeitsdefizit-/HyperaktivitätsSyndrom (ADHS) in den 1970er Jahren (Conrad 1976a; 1976b) sowie, seit den 1990er Jahren, dessen Ausweitung auf Verhaltensweisen Erwachsener (Conrad/Potter 2000; vgl. den Beitrag von Karsch in diesem Band). Strittig ist hierbei, ob die hohen Steigerungsraten der ADHSDiagnose darauf hinweisen, dass erst jetzt mit einer entsprechenden Diagnostik das volle Ausmaß der Erkrankung erkannt wird, als deren Ursache vorwiegend eine Störung des Hirnstoffwechsels angesehen wird, oder ob man es eher mit der »Erfindung« einer Krankheit zu tun hat und in diesem Sinne mit einem Fall der »Biologisierung abweichenden Verhaltens« (vgl. Mattner 2006; Walcher-Andris 2006). Weitere einschlägige Fälle, in denen bislang als normal gedeutete Verhaltensweisen, Befindlichkeiten oder lebensphasenbezogene Ereignisse als behandlungsbedürftige Probleme und »Störungen« redefiniert werden, sind die Ausweitung der Diagnose Depression und ihre Behandlung mit Antidepressiva wie »Prozac« (Moynihan/Cassels 2005: 22-40), die oben bereits erwähnte medizinische Neudeutung von Schüchternheit oder die Definition der weiblichen Menopause als eine Art »HormonmangelKrankheit« (Moynihan/Cassels 2005: 41-60). Unabhängig davon, dass der substantielle wissenschaftliche Gehalt solcher Deutungen sowie die Verlässlichkeit der Diagnostik umstritten bleiben, lassen sie sich als Ausweitung medizinischer Definitionshoheit begreifen. In der Folge wird eine wachsende Zahl sozialer Phänomene kognitiv in medizinischen Begrifflichkeiten gerahmt sowie deren Behandlungswürdigkeit durch ein entsprechendes medizinisch angeleitetes Ethos gerechtfertigt (vgl. Pawelzik 2009). Zugleich werden die implizit zugrunde liegenden Unterscheidungen von »gesund« und »krank«, »normal« und »abweichend« in ihrer Bedeutung unscharf und zwar um so mehr, je umstrittener entsprechende Deutungsangebote sind. Wenn etwa der Zustand des 8

Dies entspricht weitgehend dem Kern dessen, was medizinsoziologisch als »Medikalisierung« bezeichnet wird (vgl. z.B. Conrad 2007: 5). Wir kommen auf dieses Konzept und seine Aussagekraft für die aktuellen Entwicklungen unten ausführlicher zurück. 17

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Unglücklichseins »medikalisiert« wird, geht es nicht nur um die seit langem strittige Frage, ob und inwieweit psychische Erkrankungen biologische oder soziale, z.B. familiäre Ursachen haben. Vielmehr steht darüber hinaus die weiter reichende Frage im Raum, was überhaupt als eine behandlungsbedürftige (psychische) Erkrankung anzusehen ist. Wesentlich ist allerdings, sich bei all diesen Phänomenen und Kontroversen zu vergegenwärtigen, dass die Schlüsselakteure, die zur Ausweitung medizinischer Diagnosen beitragen, nicht unbedingt aus dem Bereich der medizinischen Profession stammen müssen. Neben dem in vielen Fällen entscheidenden Einfluss der Pharma-Industrie und ihrer wirtschaftlichen Interessen am Absatz von Medikamenten (vgl. Moynihan/ Cassels 2005), sind es häufig auch die Medien, die zur Verbreitung von Krankheitsbildern beitragen, zudem spielen Patienten-Organisationen und die individuellen Patienten selbst eine wichtige Rolle. Conrad (2005) hebt deshalb zu Recht die wachsende Bedeutung der »SelbstMedikalisierung« Betroffener hervor. Man kann also nicht mehr ohne weiteres von einem klaren Innen und Außen des medizinischen Feldes ausgehen. Die wachsende Bedeutung neuer Akteure gibt zudem einen wichtigen Hinweis darauf, dass die gegenwärtige Ausweitung medizinischer Diagnosen und Terminologien weniger zu neuen allgemein akzeptierten Krankheitsdefinitionen führen als vielmehr zum Verschwimmen der handlungsleitenden Unterscheidung von »gesund« und »krank« beitragen könnte.9

Krankheitsunabhängige Verbreitung medizinischer Techniken Die zweite Entgrenzungsdynamik, die wir als krankheitsunabhängige Verbreitung medizinischer Techniken bezeichnen, umfasst Phänomene und Tendenzen, die in gewisser Weise in Kontrast zur soeben beschriebenen Ausweitung medizinischer Diagnosen stehen. Bezeichnet wird mit diesem sperrigen Ausdruck die allmähliche Ablösung des Einsatzes medizinischer Behandlungspraktiken und -techniken von medizinisch 9

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Aus diesem Grund lassen sich die hier skizzierten gesellschaftlichen Entgrenzungsdynamiken auch nicht bruchlos je einem der oben beschriebenen analytischen Teilaspekte von Entgrenzung zuordnen. Zwar folgt die Ausweitung medizinischer Diagnosen zunächst primär einer Logik der Grenzverschiebung; das Resultat können jedoch auch Grenzpluralisierungen, Grenzverwischungen oder sogar Grenzüberschreitungen sein, etwa wenn die weite Verbreitung von ADHS-Medikamenten wie Ritalin dazu führt, dass diese in Stress- und Prüfungssituationen von gesunden Personen zur Steigerung ihrer Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit eingenommen werden.

ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

beglaubigten Krankheitsdiagnosen oder Präventionszielen. Auf diese Weise finden ursprünglich therapeutisch intendierte Maßnahmen zunehmend bei gesunden Menschen Anwendung, ohne dass diese jedoch als »krank« etikettiert würden. Das wohl bekannteste und wichtigste Beispiel für diese Tendenz ist die so genannte »Schönheitschirurgie«, auch als ästhetische oder kosmetische Chirurgie bezeichnet (vgl. Viehöver 2010). Aber auch viele Maßnahmen der so genannten Anti-AgingMedizin (etwa Hormongaben) lassen sich dieser Entgrenzungstendenz zuordnen (vgl. Viehöver 2008). Die Nutzung der kosmetischen Chirurgie ist seit rund 20 Jahren in vielen Ländern zu einem regelrechten »Massenphänomen« geworden (Davis 1995: 16). Begleitet von entsprechenden Medienformaten wird es zunehmend als etwas »Normales« empfunden sich für face-lifting, Bauchstraffung, Brustvergrößerung, Fettabsaugung und vieles andere mehr »unters Messer« zu legen (vgl. Villa 2008). Viele der für die ästhetische Chirurgie maßgeblichen medizinischen Techniken sind allerdings schon seit Ende des 19. Jahrhunderts im Einsatz, nicht zuletzt zur Behandlung von Kriegs- und Unfallopfern (vgl. dazu Gilman 1999). Seitdem haben sich diese chirurgischen Möglichkeiten weitgehend von den Zielen einer kurativen und rekonstruktiven Medizin abgelöst. Auch zur individuellen wie gesellschaftlichen Rechtfertigung ästhetisch-medizinischer Eingriffe wird in der Regel kaum noch auf medizinische Indikationen zurückgegriffen. Ein erster Schritt dieser Ablösung vollzog sich bereits recht früh. Nasenoperationen bei Juden oder Afro-Amerikanern in den 1920er Jahren dienten keinem therapeutischen Zweck, sondern hatten das primäre Ziel, einen zur rassistischen Stigmatisierung genutzten vermeintlichen körperlichen Makel »unsichtbar« zu machen (vgl. Gilman 1999, 2005a, 2005b; Davis 2008). Bemerkenswert ist auch, dass hierbei nicht der individuelle Wunsch nach »Schönheit« im Vordergrund steht, sondern die Anpassung an den (idealisierten) Körper einer dominanten sozialen Gruppe. Insofern fließen hier soziale Herrschaftsverhältnisse recht direkt in die medizinischen Praktiken ein. Gegenwärtig sind derartige Eingriffe beispielsweise in vielen asiatischen Ländern recht weit verbreitet; »beliebte« Operationen sind neben der Erhöhung der Körpergröße unter anderem die Begradigung der Nase oder die Vergrößerung der Augen, um diese »westlicher« erscheinen zu lassen. Viele dieser medizinischen Interventionen dienen nicht oder nicht allein einem »besseren« Aussehen, sondern, wie eingangs dargestellt, auch der Steigerung der Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeits- oder Heiratsmarkt. Diese Entwicklung (die durchaus auch in Europa und Nordamerika zu beobachten ist) verdeutlicht, dass der im alltäglichen Sprachgebrauch verbreitete Begriff »Schönheitschirurgie« einseitig und irreführend ist. 19

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Zudem wird mit dem Begriff häufig verbunden, dass vor allem Frauen die »Kundinnen« der ästhetischen Chirurgen sind. Zwar ist in der Tat die Mehrheit der Nutzerinnen weiterhin weiblich, doch in den letzten Jahren nehmen in steigendem Maße auch Männer die kosmetisch-medizinischen Angebote in Anspruch. Wenngleich auch hier das gute Aussehen eine wichtige Rolle spielt, sollen Bauchstraffung oder ein markantes Kinn zugleich auch beruflich verwertbare Eigenschaften wie Jugendlichkeit, Sportlichkeit oder Entscheidungsfreudigkeit signalisieren. Ohnehin wird attraktives Aussehen bei Frauen wie bei Männern offenbar immer mehr zu einem relevanten Faktor bei der Konkurrenz um begehrte Arbeitsplätze und gut bezahlte berufliche Positionen. Dennoch hat sich die ästhetische Chirurgie insgesamt bisher nicht gänzlich von genuin medizinischen Zielen und Diagnosen abgelöst – und vermutlich wird das auch nie vollständig der Fall sein. Diese fortbestehende, wenngleich schwache Bindung an medizinische Zielsetzungen kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass ein Teil solcher Operationen von den Krankenkassen finanziert wird, z.B. Brustverkleinerungen und -straffungen wegen Rückenproblemen oder manche Fettabsaugungen. Gelegentlich wird auch psychisches Leiden am eigenen Aussehen als medizinische Indikation für chirurgische Eingriffe anerkannt. Somit erhält zumindest ein Teil der kosmetischen Chirurgie eine Verbindung zu den kurativen Aufgaben der Medizin aufrecht, auch wenn der Großteil der entsprechenden Eingriffe sich an nicht-medizinischen Zielsetzungen orientiert. Die skizzierte Entwicklung hat in jedem Fall Auswirkungen auf das professionelle Selbstverständnis der Medizin und die Arzt-PatientenBeziehungen (vgl. dazu auch Junker/Kettner 2009 sowie Lanzerath in diesem Band). Während ein Teil der Ärzteschaft hierin eine willkommene Einnahmequelle sieht, die durch nicht-kassenfinanzierte Zusatzangebote zu den kurativ-medizinischen Leistungen oder gar durch eigene »Schönheitskliniken« erschlossen wird, scheint genau dies bei einem anderen Teil der medizinischen Profession Unbehagen auszulösen. So hat sich in der Bundesrepublik Deutschland vor einigen Jahren eine von der Bundesärztekammer mit initiierte »Allianz gegen Schönheitswahn« formiert, die sich unter anderem für Altersbegrenzungen bei kosmetischen Operationen einsetzt. Allerdings scheinen deren Aktivitäten mittlerweile im Sande verlaufen zu sein (vgl. Junker/Kettner 2009: 62). Die Organisationen der plastischen oder ästhetischen Chirurgie selbst haben auf zunehmende Kritiken mit Forderungen nach Qualitätskontrollen sowie mit der Einführung zusätzlicher Fach-Qualifikationen reagiert. Der Trend, dass Teile der medizinischen Profession (und auch nicht-ärztliche

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ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

Berufe) die ästhetische Chirurgie als lukrativen Markt erschließen, wird dadurch aber wohl kaum gebremst.

Entzeitlichung von Krankheit Als Entzeitlichung von Krankheit bezeichnen wir eine dritte Dynamik; diese ist dadurch charakterisiert, dass sich das Verständnis von Krankheit zunehmend von zeitlich manifesten (akuten oder chronischen) Symptomen und Beschwerden ablöst und auf das Vorliegen bestimmter Indizien und Risikofaktoren (Genveränderungen, Übergewicht, hohe Blutfettwerte etc.) gleichsam »vorverlagert« wird. Auf den ersten Blick betrachtet, scheint dies noch in den »klassisch« medizinischen Bereich der (primären) Prävention zu fallen, denn, so könnte man argumentieren, aufgrund der frühzeitigen Kenntnis von Risikofaktoren können gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um das Ausbrechen der entsprechenden Krankheit von vorneherein zu verhindern. Doch auch wenn die Grenze zur Prävention in der Tat fließend ist, sprechen einige Gründe dafür, in der Entzeitlichung von Krankheit eine Entgrenzungsdynamik zu erkennen, die über die Ziele und Möglichkeiten kurativer wie präventiver Medizin hinausgeht: Erstens existieren bei vielen tatsächlichen oder vermeintlichen Krankheitsrisiken keine oder nur begrenzt wirksame sowie unter Umständen selbst risikoträchtige Präventionsmaßnahmen. Dies gilt besonders bei genetischen Risikofaktoren und Krankheitsdispositionen, die mittels der so genannten prädiktiven DNA-Diagnostik festgestellt werden. Prädiktive genetische Diagnostik trifft auf der Grundlage von Erkenntnissen über vorliegende genetische Besonderheiten bei aktuell gesunden Personen Aussagen über deren zukünftige Erkrankungsrisiken.10 Dabei lassen sich prädiktiv-deterministische und prädiktiv-probabilistische Diagnosen unterscheiden (Kollek/Lemke 2008: 42). Ein Beispiel für den ersteren Fall ist die HuntingtonKrankheit; hier führen bestimmte Genveränderungen mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 100 Prozent bis zum 70. Lebensjahr zum Ausbruch der Krankheit. Probabilistisch ist die prädiktive Diagnostik hingegen beim so genannten erblichen Brustkrebs; hier liegt die Wahrscheinlichkeit, dass bei Vorliegen bestimmter Mutationen die Erkrankung bis zum Alter von 70 Jahren tatsächlich auftritt, zwischen rund 40 und 85 10 Damit kann der Begriff der Prädiktion von dem der Prognose unterschieden werden: Während unter Prädiktion »die Identifikation gesundheitlicher Risiken, für die zum Zeitpunkt der Untersuchung noch keinerlei körperliche Anzeichen vorliegen«, verstanden wird, treffen Prognosen eine »Vorhersage über den weiteren Verlauf einer bereits vergangenen oder gegenwärtig bestehenden Krankheit« (Kollek/Lemke 2008: 39). 21

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Prozent. Doch bestehen für die Huntington-Krankheit bislang keinerlei Präventionsmöglichkeiten und bei erblichem Brustkrebs existiert außer regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen letztlich nur die sehr gravierende Maßnahme der prophylaktischen Amputation der Brustdrüsen, die problematische Nebenwirkungen haben kann und überdies keine vollständige Sicherheit bietet. Ohnehin wird bei probabilistischen Diagnosen nur ein Teil der Personen, bei denen krankheitsrelevante genetische Besonderheiten festgestellt werden, auch tatsächlich erkranken, weil hierbei auch nicht-genetische Faktoren (Umwelteinflüsse, Lebensstil u.Ä.) eine Rolle spielen. In jedem Fall führen prädiktive Informationen und Diagnosen nicht notwendigerweise zu verbesserten Präventionsmöglichkeiten (vgl. Kollek/Lemke 2008: 50; 145 ff.). Sie bergen vielmehr die Gefahren genetischer Diskriminierung und der Konstruktion so genannter »gesunder Kranker«, auf die wir noch zurückkommen. Zweitens werden viele Risikofaktoren, die wie etwa erhöhte CholesterinWerte, selbst keinen Krankheitswert haben, zunehmend als behandlungsbedürftige und damit pathologische Zustände wahrgenommen und entsprechenden medizinisch-pharmazeutischen Regimes unterworfen. So sollen Menschen mit hohen Cholesterinwerten nach den Leitlinien der einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften lebenslang Cholesterin-Senker einnehmen, um das Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu verringern (Pawelzik 2009: 279). Das statistische Krankheitsrisiko wird auf diese Weise de facto immer mehr wie eine bereits bestehende Krankheit behandelt und erlebt (vgl. Fosket 2004: 94; Aronowitz 2010) – und dies obwohl die zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeitsberechnungen häufig höchst umstritten sind. Hinzu kommt eine Tendenz, die Zahl der mutmaßlichen Risikofaktoren immer weiter zu vermehren, indem beispielsweise schon nach den Vorformen und Vorläufern von Risikofaktoren gesucht wird (vgl. Pawelzik 2009: 279). Durch die zunehmende Verfügbarkeit prädiktiver Tests und Diagnosen wird das Verständnis von Krankheit unter der Hand mehr und mehr »entzeitlicht«, d.h. vom feststellbaren Beginn einer akuten Erkrankung auf das Vorliegen von Risikofaktoren verschoben. Die prädiktive Gendiagnostik ist derzeit sicherlich die wirksamste, wenngleich durchaus nicht die einzige Triebkraft der Entzeitlichung des Krankheitsverständnisses; daher lassen sich hieran auch die möglichen gesellschaftlichen Folgen dieser Tendenz am besten verdeutlichen: In dem Maße, wie eine bestimmte genetische Veränderung schon als Beginn der Krankheit wahrgenommen und dadurch das Krankheitsverständnis »genetisiert« wird, entsteht die Gruppe der »präsymptomatischen« oder »gesunden Kranken«. Dies sind Menschen, die zwar aktuell gesund sind (und möglicherweise niemals an dem vorausgesagten Leiden erkranken werden), 22

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auf die aber dennoch wegen bestimmter genetischer Risiken bereits der »Schatten einer zukünftigen Krankheit« (Feuerstein et al. 2002: 42) fällt. Abgesehen davon, dass diesen Personen häufig auch dann, wenn Prävention gar nicht möglich ist, eine besondere Verantwortung für ein angemessenes »Risikomanagement« zugewiesen wird, sind sie in besonderer Weise der Gefahr genetischer Diskriminierungen ausgesetzt. Darunter werden Benachteiligungen vor allem auf dem Arbeitsmarkt und im Versicherungswesen verstanden, von denen Menschen aufgrund erhöhter genetisch bedingter Krankheitsrisiken betroffen sein könnten (etwa der Ausschluss von bestimmten Versicherungsangeboten oder Arbeitsplätzen). Unabhängig von dieser gesellschaftlichen Problematik, für die es in der Bundesrepublik Deutschland zumindest erste Anzeichen gibt (vgl. Lemke 2006), ist es für individuell Betroffene und ihre Familien in der Regel äußerst schwierig, mit prädiktiven Informationen zurechtzukommen, insbesondere dort, wo daraus keinerlei Chancen für Prävention oder Therapie erwachsen. Als Reaktion auf die Ambivalenzen des prädiktiven genetischen Wissens wird in den meisten Ländern inzwischen das so genannte »Recht auf Nichtwissen« grundsätzlich anerkannt (Damm 1999). Es besagt, dass jede Person das Recht hat, ihre genetischen Dispositionen nicht zu kennen, und deshalb niemand direkt oder indirekt gezwungen werden darf, sich Wissen über seine genetischen Krankheitsrisiken zu verschaffen. Dies setzt der Nutzung prädiktiver Gendiagnosen durch Versicherungsunternehmen und Arbeitgeber (und damit der Entzeitlichung von Krankheit) gewisse Grenzen, die allerdings in unterschiedlichen Staaten jeweils unterschiedlich weit gezogen werden. Offen bleibt zudem, inwieweit durch Angebote kommerzieller Unternehmen, die über das Internet für wenige Hundert US-Dollar individuelle Genom-Analysen vertreiben, der Umgang mit genetischen Informationen zu einer alltäglichen Praxis wird. Auch wenn dabei häufig Dispositionen für einige schwere Krankheiten nicht untersucht werden, könnte dies nicht nur das Selbstverständnis der Individuen, sondern auch ihre Auffassungen von Krankheit und Gesundheit nachhaltig beeinflussen.

Direkte Optimierung des menschlichen Körpers Die vierte Entgrenzungsdynamik beinhaltet die Versuche zur direkten technischen und pharmakologischen »Optimierung« oder »Perfektionierung« der menschlichen Natur (vgl. Gesang 2007), häufig über ein bislang als »natürlich« oder »normal« empfundenes Maß hinaus. Prägnante Beispiele hierfür sind Visionen von der »Abschaffung« des Alterns (vgl. Huber/Buchacher 2007; de Grey/Rae 2010) oder der medikamentösen 23

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Leistungssteigerung des Gehirns (»Neuro-Enhancement«) (Greely et al. 2008; Galert et al. 2009). Auch Utopien des gentechnischen Enhancements (vgl. Savulescu 2007), der Verknüpfung menschlicher Gehirne mit informationstechnischen Systemen (»brain-machine-interaction«) sowie der technischen Verbesserung sensorischer Fähigkeiten (Roco/Bainbrige 2002; vgl. Fleischer/Decker 2005) fallen in diese Entgrenzungstendenz.11 Derartige Bestrebungen gehen nicht den »Umweg« einer expansiven Krankheits-Diagnostik; letztere kann im Zuge der medizinischen Behandlung als »krank« etikettierter, aber möglicherweise gesunder Menschen zwar faktische Enhancement-Praktiken befördern, die aber indirekt und latent bleiben. Demgegenüber sollen bei den Forderungen nach direkter Optimierung ausdrücklich gesunde und normale Körper und Gehirne »verbessert« werden. Außerdem soll im Idealfall sogar auf die missbräuchliche Nutzung therapeutischer Arznei-Mittel zu Enhancement-Zwecken verzichtet und stattdessen spezifische, eigenständige Enhancement-Präparate entwickelt werden (Galert et al. 2009: 47). Man könnte daher der Ansicht sein, dass solche gezielten Optimierungsbemühungen gänzlich aus dem Feld der Medizin herausfallen und einen völlig neuartigen Handlungsbereich konstituieren. Bei näherem Hinsehen stellt sich dies jedoch als komplizierter heraus: Zum einen werden sich viele Enhancement-Mittel in ihrer Wirkungsweise (Eingriffe in biochemische Prozesse) weiterhin an medizinischen Präparaten und deren Effekten orientieren. Es erscheint fraglich, ob nicht nur auf der Ebene der Ziele, sondern auch auf der Ebene der Mittel tatsächlich eine vollständige Abkopplung des Enhancement von der kurativen Medizin erreichbar wäre. Zum anderen werfen auch und gerade Optimierungsmittel und -methoden komplexe politisch-rechtliche Fragen etwa der Wirksamkeitsprüfung, der Vermeidung schädlicher Nebenwirkungen sowie des Zugangs auf: Sollen diese Mittel frei verkäuflich sein oder soll der Zugang durch bestimmte Regulierungsinstanzen überwacht und eingeschränkt werden? Man kann vermuten, dass sich entsprechende Regelungen eng an die bestehenden Strukturen im Bereich der Medizin anlehnen würden und möglicherweise wäre es sogar die ärztliche Profession, die zukünftig den Zugang zu Enhancement-Präparaten ebenso kontrollieren würde wie den zu therapeutischen Mitteln. Obwohl sich die Tendenz zur direkten Optimierung des menschlichen Körpers den Strukturen des medizinischen Feldes zu entziehen versucht, scheint eine vollständige Entkopplung davon kaum realistisch zu sein – falls sich 11 Auch die Zielsetzungen der 1998 gegründeten »World Transhumanist Association« sind Teil dieser Dynamik. »We seek personal growth beyond our current biological limits«, heißt es in der programmatischen Erklärung der Organisation (www.transhumanism.org). 24

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denn Praktiken der Optimierung des Menschen gesellschaftlich überhaupt durchsetzen können, was man aber kaum grundsätzlich ausschließen kann. Vieles spricht für die Annahme, dass direkte Optimierungsstrategien einen deutlich höheren Rechtfertigungsbedarf aufweisen als die drei zuvor genannten Dynamiken, weil sie den Handlungshorizont der Heilung und Wiederherstellung bewusst überschreiten und, anders als beispielsweise die kosmetische Chirurgie, noch nicht einmal rudimentäre Bindungen an therapeutische Begründungen und Zielsetzungen aufrechterhalten. Gleichwohl, oder möglicherweise gerade deshalb, hat die Idee des Enhancement vor allem in den letzten rund fünf Jahren mehr und mehr Zustimmung vor allem im bio- und medizinethischen Diskurs, aber teilweise auch in der Medizin und den Naturwissenschaften gefunden.12 Auch wenn die dabei vorgebrachten Begründungen in der Regel nicht sonderlich überzeugend sind (worauf wir hier nicht näher eingehen können), könnten Enhancement-Praktiken dennoch in näherer Zukunft gesellschaftlich durchaus Fuß fassen. Möglicherweise gibt den Ausschlag hierfür ohnehin weniger die Überzeugungskraft ethischer Argumente als vielmehr die in den gegenwärtigen Konkurrenzgesellschaften allenthalben bestehenden Erwartungen an permanente individuelle Leistungssteigerungen. Zudem tragen auch die drei anderen Entgrenzungsdynamiken zur faktischen Verbreitung von Optimierungspraktiken bei, wenngleich weniger manifest und explizit als Forderungen nach der direkten Verbesserung des menschlichen Körpers. Die idealtypische Unterscheidung dieser vier Entgrenzungsdynamiken erlaubt unseres Erachtens einen differenzierteren Blick auf aktuelle und künftig erwartbare Entwicklungen im medizinischen Feld als andere Versuche, diese Entwicklungen analytisch zu fassen (siehe dazu den folgenden Abschnitt). Alle vier Dynamiken weisen in Richtung der Erosion und Entgrenzung der Unterscheidungen von Krankheit vs. Gesundheit sowie Therapie vs. Enhancement, jedoch in je spezifischer Form, mit je unterschiedlicher Logik und auch gegen jeweils verschiedene Widerstände und Gegentendenzen. Insgesamt ergeben sie das Bild einer Medizin, die sich offenbar immer weniger an klaren begrifflichen und institutionellen Abgrenzungen orientieren kann und deren Zielsetzungen sich zur Optimierung des menschlichen Körpers hin zu erweitern scheinen

12 Vgl. dazu, neben den bereits eingangs erwähnten Memoranden von Greely et al. (2008) und Galert et al. (2009), etwa Gesang (2007), Harris (2007), Bostrom/Sandberg (2009), Ranisch/Savulescu (2009) sowie – mit einigen Einschränkungen – Ach/Lüttenberg in diesem Band. 25

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3. Entgrenzung der Medizin, wunscherfüllende Medizin oder Medikalisierung? Die in den vorangegangenen Abschnitten skizzierten Entwicklungen sind in der sozialwissenschaftlichen und (medizin-)ethischen Diskussion unter verschiedenen Aspekten und unterschiedlichen konzeptionellen Perspektiven aufgegriffen worden. Als besonders einflussreich erweisen sich dabei, vor allem in der englischsprachigen Diskussion, das Konzept der Medikalisierung sowie, hauptsächlich in der deutschsprachigen Debatte, dasjenige der wunscherfüllenden Medizin. Wir möchten in diesem Abschnitt unsere Überlegungen zur Entgrenzung der Medizin weiter präzisieren, indem wir verdeutlichen, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Vergleich mit diesen Konzepten existieren. Zeigen wird sich dabei, dass ein reflektiertes Konzept der Medikalisierung in wesentlichen Zügen mit unserer Sichtweise übereinstimmt und zugleich wichtige Differenzierungen bietet. Das Konzept der wunscherfüllenden Medizin hingegen basiert, trotz einer gewissen sprachlichen Suggestivkraft, auf fragwürdigen Vorannahmen und weist eine Reihe von Einseitigkeiten auf.

Wunscherfüllende Medizin? Mit Blick auf die dargestellten Transformationen der Medizin hat in der deutschsprachigen Diskussion in den letzten Jahren der Begriff der »wunscherfüllenden Medizin« Furore gemacht (Kettner 2006, 2009a, 2009b; Junker/Kettner 2009; Buyx/Hucklenbroich 2009). Danach ist es in erster Linie die gesellschaftliche Nachfrage nach neuen medizinischen Dienstleistungen, die den Charakter des kurativ orientierten Modells moderner Medizin »von den Rändern her« auszuhöhlen beginnt (Kettner 2009b: 9). Der Terminus »wunscherfüllende Medizin« wird vor allem auf die Herausbildung eines neuartigen Nutzertypus medizinischer Leistungen bezogen, der als Klient und Konsument ärztliches Wissen und Können benötige, »um sich zu seiner Lebensführung genau diejenige körperliche Verfassung zu schaffen, die er oder sie sich wünscht« (Junker/Kettner 2009: 66). Problematisch an diesem Konzept erscheint schon seine Ausgangsthese, die den Antriebsfaktor der beschriebenen Entwicklung primär in der Nachfrage, den »Wünschen«, der Konsumenten sieht. Zwar erwähnen Junker und Kettner (2009: 63 f.) unter fünf exemplarischen »Erscheinungsbildern« wunscherfüllender Medizin auch den »positiven medizinischen Utopismus«, d.h. die Produktion von Enhancement-Versprechungen und -visionen durch die Biomedizin selbst. Aber konzeptionell bleibt dieser Aspekt de facto unterbelichtet; als 26

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Haupttriebkraft gilt die gesellschaftliche Nachfrage nach »wunscherfüllenden« medizinischen Dienstleistungen. Zudem zeigt sich das Konzept der wunscherfüllenden Medizin gegenüber der sozialen Genese von Bedürfnissen nach Leistungssteigerung und Körperverbesserung relativ uninteressiert; andernfalls müsste es anerkennen, dass viele dieser Bedürfnisse ihrerseits durch gesellschaftliche Einflüsse geprägt und forciert werden und somit keine unabhängigen Erklärungsfaktoren bilden. Darüber hinaus ist die Darstellung der Erscheinungsformen wunscherfüllender Medizin insofern nicht konsistent, als darunter alternative Formen der Medizin (Akupunktur, Homöopathie, Naturheilkunde etc.) ebenso eingeordnet werden wie die so genannten »individualvertraglichen Gesundheitsleistungen« (IGeL), also ärztliche Leistungsangebote, die von den Patienten selbst bezahlt werden müssen (ebd.: 64 f.). Unabhängig davon, wie man deren medizinischen Nutzen im Einzelnen bewerten mag, dient ein großer Teil dieser medizinischen Leistungen aus Sicht der Patienten keineswegs einer wunscherfüllenden »Wohlfühl-Medizin«, sondern durchaus kurativen (Akupunktur, Homöopathie) oder präventiven Zielen, z.B. bestimmte als »IGeL« angebotene Früherkennungsverfahren (vgl. hierzu kritisch auch Buyx/Hucklenbroich 2009). Letztlich zeichnet die These eines Übergangs zur wunscherfüllenden Medizin ein zu einseitiges und soziologisch unzureichendes Bild; sie neigt dazu, die unterschwellig als fragwürdig angesehenen Wünsche der Konsumenten (vgl. Junker/Kettner 2009: 64 f.) als den entscheidenden Faktor für die Erosion der kurativen Medizin zu privilegieren und dabei andere Einflüsse und gesellschaftliche Kontexte auszublenden.

Medikalisierung Anders als die Rede von der wunscherfüllenden Medizin sieht das Konzept der Medikalisierung (medicalization) hauptsächlich in expansiven Tendenzen der Medizin selbst die wesentliche Ursache für die gegenwärtig zu beobachtenden Transformationsprozesse.13 Aktuelle Weiterentwicklungen des Konzepts (z.B. Conrad 2005, 2007), das in den 1970er Jahren Eingang in die sozial- und geschichtswissenschaftliche Diskussion gefunden hatte, heben aber auch die zentrale Bedeutung anderer Akteure für Medikalisierungsprozesse hervor, etwa von Patientenorganisationen oder der Pharma-Industrie. Herausgearbeitet wurde außerdem das offenbar zunehmende Phänomen der »Selbstmedikaliserung«. Hierbei deuten und interpretieren die betroffenen Individuen

13 Vgl. zur Geschichte und Weiterentwicklung des Konzepts Medikalisierung ausführlicher Viehöver/Wehling (2010). 27

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selbst, wenngleich angeleitet durch mediale und medizinische Diskurse oder durch entsprechende Diagnosen in der eigenen Familie, ihre Befindlichkeiten in Begriffen von Krankheit, Störung oder Abweichung. Somit könne man, so der US-amerikanische Soziologe Peter Conrad (2005), mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen von »shifting engines of medicalization« sprechen. Conrad definiert Medikalisierung als »a process by which nonmedical problems become defined and treated as medical problems, usually in terms of illnesses or disorders« (Conrad 1992: 209). Medikalisierung wird aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive jedoch nicht als unausweichliche Durchsetzung überlegenen ärztlichen Wissens und effektiver Therapien begriffen. In den Blick gerückt wird stattdessen die Kontingenz und Historizität medizinischer Krankheitsdefinitionen und Behandlungspraktiken. In der Regel treffen Analysen von Medikalisierungsprozessen auch keine Aussagen darüber, ob die in Rede stehenden Phänomene »wirklich« medizinische Tatbestände sind oder nicht (Conrad 2007: 3f). Medikalisierungsforscher interessieren sich weniger für die Ätiologie der medikalisierten Befindlichkeiten und Verhaltensweisen selbst, sondern für die »etiology of definitions« (Conrad 1992: 212): Wie und unter welchen Bedingungen werden neue medizinische Definitionen und Erklärungsansprüche formuliert, weshalb können sie sich durchsetzen (oder nicht), welche Gegenbewegungen treten auf, welche weiterreichenden Implikationen und Konsequenzen haben Medikalisierungsprozesse? Für ein reflektiertes und differenziertes Verständnis von Medikalisierung sind drei Aspekte entscheidend: Medikalisierung ist erstens nicht als linear und irreversibel zu verstehen, sondern bezieht die Möglichkeit von Demedikalisierung (ebenso wie von neuerlicher Remedikalisierung) ausdrücklich mit ein. Demedikalisierung besagt, dass eine Verhaltensweise, Lebensform oder Befindlichkeit nicht länger in medizinischen Begriffen definiert wird und medizinische Behandlungen daher nicht mehr als adäquate Lösung angesehen werden (Conrad 2007: 7).14 Medikalisierung ist zweitens keineswegs gleichzusetzen mit einer Art von expertokratischem »Imperialismus« des Ärztestandes. Aus-

14 Eines der wichtigsten Beispiele stellt die Demedikalisierung von (männlicher) Homosexualität dar, die erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts offiziell erreicht wurde (vgl. Conrad 2007: 97ff.). Zuvor wurde männliche Homosexualität als psychische Störung begriffen und behandelt. Das Beispiel ist auch deshalb aufschlussreich, weil vor allem seit den 1990er Jahren im Kontext der humangenetischen Forschung (Suche nach dem »Gen für Homosexualität«), einige, wenn auch schwache Anzeichen für eine Remedikalisierung unter veränderten Vorzeichen zu beobachten sind. 28

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schlaggebendes Kriterium für Medikalisierungsprozesse ist vielmehr die Wahrnehmung und Behandlung eines Phänomens in medizinischen Termini und mit medizinischen Mitteln. Wenngleich es häufig medizinische Forscher oder Ärzte sind, die einen solchen Wandel der Wahrnehmung einleiten, wird Medikalisierung nicht selten auch von anderen Akteuren – und mitunter sogar gegen die etablierte Medizin – propagiert und vorangetrieben. Daraus ergibt sich schließlich drittens ein analytisch reflektiertes Verständnis von Medikalisierung als vielschichtigem und offenem, auf mehreren Ebenen verlaufendem und von unterschiedlichem Akteuren getragenen sozialen Prozess. Definitorische Prozesse sind zweifellos von zentraler Bedeutung für Dynamiken der Medikalisierung: »The key to medicalization is definition« (Conrad 2007: 5), d.h. die Neudeutung bestimmer Befindlichkeiten oder Verhaltensweisen in medizinischen Begriffen.15 Gleichwohl können Medikalisierungen unseres Erachtens auch dadurch zustande kommen, dass bestimmte Probleme mit medizinischen Mitteln behandelt werden, ohne auf definitorisch-diskursiver Ebene als medizinisch relevante Probleme wahrgenommen zu werden. Das auffälligste Beispiel hierfür ist sicherlich die kosmetische Chirurgie. Sofern das Konzept der Medikalisierung anerkennt, dass nicht nur die definitorische Ausweitung medizinischer Diagnosen, sondern auch die faktische Übernahme medizinischer Praktiken und Techniken sinnvoll als Medikalisierung begriffen werden kann, weist es einen hohen Grad von Übereinstimmung mit unserer These der Entgrenzung der Medizin auf. Zumal auch wir die Entgrenzung der Medizin nicht als ein homogenes und unaufhaltsames Geschehen begreifen, sondern ausdrücklich die Möglichkeit von Demedikalisierungen (und neuerlichen Remedikalisierungen) offen halten. Unabhängig davon erweist sich unser Konzept der Entgrenzung der Medizin insofern als flexibler und differenzierter, als es unterschiedliche Ansatzpunkte, Dynamiken und Verlaufsformen von Entgrenzung (oder Medikalisierung) in den Blick nimmt.

4. Was ist neu an der gegenwärtigen Entgrenzung der Medizin? Unsere These einer Entgrenzung der Medizin, eines Wandels von der ärztlichen Heilkunst zur biotechnologischen Optimierung des Menschen ist auch gegenwartsdiagnostisch intendiert. Sie nimmt an, dass diese

15 Dies entspricht im Wesentlichen dem, was wir oben als Ausweitung medizinischer Diagnosen beschrieben haben. 29

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Entwicklung zwar nicht völlig neuartig ist, aber in ihrer aktuellen Zuspitzung doch spezifische Züge aufweist und moderne Gesellschaften vor besondere Probleme stellt. Damit sieht sich die Rede von der Entgrenzung der Medizin mit einer Reihe von gewichtigen Fragen vor allem aus medizinhistorischer, medizintheoretischer, medizinrechtlicher und medizinethischer Perspektive konfrontiert. a. Die vermutete Neuartigkeit der zurzeit unter Stichworten wie »Enhancement« diskutierten Phänomene und Tendenzen legt erstens die Frage nahe, inwieweit es historische Vorläufer und Parallelen zu einer optimierenden Medizin gegeben hat. Wenn dies der Fall ist – welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber den heutigen Diskursen und Praktiken lassen sich dann erkennen? Und läuft man nicht Gefahr, den vollmundigen Versprechungen von Teilen der biomedizinischen Forschung »auf den Leim« zu gehen oder sogar ungewollt zu deren »Komplizen« zu werden, wenn man die aktuellen Visionen und Entwürfe als historisch einzigartig und außerordentlich folgenschwer dramatisiert – oder gar, wie Francis Fukuyama (2002), das »Ende des Menschen« prognostiziert? b. Zweitens: Gegen die These, grundlegende Unterscheidungen, vor allem diejenige zwischen »gesund« und »krank«, würden gegenwärtig in besonders prekärer Weise ihre Eindeutigkeit und »Trennschärfe« einbüßen, lässt sich nicht zu Unrecht einwenden, diese Begriffe seien grundsätzlich kulturelle und wissenschaftliche Konstrukte und die Differenz gesund vs. krank sei schon immer unscharf gewesen. Genauer zu analysieren ist demnach, wie sich die gesund/krankUnterscheidung historisch entwickelt hat, welche unterschiedlichen konzeptionellen Möglichkeiten bestehen, diese Differenz zu formulieren, wie sie gegenwärtig bestimmt wird und wie die aktuellen Auseinandersetzungen vor diesem Hintergrund zu bewerten sind: Handelt es sich bei den oben skizzierten Abgrenzungsproblemen nur um die »üblichen«, medizinhistorisch immer wieder beobachtbaren Schwierigkeiten? Oder gewinnt die Problematik eine neue Qualität, beispielsweise aufgrund neuer technischer Möglichkeiten (Gendiagnostik u.Ä.) oder des Auftretens neuer Akteursgruppen, die fallspezifisch eigenständige Vorstellungen von »gesund« und »krank« entwickeln und darüber unter Umständen auch mit der etablierten Medizin in Konflikt geraten? c. Drittens stellt sich die Frage, welche Folgen die Entgrenzung der Medizin in Richtung Optimierung des Menschen für die gegenwärtigen Gesellschaften und insbesondere für das medizinische Handeln sowie dessen rechtliche, wirtschaftliche und professionsethische Rahmenbedingungen haben würde. Hierzu gehören selbstverständ30

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lich auch die höchst kontroversen Debatten, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, dieser Tendenz zu folgen, oder sogar geboten, sie aktiv voranzutreiben – oder ob man umgekehrt der Dynamik hin zur Verbreitung und Veralltäglichung des Enhancements Grenzen setzen muss. Aber auch dann, wenn man derartige Grenzen grundsätzlich befürwortet, bleibt vorerst offen, wie sie sich argumentativ begründen ließen (vgl. z. B. Maio et al. 2008) sowie auf welche sozialen, kulturellen und institutionellen Ressourcen sich solche Grenzziehungen stützen könnten. Bieten beispielsweise das Medizinrecht, die ärztliche Standesethik oder die allgemeine bioethische Diskussion Anhaltspunkte für faktische oder normative »Grenzen der Entgrenzung« (vgl. hierzu die Beiträge von Damm und Lanzerath in diesem Band)? Oder erscheinen die aktuellen Entwicklungen aus diesen Perspektiven als unproblematisch, wenn nicht sogar wünschenswert (vgl. Ach/Lüttenberg in diesem Band)? Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass die Debatten um Enhancement und Medikalisierung nicht angemessen allein in wissenschaftlichen oder ethischen Expertendiskursen zu führen sind. Letztlich geht es dabei vielmehr um eine politische Auseinandersetzung, die das Selbstverständnis moderner Gesellschaften und die Lebensweisen ihrer Mitglieder fundamental betrifft und deshalb öffentlich ausgetragen werden muss.

5. Zum Aufbau des Bandes u n d d e r e i n z e l n e n B e i t r ä g e 16 Der Aufbau des vorliegenden Bandes orientiert sich an den im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Fragestellungen sowie an den oben beschriebenen vier Entgrenzungsdynamiken der Medizin. Im ersten Teil, Gesundheit, Krankheit und Optimierung aus medizinhistorischer und -theoretischer Sicht, wird in insgesamt drei Beiträgen untersucht, wie sich die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit historisch entwickelt hat, wie sie sich medizintheoretisch jeweils unterschiedlich begründen lässt und inwiefern die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter16 Der vorliegende Band geht zurück auf eine Tagung im Januar 2009 an der Universität Augsburg im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs »Reflexive Modernisierung«. Wir danken der DFG und dem Sonderforschungsbereich für die finanzielle Unterstützung der Tagung und der Buchveröffentlichung. Für ihre großzügige Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts bedanken wir uns bei Michael Ernst-Heidenreich, Debora Frommeld und Andreas Hechtel vom Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Augsburg. 31

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nommenen medizinischen Experimente zur Verjüngung und »Verbesserung« des Menschen Parallelen zur heutigen Entwicklung aufweisen. Damit wird mehr oder weniger ausdrücklich auch die Frage nach der Neuartigkeit und den besonderen Charakteristika der aktuellen Phänomene gestellt. Den zweiten Teil, Entgrenzung der Medizin: vier Fallbeispiele, bilden vier Beiträge, die – orientiert an den oben beschriebenen Dynamiken – anhand exemplarischer Fälle jeweils unterschiedliche Verlaufsformen der Entgrenzung der Medizin zum Thema haben. Das Beispiel ADHS steht dabei exemplarisch für die Ausweitung medizinischer Diagnosen, der Boom der kosmetischen Chirurgie für die krankheitsun– abhängige Verbreitung medizinischer Techniken, die prädiktive Gendiagnostik für Tendenzen zur Entzeitlichung von Krankheit, die AntiAging-Medizin schließlich (zumindest in ihren auf »radikale« Lebensverlängerung zielenden Varianten) für Versuche zur direkten Optimierung des menschlichen Körpers. Der dritte Themenblock, Recht und Ethik als Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung, fasst drei Beiträge zusammen, die sich den aktuellen Transformationsprozessen aus bioethischer, aus medizinethischer sowie aus medizinrechtlicher Perspektive widmen. Im Mittelpunkt steht dabei zum einen, inwieweit bisherige professionsethische Kriterien und rechtliche Regelungen insbesondere des Arzt-Patient-Verhältnisses durch die neuen Entwicklungen unter Druck geraten und ausgehöhlt werden könnten; zum anderen wird aber auch gefragt, welche Möglichkeiten Ethik und Recht zur Gestaltung und Regulierung einer entgrenzten Medizin bieten könnten. Den ersten Themenblock eröffnen Heiner Fangerau und Michael Martin mit ihrem Beitrag Konzepte von Gesundheit und Krankheit – Die Historizität elementarer Lebenserscheinungen zwischen Qualität und Quantität. Die beiden Autoren analysieren darin die wechselvolle Geschichte einer für die Entwicklung (nicht nur) der modernen Medizin prägenden Unterscheidung. Ihnen zufolge sind Gesundheit und Krankheit keineswegs immer im Sinne einer klar getrennten Opposition verstanden worden. Zwar haben die antike humoral-pathologische Sichtweise und auch die an Linné anschließenden Klassifikationsversuche Vorstellungen einer »trennscharfen« Unterscheidbarkeit von Gesundheit und Krankheit hervorgebracht. Im 19. Jahrhundert traten jedoch mit der »quantitativ« verfahrenden und in Normalverteilungen denkenden physiologisch orientierten Medizin konkurrierende Deutungen auf den Plan. Danach sind Gesundheit und Krankheit nicht als scharfer Gegensatz, sondern im Sinne eines Kontinuums zu verstehen. Die Überlegungen der beiden Autoren relativieren die auch in der Soziologie prominenten Vorstellungen eines den medizinischen Diskurs der Moderne prägenden und eindeutig zwischen Gesundheit und Krankheit differenzierenden medi32

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zinischen Codes. Fangerau und Martin gehen demgegenüber von einer Pluralität von Gesundheits- und Krankheitsbegriffen aus, wobei der inzwischen dominierende physiologische Krankheitsbegriff nicht dichotomischer, sondern eher kontinuierlicher und gradualistischer Natur sei. Aus diesem Grund ist die Grenzziehung zwischen »gesund« und »krank« grundsätzlich interpretationsoffen und flexibel handhabbar. Christian Lenk untersucht in seinem Beitrag Enhancement vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte von Gesundheit und Krankheit aus einer medizinethischen Perspektive die Bedeutung konkurrierender Konzepte von Gesundheit und Krankheit für die Problematik des Enhancements. Er unterscheidet: a.) ein subjektivistisches Konzept, das sich u.a. in der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheits-Organisation WHO wiederfindet, b.) ein relationales Konzept der Gesundheit und schließlich c.) ein an der naturwissenschaftlich geprägten Physiologie orientiertes Verständnis der beiden Begriffe. Auch wenn Lenk die Bedeutung der beiden erstgenannten Gesundheits-/Krankheitskonzepte nicht bestreitet, lässt sich sein Beitrag als vorsichtige Verteidigung eines an physiologischen Normalfunktionen orientierten objektivistischen Krankheitsbegriffes lesen. Dessen Vor- und Nachteile demonstriert er an Christopher Boorses funktionalistischem Konzept von Gesundheit und Krankheit. Die Bedeutung dieses Konzepts für die aktuelle Diskussion um Optimierung und Perfektionierung sieht Lenk darin, dass nur auf dieser Grundlage überhaupt eine angemessene Definition von Enhancement gegeben werden könne. Denn nur wenn (statistische) Durchschnittswerte ausgewiesen werden könnten, ließe sich in sinnvoller Weise auch von einer »Verbesserung über das Normalmaß hinaus« sprechen. Wenngleich der objektivistische Gesundheitsbegriff bei psychischen Erkrankungen sowie bei ästhetisch motivierten Eingriffen an Grenzen stoße, stelle er gleichwohl ein wichtiges Korrektiv zur Verfügung, um überzogenen Ansprüchen auf körperliche Funktions- und Leistungssteigerung Einhalt zu gebieten. Die oft gestellte Frage nach der Neuartigkeit der aktuellen Entwicklungen im medizinischen Feld greift Heiko Stoff aus medizinhistorischer Perspektive auf. Sein Beitrag Das »Recht auf optimale physiologische Lebensmöglichkeiten«. Die Verbesserung und Verjüngung des Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert die Geschichte der Verjüngungsstrategien vom späten 19. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhundert. Stoff erinnert daran, dass die wissenschaftlichen Projekte physischer Transformation des Menschen, unter anderem auf der Basis darwinistischer Ideen, ihren Ursprung in der experimentellen Biologie und Entwicklungsphysiologie haben. Deren Ideen der Menschenschöpfung zehrten aber auch von utopischen und dystopischen (li33

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terarischen) Erzählungen, die vom Jungbrunnentraum bis zu den Geschichten vom Verfall des Menschengeschlechts und der Überalterung der Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert reichten. Stoff argumentiert, das Ziel dieser biopolitischen Strategien sei nicht nur die Verjüngung, sondern auch die Verbesserung des männlichen und – in den 1920er Jahren – auch des weiblichen Körpers gewesen. Die entsprechenden Diskurse beschrieben programmatisch das Modell eines effizient verjüngten Menschen, der den Ansprüchen der sich herausbildenden Leistungs- und Konsumgesellschaften gerecht werden könne. In den 1930er Jahren fanden diese Diskurse ihr vorläufiges Ende; erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde wieder an sie angeknüpft. Die von Stoff beschriebenen Strategien der Bekämpfung des Alters und des Alterns bilden eine interessante Vergleichsfolie für die Untersuchung der aktuellen Entwicklungen im Bereich der Anti-Aging-Medizin; sie weisen eine Reihe von bemerkenswerten Gemeinsamkeiten auf, aber auch deutliche Unterschiede, schon allein bei der sozialen Verfügbarkeit entsprechender medizinischer Angebote. Der zweite Teil des Bandes umfasst vier Beiträge zu Fallbeispielen, in denen sich – so die Ausgangsthese des Buches – jeweils unterschiedliche Entgrenzungsdynamiken der Medizin beobachten lassen. Den Auftakt bildet Fabian Karschs Beitrag Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung? Zur Problematik der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit am Beispiel ADHS. Er fragt danach, inwieweit der zunehmende Konsum von Methylphenidaten sowie die entsprechenden Diagnose-, Verschreibungs- und Therapiepraktiken noch im Sinne von Krankheitsbehandlung zu verstehen sind oder unausgesprochen bereits unter die Kategorie des Enhancements fallen und damit die Grenzen kurativer Medizin überschreiten. Der umstrittene Krankheitswert von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), aber auch die steigende Nutzung von Medikamenten wie Ritalin zum Zwecke der Leistungssteigerung sind aus seiner Sicht Symptome eines »weitreichenden Medikalisierungsprozesses«, der sich in einer »Ausweitung medizinischer Deutungsansprüche« äußere. Diese Tendenzen müsse man als eine Ausweitung des medizinischen Herrschaftsbereiches verstehen, insofern vermehrt der Anspruch erhoben werde, soziale Verhaltensweisen legitimerweise in medizinischen Begriffen erfassen zu können. Phänomene der Entgrenzung von Gesundheit und Krankheit zeigten sich aber nicht nur in den Deutungskämpfen um die Anerkennung des Krankheitsbildes ADHS, sondern auch in den Praktiken der Selbstmedikation von Personen, die Pharmaka wie Ritalin ohne medizinische Indikation nutzen, weil sie sich davon eine angemessenere Organisation ih-

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res Alltags oder, etwa in Prüfungssituationen, leistungssteigernde Effekte erwarten. Der Beitrag von Paula-Irene Villa Mach mich schön! Geschlecht und Körper als Rohstoff setzt mit Überlegungen zur Genese der Geschlechterontologie in der »westlichen bürgerlichen Moderne« ein. Diese habe, so die Autorin, die Geschlechterdifferenz in Form einer körperlichen Ontologie bislang erfolgreich gegen »Modernisierungs- und Reflexivierungsprozesse« immunisiert. Die Naturalisierung der Körperontologie wird nun, wie Villa zu zeigen sucht, durch den aktuellen Trend zur ästhetischen Chirurgie sowie die damit zusammenhängenden medialen Inzenierungen der Arbeit am eigenen Körper in TV-Formaten wie The Swan zur Disposition gestellt. Hieraus resultiert der Autorin zufolge eine doppelte Dynamik: einerseits der Selbstermächtigung zur Gestaltung des »eigenen« Körpers, andererseits der (Selbst-)Unterwerfung unter dominante Körpernormen. Paradoxerweise stand, so Villa, der feministische Diskurs der 1970er Jahre, der die Legitimität der Schwangerschaftsunterbrechung unter der Parole »Mein Bauch gehört mir!« thematisierte, ungewollt bei der aktuellen Entwicklung Pate. Abschließend versucht Villa im Rekurs auf die Plessnersche Unterscheidung von »Leib sein« und »Körper haben« zu begründen, dass der Mensch nicht anders kann, als sich distanziert und instrumentell zu seinem Körper zu verhalten. Sie plädiert daher – im Horizont eines subjektiven Gesundheitsbegriffs – letztlich dafür, »das subjektive Leiden von Menschen an und in ihren Körpern unbedingt ernst zu nehmen«. In ihrem Beitrag Hintergründe, Dynamiken und Folgen der prädiktiven Diagnostik diagnostizieren Thomas Lemke und Regine Kollek einen qualitativen Transformationsprozess im Feld des Medizinischen, der sowohl medizinethische als auch gesellschaftliche Probleme aufwirft. Denn die rapide Verbreitung so genannter prädiktiver Gentests, die Aussagen über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Erkrankungen treffen, lässt gesunde Menschen mehr und mehr zu »genetischen Risikopersonen« oder gar zu »gesunden Kranken« werden. Lemke und Kollek skizzieren zunächst die sozio-technischen, sozio-kulturellen und soziopolitischen Kontexte, die die Verbreitung und Akzeptanz prädiktiver Gentest fördern und stabilisieren. Sie heben hervor, dass Angebote prädiktiven Wissens auf die Lenkung und Gestaltung von individuellen wie kollektiven Handlungsoptionen durch biomedizinische Risikoregime ausgerichtet sind. Die Autoren gehen aber davon aus, dass Verfahren der prädiktiven Diagnostik und die sie anleitenden biowissenschaftlichen Deutungsmuster von den »Betroffenen« aktiv angeeignet und in ihren spezifischen Gebrauchsweisen mitgestaltet werden. Dies korreliere mit einem Wandel des Gesundheitsverständnisses: Gesundheit wird immer 35

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seltener als ein (passiver) Zustand begriffen, sondern als ein aktiv zu gestaltender Prozess, worin den Individuen zunehmend Pflichten und (Selbst-)Verantwortlichkeiten im Hinblick auf die eigene »genetische« Gesundheit zugeschrieben werden. Abschließend richten Lemke und Kollek den Blick auf die möglichen gesellschaftlichen Folgen der beschriebenen Entwicklungsdynamik. Sie vermuten zum einen eine (trotz teilweise gegenläufiger Befunde der biomedizinischen Forschung) weitergehende Genetifizierung der Medizin, zum anderen weisen sie auf die Gefahr hin, dass die »gesunden Kranken« spezifischen Formen einer genetischen Diskriminierung ausgesetzt werden könnten. Den zweiten Themenschwerpunkt beschließt der Beitrag Ausweitung der Kampfzone: Anti-Aging-Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung von Tobias Eichinger, der sich aus einer medizinhistorischen und -theoretischen Perspektive mit neueren Entwicklungen im Bereich der Anti-Aging-Medizin auseinandersetzt. Eichinger beschreibt zunächst die Ziele, die Mittel sowie die verschiedenen Anbieter von Anti-AgingPraktiken und analysiert anschließend drei miteinander verwobene »Kampfzonen« (Wettbewerb, Diskurs und Medizin), worin über die Legitimität und Ausgestaltung der Anti-Aging-Medizin gestritten wird. Der Autor unterscheidet hierbei drei Legitimationsstrategien für dieses neue medizinische Feld: Bei der pathologisierenden Argumentationsstrategie steht, im Sinne einer Ausweitung der medizinischen Diagnostik auf spezifische altersbezogene Faktoren und Körperfunktionen, noch ein kuratives Verständnis im Mittelpunkt. Bei der probabilisierenden Begründungsstrategie liegt das Ziel in der Prävention möglicher oder wahrscheinlicher Erkrankungen und altersbezogener Degenerationserscheinung. Die Medikalisierungsstrategie hingegen verzichtet insofern vollständig auf einen spezifischen Krankheitsbezug, als sie dem Altern als solchem den Kampf ansagt und dieses dabei häufig selbst als »Krankheit« begreift. Das Ziel besteht hier in erster Linie in der Beseitigung störender körperlicher Begleiterscheinungen des Älter-Werdens sowie in der Maximierung der menschlichen Lebensspanne, in den eingangs erwähnten Visionen von Aubrey de Grey und anderen weit über die bisher bekannten Grenzen hinaus. Diese letztere Strategie hält Eichinger ethisch gesehen für besonders problematisch. Er warnt davor, bislang handlungsleitende Vorstellungen der Medizin »als gesellschaftlich bedeutsamer Institution der Hilfe und Fürsorge für Menschen in Not« vorschnell für die Versprechungen einer zweifelhaften Anti-Aging-Medizin preiszugeben. Den dritten Teil des Buches (Recht und Ethik als Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung) leiten Johann S. Ach und Beate Lüttenberg mit ihrem Beitrag Ungleich besser? Zwölf Thesen zur Diskussion über 36

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Neuroenhancement ein. Aufgrund künftig erwartbarer medizinischpharmakologischer Fortschritte eröffnen sich aus Sicht der Autoren Möglichkeiten einer gezielten, nebenwirkungsarmen und effektiven Steigerung der kognitiven und mentalen menschlichen Leistungsfähigkeit. Dies verspreche sowohl aus kollektiver (z.B. Produktivitäts- und Innovationspotentiale) wie auch aus individueller Sicht (kognitive und soziale Kompetenzen) einige Vorteile. Ach und Lüttenberg gehen hinsichtlich der Bewertung von Enhancement-Verfahren davon aus, dass diesen nicht schon deshalb eine Sonderstellung zugeschrieben werden könne, weil sie im Gegensatz zu konventionellen Mitteln der Leistungssteigerung (Lernen, Training etc.) »künstlich« seien. Auch könne man Eingriffe in den menschlichen Organismus – einschließlich des Gehirns – nicht im Rekurs auf den hoffnungslos mehrdeutigen Begriff der menschlichen Natur ablehnen. Vielmehr könnten weder »traditionelle« noch neuere Optimierungstechniken unabhängig von normativen und evaluativen Vorentscheidungen beurteilt werden. Ein Konsens über deren Legitimität sei in pluralistischen, liberalen Gesellschaften allerdings kaum zu erwarten, es müsse daher den Einzelnen – unter strikter Wahrung des Prinzips der Freiwilligkeit – überlassen bleiben, welchen Eingriffen sie sich unterziehen. Trotz ihrer insgesamt positiven Bewertung von Techniken des Neuro-Enhancements halten aber auch Ach und Lüttenberg bestimmte Grenzen der Optimierung für erforderlich. So postulieren sie etwa ein dem Recht auf Nichtwissen zur Seite zu stellendes Recht auf »Naturbelassenheit«, um einem möglichen latenten Zwang zur Nutzung von »Neuro-Enhancern« entgegenwirken zu können. Würde ein solches Recht institutionell ebenso abgesichert wie das Recht auf Nichtwissen im Kontext der prädiktiven Diagnostik, wären kompetitive Enhancement-Maßnahmen, die der Verbesserung der individuellen Konkurrenzfähigkeit z.B. auf dem Arbeitsmarkt dienen, vermutlich recht enge Grenzen gesetzt. Denn dadurch würde ein mehr oder weniger starker Druck auf andere ausgeübt, sich ebenfalls zu »optimieren«. Skeptischer als Ach und Lüttenberg bewertet Dirk Lanzerath (Professionsethische Aspekte aktueller Praktiken der Optimierung der menschlichen Natur) die Diskussion zum Enhancement. Auch er diagnostiziert eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens einerseits, das Vordringen neuer Anthropotechniken andererseits. Dabei bestehe die Gefahr, dass durch die voranschreitende Medikalisierung der Lebenswelt das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient langfristig durch ein individuelles Vertragsverhältnis ersetzt wird. Jedoch könne das Arzt-Patient-Verhältnis nicht auf ein rechtsbasiertes Vertragsverhältnis reduziert werden, solange die ärztliche Profession sich noch an eine Berufsethik gebunden fühlt, die im Arzt mehr sieht, als einen 37

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»technischen Vollstrecker« naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und medizinischer Dienstleistungen. Die Möglichkeiten einer berufsethischen Regulierung des Umgangs mit Optimierungstechniken bewertet Lanzerath gleichwohl sehr zurückhaltend. Eine solche Regulierung wird seines Erachtens nicht nur durch die Heterogenität der ärztlichen Berufsgruppe erschwert, sondern auch durch den Umstand, dass in einer pluralen Gesellschaft ständig neue Bedürfnislagen von außen an das medizinische Feld und die Profession herangetragen werden. Wichtig bleibe es aber, Gesundheit und Krankheit als »praktische Begriffe« und »Grundkategorien menschlichen Dasein« zu fassen. Gesundheit erscheint in dieser medizinethischen Perspektive als ein schützenswertes soziales Gut, das als Gegenstand von Vor- und Fürsorge zu verstehen sei. Dem Arzt käme hierbei, so Lanzerath, die anspruchsvolle Rolle einer Instanz zu, die dem Kranken nicht nur therapeutische Dienste, sondern im weiteren Sinne »hermeneutische Hilfestellung« bieten könne. In diesem Sinne formuliert Lanzerath abschließend die offene Frage, ob die Gesellschaft ein Interesse daran hat, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten durch einen solchermaßen ethisch ausgerichteten praktischen Krankheits- und Gesundheitsbegriffs zu re-stabilisieren. Oder geht sie das Risiko ein, diese für das medizinische Feld konstitutiven Beziehungen künftig technizistisch zu verkürzen und in ein marktförmig organisiertes Vertragsverhältnis übergehen zu lassen? Im abschließenden Beitrag Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe – am Beispiel von Indikation und Information befasst sich Reinhard Damm aus rechtswissenschaftlicher Perspektive mit Veränderungen von zwei Basiskonzepten des Arzt-PatientenVerhältnisses: Indikation (auf der Grundlage ärztlichen Sachverstands sowie diagnostischer und therapeutischer Standards) und Information beziehungsweise informierte Einwilligung (informed consent) der Patienten sind nach dem bislang vorherrschenden Verständnis die wesentlichen normativen Grundvoraussetzungen ärztlicher Intervention. Gegenwärtig beobachtet Damm aus medizinrechtlicher Sicht einerseits eine Relativierung des Indikationskonzepts, andererseits eine Bedeutungszunahme des informationellen Konsenskonzeptes, verbunden mit dem Vordringen einer »Wunschmedizin«, welche die Deutungshoheit des kurativen Modells schwäche. Er illustriert die Gründe und Folgen dieses Wandels anhand der vier Beispiele Fortpflanzungsmedizin, Entbindung durch Kaiserschnitt auf Wunsch, Transplantationsmedizin sowie genetische Diagnostik. Bezogen auf die aktuellen Debatten um eine »Verbesserung« des Menschen ist es aus Damms Sicht von entscheidender Bedeutung, wie künftig ärztliche Handlungen legitimiert werden sollen, die aufgrund ihrer technischen Machbarkeit auf dem medizinischen Markt 38

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angeboten oder gesellschaftlich nachgefragt werden, ohne dass eine Indikation im Sinne kurativ-medizinischer Standards vorliegt. Damit stelle sich nicht zuletzt die Frage, ob individuelle Selbstbestimmung schon eine hinreichende oder »nur« eine notwendige Legitimationsgrundlage für optimierende Eingriffe darstelle. Damm warnt in diesem Zusammenhang vor einer »individual-ethisch verkürzten Vorstellung von Autonomie«, die die Rahmenbedingungen der Ausübung von Selbstbestimmung aus dem Blick zu verlieren drohe. Grundsätzlich müsse man zukünftig mit einer zunehmenden »Verzweigung« rechnen zwischen einer technisch induzierten und marktorientierten Dienstleistungsmedizin einerseits, dem tradierten Selbstverständnis der kurativen Medizin andererseits. Dabei sei es entscheidend, so Damm, weiterhin auf die »Bindungskraft« des Indikationsmodells zu setzen, die kaum durch anspruchslose Selbstbestimmungskonzepte ersetzt werden könne.

6. Ein vorläufiges Resümee Versucht man im Hinblick auf die oben formulierten Fragen nach der Neuartigkeit und Spezifik der aktuellen Phänomene und Tendenzen ein Resümee aus diesen Beiträgen zu ziehen, so lassen sich in aller Kürze und Vorläufigkeit drei Aspekte festhalten: 1. Die medizinhistorisch und -theoretisch orientierten Beiträge des ersten Teils verdeutlichen eindrucksvoll, dass Uneindeutigkeiten und Unsicherheiten bei der Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit ebenso wenig neu sind wie Versuche, mit medizinischen Mitteln eine »Verbesserung« menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten zu erreichen. Allerdings rückt gerade der historische Vergleich auch die Besonderheiten der aktuellen Entwicklungen ins Licht, z.B. die zumindest in den Industrie- und Schwellenländern weit größere Verfügbarkeit medizinischer Optimierungsangebote für relativ breite Bevölkerungsschichten.17 Auch hat sich die Zahl der sozialen Akteure vervielfältigt, die fallspezifisch in Diskussionen über die Grenzen von Krankheit und Gesundheit involviert sind. Man hat es also nicht »nur« mit einem medizinischen oder medizintheoretischen Abgrenzungsproblem zu tun, sondern mit einem wesentlich breiteren gesell17 Die Kenntnis früherer Formen einer optimierenden Medizin ist ohne Zweifel wichtig, um die aktuellen Versprechungen der Biowissenschaften relativieren und »unaufgeregt« bewerten zu können. Der historisch vergleichende Rückblick kann gleichwohl nicht die differenzierte Analyse der gegenwärtigen Entwicklungen und ihrer möglichen Konsequenzen ersetzen. 39

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schaftlichen Aushandlungsprozess über die »Grenzen« zwischen Gesundheit und Krankheit sowie über die Relevanz und Orientierungsfunktion dieser Unterscheidung. Nicht zuletzt hat sich auch die medizinische Behandlungstechnik erheblich weiterentwickelt und verfeinert, so dass Bemühungen um die »Perfektionierung des Menschen« (Gesang 2007) gegenwärtig wesentlich mehr Dynamik und Attraktivität besitzen als etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Inwieweit sich gegen vermutlich zunehmende Enhancement-Tendenzen ein objektivierendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit erfolgreich in Stellung bringen lässt (vgl. den Beitrag von Lenk) bleibt abzuwarten; zumindest aber wird deutlich, dass moderne Gesellschaften allen Erosionstendenzen zum Trotz nicht ohne Weiteres auf handhabbare Unterscheidungen zwischen Krankheit und Gesundheit verzichten können. 2. Die Fallstudien des zweiten Teils lassen erkennen, dass Entgrenzungsprozesse der Medizin sehr heterogen verlaufen, oft heftig umkämpft sind und teilweise auch Gegentendenzen sowohl innerhalb wie außerhalb der Medizin auslösen. Zumindest heuristisch erweist sich die von uns vorgeschlagene Unterscheidung von vier Entgrenzungsdynamiken als produktiv, denn sie lenkt den Blick auf jeweils spezifische Einflussfaktoren, Akteure und Interessenkonstellationen sowie auf die von Fall zu Fall unterschiedliche Rolle von wissenschaftlichen Diskursen, neuen Technologien, medialen Inszenierungen, ökonomischen Interessen oder rechtlichen Regelungen. Hier könnten weitere Fallstudien möglicherweise zu einer noch schärferen Präzisierung der unterschiedlichen Dynamiken beitragen. In jedem Fall stellt die gesellschaftliche Nachfrage nach »verbessernden« medizinischen Dienstleistungen – anders als die Rede von der »wunscherfüllenden Medizin« suggeriert – nur einen von mehreren Faktoren dar. Grundsätzlich handelt es sich bei der Entgrenzung der Medizin weder um ein homogenes noch um unausweichliches Geschehen. Ebenso wie, historisch gesehen, Demedikalisierungen möglich waren, können die Ausweitung medizinischer Diagnosen, die Verbreitung medizinischer Techniken und Tendenzen zur Optimierung gesunder Menschen prinzipiell begrenzt oder sogar revidiert werden, wenngleich vorerst offen bleibt, mit welchen Mitteln dies im Einzelfall gelingen könnte. 3. Der professionellen Ethik (als Bioethik, Medizinethik und ärztliche Standesethik) wird in den aktuellen Debatten um die Entgrenzung der Medizin eine besondere Bedeutung zugewiesen; sie gilt in der Regel als diejenige Instanz, die – institutionalisiert in ethischen Beratungsgremien – letztlich darüber befinden soll, »ob wir dürfen, was 40

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wir können«, ob also medizinisch-technisch Machbares auch tatsächlich umgesetzt werden soll. Wie die Beiträge des dritten Teils auf jeweils unterschiedliche Weise verdeutlichen, ist die Ethik mit dieser Aufgabe letztlich überfordert. Zum einen ist sie keineswegs die neutrale Schiedsrichterin und gleichsam »externe« Beobachterin der einschlägigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, sondern selbst Teilnehmerin und häufig genug parteiliche Protagonistin in diesen Debatten.18 Zum anderen ist die gesellschaftliche Wirksamkeit und Bindungskraft etwa professionsethischer Prinzipien im Vergleich mit ökonomischen Anreizen und Interessen durchaus skeptisch zu beurteilen. Dennoch sollte das Potential von Ethik und Recht für die Regulierung der aktuellen Entwicklungen im medizinischen Feld nicht unterschätzt werden. Denn die bisherige Praxis der kurativen Medizin ist eingebunden in ein Geflecht (professions-) ethischer und vor allem rechtlicher Regelungen und Rahmenbedingungen, die im Fall eines Übergangs zu einer optimierenden, nur noch schwach an ärztliche Indikationen gebundenen Medizin in teilweise gravierender Weise verändert werden müssten (vgl. dazu Damm in diesem Band sowie Eberbach 2009: 234 ff.). Betroffen wären hiervon unter anderem das Krankenversicherungsrecht sowie das Vertrags- und Haftungsrecht;19 darüber hinaus sind die Fragen nach der Zulassung von und dem Zugang zu Enhancement-Präparaten und -Dienstleistungen noch fast völlig ungeklärt. Ob und in welcher Weise sich hier in der Zukunft rechtlich tragfähige Regelungen einspielen würden, scheint bislang noch ganz offen zu sein. Doch selbst wenn bestehende Regulierungen oder neu auftretende rechtliche Unsicherheiten sich gelegentlich als eine »Fußangel« (Eberbach 2009: 239) für die Tendenz zu einer Optimierungsmedizin erweisen können, wäre es verfehlt anzunehmen, solche Fußangeln könnten die weitere Entgrenzung der Medizin letztlich »zu Fall bringen« (ebd.). Über Recht und professionelle Ethik hinaus erfordert die Transfor18 Es ist vermutlich nicht übertrieben, zu sagen, dass der (konsequentialistische) mainstream der Bioethik die Idee der Verbesserung des Menschen mehr oder weniger stark befürwortet (vgl. auch Hedgecoe 2010). Ethische Positionen, die sich, beispielsweise im Anschluss an Hans Jonas, skeptisch gegenüber utopischen Verbesserungsvisionen zeigen (z.B. LaFleur 2008), scheinen sich demgegenüber in der Minderheit zu befinden. Es ist demnach eher zu erwarten, dass die bioethische Debatte sich als »Motor« denn als »Bremse« einer beschleunigten Entgrenzung der Medizin erweisen wird. 19 Wer kommt beispielsweise für die unter Umständen medizinisch behandlungsbedürftigen Folgen einer misslungenen Optimierungs-Maßnahme auf (vgl. Eberbach 2009: 239)? 41

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mation des medizinischen Feldes deshalb zwingend eine differenzierte und transparente öffentliche, im Kern politische Auseinandersetzung darüber, wie viel Raum und welche gesellschaftliche Bedeutung medizinische Praktiken und Techniken, die offen oder latent auf die Optimierung des menschlichen Körpers ausgerichtet sind, zukünftig haben sollen. Den Sozialwissenschaften, und im Besonderen der Soziologie, sollte dabei eine deutlich prominentere Rolle zukommen als ihnen bisher zugestanden wird – und als sie sich selbst üblicherweise zutrauen. Soziologische Analysen könnten wesentlich dazu beitragen, die Hintergründe und Antriebskräfte der Entgrenzung der Medizin aufzuklären, die impliziten Prämissen von Diskursen über Enhancement (beispielsweise diskursive Strategien, die den menschlichen Körper als »verbesserungsbedürftig« konstruieren) sowie die Interessenlagen und Deutungsmuster der beteiligten Akteure sichtbar zu machen (vgl. hierzu Wehling 2008b, 2010; Viehöver/Wehling 2010). Auf diese Weise kann ein soziologischer Blick auf die Entgrenzung der Medizin das gesellschaftliche Differenzierungsvermögen schärfen, reflexive Distanz zu den Versprechungen der Biomedizin (und Bioethik) ermöglichen sowie gesellschaftliche Handlungsspielräume offen halten und erweitern.

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I. G ESUNDHEIT , K RANKHEIT UND O PTIMIERUNG AUS MEDIZINHISTORISCHER UND - THEORETISCHER S ICHT

Konzepte von Gesundheit und Krankheit: Die Historizität elementarer Lebenserscheinungen zwischen Qualität und Quantität HEINER FANGERAU/MICHAEL MARTIN

Im persönlichen Erleben erfahren die meisten Menschen auf elementare Weise, was ein Krankheitsempfinden ist und wie es sich anfühlt, in besonderer Weise gesund zu sein. Seelische und körperliche Empfindungen, ihre Interpretation und Entäußerung allerdings erfolgen unter vielfältigen kulturellen und historischen Einflüssen (vgl. Stolberg 2003: 29). Dementsprechend fällt eine allgemein gültige Definition von »Krankheit« und noch mehr die von »Gesundheit« schwer. Gesundheit scheint in den meisten Gesellschaften weit mehr zu sein als die Abwesenheit von Krankheit. Dennoch ist für ein Konzept von Gesundheit die Existenz eines Krankheitskonzeptes nahezu unabdingbar (vgl. Rothschuh 1975). Krankheits- und Gesundheitskonzepte haben in der Vergangenheit vielfache Umschwünge und Wechsel erfahren, die weder linear auf das heutige Verständnis hingeführt haben noch stets einheitlich, geschlossen oder umfassend plausibel erschienen. Darum ist es wenig verwunderlich, dass auch in der heutigen westlichen Gesellschaft mehrere Konzepte von Krankheit und Gesundheit parallel existieren und dass sich viele von ihnen eher durch Kontingenz und Ambiguität als durch Eindeutigkeit und Gewissheit auszeichnen. Die besondere Diffusität des Krankheitsund Gesundheitsbegriffes zeigt sich unter anderem an dem Umstand, dass über viele Jahrhunderte bis heute bestimmte Gesundheitsbegrifflichkeiten in metaphorischem Gebrauch auch in anderen Bereichen als 51

HEINER FANGERAU/MICHAEL MARTIN

dem Medizinalwesen (»gesunde Wirtschaft«) nicht unüblich waren. Vielfach wurden diese dabei mit religiösen oder moralischen Inhalten vermischt, ein Umstand, dessen Ursprung in der lange bestehenden Systemverknüpfung von Religion und Medizin zu finden ist. Die Kulturanthropologin Mary Douglas ging so weit, Reinheit als Kern religiöser Klassifikationssysteme zu begreifen. Sie sah in Gesundheits-, Diät- und Hygienevorschriften weniger medizinische als religiöse Grundvoraussetzungen manifestiert. Menschen wurden nach einigen kulturspezifischen Gesundheitskonzeptionen nicht krank, weil sie gegen medizinische Hygienevorstellungen verstießen, sondern weil sie religiöse Tabus brachen (Douglas 1966). Am Problem der Vielschichtigkeit von Gesundheit und Krankheit konnte auch der seit 1948 andauernde Versuch der Weltgesundheitsorganisation, eine universelle Gesundheitsdefinition durch- und umzusetzen, wenig ändern. Angesichts dieser Unsicherheiten rief zum Beispiel das British Medical Journal im Jahre 2008 dazu auf, sich unter Nutzung des Internets in einem Blog an einer globalen Debatte über Gesundheitsdefinitionen zu beteiligen (Jadad/O'Grady 2008). Die Themenfelder, die im diesbezüglichen Editorial an die Leserschaft aufgeworfen wurden, reichten von der Frage, ob Gesundheit überhaupt definiert, operationalisiert oder gemessen werden könne, bis zu der, ob es zumindest einen kleinsten gemeinsamen Nenner zur Bedeutung des Begriffs Gesundheit geben könne. Vor allem die quantitative Betrachtungsweise physiologischer Phänomene hat die konzeptionelle Trennung von Gesundheit und Krankheit jeweils erschwert. Die holistisch geprägte antike Humoralpathologie vertrat ein qualitatives, aber gradualistisches Verständnis: ein Gleichgewicht der Säfte (»Eukrasie«) war gleichbedeutend mit Gesundheit; deren Ungleichgewicht (»Dyskrasie«) war die grundlegende Ursache einer jeden Krankheit. Im 17. Jahrhundert wurde der hierin fußenden Unschärfe von Krankheit dadurch begegnet, dass Krankheiten klar voneinander und von Gesundheit abgegrenzt wurden.1 Sie wurden wie natürliche, distinkte Ordnungseinheiten behandelt und auch der Biologe Carl von Linné legte 1763 einen seinen botanischen Klassifikationen nicht unähnlichen Versuch zur Ordnung der Krankheiten vor (Linné 1763). Letztendlich haben im 19. Jahrhundert die Einführung quantifizierender Methoden in die medizinische Diagnostik und die Diskussion von Krankheit als pathologischer Abweichung vom »Normalen« dazu

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Für eine ausführlichere Diskussion vergleiche unter anderem die Studie von Walter Pagel (1974) zum Wandel im ontologischen Krankheitsbegriff oder die Überblicksdarstellung zu Nosologietypen von H. Tristram Engelhardt (1985).

KONZEPTE VON GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

geführt, dass die Grenze zwischen krank und gesund wieder als fließend verstanden wurde.2 In diesem Beitrag soll die Diskussion um die mathematisch-quantitative Konzeption von Krankheit und Gesundheit thematisiert – und in ihrer bis heute dauernden Wirkung auf »Entgrenzungsprozesse« hin analysiert werden. Nach einer kurzen Einführung in die Charakteristik von Krankheits- und Gesundheitskonzepten in der Geschichte der Medizin soll zu diesem Zweck der Wandel von qualitativen hin zu quantitativen Konzepten in der Medizin dargestellt und die fundamentale Bedeutung quantitativer Ansätze für die Grenzunsicherheit im Hinblick auf das »Kranke« und »Gesunde« illustriert werden.

Krankheits-/Gesundheitskonzepte in der Medizin Allen voran Eduard Rothschuh hat auf das Rechtfertigungsbedürfnis der Ärzte hingewiesen, die nach Beauftragung durch einen Patienten Heilhandlungen vornehmen sollen. Diese Rechtfertigung lässt sich allein vermittels Theorien synthetisieren, die Krankheiten und deren Entstehung definieren und somit für die medizinische Diagnostik die Lücke zwischen Erkennen und Handeln schließen sollen. Für ihre jeweilige Epoche brauchbare Krankheitskonzepte (und damit in der Folge Gesundheitskonzepte) erfüllen in diesem Sinne eine Ordnungsfunktion, indem sie Erfahrungsmaterial systematisch gliedern. Zudem erklären sie Erscheinungen am Krankenbett vor dem gegebenen Erfahrungshorizont und den Erkenntnismöglichkeiten der Zeit plausibel und rechtfertigen zuletzt therapeutische Handlungsoptionen (Rothschuh 1978: 4ff.). Während das Rechtfertigungs- und Theoriebedürfnis relative anthropologische Konstanten darzustellen scheinen, so sind die historisch nachweisbaren Krankheits- und Gesundheitskonzepte nicht nur interkulturell und diachron sehr verschieden. Vielmehr können auch innerhalb von Gesellschaftssystemen synchron mehrere Konzepte nebeneinander existieren. Bedeutung und Inhalt des Krankheitsbegriffs sind in zweifacher Weise flüchtig. Erstens beschreibt er keinen Zustand, sondern einen Prozess. Zweitens ändern sich die Krankheitsbegriffe und die damit verbundenen Entitäten im Laufe der Zeit ganz erheblich. Krankheit ist, darauf hat bereits Ludwik Fleck hingewiesen, eine »wissenschaftliche Fiktion«, sie ist unfassbar und lässt sich nicht eindeutig definieren, sondern

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Vgl. die grundlegende, bereits 1943 als medizinische Doktorarbeit eingereichte und mehrfach erweiterte Studie von Georges Canguilhem (1977). 53

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wird erst »in temporärer Fassung zur konkreten Einheit«. Diese »Historizität, die Zeitlichkeit des Krankheitsbegriffs, ist einzig in ihrer Art« (Fleck 1983: 43). Gerade die Handlungsorientiertheit des Arztes bedingt, dass er sich in seiner Diagnostik mitunter auf unterschiedliche Krankheits- und Gesundheitskonzeptionen bezieht: So bieten heute etwa zahlreiche Mediziner gleichzeitig komplementär-alternative sowie schulmedizinische Verfahren an und auch in der Vergangenheit existierten viele unterschiedliche Ansätze zum Krankheitsverständnis parallel nebeneinander. Diese Möglichkeit der »Paradigmenvielfalt« unterscheidet das Spektrum des ärztlichen Handelns grundsätzlich von den exakten Naturwissenschaften, die bestimmten »Gesetzen« verpflichtet sind. Perspektivwechsel, bedingt durch veränderte wissenschaftliche Erkenntnisse, kulturelle Veränderungen, epidemiologische oder demographische Verschiebungen, Professionswandel, sich wandelnde Umweltbedingungen, neue Techniken, außermedizinische Einflüsse, soziale Verwerfungen etc., ziehen einen neuen Blick auf Krankheiten nach sich, die auch das existierende Spektrum der Konzepte von Gesundheit und Krankheit verschieben.3 Hierbei scheint es sich auf Grund des besonderen Charakters der Medizin als Handlungswissenschaft, die das Nebeneinander multipler »Paradigmen« erlaubt, weniger um den Prozess einer Kuhnschen wissenschaftlichen Revolution als um eine »Denkstil«-Verschiebung im Sinne Ludwik Flecks zu handeln (Rothschuh 1977).4 Im Gegensatz zu Kuhn, der abrupte Konzeptwandel (wie etwa die Einführung des heliozentrischen Weltbildes) als Revolutionen verstanden wissen wollte, sind nach Flecks Theorie in den neuen Denkstilen durchaus auch andere wissenschaftliche Vorstellungen latent vorhanden. Fleck, der sich dezidiert mit der Entstehung neuer wissenschaftlicher Konzepte in der Medizin beschäftigt hat, ging davon aus, dass ein Denkkollektiv zunächst versucht, neuere, nicht erwartete empirische Ergebnisse als Denkstilergänzungen zu integrieren, bevor es grundlegende Konzepte revidiert. So führen zum Beispiel Anomalien in diagnostisch wirksamen Symptomkonstellationen nicht notwendigerweise zur kompletten Aufgabe einer 3

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Siehe hierzu für Beispiele u.a. die Überblicksdarstellungen zu den historischen Voraussetzungen aktueller Gesundheitsdiskussionen in Schäfer et al. (2008). Vgl. hierzu die schon recht frühe Diskussion der Möglichkeit der Anwendung des Kuhnschen Konzeptes auf die Medizin bei Rothschuh (1977). Zur Diskussion der Medizin als »techne«, als Handlungswissenschaft, die für ihre Handlungen zwar ein Satz- oder Begriffssystem benötigt, das aber nur insoweit mängelfrei sein muss, dass zweckorientierte Handlungen begründet werden können, vgl. u.a. die Überlegungen zu Krankheit und Diagnose von Wieland (1975: 83-99).

KONZEPTE VON GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

Krankheitsdiagnose, sondern eher zu deren differentialdiagnostischer Erweiterung (vgl. Fangerau et al. 2009). In großer Linie setzte die Ablösung der Humoralpathologie über die Iatrochemie im 16. Jahrhundert allmählich ein. Iatrophysik, -mechanik, -mathematik und -technik entwickelten sich im 17. Jahrhundert parallel. Dabei bedienten sich die zahllosen Konzepte von Krankheit und Gesundheit gegenseitig und die ihnen zu Grunde liegenden Modelle wie das technomorphe Modell des Organismus, der Vitalismus, die Irritabilität etc. befruchteten sich synwie diachron. Innerhalb dieses weiten Spektrums konkurrieren seit langem eher ontologische und eher nominalistisch-empirische Ansätze miteinander.5 Spätestens seit der antiken Humoralpathologie wurden in der westlichen Ideenwelt Krankheit und Gesundheit vor allem ontologisch-qualitativ aber auch gradualistisch begriffen und bewertet. Das Individuum war entweder »krank« durch ein Ungleichgewicht der Säfte oder – bei bestehendem Gleichgewicht – »gesund«. Insbesondere die quantitative Betrachtungsweise mit »Normalwertkonzeptionen« brachte dann stark nominalistische Gesichtspunkte auf Krankheit und Gesundheit hervor. Während Krankheiten im ontologischen Verständnis, wie es beispielsweise auch Thomas Sydenham (1624-1689) prominent propagierte, konsistente, unveränderliche natürliche Einheiten bilden, die die Natur hervorgebracht hat, gehen nominalistische Theorien davon aus, dass Krankheit und Gesundheit multifaktoriell determiniert und interindividuell unterschiedlich kontextuell interpretiert werden müssen.6 Hierbei stellt sich das Problem, dass klinische, das heißt, vom Arzt am Krankenbett beobachtbare und zusammenfassbare Entitäten als nominalistisch begriffen werden können, während die dahinter liegenden Erklärungsmodelle wieder auf ontologische Entitäten rekurrieren können – und umgekehrt in historischer Perspektive das klinisch Beobachtbare als Konstante und das Erklärungsmodell als kulturell determiniert erschei-

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Für die Unterscheidung und Ordnung dieser konkurrierenden Ansätze gibt es in der Forschungsliteratur weit mehr Bezeichnungen als die Trennung von ontologisch und nominalistisch. Andere Dichotomien sind »realistisch« und »konstruktivistisch« oder »reduktionistisch« und »subjektivistisch« etc. vgl. die Übersicht und kritische Diskussion von Bjorn Hofman (2001). Für eine kurze Übersicht siehe Cohen (1953). Zur Kontextualität von Krankheit siehe u.a. auch Cutter (2003). Sydenham versuchte, ganz im Gegensatz zur Qualitätenlehre in der hippokratischen Medizin Krankheitsspezies als substantielle Formen auszumachen, weshalb Pagel (1974) auch seinen Ehrentitel »Englischer Hippokrates« in Frage stellt. 55

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nen kann.7 Die Geschichte der Hygiene als Weg zur Gesunderhaltung weiter Bevölkerungskreise weist hier für das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert beispielsweise parallel existierende Gesundheitskonzepte auf, die nominalistische und ontologische Perspektiven je nach Blick auf die klinische Erscheinung oder die zugehörige Theorie vereinen. Diese reichen von der eher nominalistischen Bodenhygiene Pettenkofers über die eher ontologische Bakteriologie oder die nominalistische Sozial- und Konstitutionshygiene bis hin zur ontologisch orientierten Rassenhygiene (vgl. Labisch 1992). Während jedes dieser Konzepte seine Hochkonjunktur erlebte und Max von Pettenkofers Bodentheorie dabei als erste obsolet erschien, so zeigt doch gerade Pettenkofers Beispiel das stetige Wiederaufleben und den dauerhaften Disput um die Deutungshoheit im Bereich der Hygiene (vgl. Howard-Jones 1973). Die Hygiene deutet auch auf ein weiteres Prinzip von Krankheitsund Gesundheitskonzepten hin. Neben ihrer Charakterisierung als ontologisch oder nominalistisch lassen sie sich in historischer Perspektive auch einordnen in auf das Individuum bezogene Vorstellungen einerseits, andererseits auf Modelle, die eine Gruppe von Personen, ein Kollektiv ins Auge fassen. Wenn also Hygienevorstellungen, wie in der Einleitung angedeutet, religiös geprägt sein können oder eben medizinischweltlich begriffen werden, und Krankheits- und Gesundheitskonzepte Individuen oder Kollektive in den Blick nehmen, so ergibt sich das Feld, in das sich in diachroner Betrachtungsweise die meisten Theorien einpassen lassen. Sie sind entweder supranaturalistisch (z.B. iatrotheologische Konzepte) oder naturalistisch (z.B. iatromechanische Ansätze) und gleichzeitig auf Individuen (z.B. Auftreten einer heiligen Krankheit, allopathische Medizin etc.) oder Gemeinschaften (z.B. Krankheit als Folge von Tabubrüchen, Sozialhygiene etc.) bezogen (vgl. auch Turner 2000: 11). Auch hier hat insbesondere der quantitative Blick auf Krankheit und Gesundheit die scheinbar klare Grenzziehung aufgeweicht, indem er individuelle Krankheit bzw. Gesundheit nur noch im Spiegel des Kollektivs interpretierbar erscheinen ließ.

Von qualitativen zu quantitativen Ansätzen Den Durchbruch einer statistischen Betrachtungsweise von Krankheit und Gesundheit auch innerhalb des Individuums leiteten die Arbeiten von Pierre Charles Alexandre Louis (1787-1872) ein, die dieser ab 1825

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Die Unterscheidung von »clinical entities« und »disease entities« stammt von Lester King (1982).

KONZEPTE VON GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

zur Tuberkulose und zum Typhus veröffentlichte.8 Auf der Grundlage der Überlegungen des französischen Mathematikers Pierre-Simon Laplace (1749-1827), der überzeugt davon war, daß sich die Wahrscheinlichkeitstheorie auf alle Bereiche menschlichen Wissens übertragen ließe und der sie in seinem Werk über die »Théorie analytique des probabilités« von 1812 unter anderem auch auf Fragen der Lebenserwartung und Mortalität anwandte,9 schuf Louis seine »numerische Methode«. Unter der Prämisse, wissenschaftliche Erkenntnisse über Krankheiten nicht durch philosophische Betrachtungen oder das Festhalten an klassischen Systemen und Theorien gewinnen zu können, sondern nur durch Beobachtungen und ihre statistische Erfassung, bemühte er sich darum, systematisch so viele krankheitsbezogene Merkmale wie möglich in einer Vielzahl von Patienten zu erfassen. Auf diese Weise hoffte er, durch Korrelationen Rückschlüsse auf Symptome, Prognosen und auch Therapien gewinnen zu können (Underwood 1951).10 Etwa gleichzeitig wandte der Belgier Lambert Adolphe Jacques Quetelet (1796-1874) statistische Methoden für die Erfassung und Untersuchung von Gesellschaften an (vgl. u.a. Freudenthal 1975; Sheynin 1986). Explizit versuchte er mit Hilfe der Statistik, die Gesetze zu ergründen, denen die biologischen und moralischen Äußerungen individuellen und sozialen Lebens folgen. Dabei bemühte er sich, aus möglichst hohen Fallzahlen den »Durchschnitt« für untersuchte Merkmale zu ermitteln, um so eine Annäherung an das »Normale«, Gesetzmäßige zu erhalten. In dieser Tradition stand auch das 1865 erstmals erschienene, in der Ausgabe von 1875 bereits fast eintausend Seiten umfassende »Handbuch der medicinischen Statistik« von Friedrich Oesterlen (1865). Um 1900 erlangte die Medizinalstatistik einen Höhepunkt ihrer Popularität, der sich insbesondere in der Gründung statistischer Büros und zahllosen Ausstellungen zum Thema manifestierte (vgl. Nikolow 2001). Der Initiator der großen Hygiene-Ausstellung im Jahr 1903 in Dresden, der Industrielle Karl August Lingner (1861–1915) bemerkte in Bezug auf die Wahrnehmung von Gesundheits- und Krankheitskonzepten in 8

Statistische, Gruppen in den Blick nehmende Methoden wurden im hygienisch-medizinischen Kontext zunächst im Rahmen der Medizinalstatistiken angewandt, beginnend etwa bei Graunts »Bills of Mortality« (1662) und der Tradition der »Sterbetafeln« oder der statistischen Erhebungen im Rahmen der Konstituierung einer »medicinischen Policey«. Zielrichtung dieser Bestrebungen waren Aufklärung und Überwachung der Bevölkerung, Verbesserung der hygienischen Situation insbesondere in den Städten sowie Prophylaxe gegenüber Epidemien. 9 Zu Laplace siehe vor allem Gillispie et al. (2000). 10 Zu einer kurzen und übersichtlichen Darstellung der statistischen Methode in der Medizin im weiteren Verlauf siehe z.B. Chen (2003). 57

HEINER FANGERAU/MICHAEL MARTIN

der Öffentlichkeit und ihre Nutzbarmachung für die Werbung sogar, dass der Bevölkerung nur »alles mathematisch und handgreiflich bis ins Kleinste bewiesen« werden müsse. So würde sie voller Überzeugung auch »bei der Durchführung gesundheitspflegerischer Maßnahmen selbst tatkräftig mitwirken« (Lingner 1904: 533). Während in der medizinischen Hygiene die statistische Erhebung zu einem zentralen Verfahren wurde, war die Akzeptanz quantitativer Methoden unter den Klinikern zunächst eher gering. Man verwies insbesondere auf die Individualität von Patient und Krankheitsverlauf und die ärztliche Kunst, diese zu interpretieren. Bereits bei einem Kongress der Pariser Académie Royale de Médecine im Jahre 1835 formierte sich eine Opposition gegen die von Louis propagierte medizinische Statistik. Man argumentierte, dass durch Gruppenvergleiche die Patienten ihre Individualität verlören und dass eine Wahrscheinlichkeit bei der Behandlung eines einzelnen Patienten keine Sicherheit bieten könne. Der Pariser Kliniker Armand Trousseau (1801-1867) schrieb in der Einleitung zu seinem Werk ›Clinique médicale de l'Hôtel-Dieu de Paris‹: »Diese Methode ist die Geißel der Intelligenz [...] sie degradiert den Arzt zum Buchhalter« (zitiert nach Weiß 2005: 7); und Risuendo d'Amador bezeichnete auf eben dieser Veranstaltung die Einführung von Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung in die Therapie als unwissenschaftlich. Würde sie zur Basis der Medizin, wäre diese nicht mehr lange eine Kunst sondern bekäme den »Charakter einer Lotterie« (Porter 1986: 158f.). Unterstützung bekamen die Kritiker statistischer Methoden in der Medizin zur Mitte des 19. Jahrhunderts seitens der Vertreter der sich formierenden experimentellen Physiologie. So wandte sich etwa Emil Du Bois-Reymond (1818-1896) gegen Tabellen und forderte eine deterministische Herangehensweise (Lohff 1981). Und auch Claude Bernard (1813-1878) stand der Erhebung statistischer Werte ablehnend gegenüber (Schiller 1963). Diese lenkten die Aufmerksamkeit von den präzisen Ursachen der jeweiligen Erkrankung ab und ersetzten sie unter der Maxime der »Wahrscheinlichkeit« durch »Näherungswerte«. Nach Bernard konnte der Arzt seine Patienten zwar »mit Mitteln«, aber nicht »im Mittel« behandeln. Die »Berechnung von Mittelwerten und die Verwendung von Statistiken« führen »in der Physiologie und Medizin sozusagen immer zum Irrtum«. Die zugrunde liegenden Vorgänge sind viel zu komplex und können daher nicht genügend definiert werden, um vergleichbar zu sein. Mittelwerte »täuschen meistens nur eine Genauigkeit der Resultate vor« und die spezifischen Eigenarten der physiologischen Vorgänge »verschwinden im Mittelwert«. Entsprechend hielt er den häufigen Gebrauch von chemischen Mittelwerten für »physiologi58

KONZEPTE VON GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

scher Unsinn«, der zu den größten Absonderlichkeiten geführt hätte: »Wenn man den Harn eines Menschen während 24 Stunden sammelt und alle einzelnen Portionen mischt, um eine Analyse des Durchschnittsharns zu erhalten, so findet man gewisse Werte eines Harnes, den es gar nicht gibt, denn der Nüchternharn unterscheidet sich von dem während der Verdauung, und diese Unterschiede verschwinden in der Mischung. Den Höhepunkt dieser Art erreichte ein Physiologe, der den Harn aus einem Abort eines Bahnhofs sammelte, wo Leute aller Nationen reisten, und glaubte, so eine Analyse des europäischen Durchschnitts-Harns geben zu können!« (Bernard 1961: 192). Insbesondere zielte Bernards Kritik auf die statistische Erhebung bezüglich ärztlicher Therapiemaßnahmen ab. Statistik könne einen Hinweis darauf geben, ob eine Krankheit gefährlicher als eine andere sei. Man kann seinem Patienten mitteilen, dass von hundert Fällen, die seinem ähnlich seien, achtzig geheilt wurden, aber das wird ihn nicht beruhigen. Was er wissen will ist, ob er zu denen zählt, die geheilt werden (Bernard 1947: 67). Grundlegend führt Bernard zur Statistik aus: »Zweifellos kann die Statistik die ärztliche Prognose leiten und in dieser Hinsicht ist sie nützlich. Ich lehne also die Anwendung der Statistik in der Medizin nicht ab, aber ich tadle es, wenn man versucht, ihre Grenzen zu überschreiten, und glaubt, dass die Statistik als Grundlage der wissenschaftlichen Medizin dienen kann; diese falschen Auffassungen treiben gewisse Ärzte dazu zu glauben, die Medizin könne nur bis zu Mutmaßungen kommen, und sie folgern, der Arzt sei ein Künstler, der den Interdeterminismus des einzelnen Falles durch seine Genialität, sein ärztliches Feingefühl ersetzen müsse.« (Bernard 1961: 198)

Bernards Hauptpunkt war nicht, wie ein Kollege argwöhnte, dass die Statistik den Menschen ihre Individualität raube, und er stimmte auch nicht mit Cruveilhier (1791-1874) überein, der generalisierende Aussagen in der Therapie für unmöglich hielt, da in der Medizin nur Individuen gelten. Sein Ziel war es vielmehr, über kontrollierte Experimente allgemeine Gesetze über vitale Phänomene aufstellen zu können, die deterministisch und ohne Ausnahme gültig sind. Die numerische Methode liefere nur Wahrscheinlichkeiten, wohingegen das Ziel einer wissenschaftlichen Medizin einzig Gewissheit heißen könne. Diese könne nur auf der Basis von Experiment, Messung (quantitativer Bestimmung) und »mathematischer Auswertung« der Vorgänge ermittelt werden. Der Status der Medizin als »Wissenschaft der Mutmaßung«, wie er durch statistische Methoden manifestiert wird, kann nur überwunden werden durch ihre Begründung auf dem »experimentellen Determinismus«. 59

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Dies bedeutete für Bernard aber nicht, dass es auch einen dichotomischen Unterschied zwischen normalen und pathologischen Funktionen geben könnte. Deterministisch gültige vitale Phänomene führten nicht zu einer natürlichen Existenz von Krankheitsentitäten. Vielmehr handele es sich bei Krankheiten um übertriebene, zu schwache oder aufgehobene physiologische Funktionen bzw. Reaktionen. Danach sind die »pathologischen Phänomene identisch mit den entsprechenden normalen Phänomenen und nur quantitativ von ihnen abweichend« (Canguilhem 1977: 16). Wenn aber zwischen Krankheit und Gesundheit nur ein gradueller Unterschied konstatiert wird, dann verlangt dieses Konzept die Möglichkeit der Verortung eines je spezifischen Zustandes. Diesbezüglich ist eine Handzeichnung von Bernard überliefert, in der er den kontinuierlichen Übergang von »santé« und »maladie« auf einer Skala von -60 bis +60 abbildet (Grmek 1964: 209; Büttner 1998).

Schluss Das in Bernards Skala aufscheinende Prinzip einer Kontinuität zwischen Normalem und Anormalen basiert auf den früheren Überlegungen von Broussais und Comte.11 Francois Joseph Victor Broussais (1772-1838) leugnete ein besonderes Wesen der Krankheit und verwarf einen »ontologischen« Gegensatz zwischen Krankheit und Gesundheit. Zwischen den beiden Zuständen bestehe kein prinzipieller, sondern nur ein quantitativer Unterschied. Da Auguste Comte (1798-1857) diese Anschauung teilte, ging er davon aus, über das quantitative Studium von Krankheiten den Unterschied zum Gesunden identifizieren zu können (vgl. Pickering 1993, S. 412). Jakob Henle (1809-1885) zuletzt definierte in seiner »Rationellen Pathologie« Krankheit entsprechend als »Abweichung vom normalen, typischen d.h. gesunden Lebensprocesse« (Henle 1846: 90). Die Einführung quantifizierender Verfahren ging entsprechend mit der problematischen Festlegung von Normalwerten einher. Der zentrale Grund für die beschriebene mangelnde Akzeptanz numerischer Methoden lag dabei darin, dass die diagnostische oder prognostische Verwendung quantitativer Untersuchungsergebnisse für den Arzt, der es seit der Antike allein mit der Interpretation qualitativer Befunde zu tun hatte, neu war und daher ein grundsätzliches Umdenken erforderte (Büttner 1997). Krankheit durfte nicht mehr als Gegen-Natur aufgefasst werden, die als qualitativ anderes dem Körper entgegentritt, sondern lediglich als 11 Zum Ursprung von Bernards Gedanken zu Gesundheit und Krankheit bei Broussais und Comte siehe Grmek (1964). Zum »Prinzip BroussaisComte« vgl. ausführlich auch Link (2006). 60

KONZEPTE VON GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

von der Norm abweichende Form der Lebenserscheinung. Sie durfte nicht mehr als Zustand, sondern nur als ein sich unablässig verändernder Prozess verstanden werden. Diese Prozesshaftigkeit bewegt sich zwischen den Polen des Normalen und des Pathologischen, woraus sich wiederum die doppelte Problematik ergibt, dass zum einen eine Kontinuität zwischen diesen beiden Zuständen überhaupt erst einmal akzeptiert wird und es andererseits festgelegter Normwerte bedarf, um überhaupt sinnvoll messen zu können. Daher wurden jetzt zur Analyse Vergleichs- bzw. Normalwerte unabdingbar, um den Umschlag vom »Normalen« zum »Pathologischen« verifizieren zu können (Canguilhem 1977). Nicht zuletzt bedurfte es einer Verknüpfung von erhaltenen Messwerten mit einem klinischen Krankheitsbild, was erst durch die Neukonzeptionierung des Krankheitsbegriffs im Laufe des 19. Jahrhunderts ermöglicht wurde, die das ontologische Krankheitsverständnis ablöste und durch einen graduellen Übergang von Gesundheit zu Krankheit ersetzte. Einst klare biologische Einheiten waren damit zu wertbeladenen12, weil am Normbegriff orientierten Elementen eines Krankheitsmodells geworden, in dem ebenfalls jeweils neu zu definieren war, welche Elemente überhaupt zur Definition des Normalen bzw. Pathologischen herangezogen werden sollten. Gerade dieses Problem verschärft die Unsicherheit darüber, was als gesund angesehen werden kann, denn mit der Normalwertorientierung bestimmen z.B. auch demographische Entwicklungen, Messsysteme und Messinstrumente den Einsatzbereich der Medizin. Durch die Wahl der Messgrößen kann ihr Gegenstandbereich im Sinne einer Medikalisierung erweitert, aber auch im Sinne einer Demedikalisierung begrenzt werden. Beispiele hierfür stellen Konzepte wie 12 Über die Frage, inwieweit Krankheitskonzepte wertbeladen sind und ob der statistische Normalwert überhaupt Werte transportiert, wird mehr oder weniger heftig gestritten. Während die eine Gruppe von Autoren davon spricht, dass jede Form von Krankheitszuschreibung normativ ist, widersetzt sich eine andere Gruppe dieser Vorstellung. Diese Autoren argumentieren zum Beispiel evolutionär und betonen, dass die Bezeichnung »krank« für Defekte von im Laufe der Evolution optimal an die Bedingungen angepassten Organen und Körperteilen unabhängig von jeglichen Wertzuschreibungen erfolge. Die erstgenannte Gruppe der »Normativisten« hingegen hält jede Krankheitskonzeption für wertbeladen. Dies könne bedeuten, dass die Definition eines Zustands als Krankheit in einer Gesellschaft positiv belegt sei, wenn sie Leiden anerkennt (z.B. chronischer Rückenschmerz) und negativ konnotiert sei, wenn sie der Ausgrenzung diene (z.B. Homosexualität als Krankheit). Auf diese Weise könnten Gesellschaften bewusst Krankheitsdefinitionen im Sinne von Machtdiskursen steuern. Zur Debatte zwischen Normativisten und Nicht-Normativisten siehe die Übersicht von Caplan (1997). 61

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die der Adipositas mit der Messgröße des Body Mass Index, die Diskussionen um Cholesterinwerte im Blut oder die Debatten um Bluthochdruck dar. Die Rekonzeption von Normalwerten zu Idealwerten schließlich ergänzt eine weitere normative Schicht am Rande des Spektrums, die beinahe einer Rückbesinnung auf ontologische Krankheitsentitäten nahekommt, legt sie doch nahe, dass Gesundheit die Feinjustierung physiologischer Prozesse oder anatomischer Größen auf ein Optimum und nicht ein Mittel bedeute. Bernards Auffassung von deterministischen physiologischen Phänomenen und deren Skalierbarkeit nach übertriebenen, zu schwachen oder aufgehobenen physiologischen Funktionen13 kommt dabei ein neues Gewicht zu, legt sie doch die Existenz eines physiologischen Optimums nahe. Problematisch erscheint dabei, dass der Unterschied zwischen dem Befinden bzw. der Befindlichkeit eines Menschen und dem medizinischen Befund zwar anerkannt wird, dass der Befund aber, wenn er einmal erhoben wurde, der medizinischen Logik folgend eine medikale Handlung nach sich zieht, die unabhängig vom Befinden zu erfolgen hat. Das Menetekel des Befundes, der erst später das Befinden beeinträchtigt, entgrenzt somit Gesundheits- und Krankheitskonzepte. Entzeitlichung, Ausweitung des diagnostischen und therapeutischen Beeinflussungsrahmens sowie die Orientierung zum physiologischen Optimum scheinen der Preis für gradualistische Krankheitskonzepte zu sein, die sich sowohl in der antiken Lehre von der Optimierung des Säftegleichgewichts als auch in heutigen Ansätzen einer Einstellung des physiologischen Optimums finden lassen. An diesem Punkt erweitert sich das Spannungsfeld zwischen Befinden und Befund um eine kulturelle bzw. eine (sozial-)historische Dimension, die analysiert und interpretiert werden muss, um die normativen Setzungen in der Definition des physiologischen Optimums zu fassen. Diese historische Dimension scheint ein Merkmal gradualistischer Krankheitskonzeptionen darzustellen; bezieht man diese Historizität in Überlegungen über das Normale und das Pathologische mit ein, könnten Entgrenzungsexzesse in beide Richtungen über ihre Kontextualisierung relativiert werden.

13 »Pour lui, la maladie correspond à une function normale dont elle n´est qu´une expression exagérée, amoindrie ou annulée« (Grmek 1964: 211). Zur Kritik an der Gleichsetzung von physiologischem Ideal und medizinischem Normalwert durch Philosophen wie Canguilhem siehe z.B. Mary Tyles (1993). 62

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Enhancement vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte von Gesundheit und Krankheit CHRISTIAN LENK

1. Einführung Hinter der ethischen und sozialwissenschaftlichen Debatte um verbessernde (in Abgrenzung zu therapeutischen) Eingriffe am Menschen stehen nicht zuletzt divergierende Auffassungen von der Reichweite von Konzepten von Gesundheit und Krankheit. Dies hängt einmal damit zusammen, dass Therapie und Enhancement1 definitorisch an Begriffe von Gesundheit und Krankheit gebunden sind. Weiterhin ist aber auch von Bedeutung, dass holistische Konzepte von Gesundheit einen weitaus größeren Bereich menschlichen Erlebens und Handelns für gesundheitsrelevant erachten und damit weit mehr Spielraum für eine »Verbesserung« des Menschen bieten. In diesem Beitrag werden die drei einflussreichsten Konzepte von Gesundheit und Krankheit (Gesundheit als Wohlbefinden, Gesundheit in Relation zur natürlichen und sozialen Umwelt sowie Gesundheit als normales Funktionieren) mit ihren Implikationen auf den Bereich des Enhancement untersucht und einige Folgerungen für die normative Debatte gezogen. Weiterhin ist zu beachten, dass die Genese von Krankheitskonstrukten häufig interessensgeleitet ist. Damit entsteht auch die Frage, im Kontext welcher Interessen ver-

1

Der Begriff des Enhancement wird im weiteren Text verwandt für »verbessernde« Eingriffe, die über die Behandlung von Krankheit sowie die Wiederherstellung oder Prävention von Gesundheit hinausgehen. 67

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bessernde‹, nicht-therapeutische Eingriffe am Menschen einzuordnen sind.

2. Drei grundlegende Aspekte von Gesundheit und Krankheit Wie ich bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe, kann man von drei grundlegenden »Aspekten« oder auch Elementen von Gesundheit und Krankheit ausgehen: dem objektiven, subjektiven und relationalen Aspekt (Lenk 2002: 36 ff.). Der objektive Aspekt beschreibt dabei die naturwissenschaftlich-medizinische Zugangsweise, der subjektive Aspekt die individuelle Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit und der relationale Aspekt das Phänomen, dass Beschreibungen von Gesundheit und Krankheit relativ zu einer sozialen oder biologischen Umwelt sind. Mit dieser Dreiteilung soll es dem Anspruch nach gelingen, die wichtigsten Ansätze zur Beschreibung von Gesundheit und Krankheit in einem Koordinatensystem unterzubringen. Dabei besteht eine grundsätzliche Kompatibilität zu vergleichbaren Ansätzen wie etwa dem bio-psycho-sozialen Modell. Das von mir vorgeschlagene Modell setzt allerdings einen etwas deutlicheren Akzent auf wissenschaftstheoretische Überlegungen als auf praktisch-therapeutische Erfordernisse.

Wie ist das Vorliegen von drei verschiedenen Aspekten von Gesundheit und Krankheit zu interpretieren? Die Existenz von drei unterschiedlichen Zugangsweisen zu Gesundheit und Krankheit ist in jedem Fall ein bemerkenswertes Phänomen. Dabei ist der subjektive Aspekt von Gesundheit und Krankheit der primäre, der jedem Menschen sozusagen von Geburt an mitgegeben ist. Jeder Mensch kann eine Aussage darüber treffen, »wie es ihm geht«, wie sein Gesundheitszustand ist. Und dieser Zugang zur eigenen Gesundheit ist exklusiv, d.h. das Individuum ist zugleich die einzige Instanz, die darüber letztgültig Aussagen treffen kann. Der objektive Aspekt von Krankheit und Gesundheit muss demgegenüber als theoretischer Zugang erst konstituiert werden, wie etwa die Argumentation von Boorse in Health as a Theoretical Concept (1977: 556 ff.) zeigt. Die Normalität z.B. der anatomischen Strukturen des Menschen, die Herausbildung von »Idealtypen«, wie sie in den anatomischen Atlanten gezeigt werden, ist ein historischer Prozess, der zum jeweiligen Wissen einer Epoche korreliert. Dieser Prozess kann in einigen Bereichen zu einem Abschluss gelangen (es gibt z.B. keine unterschied68

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lichen Ansichten mehr über Größe, Lage und Funktion der inneren Organe, wie noch in der mittelalterlichen Medizin), während er in anderen Bereichen noch im Fluss ist. So gibt es auch aktuell noch sich verändernde Einschätzungen, z.B. welche Blutdruck-, Blutzucker- und Cholesterinwerte als physiologische Norm definiert werden sollen. Die Festlegung solcher Norm- oder Idealwerte folgt nicht der primären Wahrnehmung oder der Selbsteinschätzung des Patienten wie bei der subjektiven Gesundheit, sondern ist ein wissenschaftlicher Prozess, der auf der einen Seite von empirischen Daten und Fakten, auf der anderen Seite aber auch von Interessengruppen beeinflusst wird. Unter den Bedingungen des wissenschaftlichen Fortschritts, aber auch des allgemeinen Zugangs zu medizinischen Leistungen bedeutet die Ausweitung objektivierender Krankheitszuschreibungen (z.B. für Hypertonie, Adipositas, Demenz, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom u.v.a.) die Zunahme der Zahl zu behandelnder Patienten und damit das Wachstum der Krankenversorgung. Der relationale Aspekt verweist schließlich auf ein weiteres eigenartiges Phänomen: die historische und soziale Determiniertheit einer Anzahl von Krankheitsentitäten. So kann es in einer Gesellschaft, die über keine Schriftsprache verfügt, eben auch keine Legastheniker geben. Kurzsichtigkeit ist normaler Weise eine Behinderung, kann für Handwerker und Schriftgelehrte jedoch auch einen Vorteil darstellen. Den so genannten Naturvölkern (um diesen ambivalenten Ausdruck zu wählen, der im Rousseauschen Sinne auch positiv verstanden werden kann) sind aufgrund ihrer Lebensweise Krankheiten wie Hypertonie, Adipositas sowie das sogenannte »metabolische Syndrom« insgesamt schlichtweg unbekannt. Der relationale Aspekt zeigt ein Verwobensein von Gesundheit, Krankheit und Lebensweise, von Individuum und sozialer oder biologischer Umwelt. Was in der einen Gesellschaft als Risikofaktor und zu behandelndes Gesundheitsproblem gilt, wird in einem anderen sozialen Umfeld als besonderer Vorzug geschätzt. Bereits am Anfang der abendländischen (systematischen) Medizin steht bei Hippokrates die Debatte, ob die Epilepsie eine heilige Krankheit darstellt – oder eine Krankheit wie alle anderen auch, die mit naturwissenschaftlichen Methoden beschrieben und geheilt werden kann. Die Suche nach dem genuinen Charakter von »Krankheit« ist, wenn man so will, also bereits so alt wie die Beschäftigung mit Krankheit, die einem systematischen Anspruch folgt.

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3. Gesundheit als Wohlbefinden Der politisch-utopische Begriff von Gesundheit als Wohlbefinden »Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity. (World Health Organization 1948)

Den Prototyp eines normativen und politisch-utopisch aufgeladenen Konzeptes von Gesundheit lieferte im Sinne einer Leitvorstellung für die eigene Arbeit die Weltgesundheitsorganisation 1948 in der Präambel zu ihrer Verfassung. Darin steckt nicht nur die konstitutive Dreiteilung der Gesundheit, die auch in vorliegendem Artikel thematisiert wird (»physisches, mentales und soziales Wohlbefinden«), sondern in dem Begriff des Wohlbefindens auch eine weitreichende Weichenstellung für die Frage nach der Instanz, die Gesundheit und Krankheit beurteilen soll. Allen Bemühungen der modernen Schulmedizin zur Objektivierung von Krankheitsprozessen zum Trotz wird in der WHO-Definition nicht von zu definierenden Krankheitsentitäten, sondern schlicht vom »Wohlbefinden« gesprochen, also die Perspektive des gesunden oder kranken Menschen eingenommen. Das Wohlbefinden ist aber notwendiger Weise etwas Subjektives, und dem Individuum wird damit zugleich die Berechtigung zugesprochen, in letzter Instanz selbst zu beurteilen, ob es sich als »gesund« im genannten Sinn empfindet. Als Adressaten einer so gefassten Definition von Gesundheit kommen nicht etwa die einzelnen Ärzte, sondern vielmehr die Staaten und Grundstrukturen der Gesundheitsversorgung in Frage. Laut Definition ist es ungenügend, eine reine Krankheitsbehandlung durchzuführen, sondern der Anspruch der modernen Gesundheitsversorgung muss weiter gehen, muss auf das vollständige Wohlbefinden der Bürger abzielen. Doch eine derart umfassende Zielsetzung kann auch kritische Gegenfragen provozieren: Wer ist gesund, wenn Gesundheit in einem derart starken Sinn definiert wird? Wird hier nicht mehr versprochen, als die moderne Medizin im Besonderen und der Wohlfahrtsstaat im Allgemeinen zu leisten in der Lage sind? Und schließlich: wenn eine solche Definition von Gesundheit den Doppelcharakter einer Beschreibung von Gesundheit einerseits und eines sozialen Grundrechtes andererseits trägt, wie kann ein solches Grundrecht realisiert werden? Was aber aus fundamentalen Gründen gar nicht realisiert werden kann, kann damit auch kein soziales Grundrecht im engeren Sinne sein, denn ein Recht muss auch in der Realität durchgesetzt werden können.

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Gesundheit als ein soziales Recht Es besteht gerade im politischen Kontext (in Abgrenzung von einer biologisch-objektivistischen Definition der Gesundheit) ein deutlich normativer Gebrauch des Gesundheitsbegriffes, der wiederum zwei Komponenten hat. Gesundheit kann einmal als ein »Gut« verstanden werden, in dem Sinne, dass der gesunde Körper vom Einzelnen oder von der Gesellschaft dem kranken Körper vorgezogen wird.2 Eine solche Konnotation ist nicht selbstverständlich im wissenschaftlichen Sinne, sondern sie ist normativ-wertend, auch wenn sie lebensweltlich-pragmatisch zumeist nicht hinterfragt wird. Ihre Normativität kommt allerdings dann klar zum Vorschein, wenn Entscheidungen darüber getroffen werden (wie z.B. in der pränatalen oder Präimplantationsdiagnostik), ob der gesunde und der kranke Körper als gleichwertig (bzw. gleichberechtigt) gelten sollen. Die zweite normative Komponente besteht in dem Grundrechtscharakter der Gesundheits-Versorgung, dass also, zumindest in der europäischen Tradition, Gesundheit nicht als ein pures Faktum genommen wird, sondern dass jedem Individuum ein moralischer oder rechtlicher Anspruch zugebilligt wird, Gesundheit zu erreichen. So lautet etwa Artikel (12) des International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights der Vereinten Nationen: The States Parties to the present Covenant recognize the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health. (United Nations 1966)

Aus diesem Recht auf Gesundheit werden dann wiederum konkrete einzelne Schritte abgeleitet, wie etwa ein allgemeiner Zugang zur Gesundheitsversorgung. Ein solcher Begriff von Gesundheit ist also nicht empirisch-beschreibend, sondern normativ-begründend, mit dem Begriff der Gesundheit werden konkrete Vorstellungen verbunden, aus denen sich gesellschaftliche Handlungsanforderungen ergeben. Ein solcher politisch-normativer Gesundheitsbegriff ist dualistisch im Sinne der Rawlsschen Grundgüter, die auch auf der einen Seite als ein »Gut« definiert werden (durchaus auch im materialistischen Sinn), die aber auch Rechtscharakter tragen können im Sinne eines Anspruchsrechtes auf einen bestimmten Zustand (wie Chancengleichheit) oder eine bestimmte Ressource. Aus diesem Dualismus folgt einerseits, dass die verschiedenen Komponenten des Gesundheitsbegriffes in der wissenschaftlichen

2

Vgl. z.B. den Aufsatz von Schramme (2002). 71

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Auseinandersetzung möglichst getrennt werden sollten, aber auch, dass aus dem normativen Charakter der Gesundheit noch lange nicht folgen muss, dass alle Gesellschaften daraus dieselben Konsequenzen ziehen. Offensichtlich bedarf es noch weiterer Rahmenbedingungen, um allen Bürgern einen allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung zuzugestehen. So gibt es liberale Demokratien wie die USA, in denen die Forderung nach dem allgemeinen Zugang zu Gesundheitsleistungen nach wie vor kontrovers diskutiert wird.

Handhabbarmachung subjektiven Wohlbefindens im sozialempirischen Kontext Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden sind in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Kontexten auch als eine Art Korrektiv in die empirische Sozialforschung eingegangen. Wie etwa Musschenga argumentiert hat, spielt Lebensqualität eine Rolle, um die ursprüngliche »Tonnenideologie« bei der Evaluation des Lebensstandards zu überwinden (Musschenga 1997), die ihre Hochzeit in den 1960er Jahren in der Konfrontation der politischen Blöcke erreicht hatte. Forschung zu Lebensqualität und subjektivem Wohlbefinden dient hier letztlich dazu, die Zweck-Mittel-Relation wiederherzustellen. Es sind nicht die Produktivität, das Bruttosozialprodukt und das Pro-Kopf-Einkommen als solche, die die gesellschaftliche Wohlfahrt ausmachen. In Frage steht vielmehr, wie sich das Vorhandensein dieser Größen auf Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden auswirken. Demnach sind Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden die entscheidenden Zielgrößen gesellschaftspolitischer Einflussnahme und nicht die materiellen Ergebnisse des Produktionsprozesses als solches. Der Übergang zu medizinischen Fragestellungen ist demgegenüber sozusagen nur ein Abkömmling von dieser ursprünglichen Stoßrichtung der Debatte. In der Medizin spielen Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden insbesondere in zwei Bereichen eine wichtige Rolle: zum einen in der Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie, zum anderen in der Onkologie und Palliativmedizin. In den ersten Bereichen geht es notwendigerweise um die Dokumentation der eigenen gesundheitlichen Wahrnehmung des Patienten, in dem zweiten Bereich wie in der ursprünglichen Diskussion zur Lebensqualität um eine Relativierung der sonst in der Medizin maßgeblichen Zielgrößen wie Morbidität, Mortalität und verbleibende Lebensdauer. Es ist nicht nur die Quantität der verbleibenden Lebensjahre von Bedeutung (die sogenannten »harten« Parameter klinischer Studien), sondern auch die für den Patienten nicht unwesentliche Frage, mit welcher Lebensqualität er diese verbleibende 72

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Zeit verbringen kann oder muss. Generell kann es aber auch zu einem Konflikt »harter« und »weicher« Gesundheitsparameter kommen, dass also die subjektive Wahrnehmung von Gesundheit nicht mit den objektiven Befunden übereinstimmt und es somit zu konfligierenden Einschätzungen kommt. In der Forschung zum subjektiven Wohlbefinden wird sogar generell von einem »Paradox des subjektiven Wohlbefindens« gesprochen, weil die Selbsteinschätzung der Lebensqualität regelmäßig besser ausfällt, als es ein externer Beobachter anhand der tatsächlichen Befunde erwarten würde (Staudinger 2000). Einen Fall, der auch für die Enhancement-Diskussion von besonderer Bedeutung ist, stellt die Selbsteinschätzung als »krank« ein, die im objektiven Befund nicht nachvollzogen werden kann, nach Vorstellung des Patienten aber gleichwohl medizinisch-therapeutisch behandelt werden sollte. Geht man von einem sehr weitgefassten Begriff wie dem der Weltgesundheitsorganisation aus, könnte tatsächlich das Missverständnis entstehen, es stünde in der Macht der Schulmedizin, diese Art des subjektiven Wohlbefindens herzustellen. De facto wird es sich dabei allerdings eher um eine Überforderung der Medizin oder um eine Medikalisierung sonstiger sozialer oder individueller Probleme handeln.

4. Gesundheit in sozialer und biologischer Relation Gesundheit und Krankheit sind Größen, die stark von der Umwelt geprägt werden. Beim Menschen kommt zu der natürlichen Umwelt die von ihm im Zivilisationsprozess geprägte künstliche Umwelt hinzu, die wiederum zur Ausprägung eigener Krankheitsformen führt. Auch die soziale Umwelt unterscheidet sich stark in unterschiedlichen Formen der Vergesellschaftung, was dazu führt, dass in der einen Gesellschaft Krankheiten ausgeprägt werden (z.B. die sogenannten Zivilisationskrankheiten, die durch Bewegungsmangel, Stress und erhöhte Kalorienzufuhr verursacht werden), die in anderen Gesellschaftsformen unbekannt sind. Doch es sind nicht nur solche direkten Einflüsse der natürlichen, artifiziellen und sozialen Umwelt, die das Phänomen der Krankheit beeinflussen, sondern auch solche, die auf einer konzeptionellen oder ideologischen Ebene liegen. So wurden in der Vergangenheit sowohl Masturbation wie auch Homosexualität als Krankheiten beschrieben, offensichtlich aufgrund einer Verquickung moralischer und medizinischer Wert- und Normvorstellungen. Inwieweit solche Verquickungen auch in der Gegenwart vermieden werden können, ist eine offene Frage. Heutige Krankheitsentitäten der 73

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Psychiatrie wie etwa ADHD (attention deficit/hyperactivity disorder, »Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung«) oder ODD (oppositional defiant disorder, »Störung mit oppositionellem Trotzverhalten«) verweisen ebenso auf gesellschaftlich unerwünschte Verhaltensweisen, die einer medizinischen Behandlung zugeführt werden.3 Dabei wird ein bestimmter Ausschnitt der natürlichen psychischen Ausprägungen von Verhaltensmerkmalen (also z.B. besonders ausgeprägtes oppositionelles, schüchternes, usw. Verhalten) einer Medikalisierung zugeführt. Im objektiven Sinn einer Dysfunktion des Organismus kommt einem solchen Verhalten jedoch keineswegs ein Krankheitswert zu. Würden wir in einer Gesellschaft leben, die Hyperaktivität und oppositionelles Verhalten präferiert und diesen Verhaltensweisen einen positiven Wert zuordnet, gäbe es auch die genannten Krankheitsentitäten nicht. Da wir aber offensichtlich in einer Gesellschaft leben, die Ruhe, Ordnung und nicht-oppositionelles Verhalten in Schule und Arbeitsleben schätzt, wird abweichendes Verhalten als Krankheit definiert und einer entsprechenden medikamentösen Behandlung zugeführt. Das gesellschaftliche Bewusstsein, dass es sich bei solchen Krankheitsentitäten um stark sozial geprägte Wahrnehmungen individueller Defizite handelt, ist allenfalls rudimentär ausgeprägt.

Gesundheit und Umwelt Der relationale Aspekt von Gesundheit und Krankheit beschreibt den physischen und psychischen Zustand im Verhältnis zur Umwelt, wie etwa in der Definition von Jozsef Kovács (1989): »The healthy form of the relationship between the body and its environment is characterized by a dynamic, steady state which can be maintained by the living being in spite of certain changes in the environment. This requires the quality of adaptation. Thus, as a primary approach, the more adaptable the body is to the environment, the longer it is able to exist. (Kovács 1989: 261)

Dieser Definition zugrunde liegt also die Vorstellung eines dynamischen Gleichgewichtszustandes des Organismus, welche es ermöglicht, sich wechselnden Umweltbedingungen adäquat anzupassen. Die Gesundheit bestimmt sich dementsprechend aus der Bandbreite unterschiedlicher Umweltbedingungen, die der Organismus noch in der Lage ist zu kompensieren. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht nicht uninteressant, wird dabei die Fähigkeit der »Anpassung« gewissermaßen konstituierend in

3 74

Vgl. zu ADHD den Beitrag von Karsch in diesem Band.

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die Theorie mit aufgenommen. »Anpassung« kann allerdings ganz unterschiedliche Dinge bedeuten, je nachdem, ob sich Organismen oder Individuen an die natürliche Umwelt oder an gesellschaftliche Anforderungen anpassen müssen.

Gesundheit und soziale und kulturelle Anforderungen Fraglich ist allerdings, inwiefern es zulässig ist, eine solche biologistische Definition von Gesundheit und Krankheit wie bei Kovács in den sozialen Bereich zu übertragen. Möglicherweise begeht man damit eine Art naturwissenschaftlichen Sein-Sollens-Fehlschluss, indem man aus einer Theorie, die in der biologischen Forschung zutreffende Ergebnisse liefern mag, Schlüsse zieht, die in der sozialwissenschaftlichen Theorie zu falschen Schlüssen führt. Immerhin ist es zutreffend, dass das Phänomen der »Anpassung« nicht nur im biologischen, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich anzutreffen ist. Dementsprechend hat es Kovács ebenso unternommen, seine zugrundeliegende Gesundheitsdefinition auf den Bereich des Sozialen anzuwenden: »It can be concluded that a society regards as healthy those people who are able to follow the purposes set by society with the appropriate physical and psychological advantage/disadvantage ratio. These purposes may be contrary to the ›purposes‹ of human nature (i.e., self- and race-preservation), but if they suit the scale of the values of society, the ability to adapt to these purposes will be considered healthy. Thus, the notion of health expresses how effectively the body and soul can be used as tools to realize certain ways of living, values, and standards desired by the given civilization. So the term ›health‹ expresses how it is possible to adapt to the desirable social states, and contribute to their realization with such states of the body and soul as are deemed desirable intrinsic values. (Kovács 1989: 264 f.)

Man sieht, dass in einer solchen Konzeption die kulturellen und sozialen Werte prinzipiell als autonom gegenüber den biologischen Zielen betrachtet werden können. Der Mensch ist frei, sich gegenüber den biologischen »Zielen«, wie der Reproduktion, auch kontraproduktiv zu verhalten (z.B. durch Maßnahmen der Geburtenverhütung). Das heißt allerdings noch lange nicht, dass er auch im sozialen Kontext so »frei« sein muss, um auch die ihm von der Gesellschaft auferlegten Ziele zu negieren.

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Gesellschaft und Krankheit (z.B. Krankheiten, die nur in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld anzutreffen sind) Hinsichtlich einer möglichen Verquickung medizinischer und gesellschaftlicher Normen, ob man also von einer objektiv zu konstitutierenden Krankheitsentität ausgehen kann, oder ob ein Zustand im wesentlichen gesellschaftlich unerwünscht ist und deshalb als »Krankheit« gilt, erweist sich die Diskussion einiger Beispiele als sinnvoll. Im Folgenden wird die Frage nach einer Abgrenzung zwischen objektiv-funktionalem und sozial-relationalem Krankheitskriterium deshalb exemplarisch untersucht. Dabei zeigt sich bei den anspruchsvolleren Beispielen, wie ich glaube, dass tatsächlich von einer sachlichen Vermengung verschiedener Kriterien auszugehen ist (dass also kein rein ideologisch geprägter Krankheitsbegriff vorliegt). Beginnen wir mit dem bereits erwähnten Beispiel der LeseSchreibschwäche oder Legasthenie. Das Interessante an diesem Beispiel ist die Offensichtlichkeit, dass jemand nur dann eine solche Behinderung haben kann, wenn er in einer Gesellschaft lebt, die die kulturellen Errungenschaften der Schrift und des Lesens kennt. In einer schriftlosen Gesellschaft kann es auch keine Legastheniker geben, diese Form der Behinderung ist dort unbekannt. Damit kann Legasthenie als gutes Beispiel für einen fundamentalen Zusammenhang gelten: Die sozialen Anforderungen oder Anforderungsprofile, die in verschiedenen Gesellschaften zum Tragen kommen, sind variabel. Ob eine Gruppe von Individuen gerade eine bestimmte Anforderung sehr gut oder nur mangelhaft erfüllen kann, ist im Wesentlichen dem (historischen, kulturellen) Zufall überlassen. Wenn eine Gruppe von Personen die spezifischen Aufgaben, die im Rahmen eines solchen Anforderungsprofiles anfallen, aufgrund physischer oder psychischer Umstände nicht bewältigen kann, gilt dies als »Behinderung«. Ob diese Behinderung als gravierend oder nicht gravierend betrachtet wird, hängt wiederum von der Bedeutung ab, die eine spezifische Anforderung in einer solchen Gesellschaft hat. Da dem Lesen und Schreiben in der heutigen Wissens- oder Informationsgesellschaft eine große Bedeutung zukommt, stellen Einschränkungen beim Erlernen dieser Tätigkeiten zugleich ein wichtiges Handicap für die Betroffenen dar. Verlässt man den Bereich der mentalen oder kognitiven Funktionen, so ist weiterhin das Beispiel der Kleinwüchsigkeit für Überlegungen zu Behinderung und der kulturell geprägten Umgebung aufschlussreich. Kleinwüchsige Menschen könnten häufig im Prinzip dieselben Tätigkeiten ausüben wie andere Menschen auch. Der Grund, warum sie in der 76

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Realität dazu häufig dennoch nicht in der Lage sind, hängt nicht mit einer eigentlichen funktionalen Einschränkung zusammen, sondern vielmehr damit, dass sämtliche Artefakte der kulturellen Umwelt auf Menschen von »normaler« Größe ausgelegt sind: Tische, Stühle, Regale in Supermärkten, Automaten, Fahrstühle, Vitrinen in Museen, etc. sind für Menschen innerhalb einer bestimmten Größenspanne ausgelegt. Auch hier ist die erfahrene Behinderung gewissermaßen sekundär: in einer ideal gestalteten Umwelt könnten kleinwüchsige Menschen in der Tat all den Tätigkeiten nachgehen, die auch normalwüchsige Menschen ausüben. Eine völlige Kompensierung der Kleinwüchsigkeit ist deshalb nicht möglich, weil die kleinwüchsigen Menschen bezogen auf die normalwüchsigen Menschen nur eine Minderheit darstellen (was nicht heißt, dass es nicht vielerlei Möglichkeiten gibt, kleinwüchsigen Menschen selbständige Aktivitäten in der Öffentlichkeit zu ermöglichen). Ein weiteres wichtiges Beispiel bietet die Adipositas, also die Frage, ab welcher Schwelle man Übergewicht einen Krankheitswert zuerkennt und warum das der Fall ist. Die gesellschaftliche Bewertung der Adipositas ist wechselhaft. Während z.B. schon Aristoteles Adipositas pejorativ mit einer mangelhaften Charakterausprägung verbindet, nämlich der Zügellosigkeit oder der Unfähigkeit, sich zu beherrschen (Nikomachische Ethik, Buch III, Abschnitt 13: 121 ff ), gibt es auch historische Phasen, in denen Übergewicht als Zeichen von Erotik (vgl. z.B. die Bilder von Peter Paul Rubens) bzw. Nachweis eines höheren sozialen Status dient. Betrachtet man diese starke normative Aufgeladenheit des Übergewichtes in die positive oder negative Richtung, wird klar, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Adipositas oder die heute definierte Vorform des »Präadipositas« als solche einen pathologischen Charakter besitzen. Vielmehr muss erst gezeigt werden, wie sich unterschiedliche Ausprägungsformen von Adipositas zu tatsächlichen medizinischen Risiken verhalten (Koronarerkrankungen, Diabetes, allgemeine Morbidität und Mortalität). Dies zeigt zugleich, dass für eine Objektivierung der Einstufung als Krankheitsentität die Orientierung an funktionalobjektiven Krankheitskriterien sehr hilfreich sein kann und gegebenenfalls eine Leitfunktion übernimmt (vgl. Lenk 2008).

5. Gesundheit als normales Funktionieren Wie bereits demonstriert, ergibt sich bei einem subjektiven und relationalen Ansatz von Gesundheit und Krankheit eine beträchtliche konzeptionelle Unschärfe. Der Leistungsfähigkeit dieser Ansätze, das subjektive Empfinden von Gesundheit zu beschreiben bzw. die Abhängigkeit 77

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von Krankheit und Gesundheit vom sozialen Umfeld zu erklären, steht damit im pragmatischen Sinne ein erheblicher Nachteil entgegen, nämlich zweifelsfrei feststellen zu können, ob der Körper tatsächlich in allen seinen Teilen (wenn man so will, ist dies schon eine entscheidende methodische Weichenstellung) gesund ist. Historisch betrachtet, führt dabei der entscheidende analytische Zugang über die Funktion des Körpers und seiner Organe, Zellen und Gewebe. Die maßgebliche wissenschaftstheoretische Position wurde dabei von Christopher Boorse in seinem klassischen Aufsatz mit dem Titel Health as a Theoretical Concept formuliert: »Clearly physiological function statements are about a trait’s standard contribution in some population or reference class, e.g. a species. A text may say that the function of the human lens is to focus light on the retina. This claim is not falsified by the existence of people with cataracts, or no lens at all. (Boorse 1977: 556)

Die Funktion eines Organs (z.B. die Tatsache, dass das Herz die Aufgabe hat, den Blutkreislauf aufrechtzuerhalten) wird dabei in Verbindung mit zu beschreibenden Zielen innerhalb und außerhalb des Organismus gesetzt. Es ist die »Aufgabe« der Linse des menschlichen Auges, das Licht auf der Netzhaut zu fokussieren. Der Aufbau des menschlichen Auges, die daran anschließenden Nervenbahnen usw. besitzen gewissermaßen eine ihnen immanente teleologische Struktur, die im Normalfall dazu führt, dass der Organismus ein Bild seiner Umwelt wahrnimmt. Anders gesagt, gibt es für verschiedene Organe, anatomische Strukturen usw. spezifische Kriterien, an welchen sich das Vorhandensein von Gesundheit bemisst. Ist das Herz in der Lage, den Körper mit Blut zu versorgen (und bewegt sich der arterielle Druck dabei in dem als »normal« definierten Bereich – um hier nur zwei der wesentlichsten Kriterien zu nennen), ist es gesund – andernfalls leidet die betroffene Person wohlmöglich unter einer Herzinsuffizienz. Zwar gibt es Organteile (wie etwa den Blinddarm), deren Funktion mehr oder weniger im Dunkeln liegt. Dies dürfte allerdings der Bedeutung der Funktion der anderen Organe für den Körper keinen Abbruch tun. Entscheidend für Boorses Argumentation ist jedenfalls, dass, sobald die Funktion eines Organs, von Zellen und Geweben identifiziert wurde, diese funktionale »Norm« nicht durch Abweichungen in der Realität entkräftet wird. Die getrübte Linse im Auge des Patienten wird dadurch nicht nur zu einer subjektiven Behinderung, sondern auch zu einer objektiven Abweichung von der funktionalen Norm.

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Selbstverständlich hat auch dieser Ansatz seine Schwächen. Sicherlich geht auch das Postulat Boorses, einen »naturalistischen« Ansatz formuliert zu haben, d.h. eine Theorie, die unabhängig von subjektiven Urteilen Gesundheit und Krankheit beschreibt, einen entscheidenden Schritt zu weit. So ergeben sich z.B. in unterschiedlichen Lebensphasen wie frühe Kindheit, Kindheit, Pubertät, Erwachsenenleben, Alter und hohes Alter unterschiedliche Funktionsprofile des menschlichen Körpers (so ist z.B. die Fortpflanzungsfähigkeit für beide Geschlechter nicht über die volle Lebensspanne gegeben). Nichtsdestotrotz kann man Boorse zwei Punkte zugestehen: zum einen die entscheidende theoretische Zugangsweise der Schulmedizin identifiziert zu haben, zum anderen auch, dass es sich bei der Orientierung an der »normalen Funktion« um ein von subjektiven und relationalen Überlegungen prinzipiell unabhängiges Kriterium handelt, dem bei der Beurteilung von Zuständen auf ihren Krankheitswert eine wesentliche Bedeutung zukommt.

Boorses Ansatz Somit erscheint es als Kern des wissenschaftlichen Ansatzes der Schulmedizin, solche idealtypischen Normen der Funktion auf verschiedenen Ebenen (Gene, Proteine, Hormone, Zellen, Gewebe, Organe) zu definieren. Auch wenn dieser Ansatz regelmäßig in die Irre führt (dann nämlich, wenn die Normabweichung keinen tatsächlichen Krankheitswert hat), sind die langfristigen Erfolge eines solchen Ansatzes wohl kaum von der Hand zu weisen. As a result, the subject matter of comparative physiology is a series of ideal types of organisms: the frog, the hydra, the earthworm, the starfish, the crocodile, the shark, the rhesus monkey, and so on. The idealization is of course statistical, not moral or esthetic or normative in any other way. [...] Each detail of this composite portrait is statistically normal within the species, though the portrait may not exactly resemble any species member. Possibly no individual frog is a perfect specimen of rana pipiens, since any frog is bound to be atypical in some respect and to have suffered the ravages of injury or disease. But the field naturalist abstracts from individual differences and from disease by averaging over a sufficiently large sample of the population. The species design that emerges is an empirical ideal which, I suggest, serves as the basis for health judgments in any species where we make such judgments [...]. (Boorse 1977: 557)

Boorse sieht hier insofern eine Analogie des biologischen und des medizinischen Ansatzes, als auch z.B. die Anatomie solche idealisierenden Darstellungen für die Beschaffenheit des menschlichen Körpers ver79

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wendet. Auch hier wird von individuellen Differenzen abgesehen, um den »idealtypischen« menschlichen Körper im Sinne der funktionalen Norm zu konstituieren. Diesen Körper gibt es nicht in der Realität, aber es ist auch gar nicht sein eigentlicher Zweck, die Realität abzubilden. Zweck solcher Abbildungen ist es vielmehr, die Verfasstheit und Funktion des gesunden Körpers zu demonstrieren, wohingegen Abweichungen von solchen idealisierten Darstellungen einen wichtigen Anhaltspunkt für pathologische Veränderungen darstellen. Eine nahtlose Übertragung solcher idealtypischer bildlicher Darstellungen auf alle anderen Arten von Normen in der Medizin ist nicht möglich, dazu sind die den Normen zugrundeliegenden Sachverhalte und Relationen bei weitem zu komplex und vielfältig. Nur ein Punkt scheint mir vom wissenschaftstheoretischem Standpunkt aus betrachtet sehr klar zu sein: entscheidend ist jeweils nicht die Normabweichung von einem definierten Idealtyp als solche, sondern vielmehr der dahinterstehende Verlust einer für den Organismus notwendigen Funktion. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen, und argumentieren, dass auch der Verlust der Funktion, die laut Speziesdesign bestehen müsste, noch nicht pathologisch ist, solange Morbidität und Mortalität des Organismus nicht betroffen sind. Gerade bei Körperzuständen, die mit erhöhten Risikofaktoren einhergehen wie z.B. Adipositas oder Diabetes, ist es essentiell, sich die wirkliche Verteilung von Morbidität und Mortalität zu betrachten, um nicht die reine Abweichung von der Norm bereits als genuine Krankheit zu nehmen. Den Kern des Boorseschen Konzeptes stellen nun die folgenden Definitionen dar: Definitionen des biostatistischen Ansatzes: (1) The reference class is a natural class of organisms of uniform functional design; specifically, an age group of a sex of a species. (2) A normal function of a part or process within members of the reference class is a statistically typical contribution by it to their individual survival and reproduction. (3) Health in a member of the reference class is normal functional ability, the readiness of each internal part to perform all its normal functions on typical occasions with at least typical efficiency. (4) A disease is a type of internal state which impairs health, i.e., reduces one or more functional abilities below typical efficiency.4

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Boorse 1977: 562; Hervorhebungen im Original.

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Aus diesen Definitionen geht auch sehr anschaulich hervor, dass Boorses Interesse nicht auf eine maximalistische Bestimmung von Gesundheit (entsprechend etwa einer Definition wie der der Weltgesundheitsorganisation) gerichtet ist. Es geht jeweils nur um den funktionalen Standard, den eben auch die relevante Vergleichsklasse der Organismen oder Individuen innehat. In der Tat argumentiert Boorse an anderer Stelle auch allgemein gegen Vorstellungen positiver Gesundheit und denkt, dass diese sich in einer wichtigen Hinsicht von seiner eher minimalistischen Gesundheitsvorstellung unterscheiden. Boorses Ansicht nach ist seine eigene Gesundheitsdefinition wertfrei, da diese sich auf eine empirisch zu verifizierende Norm bezieht. Vorstellungen positiver Gesundheit sind demgegenüber normativ-wertend, weil bestimmte Funktionen des Körpers oder der Psyche besonders gesteigert werden sollen. Über die Vergleichsklasse kommt im Übrigen auch ein relativistisches Element in Boorses funktional-objektive Gesundheitsbestimmung, da sich der Gesundheitszustand der Referenzklasse stark unterscheiden kann. Die Entwicklung von Morbidität und Mortalität durch Fortschritte in Hygiene und Gesundheitsversorgung in den letzten beiden Jahrhunderten gibt dazu ein deutliches Beispiel.

Normale Funktion und Psyche Mentale Gesundheit und Krankheit sind allerdings ebenso essentielle Bestandteile individuellen Wohlbefindens. Dass der funktionale Ansatz auch in diesem Bereich zu vergleichbar annehmbaren Ergebnissen wie im somatischen Bereich kommt, ist nicht abzusehen. Die mentale Gesundheit fällt in der Tat (von einigen pathologischen Ausnahmen abgesehen) mit dem subjektiven Wohlbefinden zusammen, während sich das Auftreten psychischer Probleme in manifesten mentalen Phänomenen wie Angst, Verwirrtheit, Desorientierung, grundloser Trauer und Depression etc. äußert. Prinzipiell lässt sich zwar auch im Bereich des Bewusstseins von mentalen Funktionen wie etwa der Kognition sprechen. Doch wäre es illusorisch, vergleichbar wie im Fall der organischen Gesundheit, jeder menschlichen Fähigkeit eine »Funktion« zuzuordnen (obwohl die Suche nach funktional zuzuordnenden Hirnarealen in den letzten Jahren auch als Ausdehnung des funktionalen Paradigmas in den Bereich der Neurologie und des Bewusstseins verstanden werden kann).

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6. Folgerungen für die Definition von Enhancement Eine klare Definition des Bereiches von Enhancement kann nur unter Rekurs auf eine Vorstellung von Normalität erfolgen. Der Rede von Enhancement oder einer »Verbesserung« des Menschen liegt implizit eine Vorstellung der Normalität des Körpers und der Psyche zugrunde. Nur wenn überhaupt eine Art von Durchschnitt oder Normalität ausgewiesen werden kann, kann auch sinnvoll von einer Verbesserung über das Normalmaß hinaus gesprochen werden. Eine solche Normvorstellung ist in der Gegenwart aber vielen Diskursteilnehmern mehr oder weniger suspekt geworden, impliziert doch das Vorliegen einer Norm auch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte normative (ethische, ästhetische oder religiöse) Komponente. Im Gegensatz dazu hoffe ich gezeigt zu haben, dass die Funktion des Körpers, mit der sich zumindest Teile der Schulmedizin befassen, eine relativ unverfängliche Form von Normalität aufweisen, die mit wesentlichen Bestandteilen von Gesundheit gleichgesetzt werden kann. Die Funktionen der Organe und die Normalwerte des Körpers dürften auf glaubhafte Weise nicht-ideologischer Natur sein. Bei der äußeren Form des Körpers verschwimmt die Klarheit dieser Abgrenzung: der schöne Körper ist nicht zwangsläufig auch der gesunde Körper und das ästhetische Empfinden ist – historisch gesehen – radikalen Schwankungen unterworfen. Der Impuls zur Gestaltung und Kultivierung (oder Verunstaltung) des natürlichen Körpers zielt gerade auf das Abstreifen der Norm und eine »Individualisierung« des Körpers. Diese Individualisierung ist nicht nur deshalb paradox, weil das Individuum als solches bereits unverwechselbar ist, sondern auch deshalb, weil die Formen des Enhancement selbst wieder den Normen einer Subkultur folgen: die Tattoos, Narben, vergrößerten Brüste, begradigten Nasen etc. folgen wieder eigenen Regeln, um ihren Trägern die Akzeptanz ihrer Bezugsgruppe zu sichern. Und die »natürliche« Erscheinungsform des unbehandelten Körpers erscheint heute nicht mehr als normativ privilegiert. Folgt man der These, dass nach der Abschaffung der traditionsgebundenen gesellschaftlichen Differenzen (die in der vormodernen und Ständegesellschaft noch in Kraft sind) eine Re-»Naturalisierung« des Körpers erfolgt, um soziale Differenzen zu rechtfertigen, so kann Enhancement als eine mögliche Antwort darauf erscheinen. Wenn die Differenzen von Ethnie und Geschlecht, die gleichsam in den Körper eingeschrieben sind, die »wahren« Unterschiede zwischen den Men82

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schen ausmachen, können sie möglicher Weise durch den operativen Eingriff des Enhancement gelindert oder ausgeglichen werden.5

Aus der Perspektive des objektivistischen, schulmedizinischen Ansatzes gibt es auch einen definierbaren Bereich des Enhancement. Zumindest für die exakt zu beschreibenden Funktionen des Körpers und seiner Organe kann von einer (statistischen) Normalvorstellung und einem daraus resultierenden Bereich des Enhancement ausgegangen werden. Damit sind bei weitem nicht alle Phänomene des Enhancement beschrieben (vor allem nicht die ästhetischen), aber doch ein Großteil der Enhancement-Maßnahmen, die auf die Verbesserung der Körperfunktion abzielen: die Verbesserung der kognitiven Funktion, also eine Erhöhung der Intelligenz und ein Großteil der Phänomene des Doping im Sport, wie erhöhter Aufbau von Muskelmasse, Veränderung der Zusammensetzung des Blutes z.B. im Radsport usw. Dass ein bestimmter Zustand im Vergleich zur Norm als Enhancement ausgewiesen werden kann, sagt allerdings noch nichts darüber aus, warum er erzeugt wurde. Die biotechnischen Mittel und Methoden sind kein Selbstzweck, sondern müssen aus der Psychologie des Kontexts erschlossen werden. Andere Formen des Enhancement werden nur aus kulturellen oder subkulturellen Normsetzungen klar, die überschritten werden sollen.

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Vgl. Klinger (2009: 269): »Zwar wird Natur in der Moderne einerseits zum Objekt wissenschaftlicher Neugier und technologischer Manipulation, andererseits aber benutzen so gut wie alle gesellschaftstheoretischen Diskurse die Differenz Natur/Gesellschaft als Scheidemarke zwischen dem, was als veränderbar oder sogar als machbar gilt und jenem, was menschlicher Einflussnahme bzw. gesellschaftlichem Zugriff als entzogen betrachtet wird. Die Naturalisierung von Ungleichheit gewinnt in der Moderne solche zentrale Bedeutung, weil jede andere Art von Legitimation undenkbar geworden ist. Die alten, auf Religion gestützten Begründungen haben ihre Überzeugungskraft eingebüßt und die neuen Ideen von Freiheit und Gleichheit schließen jede Möglichkeit zur Legitimation von Ungleichheit grundsätzlich aus. [...] ›Das Argument Natur‹ wird zum einzigen Hebel und Angelpunkt für die Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer Herrschaft.« 83

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Subjektivistische und holistische Ansätze haben Schwierigkeiten, überhaupt einen Bereich des Enhancement auszuweisen. Das Problem des Enhancement verweist gewissermaßen auf die Frage nach einer zulässigen »Obergrenze« von Gesundheit und normalerweise wird sich niemand kritisch dazu äußern, dass jemand ein Maximum an Lebensqualität und subjektivem Wohlbefinden für sich realisieren möchte. Ebenso ist die – im Prinzip holistische – Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO unter politisch-programmatischem Blickwinkel keineswegs zu beanstanden, da es in der Tat ein erstrebenswertes politisches Ziel darstellt, möglichst großen Bevölkerungsgruppen zu einem möglichst hohen Gesundheitsstatus zu verhelfen. Beide Ansätze haben aber kein Instrumentarium um festzustellen, was die Obergrenze des »vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens« (WHO) ausmacht. Dieses Ende des Spektrums bleibt grundsätzlich unbestimmt. Auf der anderen Seite wäre es aber sicherlich falsch, Vertretern dieser Ansätze vorzuwerfen, Enhancement und die »Verbesserung« des Menschen voranzutreiben. Die Maximalisierung von Gesundheit wird in beiden Ansätzen schlicht als unverfängliches Ziel verstanden, welches nicht zwangsläufig zu einer Medikalisierung subjektiver und sozialer Probleme führen muss. Aus dieser Perspektive betrachtet, stellt der funktionale Ansatz in der Tat ein wichtiges Korrektiv zur Verfügung, welches Ausmaß an körperlicher Funktion als erstrebenswert zu betrachten ist. Eine Medikalisierung des normalen Körpers auf dem Weg zum »Übermenschen« erscheint in den Augen des Autors nicht als eine sinnvolle Behandlungsoption.

Das objektivistische Modell ist allerdings nur ein notwendiger, kein hinreichender Bestandteil der Beschreibung von Gesundheit und Krankheit. Es wäre allerdings auch falsch, den Eindruck zu erwecken, Gesundheit und Krankheit könnten allein aus einem funktional-objektiven Blickwinkel bestimmt werden. Der Bereich der psychischen Krankheit ebenso wie die zahlreichen Beispiele von Normabweichungen, die keinerlei Krankheitswert haben, zeigen jeweils, dass im Normalfall alle drei Aspekte von Krankheit zusammenkommen werden, um einen bestimmten Zustand zweifelsfrei als pathologisch auszuweisen. Aus diesen Schwierigkeiten folgt eine grundsätzliche Unschärfe der Krankheitsbestimmung und damit schließlich auch der Definition von Enhancement. Daraus muss gefolgert werden, dass Enhancement-Maßnahmen immer 84

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im sozialen Kontext beurteilt werden sollten, um der Verschiedenheit der Intentionen und Probleme auf Seiten der Betroffenen gerecht zu werden.

7. Interessen und Krankheitskonstrukte Wenn die Definition von Krankheiten grundsätzlich Verhandlungsspielraum bietet und z.B. im Rahmen der privaten oder gesetzlichen Krankenversicherung zur Definition von Anspruchsrechten im sozialen Raum erfolgt, so resultiert daraus auch, dass verschiedene Interessengruppen Einfluss auf die Definition spezifischer Krankheitsentitäten nehmen werden. Dazu muss man sich nur vor Augen führen, dass die Größe von Patientengruppen (Diabetes, Adipositas, Hypertonie, AufmerksamkeitsDefizit-Syndrom) auch wesentlich von der Definition dieser Krankheitskonstrukte bestimmt wird. Im Sinne einer bezahlbaren und abschätzbaren Gesundheitsversorgung hat schließlich auch der Sozialstaat selbst ein Interesse an der Gestaltung von gesellschaftlich verbindlichen Krankheitskonstrukten. Auf welche Art und Weise gesellschaftliche Prozesse im Detail die Konstruktion von Krankheit und Gesundheit beeinflussen, liegt dabei nach Ansicht des Autors noch weitgehend im Dunkeln, auch wenn in der historischen Forschung eine Reihe von Einflüssen und Beispielen beschrieben wurden (man denke nur an Foucaults wegweisende Studie zu Wahnsinn und Gesellschaft). Eine ähnliche Aufgabe stellt sich hinsichtlich der Analyse von Enhancement-Maßnahmen. Im historischen Kontext hat hier z.B. Sander Gilman einige Studien zu sozialen Einflüssen auf nicht-therapeutische Eingriffe am Menschen publiziert (z.B. Gilman 2000). In diesem Sinne können eine ganze Reihe von EnhancementMaßnahmen normativ-ideologisch im Zusammenhang mit individueller Freiheit, Leistungsfähigkeit, Fortschritt, Wettbewerb und dem gesehen werden, was in der politischen Philosophie als »positionelle« Güter oder Eigenschaften beschrieben wird. Solche Güter oder Eigenschaften sollen dem Individuum in der Konkurrenz mit anderen Vorteile bringen bzw. Nachteile kompensieren. Betrachtet man die nicht-therapeutischen Eingriffe, die sich auf ethnische Merkmale beziehen (z.B. Aufhellung der Haut, Europäisierung der Lidspalte, der Lippen- und Nasenform), kommt auch eine klare Diskrepanz zu den »offiziellen« Werten der Leistungsgesellschaft zum Ausdruck. Die Gesellschaft ist offenbar nicht in ausreichendem Maße in der Lage, die gleichen Rechte für alle Mitglieder, unabhängig z.B. von Ethnie und Herkunft, zu gewährleisten, so dass sich das Individuum 85

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selbst herausgefordert fühlt, einen solchen Anpassungs- oder Kompensationsprozess durchzuführen. Die Autonomie des Einzelnen wird dabei nicht mehr als umfassende (nicht nur ökonomische) Freiheit verstanden, für deren Ausübung die Integrität des Körpers und der Psyche notwendige Bedingungen sind. Autonomie wird vielmehr zunehmend als Recht (und im nächsten Schritt als Pflicht) verstanden, die richtigen Entscheidungen im pharmakologischen und chirurgischen »Supermarkt« zu treffen, in dem sich der mündige Bürger zur Selbstvervollkommnung bedienen soll. Ein neoliberaler Begleitdiskurs richtet sich dabei auf den Abbau überkommener Schranken, wie z.B. die Bindung des Arztes an therapeutische Maßnahmen, bzw. Regeln gegen Medikamentenmissbrauch, wie etwa die Apotheken- und Rezeptpflichtigkeit von Psychopharmaka. Es liegt dabei allerdings in der Logik der Sache selbst, dass ein solcher Wettlauf der »Verbesserung« des Individuums zur Erlangung positioneller Vorteile für den Einzelnen im Regelfall keine Vorteile bringen wird.

Literatur Aristoteles (2008): Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek: Rowohlt Verlag. Boorse, Christopher (1977): »Health as a Theoretical Concept«. Philosophy of Science 44, S. 542-573. Gilman, Sander (2000): Making the Body Beautiful: A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton: Princeton University Press. Klinger, Cornelia (2009): »Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht«. In: Heike Solga/Justin Powell/Peter Berger (Hg.), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, S. 267-277. Kovács, Jozsef (1989): »Concepts of health and disease«. The Journal of Medicine and Philosophy 14, S. 261-267. Lenk, Christian (2002) Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin. Münsteraner Bioethische Schriften Bd. 2, Münster: Lit Verlag. Lenk, Christian (2008): »Ist Adipositas eine Krankheit? Überlegungen aus Sicht der Philosophie der Medizin«. In: Anja Hilbert/Peter Dabrock/Wienfried Rief (Hg.), Gewichtige Gene. Adipositas zwischen Prädisposition und Eigenverantwortung, Bern: Verlag Hans Huber, S. 135-149.

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Musschenga, Albert (1997): »The relation between concepts of qualityof-life, health and happiness«. The Journal of Medicine and Philosophy 22 (1), S. 11-28. Schramme, Thomas (2002): »Is it bad to have a disease?«. In: Antje Gimmler/Christian Lenk/Gerhard Aumüller (Hg.), Health and Quality of Life: Philosophical, Medical and Cultural Aspects, Münster: Lit Verlag, S. 61-67. Staudinger, Ursula (2000): »Viele Gründe sprechen dagegen, und trotzdem geht es vielen Menschen gut: Das Paradox des subjektiven Wohlbefindens«. Psychologische Rundschau 51 (4), S. 185-197. United Nations (1966): »International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights«. http://www2.ohchr.org/english/law/pdf/ cescr.pdf vom 15. Oktober 2009. World Health Organization (1948): »Constitution of the World Health Organization«. http://www.who.int/governance/eb/who_constitutio nen.pdf vom 15. Oktober 2009.

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Das »Recht auf optimale physiologische Lebensmöglichkeiten«. Die Verbesserung und Verjüngung des Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts HEIKO STOFF

Einleitung Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist der aufklärerische und evolutionistische Traum der Verbesserung des Menschen vor allem auch ein biotechnologisches Projekt. Den in den 1890er Jahren erarbeiteten experimentellen Repräsentationsformen, welche die Funktionen und Leistungen des Körpers als Regulierungsvorgänge darstellten, korrespondierten Interventionsmöglichkeiten, welche die Heilung spezifischer Krankheitserscheinungen überstiegen und sowohl die Utopie der Neuerschaffung des Menschen im wissenschaftlichen Labor als auch die Lösung von gesellschaftlichen Notständen avisierten. Das moderne Versprechen der Verjüngung entstand dabei im direkten Zusammenhang mit jener Lehre von der inneren Sekretion, aus der sich sukzessive das Konzept eines durch Wirkstoffe regulierten Körpers entwickeln sollte. Zur langen Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sorgten biotechnologische Experimente für weltweites Aufsehen, welche mit Transplantationen und Hormonsubstitutionen nicht nur Mangelerscheinungen therapierten, sondern die Optimierung des menschlichen Körpers projektierten. Eine neue Physiologie versprach neue Körper nicht nur als utopischen Traum vom

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neuen Menschen, sondern auch als Umgestaltung und Anpassung an die Anforderungen und Problematisierungen der Moderne. 1 Um 1900 erschien ein krisenhafter Körper den Gefahren der Degeneration ebenso ausgesetzt wie von zahlreichen neu benannten Krankheiten und Störungen bedroht. Aber dieser moderne Körper war zugleich der empfängliche Ort neuer Sensationen, Wünsche und Begierden. Ein gefährlicher, nervöser, erschöpfter Körper und ein regulierbarer, hormoneller, vitaler Körper. Ein Körper, der zum Objekt aufmerksamen Wissens und rastloser Forschung wurde. Modernität, so der Literaturwissenschaftler Tim Armstrong, zeichne sich durch den Wunsch aus, in diesen Körper zu intervenieren, ihn zu manipulieren, zu optimieren und zu verbessern (Armstrong 1998: 6). Die Neugestaltung des Körpers war eingebunden in eine sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollziehende dynamische gesellschaftliche Veränderung, eine Neuformierung der Produktions- als Konsumgesellschaft. Dabei wurde der menschliche Mangelkörper zugleich zu einem Problem mangelhafter Leistungs- und Konsumfähigkeit. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die zentralen Themen von Mangel und Leistung, von Produktivismus und Konsumismus mit der neuen Physiologie verkörperlicht wurden. Seit über hundert Jahren ist das innere Milieu des Körpers selbst durch Mangelsituationen und leistungsstarke Agentien konstituiert, deren Kontrolle wiederum auf bedeutsame Weise Geschlecht und Alter des Menschen neu zu gestalten versprach. Zwischen Körper und Gesellschaft besteht mehr als eine allegorische Beziehung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reduzierte die experimentelle Biologie die Erklärungen über die zahllosen Ursachen von Verfalls- und Mangelerscheinungen auf die Leistungen unsichtbarer Agentien, der Hormone und Vitamine. Während sich dabei die Kompetenz dieser Wirkstoffe bei der Heilung einer spezifischen Krankheit als Aufhebung eines signifikanten Mangels zeigte, verwies diese Leistung zugleich auf weitreichende Potentiale der prophylaktischen, aber auch optimierenden Aktivierung. Die Institutionalisierung der Hormone als biochemische Agentien und industriell herstellbare Pharmazeutika ist durch diesen Diskurs angeleitet. Dabei konstituierte sich ein komplexes und durchaus widersprüchliches Dispositiv der Menschenverbesserung und Verjüngung, der biotechnologischen Eingriffe, körperkulturellen Techniken sowie zugleich natürlichen und warenförmigen Wirkstoffe. Von zentraler Bedeutung war dabei die zu diesem Zeitpunkt faktische »Verlängerung des Lebens« mit einer fundamentalen Optimierung des Lebens selbst zu verbinden. Das Leben verlängern und das Leben verbessern; 1 90

Zum utopischen Konzept des neuen Menschen: Lepp et al. (1999).

DAS »RECHT AUF OPTIMALE PHYSIOLOGISCHE LEBENSMÖGLICHKEITEN«

den Tod aufschieben und den Tod negieren – diese Kerngedanken der Moderne waren Grundsätze eines biopolitischen Diskurses, der in einer Neubestimmung des Verhältnisses vom Leben und Sterben die Entstehung neuer ewig junger und langlebiger Körper festschrieb (Foucault 1999: 287, 292). Die Neuerschaffung des Menschen wird seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von Biologen und Biochemikern ersonnen. Der Wiener Biologe Paul Kammerer sprach in diesem Sinne von einer Überwindung von »Einzeltod« und »Artentod« und damit letztlich auch von der »Überwindung des Menschen« selbst. Er versprach emphatisch die biotechnologische Ersetzung des »Homo sapiens« durch den »Homo sapientissimus«, den Hochmenschen (Kammerer 1918: 120-121). Dieser Utopie, die zwischen Wissenschaft, Literatur sowie Politik zirkulierte und die immer auch als Dystopie verstanden werden konnte, korrespondierten ebenso komplementäre wie konkurrierende Verfahren zur Herstellung von Leistungs- und Konsumkörpern, von effizient verjugendlichten Akteuren einer Leistungs- und angeregten Protagonisten einer Konsumgesellschaft, von zugleich optimierten und angepassten Erfolgsmenschen. Im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist die Optimierung des Körpers, dessen Leistungssteigerung und Verjüngung, Bestand der Techniken zur Schaffung eines erfolgreichen Menschen. Biotechnologische Optimierungen verweisen auf die vielfältigen Weisen, Erfolg und Glück in einen komplexen Zusammenhang zu setzen. Dabei wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts das soziale Gebot der Leistungsstärke mit den Versprechungen eines durch das Begehren bestimmten Lebens verbunden. In einer demokratischen Konsumgesellschaft, wie sie bereits in den 1920er Jahren zumindest vorübergehend etabliert worden ist, war die »individuelle Verbesserung der Erfolgsmöglichkeiten« (Löbel 1928: 123) zugleich Chance und Verpflichtung, Glücksversprechen und Verordnung. Alle Menschen hätten danach ein »Recht auf optimale physiologische Lebensmöglichkeiten« (Schmidt 1928: 361). Zugleich waren sie aber auch zur Schaffung und Pflege eines optimal leistungsstarken Körpers verpflichtet. Dieses biopolitische Credo, welches vor allem aus Reihen der Sexualreformbewegung formuliert wurde, stand in markantem Gegensatz zu jener völkischen Ordnung, welche die Unterschiede der Menschen als unhintergehbare biologische Unterschiede fixierte. Die in den 1920er Jahren so ungemein populär werdenden hormontherapeutischen Verjüngungsoperationen gaben nicht anders als Schönheitsoperationen, wenn sie de facto auch ein kostspieliges Privileg der oberen Klasse waren, jedem einzelnen Menschen die prinzipielle Möglichkeit, durch die körperliche Optimierung seine Lebenschancen und Erfolgsmöglichkeiten zu verbessern. Armstrong spricht entspre91

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chend von einem »prosthetic modernism« als einer zugleich negativen und positiven sowie in den Jahrzehnten um 1900 besonders intensiven Auseinandersetzung mit den Potentialen körperlicher Perfektionierung (Armstrong 1998: 77-105). Bei allen historischen Konjunkturen lässt sich von einer longue durée der biotechnologischen Verbesserung und Verjüngung des Menschen sprechen, die in einem prekären Verhältnis zu jenen Verpflichtungen und Selbsttechniken der Arbeit am Körper, der gesunden Ernährung, der Sorge um sich selbst steht, welche das alltägliche Leben der Menschen in den Produktions- und Konsumgesellschaften anleitet. Ein Streit um die richtige Optimierung des Körpers, über die Anwendung natürlicher oder künstlicher Mittel sowie über dessen utopischen oder dystopischen Charakter durchzog das vergangene Jahrhundert und wird bis heute anlässlich jeder neuen Meldung über die Innovationen der Verjüngungsforschung aktualisiert. Naturwissenschaftliche Vergesslichkeit erweckt dabei den Anschein, als wären die Debatten des Anti-Aging und Human Enhancement Produkte neuesten Wissens und neuester technischer Entwicklungen. Ein Anliegen dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass die entsprechenden Programmatiken, Widersprüche und Erwartungen bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ausformuliert worden sind.

Eine biotechnologische Ethik In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein epistemologischer Bruch, der eine wissenschaftliche Methodik mit einer biotechnologischen Ethik verband. Georges Canguilhem hat eindrücklich darauf hingewiesen, dass mit der 1865 veröffentlichten Introduction à l’étude de la médicine expérimentale des französischen Physiologen Claude Bernard die experimentelle Methode nicht nur als eine Laboratoriumstechnik, sondern auch als Entwurf einer Ethik eingeführt wurde. Das Experimentieren schließe schon als Technik eine philosophische Theorie der Wissenschaft vom Leben ein, die auf eine Philosophie der Einwirkung der Wissenschaft auf das Leben verweise. Bernard sei getragen gewesen von einem Optimismus im Bezug auf die Beherrschung des Lebens durch den Menschen (Canguilhem 1979a: 84-88). François Jacob spricht entsprechend von einer »aktiven Wissenschaft«, »wo der Forscher direkt eingreift, ein Organ entnimmt, es isoliert, es funktionieren lässt, die Bedingungen verändert und die Variablen analysiert« (Jacob 2002: 198). Mit Bernards Postulat eines durch eine innere Sekretion geregelten inneren Milieus der Steuerung der Funktionen von Organen und Prozessen war zugleich ein aktivierbarer chemischer Agent der Re92

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gulierung installiert (Canguilhem 1979b: 104-106). Bestimmte Organe, so rekapitulierte 1918 der Physiologe Leon Asher, gäben nach Bernards »genialer Intuition« Stoffe auf dem Weg des Blutes nach innen an den Organismus ab, »um dort Leistungen zu vollziehen« (Asher 1918: 33). Die Entwicklungsphysiologie des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, wie sie maßgeblich vom Anatomen Wilhelm Roux geprägt wurde, formulierte ein entsprechendes, Gestaltung und Wirkung verbindendes Programm (Driesch 1920: 447-448; Roux 1918: 1). Eine Analyse der Gestaltung bedurfte dabei notwendigerweise einer experimentellen Produktion von Missgestaltungen und Mangelerscheinungen, einer experimentellen Teratologie durch die Entnahme und Wiedereinpflanzung von innersekretorischen Organen. Aus den experimentell erarbeiteten Mangelerscheinungen ließen sich wiederum Rückschlüsse auf die regulatorischen, gestaltenden Reaktionsweisen und deren Faktoren ableiten und damit auch das Ziel der Entwicklungsmechanik angehen, nämlich »die Bildung der Lebewesen experimentell nach unserem Willen zu leiten« (Roux 1918: 1-3). Erst der Mangel, evident durch körperliche Deformationen, durch bekannte und neue Krankheitseinheiten, bewies die Leistungsfähigkeit biologisch wirksamer Stoffe. Wirkstoffe, das waren unsichtbare, nicht filtrierbare, für das Funktionieren des Organismus jedoch unerlässliche Agentien. Sie steuerten auf spezifische Weise chemische Prozesse und garantierten die Integrität des Körpers durch die Regulierung des Stoffwechsels sowie der Funktionen von Geweben und Zellen. Mangelerscheinungen verwiesen ex negativo auf die Leistungen unsichtbarer Stoffe, die wiederum an bestimmten Objekten lokalisierbar waren (Stoff 2010). Die entwicklungsmechanisch und experimentalphysiologisch ausgebildete innere Sekretion war ein bedeutender Schritt für die Etablierung des Konzepts eines durch Wirkstoffe – Enzyme, Hormone, Vitamine – regulierten und regulierbaren Körpers. Mit der Aktualisierung der experimentellen Methode seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden Repräsentation und Intervention eins (Bergermann 2003; Hacking 1996; Kay 2000; Rheinberger 1993). Diese Ordnung von Mangel und Leistung war jedoch keineswegs ein rein experimenteller Effekt, sondern ausgerichtet durch Problematisierungen, denen zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert große Bedeutung zukam und die bis heute virulent geblieben sind. Wirkstoffe waren von Beginn an mit politischen Fragen verknüpft: mit einer Kritik an Industrialisierung, Urbanisierung und Zivilisierung, mit der Sorge vor Degeneration, Leistungsschwäche, Überalterung, vor Sterilität und Geschlechtsverwandlungen. Die experimentalbiologische Konstituierung leistungsstarker und autonomer Dinge fungierte als höchst effektive Problematisierung des geschwächten Mangelkörpers in 93

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einer Mangelgesellschaft mit dem Ziel der Schaffung eines leistungsstarken Körpers in einer Leistungsgesellschaft. Mangel war ein Merkmal der erschreckenden Plastizität des animalischen Körpers, wie er sich in jenen Monstrositäten manifestierte, die klinisch beobachtet und experimentell hervorgerufen wurden (Zürcher 2004; Mocek 1998: 360). Deformierungen, Verfallserscheinungen, Mangelzustände und Fehlentwicklungen bezeichneten einerseits das fürchterliche menschliche Schicksal der Degeneration und verwiesen zugleich auf die physiologischen Potentiale, die Fehlbildung zu stoppen, aufzuheben, in ihr Gegenteil zu verkehren. Der erschreckenden Mängelliste korrespondierte jenes utopische Versprechen der Schaffung eines neuen vitalen, produktiven und effizienten Menschen. Die biophysiologischen Techniken der Substitutionsexperimente, die Etablierung biologischer Testverfahren zur Identifikation und Standardisierung von Wirkstoffen, die chemischen Fähigkeiten der Extraktion aus industriell organisierten großen Rohstoffmengen sowie die Produktion höchst wirksamer synthetischer Derivate, materialisierten Wirkstoffe auch als Bedingung leistungsstarker und optimierbarer moderner Körper – das Gegenteil jener nervenschwachen, degenerierten Körper, welche das 19. Jahrhundert der neuen Zeit vererbt hatte (Stoff 2003). Der Wirkstoffkörper des frühen 20. Jahrhunderts war ein anderer als der Nervenkörper des späten 19. Jahrhunderts. Die alte Physiologie, basierend auf dem Konzept eines durch das nervöse System regulierten Körpers, hatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ausgedient und wurde, so Edward Schäfer, durch eine neue Physiologie der chemischen Regulation verdrängt (Schäfer 1895: 324).

Lebens- und Leistungsverlängerung Ließen sich in der biologischen Versuchsanstalt teratogene Effekte hervorrufen, dann musste es auch möglich sein, diesen Vorgang durch operative und therapeutische Manipulationen wieder rückgängig zu machen. Die Utopie einer Welt ohne Monster tat sich auf; die Rückbildung der Missbildung im Labor des Experimentalbiologen provozierte die Hoffnung auf eine universelle Klinik der Menschenverbesserung. Die klinische Kompetenz – die Behebung spezifischer Krankheitserscheinungen – reagierte dabei mit politischen Notständen und utopischen Versprechungen. Die Diskurse über eine befürchtete individuelle und kollektive Degeneration, eine grassierende Ermüdung und Neurasthenie, eine Auflösung des strikten Geschlechterantagonismus sowie eine prognostizierte Überalterung der Gesellschaft, mobilisierten in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem auch wissenschaftliche Anstren94

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gungen (Stoff 2003). Namentlich die Ergebnisse der Hormon- und Vitaminforschung überstiegen die klinische Anwendung und verwiesen auf die Potentiale einer Neugestaltung des Körpers durch die Transplantationsmedizin und Wirkstofftherapie. Die so optimierten Menschen sollten vom notorisch ermüdeten Alter befreit sein, waren nicht nur jugendlich, sondern produktiv, attraktiv und erfolgreich. In stetigem Austausch und Konflikt mit der von der Lebensreformbewegung geforderten Neuschaffung des natürlichen Menschen durch Selbst- und Körpertechniken etablierte sich ein Dispositiv der Verbesserung und Verjüngung des Menschen (Fritzen 2006; Möhring 2004; Stoff 2004a). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Arbeit, als Produktivität und Leistungsfähigkeit, zum zentralen Maß der schonungslosen Bewertung des Lebenslaufs. Das Alter hatte dabei seinen Platz am äußersten Ende der Ermüdungskurven der Ergonomie gefunden. Gemessen an der Arbeitsleistung veränderte sich auch das Altern von einer moralischen zu einer psychophysiologischen Kategorie, zu einem nach wissenschaftlichen Maßgaben wandel- und optimierbaren Körperzustand (Vatin 1998). Zur Jahrhundertwende änderte sich durch die veränderten Produktionsbedingungen die Nachfrage nach Arbeitskraft auf radikale Weise. Die Industrialisierung verlangte nach mobilen, flexiblen und leistungsstarken Körpern, jugendlichen Körpern, deren Verwertung annähernd optimal sein sollte. Das Alter galt schließlich als nicht mehr voll verwertbare Lebensphase (Ehmer 1990: 64-69). Das Hauptmerkmal des Alterns war demnach unzweifelhaft die Verminderung der Leistungsfähigkeit und ein abnehmender Energieumsatz. Auch das Altern wurde ausdrücklich im Sinne des zweiten Satzes der Thermodynamik gedeutet, wenn Vladislav Rouzicka den Alterungsprozess als Dehydration der Körpersubstanz bestimmte. Die Entropie, so Rouzicka, gelte auch für die lebende Substanz (Rouzicka 1928: 166). Dass aber auch das Alter produktiv genutzt werden sollte, wurde zu einem Klassen übergreifenden moralischen Gebot, denn stand nicht das nunmehr notorisch leistungsschwache Alter dem Fortschritt der Menschheit im Wege? Der Sozialhygieniker Max Rubner verkündete 1928, »daß jeder, solange er kann, der Allgemeinheit dient und dienen kann. Das Recht auf Arbeit zu verkümmern, ist ein unvernünftiger Eingriff in die persönliche Freiheit«. Die Alten, so Rubner weiter, das sind Millionen Nichtarbeitende, für welche die Jugend Mehrarbeit leisten muss (Göckenjan 2000: 322-332; Rubner 1928: 1830). Was eigentlich das Altern hervorrufe, blieb in der Forschung umstritten. Seien es die Folgen chronischer Reizwirkungen, eine Erschöpfung der Lebensenergie, die langsame Vergiftung des Organismus, Strahlungsschäden, die Abnutzung oder die Involution einzelner Organe, 95

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die Hysteresis oder die Verschlackung der Körperzellen durch Stoffwechselprodukte – während der langen Jahrhundertwende waren zahllose Wissenschaftler und Forscher damit befasst, ihre Variante des schwächenden und tödlichen Alterungsprozesses zu belegen (Korschelt 1924: 399, 406-408). Gemein war allen diesen Annahmen, dass der Tod als normale Altersschwäche nicht existierte. Sterben wurde zu einer medizinischen, hygienischen oder kriminellen Fahrlässigkeit, der vorgebeugt werden kann und muss. Das demografische Faktum der Langlebigkeit, die Propaganda der Gesundheits- und Hygienebewegung und die evolutionstheoretischen Schlussfolgerungen der Zellforschung gestalteten um 1900 ein Feld, in welchem das Leben sich auf Kosten des Todes auszubreiten begann. Wie es der polnische Soziologe Zygmunt Bauman ausdrückt, wurden nunmehr realisierbare Schritte und (Selbst-) Techniken ausformuliert, um dem in handhabbare Problemstellungen verwandelten Tod zu begegnen. Die praktische Beschäftigung mit bestimmten Lebensbedrohungen verdrängte die metaphysische Beschäftigung mit dem Tod: »Der Tod als solcher ist unvermeidlich, aber jeder konkrete Todesfall ist kontingent. Der Tod mag allmächtig und unbesiegbar sein, die einzelnen Todesfälle sind es nicht.« (Bauman 1994: 199, 208) Als besonders dramatisch erschien eine seit den 1910er Jahren beklagte Lebensverlängerung bei gleichzeitiger Leistungsverminderung. Bevölkerungsstatistiken der Jahrhundertwende hatten für die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den westlichen Industriestaaten offenbart, dass diese weitaus seltener vorzeitig sterben. Der Tod, so hieß es, zog sich in die letzten Lebensjahre zurück. Es wurde wahrscheinlicher, im hohen Alter als in der Jugend zu sterben. Das Problem des Sterbens wurde tendenziell aus dem alltäglichen Leben verbannt und auf das hohe Alter konzentriert (Spree 1992). Der Konnex von Langlebigkeit und Geburtenrückgang etablierte zugleich ein demografisches Narrativ, welches die drohende Vergreisung des Volkes zum Leitmotiv biopolitischer Panik machte. Das Bevölkerungsproblem – die prognostizierte Abnahme der Jugend bei gleichzeitiger Zunahme des Alters – wurde zu einer moralischen Krise erklärt und als »kultureller Verfall«, als »Degeneration des Volkskörpers« und als »Krankheit des gesellschaftlichen Organismus« gedeutet (Usborne 1994: 32, 34). Altern, ein Affront sowohl für die moderne Leistungsgesellschaft als auch für alle utopischen Zukunftsentwürfe, wurde damit zum Zeichen des gesellschaftlichen Niedergangs; der Bekämpfung des Alters widmeten sich entsprechend zahlreiche sozialethische, bevölkerungspolitische und biomedizinische Anstrengungen. Der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Pathologisierung des Alters folgte jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Optimismus der Altersbekämpfung, wie er sich in der 96

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Gründung der Wissenschaften vom Alter, der Geriatrie und Gerontologie, manifestierte. Der hygienisch-medizinische Kampf gegen das Sterben, diese eminente Erfolgsgeschichte der Lebenswissenschaften, produzierte, solange das hohe Alter als pathologisches Siechtum verblieb, zugleich auch unproduktive und leistungsschwache Langlebigkeit. Diese schien sogar zu einem gravierenden gesellschaftlichen Problem zu werden, da so ja das Alter vermehrt, aber keine Jugend erzeugt wurde. In diesem Sinne konnte Langlebigkeit nur dann als wünschenswert erscheinen, wenn sie die Dauer der Jugend, aber nicht die des Alters ausdehne, so verkündete dies Mitte der 1930er Jahre Alexis Carrel, Chirurg, Physiologe und Zellforscher am Rockefeller Institute in New York, Nobelpreisträger und Verfasser einer eugenischen Kampfschrift. Carrel schloss dem eine besonders drastische Verwerfung des unproduktiven Alters und der Langlebigkeit an: »Ein Verlängern des Greisenalters wäre ein Verhängnis; der alternde Mensch, der nicht für sich selber sorgen kann, ist für Familie und Gemeinwesen eine Last. Wenn alle Menschen hundert Jahre alt werden würden, könnten die jüngeren Bevölkerungsglieder eine derartige Bürde nicht ertragen.« (Carrel 1955: 185)

Bevor also das Leben verlängert werden sollte, müssten Methoden entdeckt werden, durch welche sich die organischen und geistigen Energien bis hart an den Tod frisch halten ließen. Carrel schlug dazu eugenische Maßnahmen sowohl zur Reduzierung »der Zahl der Leidenden, der Gelähmten, der Schwachen und Verrückten« als auch zur Auslese der für die Langlebigkeit nützlichen Individuen vor. Die Zahl der Hundertjährigen dürfte erst dann vermehrt werden, wenn wir den organischen und moralischen Verfall sowie die schleichenden Krankheiten des Alters zu verhüten wissen. Langlebigkeit war danach ein soziobiologisches Problem, dessen Lösungen genetische Selektion und biotechnologische Verjüngung lauteten. Dieses Dispositiv erhielt vor allem in Deutschland eine eminente Dynamik durch den intensiv verhandelten und geführten Generationenkonflikt, das Lob der Jugend und die Verwerfung des Alten, welcher auf bedeutsame Weise mit dem Verlangen der modernen Konsumgesellschaft nach neuen Produkten und Intensitäten korrespondierte (Birken 1988). Im Laufe der 1910er Jahre wollte in Europa und Nordamerika niemand mehr alt, aber alle mussten jung sein. Die frühzeitig beleibten, grauhaarigen, jede Hast und Eile vermeidenden alten Männer, welche Stefan Zweig als so typisch für die Vorkriegszeit beschrieb, verabschie97

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deten sich während des Weltkrieges und machten einer sportlichen und dynamischen Jugend Platz (Zweig 1994: 43-44). José Ortega y Gasset sah Mitte der 1920er Jahre ein »neues Weltfühlen« anbrechen, welches, so verkündete er, das nach dem Schweiß des Arbeitstages riechende 19. Jahrhundert durch jugendliche Unbeschwertheit ersetze. Der neue Mensch vertrete vitale Werte, so resümierte er, zwischen Alten und Jungen bestehe eine unüberbrückbare Kluft.2 Die Jugend selbst war bereits von den Lebensreformbewegungen und namentlich der Jugendbewegung als eine im Kampf gegen das verharrende Alte stehende politische Akteurin etabliert worden: »Neun Millionen Alte gegen sechzehn Millionen Neue!«, errechnete E. Günther Gründel, der Theoretiker der jungen Generation, den demografischen Skandal. Dass die Alten die Jungen nicht an die Macht ließen, wurde als Verweigerung eines (Natur-) Rechts gedeutet (Gründel 1932: 68). Programmatische Schriften der Jahrhundertwende waren durchzogen von einer Rhetorik der Erneuerung und Verjüngung. Attribute der Jugend erhielten dabei mehr als einen strategischen Wert, sie formulierten in der Rhetorik von Auslese, Selektion und Neugestaltung eine neue anthropologische Ordnung, welche die Geburt des neuen Menschen im Tod des alten Menschen begründete. Der gesellschaftliche Verjüngungsvorgang war hier einer der Selektion. Während das Alte den Verfall in sich trägt und die Gesellschaft, die Gemeinschaft, das Leben selbst damit kontaminiert, besitzt das Junge die regenerierende Kraft, die Gesellschaft, die Gemeinschaft und das Leben nicht nur zu retten, sondern auch zu erheben. Die Verjüngungsoperationen der 1920er Jahre waren entsprechend weniger eine geriatrische Behandlungsmethode, denn eine biotechnologische Anpassung des männlichen Mangelkörpers an die Moderne; sie waren ausgerichtet nicht auf die Erstreckung der Lebensdauer, sondern auf die der Leistungsdauer, auf »ein Hinausschieben der produktiven Arbeitsgrenzen« (Kammerer 1921: 53). Der zuvor noch müde und schlaffe, vom »Lebenstempo und (den) Lebensbedingungen unserer Tage« hoffnungslos gealterte Mensch habe nach der Verjüngung wieder straffe, sichere und kraftbewusste Bewegungen, er sei wieder aktiv, tatenfroh und sportlich: »Neues Interesse am Leben und neuer Lebensmut entstehen. Die Stumpfheit, Müdigkeit und Depression des Alters verschwinden und machen neuem Interesse, größerer Regsamkeit und einer optimistischen Einstellung Platz.« (Schmidt 1927: 92; 1928: 231, 256)

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Ortega y Gasset wird zitiert nach Göckenjan (2000: 289-290).

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Künstliche Verjüngung Zum Ort der experimentellen Verjüngung wurde die 1902 in Wien gegründete Biologischen Versuchsanstalt, die allgemein als Vivarium bekannt war. Sie stellte das weltweit erste eigens für biologische Experimente eingerichtete wissenschaftliche Institut dar und wurde damit zu einem Mittelpunkt der experimentalbiologischen Forschung (Coen 2006; Reiter 1999). Im Vivarium wurde die entwicklungsmechanische Programmatik erprobt und biotechnologisch exemplifiziert. Dort wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso vielversprechende wie umstrittene Transplantationsexperimente, die »Zerlegung und Zusammensetzung der organischen Teile«, die Ersetzung von Augen, die Transplantation von Körperabschnitten, Körperanhängen und inneren Organen, durchgeführt (Przibram 1926: 245-246). Es war vor allem der hoch angesehene österreichische Physiologe Eugen Steinach, der in den 1910er Jahren mit seinen Geschlechtsumwandlungs- und Verjüngungsexperimenten Lösungen für die Krise der Moderne, die Auflösung der Geschlechterrollen und die Zunahme des Alters, anbot (Sengoopta 2006: 69-115 und Stoff 2004a: 26-87). Das Forschungsprojekt, welches Steinach in den 1910er Jahren durch die Entnahme der Hoden und Ovarien sowie die Erzeugung kurativ-substituierender Effekte durch deren Wiedereinpflanzung durchführte, war das einer »experimentellen Feminierung und Maskulierung« (Steinach 1920a: 557, Hervorhebungen von Steinach). Sein Ziel war es, die Geschlechtsausbildung als einen von den Nerven unabhängigen innersekretorischen Vorgang zu bestimmen und die potenzielle Wandelbarkeit der Geschlechtsmerkmale durch den Austausch der Keimdrüsen zu beweisen. Die Hormonproduktion vollziehe sich dabei in den bis dato als bloße Stützsubstanz angesehenen Zwischenzellen in den Keimdrüsen (Sengoopta 2000b: 447-450). Steinach ging es im Anschluss an die französischen Anatomen Pol Bouin und Paul Ancel darum, zu beweisen, dass die Ausbildung der männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale unabhängig sei von den spermatogenen Elementen. Sein markanter Beitrag zu dieser zeitgenössisch höchst umstrittenen Forschungsmeinung war es, die Wirksamkeit der hormonell aktiven Zwischenzellen in seinen tierexperimentellen Transplantationsversuchen einzusetzen. Die Pubertät und die sexuelle Entwicklung, so verkündete er, seien abhängig von hormonalen Wirkungen, die von den »inkretorischen Elementen der Keimdrüse«, der sogenannten Pubertätsdrüse, abgesondert werden (Steinach 1916, 1920a: 557).3 Die beein3

Als Pubertätsdrüse firmierten beim Mann die Leydigschen Zellen. Für das Ovarium war eine Bestimmung der Pubertätsdrüse schwieriger. Die Anhänger der Steinachschen Lehre sprachen in aller Regel von den Lutein99

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druckenden Geschlechtsverwandlungen, die ihm dabei gelangen, etwa die Entwicklung von Brustdrüsen bei feminierten Männchen, bewiesen die erstaunliche Leistungsfähigkeit der unsichtbaren Agenten der Geschlechtlichkeit in den Keimdrüsen. Das implantierte Ovarium, so Steinach, hemme das Wachstum männlicher und fördere das Wachstum weiblicher Geschlechtscharaktere. Nachdem er die Metamorphose schließlich auch als Vermännlichung von kastrierten weiblichen Meerschweinchen durchgeführt hatte, proklamierte Steinach die entscheidende Rolle der Hormone für das Entstehen der Geschlechtscharaktere und den Antagonismus der Geschlechter (Steinach 1912: 87, 89, 91-92; 1920b: 12-14).4 Dieser Antagonismus der Zwischenzellen wiederum, so versuchte er das zu Beginn des 20. Jahrhunderts so bedeutsame Rätsel der Homosexualität zu lösen, sei abgeschwächt, wenn die Keimdrüsen beiderlei Geschlechts gleichzeitig in einen zuvor neutralisierten Organismus verpflanzt würden. Es sei möglich, eine ganze Stufenleiter der somatischen und funktionellen Geschlechtscharaktere herauszuarbeiten, wie es ebenso auch möglich sei, diese wieder zur Rückbildung zu bringen. Steinachs willkürliche Produktion von Geschlechtskörpern unterstützte die sexualwissenschaftlichen Thesen über die Existenz von sexuellen Zwischenstufen und etablierte zugleich eine Praxis zur operativen Herstellung des wahren Geschlechts (Steinach 1920a: 558, 562; 1920b: 19; Steinach/Lichtenstern 1918: 145).5 Weltweit sensationelle Schlagzeilen machte Steinach jedoch im Sommer des Jahres 1920 mit seinen Verjüngungsexperimenten an Menschen und Tieren (Anonym 1920). Seit 1889 der Physiologe CharlesÉdouard Brown-Séquard, Nachfolger Claude Bernards auf dem renommierten Lehrstuhl für Medizin am Collège de France, behauptet hatte, in einem Selbstversuch mit der Injektion von Hodensubstanz sich selbst verjüngt zu haben, war die Lehre von der inneren Sekretion aufs engste mit dem Versprechen der organotherapeutischen Verjüngung verbunden. Die Organotherapie mit Keimdrüsenextrakten meinte dabei um 1900 zu allererst ein Verjüngungs- und Potenzmittel für den männlichen Leistungskörper (Brown-Séquard 1889; Sengoopta 2006: 69-115). Steinach schloss hier an, band seine experimentelle Methodik jedoch an eben jene

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zellen, wenn sie eine weibliche Pubertätsdrüse meinten (Kammerer 1921: 45-46). Zu den experimentell reproduzierten Geschlechterstereotypen und der Problematik der Antagonismuslehre: Fausto-Sterling (2000: 155-169). Steinach ließ dann 1916 auch konsequent in Kooperation mit Magnus Hirschfeld Operationen zur Heterosexualisierung Homosexueller vermittels Hodenüberpflanzungen durchführen (Sengoopta 1998; Steinach/ Lichtenstern 1918).

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Pubertätsdrüsenlehre, welche die Hormonproduktion in den Hoden und Ovarien auf innovative Weise erklärte. Seine wissenschaftliche Veröffentlichung mit dem vielversprechenden Titel Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse erschien im von Roux herausgegebenen Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen. Hoden- und Ovarientransplantationen, die Röntgenbehandlung der Eierstöcke oder die Unterbindung der Samenstränge, so erfuhr die Öffentlichkeit nahezu zeitgleich mit der Fachwelt, würden überwältigende Erscheinungen von Jugendlichkeit hervorrufen. Früh vergreiste Männer würden wieder leistungsstark und potent, seltener würden auch ältere Frauen von ihren Klimakteriumsbeschwerden befreit. Die Pubertätsdrüse, so lautete Steinachs Hormontheorie des Alterns, trete während der Pubertät stark hervor, werde aber im Alterungsprozess von den hormonal untätigen Samenzellen überwuchert. Die Vergrößerung der Pubertätsdrüse auf Kosten der Samenkanälchen vermittels der Abbindung der Samenleiter beim Mann und der Röntgensterilisation bei der Frau müsse demnach den Zustand der Jugend wieder herstellen (Steinach 1920a: 573, 587, 603). Was Steinachs wissenschaftliche Arbeit so spektakulär machte, war vor allem die rasche Übertragung der Tierversuche auf den Menschen. Schon am 1. November 1918 ließ Steinach durch den Urologen und Chirurgen Robert Lichtenstern erstmals auch bei Patienten eine Verjüngungsoperation durchgeführt, der sich bis 1920 sechsundzwanzig weitere Eingriffe anschlossen. Drei dieser Operationen bildeten schließlich das Fallstudienmaterial, welches Steinach in seiner Publikation verwendete (Sand 1920: 193). Während Steinach selbst keine Verjüngungsoperationen durchführte, war im Sommer 1920 bereits eine treue Anhängerschaft um ihn versammelt. Zu dieser gehörten vor allem die praktischen Ärzte Harry Benjamin in New York und Peter Schmidt in Berlin, der Berliner Gynäkologe Ludwig Levy-Lenz sowie der bereits erwähnte Biologe Paul Kammerer, Steinachs Kollege am Vivarium und eine der schillerndsten Figuren der 1920er Jahre (Logan 2007). Levy-Lenz hatte schon in den 1920er Jahren Verjüngungs- mit Schönheitsoperationen verknüpft und ein zeitgenössisches Bedürfnis nach Jugend und Schönheit als Indikationsgrund hervorgehoben. In den 1950er Jahren sollte er sich dann ganz dem Projekt einer kosmetischen Chirurgie verschreiben. Schmidt eröffnete in Berlin eine Praxis für Alterserkrankungen. Benjamin plante die Errichtung eines Steinach-Instituts und einer National Steinach Foundation in den USA, wo unter der Leitung von amerikanischen Wissenschaftlern Wiener Chirurgen und Röntgenologen die verjüngenden Eingriffe ausführen sollten (Stoff 2004a: 60-61).

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In den 1920er Jahren war es schwierig, ein Land zu finden, in dem nicht an einem Institut oder in einer Klinik Verjüngungsoperationen nach Steinach oder mit der Methode seines kongenialen Kontrahenten Serge Voronoff durchgeführt wurden. Voronoff, ein in Frankreich praktizierender russischer Chirurg, machte dabei mit seinem Verfahren der Einpflanzung von Affenkeimdrüsen mindestens ebenso sensationelle Schlagzeilen wie Steinach (Réal 2001). Während die meisten Verjüngungsforscher und -ärzte durchaus eine wissenschaftliche Laufbahn aufweisen konnten, warben auch zahlreiche dubiose Wunderheiler mit der Wirkung von Keimdrüsenextrakten (Stoff 2004a: 55-72). Der sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den naturwissenschaftlichen Fachorganen und auf Tagungen ausgetragene Streit um die Verjüngung verhandelte deren Wissenschaftlichkeit ebenso wie jene Grenzüberschreitungen, welche zur Pseudowissenschaft, wenn nicht gar zur Scharlatanerie zu führen schienen. Mit enormen Aufwand mobilisierten wiederum die Verjüngungsärzte zur Widerlegung dieses Verdachts das gesamte wissenschaftliche Repertoire an morphologischen und funktionellen Untersuchungen: Kasuistiken, wissenschaftliche Aufzeichnungen, Messungen, Standardisierungsmethoden, Vergleichstiere, Zwillingsforschungen, histologische Befunde (Stoff 2008a). Ebenso distanzierten Verjüngungsärzte wie Schmidt und Benjamin ihre Praktiken vom Ruf einer kostspieligen Prominentenoperation. Stattdessen legten sie besonderen Wert darauf, dass Steinachs Verfahren der Allgemeinheit zugute kommen sollte und entsprechend eine Maßnahme der reformbewegten Wohlfahrt sei. Aber Ende der 1920er Jahre ließ auch der finanzielle Erfolg der Operationen nach; die Erwartungen richteten sich nunmehr auf die Isolierung der Sexualhormone, an denen Steinach im Auftrag der Berliner Schering AG arbeitete. Die künstliche Verjüngung orientierte sich vom chirurgischen Eingriff zur Therapie mit pharmaindustriell produzierten Hormonen und damit zugleich auch vom Mann zur Frau. Pharmazeutische Organpräparate, welche weibliche Sexualhormone enthalten sollten, fanden seit Mitte der 1920er Jahre Anwendung. Diese Mittel waren keineswegs ausschließlich gynäkologisch indiziert, sondern wurden auch als Verjüngungsmittel angepriesen, welche den Frauen verlorene Weiblichkeit und Schönheit zurückgeben könnten. Das von Ernst Laqueurs Firma Organon 1926 auf den Markt gebrachte Menformon und das auf Steinachs Experimenten basierende Progynon, welches die Schering AG seit 1928 produzierte, schienen bereits alle Erwartungen eines Verjüngungspräparates für den weiblichen Körper erfüllen zu können. Solche Östrogenpräparate sollten sich als erfolgreiche Mittel zur hormontherapeutischen Behandlung von Frauen auf dem medizinischen Markt positionieren (Stoff 2004a: 110-111). 102

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Während Steinachs Pubertätsdrüsenlehre, allerdings unter anderem Namen, im Laufe der 1920er Jahre den Status einer wissenschaftlichen Tatsache erlangen sollte, wurde die künstliche Verjüngung durch immer neue Methodiken und eine immer strengere Auswahl der zu Behandelnden so sehr relativiert, dass von dem sensationellen Versprechen aus dem Sommer 1920, welches von der Mehrzahl der Fachkollegen ohnehin als Suggestionseffekt angesehen wurde, nicht viel übrig blieb. Als deutlich erfolgreicher erwies sich der vielfältige Behandlungsmethoden kombinierende Zusammenschluss von Schönheits- und Verjüngungsoperationen, der sich Ende der 1920er Jahre explizit an die moderne Frau der Weimarer Republik richtete (Stoff 2004b). Von sozialwissenschaftlichem Interesse ist weniger die Realität der in den 1920er Jahren eingeführten künstlichen Verjüngung als deren Narrativ, welches den Stoffwechsel des Körpers, die Leistungssteigerung jedes einzelnen Menschen und die moderne Konsumgesellschaft nachhaltig verband.

Die Ökonomisierung des Lebens Das Verjüngungsversprechen der 1920er Jahre machte anfangs als schnelles Mittel zur Reaktivierung leistungs- und willensstarker Männer Furore. Mit dem Versprechen der Potenzsteigerung – keine Fallbeschreibung der frühen 1920er Jahre verzichtete auf entsprechende Andeutungen – war es auf notorische Weise auch eine Praxis der Vermännlichung, eine Virilisierung des durch Krieg, Wirtschaftskrise und Frauenbewegung »kastrierten« Mannes. Die anreißerischen Fallgeschichten, welche die Verjüngungsärzte fabulierten, berichteten auf ermüdende Weise von der Verwandlung erschlaffter Mangelmänner in leistungsstarke Erfolgsmänner. Die Verjüngten seien wieder arbeitsfähig, potent, wohl gelaunt und beschwingt. Die Falten verschwänden, Haarwuchs setze wieder ein, die Haltung werde aufrecht, der abgemagerte Körper nehme an Gewicht zu, Geschlechtsverkehr gelinge wieder leicht, das jugendliche und frische Aussehen werde von allen gelobt. Arbeitsunlust verwandle sich in Arbeitsfreudigkeit, die erloschene Libido entbrenne zu mit großem Lustgefühl ausgeführtem Verkehr (Schmidt 1922: 38, 40). Im Vorher- und Nachher-Schema, detailliert datiert, teilweise von den Geheilten selbst emphatisch berichtet, entfaltete sich mit diesem Narrativ der Verjüngung die schrittweise Metamorphose eines menschlichen Wracks in einen arbeitsfreudigen, gesunden und sexuell aktiven Mann, egal ob es sich dabei um einen Arbeiter, Unternehmer oder Großkaufmann handelte (Steinach 1920a: 604-607). Unermüdlich publizierten die Verjüngungsärzte ihre von keinem Zweifel belasteten Kasuistiken, de103

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nen sowohl die Funktion von Werbematerial als auch der beweiskräftige Einsatz in der Auseinandersetzung mit den zumeist skeptisch bleibenden Universitätsprofessoren zukam. Von historischem Interesse ist dabei vor allem die Fokussierung auf die Re-Produktivierung der durch Krieg und Inflation ermüdeten Leistungsträger: Ein von Alterserscheinungen ausgezehrter, seit Jahren impotenter Unternehmer habe nach der Operation zu seiner großen Verblüffung »des nachts bei Rückenlage erotische Träume und im Gefolge derselben starke Pollutionen«, sei von seinen Depressionen befreit und wieder lebensfroh, elastisch und von jugendlichem Aussehen. Der ermüdete, geistig geschwächte, sexuell desinteressierte und depressive Großkaufmann sei nach der Unterbindung der Samenstränge wieder geistig regsam, libidinös wie zur Jugendzeit, lebensfreudig und widerstandsfähig geworden (ebd.). Ein so unnütz wie überflüssig gewordener Frührentner habe sich wieder in eine ausgesprochen produktive Kraft verwandelt, die ihre vitalen Energien nicht als schmarotzender Rentier privatisiere, sondern unternehmerisch der Gemeinschaft zuführe (Schmidt 1927: 111). Voronoff behauptete, in einem geradezu faustischen Verfahren einen »Typus eines fetten Bürgers« wieder in einen rüstigen, potenten und tatendurstigen Unternehmer verwandelt zu haben. Er verband damit den Wunsch, seine Methode bei Insassen eines Altersasyls in der Hoffnung anzuwenden, »einige von ihnen möchten dadurch so gekräftigt werden, daß sie, wenigstens für etliche Jahre, wieder arbeiten könnten, ohne der Gesellschaft zur Last zu fallen« (Voronoff 1926: 110-111, 1928: 81-84). Die Verjüngung war aber nicht nur eine direkte Reaktion auf die Krisenzeit der Nachkriegsjahre, sie war Bestand einer Ökonomisierung des Lebens und lebendiger Kräfte. Die Menschenökonomie, als »Lehre vom organischen Kapital, als Lehre vom Aufbau, Umsatz und Verfall der Arbeitskraft«, war die konsequenteste Umsetzung der Produktivierung des Individuums. Der Wiener Soziologe Rudolf Goldscheid, der 1911 mit diesem Slogan die intensive Ausschöpfung der menschlichen Arbeitskraft einforderte, verknüpfte die optimale Nutzung der Arbeitskraft mit einer ebenso ökonomisch sinnvollen und rationalen Bevölkerungspolitik (Goldscheid 1930: 534, 537, 541, Hervorhebungen von Goldscheid; vgl. Bröckling 2004). Was der Staat benötige, sei ein qualitativ hochwertiges menschliches Produkt, aus dem alle negativen Faktoren und Eigenschaften ausgeschlossen seien. Ökonomie und Biologie, so Goldscheids Lehrsatz, gehörten unmittelbar zusammen und verlangten nach einer, wie Goldscheid dies nannte, »Biotechnik« und »Soziobiologie«. Goldscheid hatte in Kammerer einen schlagkräftigen Verbündeten. Beide vertraten eine Sozialbiologie, die nach sozialpolitischen Methoden 104

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ebenso verlangte, wie nach organischen und biologischen Techniken (Bud 1995: 74-79; Hofer 2002). Diese populärwissenschaftliche Publikationen niemals scheuenden Wissenschaftler waren, so der Wissenschaftshistoriker Robert Bud, Vertreter einer Philosophie, »die das Natürliche und Lebendige verherrlichte, aber die Alten und Toten verdammte« (Bud 1995: 83). Eugenik, Geburtenkontrolle, Sozialhygiene, künstliche Befruchtung, aber vor allem auch die Verjüngung waren die biotechnischen Verfahren, mit denen das biopolitische Projekt der Verbesserung des Menschen verwirklicht werden sollte. Dabei ist es von großer Wichtigkeit darauf hinzuweisen, dass diese Produktivierung der Gesellschaft durchaus mit der Etablierung von Konsumkörpern einherging. Goldscheid selbst trat auf zunächst überraschend anmutende Weise als Autor einer Magna Charta der sexuellen Menschenrechte hervor, in welcher er ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf den eigenen Körper einklagte, eine selbst bestimmte Fortpflanzung, das Recht auf Befriedigung des Geschlechtstriebs auch außerhalb der Ehe sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter und der sexuellen Minderheiten (Hirschfeld 1933: 4-5). Die Produktivierung des Menschen und das Anrecht auf freien sexuellen Konsum stehen dabei in einem Zusammenhang. Während die künstliche Verjüngung sexualreformerische und menschenökonomische Forderungen verband und durchaus auch in diesem Kontext verortet und rezipiert wurde, molekularisierte Steinach mit seiner Pubertätsdrüsenlehre das Verhältnis von Produktivismus und Konsumismus in den Keimdrüsen selbst. Der Hoden, so lautete ja Steinachs Konklusion hinsichtlich des Verjüngungseffekts, funktioniere durch zwei voneinander unabhängige Aufgaben der Geschlechtsdrüse. Die eine wirke für die innere und die andere für die äußere Sekretion, die eine gebe chemische Stoffe für die Entwicklung körperlicher und psychischer Geschlechtsmerkmale über das Blut an den Körper ab, die andere produziere die Samenzellen für die Fortpflanzung. Bouin brachte diese neue Ontologie der Männlichkeit auf die einfache Formel, dass die Samenzellen vollständig verschwinden könnten, ohne dass die Männlichkeit dadurch irgendwie beeinflusst werde (Bouin 1931).6 Steinach beschrieb eine neue Physiologie, bei welcher dem Samen keine Bedeutung mehr außerhalb der Fortpflanzung zukam. Die Samenzellen, so resümierte er, seien hormonal belanglos, die Pubertätsdrüsenzellen hingegen von außerordentlicher hormonaler Wirksamkeit (Steinach 1920a: 581, 587, 590-591). Der »SteinachEffekt« entkoppelte Vitalität und Virilität von der reproduktiven Fähig6

Bouin formulierte auch den Umkehrschluss: Ein Hoden, der ausschließlich spermatogene Elemente aufweise, sei nicht in der Lage, Männlichkeit herzustellen (Bouin 1931: 7). 105

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keit, sexuellen Konsum von generativer Produktivität. Die künstliche Verjüngung funktionierte in einem Kontext jener modernen Biopolitik, welche die Regulierung der Geburten mit einer neuen konsensualkonsumistischen Sexualethik verband (Sengoopta 2000b: 463-464; Stoff 2008b). Der Prager Histologe Alfred Kohn erkannte mit Entsetzen die Konsequenz dieser neuen wissenschaftlichen Tatsache: Es erschienen also jene Individuen als die männlichsten, deren Hoden nur Zwischenzellen und gar keine Samenkanälchen enthielten (Kohn 1920: 95). Eines der bedenklichen und dramatischen Ergebnisse von Steinachs Experimenten, dies hatte Kohn nur allzu deutlich bemerkt, war die Loslösung des sexuellen Konsums von der sexuellen (Re-)Produktivität. Das konsumistische Dogma der Sexualwissenschaft, welche das Primat des Begehrens als Sexualtrieb postulierte und dem produktivistischen Glaubensbekenntnis des wesentlichen Fortpflanzungstriebs entgegenstellte, fand sich danach sogar in der zellulären Funktion der Geschlechtsdrüsen wieder (Birken 1988; Bennett 1999; Bennett 2005). Was die künstliche Verjüngung versprach, waren nicht nur Leistungskörper, sondern begehrende und begehrt werdende Konsumkörper. Just in diesem Konnex wurde Mitte der 1920er Jahre auch die künstliche Verjüngung der Frau bedeutsamer als die des Mannes (Stoff 2004b). Das aufklärerische Versprechen auf individuelles Glück aktualisierte sich in den sexualreformerischen und linksliberalen Diskursen der 1920er Jahre als ein demokratisches Anrecht auf die Optimierung körperlicher Möglichkeiten, als Geschlechtsumwandlung, Verjüngungsund Schönheitsoperation. Jeder Mensch habe seine Chance, für jeden Menschen müssten Mittel bereit gestellt werden, sich zu optimieren, seine Leistung zu verbessern, sich zu verschönern, jugendlich auszusehen und fit und gesund zu bleiben. Dem Gebot der Leistungssteigerung kam dabei eine bedeutsame, aber keineswegs ausschließliche Rolle zu. Schönheit und ewige Jugend waren Haupteigenschaften einer demokratischen Verfassung, nach der allen Menschen günstige qualitative Merkmale und Eigenschaften zustehen. Die künstliche Verjüngung versprach die Konstituierung eines neuen Menschen, welcher nicht ermüdet, nicht altert und welchem die Möglichkeit gegeben wird, sich immer wie neu zu erfinden, zu verjüngen, zu erneuern. Jugendlichkeit verkaufte nicht nur alles, sondern war selbst als Verjüngungsoperation und ästhetische Chirurgie oder in Form von Kosmetika käuflich. Jeder Akt des Konsums, pointiert der Soziologe Thomas Richards, ist ein Akt der Verjüngung (Richards 1990: 241). Frauen sollten sich mit der Jugendlichkeit identifizieren und zu einem begehrenden und das Begehrtwerden begehrenden Warenkörper werden; Männer sollten diese Frauenkörper begehren und deren Wunsch nach Begehrtwerden immer wieder entfa106

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chen, intensivieren und erneuern. Zugleich aber wurde damit auch eine Pflicht zur Optimierung etabliert. Alle Menschen sind gleich, alle haben die gleichen Rechte, aber sie müssen auch alle möglichen Anstrengungen unternehmen, um optimal und individuell erfolgreich in der Gesellschaft zu funktionieren. Verjüngungs- und Schönheitsoperationen machten aus Patienten und Patientinnen Kundschaft.7 Dass Schönheitschirurgen und Verjüngungsärzte ein Konsumbedürfnis erfüllen und das Bedürfnis der Kunden die Indikationsstellung zumindest mitbestimmt, musste ein Affront für eine Medizin sein, welche die Expertise ganz für sich beanspruchte. In Umgehung des hippokratischen Eides schien es sich bei den Operationen um Eingriffe am eigentlich gesunden Körper zu handeln. Es sind die Leidenden selbst, so erzählten die Verjüngungsärzte hingegen diese Geschichte, welche die verantwortungsvollen und zögerlichen Mediziner angehen und um Hilfe bitten. Verjüngung sei danach kein eitler und dekadenter Wunsch, sondern die Heilung eines biologisch bedingten, soziokulturell geprägten, aber psychologisch manifesten Leidens an einem dysmorphen Körper. Die Gealterten und Hässlichen seien von den Quellen der Lebensfreude abgeschnitten, ihre Erfolgsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Leben, für die es einen gesunden Körper und einen gesunden Geist brauche, seien nur noch gering. Schönheit und Jugend sind die Voraussetzungen des erfolgreichen Menschen (Löbel 1928: 122-124; Gilman 1999: 267-268). Es gehe eben nicht darum, Lustgreise zu züchten oder schöne Fassaden für üble Charakter zu schaffen, antizipierte Levy-Lenz die erwartbare Kritik. Verjüngungs- und Schönheitsoperationen seien eigentlich Heilmittel, die Behebung körperlicher Fehler habe direkte Rückwirkungen auf psychische Defekte. Das Ziel des operativen Eingriffes sei einzig die Verbreitung von Glück und Zufriedenheit (Levy-Lenz 1928: 155-156). Dass dabei Körperlichkeit im Allgemeinen und das Begehren im Besonderen einer Logik der ständigen Erneuerung und Verwertbarkeit unterworfen wurde, betraf vor allem den weiblichen Körper. In den 1920er Jahren verkörperlichte sich das begehrenswerte Neue in dem von der Fortpflanzung befreiten konsumierenden und konsumiert werdenden Girl. Es war die Verjüngung der Frau, die Mitte dieses Jahrzehnts bedeutungsvoller als die Verjüngung des Mannes wurde und dem konsumistischen Diskurs Gestalt gab. Aber mit welcher Zielsetzung der weibliche Körper verjüngt werden sollte, ob als Reproduktions-, Leistungsoder Konsumkörper, war Ende der 1920er Jahre ein veritabler Streit7

Dies ist eine fundamental wichtige Unterscheidung, die auch noch die Ärzte der Anti-Aging-Medizin des 21. Jahrhunderts betonen (Burmester (2001). 107

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punkt (Stoff 2004b).8 Die operative und hormontherapeutische Arbeit am Körper verbindet seitdem in den transatlantischen Gesellschaften, mit gewissen konjunkturellen Unterbrechungen, die Souveränität von Frauen mit dem Anrecht auf ewige Jugend und Schönheit und verpflichtet diese zugleich auch zu ewiger Jugend und Schönheit, um souverän zu bleiben. Ende der 1920er Jahre standen Verjüngungspraktiken im engen Zusammenhang mit Schönheitsoperationen bei der Ermöglichung eines lebensfreudigen und erfolgreichen, sich auf dem Markt bewährenden, eher attraktiven denn produktiven Menschen: die dauerhaft, aber idealerweise dezent an ihrer Jugendlichkeit und Schönheit arbeitende Frau (Gilman 1999; Stoff 2004b). Die Kritik an der konsumistischen Jugendlichkeit war jedoch bereits in den 1920er Jahren vehement. Für die in Deutschland so einflussreiche Jugend- und Lebensreformbewegung war diese Art der falschen Jugend ein veritables, unermüdlich karikiertes und bekämpftes Feindbild. Karl Jaspers wiederum bemerkte mit kritischem Blick in der »versachlichten Gesellschaft« der 1920er Jahre eine Nivellierung der Lebensalter, eine gleichzeitige Abwertung des Alters und Überbewertung der Jugend, die einer funktionalisierenden Entmenschlichung des Menschen gleichkomme: »Jugend als das Dasein der höchsten vitalen Leistungsfähigkeit und des erotischen Lebensjubels ist der erwünschte Typus des Lebens überhaupt. Wo der Mensch nur als Funktion gilt, muß er jung sein; wenn er es nicht mehr ist, wird er den Schein der Jugend herstellen.« (Jaspers 1949: 46-47)

In Jaspers’ Kritik der modernen Konsum- und Massengesellschaft führt die technische Normierung zu einem rein funktionalen und sachlichen Verhältnis des Individuums zum Dasein, zu einer allgemeinen Nivellierung bis hin zu den Lebensaltern. Junge benehmen sich wie Erwachsene und Alte geben sich, als seien sie jung. Der Mensch, so Jaspers, werde reduziert auf das Allgemeine, »auf Vitalität als leistungsfähige Körperlichkeit, auf die Trivialität des Genießens«. Dem könne nur durch eine Rekonstruktion der Einheiten, eine schärfere Konturierung, eine Eindämmung der Auflösungen begegnet werden, die das Besondere, das Individuum, wieder dem Allgemeinen, der Masse, vorordnet und die Lebensalter wieder als solche markiert: »Echte Jugend will Abstand, nicht Durcheinander. Alter will Form und Verwirklichung und die Kon8

Dass das Neue sowohl in der kapitalistischen Warengesellschaft als auch in der Moderne eine zentrale Kategorie darstellt, zeigt Zirden (2005). Zur Nähe von Jugendlichkeit und dem Neuen: Göckenjan (2000: 222-297) und Campbell (1992).

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tinuität seines Schicksals« (Jaspers 1949: 47). Höchst problematisch erschien den Verehrern der substanziellen Differenzen vor allem die Unkenntlichmachung der Unterschiede. Das moderne Leben an sich, so noch einmal Carrel, erhalte zwar die Menschen oberflächlich jugendlich, wirke also mit seinen hygienischen, medizinischen und sportlichen Eingriffen verjüngend, jedoch erreiche diese Art von Verjüngung eben nicht die Substanz. Der neuzeitliche Fortschritt habe nichts als »Talmimünzen« hervorgebracht, aber unter der Tünche zeige sich die schreckliche Fratze des Verfalls: »Wenn ihre Gesichter, vom Schönheitschirurgen gehoben und geglättet, wieder sackig werden, wenn die Massage nichts mehr fruchtet gegen das andringende Fett, sehen diese Frauen, die so viele Jahre wie junge Mädchen anzuschauen waren, älter aus als ihre Großmütter im selben Alter. Die PseudoJünglinge, die Tennis spielen und tanzen wie die Zwanzigjährigen, die ihrer alten Frau Lebewohl sagen und eine junge heiraten, bekommen unversehens Gehirnerweichung und Herz- und Nierenleiden. Zuweilen sterben sie ganz plötzlich im Bett, im Büro oder auf dem Golfplatz, in einem Alter, in dem ihre Vorfahren noch den Pflug führten oder mit fester Hand ihr Geschäft leiteten.« (Carrel 1955: 183-185)

Dieser Streit um die Verbesserung des Menschen rekapitulierte den fundamentalen Gegensatz zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, zwischen »Verjüngten« und der »echten, gesunden und tüchtigen Jugend« (Kohn 1921: 8-9). Verjüngungsärzte wie Schmidt betonten hingegen unermüdlich, dass es sich bei ihrem Verfahren eben doch um eine Totalverjüngung handle: Die Verjüngten sehen nicht nur so aus, sie sind auch substantiell jugendlich. Der wichtige Unterschied zwischen Verjüngungs- und Schönheitsoperationen besteht nach Sander L. Gilman darin, dass die Verjüngungsärzte an der inneren Struktur der psychophysischen Einheit ansetzten und eine Totalverwandlung versprachen, während die pragmatischen Schönheitschirurgen sich mit dem psychosomatischen Effekt der Oberflächenarbeit begnügten (Gilman 1999: 295-328; Armstrong 1998: 143-150). Zeitgleich mit den biotechnologischen Verjüngungsoperationen projektierten Lebensreformer und Körperkultur-Aktivisten eine dezidiert natürliche Verjüngung mittels Selbsttechniken der Ernährung, der Hygiene und der Körperkultur (Stoff 2004a: 269-301). Die natürliche Verjüngung arbeitete an der Reform des im 19. Jahrhundert so erschöpften und ermüdeten produktiven Menschen durch dessen Reinigung von fremden und invasorischen Einflüssen sowie durch die Stärkung natürlicher Kräfte mittels einer diätetischen, gymnastischen und abstinenten Körperkultur. Die reinste Verjüngung: das war die reine Körperwahrheit 109

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der Nacktkultur, bei der sich alle Fehler- und Mangelhaftigkeit am entblößten Leib offenbart (Möhring 2004). Unablässig verkündete die Körperkultur, dass Männer und Frauen ermattet seien, überreizt, dass sie hässlich geworden seien. Nur eine intensive und pausenlose Körperarbeit könne dem Verfall entgegenwirken. Eugenische Maßnahmen waren die Basis der Verjüngung, die Selektion des Materials die Bedingung des neuen Menschen. Die eigentliche Verbesserung aber war dabei die Arbeit an der verkümmerten Substanz. Während namentlich der völkische Flügel der Körperkulturbewegung die Ausmerzung missgestalteter Körper verlangte, versprachen Verjüngungs- und Schönheitsärzte deren Verwandlung. Die deutsche Verjüngung als Rassenkampf zur Errettung eines alt gewordenen, sinnbildlich durch Fremdkörper verschlackten Volkes war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein zentrales Motiv der verschiedenen völkischen Gruppierungen. Die deutsche Verjüngung postulierte im völkischen Diskurs ein »verjüngtes schönes Geschlecht edler Rassemenschen aus arischem Geblüt mit arischem Instinkt« (Hotzel 1916/17: 506 Herv. i. Orig.; vgl. auch Möhring 2004: 350-357). Die Verjüngung à la Steinach fand ihr Ende um 1930, weil das große Versprechen der hormontherapeutischen Herstellung eines jugendlichen Körpers schlichtweg nicht eingelöst werden konnte. Vor allem aber markierte das Ende des »Verjüngungsrummels« namentlich in Deutschland auch das vorläufige Ende des demokratisch konstituierten Konsumkörpers und dessen Ersetzung durch den eugenisch zu selektierenden und intensiv zu optimierenden Rassen- und Volkskörper. Die Methoden der Leistungssteigerung hatten sich in den 1930er und 40er Jahren verändert. Die künstliche Verjüngung war zugleich mit dem Konsumismus in der Folge der Weltwirtschaftskrise weltweit diskreditiert worden. In Deutschland sollte seit 1933, und für über ein Jahrzehnt, die deutsche Verjüngung der Rassenhygiene, der Militarisierung und der Vernichtung das Mittel der Verbesserung des Menschen darstellen.

Der erfolgreiche Mensch (ein Ausblick) Steinach hatte schon 1926 triumphierend davon gesprochen, dass niemand mehr den Verjüngungsbazillus hinausbringe (Steinach an Benjamin 1926). Sexualhormone, die ihre Wirksamkeit kurativ-substituierend bewiesen und damit den Status eines Therapeutikums, eines Arzneimittels bzw. biologischen Medikaments erhalten hatten, fungierten seit den 1930er Jahren auch als Prophylaktika. Der neue Absatzmarkt für Hormonpräparate, etabliert durch die Fürsorge des Staates für eine leistungsstarke Bevölkerung und die Selbstsorge des modernen Subjekt für 110

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optimale Lebensmöglichkeiten, war mindestens so groß wie die Patentrechte der Biochemiker und pharmazeutischen Industrie reichten und umfasste schier endlose Indikationsmöglichkeiten (Gaudillière 2008). Während in der Klinik neu etablierte Krankheitseinheiten auf den damit korrespondierenden Einsatz der Wirkstoffe abgestimmt und der latent prekäre Wirkstoffkörper in ein System medikamentöser Regulierungen eingespannt wurden, welches auf untrennbare Weise Krankheiten und Arzneimittel verband, reüssierten die Sexualhormone in den 1930er Jahren zugleich als Faktum homöostatisch-vitaler Prozesse und als Bedingungen eines von Mangelzuständen befreiten leistungsstarken Lebens. Deren verjüngende Kompetenzen wurden dabei noch in den 1950er Jahren durch die Schering AG offensiv propagiert (Schering A.G. Berlin 1953). Zwischen der biologischen Verjüngung und der biochemischen Leistung der Östrogene und des Testosterons wurde ein unlösbarer Zusammenhang konstituiert. Die in den 1960er Jahren von zahlreichen Gynäkologen propagierte präventive Östrogenbehandlung klimakterischer Frauen vollzog sich im Kontext einer Körperpolitik der Optimierung physiologischer und chemischer Funktionen zur Etablierung von ebenso umstrittenen Lebensmöglichkeiten. Die Hormonisierung des weiblichen Körpers versprach Potentiale einer je nachdem leistungsstarken, kreativen, ewig jugendlichen, sexuell konsumierbaren und konsumierenden Weiblichkeit, wenn sich Frauen dafür in ein Gefüge von pharmaindustriellen Interessen, gynäkologischer Kontrolle, hormonanalytischer Logik, reproduktionsmedizinischen Techniken, Selbstregulationen und eben Steroiden einpassten (Duden 2008; Sengoopta 2006: 169-170). Erst seit den 1990er Jahren sollte dann jedoch auch wieder die Trope der Verjüngung als eine wissenschaftlich-technische Innovation reüssieren. Dass damit zugleich auch Formen der Vermännlichung und Verweiblichung assoziiert sind, hat jüngst die Soziologin Barbara L. Marshall gezeigt (Marshall 2009). Neueste Forschungen über freie Radikale, Telomerase und das Altersgen, die spektakulärsten genetischen Praktiken der Stammzellenforschung und Klonierung, der therapeutische Einsatz von Melatonin, DHEA und Viagra, überhaupt Hormonsubstitutionen, Schönheitschirurgie, Bodymorphing und radikale Diätmaßnahmen versprachen nicht nur die Vernichtung des unproduktiven Alters, sondern die Vermehrung der Potentiale und Pflichten vitaler Jugendlichkeit. Verjüngung ist ein zentrales Motiv jener seit Ende des 19. Jahrhunderts andauernden Körperpolitik der an flexiblen Fähigkeiten ausgerichteten Optimierung körperlicher Leistungen, einer Anti-Aging-Medizin und eines Human Enhancement. Dieser verjüngte Mensch besitzt einen Körper, an dem die Spuren der Arbeit und des Lebens nicht sichtbar sein sollen. Die heutigen Wissenschaftler verkünden dabei nicht mehr und 111

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nicht weniger, als es auch schon die Verjüngungsärzte im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts versprochen haben: die Verbesserung von Lebenschancen durch genetische, hormonelle und chirurgische Optimierung. Eine genetische Selektion von physiologischen Qualitäten, die Ausbesserung und Ersetzung von fehlerhaften Zellen und Organen, die operative Korrektur von oberflächlichen Missgestaltungen sind die synchronisierten Praktiken dieses biopolitischen Projektes. Dabei ist gar nicht der neue Mensch der Utopien oder gar ein Übermensch avisiert, sondern ein konkurrierender Begehrens- und Leistungskörper: eben jener erfolgreiche Mensch, der um 1900 erfunden worden war.

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II. E NTGRENZUNG DER M EDIZIN – V IER F ALLBEISPIELE

Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung? Zur Problematik der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit am Beispiel ADHS FABIAN KARSCH

»Es existiert keine klare Grenze zwischen normal aktiven Kindern und solchen, die als hyperaktiv bezeichnet würden. Genauso wenig gibt es eine klare Grenze zwischen normal ablenkbaren Kindern und solchen, die als aufmerksamkeitsgestört bezeichnet würden.« (Zaudig 2000: 36)

Dieses Zitat aus einem Fallhandbuch zur psychiatrischen Diagnostik ist insofern bemerkenswert, als die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gegenwärtig die am häufigsten diagnostizierte kinder- und jugendpsychiatrische Krankheit ist. Ob die auf die ADHSSymptomatik zurückgeführten Verhaltens- und Leistungsdefizite lediglich ›normale‹ Varianten der Norm darstellen oder tatsächlich probate Symptome einer Krankheit sind, wird infolgedessen kontrovers diskutiert: zu ungenau erscheinen die Diagnosekriterien, zu hoch der jährliche Anstieg der Prävalenzrate (vgl. Schlander 2007; Kordt 2009). Bereits seit einigen Jahren wird die ADHS zudem nicht mehr nur bei Kindern diagnostiziert; etwa seit den 1990er Jahren wurde die Diagnostik auf Erwachsene ausgeweitet. Besonders umstritten ist die zur Behandlung der ADHS angezeigte Psychopharmakatherapie mit dem Neurostimulans Methylphenidat, bekannt unter dem Produktnamen Ritalin. Den stetig steigenden Diagnosezahlen entsprechend ist auch ein drastischer Anstieg des Einsatzes von Methylphenidat zu verzeichnen (vgl. Steer/Straßmann 2008). Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums ist der Ver121

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brauch von Methylphenidat in der Bundesrepublik zwischen 1997 und 2000 um rund 270 Prozent angestiegen (zit. n. Leuzinger-Bohleber 2006: 16). Der eindrucksvolle Anstieg des Verbrauchs zeigt sich auch anhand der Verordnung von definierten Tagesdosen: Im Jahr 1997 wurden etwa 3,9 Mio. Tagesdosen verordnet, im Jahr 2006 waren es bereits über 39 Mio. (Lose et al. 2008: 806). Gaben die Apotheken im Jahr 1993 noch bundesweit etwa 34 Kilogramm Methylphenidat ab, waren es im Jahr 2006 bereits 1,2 Tonnen (vgl. Philipsen et al. 2008). Für die USA werden sogar noch deutlich höhere Verschreibungszahlen und Steigerungsraten berichtet.1 Bedenklich ist auch der zunehmende Missbrauch von Psychostimulanzien ohne Krankheitsindikation, der bei jungen Erwachsenen verstärkt zu beobachten ist. Im Rahmen einer Erhebung in den USA (Novak et al. 2007) gaben insgesamt 2 % der Befragten an, im vergangenen Jahr mehrfach ADHS-Medikamente ohne entsprechende Indikation eingenommen zu haben. In der Kohorte der 18 bis 24-Jährigen waren es sogar 4,3 Prozent.2 Als Hauptgrund für die Einnahme wurden vor allem die vermeintlich leistungssteigernden Effekte genannt. Aufgrund der starken Ausweitung der ADHS-Diagnosezahlen, der explodierenden Verschreibungszahlen von Psychostimulanzien und dem Verdacht auf ansteigendem Missbrauch der leistungssteigernden Medikamente (auch in Deutschland), kann bezweifelt werden, dass in der Praxis zwischen klinischen und nicht-klinischen Fällen immer angemessen unterschieden wird oder überhaupt unterschieden werden kann. Tatsächlich ist der Status der ADHS, d.h. der Krankheitswert der vielfältigen Symptome, die zur Diagnose führen können, nach wie vor Gegenstand sowohl fachlicher als auch öffentlicher Auseinandersetzungen. Nicht etwa, wie man annehmen könnte, ist es die Dunkelziffer des Medikamentenmissbrauchs ohne Krankheitsindikation, die die größten Sorgen bereitet. Zu gering erscheint deren Ausmaß gegenüber den unzähligen Fällen des medizinisch legitimierten Einsatzes von Psychostimulanzien: Der Erfolg der Diagnose ADHS beruht letztlich auf der Annahme, dass Eigenschaften wie mangelnde Organisationsfähigkeit, innere Unruhe und Ablenkbarkeit nicht nur individuelle Persönlichkeitsmerkmale, sondern auch Symptome einer Krankheit sein können. Durch diese Medikalisierung alltäglicher und weit verbreiteter ›Defizite‹, wird die Frage, welches Verhalten ›noch gesund‹ und welches ›schon krank-

1 2

Vgl. zur Situation in den USA Conrad (2007), DeGrandpre (2002) und Fukuyama (2002). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Teter et al. (2005) und McCabe et al. (2005).

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haft‹ ist, in zunehmendem Maße ungewiss. Ob es sich bei den gängigen Therapiemaßnahmen mit Psychostimulanzien also um Formen der medizinischen Optimierung nicht-klinischer kognitiver Zustände oder um Krankheitsbehandlungen im eigentlichen Sinne handelt, bleibt unklar. Durch Aufklärungskampagnen von Interessensvertreter der Industrie, Konsensuserklärungen von Expertenverbänden und die Öffentlichkeitsarbeit von Selbsthilfegruppen wird versucht, dem Stigma der ADHS als ›Mode-Krankheit‹ entgegenzuwirken. Diese Versuche, die Eindeutigkeit der Diagnose, die öffentliche Akzeptanz und damit den Krankheitswert zu stärken, sind jedoch bereits das Resultat einer wachsenden Uneindeutigkeit im medizinischen Feld. Der folgende Beitrag hat zum Ziel, dieses Phänomen der »Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit« (Wehling et al. 2007) zu untersuchen. Als konkretes Beispiel soll die Expansion der Diagnose ADHS herangezogen werden, deren Behandlung trotz des umstrittenen und umkämpften Krankheitswertes seit vielen Jahren in den medizinischen Zugriffsbereich fällt. Die zentrale Annahme, durch die die folgenden Ausführungen angeleitet werden, lautet, dass die Erosion der Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit in engem Zusammenhang mit einem weitreichenden Medikalisierungsprozess steht, der sich unter anderem in einer Ausweitung medizinischer Deutungsansprüche äußert und der in der Folge die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit in zunehmenden Maße erschwert. Im ersten Teil des Beitrages wird zunächst die Gestalt des Medikalisierungsprozesses theoretisch gefasst und in seiner gegenwärtigen Ausprägung skizziert. Im zweiten Teil wird dann der Fall der Medikalisierung der ADHS in den Blick genommen, um anhand dieses Beispiels die These der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit zu plausibilisieren. Es wird dargestellt, wie Unaufmerksamkeit und Unruhe zu medizinischen Problemen geworden sind und wie die Medizin zur legitimen Bearbeitungsinstanz dieser Probleme geworden ist. Im dritten Teil des Beitrags wird die Frage gestellt, welche Auswirkungen die Medikalisierung von abweichendem Verhalten und kognitiver Leistungsfähigkeit auf das Verhältnis von medizinisch indizierter Wiederherstellung von Gesundheit einerseits und der Optimierung von Leistungsfähigkeit (Enhancement) andererseits hat.

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Medikalisierung in der modernen Gesellschaft Keineswegs haben je eindeutige Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit bestanden, vielmehr müssen Gesundheit und Krankheit als »relationale Begriffe im soziokulturellen Gefüge« (Lanzerath 2008: 206) verstanden werden. Medizin und Gesellschaft stehen also in einem sich gegenseitig bestimmenden Wechselverhältnis und die Begriffe Gesundheit/Krankheit sind abhängig von historisch-kulturellen und sozialen Veränderungen. Zahlreiche theoretische Erörterungen haben sich bereits mit der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit befasst.3 Schließlich beruht jegliche medizinische Betätigung auf teilweise latenten, teilweise manifesten Konzepten, die auf diese Begriffe Bezug nehmen, um den legitimen Gegenstand medizinischer Praxis zu bestimmen. Fragt man mit Luhmann (1990: 179), »wonach richten sich die Ärzte?«, so scheint die Antwort evident: »nur Krankheiten sind für Ärzte instruktiv« (ebd.). Der Krankheitswert bestimmt, wann ein Problem in den medizinischen Zugriffsbereich fällt. In der soziologischen Systemtheorie der Luhmannschen Prägung wird die Medizin als ein operativ geschlossenes, funktionales Teilsystem betrachtet, deren Leitdifferenz die Unterscheidung gesund/krank darstellt (vgl. Luhmann 1990; Bauch 1996). Anhand dieser Codierung wird die systeminterne Kommunikation gewährleistet, indem etwa der Kommunikationsbereich von Arzt und Patient definiert wird (Luhmann 1990: 179). Im Medizinsystem gilt Krankheit als der positive, d.h. als kommunikativ anschlussfähiger Wert, während Gesundheit lediglich als Reflexionswert4 dient (ebd.: 187). Allgemein formuliert, kann Krankheit als legitimatorische Kategorie verstanden werden, aus der die Notwendigkeit und Zulässigkeit medizinischer Eingriffe bestimmt wird (vgl. Paul 2007: 132). Gesundheit hingegen gilt als teleologische Kategorie und die Behandlung von Krankheit mit dem Ziel der Wiederherstellung von Gesundheit entsprechend als ein zentrales Ziel der Medizin. Dennoch: Gesundheit ist mehr als nur die bloße Abwesenheit von Krankheit. Der vollkommene Gesundheitszustand ist eine offene Projektionsfläche, deren Bedeutung immer auf den Krankheitswert reflektiert und damit medizinische Handlungsfelder mitbestimmt. Nicht zuletzt die wegweisende (aber auch häufig kritisierte) Definition der WHO (1948), in der Gesundheit als ein Zustand vollständigen geistigen, physischen und sozialen Wohlbefindens definiert 3 4

Siehe u.a.: Paul (2006); Franke (2006); Schäfer et al. (2008); Hucklenbroich (2008). Reflexionswert bedeutet, dass zur Krankenbehandlung bestimmte Vorstellungen von Gesundheit existieren müssen ebenso wie etwa die Rechtsprechung Vorstellungen von Unrecht haben muss.

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wird, hat mit ihrem utopischen Ansatz den Weg für einen weitreichenden Medikalisierungsprozess geebnet. Diese Erweiterung eines somatischen Gesundheitsbegriffes um die Dimension universalen Wohlbefindens hat sich in den letzten Jahren immer drastischer etablieren können (vgl. Jütte 2008) und die dadurch entstehende Grauzone an den Rändern der Bedeutungshorizonte von Krankheit und Gesundheit scheint mit zunehmender Akzeptanz zum legitimen Handlungsfeld medizinischer Praxis zu werden. Diese Ausweitung medizinischer Zugriffsbereiche kann als Bestandteil eines umfassenden Medikalisierungsprozesses verstanden werden. Medikalisierung kann allgemein als ein Prozess der Etablierung und zunehmenden Ausweitung medizinischer Deutungs-, Handlungs- und Zugriffsbereiche sowohl auf institutioneller Ebene als auch auf der Ebene individueller Interpretationsmuster definiert werden. Die Ausbreitung und zunehmende Dominanz medizinischer Wissensregime, d.h. die Ausbreitung von Denkweisen in medizinischen Kategorien, ist in modernen westlichen Gesellschaften in diversen Bereichen des Lebens zu beobachten: Medizinische Eignungsuntersuchungen sind zu einem integralen Bestandteil des biographischen Verlaufs geworden, medizinische Kriterien bestimmen Ernährungsentscheidungen ebenso wie die Verhältnisse am Arbeitsplatz. Auch körperliche Umbruchphasen wie Pubertät und Wechseljahre oder emotionale Zustände und körperlich/geistige Leistungsfähigkeit werden immer selbstverständlicher in medizinischen Denkkategorien kommuniziert und wahrgenommen (vgl. Bull 1990). Medikalisierung ist demgemäß als ein weitreichender Teilprozess gesellschaftlicher Modernisierung zu verstehen, dessen Wirkung sich in der Etablierung eines umfassenden Gesundheitssystems ebenso zeigt wie in der individuellen Lebensführung und dem alltäglichen Gesundheitsverhalten (vgl. Karsch 2010). Im Fahrwasser der aufkommenden Psychiatriekritik der 1960er Jahre (vgl. Szasz 1961; Goffman 1961) wurde erstmals deutliche Kritik an den als Medikalisierung bezeichneten Expansionstendenzen der Medizin geübt (vgl. überblicksartig: Labisch 1992: 7 ff.). Diese kritische Diskussion zum Phänomen der Medikalisierung lässt sich auf zwei unterschiedliche Traditionen zurückführen. Zum einen gelten die Analysen Michel Foucaults als Anstoß für die aufkommende Kritik an medizinischen Disziplinarregimen, zum anderen lässt sich die genuin soziologische Diskussion von Medikalisierungstendenzen auf die amerikanischen Soziologen Irving Zola (1972) und Peter Conrad (1976a; 1976b) zurückführen. Gemeinsam ist den im Kern recht unterschiedlichen Ansätzen die Bestimmung von Medikalisierungsdynamiken als Phänomenen der 125

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Machtausübung. Foucault etwa beschreibt die historische Herausbildung von Institutionen, Praktiken und Wissensformen zur Regulierung und Disziplinierung individueller Körper im Rahmen der »Geburt der BioPolitik« (Foucault 2003), also der hygiene- bzw. gesundheitspolitischen Aktivitäten, der Maßnahmen zur Regulierung und Erfassung der Fortpflanzungsraten, der Lebensdauer und der allgemeinen Gesundheit, sprich: der Gesundheit des »Gesellschaftskörpers«. In den von Foucault inspirierten geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zur historischen Genese der Sozialmedizin (vgl. Huerkamp 1985; von Ferber 1989; Stolberg 1998), wird der Prozess der Medikalisierung als weitläufiger Trend der Ausbreitung der medizinischen Profession im Modernisierungsprozess und damit als ein »wesentliches Element der Modernisierung neuzeitlicher Gesellschaften« (von Ferber 1989) sowie als machtstrategischer Prozess verstanden: »Medikalisierung meint die Ausdehnung des Marktes für medizinische Dienstleistungen derart, dass es für den ›Alltagsmenschen‹ zunehmend selbstverständlich wird, im Krankheitsfall den kranken Körper ärztlicher Kontrolle zu unterstellen und sich nach den Anweisungen des Experten ›Arzt‹ zur Wiederherstellung der Gesundheit zu richten.« (Huerkamp 1985: 12)

Eine andere Perspektive entwickeln die Soziologen Peter Conrad und Irving Zola im Rahmen einer genuin soziologisch angelegten Gegenwartsdiagnose: Sie interpretieren die moderne Medizin als eine Institution sozialer Kontrolle. Die Medikalisierung abweichender Verhaltensweisen sowie die inflationäre Verwendung von Medikamenten zur Beeinflussung von Gemütszuständen werden in diesen frühen Studien entschieden kritisch beurteilt. So stellt Zola fest: The greatest increase in drug use over the last ten years has not been in the realm of treating any organic disease but in treating a large number of psycho-social states. Thus we have drugs for every mood.« (Zola 1972: 495) Die Ausweitung der medizinischen Zugriffsbereiche wird von Zola (1972) als die Ausweitung eines Herrschaftsbereiches verstanden, der traditionelle Kontrollinstanzen wie Religion und Recht zunehmend verdrängt. Gesellschaftliche Medikalisierungstendenzen sind demnach als eine Folge der ungebremsten Ausweitung moderner Rationalisierungslogik und als Trend zur Verwissenschaftlichung zu verstehen. Peter Conrad untersucht speziell den Verlauf der Medikalisierung abweichenden Verhaltens (vgl. Conrad 1976a/b; Conrad/Schneider 1980, Conrad 2007). Seine Analysen medizinischer Trends beziehen sich auf die Zunahme einer Medikalisierung von Verhaltensproblemen bzw. deren neuerliche Rückführung auf organische oder biochemische Defizite. In der 126

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Studie Identifying Hyperactive Children formuliert Conrad (1976b) den Rahmen für eine allgemeine Theorie der Medikalisierung. Demnach muss ein bestimmtes Verhalten bereits vor der medizinischen Deutung als abweichend definiert werden und ein soziales Problem darstellen, an dessen Bearbeitung gesellschaftliches Interesse besteht, während traditionelle Formen sozialer Kontrolle zunehmend ineffizient erscheinen. Die Verfügbarkeit medizinischer Formen sozialer Kontrolle sowie eine uneindeutige Datenlage über die Ursache des Problems sind ebenso Voraussetzung für den Prozess der Medikalisierung wie das Angebot eines neuartigen medizinischen Deutungsangebotes. Es bedarf dabei verschiedener »moralischer Unternehmer«, die sowohl dem Problem selbst als auch den angebotenen Lösungsstrategien zu öffentlicher Aufmerksamkeit verhelfen.5 Setzt sich ein medizinisches Deutungsmuster durch, so verändert sich die Interpretation des abweichenden Verhaltens. Dieser Wandel lässt sich treffend mit der Formel »From Badness to Sickness« (Conrad/Schneider 1980: 1) beschreiben: Die moralische Interpretation abweichenden Verhaltens wird von einer pathogenetischen Deutung abgelöst.6 Die Neudefinition von Verhaltensdefiziten als Krankheiten ermöglicht in der Folge eine medizinische Intervention zur Wiederherstellung konformen Verhaltens. Conrad verfolgt einen im weitesten Sinne sozialkonstruktivistischen Ansatz, wenn er Medikalisierungsdynamiken als Etikettierungsprozesse betrachtet, die auf Formen der sozialen Kontrolle hinauslaufen. Medikalisierung meint in diesem Sinne die Ausdehnung der medizinischen Deutungs- und Kontrollmacht in Bereiche, die zuvor nicht der medizinischen Jurisdiktion unterstanden. Die bei Foucault, Zola und Conrad gleichermaßen kritisch formulierte Feststellung eines disziplinarischen Fremdzwangs durch Medikalisierungsprozesse steht aktuell nicht mehr ausschließlich im Fokus der Debatte (vgl. Rose 2007; Schulz 2007; Conrad 2007). Zum einen treten 5

6

In diesen »claims-making activities« (Spector/Kitsuse 1977) werden nicht nur medizinische, sondern auch nicht-medizinische Interessen vertreten. Zu nicht-medizinischen moralischen Unternehmern gehören u.a. gewinnorientierte Gesellschaften (z.B. Pharmakonzerne), Laien-Organisationen, staatliche Körperschaften und Selbsthilfe-Gruppen. Die Re-Interpretation (vormals) moralisch abweichenden Verhaltens innerhalb medizinischer Deutungsmuster lässt sich in vielen Fällen beobachten (etwa Verhaltensauffälligkeiten, Schüchternheit, Alkoholismus, historisch auch Homosexualität). Andererseits ist gesundheitsgerechtes Verhalten zu einer dominanten moralischen Kategorie aufgestiegen. Foucault (2005: 58) bezeichnet Ärzte als »Wächter der Moral«. Im Prozess der Medikalisierung wird gesundheitsgerechtes Verhalten zu einem moralischen Wert; wer sich nicht gesundheitsgerecht verhält, dessen Handlungen können als moralisch verwerflich gelten (siehe: Tabakkonsum, cholesterinreiche Ernährung u.a.). 127

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neben das medizinische Deutungsmonopol weitere zentrale Akteure, wie etwa die Pharmaindustrie oder Selbsthilfeverbände, die eigene Medikalisierungsinteressen vertreten. Zum anderen lässt sich eine verstärkte Logik der Selbstmedikalisierung beobachten, die mit dem Abbau paternalistischer Handlungszusammenhänge und einer daraus resultierenden zunehmenden Patientenautonomie korrespondiert.7 Diese »shifting engines of medicalization«, auf die jüngst auch Conrad (2007: 133 ff.) verweist, führen zu neuartigen institutionellen Figurationen im medizinischen Bereich, in denen der aktiven Rolle des Konsumenten eine zentrale Bedeutung zukommt. Dazu gehören Selbstdiagnose, -behandlung und -medikation ebenso wie die kollektive Wissensförderung (bspw. durch Informationsangebote im Internet) und die gemeinsame Bewältigung von Problemen der alltäglichen Lebensführung im Kontext biosozialer Gemeinschaften, wie etwa Selbsthilfegruppen (vgl. Rose 2007). So entsteht ein Autonomiegewinn gegenüber der professionellen medizinischen Versorgungslandschaft und die Dynamik der Medikalisierung verschiebt sich tendenziell von der Fremdbestimmung zu Kooperation oder Selbststeuerung. Die Emanzipation von paternalistischen Medikalisierungsformen zeigt sich besonders deutlich anhand des sich verändernden Arzt-Patient-Verhältnisses (vgl. Feuerstein/Kuhlmann 1999; Karsch 2010). Um also der komplexen Gestalt der sozio-kulturellen Etablierung medizinischer Rahmungen gerecht zu werden, ist nochmals hervorzuheben, dass Medikalisierungsdynamiken auf unterschiedlichen Ebenen wirksam sind. Unter Rückbezug auf die bisherigen Ausführungen können folgende Elemente als zentrale Merkmale gesellschaftlicher Medikalisierungsprozesse zusammengefasst werden: Medikalisierung beschreibt einerseits den Institutionalisierungsprozess der naturwissenschaftlich-akademischen Medizin, d.h. die Entstehung und Konventionalisierung der tendenziellen Monopolstellung der Medizin in Fragen der Behandlung von Krankheit und Gesundheit. Dabei handelt es sich um die erfolgreiche Durchsetzung eines spezifischen Wissenskomplexes und zudem um die erfolgreiche Aushandlung biopolitischer Interessen, der Interessen der medizinischen Profession und der 7

Die These zunehmender Patientenautonomie ist durchaus umstritten. Insbesondere Prozesse der Selbstmedikalisierung können als »Selbsttechnologien«, d.h. als subtile Formen von »nach innen« verlegten Herrschaftsmechanismen interpretiert werden (vgl. Bröckling et al. 2000). Ein prägnantes Beispiel liefert die so genannte Schönheitschirurgie, in deren Kontext der Patient zwar als aktiver Kunde auftritt, gleichwohl jedoch auf diskursive Anrufungen reagiert, die teilweise von den Leistungserbringern durch intensive Öffentlichkeitsarbeit erst verbreitet werden.

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Interessen der Nutzer medizinischer Angebote (vgl. Foucault 2003; Lupton 1997; Huerkamp 1985). Dieser Aspekt gesellschaftlicher Medikalisierung steht in engem Zusammenhang mit der Professionalisierung der Medizin. Medikalisierung meint andererseits auch die Etikettierung oder Interpretation (z.B. sozialer) Phänomene, die zuvor nicht in medizinischnatur-wissenschaftlichen Denkkategorien wahrgenommen wurden, anhand medizinischer Deutungsangebote. Es handelt sich bei dem Prozess der Medikalisierung in diesem Sinne ebenfalls um eine Expansion medizinischer Zugriffsbereiche sowie um die Etablierung und zunehmende Ausweitung medizinischer Deutungsangebote. Dabei treiben zwei zentrale Dynamiken diesen Prozess voran: 1.) Die Ausweitung medizinischer Diagnostik, also die Ausweitung der Zuordnung von Phänomenen zu einem bestimmten Krankheitsbegriff oder einer Symptomatik und 2.) die Entgrenzung medizinischer Therapie, also die Ausweitung der Anwendungsbereiche von medizinischen Techniken und Behandlungsmaßnahmen, unter Umständen auch ohne Rückgriff auf diagnostische Kriterien (vgl. Conrad 2007; Wehling et al. 2007). Der Prozess der Medikalisierung ist dabei nicht nur als eine Zunahme medizinischer Machtformen (im Sinne einer Zunahme medizinischer Kontroll- oder Disziplinarregimes) zu verstehen. Selbstmedikalisierungsprozesse, d.h. alle weitgehend selbstgesteuerten Aneignungsprozesse und Praktiken in Bezug auf medizinische Optionen, sind ebenfalls ein zentraler Bestandteil medizinischer Rahmungen und aufs Engste mit deren Etablierung verknüpft. Der Patient ist heute auch Kunde und aktiver Konsument gesundheitsbezogener Angebote (vgl. Conrad 2007; Karsch 2007, 2010).

ADHS: Die Medikalisierung abweichenden Verhaltens und kognitiver Leistungsfähigkeit Die medizinische Umdeutung von Leistungsdefiziten und sozial abweichenden Verhaltensweisen ist Ergebnis der fortschreitenden Ausweitung medizinischer Diagnostik, die ich zuvor als ein zentrales Merkmal eines umfassenden Medikalisierungsprozesses identifiziert habe. Die sowohl alltagsrelevante als auch für Experten handlungs- und begründungsorientierende Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit ist im Verlauf dieser Expansionsdynamik in einigen Bereichen instabil geworden. Am Beispiel der ADHS lässt sich konkretisieren, auf welche Art und Weise soziale Phänomene, wie abweichendes Verhalten (Hyperaktivität) oder Varianten kognitiver Leistungsfähigkeit (Aufmerksamkeit), zu probaten 129

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Symptomen einer Krankheit umgedeutet werden und wie in der Folge auch eine Entgrenzung von Wiederherstellungs- und Optimierungsmaßnahmen zu beobachten ist. Dazu ist zunächst die Frage zu stellen: Wann beginnt das medizinische Deutungsmuster, die moralische Interpretation8 von Verhaltensdefiziten abzulösen? Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert rücken Kinder, die dem damaligen (von protestantisch-calvinistischer Moral geprägten) Kanon an Tugenden wie Selbstbeherrschung und Gehorsam nicht ausreichend nachkommen, in den Interessenbereich der Medizin. Der Psychologe Ludwig Strümpell beschreibt 1890 in der Abhandlung Pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder die Merkmale »Unruhe« und »Unaufmerksamkeit« als moralische Defizite und Charakterfehler (zit. n. Seidler 2004: 241). Der Mediziner George Frederick Still hingegen mutmaßt im Jahr 1902, dass die Verhaltensdefizite eine somatische Ursache haben könnten (vgl. Doyle 2004). Diese Vermutung stützt er auf die Beobachtung, dass viele der untersuchten Kinder nachweislich Verletzungen am Hirn erlitten hatten, welche er als Ursache für ihre Verhaltensauffälligkeiten anführt. Still spekuliert auch, dass einige seiner Patienten – und zwar diejenigen ohne erkennbare Beeinträchtigungen des Gehirns – ihr möglicherweise »krankhaft« anmutendes Benehmen ererbt haben könnten (ebd.: 2). So wird kindliche Unaufmerksamkeit erstmals aus einem medizinisch-biologischen Blickwinkel betrachtet. Aussicht auf eine Behandlungsmöglichkeit, sprich auf eine Wiederherstellung des normgerechten Verhaltens jenseits üblicher Disziplinartechniken, besteht jedoch nicht. So erlangt die Behandlung des unruhigen Kindes erst dann wieder neues Interesse, als der Psychiater Charles Bradley 1937 von einer zufälligen Entdeckung berichtet. Bradley untersucht verhaltensauffällige und lerngestörte Kinder, denen er die Amphetamin-ähnliche Stimulanz Benzedrin verabreicht: »Half of the youth showed dramatic improvement in learning and behaviour; they were more interested in their work and performed it more quickly and accurately (Spencer 2002: 315). Diese neu entdeckte biomedizinische Optimierung von Verhalten und akademischen Leistungen eröffnet völlig neue Möglichkeiten der Therapie und mehr noch, eine neue Logik der Pathogenese: Was therapierbar ist, kann im Umkehrschluss auch als Krankheit definiert werden.

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Die Bewertung abweichenden Verhaltens in moralischen Kategorien war in einer Weise üblich, dass sogar schwerwiegende Geisteskrankheiten als Verlust von Selbstkontrolle und »Rückfall in die Unmoralität« (Fangerau 2006: 369) kontextualisiert wurden.

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Der Erfolg des daraufhin entstehenden Krankheitskonzepts lässt sich anhand seiner fortschreitenden Kodifizierung beschreiben. Kodifizierung bedeutet hier, dass die fraglichen Symptome offiziell in medizinische oder rechtliche Klassifikationssysteme aufgenommen, dort beschrieben werden und somit das abweichende Verhalten symbolisch sowie instrumentell zu einer medizinischen Kategorie gemacht wird (vgl. Conrad/Schneider 1980).9 Bis in die 1980er Jahre kursieren die Begriffe Minimal Brain Dysfunction, Hyperkinesis oder Hyperkinetic Reaction of Childhood konkurrierend in der Literatur. In der ersten Ausgabe des Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders, des Handbuchs psychischer Krankheiten der American Psychiatric Association, ist noch keine der ADHS entsprechende Symptombeschreibung aufgenommen (vgl. DSM 1952). In der darauf folgenden Ausgabe (DSM-II 1968) wird eine eigene Kategorie gebräuchlich gemacht, in der so genannte Behavior Disorders of Childhood and Adolescents aufgeführt werden. Hier wird die Hyperkinetic Reaction of Childhood beschrieben, eine an die ADHS erinnernde Symptomatik. Erst mit der Ausgabe III (1980) wird das Krankheitsbild Attention-Deficit Disorder (ADD) namentlich eingeführt und ausführlich dargestellt. Tatsächlich werden mit Erscheinen des DSM-III gleich zwei zu differenzierende Störungen eingeführt: das ADD-H (ohne Hyperaktivität) und das ADD+H (mit Hyperaktivität). Seit der vierten Ausgabe des DSM von 1994 wird noch dezidierter unterschieden: für jede nur mögliche Ausprägung ist eine eigene Krankheitskategorie vorhanden. Der vornehmlich unaufmerksame Typ, der vornehmlich hyperaktive Typ sowie der kombinierte Typ, der Merkmale von beiden aufweist, gelten nunmehr als unterschiedliche Ausprägungen derselben Krankheit; die diffuse Symptomatik wird als polymorphes Krankheitsbild ADHS kodifiziert. Auf diese Weise wird ein weites Spektrum an Verhaltens- und Leistungsdefiziten definitorisch dem Zugriffsbereich der Medizin unterstellt. Die Diagnosekriterien im DSM-IV weisen darauf hin, dass es für die ADHS keine objektiv messbaren Parameter gibt, anhand derer das Vorhandensein einer biologischen Dysfunktion präzise feststellbar wäre: »Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich« oder »hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren«, sind typische Beispiele für die weichen Kriterien, die zur Diagnose angewandt werden. Der Übergang von ›normalen‹ Verhaltensweisen zum Pathologischen 9

Die Beschreibung orientiert sich an der Entwicklung der Diagnostik in der US-amerikanischen Diagnose-Klassifikation DSM, da diese gut dokumentiert ist. Die in Deutschland aktuell gültige Diagnose-Klassifikation ist das ICD-10. Die diagnostischen Kriterien für die ADHS im DSM-IV und ICD-10 sind aber weitgehend identisch (vgl. Zaudig 2000). 131

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verläuft fließend und eine Grenzziehung zwischen Krankheit und Gesundheit ist lediglich von der individuellen Einschätzung der Urteilsgeber abhängig. Die entscheidende Grundlage für die ärztliche Diagnostik bilden die in den gängigen Diagnose-Klassifikationen DSM-IV und ICD-10 abgebildeten, aus der Erfahrung abgeleiteten Kategorien von Verhaltensmerkmalen. Die Beschäftigung mit den neurobiologischen Grundlagen der ADHS beginnt erst in den 1970er Jahren. Das neuartige Verständnis der Wirkungsweise von Psychopharmaka führt zu der Vermutung, dass der ADHS eine Störung im Noradrenalin/Dopamin-System des Gehirns zu Grunde liegen könne (Krause et al. 2000: 200). Durch neue bildgebende Verfahren der Positronen-Emissions-Tomografie (so genannte PETScans) häufen sich die Indizien, dass bei einer ADHS ein Mangel in der Dopamin-Transporter-Dichte vorliegt, der durch die Therapie mit Ritalin und ähnlichen Medikamenten temporär ausgeglichen wird (Krause et al. 2000: 20). Im Kontext der andauernden Debatte um den Krankheitswert der ADHS, gelten PET-Scans Medizinern und Betroffenen gleichermaßen als Hoffnungsträger, eine Möglichkeit der Objektivierung der Krankheit gefunden zu haben. Indes verweist die Vagheit der gültigen Diagnosekriterien auf die Schwierigkeit, eine rein biologische Ätiologie zu konkretisieren. Obwohl durch biomedizinische Modelle verschiedene Möglichkeiten zur Objektivierung der Ätiologie angeboten werden, können etwa PET-Scans aufgrund mangelnder Validität, Reliabilität und Anwendbarkeit, in der Praxis bis heute nicht zur Diagnose genutzt werden.10 Lange Zeit wurde angenommen, dass die Symptome der ADHS mit zunehmendem Alter schwächer werden und schließlich ganz verschwinden. Seit einigen Jahren wird ADHS nun auch bei Erwachsenen diagnostiziert: Mediziner vermuten, dass »etwa ein bis zwei Drittel der betroffenen Kinder auch als Erwachsene noch erhebliche beeinträchtigende Störungen aufweisen« (Krause/Krause 2003: 1). Noch im DSM-II 10 Ob zukünftige Fortschritte in Neurologie und Genetik eindeutige Verfahren liefern werden, bleibt abzuwarten. In einer Konsenserklärung internationaler Wissenschaftler wird unterdessen darauf verwiesen, dass weltweit an der Entschlüsselung der Gene gearbeitet werde, welche als Auslöser der ADHS verantwortlich seien (vgl. Consensus Statement 2002: 9). Solche Bekundungen können allerdings als »Strategien der Verzeitlichung« (Beck et al. 2004) bewertet werden – als Taktiken der Verschiebung von Eindeutigkeit in die Zukunft. Derartige institutionelle Strategien sind an die Hoffnung geknüpft, dass die Rationalisierung der Welt durch die Wissenschaft beständig fortschreitet und dass Bereiche, in denen Uneindeutigkeit herrscht – wenn auch nicht sofort, so doch zumindest in der Zukunft – objektivierbar sind. 132

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(1968) wird die Störung als Hyperkinetic Reaction of Childhood, also als eine Kinderkrankheit aufgeführt: »The behaviour usually diminishes in adolescence« (DSM-II 1968: 50). Bereits im DSM-III (1980) wird erstmals konstatiert, dass die Symptomatik in Einzelfällen bis ins Jugendund Erwachsenenalter weiter bestehen kann. In der Text-Revision DSMIII-R (1987) werden einzelne Diagnose-Kategorien variiert und einer möglichen Krankheitsbestimmung bei Erwachsenen angepasst. Unter anderem heißt es nun nicht mehr »frequently calls out in class« (DSMIII 1980), sondern verallgemeinernd, »blurts out answers to questions before they have been completed« (DSM-III-R 1987; vgl. Conrad/Potter 2000: 564). Eine Studie über bildgebende Verfahren in der Erforschung von ADHS (Zametkin et al. 1990) hat die Möglichkeit des Vorhandenseins von ADHS bei Erwachsenen vermeintlich empirisch erhärtet. Es wurden signifikante Veränderungen im dopaminergenen System bei ausschließlich erwachsenen Testpersonen festgestellt. Dieser Befund hat die Auffassung, dass ADHS im Alter weiter bestehen bleibt, ebenso begünstigt wie die fortschreitende Durchsetzung einer neuro-biologischen Ätiologie. Die durchaus umstrittene Studie wurde zum Aushängeschild einer beispiellosen Kampagne, durch die die amerikanische Öffentlichkeit auf die Adult-ADHD aufmerksam gemacht wurde. Neben einer großen Werbe-Offensive der Pharmaindustrie haben zahlreiche populärwissenschaftliche Monographien, Zeitungsartikel und Fernsehsendungen das neue Krankheitsbild ausgiebig thematisiert (vgl. Conrad 2007; Conrad/Potter 2000). Heute gilt die Erwachsenen-ADHS bereits als weit verbreitet: die Prävalenz der ADHS im Erwachsenenalter wird in Deutschland auf etwa zwei Prozent geschätzt – Tendenz steigend (vgl. Philipsen et al. 2008).

ADHS-Therapie oder Neuro-Enhancement? Die jüngst entflammte Debatte um den liberalen Umgang mit NeuroEnhancement Optionen hat auch die Diskussion um die ADHS und die damit verbundene Einnahme von Neuro-Stimulanzien wieder zu einem viel diskutierten Thema gemacht (vgl. Greely et al. 2008; Galert et al. 2009). In der Öffentlichkeit bleibt die ADHS nicht zuletzt deshalb so umstritten, da zu ihrer Behandlung die Therapie mit Psychopharmaka von medizinischer Seite häufig als zwingend notwendig angesehen wird. Psychostimulanzien mit dem Wirkstoff Methylphenidat stellen bei der pharmakologischen Behandlung der ADHS die Medikamente der ersten 133

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Wahl dar, da sie die verschiedenen Symptome und ADHS-typischen Verhaltensweisen in den meisten Fällen positiv beeinflussen. Die Medikation kann »einen Rückgang oppositioneller Verhaltensweisen […] und gleichzeitig eine Zunahme erwünschter Verhaltensweisen bewirken« (Döpfner et al. 2000: 29). Als weitere (Kurzzeit-)Effekte der Stimulanzienbehandlung werden u. a. die Verbesserung der Handschrift, die Verminderung von aggressivem Verhalten sowie die Verbesserung von Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer genannt (ebd.: 28). Durch die Medikation kann also eine zumindest temporäre Wiederherstellung konformen Verhaltens, normgerechter Leistungen und eine Steigerung des Status quo erreicht werden. Dabei bleibt unklar, inwieweit es sich bei den erzeugten Veränderungen tatsächlich (nur) um die Therapie einer pathologisch verhinderten Leistungsfähigkeit handelt oder ob nicht wenig wünschenswerte Eigenschaften und Verhaltensweisen gleichsam mit behandelt werden, die im Einzelfall kaum Krankheitswert hätten. Durch die Medikalisierung alltäglicher Defizite wird die Frage, welches Verhalten ›noch gesund‹ und welches ›schon krankhaft‹ ist, in zunehmendem Maße ungewiss und häufig zu einer Frage der Selbsteinschätzung. In einer an der Universität Augsburg durchgeführten empirischen Untersuchung auf der Basis von Gruppendiskussionen mit erwachsenen ADHS-Patienten (Karsch 2007; Viehöver et al. 2009), bestätigte sich diese Vermutung: Viele Patienten sehen in der medizinischen Neudeutung der eigenen Biographie eine Möglichkeit, sich von der schicksalhaften Bürde bestimmter (tatsächlicher oder vermeintlicher) Leistungsdefizite zu entlasten. Es ist infolgedessen insbesondere bei Erwachsenen eine (tendenziell selbstgesteuerte) Medikalisierung zu beobachten, die zum einen durch die Entlastungsfunktion der zu erwerbenden Krankenrolle motiviert sein dürfte und zum anderen auf der Hoffnung gründet, als defizitär empfundene Eigenschaften durch die Einnahme von Neurostimulanzien zu verbessern. Gerade bei erwachsenen Patienten wird die Diagnose ADHS entsprechend auch als Chance begriffen, da erst die Diagnose den legitimen Zugang zu psychopharmakologischen Möglichkeiten der Optimierung der eigenen Leistungsfähigkeit verschafft. In den alltäglichen Praktiken zeichnen sich unterschiedliche Typen der Aneignung und des Umgangs mit der ADHS-Therapie ab (ebd.): Wenn Patienten die Diagnose ADHS als legitimes biomedizinisches Krankheitsbild anerkennen, wird die Einnahme von Psychostimulanzien als eine unverzichtbare Wiederherstellung des status quo ante, also des Normalzustandes des Körpers ohne Krankheitsbeeinträchtigung interpretiert. In dieser Rahmung ist das Ziel der Einnahme von Ritalin und ähnlichen Präparaten also die therapeutische Wiederherstellung eines vermeintlich ›natürlichen‹ Zustands. Da den Patienten die konzentrati134

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ons- und leistungssteigernde Wirkung des Medikaments durchaus bewusst – diese im Rahmen der ›Krankheitsbehandlung‹ sogar das erklärte Ziel der Einnahme – ist, kann hier von impliziten EnhancementStrategien gesprochen werden. Andererseits gibt es, auch bei Akzeptanz des biomedizinischen Modells, häufig eine weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber dem tatsächlichen Krankheitswert der ADHS, selbst bei diagnostizierten Patienten. Die medizinische Legitimation in Form der ärztlichen Diagnose wird dann lediglich als Notwendigkeit angesehen, um den legalen Zugang zu Stimulanzien zu gewährleisten, sei es aus therapeutischen Motiven oder mit dem erklärten Ziel der Leistungssteigerung (also expliziten Enhancement-Strategien). Und obwohl einige Nutzer von Psychostimulanzien die Einnahme als eine ›unnatürliche‹ Veränderung der Persönlichkeit wahrnehmen, setzen sie diese gleichwohl zielgerichtet zur Leistungssteigerung in bestimmten Situationen ein. Ähnliche Typen des Umgangs mit Psychopharmaka finden sich auch bei ADHS-Patienten im Kindesund Jugendalter, wie Haubl/Liebsch (2008) zeigen können. Da die ADHS nun einerseits, wenn auch umstritten, als Krankheit kodifiziert und somit institutionell verankert ist, auf der anderen Seite aber ein offensichtliches Einfallstor für medizinische Selbst-Optimierung darstellt, bewegt sich die angezeigte medizinische Therapie in einer Grauzone zwischen Krankheitsbehandlung und Alltags-Enhancement.

Resümee Die in diesem Beitrag beschriebene Expansion medizinischer Diagnostik wurde erstens anhand des Übergangs von einer vormals moralischen zu einer pathologischen Beurteilung kindlichen ›Fehlverhaltens‹ und zweitens anhand der Ausweitung der Diagnosekriterien auf Erwachsene seit den 1990er Jahren skizziert. Trotz des kontroversen Charakters der ADHS besteht allem Anschein nach ein individuelles und kollektives Interesse an der medizinischen Bearbeitung von abweichendem Verhalten und Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Inwieweit ist in diesem Kontext die eingangs formulierte Annahme von der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit zutreffend? Die Kontrolle abweichenden Verhaltens durch medizinische Therapie-Maßnahmen bei Kindern, aber auch die (weitgehend) selbstgesteuerte Medikation von Defiziten bei Erwachsenen sind Indikatoren für Strategien der Normalisierung und Optimierung psychosozialer Eigenschaften, die über medizinische Wiederherstellungsmaßnahmen hinausgehen.

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Durch die Etablierung medizinischer Diagnostik in der Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit findet mithin eine Entgrenzung medizinischer Therapieoptionen statt, in denen die Unterscheidung von Wiederherstellungs- und Verbesserungsmaßnahmen (Enhancement) erodiert. Wie gezeigt wurde, befinden sich ADHS-Patienten im Rahmen der Therapie oft in einer Grauzone zwischen Krankheitsbehandlung und NeuroEnhancement. Da Enhancement als der Einsatz medizinischer Mittel zur Verbesserung von Gesunden ohne Krankheitsindikation definiert ist (vgl. Parens 1998; Schöne-Seifert/Talbot 2009) und es sich bei dem Großteil der zum Zweck der Verbesserung kognitiv-emotionaler Zustände eingenommen Medikamente (wie Ritalin, Prozac oder Modafinil) aber faktisch um den institutionell legitimierten Einsatz zur Therapie bestimmter psychiatrischer Beeinträchtigung handelt (von den bislang verhältnismäßig überschaubaren Missbrauchsfällen einmal abgesehen), ist es durchaus plausibel, von einer zunehmenden Erosion der Dyade Gesundheit/Krankheit zu sprechen. Obwohl die zunehmende Tendenz zur Selbstmedikalisierung durchaus als eine funktionale Anpassungsleistung der Betroffenen im Sinne der Annahme der Krankenrolle und dem von Parsons (1951) betonten Genesungswillen begriffen werden kann, ist die basale Rollenzuweisung ›gesund/krank‹ jedoch (und gerade in Hinblick auf den Trend zur Selbstmedikalisierung) nicht mehr universell aufrecht zu erhalten. Denn für Menschen mit chronischen Defiziten, wie ADHS-Betroffene, ist die Krankenrolle nicht transitorisch, sondern besteht konsistent fort. So ist nicht mehr der Genesungswille an sich entscheidend; an seine Stelle treten Versuche der Symptomlinderung, der Verbesserung von Lebensqualität, d.h. in diesem Fall: der Optimierung von Leistungsfähigkeit. Gleichwohl ist zu beachten, dass im Fall ADHS zwar eine tendenzielle Entgrenzung der Unterscheidung Gesundheit/Krankheit festzustellen ist, dennoch bleibt dieselbe Unterscheidung als Bezugspunkt für Handlungs- und Entscheidungsprozesse sowie als institutioneller Schlüsselmechanismus weiterhin bestehen. D.h. also: Für die Krankheitsbeschreibung, also die möglichst wissenschaftlich-analytische Diagnostik der ADHS, ist die Unterscheidung krank/gesund nach wie vor zentral, da mit ihr wichtige Legitimationsprozesse verbunden sind. Der Arzt als Gatekeeper nimmt durch die Codierung gesund/krank eine wichtige Statuszuweisung vor, deren Gültigkeit institutionell und individuell relevant ist. Aufgrund der schwierigen und häufig mangelhaften Diagnostik bleibt die Unterscheidung aber auf ihre legitimatorische Funktion beschränkt. Auf der Ebene des Krankheitswertes lassen sich Symptomkomplexe oder ›Störungen‹, die nicht mehr eindeutig in den Zugriffsbereich der Medizin gehören oder deren Medikalisierung (wenn 136

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auch weitgehend erfolgreich) nie vollständig durchgesetzt werden konnte, nicht oder nur noch schwer der Codierung gesund/krank zuordnen. In der Summe und mit Blick auf die weitreichende Ausweitung medizinischer Zugriffsbereiche über das Beispiel ADHS hinaus, ergibt sich das Bild einer medikalisierten Gesellschaft, in der sich verschiedene Fachgebiete der Medizin auf ›Problembehandlungen‹ jenseits klassischer Krankheitsmodelle spezialisiert haben. Die Dynamik fortschreitender Medikalisierung beinhaltet sowohl die Pathologisierung ›natürlicher‹ biologischer Vorgänge (Alter, Schwangerschaft, körperliche Umbruchsphasen), sozialer Verhaltensweisen (Hyperaktivität) und kognitivemotionaler Zustände (Schüchternheit, Traurigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten) als auch eine Medikalisierung jenseits von Krankheit: sowohl die Anti-Aging Medizin als auch die ästhetische Chirurgie sind Bereiche, in denen sich die Medizin fast ausschließlich am Kundenwunsch orientiert, anstatt an einer bestimmten Krankheitsindikation. Die Ausweitung tradierter Zielsetzungen der Medizin (Krankheitsbehandlung, Krankheitsprävention) in Richtung einer sich deutlich und in vielen Feldern abzeichnenden Enhancement-Medizin, wirft wichtige, bisher ungeklärte Fragen bezüglich der Zukunft der medizinischen Profession und ihrer Tätigkeitsfelder auf.

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FABIAN KARSCH

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Mach mich schön! Geschlecht und Körper als Rohstoff 1 PAULA-IRENE VILLA

Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hat sich in der westlichen bürgerlichen Moderne ein Geschlechterdispositiv etabliert, das den Körper als ›an sich seiende‹, natürliche, objektive, universale und unverrückbare Naturtatsache der Geschlechterdifferenz setzt. Periodisch wird die Wahrheit des Geschlechts ›neu‹ entdeckt: mal sind es die Eierstöcke – so der weithin bekannte Sozialmediziner Rudolf von Virchow 1907 (vgl. von Braun 2000: 9) –, mal sind es die Hormone (vgl. Oudshoorn 1994), mal sind es die Gene oder – wie derzeit – die unterschiedlich gestalteten Hirne, die das biologische Substrat der Geschlechterdifferenz bilden. Wir dürfen getrost gespannt sein, welche Natur der Dinge man in 50 Jahren entdeckt haben wird. Es gehört zu den wesentlichsten Einsichten der Geschlechterforschung, dass wir das, was unsere geschlechtliche Natur ist, selber machen. Die »Genealogie der Geschlechterontologie« (Butler 1991: 60) zeigt, dass das moderne Geschlechterdispositiv (Bührmann/Schneider 2008: 120-135; Schneider/Hirseland 2008) diejenigen von ›Natur‹ aus geschlechtsdifferenten Körper hervorbringt, die es voraussetzt: Dies kann man mikrosoziologisch als das alltägliche ›doing 1

Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den ich im Rahmen eines Workshops des – im DFG Sonderforschungsbereich 536 »Reflexive Modernisierung« angesiedelten – Projektzusammenhangs A2 »Biologisierung des Sozialen oder neue Biosozialität? Die Erosion alltagsnaher NaturGesellschafts-Unterscheidungen und ihre Konsequenzen« im Januar 2009 an der Universität Augsburg gehalten habe. Ich danke den Organisatoren und Diskutanden der Tagung sowie den vielen Studierenden meiner Lehrveranstaltungen an der LMU München für wichtige inhaltliche Einsichten. 143

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gender‹ verstehen, bei dem in hoch voraussetzungsreichen Alltagspraktiken geschlechtliche Körper als Effekt von Interaktionspraxen emergieren (vgl. Garfinkel 1967; Kessler/McKenna 1985; Hirschauer 1989). Diese handlungsbezogene Perspektive lässt sich um die leibliche Dimension des unmittelbaren eigenleiblichen Spürens erweitern, so dass man rekonstruieren kann, wie sich das unhintergehbare Gefühl ›unter der Haut‹ einnistet, ein Mann bzw. eine Frau zu sein (vgl. Lindemann 1993; Jäger 2004). Ebenso kann man, neben der wissenschaftshistorischen Rekonstruktion hoch variabler gesellschaftsspezifischer naturwissenschaftlicher und medizinischer Deutungen (vgl. u.a. Fausto-Sterling 2000; Honegger 1991; Laqueur 1992), der ›Natur des Geschlechts‹ eine diskurstheoretische bzw. epistemologische Brille aufsetzen und damit sehen, dass hegemoniale Diskurse das sehen machen lassen können, was gesehen werden muss – oder anders: dass die »ständig wiederholende und zitierende Praxis [...] der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt« (Butler 1995: 22). Genau diese Wirkung ist die Ontologie des Geschlechtskörpers in seiner modernen Fassung. Kurzum: In der Moderne wird die Wahrheit des Geschlechts in einer als natürlich angenommenen körperlichen Ontologie vermutet – und auch immer wieder ›neu‹ entdeckt –, die den Geschlechtskörper lange Zeit immunisiert hat gegen Modernisierungs- und Reflexivierungsprozesse. Der Geschlechtskörper ist. Doch meine ich, dass sich dies derzeit – wenn auch mit einem beachtlichen Vorlauf – ändert. Ein Anhaltspunkt hierfür scheint mir die bemerkenswerte Zunahme der so genannten kosmetischen oder ästhetischen Chirurgie zu sein, vor allem aber die beachtliche Zunahme ihrer Sichtbarkeit und die darin eingelagerten Normalisierungen. Gewagt formuliert, ließe sich behaupten, dass die ästhetische Chirurgie gewissermaßen als Fortsetzung radikal-konstruktivistischer Perspektiven der Geschlechterforschungs- bzw. der feministischen Theorie – mit anderen Mitteln, nämlich dem Skalpell und der Spritze – verstanden werden könnte. Es ist jedenfalls heute im Vergleich zu den 1990ern ungleich anschlussfähiger, den Studierenden zu erklären, was uns die soziologische Beforschung transsexueller Praxen und Deutungen sagen können: Dass wir nämlich alle unsere Körper mehr oder minder intensiv bearbeiten, um als ›normale‹ Frauen oder Männer durchzugehen – transsexuelle Menschen tun dies lediglich reflektierter.2 2

Transsexuelle Menschen waren in der mikrosoziologischen, genauer ethnomethodologischen und leibphänomenologischen Forschung aus besagtem Grund mehrfach Subjekte der wissenschaftlichen Begierde. Vgl. Garfinkel (1967); Hirschauer (1992); Lindemann (1993). Derzeit finden sich auch unter dem Begriff ›transgender/transgenderism‹ eine Reihe einschlägiger Arbeiten.

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Die gestiegene (Alltags-)Plausibilität für diese Annahme – die sich gleichwohl in Grenzen hält – ist in meinen geschlechtersoziologisch geschärften Augen weder kontingent noch eine modische Extravaganz. Vielmehr zeichnet sich, und dies ist das Thema meines Beitrags, eine grundlegende Umstellung des zwei Jahrhunderte währenden Dispositivs ab: Nicht mehr die Natürlichkeit der Geschlechterdifferenz gilt es praxeologisch zur Schau zu stellen, sondern zunehmend die Arbeit, die es bedeutet, eine richtige Frau bzw. ein richtiger Mann zu sein. Das entsprechende Exempel, welches ich hier nicht als methodisch abgesicherte Empirie, sondern als erste Annäherung an ein Feld präsentiere, ist das der kosmetischen Chirurgie. Öffentlich wird derzeit, mehr oder minder intensiv, der so genannte ›Schönheitsboom‹ oder auch ›Körperwahn‹ diskutiert. Medienformate, die das nächste Topmodel suchen oder in denen das Makeover von Personen betrieben wird, auf dass sie hernach eine Ausbildungsstelle erhalten, befeuern diese Diskussionen. Darüber hinaus boomt tatsächlich die Branche der kosmetisch-plastischen Chirurgie, auch wenn die Zahlen hierzu nicht verlässlich sind. Von einem beeindruckenden Anstieg der Zahl der im engeren Sinne nicht-medizinisch indizierten Eingriffe an Busen, Bauch und Nase kann gleichwohl getrost ausgegangen werden. Grob geschätzt, lassen sich in der Bundesrepublik Deutschland derzeit zwischen 150.000 und 300.000 Menschen ›bearbeiten‹, manche Internetportale beschwören gar Zahlen von bis zu 800.000.3 In den USA 1997 unterzogen sich laut Schätzungen ca. 2,1 Millionen Frauen einer plastischen Chirurgie. 2003 waren es mehr als 8,8 Mio. – das ist eine Steigerung um mehr als das Vierfache in sechs Jahren und zwar in einem quantitativ wirklich relevanten Sinne.4 Dass die Zahlen einerseits beeindruckend groß sind, andererseits aber schwankend und unzuverlässig, ist weder Zufall noch eine Marginalie. Vielmehr verweisen sie auf hoch interessante und komplexe Aspekte der kosmetischen Chirurgie: Das Phänomen der kosmetischen Chirurgie zwingt zur gesteigerten Reflexivität – weil es selber Ausdruck einer solchen ist. So ist z.B. alles andere als klar, wie zwischen medizinisch indiziert, psychotherapeutisch hilfreich, Wellness oder Enhancement zu unterscheiden ist. Ist das Abschleifen von Akne eitler Tand – oder der Weg zu einem Leben frei von 3

4

Vgl. z.B. http://www.schoenheit-und-medizin.de/news/statistik/statistik -aesthetische-chirurgie.html; http://www.lacremosa.de/fachpresse.htm#7; http://www.gacd.de/presse/zahlen-und-fakten/2005/zahlen-und-fakten2005.html; http://dgaepc.de/files/DGAEPC-Magazin.pdf. Alle Zugriffe vom 09. Sept. 2010. Vgl. http://www.cosmeticplasticsurgerystatistics.com/statistics.html und http://www.surgery.org/media/statistics. Letzter Zugriff am 09. Sept 2010. 145

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Häme, Ausgrenzung und seelischem Leid, d.h. zur gesellschaftlichen Teilnahme? Ist die Fettabsaugung am Bauch der legitime Weg zur sozialen Anerkennung? Was unterscheidet die Angleichung unterschiedlich großer/kleiner Brüste bei der Einen von der Brustvergrößerung als Teil einer transsexuellen Lebensweise bei der Anderen? Bündiger gefragt: Haben wir nicht alle das prinzipielle Recht, unseren Körper selbst in die Hand zu nehmen – und ihn dabei evtl. auch durch die Hände eines anderen nach unseren Wünschen und Vorstellungen gestalten zu lassen? Sind Frauen, die sich ›schön‹ machen (lassen wollen) also Opfer eines perversen ›Körperkults‹, der nur vordergründig etwas mit Schönheit zu tun hat, in Wirklichkeit aber auf die Zurichtung wettbewerbsfähiger Körper abzielt? Oder sind diejenigen, die sich etwa Zähne richten, Bauch straffen oder die Augenlider heben lassen besonders selbstbewusste und handlungsmächtige Personen, die ihren Körper selbst in die Hand nehmen und damit im besonderen Maße individuelle Autonomie in rationaler Absicht praktizieren? Frei nach Kant: Habe den Mut, Dich Deines eigenen Körpers zu bedienen. So gesehen, wäre die Inanspruchnahme der plastischen Chirurgie unter Umständen die real geworde Verkörperung des bürgerlichen Subjekts, das – wie Andreas Reckwitz (2006: 112) ausführt – eine souveräne Selbstregierung betreibt, die ihrerseits die Disziplinierung des Erratischen in Körper und Geist sowie das individuelle Management sozialer Risiken und Kontingenzen beinhaltet. In meinem Beitrag werde ich einige dieser Fragen aufgreifen und mit einem insgesamt entschiedenen ›Jein‹ bzw. ›sowohl als auch‹ beantworten. Soziologisch und feministisch betrachtet, ist die derzeitig als explizite Praxis zu beobachtende, medizinisch katalysierte Herstellung von ›Schönheit‹ gleichermaßen Ausdruck von Freiheit und Selbstermächtigung wie sie Ausdruck von Unterwerfung unter Normen und Entfremdung ist: Dabei wird zunächst knapp genealogisch skizziert, inwiefern die feministische Thematisierung des Körpers als ›Reflexivierung‹ zu verstehen ist und wie dies zugleich den gegenwärtigen Formen der ›Rohstoffisierung‹ des (Frauen-)Körpers Tür und Tor geöffnet hat. Dass die derzeitigen Formen der »Manipulationen des Körpers« (Ach/ Pollmann 2007), die im Horizont einer Entgrenzung der Medizin stattfinden, den ehemals feministischen Anliegen womöglich geradezu diametral entgegen stehen, das wird nachfolgend ausgeführt. So werde ich entlang einiger Medienformate und Beispiele ausführen, was ich mit ›Rohstoffisierung‹ bzw. mit ›Körperarbeit‹ in der Gegenwart meine und inwiefern sich hierbei eine irritierende diskursive Kontinuität mit den ehemals emanzipatorischen Semantiken der Selbstermächtigung qua Körper zeigt. Dies wird vor allem an der Verzahnung von ›Schönheit‹ und Normalisierung deutlich. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer 146

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für die Anerkennung von Ambivalenzen, die sich aus der Entgrenzung der Medizin ergeben.

1. Feminist Body Politics Wie kaum eine andere soziale Bewegung hat die ›zweite Frauenbewegung‹ die deutsche Gesellschaft modernisiert (vgl. Gerhard 1999). Mit Modernisierung ist hier nicht mehr und nicht weniger als eine Reflexivierung gemeint, das heißt eine, z.B. mit Habermas (1981) gesprochen, »Verflüssigung« von lebensweltlichen Wissensbeständen zugunsten ihrer öffentlichen Debattierbarkeit. Es wurde politisch, medial und auch in den Mikropolitiken von Beziehungen verhandelbar und verhandlungsbedürftig, was ehedem normatives Apriori war und systematisch durch die Anrufung der Natur der (Tat-) Sache auch als solches definiert wurde. Lebensweltliche Sinnhorizonte also stehen im Prozess solcher Reflexivierungen nicht nur zur Disposition; die Menschen, die in diesen Sinnhorizonten agieren, wissen dies auch. In Bezug auf Geschlecht sind solche, immer von Feministinnen angestoßenen, Reflexivierungen kaum zu überschätzen. Das Recht auf ein »Stück eigenes Leben«, wie BeckGernsheim in Bezug auf geschlechtlich relevante Reflexivierungs- und Individualisierungsprozesse bündig formulierte (Beck-Gernsheim 1983), betrifft dabei nicht nur die Berufswahl, die Form der Partnerschaft oder die egalitäre Aufteilung von Hausarbeit. Sie betrifft auch, und womöglich gerade, das Recht auf den eigenen Körper. Das Recht über die eigene Natur nachzudenken und diese für sich zu beanspruchen, über sie zu verfügen – das darf wohl als einer der skandalträchtigsten und doch auch nachhaltigsten Effekte der ›zweiten Frauenbewegung‹ gelten.5 Körperbezogene Modi, die Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen, dass das Private politisch sei, war eine der sichtbarsten und nachhaltig5

Es soll nicht unterschlagen werden, dass bereits die erste Frauenbewegung den Zusammenhang von Körper – Geschlecht – Ungleichheit kritisch thematisiert hat, so etwa Hedwig Dohm in vielen Texten (vgl. Dohm 2006). Auch de Beauvoir stellt in ihrem Klassiker Das andere Geschlecht (orig. 1949; dt. 2000) einen – wenn auch ambivalenten und problematischen – Zusammenhang, zwischen körperlichen Praxen, wie dem Gebären und Stillen, und den Verführungen der Passivität bzw. der Immanenz als unfreies sowie zugleich als weiblich kodiertes Prinzip, her. De Beauvoir hat ausdrücklich dafür plädiert, dass Frauen sich von diesen ›Fesseln‹ lösen sollten, um transzendente Lebensentwürfe realisieren zu können. Dass solche Forderungen nichts von ihrer Brisanz verloren haben, zeigen die zyklisch wiederkehrenden politischen Debatten um ›richtige Mutterschaft‹. Vgl. dazu für den aktuellen französischen Kontext Badinter (2010). 147

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sten Reflexivierungs-Strategien der ›zweiten Frauenbewegung‹: Körperlich wurde die Grenze zwischen öffentlich und privat überschritten, so etwa bei ›take back the night‹ Aktionen, als Frauen ohne männliche Begleitung nachts ausgingen und das Recht für sich geltend machten, frei von Angst vor sexualisierter Gewalt die Öffentlichkeit zu nutzen (vgl. http://www.takebackthenight.org/history.html). Körperlich wurde Widerstand gegen Medikalisierung und Pathologisierung gelebt, etwa durch die Gründung von Frauengesundheitszentren oder im Kampf gegen die Kriminalisierung der Abtreibung. Körperlich wurde die ebenso bürgerliche wie marxistische Trennung von Produktion und Reproduktion thematisiert, etwa durch das Stillen von Säuglingen in öffentlichen, z.T. beruflichen bzw. professionellen Settings. Und körperlich wurde der immanent politische und herrschaftsgebundene Charakter des Begehrens spürbar, so etwa in den Debatten und Selbsterfahrungsgruppen, die sich kritisch mit der heterosexuellen Penetration als ›eigentliche‹ oder ›normale‹ Form der Sexualität auseinander setzten (vgl. Lenz 2008: 99-146; Bührmann/Mehlmann 2008). Körperlich war auch und insbesondere das Thema der Gewalt und ihre Sexualisierung: »Fast alle Forderungen der Frauenbewegung konzentrierten sich auf Körperliches«, so Barbara Duden (2008: 594) in einer Bilanz. Dass der Körper in den Mittelpunkt feministischer Praxen rückte, konnte – so meine an Duden geschulte These – nur durch die theoretische und praxeologische EntNaturalisierung des selbigen geschehen. Der Körper wurde zu einer Ressource, zu etwas, dessen man sich bedienen konnte: ›Mein Bauch gehört mir‹. So wichtig das ›mir‹ dieses Slogans im Sinne neuer Vergesellschaftungs- und Subjektangebote war (und ist) und so relevant die darin eingelagerte Semantik von Befreiung aus der Unmündigkeit qua Autonomie, so wenig ist bislang das ›gehören‹ dieses Mottos beachtet worden. Der Bauch kann einem gehören. Das deutschsprachige ›Mein Bauch gehört mir‹ impliziert den Nachsatz ›und ich mache damit, was ICH will‹. Damit impliziert es ein autonomes Subjekt, hier vor allem jenseits von Expertenwissen. Autonomie ist das Leitmotiv der ›zweiten Frauenbewegung‹, das hegemoniale Subjekt-Paradigma. Selbstermächtigung qua Körper ist die Praxis. Der Körper, der als Objekt politisiert wird,6 ist im feministischen 6

Damit keine Missverständnisse entstehen: Der Körper wurde mitnichten durch den Feminismus politisiert. Vielmehr haben feministische Praxen, dann auch feministische Theorien sowie das weite Feld der Geschlechterforschung, vor allem aber die queer theory (vgl. Jagose 2001) gezeigt, inwiefern der (Geschlechts-)Körper gewissermaßen immer schon politisch, da vergesellschaftet, ist. Dies zu behaupten ist wiederum kein normativer oder gar politischer Standpunkt, sondern eine an sich triviale soziologi-

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Kontext zudem Ausgangspunkt neuer und neuartiger ›Normalitäts‹Vorstellungen. Aktionen der ›zweiten Frauenbewegung‹ zielten darauf ab, von den gelebten Erfahrungen, von der faktischen Vielfalt und Komplexität sowie der eben nicht normierbaren Einzigartigkeit konkreter Frauenkörper auszugehen. In den feministischen Bewegungen spielt die Kritik an Schönheitsnormen und der Normierung von Frauenkörpern in den Medien eine zentrale Rolle. Dabei war die Sichtbarkeit (qua Körper) Dreh- und Angelpunkt des Politischen; die öffentliche Sichtbarmachung ›normaler‹ Körper war zentral. Sichtbarmachung war – und ist weiterhin – die Arena politischer Auseinandersetzungen um Deutungshoheit (vgl. jüngst Engel 2009; McRobbie 2010). Ihre Entsprechung findet dies in den Legion gewordenen Studien der Frauen- und dann Geschlechterforschung zur Herstellung von Normalität, der Normalisierung also, qua Sozialisation, Disziplinierung, Interaktion usw. Dies zu betonen ist insofern wichtig, als in den gegenwärtigen Inszenierungen geschlechtlich markierter Körper, z.B. in den Massenmedien, ein gegenteiliges Normalitätskonzept praktiziert und propagiert wird. Hierauf komme ich im nachfolgenden Abschnitt zurück. Die hier kurz skizzierte feministische Objektivierung hat einen immanent ambivalenten Charakter. Denn feministische Selbstbestimmung und Selbstermächtigung hat faktisch – wohl entgegen jeglicher Absicht – den Weg bereitet für die »Sorge um sich« im Foucaultschen Sinne (Foucault 1985), für die Verwandlung von Frauen z.B. in Klientinnen des Gesundheitssystems, ihre Metamorphose in Risikoträgerinnen und Patientinnen, die sich dauernd selbst beobachten und bewerten müssen (vgl. Duden 2008: 594ff.; Samerski 2003). Feministische Körperpraxen haben ihren historischen Anteil an der Normalisierung der Selbstbeobachtung, der Selbstkontrolle und der Selbstregulierung, die für die gegenwärtige »Optimierung durch Selbstbestimmung« (Duttweiler 2004: 23) typisch sind. Was nun mit der Ressource Körper geschehen soll, wie sie genau zu verwenden ist, das war und bleibt außerordentlich umstritten. Nicht zufällig gab es ja im Zuge etwa der Butler-Rezeption eine – gelinde gesagt – lebhafte Debatte um den Stellenwert des Körpers (vgl. Butler 1995: 917 sowie feministische studien 1993). Die Härte der wissenschaftlichen und normativen Bandagen, mit denen dabei gestritten wurde, zeugt auch davon, wie schmal der Grat ist, den der reflexive Körper wortwörtlich gehen muss. Ein Grat zwischen den Abgründen der Befreiung des und der Befreiung vom leibhaftigen Körper. Trefflich streiten kann man sich

sche und historische Einsicht, die durch Autoren wie Erving Goffman, Norbert Elias, Michel Foucault und andere systematisch entwickelt wird. 149

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hierüber nach wie vor, beispielsweise anhand der populärkulturellen Inszenierungen etwa von Lady Gaga, Beth Dito oder Werbekampagnen wie die von ›Dove‹7, den neu entfachten Pornographiedebatten seit dem Auftauchen des selbst erklärten ›neuen Feminismus‹ inklusive des Buches ›Feuchtgebiete‹ von Charlotte Roche, den Kandidatinnen bei Heidi Klum – oder der kosmetischen Chirurgie.

2. Rohstoffisierung: Schönheit als Chiffre für Norm(alisierung) Schaut man auf die gegenwärtige mediale Inszenierung der kosmetischen Chirurgie stellt man schnell fest, dass von einer Dramatisierung als ›Freak-Show‹ nicht mehr die Rede sein kann. Sorgte ein Format wie The Swan, das im Jahr 2004 mit mäßigem kommerziellen Erfolg in deutschen Privatfernsehen lief, noch – zu Recht – für ein gehöriges Blätterrauschen im Feuilleton und auch für kontroverse politische Debatten ob der Drastik der Bilder, der Verharmlosung, der Kommerzialisierung ursprünglich medizinischer Techniken und schließlich der unverblümten Ausstellung der Künstlichkeit von Körpern (vgl. etwa von Rohr 2004), so können wir heute bei RTL2 ein Format wie extrem schön – endlich ein neues Leben sehen, über die ansonsten niemand berichtet.8 Im Frühjahr 2008 lief, ebenfalls kommerziell erfolglos, »Spieglein, Spieglein (…)« (VOX, täglich, 17 Uhr, März bis Mai 2008), ohne dass dies weiter für größeres Aufsehen gesorgt hätte. Dabei ist gerade letztere die in meinen Augen dramatischere Sendung: Diese nämlich stellt chirurgische Eingriffe, etwa zur Brustvergrößerung oder zur Entfernung einer ›Fettschürze‹, dramaturgisch und rhetorisch gleich mit dem ›Styling‹ beim (Star-)Friseur oder der ›Auffrischung‹ von Brustwarzen durch eine mittelfristig haltbare Hautbehandlung mit Farbpigmenten: »Das 60-minütige Format beschreibt die Ängste, Wünsche und Hoffnungen, lässt kritische Stimmen zu und dokumentiert den manchmal einfachen, oft aber auch recht schmerzhaften Weg zu einem besseren Lebensgefühl. Kosmetiker, Diätberater, Stylisten und Chirurgen kommen zu Wort und beschreiben, wie sie die Wünsche ihrer Klienten professionell umsetzen.« (Zit. n. http://www.vox.de vom 15. Mai 2008) 7

8

Empfehlenswert für eine Einsicht in Debatten um Visualisierungen des (Geschlechts-)Körpers ist das Internetportal ›Sociological Images: Seeing is Believing‹ (http://sociologicalimages.blogspot.com/search/label/gender). Vgl. für vielfache Auseinandersetzungen mit diesem Format verschiedene Beiträge in Villa (2008a).

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Ob Kosmetiker oder Chirurg – sie alle arbeiten, gleichermaßen wohlgemerkt, am Wohlbefinden ihrer Klienten. Die plastische Chirurgie, die bislang als extreme Form des Eingriffs in den Körper galt und die nach wie vor überwiegend dann als legitim wahrgenommen wird, wenn sie sich auf ihre medizinischen Kernbereiche, wie Behandlungen nach Unfällen oder Korrekturen gravierender ›Mängel‹, beschränkt, die die Lebenschancen der Menschen deutlich einschränken (zusammengewachsene Finger, Gaumenspalte, uneindeutige Genitalien, kurz: ›Missbildungen‹, die entweder Körper in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigen oder die Menschen stigmatisieren), mutiert hier zur WellnessDienstleistung am Kunden. Darin liegt m.E. die Dramatik der Sendung. Und darin liegt sicher auch ihre Anschlussfähigkeit an den ›Zeitgeist‹ des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007). Denn das »bessere Lebensgefühl«, das den Kunden in ihrem neu gestylten Leben – und das schließt chirurgische Eingriffe selbstverständlich mit ein – versprochen wird, ist in solchen Formaten immer aufs Engste gekoppelt mit beruflichen Ambitionen und ökonomischen Motivationen. Es geht, kurz, um ein erfolgreiche(re)s Leben. Und dieses braucht, das ist in der Sendung nur plakativer als in unser aller Alltag, einen beständig zu optimierenden Körper. Mehr noch, der Lebenserfolg wird verkörpert und praktisch wirksam anhand des erfolgreichen, beständigen ›Tunings‹ des Körpers. Dies war in der bereits erwähnten Sendung The Swan angelegt und wurde überdeutlich inszeniert. Maßstab für die Bewertung der einzelnen Kandidatinnen bei den Zuschauern und Zuschauerinnen, den Experten und Expertinnen sowie den einschlägigen Foren bei Pro7 war deren Ernsthaftigkeit bei der Arbeit an sich selbst. Authentische Ernsthaftigkeit bei der Arbeit am Selbst wurde in der Sendung performativ zugleich inszeniert wie durch Leid/en erzeugt. Leiden steht für Selbstüberwindung, für Arbeit an der Grenze, für die Verwandlung des Menschen in einen zu bearbeitenden Rohstoff. Es sollte bei The Swan nie nur darum gehen, sich ein bisschen ›unters Messer zu legen‹, wie es auch Zuschauer/innen im entsprechenden Internet-Forum formulieren, das Pro7 auf seiner Webseite eingerichtet hatte. Vielmehr sollen Silke, Helena, Tatjana und die anderen noch hässlichen Entlein vorführen – und zwar buchstäblich im Schweiße ihres Angesichts –, dass sie auch »innen hui« sind. Dasselbe können wir gerade bei Heidi Klum verfolgen, wo ja alles eine Rolle spielt – nur die Schönheit nicht. Anerkannt und erkannt wird das Arbeiten/Leiden anhand der Verkoppelung von Geständnis, das ja historisch allzu oft die Form der Selbst-Ermächtigung annimmt, einerseits und der entsprechenden biopolitischen Selbst-Regierung im Foucaultschen Sinne andererseits, die als Selbst-Beherrschung gelesen werden kann. Selbsterkenntnisse der Kan151

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didatinnen und die sich anschließende Einfädelung der Frauen in die jeweiligen Expertendiskurse (Diät, Fitness, Schönheit, Psychologie usw.) sowie die Koppelung beider Ebenen durch die Bewertung jeweiliger Selbstprüfungen und -beobachtungen bilden letztlich die gesamte Handlung der Sendung. Die Kandidatinnen werden nicht nur befragt, gewogen, gemessen und geprüft – sie müssen sich vor allem selbst prüfen und befragen zu den verschiedensten Aspekten ihres Selbst und ihres Körpers. Möglichst Vieles soll offenbart und damit nicht verhandelbar, sondern verfügbar gemacht werden. Das ist das Typische an entsprechenden Formaten: Du sollst selber wollen, was Dir Experten vorschlagen. Der feine, aber alles entscheidende Unterschied zwischen Verhandlung und Verfügung markiert das Umschlagen von Selbstermächtigung zu Selbstbeherrschung. Denn der hierarchisch gesetzte Horizont der Wissensproduktion der Sendung ist die Erzeugung von Normalität. Der konstitutive Rahmen für die Beurteilung der individuellen Konstruktionspraxen ist der einer Normalisierung qua Optimierung. Und in diesen konstitutiven Rahmen sind die vorgängigen emanzipatorischen Diskurse der Selbstermächtigung, ihrer sozialen Einbettung jedoch entkleidet, eingebaut. Unter der Hand nämlich, aber auch explizit, z.B. in den Diskussionen im Zuschauerforum zur Sendung, ist das Recht auf die autonome Verfügung über den eigenen Körper der basso continuo der Show. Das individualisierte Subjekt wird auch in den einzelnen Sendungen immer wieder leibhaftig angerufen, so z.B. dann, wenn den einzelnen Frauen vorgeworfen wird, ihre Familie zu vermissen und damit zu wenig ernsthaft bei der Sache – der Arbeit am Selbst – zu sein. Mangelnde Autonomie wird zum Vorwurf und zwar in einem hochgradig expertisierten Kontext. Die Experten sagen nicht mehr, wie noch in einem ›paternalistischen‹ medizinischen Diskurs, was genau zu tun ist, sondern zeigen in einem moralisierenden Sinne Optionen der Entscheidung auf.9 Das ist gouvernementale, post-disziplinäre Selbstregierung im Sinne Foucaults in ihrer reinsten Form (vgl. Bröckling et al. 2000; Foucault 2004; Pieper/Gutiérrez Rodríguez 2003). Normalisierung ist der Dreh- und Angelpunkt in The Swan. Es geht jedoch nicht um eine Normalität, die am faktischen ›Normalen‹ und seiner unausweichlichen Vielfalt ansetzt, wie noch im Rahmen feministischer Praxen. Vielmehr geht es um die Verkörperung spezifischer, dabei 9

Für den Wandel der medizinischen »Mythen« und der darin eingelagerten medizinischen Selbstverständnisse Saake/Vogd (2007). Für eine kritische Auseinandersetzung mit ›Mündigkeit‹ als autonome Entscheidungsfähigkeit im medizinischen Kontext (am Beispiel der Pränataldiagnostik) vgl. Samerski (2003).

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aber phantasmatischer Geschlechtsnormen. Natalia, Claudia, Helena und die anderen noch ›hässlichen Entlein‹ sollen nicht die werden, die sie bereits sind – sondern zu denen, die sie werden wollen sollen: »Katja und Daniela leiden beide unter ähnlichen Problemen. Fettpölsterchen, kleine Brüste und wenig Selbstbewusstsein haben sie gemeinsam. Aber auch den unbedingten Willen zur Veränderung!« heißt es in der Darstellung von Episode 9 auf der Pro7-Webseite. Die semantische Koppelung von Fett, ›kleinen Brüsten‹ und dem Mangel an Selbstbewusstsein deutet schon an, wohin die Transformation des Selbst qua Körper gehen soll: den Normen einer Norm-Frau zu entsprechen. Die konkrete Umgestaltung der Körper wird als (Wieder-)Herstellung einer »verlorenen Geschlechtsintegrität« (Strick 2005: 111) vollzogen. Richtige – normale – Frauen, so erzählen die gecasteten Frauen und so erzählt es der Sender, haben vor allem einen richtigen Körper – aber im medialen Narrativ wird erst umgekehrt ein Schuh draus: Nur wer den richtigen Körper hat, ist eine richtige Frau. Hatten Frauenbewegung und Frauen- und Geschlechterforschung noch auf ein Normalitätskonzept gesetzt, welches von der realen und irreduziblen Vielfalt der weiblichen Körper als Maßstab von Normalität ausging, so setzt die Logik der kosmetischen Chirurgie an einer statistischen Norm an. Sie vollzieht »Normalismus« (Link 1998) qua hochgradig abstrakter statistischer Maße, wie BMI, WHR, ›Fitness‹-Werte, einerseits und deren konkrete Verkörperungen á la Verona Feldbusch-Pooth (Jurorin) andererseits. Dies ergibt eine normative Melange, an der sich die realen Körper dieser realen Frauen zu messen haben. Dabei ist »[d]ie Norm ein Maß und Mittel, um einen allgemeinen Standard hervorzubringen«, so Butler (2004: 53). Ein Beispiel für die Norm zu werden«, so Butler weiter, »(…) heißt von einer abstrakten Allgemeinheit subjektiviert zu werden« (ebd.). Im Prinzip ist das nicht neu. Neu ist auch nicht, dass konkrete Personen aufgerufen werden, sich den Normen der Geschlechterdifferenz performativ durch harte (Körper-) Arbeit anzunähern und damit zu weiblichen »Körpern von Gewicht« zu werden – Diäten, Korsetts, High Heels, abgebundene Füße, durch Teller gestreckte Unterlippen und vieles, vieles mehr sind nur einige Beispiele aus einer langen Liste mehr oder minder schmerzhafter, mehr oder minder lustvoller Weiblichkeitsprothesen zur Herstellung einer als natürlich kodierten Schönheit bzw. zur Annäherung an eine von der Natur ›an sich‹ vorgegebenen Weiblichkeit. Dass diese mit der Chiffre ›Schönheit‹ kodiert wurde und wird, das entspricht der historischen Durchsetzung eines spätestens mit Rousseau beginnenden bürgerlichen Diskurses, der Männer mit vernunftbegabten Menschen, Frauen mit einer ästhetisch aufgeladenen Natur gleichsetzt. ›Schönheit‹ war und ist (noch?), wenn auch in komplexer Weise, als 153

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›natürliche‹ Eigenschaft kodiert – als ontologische Qualität, die sich – angeblich – an natürlichen Proportionen orientiert. Und tatsächlich, wenn man sich die Selbstdarstellungen von kosmetischen Chirurgen/Chirurginnen anschaut, ist auffällig oft von der ›natürlichen Ausstrahlung‹, der ›natürlichen Schönheit‹ die Rede.10 Kosmetische Chirurgen und Chirurginnen verstehen sich nicht selten als Künstler, die eine Natürlichkeit modellieren wollen, wo sie aufgrund misslicher Lebenserfahrungen ›verschüttet‹ – oder ›zerknittert‹ – ist. Natur machen – ein Paradox? Mitnichten. In gewisser Weise knüpfen diese Selbstbehauptungen an feministische Traditionen an, insbesondere an solche, die analog zur praktischen Reflexivierung des Körpers durch die Frauenbewegungen seit Jahrzehnten theoretisch, wissenschaftshistorisch und empirisch auf die ›Naturalisierung‹ des Geschlechts aufmerksam machen. »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« (De Beauvoir 1961: 433) Das de Beauvoirsche Diktum ist das Leitmotiv der sozialkonstruktivistischen Perspektiven in der Geschlechterforschung, die auf die zentrale Pointe moderner Geschlechterverhältnisse hinweisen: Natur ist eine soziale, diskursive, politische Konstruktion. Genau das setzen kosmetische Chirurgen und ihre Klienten/innen getreu um und zwar recht offensiv.11 Neu an der Sendung The Swan und analogen Formaten ist die offensive und voyeuristisch inszenierte Betonung der Arbeit am sowie der Plastizität des Körpers und des Leidens, die die somatische Annäherung an eine Norm beinhaltet. Neu ist, dass es weniger um das Ergebnis geht als vielmehr um den arbeitsreichen Weg. Medizinische Techniken werden dabei ebenfalls weniger als ultima ratio zur Behebung gesundheitlicher Dysfunktionen gedeutet, sondern vielmehr als eine Option von mehreren zur Verbesserung des körperlichen und emotionalen Wohlbefindens. Dass dies erheblich auf das Selbstverständnis der Medizin, insbesondere der damit konfrontierten Mediziner/innen zurück wirkt, das liegt auf der Hand.12 Einen analytischen Mehrwert, um diese Prozesse sozialtheoretisch zu fassen und in einem zweiten Schritt auch für eine empirische Analyse 10 Vgl. aus der Fülle an Material die Interviews in Taschen (2005). 11 Diesen semantischen Zusammenhang, d.h. die diskursive Koppelung von ›Natürlichkeit‹ und ›Schönheit‹ sowie von ›Normalität‹ im Feld des Geschlechts soll ein von mir beantragtes Forschungsprojekt »Das optimierte Geschlecht? Zur (Neu-)Kodierung der Geschlechterdifferenz im Lichte ihrer technologischen Machbarkeit« im Rahmen einer Diskursanalyse ausleuchten. Dabei werden unter anderem einschlägige Dokumente, etwa Selbstdarstellungen von Praxen und Kliniken, die ästhetische Chirurgie anbieten, analysiert. 12 Hiermit hat sich empirisch B. Meili auseinander gesetzt; vgl. Meili (2008). 154

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fruchtbar zu machen, versprechen die Argumentationen Judith Butlers. Sie beschreibt Prozesse der Subjektivierung als Annäherung an Normen, wobei diese Prozesse ihr Scheitern in sich tragen (vgl. Butler 2001; Villa 2006). Subjektivation als gesellschaftlicher, von Diskursen konstituierter Prozess besteht aus dieser Perspektive nicht darin, die Vielfältigkeit – Frauen, Weiblichkeiten – identitätslogisch zu leben, sondern darin, unordentlichen Praxen auf ordentliche identitätswirksame Nenner zu bringen. So bedeutet Subjektwerdung den doppelten, paradoxen Prozess der gleichzeitigen Unterwerfung unter phantasmatische, normative Ideale einerseits und der dadurch gegebenen Existenzmöglichkeit (Intelligibilität) und Handlungsfähigkeit andererseits. Subjekte sind dabei keine konkreten, realen Personen, sondern diskursive Positionen, exemplarisch Anreden/Titel (Frau, Manager, Ausländer, Soziologin, Ärztin usw.). Subjektivation bedeutet, als einzigartiges Individuum einen solchen Platz in sozial angemessener Weise zu besetzen. Dies geschieht auch – und wie ich meine vorrangig – körperlich. In The Swan sind ›richtige, normale Frauen‹ keine real existierende Frauen in ihrer ganzen auch körperlichen Vielseitigkeit, sondern die abstrahierte, phantasierte Idealnorm eines perfekten Körpers. Die Pointe ist aber die, dass der ideale Norm(al)körper niemals wirklich ›gehabt‹ werden kann – ebenso wenig wie eine Subjektposition wirklich sicher und endgültig von Individuen eingenommen werden kann. Umso wichtiger ist, dass der willentliche Prozess der Normalisierung sichtbar verkörpert wird. Die Arbeit am Körper-Ich, der Wille zur perfekten Normalisierung, das scheint der Maßstab für den ›richtigen‹ Körper zu sein. Deshalb wohl auch die Entscheidung der Zuschauer/innen, die Katja zur Siegerin wählten: »Die Zuschauer haben per Telefon-Voting entschieden: Katja hat am härtesten an sich gearbeitet und die größte Veränderung hinter sich.« Dass in solchen Formaten, und das ist bei Heidi Klum nicht anders, die individuelle Anstrengung der Selbsttransformation wichtiger ist als das ohnehin kaum ›messbare‹ Ergebnis (schöner als vorher, zufriedener als vorher, etc.), lese ich als Bestätigung der Butlerschen These vom notwendigen Scheitern der Verkörperung von Diskursen. Dies meint, dass Verkörperungen von Normen bzw. von Subjektpositionen grundsätzlich nicht vollständig gelingen können. Der Prozess der körperlichen Mimesis, den ich in Erweiterung der defizitären post-strukturalistischen Reflexionen zum Körper hieran andocke (vgl. Alkemeyer/Villa 2010), dieser Prozess der Anähnlichung an idealisierte Normen kann nicht abgeschlossen werden, da die (diskursive) Subjektposition ›richtige Frau‹ von realen Personen mit ihrer Einzigartigkeit nicht vollständig besetzt werden kann. In diesem Sinne, so kann man vereinfachend sagen, muss

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jede immer und immer wieder an sich arbeiten, um als ›richtige Frau‹ anerkannt zu werden. Dies trifft für uns alle zu.

3. Ambivalenzen Schließlich gehört es zu den anthropologischen Konstanten menschlicher Existenz, dass wir einen gewissermaßen doppelten Körper- und Selbstbezug haben: Wir sind ein Leib, wir haben einen Körper (vgl. Jäger 2004; Plessner 1975; Villa 2008c). Das meint, dass wir gar nicht anders können, als auch einen distanzierten, instrumentellen Bezug zu uns und unserem Körper zu haben. Manipulationen des Körpers sind für Menschen natürlich. Von Diäten über Tatoos und Korsetts bis zur Botox-Spritze, vom Haare bürsten und Zähne putzen über Brillen und Hörgeräte bis zum Magenband – diese Praxen sind so natürlich wie das Wachsen der Nägel an unseren Händen. Dass sich in all diesen natürlichen Bearbeitungen des Körpers immer auch Normen und Imperative von Geschlechtlichkeit in vermittelter und umkämpfter Weise spiegeln, versteht sich angesichts der reichen Forschung hierzu inzwischen von selbst. Seit dem späten 18. Jahrhundert, seit der Durchsetzung der europäischen bürgerlichen Moderne also, sind diese Imperative und Normen geleitet vom Paradigma der Natürlichkeit im Sinne einer objektiven, universalen, faktischen und ontologischen Geschlechterdifferenz. Und diese gilt es bis heute – morgen schon nicht mehr? –, als solche mit viel mühsamer Arbeit praxeologisch darzustellen. Dass die Praxen und auch Normen der »Wohlgestaltung der Differenz« (Lindemann 1993) immer umkämpft sind, ist unausweichlich: Wir sind aufgrund unserer sozialen Natur ebenso in der Lage wie wir genötigt sind, zu uns und zu unseren Körpern auf Distanz zu gehen. Wir müssen das. Wir können das auch. Jeder Blick in den Spiegel geschieht auch durch die Brille der Anderen, jedes Sich-Selber-Anschauen geht unausweichlich einher mit Bewertungen, wie auch immer diese ausfallen sollten und ob wir es wollen oder nicht. Dazu gibt es schlicht keine Alternative. Ein ›zurück zu‹ oder ein ›authentisch bei sich‹ gibt es in Körperfragen nicht, zumindest nicht als allgemein-verbindliche Form. Das wissen insbesondere diejenigen, die unter ihren Körpern leiden. Es steht uns nicht zu, voreilig darüber zu spotten oder uns zu empören, dass eine Frau aufgrund ihres Gewichts oder ihrer ›zu‹ kleinen oder ›zu‹ großen Brüste leidet. Ethisch gesehen, aber auch aus einschlägigen Studien heraus, gebietet es sich, das subjektive Leiden von Menschen an und in ihren Körpern unbedingt ernst zu

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nehmen.13 Wenn man dies tut, wird klar, wie sehr gesellschaftliche Anerkennung – in jeglicher Hinsicht – davon abhängt, einen ›normalen‹ Körper zu haben. Sich also über die kosmetische Chirurgie und ihrer Herstellung weiblicher Körper zu echauffieren, ist, ich spitze zu, genauso borniert wie die elitäre Behauptung von Wissenschaftlern, das Geschlecht spiele bei der Einschätzung der Qualität des wissenschaftlichen Personals keine Rolle. Wenn man von herrschenden Verhältnissen profitiert, tendiert man dazu, diese nicht zu erkennen. Es geht bei der ›Schönheitschirurgie‹ auch um die Überwindung von authentisch erlebtem Leid, um die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe. Das Recht darauf, den eigenen Körper selbstbestimmt in die Hand zu nehmen – wer kann dazu schon nein sagen? Wenn wir doch wissen, dass der Geschlechtskörper gesellschaftlich gemacht ist – wieso ihn nicht dann auch individuell gestalten?

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13 Vgl. hierzu die Arbeiten von Kathy Davis (u.a. Davis 1995 und 2008) sowie von Ada Borkenhagen (2004). 157

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Hintergründe, Dynamiken und Folgen der prädiktiven Diagnostik THOMAS LEMKE/REGINE KOLLEK

Einleitung Die Sequenzierung des menschlichen Genoms, die darauf basierende Entwicklung medizinisch-genetischer Techniken sowie die zunehmenden Kenntnisse über die Funktion von Genen haben in den letzten Jahren zu einer beeindruckenden Ausweitung genetischer Tests geführt.1 Auch eine qualitative Verschiebung ist zu beobachten: Der Schwerpunkt des gendiagnostischen Angebots verlagert sich von den relativ seltenen monogenetischen hin zu weit verbreiteten, multifaktoriellen Erkrankungen. Ins Zentrum rücken nun molekulargenetische Untersuchungen, die Veranlagungen für komplexe Leiden wie beispielsweise Herz-Kreislauferkrankungen, Asthma, Krebs oder Diabetes erfassen sollen. Eine zentrale Rolle in diesem doppelten Transformationsprozess spielen prädiktive Gentests. Ihre medizinethische und gesellschaftliche Brisanz liegt darin, dass sie Gesunde als »genetische Risikopersonen« begreifen und dadurch zur »Entgrenzung« der Medizin beitragen. Um das erklärte Ziel solcher Untersuchungen – die Vermeidung oder Linderung zukünftiger Krankheiten – zu erreichen, müssen gendiagnostisch identifizierte »Träger« entsprechender Dispositionen beobachtet und gegebenenfalls über viele Jahre prophylaktisch behandelt werden, ohne dass sicher gesagt werden kann, dass die Krankheit ohne Behandlung ausgebrochen wäre oder sich unter der Behandlung nicht doch entwic1

Dieser Artikel greift auf Argumente zurück, die ausführlicher in einem gemeinsam verfassten Buch entwickelt sind (vgl. Kollek/Lemke 2008). 163

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kelt. Bislang ist erst ansatzweise untersucht, welche Konsequenzen damit für die Betroffenen selbst verbunden sind, und wie dieser neue Risiko-Status in Gesundheitswesen und Gesellschaft bewertet wird. Hinzu kommt, dass der klinische Nutzen sehr unterschiedlich eingeschätzt wird. Dies liegt zum einen daran, dass die meisten Untersuchungsergebnisse nur probabilistische Aussagen zulassen und in der Regel lediglich auf ein erhöhtes Krankheitsrisiko verweisen. Zum anderen fehlen häufig wirksame und risikoarme prophylaktische Maßnahmen, mit denen das Auftreten der Krankheit verhindert werden kann. In vielen Fällen ist daher ungeklärt oder strittig, ob und in welcher Weise die Getesteten von prädiktiven Untersuchungen profitieren. Oft wird der Nutzen vor allem im wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, in der Risikoaufklärung und in der Hoffnung gesehen, das Erkrankungsrisiko künftiger Generationen verringern zu können. Der folgende Beitrag will einen Überblick über Hintergründe, Dynamiken und Folgen des Einsatzes prädiktiver Gentests geben. Dabei wollen wir nicht allein die gesellschaftlichen Implikationen der Anwendung und Verbreitung dieser Technologie in den Blick nehmen, sondern auch die vielfältigen Entstehungs-, Stabilisierungs- und Akzeptanzbedingungen einbeziehen, die ihre Implementation beeinflussen. Für dieses Vorhaben lassen sich neben der Untersuchung der Folgen prädiktiver Gentests drei weitere Analyse-Dimensionen unterscheiden: 1. die sozio-technischen Konstellationen, die die Anwendung prädiktiver Gentests fördern; 2. die den Testverfahren eingeschriebenen sozio-kulturellen Kontingenzen sowie 3. die sozio-politischen Kontexte, die sie ermöglichen und stabilisieren. Ziel unseres Beitrags ist es, Grundlinien für eine umfassende Analyse der gesellschaftlichen Voraussetzungen, Dynamiken und Implikationen prädiktiver Gentests zu skizzieren. Dabei führen wir drei unterschiedliche Theorietraditionen zusammen: Wir verknüpfen Intuitionen der neueren Wissenschafts- und Technikforschung, die die systematische Koproduktion von Technik und Gesellschaft untersucht, mit den Einsichten der neueren politischen Soziologie und der Governance-Forschung, vor allem der »Gouvernementalitätsstudien«, sowie mit kulturwissenschaftlichen Analysen biomedizinischen Wissens. Im ersten Teil umreißen wir zunächst knapp die sozio-technischen Konstellationen, die Genese und Verbreitung prädiktiver Gentests geprägt haben und die sozio-kulturellen Kontingenzen, die den Einsatz dieser Technologie charakterisieren. Der zweite Teil arbeitet die soziopolitischen Transformationsprozesse seit den 1970er Jahren und die 164

HINTERGRÜNDE, DYNAMIKEN UND FOLGEN DER PRÄDIKTIVEN DIAGNOSTIK

Auflösung der klaren und eindeutigen Grenzlinie zwischen Gesundheit und Krankheit heraus, die zusammen wichtige Kontextbedingungen für die Entwicklung und Ausbreitung prädiktiver Gentests bilden. Im dritten Teil soll auf ausgewählte gesellschaftliche Folgen des Einsatzes prädiktiver Verfahren eingegangen werden. Am Ende steht ein Ausblick auf die Zukunft der Vision einer prädiktiven Medizin.

1. Konstellationen und Kontingenzen Die Analyse des Verhältnisses von Technologie und Gesellschaft wird regelmäßig durch zwei einander diametral gegenüberstehende Untersuchungsperspektiven dominiert. Die technikdeterministische Position begreift Technologien als Anwendung und Materialisierung wissenschaftlichen Wissens, das – so die hier vorherrschende Sichtweise – weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen und politischen Interessen nach rein objektiven, wissenschaftsimmanenten Kriterien gewonnen werde. Diese Akzentsetzung birgt die Gefahr, gesellschaftliche Verhältnisse als Folge (der Anwendung) von Technologien zu betrachten. Unterschlagen wird in dieser Perspektive die konstitutive Bedeutung des Sozialen für die Genese, Struktur und Aneignung von Technologien. Die Gentechnik erscheint so als etwas Ursprüngliches oder Gegebenes, an das sich Gesellschaft und Individuum anpassen. Auf der Gegenseite finden sich sozialkonstruktivistische Ansätze, die Technologien vor allem als Projektionsfläche sozialer Praktiken begreifen. In dieser Tradition werden technologische Artefakte als interpretationsabhängig und kontextsensibel angesehen. So richtig und fruchtbar diese Analyseperspektive ist, bleibt kritisch zu konstatieren, dass Technologien hier häufig allein als Ausdruck von Machtverhältnissen und Wissensordnungen begriffen werden, ohne dass ihnen selbst Materialität und Eigensinn zukämen. In den Blick geraten hier vor allem die sozialen und kognitiven Organisationsformen von Wissenschaft und Technik, während Spannungen und Konflikte zwischen technologischen Artefakten und ihrer gesellschaftlichen Aneignung tendenziell dethematisiert werden. Auf diese Weise bleiben aber auch mögliche Widerstandsformen und Verweigerungspraktiken systematisch ausgeblendet. Es erscheint uns notwendig, sowohl über die technikdeterministische Option als auch über die sozialkonstruktivistische Alternative hinauszugehen. Gegen einseitig verfahrende Erklärungsansätze untersucht die neuere Wissenschafts- und Technikforschung die systematische Koproduktion von Technik und Gesellschaft (Singer 2003; Belliger/Krieger 2006; Latour 2007). Die Fruchtbarkeit dieser theoretischen Perspektive 165

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für die Analyse prädiktiver Tests haben Lene Koch und Dirk Stemerding bereits 1994 in ihrer Analyse der Einführung des Screenings auf Zystische Fibrose (CF) in Dänemark eindrucksvoll aufgezeigt (Koch/ Stemerding 1994). Sie wiesen nach, dass die Anwendung der neuen Technologie auf der Existenz einer entsprechenden »Umwelt« beruhte, in der die Technologie erst eingesetzt werden konnte. Koch und Stemerding zufolge war die Einführung des Screenings weder darauf zurückzuführen, dass die Gesellschaft über die Anwendung der Technologie entschied, noch darauf, dass sich die Technologie der Gesellschaft aufzwang. Vielmehr sei die Etablierung des Screenings auf Zystische Fibrose das Ergebnis eines Zusammenspiels von technischen Optionen, einer bestehenden oder neu geschaffenen gesellschaftlichen Nachfrage und bestimmten Akzeptanzbedingungen. Für die Autoren spielen existierende Praxisformen und »Regime« eine besondere Rolle für die Einführung des CF-Screenings, etwa die bereits etablierte Pränataldiagnostik, die hohe öffentliche Akzeptanz der Abtreibung und eine Kultur, die persönlicher Freiheit und autonomen Entscheidungsprozessen eine zentrale Bedeutung beimisst. Die Perspektive der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung öffnet den Blick für jene Akteure, Netzwerke und Regime, die die Anwendung prädiktiver Gentests in der Gesellschaft maßgeblich formen und vorantreiben; darüber hinaus macht sie Nachfrage- und Akzeptanzbedingungen als variable und flexible Bestandteile eines Artikulationsprozesses sichtbar – statt sie als unhinterfragte oder unmittelbar gegebene Faktoren einfach vorauszusetzen. Für die Einführung und Akzeptanz prädiktiver Gentests dürfte die Nutzung von bereits etablierten Netzwerken und Akteursallianzen entscheidend sein. Darunter fallen erstens die Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung identifikatorischer Gentests, z.B. für eine forensische bzw. kriminalistische Nutzung (»genetischer Fingerabdruck«) sowie der Einsatz von DNA-Analysen durch Asylbehörden, Familiengerichte und besorgte Väter. Es ist anzunehmen, dass die öffentliche Diskussion und Darstellung prädiktiver Gentests von der Aussagekraft identifikatorischer Genanalysen nicht unbeeinflusst bleibt und sich mit ihnen ähnliche Präzisions-Erwartungen verbinden. Zweitens erscheinen prädiktive Gentests auch als Fortsetzung gesellschaftlich bewährter (pränatal-) diagnostischer Angebote. Prädiktive postnatale Tests werden als Ausweitung einer eingeführten Technologie und deren Übertragung auf Erwachsene wahrgenommen. Sie lassen sich drittens aber auch als »Verlängerung« oder »Vertiefung« von in der medizinischen Praxis bereits etablierten diagnostischen Tests begreifen, sie sollen über Krankheitsrisiken aufklä-

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HINTERGRÜNDE, DYNAMIKEN UND FOLGEN DER PRÄDIKTIVEN DIAGNOSTIK

ren, bevor das Leiden ausbricht und medizinische Interventionen zeitlich nach vorne verlagern. Über die Nutzung existierender Netzwerke und Akteursallianzen hinaus können neue Impulse auch von Akteuren gesetzt werden, die bisher nicht Bestandteil existierender Netzwerke waren, jedoch im Zuge der Entwicklung molekularbiologischer und gendiagnostischer Technologien Anschluss daran finden. Dazu gehören vor allem die Anbieter entsprechender Technologien, die neue Aktions- und Geschäftsfelder zu entwickeln versuchen. Angesprochen sind hier nicht nur Unternehmen der Biotechnologiebranche, sondern auch Hersteller neuer Software und Datenverarbeitungstechnologien, die für die Nutzung von Genomdaten erforderlich sind. Mit ihnen kommen in die etablierten Allianzen und Regimes, die überwiegend im medizinischen Bereich verortet sind, außermedizinische Impulse hinein, die der Nutzung genomanalytischer Techniken in diesen Bereichen eine besondere Dynamik verleihen und sie teilweise anderen Interessen und Zielvorstellungen unterordnet. Deutlich wird dies unter anderem an den professionspolitischen Verschiebungen im Bereich der Gendiagnostik: Wurden genetische Untersuchungen bis vor einigen Jahren nahezu ausschließlich von Humangenetikern im Kontext ihres professionellen Selbstverständnisses durchgeführt, ist die Anordnung solcher Tests heute praktisch nicht nur Teil der alltäglichen fachärztlichen Praxis geworden, ihr Angebot über das Internet bildet auch ein neues Geschäftsfeld, das sich nationalstaatlichen Regelungsbemühungen entzieht. Über die Wissenschafts- und Technikforschung hinaus ist es erforderlich, Erkenntnisse der kulturwissenschaftlichen Forschung in die Analyse einzubeziehen (Good 1995; Davison 1996; Lupton 2003; Burri/Dumit 2007). Sie erlauben es, die kulturelle Selektivität von Technologien und ihre konfliktuelle gesellschaftliche Aneignung herauszuarbeiten. Die Implementierung genetischer Technologien hängt entscheidend von kulturellen Faktoren wie rechtlichen Traditionen, politischen Institutionen oder religiösen Orientierungen ab (vgl. Schicktanz et al. 2003; Parthasarathy 2005). Die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichmedizinischem Wissen und technologischen Angeboten ist aber auch Teil einer soziokulturellen Praxis, in welcher die Betroffenen ihre eigenen Werthaltungen und Erfahrungen artikulieren (vgl. Davison et al. 1992; Hill 1994). Es ist daher notwendig, der Aneignung und Aufnahme genetischer Technologien, aber auch ihrer Ablehnung oder »Umdeutung« besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn sich Technologien nicht einfach aufgrund einer wissenschaftlichen Logik durchsetzen, sondern sie in einem konflikthaften Feld entstehen, dann stellt sich die Frage, in welcher Form sie angeeignet und/oder zurückgewiesen werden: In 167

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welcher Weise übernehmen und modifizieren Subjekte biowissenschaftliche Deutungsmuster für die eigene Lebensführung? Begreifen sie sich als von Genen gesteuerte Organismen, als »Träger« von genetischen Mutationen oder Risiken, als Menschen, die bestimmte genetische Eigenheiten mit anderen teilen – oder lehnen sie im Gegenteil solche Beschreibungsweisen und Interpretationsmodelle ab? Welche alternativen Deutungsmuster und Erklärungsvorschläge könnten dabei eine Rolle spielen? Welche Bedeutung hat hier beispielsweise das Leitbild der ›individualisierten Medizin‹, mit dem die biomedizinische Forschung im Zusammenspiel mit Akteuren der pharmazeutischen Industrie auf die widersprüchlichen Anforderungen zu reagieren versucht, die von der Gesundheitsökonomie einerseits und technologischen Innovationen andererseits an das Gesundheitswesen gestellt werden (vgl. Feuerstein et al. 2003)? Es ist sinnvoll und notwendig, diesen Prozess als eine eigensinnig aktive Aneignung und gerade nicht als rezeptiv-passive Annahme zu begreifen. Auch in diesem Fall soll eine relationale Perspektive gegenüber einseitigen oder extremen Positionierungen den Vorzug erhalten. Nach der hier vertretenen Einschätzung sind die Betroffenen weder »Täter« noch »Opfer« oder »Objekte« von Technologien, sondern »MitspielerInnen« (Singer 2003). Sie sind keineswegs passiv im Umgang mit neuen genetischen Technologien oder in der Aneignung biowissenschaftlichen Wissens, sondern greifen aktiv in diese Prozesse ein und sie gestalten sie mit (vgl. Lock/Kaufert 1998). Die sie leitenden vielfältigen und heterogenen Vorstellungen, Bedürfnisse und Werthaltungen bestimmen die Akzeptanz von Technologien. Diese kulturelle Dimension genetischer Technologien bleibt häufig unterbelichtet. Beispielsweise gehen viele Untersuchungen über die psychischen und sozialen Implikationen prädiktiver Gentests davon aus, dass die Aufrechterhaltung der Gesundheit für die Betroffenen einen zentralen Wert darstellt, der konkurrierende oder konfligierende Ziele tendenziell in den Hintergrund drängt. Dass dies nicht immer und notwendig der Fall ist, zeigt eine Reihe instruktiver Fallstudien (vgl. Hill 1994; Beeson/Doksum 2001; Callon/Rabeharisoa 2004). Ebenso gehen viele Analysen von einer relativ unproblematischen und eindeutigen Beziehung zwischen einer gegebenen genetischen Information und daraus folgenden Handlungsimpulsen oder -motivationen aus. Auch gegen diese Einschätzung lassen sich empirisch begründete Einwände vorbringen. Zum einen besitzt die scheinbar neutrale und objektive Risikoinformation eine flexible Bedeutung, die je nach Familienstruktur, Partnerschaftsbeziehung oder den konkreten Lebensumständen stark variieren kann (Cox/McKellin 1999); zum anderen können Testergebnisse auch zu einer fatalistischen Ein168

HINTERGRÜNDE, DYNAMIKEN UND FOLGEN DER PRÄDIKTIVEN DIAGNOSTIK

schätzung führen, wobei die Betroffenen davon ausgehen, dass das erhöhte Krankheitsrisiko auf jeden Fall in der Zukunft zum Krankheitseintritt führt – unabhängig von eventuell eingeleiteten Präventionsmaßnahmen (Davison et al. 1992; Senior et al. 1999). Die individuellen Antworten und die kollektiven Reaktionen auf Risikoprognosen sind nicht einfach ein unmittelbares Resultat wissenschaftlicher Fakten, sondern eingebettet in kulturelle Werthaltungen und normative Präferenzen, die nicht axiomatisch vorausgesetzt, sondern empirisch untersucht werden müssen.2

2. Kontexte Im nächsten Analyseschritt ist zu fragen, in welchen politischen und gesellschaftlichen Kontexten genetische Technologien entwickelt, aufgegriffen und verbreitet werden und welche Rolle gentechnologische Artefakte bei der »Regierung« von Individuen und Kollektiven spielen. Solchen Fragen geht eine Reihe von Arbeiten nach, die in den letzten Jahren unter der Bezeichnung »Gouvernementalitätsstudien« bekannt geworden sind (Barry et al. 1996; Gottweis 2003; Krasmann/Volkmer 2007; Lemke 2007; Bröckling et al. 2010). Der Name geht auf das Konzept der Gouvernementalität zurück, das der französische Philosoph Michel Foucault geprägt hat (vgl. Foucault 2004a; 2004b). Es bezieht sich hier auf unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung und Leitung von Individuen und Kollektiven zielen, um auf deren Bedürfnisse, Präferenzen und Interessen einzuwirken. Der Regierungsbegriff hat zwei wichtige theoretische Funktionen. Erstens vermittelt er zwischen Macht und Subjektivität. Auf diese Weise wird es möglich zu untersuchen, wie Herrschaftstechniken sich mit Formen der Selbstführung verbinden und Formen politischer Regierung auf Techniken der Selbstregierung rekurrieren. Zweitens erlaubt die Problematik der Regierung eine systematische Untersuchung der Beziehungen zwischen Machttechniken und Wissensformen (vgl. Lemke 1997; Dean 1999; Rose 1999). In den vergangenen Jahren ist diese Analyseperspektive zunehmend auch für eine politiktheoretisch angeleitete Untersuchung prädiktivgenetischer Technologien eingesetzt worden. Im Mittelpunkt stand dabei meist die Frage, inwieweit gegenwärtige Regierungstechniken die Entwicklung und Anwendung genetischen Wissens und prädiktiver Ge-

2

Für einen Überblick über entsprechende empirische Untersuchungen vgl. Kollek/Lemke (2008: 72ff). 169

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sundheitsinformationen aktiv vorantreiben und nutzen. Die Verbreitung prädiktiven Wissens und der Einsatz von Gentests wurden als Bestandteil der Steuerung der Handlungsoptionen und Entscheidungsprämissen von Individuen und Kollektiven begriffen. Dieser Analyseperspektive liegt ein weiter Begriff der Regierung zugrunde, der verschiedene Felder und Formen umfasst: »Such practices of government include activities carried out by the state (e.g. policy-making) and those of the biotechnology industry (e.g. in shaping biomedical research), the creation of knowledge about genetic norms and genetic risk (e.g. the Human Genome Project, epidemiological research), the translation of such knowledge into clinical practice (e.g. genetic testing clinics), the education and training of genetic specialists who advise individuals about their inherited susceptibility to disease (e.g. genetic counsellors) and the practices of self-governance by which individuals seek out and use genetic risk information to alter their own behaviours and their relationships with others (e.g. reproductive decision-making).« (Polzer 2005: 80)3

Besonderes Interesse galt dabei der Krise des keynesianischen Wohlfahrtsstaats und der erfolgreichen Implementierung neoliberaler politischer Programme ab Mitte der 1970er Jahre. Die massive finanzielle Förderung und gesellschaftliche Akzeptanz humangenetischer Forschung in den 1980ern und 1990ern werden in dieser Analyseperspektive als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses begriffen, der zunehmend die Verantwortung für bislang als soziale Risiken angesehene Gesundheitsgefährdungen individualisiert und privatisiert (Joyce 2001; Galvin 2002). Die kollektiven Sicherungssysteme werden demnach durch Techniken und Strategien des individuellen Risikomanagements und der Risikokontrolle ergänzt und tendenziell ersetzt. Dem »Rückzug des Staates« korrespondieren der Appell an Eigenverantwortung und Selbstsorge und der Aufbau selbstregulatorischer Kompetenzen bei individuellen wie kollektiven Subjekten. Dies gelte nicht nur für den Bereich der Gesundheit, sondern auch für Altersvorsorge, Verbrechensprävention, Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit etc. (Castel 1983; O’Malley 1996; Henman 2004). In den Blick gerät somit der Aufstieg des Risikobegriffs in medizinischen Zeitschriften (Skolbekken 1995), in gesundheitspolitischen Dokumenten (Hayes 1992) und in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge 3

Zum Einsatz des Konzepts der Gouvernementalität für die Untersuchung der sozialen Implikationen genetischer Diagnostik vgl. Robertson (2000), Koch (2002), Koch/Svendsen (2005), Petersen/Bunton (2002), Waldschmidt (2002), Vailly (2006).

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HINTERGRÜNDE, DYNAMIKEN UND FOLGEN DER PRÄDIKTIVEN DIAGNOSTIK

(Petersen/Lupton 1996). Beachtung findet aber auch die Verlagerung des medizinischen Interesses von der Untersuchung exogener Risikofaktoren zur Identifikation endogener Risikofaktoren, die das Auftreten von Krankheiten ermöglichen oder erleichtern. Zu beobachten ist, dass medizinische Erklärungsansätze und Präventionsangebote auf Lebensstilfaktoren einerseits und genetische Faktoren andererseits rekurrieren (Kühn 2000; Wolf 2000). Das medizinische Risikoregime, dessen integralen Bestandteil prädiktive Gentests bilden, erscheint hier als Element eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses, der Strategien der Risikokontrolle und -minimierung aus dem Kompetenzbereich des Staates herauslöst, um sie als individuelle Wahlhandlungen und Entscheidungen zu begreifen. Die Einführung und Verbreitung prädiktiver Gentests verstärkt demnach die tendenzielle Verlagerung von Verantwortungsaufgaben und -lasten von staatlichen Institutionen und kollektiven Sicherungssystemen auf Individuen und Familien. In zweierlei Hinsicht unterstützt und befördert die prädiktive Genetik diesen gesellschaftlichen Entwicklungstrend: »On the one hand, the new genetics contribute to a re-defined ›neoliberal‹ self, which is responsible for the private management of real and potential risks to health. On the other hand, the new genetics appeal to the state as a means to develop the industrial potential of the knowledge-based economy, particularly in the health care market.« (Mykitiuk 2003)

Prädiktive Gentests sind in dieser Hinsicht ein integraler Bestandteil eines umfassenden gesellschaftlichen Restrukturierungsprozesses, in dem ein gesunder Körper zunehmend als ein Gut erscheint, das produziert und perfektioniert werden kann. Wurde Gesundheit in der Vergangenheit meist als ein Zustand bestimmt, in dem man über das eigene (Wohl-) Befinden nicht nachdachte4 , hat diese negative Vorstellung von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Überzeugungskraft verloren. An die Stelle einer passiven Konzeption von Gesundheit trat eine Deutung, die Gesundheit vor allem als ein aktives Sichwohlfühlen begreift und weniger von einem statischen Gesundheits-Zustand als von einem dynamischen – und prinzipiell unabschließbaren – Prozess des Immer-Gesünder-Werdens ausgeht. In dieser Perspektive sind Gesundheit oder Krankheit keine Kategorien von Zufall oder Schicksal, sondern Gegenstand und Resultat eines Willens. Prädiktive Gentests sind hier Teil eines Kontinuums von medi4

In den berühmten Worten des französischen Chirurgen René Leriche bezeichnete Gesundheit »das Leben im Schweigen der Organe« (zit. nach Canguilhem 1977: 58). 171

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zinischen Ratgebern, Wellness-Programmen, Fitness-Studios und Diätregime, das sich in Strategien der Gesundheitsförderung, Risikoaufklärung und Krankheitsprävention materialisiert und Gesundheit als das Ergebnis planvollen Handelns begreift, das Voraussicht und Vorsorge erfordert. Wenn aber Gesundheit etwas ist, das durch hinreichend motivierte Individuen erreicht werden kann, wenn diese nur hart genug an sich selbst arbeiten, drängt sich die Frage auf, wessen Schuld es ist, wenn jemand krank wird. Wenn Gesundheit das Resultat eines Willens ist, dann ist Krankheit der Nebeneffekt eines fehlenden oder falschen Willens (Greco 1993). Die Folge ist, dass Gesundheit heute nicht mehr nur einen faktischen Zustand bezeichnet, sie wird tendenziell auch zu einer sittlichen Verpflichtung. Die Kranken werden implizit oder explizit mit der Frage konfrontiert, warum sie krank geworden sind: Ernährten sie sich richtig? Trieben sie Sport? Gingen sie regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen? Tranken sie Alkohol? Rauchten sie? So gesehen manifestiert der gesunde Körper das Ergebnis eines richtigen Lebensstils and eines korrekten Entscheidungsprozesses. Er fungiert als äußeres Zeichen von Würde, als Auszeichnung und Tugend. Der zeitgenössische Gesundheitsdiskurs etabliert eine »lifestyle correctness« (Leichter 1997: 372), auf deren Grundlage »verantwortliche« von »unverantwortlichen« Individuen unterschieden werden (ebd.: 373-375; vgl. auch Morreim 1995). Gesundheit ist aber nicht nur eine moralische Kompetenz, sie stellt auch ein ökonomisches Gut dar. Dieses wird heute von einem »Biomedical TechnoService Complex, Inc.« (Clarke et al. 2003: 162) produziert, der immer größere Wachstumsraten verzeichnet. So hat sich etwa in den USA der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt in den letzten 50 Jahren verdreifacht und stieg von vier auf 13 Prozent. Die Ausgaben für Medikamente betrugen im Jahr 2000 mehr als 100 Milliarden US-Dollar, doppelt so viel wie 1990 (ebd.: 163; 167). Ähnliche Trends sind in anderen Industrienationen zu verzeichnen. Diese Entwicklung ist jedoch nicht auf die quantitative Dimension zu reduzieren. Es handelt sich vor allem um eine qualitative Transformation. Medizinische Dienstleistungen werden immer weniger als soziale Rechte denn als kommerzieller Service begriffen, Patienten als Konsumenten und Kunden adressiert, die entscheiden sollen, welchen Anteil ihres Einkommens sie auf die Sicherung und Verbesserung ihrer Gesundheit verwenden wollen (ebd.: 171-173). Nach Schätzungen des Finanzinstituts Piper Jaffray & Co. werden heute pro Jahr 730 Millionen US-Dollar für Gentests ausgegeben – mit jährlichen Wachstumsraten von 20 Prozent (Herper/Langreth 2007). Allein der prädiktive Gentest für die sogenannten Brustkrebsgene, den My172

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riad Genetics vertreibt, erzielt einen Umsatz von 100 Millionen US Dollar, wobei die aktuellen Steigerungsraten 40 Prozent im Jahr betragen (ebd.). Die Ergebnisse von Marktforschungsanalysen und Umfragestudien machen deutlich, dass bei Gesunden offenbar ein beträchtliches Interesse an Gentests für medizinische Zwecke besteht. Nach einer Studie des Marktforschungsinstituts Harris Interactive, das rund 1.000 erwachsene US-Bürger befragte, waren über 80 Prozent der Teilnehmer der Meinung, dass ein Gentest für sie von medizinischem Nutzen sein könnte. Selbst wenn eine Behandlung nicht möglich ist, wären immer noch 26 Prozent »sehr« und 23 Prozent »etwas« am Einsatz eines Gentests interessiert (Harris Interactive 2002). Eine aktuelle Umfrage in den USA bestätigt die Einschätzung, dass viele Menschen genetische Tests auch dann für wichtig halten, wenn keine präventiven oder therapeutischen Maßnahmen zur Verfügung stehen.5 Danach waren 54 Prozent der befragten Personen der Auffassung, dass genetische Tests zur Ermittlung von Erkrankungsrisiken bei Kindern auch dann sinnvoll sind, wenn keine effektive Prävention oder Behandlung existieren. 39 Prozent der Befragten würden ihre Kinder oder sich selber nur dann testen lassen, wenn solche Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Verbindung einer moralischen mit einer konsumistischen Gesundheitskonzeption schafft einen Wachstumsmarkt für medizinische Dienstleistungen und Waren, der keine »natürlichen« Grenzen mehr kennt. Sein Motor ist nicht die Wiederherstellung des ursprünglichen Gesundheitszustands, sondern die Ausweitung und Anreizung des Gesundheitsbedürfnisses (vgl. Kühn 1998: 17f.). In dem Maße, in dem alles von Schüchternheit und Schönheit bis zum schulischen Versagen als ein medizinisches Problem verhandelt werden kann, ist die Medizin keine Reparaturinstanz mehr, sondern sie maximiert und optimiert Fähigkeiten und Fertigkeiten des menschlichen Körpers. An die Stelle eines ›Entweder-Oder‹ von Krankheit und Gesundheit tritt heute die Überzeugung, dass es ein ›Mehr-oder-Weniger‹ an Gesundheit gebe, man aber auf keinen Fall je gesund genug sein könne. Konzepte wie Wellness, Enhancement oder Lebensqualität brechen mit einer binären und eindeutigen Gegenüberstellung von Gesundheit und Krankheit, Heilen und

5

Dabei handelt es sich um eine nationale Umfrage zur Kindergesundheit, deren Ergebnisse in einem Bericht des Kinderkrankenhauses der Universität von Michigan (CS Mott Children’s Hospital) zu entnehmen sind. Es wurden über 2.000 Personen kontaktiert, von denen etwa 1.500 antworteten (vgl. University of Michigan, Department of Public Relations: Parents support genetic testing, DNA biobanks – even without effective treatments, 20. Juni 2007; http://www.med.umich.edu/opm/newspage/2007/ poll4.htm vom 19. Juli 2007. 173

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Verbessern, Normalität und Pathologie. Gesundheit ist heute weniger »das Leben im Schweigen der Organe« als ein geschäftiges Abwägen und geschwätziges Kalkulieren einer unabsehbaren Anzahl von Krankheitsrisiken (Leichter 1997: 370f.; Greco 2004).

3. Probleme und Folgen Die gesellschaftlichen Implikationen und Folgen des Einsatzes prädiktiver Gentests sind zu vielfältig und zu heterogen, um hier angemessen dargestellt werden zu können. Das Spektrum der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung reicht von der medizinischen Hoffnung auf neue Diagnoseoptionen über deren psychosoziale Konsequenzen über gesundheitsökonomische Überlegungen und datenschutzrechtliche Bedenken bis hin zu versicherungstechnischen Fragen und bioethischen Kontroversen. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf drei wichtige Problemkomplexe, die uns für eine gesellschaftliche Einschätzung und Bewertung prädiktiver Gentests besonders relevant zu sein scheinen: (1) die Genetifizierung der Medizin; (2) die Gefahr genetischer Diskriminierung und (3) die Entstehung neuer normativer Verantwortlichkeiten und institutioneller Erwartungen (›genetische Verantwortung‹).6

3.1 Die Genetifizierung der Medizin Der Begriff der Genetifizierung (geneticization) wurde von der kanadischen Sozialwissenschaftlerin Abby Lippman Anfang der 1990er Jahre geprägt, um die Interaktionsdynamik zwischen medizinischen und genetischen Forschungsergebnissen und Praktiken auf der einen und soziokulturellen Prozessen auf der anderen Seite erfassen zu können. Lippmann kritisierte mit dem Neologismus eine (medizinische) Perspektive, die in Genen eine Art Programm für die Entwicklung und Steuerung des Organismus sieht und die Genetik als das zentrale konzeptionelle Modell zur Erklärung menschlichen Lebens und Verhaltens, von Gesundheit und Krankheit, Normalität und Abweichung betrachtet: »Geneticization refers to an ongoing process by which differences between individuals are reduced to their DNA codes, with most disorders, behaviors and physiological variations defined, at least in part, as genetic in origin. It refers as well to the process by which interventions employing genetic technologies are adopted to manage problems of health. Through this process, human biology is incorrectly equated with human genetics, implying that the 6

Für weitere Aspekte vgl. Kollek/Lemke (2008).

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latter acts alone to make us each the organism she or he is.« (Lippman 1991: 19; vgl. auch Koch 2002: 94)

Die Entwicklung und der Einsatz prädiktiver Gentests tragen in mehrfacher Hinsicht zu einer weiteren ›Genetifizierung der Medizin‹ bei. Auf einer konzeptionell-theoretischen Ebene ist in den letzten Jahrzehnten eine Ausweitung und Expansion des Begriffs der genetischen Krankheit zu beobachten. Spielten genetische Fragestellungen innerhalb der Medizin bis in die 1970er Jahre hinein nur eine marginale Rolle (vgl. Rosenstock et al. 1975; Childs 1977; Koch 1993; Lindee 2005), so werden seit Anfang der 1990er Jahre für immer mehr Krankheiten und krankheitsrelevante Prozesse wie zum Beispiel die Wirksamkeit von Medikamenten genetische Faktoren direkt oder indirekt verantwortlich gemacht.7 Diesem genetischen Krankheitskonzept liegt die Annahme zugrunde, dass ein oder mehrere »defekte« Gene zum Verlust, zur Beeinträchtigung oder Veränderung einer zellulären Funktion führen, die schließlich für eine Krankheit kausal verantwortlich sein oder den Organismus für bestimmte Krankheiten stärker disponieren soll. Ziel dieser Neuorientierung innerhalb der Medizin ist es, ein neues ätiologisches Modell der Erklärung von Krankheitsursachen zu etablieren, das Krankheiten nicht mehr nach ihrem klinischen Erscheinungsbild beurteilt, sondern auf deren molekulare »Ursachen« zurückführt. Daran knüpft sich die Hoffnung, die Klassifikation nach biochemischen und genetischen Kriterien werde es ermöglichen, die vielfältigen Variationen dieser Krankheiten ebenso zu erklären wie die offensichtlichen Differenzen im Krankheitsbild, dem klinischen Verlauf und der Reaktion auf Pharmazeutika und Therapieformen. In dieser Perspektive soll die Molekulargenetik die Werkzeuge bereitstellen, um Krankheiten nach den ihnen zugrunde liegenden Mechanismen zu definieren (Bell 2004; kritisch: Marteau/Holtzman 2000). Die Genetifizierung des Krankheitsbegriffs lässt das Selbstverständnis der Medizin nicht unberührt. Die Orientierung an genetisch begründeten Krankheitskonzepten und -klassifikationen verändert das Ziel medizinischen Handelns. An die Stelle einer reaktiven Heilkunst tritt eine prädiktive Maschinerie, die sich auf die aktive Verhinderung von 7

Ein Beispiel für diesen Entwicklungstrend ist das mehrbändige Handbuch der Molekularen Medizin, das von monogen bedingten Erbkrankheiten über Tumorleiden bis hin zu Herz-Kreislauf-Beschwerden ein weites Spektrum von Krankheiten behandelt (vgl. Ganten/Ruckpaul 1997ff.). Ein weiteres Beispiel ist die Pharmakogenetik, die genetischen Komponenten einen wichtigen Beitrag zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medikamenten und somit zum Erfolg der Behandlung einer Krankheit zuschreibt (vgl. Kollek et al. 2004). 175

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Krankheiten spezialisiert und auf die Diagnose von Anfälligkeiten, Dispositionen und Risiken konzentriert. Auch Krankheitsprognosen orientieren sich statt an ganzheitlicher Einschätzung zunehmend an molekularen Mustern. Damit ist das Modell einer Medizin skizziert, die sich von einer konkret beschreibbaren oder empirisch feststellbaren Krankheitssymptomatik abzukoppeln vermag. Bereits erkrankte Menschen werden auf der Grundlage von Biomarkern in solche mit besserer oder schlechterer Prognose klassifiziert; Gesunde werden zu Risikopersonen und potentiell Kranke; im scheinbar gesunden Körper schlummern unbekannte Gefahrenpotenziale, die nur durch komplexe technologische Nachweisverfahren sichtbar gemacht werden können. Die hier knapp skizzierten Entwicklungstendenzen führen zu zwei zentralen Paradoxa. Erstens tritt die prädiktive Medizin mit dem Anspruch auf, Krankheiten früher und besser erkennen und damit eventuell vermeiden zu können. Um Menschen von den (zukünftigen) Leiden zu befreien, muss sie jedoch erst einmal alle zu Patienten machen – zu »asymptomatischen Kranken«, die einer genetischen Überwachung und Aufklärung bedürfen (Shakespeare 2003). Zweitens – und damit zusammenhängend – untergräbt die prädiktive Medizin die Vorstellung einer genetischen Normalität (vgl. O’Sullivan et al. 1999; Henn 2000; 2001). Zielen die Interventionsstrategien auf der einen Seite darauf, nicht-normale Dispositionen und Risiken aufzuspüren und zu diagnostizieren, sind auf der anderen Seite genetische Risiken »normal«, insofern alle Menschen bestimmte Dispositionen für Krankheiten in sich tragen, es also kein »risikofreies« Genom gibt.8 Die wachsende medizinische Bedeutung genetischen Wissens hat darüber hinaus zahlreiche und sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die staatliche Gesundheitspolitik (vgl. Koch 1990; Kaufert 2000; Bertilsson 2003; Mykitiuk 2003; Wild/Jonas 2003). Eine der wichtigsten dürfte die Neuausrichtung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge (Public Health) und Präventionspolitik sein. In den letzten Jahren haben sich auch in Deutschland die Bemühungen intensiviert, genetisches Wissen in die Forschung und Praxis von Public Health umfassend zu integrieren. Während in anderen Staaten Public Health Genetics bereits ein eigenständiges wissenschaftlich-politisches Feld darstellt (vgl. etwa Khoury/Burke/Thompson 2000), ist diese Disziplin hierzulande erst ansatzweise entwickelt (Brand 2001; Brand 2002; Brand et al. 2004; Ilkilic et al. 2007; Brand et al. 2008).

8

Vgl. dazu die immer wiederkehrenden Hinweise, »dass jeder Mensch in seinem Genom durchschnittlich 5-7 ›defekte‹ Gene trägt« (Engel 2001: 223f.; Henn 2001; Shakespeare 2003: 206).

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Die Public Health Genetik »befasst sich ganz allgemein mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Bedarf an spezifischen genetischen Gesundheitsleistungen mit dem Ziel der Lebensverlängerung und der Verbesserung der Lebensqualität des Individuums sowie ganzer Bevölkerungsgruppen« (Brand 2001: 2f.). Die neue Disziplin versteht es als ihre Aufgabe, bevölkerungsbezogene Daten systematisch zu erheben, wissenschaftlich auszuwerten und für gesundheitspolitische Zwecke einzusetzen. Public Health konzentriert sich traditionell auf Lebensstilrisiken wie Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegungsarmut etc., die erst später im Leben auftreten und offen sind für präventive Interventionen. Die Einbeziehung genetischer Risiken markiert eine neue Etappe der Präventionsmedizin. Die Verknüpfung genetischen Wissens mit Public HealthMaßnahmen soll es erlauben, durch genetische Tests und Reihenuntersuchungen »Mutationsträger« zu finden, bevor eine Krankheit ausbricht, oder Menschen zu identifizieren, die aufgrund ihrer genetischen Konstitution für bestimmte Krankheiten besonders empfänglich sind (Coughlin 1999). Es gibt jedoch auch kritische Einschätzungen der »Heirat von Genetik und Public Health« (Omenn 2000: 25). Befürchtet wird, dass die Konzentration auf biologisch-genetische Risikofaktoren zu einer Verengung der Präventionsperspektive führt, die es künftig erschwert, komplexe und interdisziplinär angelegte Gesundheitskonzepte zu verfolgen (Schmacke 2002: 187f.; Niehoff 2002: 223f.). Bedenken richten sich auch gegen mögliche Entsolidarisierungtendenzen und Selektionspraktiken als Folge der gesundheitspolitischen Fokussierung auf genetische Krankheitsursachen: »Die im 20. Jahrhundert selbstverständliche Solidarität, die auf einem gemeinsamen Schicksal von Krankheit und Tod basiert, droht von einer differenzierten Risikoermittlung abgelöst zu werden, die – ähnlich wie in der Rassenhygiene, aber ohne deren Begrifflichkeit – Menschen unterschiedliche Wertigkeiten zumisst. Für Public Health ergibt sich in diesem Szenario die Aufgabe [...] auf die Relevanz von sozialen und Umweltbedingungen für die Manifestation genetischer Krankheitsanlagen und die Entstehung chronischer Krankheiten hinzuweisen. Im Zentrum der Prävention stehen reale Menschen in Lebensbezügen und nicht Genotypen.« (Walter/Stöckel 2002: 296; Feuerstein 2001)

3.2 Die Gefahr genetischer Diskriminierung In den vergangenen zwanzig Jahren hat eine Reihe von empirischen Studien in verschiedenen Ländern den Nachweis erbracht, dass das zu-

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nehmende genetische Wissen zu neuen Formen von Ausgrenzung, Benachteiligung und Stigmatisierung führt (Billings et al. 1992; Geller et al. 1996; Low et al. 1998; Otlowski et al. 2002; Taylor et al. 2008). Das Spektrum dieser ›genetischen Diskriminierung‹ reicht von Benachteilungen im Arbeitsleben über Probleme mit Versicherungsverträgen bis hin zu Schwierigkeiten mit Adoptionsagenturen. So wurde etwa in einigen Fällen den Bewerbern mit dem Hinweis auf eine eventuelle spätere Krankheit die Qualifikation für einen Arbeitsplatz abgesprochen und die Einstellung verweigert. Ebenso kündigten Kranken- und Lebensversicherungen Verträge oder verweigerten deren Abschluss, wenn bei ihren (potenziellen) Kunden der Verdacht auf genetische Erkrankungsrisiken bestand. In anderen Fällen wurde Ehepaaren die Adoption von Kindern untersagt, wenn bei einem der Elternteile eine Disposition für eine genetische Krankheit vorlag. Berichte über Erfahrungen genetischer Diskriminierung kamen jedoch auch aus dem Gesundheitswesen, dem Bildungssektor und dem Militär.9 Bislang blieb der Begriff der genetischen Diskriminierung in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion meist auf institutionelle Mechanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses fokussiert; es ist jedoch erforderlich, in die Analyse auch interaktionelle und indirekte Diskriminierungsmechanismen einzubeziehen. Die interaktionelle Diskriminierung manifestiert sich in intentionalen Handlungsformen, aber auch in Stereotypen, Vorurteilsstrukturen und Deutungsmustern, die zu diskriminierenden Handlungen ohne bewusste Diskriminierungsabsicht führen können. Institutionelle Diskriminierung beruht hingegen auf eingespielten und auf Dauer gestellten, oft formalisierten und explizit geregelten Praktiken von Organisationen. Die zwei Diskriminierungsebenen sind jedoch nur analytisch gegeneinander abzugrenzen, empirisch schließen sie einander keineswegs aus, sondern verschränken und überschneiden sich regelmäßig in der sozialen Realität. Unter indirekter Diskriminierung sind Praktiken zu verstehen, die mittelbar auf Betroffene einwirken und deren Handlungsoptionen und Entscheidungsspielräume beschränken. Damit geraten auch jene sozialen Unwerturteile, Vorurteilsstrukturen und Formen von Missachtung in den Blick, die an alle Gesellschaftsmitglieder adressiert sind (Deutscher Bundestag 2002: 57; Hellman 2003). Jenseits der Erweiterung des Analysespektrums um die Dimensionen der interaktionellen und indirekten Diskriminierung muss die Aufmerksamkeit auch jenen Strategien und Techniken gelten, mit denen potenzi-

9

Für einen Überblick über bislang vorliegende Studien zu Erfahrungen genetischer Diskriminierung vgl. Lemke (2006).

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HINTERGRÜNDE, DYNAMIKEN UND FOLGEN DER PRÄDIKTIVEN DIAGNOSTIK

elle Opfer der Gefahr genetischer Diskriminierung begegnen. Schließlich ist es erforderlich, die handlungsmotivierende und -orientierende Bedeutung der Angst vor genetischer Diskriminierung zu berücksichtigen – selbst wenn diese Angst übertrieben bzw. unrealistisch erscheinen mag, hat sie doch konkrete individuelle und kollektive Folgen. Insgesamt lassen sich die Gefahren, die von Praktiken genetischer Diskriminierung ausgehen, in sechs Punkten zusammenfassen. (1) Der Einsatz prädiktiver Tests erhöht das Risiko, dass Menschen mit »ungünstigem« genetischen Profil oder genetischen Besonderheiten durch institutionelle Akteure (Versicherungen, Arbeitgeber, Behörden etc.) benachteiligt oder von Leistungen oder Karrierewegen ausgeschlossen werden. (2) Der Einsatz prädiktiver Tests erhöht das Risiko, dass Menschen mit »ungünstigem« genetischen Profil oder genetischen Besonderheiten in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld (Verwandte, Freunde, Nachbarn etc.) stigmatisiert oder exkludiert werden. (3) Der Einsatz prädiktiver Tests erhöht das Risiko, dass die institutionellen Erwartungen und normativen Anforderungen an die Einzelnen wachsen, sie in ihren Entscheidungsoptionen einengen und ihre Handlungsspielräume begrenzen. (4) Die Angst vor genetischer Diskriminierung kann dazu führen, dass (potenziell) Betroffene nicht mit anderen über ihre genetischen Besonderheiten sprechen bzw. diese verheimlichen, da sie Stigmatisierung, Missachtung und Ausgrenzung befürchten müssen. (5) Die Angst vor genetischer Diskriminierung kann dazu führen, dass Betroffene, die sich prinzipiell für die Durchführung eines prädiktiven Tests entschieden haben (aus medizinischen Gründen, aus Gründen der Lebens- bzw. der Familienplanung etc.), davon Abstand nehmen, um Nachteile im sozialen Verkehr zu vermeiden. (6) Die Angst vor genetischer Diskriminierung kann dazu führen, dass immer weniger Menschen (insbesondere solche mit tatsächlichen oder vermuteten genetischen Krankheitsdispositionen) bereit sind, ihre genetischen Daten der medizinischen oder biologischen Forschung zur Verfügung zu stellen, da sie Nachteile im sozialen Verkehr befürchten müssen.

3.3 Die Entstehung einer ›genetischen Verantwortung‹ In den 1970er Jahren begann die Idee einer individuellen Gesundheitsverantwortung die staatliche Politik ebenso wie privatwirtschaftliche Gesundheitsprogramme (vgl. Alexander 1988) zu prägen. Gleichzeitig war dies auch die entscheidende Dekade für die Etablierung molekular179

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biologischer und -genetischer Techniken in der biomedizinischen Forschung. Anfang der 1980er Jahre kamen sie auch in der klinischen Praxis zum Einsatz. In den USA und anderen Industriestaaten starteten erste genetische Screeningprogramme (Duster 1991; Wailoo 2001) und die molekulare Genetik wurde – wie zuvor schon die Chromosomenanalyse – in der Pränataldiagnostik eingesetzt und Teil der Schwangerenvorsorge (Rapp 2000). Zusätzlich wurden neue Reproduktionstechniken wie die In-Vitro-Fertilisation verfügbar. Die 1980er und 1990er Jahre erlebten durch die intensive Erforschung des menschlichen Erbmaterials eine enorme Ausweitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über genetische Strukturen und Funktionen. Immer häufiger wurden in der medizinischen Literatur genetische Faktoren nicht nur für seltene Erbkrankheiten, sondern auch für die Entstehung und den Verlauf verbreiteter Krankheiten verantwortlich gemacht. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wird schließlich dem Konzept des genetischen Risikos, der genetischen Diagnostik und dem genetischen Screening auch in der Gesundheitspolitik zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt. Im Rahmen dieser politisch-wissenschaftlichen Konjunktur zeichnen sich Konturen einer ›genetischen Verantwortung‹ ab. Dieser Vorstellung zufolge soll es möglich sein, genetische Risiken wie andere Gesundheitsrisiken durch entsprechende Verhaltensänderungen zu kontrollieren. Genetisches Wissen bildet – so die weithin geteilte Annahme – die »Grundlage für verantwortungsvolle Entscheidungen« (Kitcher 1998: 75) in einer Vielzahl von Lebenssituationen. Nina Hallowell stellt diese neue Facette des Verantwortungsdiskurses in der Medizin heraus: »The construction of health as a moral issue has generally been confined to discussions of voluntary health risks – people’s lifestyle choices or behaviour. More recently it has been observed that individuals not only have a responsibility to avoid voluntarily exposing themselves and others to health risks, but also may be seen as bearing some responsibility for their genetic risks. […] Indeed, it can be argued that because genetic risks are portrayed as part of the individual’s make up their responsibility to act to protect their health, or the health of future generations, is emphasized, for inherited risk can not be blamed upon external sources.« (1999: 98)

Prinzipiell lassen sich drei Dimensionen genetischer Verantwortung unterscheiden: die Reproduktionsverantwortung (Verhinderung der Weitergabe genetischer Risiken), die Informationsverantwortung (Kommunikation genetischer Risiken) und die Eigenverantwortung (Kontrolle genetischer Risiken). Im Mittelpunkt stand zunächst Reproduktionsverantwortung – also die Sorge um gesunde Nachkommen und die Verhin180

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derung der Weitergabe »kranker« Gene. Seit den 1970er Jahren ging es dabei vor allem um das Verhältnis der Eltern zu ihren (werdenden) Kindern und den Einsatz von pränatalen Tests zur Bestimmung genetischer Risiken. Elisabeth Beck-Gernsheim hat schon vor geraumer Zeit darauf hingewiesen, dass mit den neuen technologischen Möglichkeiten der Pränatal- und Gendiagnostik eine »Expansion der Verantwortung« (1994: 325) einhergeht. Der Begriff der Verantwortung werde zunehmend »in Richtung einer qualitativen Auswahl gefasst, ansetzend bereits vor der Geburt, vielleicht sogar vor der Zeugung« (ebd.: 326). Als »verantwortlich« erscheine die Vermeidung der Geburt vermutlich behinderter oder kranker Kinder durch Aufgabe des Kinderwunsches oder eine »Schwangerschaft auf Probe« (Rothman 1987) und Abtreibung nach auffälligem Befund. Beck-Gernsheim befürchtet, dass Genomanalysen zu einem »einflußreichen Faktor der Normierung von Lebensstilen werden. Die Funktion der Verhaltenssteuerung, früher von den traditionellen Instanzen sozialer Kontrolle (z.B. Religion) ausgeübt, wird dann, zumindest partiell, von der Medizintechnologie übernommen« (Ebd.: 331; Beck-Gernsheim 1996; Weir 1996; Ruhl 1999). In den letzten Jahren sind durch die Entwicklung und den Einsatz prädiktiver genetischer Tests für zahlreiche Krankheiten zwei weitere Facetten genetischer Verantwortung hinzugekommen. Neben die Reproduktionsverantwortung tritt die Informationsverantwortung gegenüber Dritten. Genetische Informationen weisen eine wichtige Besonderheit auf: Sie betreffen nicht nur die Individuen selbst, sondern lassen regelmäßig auch Schlüsse über Gesundheitsrisiken von biologischen Verwandten zu. Es handelt sich also um persönliche Daten, die auch für Familienmitglieder medizinisch relevant sein können. Diese Eigenart genetischer Informationen wirft zwei wichtige moralische und rechtliche Fragen auf. Erstens stellt sich die Frage, ob Individuen verpflichtet sind, medizinisch-genetische Untersuchungsergebnisse an eventuell betroffene Verwandte weiterzugeben. Prinzipiell besitzt jede Bürgerin und jeder Bürger die Kontrolle über die eigenen genetischen Daten, die nicht ohne die ausdrückliche und informierte Zustimmung des betroffenen Individuums an Dritte weitergegeben werden dürfen. Es kann jedoch zu Konflikten kommen zwischen dem Recht auf Schutz des »genetischen Privatbereiches« (Allen 1997; Meyer 2001: 208-216) und möglichen Mitteilungspflichten gegenüber Verwandten, um Krankheiten zu verhindern oder Gesundheitsschäden abzuwenden. Zweitens geht es in der medizinischen Praxis auch um das Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot der ärztlichen Schweigepflicht und der Pflicht zur Aufklärung. Sollte der behandelnde Arzt darauf hinwirken, dass Familienangehörigen eines Patienten genetische Informationen, die für sie möglicherweise gesund181

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heitlich relevant sind, zugänglich gemacht werden? Ist er oder sie eventuell aus haftungsrechtlichen Erwägungen sogar dazu gezwungen? Wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient prinzipiell gewährleistet sein soll, unter welchen Bedingungen kann davon abgewichen werden (Orentlicher 1997; Pergament 1997)? Ein weiteres Einsatzfeld genetischer Verantwortung betrifft das eigene Gesundheitsverhalten und die Pflichten gegenüber sich selbst. Nicht nur in Bezug auf Dritte, auf Nachkommen und Familienangehörige, sondern auch im Umgang mit den eigenen diagnostizierten genetischen Risiken wird ein verantwortliches Verhalten, eine Eigenverantwortung eingefordert. Genetische Verantwortung konkretisiert sich in diesem Fall als Nachfrage nach genetischen Untersuchungstechniken und Präventionsmöglichkeiten, um die Gesundheitsrisiken für den eigenen Körper zu minimieren. Erst die Kenntnis der individuellen genetischen Risiken erlaubt in dieser Perspektive eine verantwortliche Lebensführung. In dem Maße, in dem Krankheiten als genetisch verursacht begriffen werden, erfordert ein »mündiges« oder »risikokompetentes« Gesundheitsverhalten über die Kenntnis allgemeiner Risikofaktoren wie Rauchen, Alkohol und mangelnde Bewegung hinaus ein spezifisches Wissen um das eigene genetische Risikoprofil. Mit der Entwicklung und Einführung prädiktiver Gentests in die Gesundheitsversorgung sehen viele Mediziner und Bioethiker einen »Ethos der Pflicht« (Sass 1994: 343) heraufziehen. Die erweiterten diagnostischen Möglichkeiten erhöhten die Mitwirkungspflichten von Bürgern an der eigenen Gesunderhaltung. Auf der Grundlage prädiktiver Gesundheitsinformationen werde es »dem Einzelnen möglich, nicht nur gezielte Prävention zu betreiben, sondern auch seine Entscheidungen im Hinblick auf z.B. Berufswahl, Arbeitsplatz etc. eigenverantwortlich zu gestalten« (Engel 2001: 224; Höhn 1997: 173). Prädiktive Gentests ermöglichten mehr Selbstbestimmung selbst in Fällen, in denen keine medizinischen Interventionsstrategien zur Verfügung stehen: »Informierte Menschen können ihr Leben besser planen, ihre potenziellen Grenzen erkennen und ihre Zukunft nach eigenen Vorstellungen und Wünschen gestalten.« (Kitcher 1998: 80) Mit der Redefinition von Gesunden als (genetische) »Risikopersonen« wachsen auch die Anforderungen an die Einzelnen, ein umfassendes Risikomanagement zu betreiben. Als genetisch verantwortungslos müssen all diejenigen gelten, die nicht willens oder fähig sind, die genetische Aufklärung als »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Immanuel Kant) zu begreifen. In dieser Perspektive handeln nur diejenigen autonom, die genetische Informationen nachfragen und aus dem genetischen Wissen die »richtigen« Schlüsse ziehen, d.h. Maßnah182

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men zum Risikomanagement einleiten und sich dem Imperativ der Krankheitsprävention unterwerfen: »[W]hen genetic information is likely to make a significant difference in my decisions and when the information is obtainable with reasonable effort, I have no right to remain ignorant. From the recognition of my own autonomy, I have a duty to be informed.« (Rhodes 1998: 18)

4. Ausblick In unserem Beitrag haben wir einige Hintergründe, Dynamiken und Folgen prädiktiver Gentests dargestellt. Wir haben dabei neben den gesellschaftlichen Folgen dieser Technologie auch die sozio-technischen Konstellationen, die sie fördern, die ihnen eingeschriebenen soziokulturellen Kontingenzen sowie die sozio-politischen Kontexte, die sie ermöglichen, in die Analyse einbezogen. Offen bleiben muss die Frage, ob oder in welchem Umfang sich die Visionen einer molekularen Medizin in Zukunft erfüllen werden und die medizinische Bedeutung dieser Testverfahren zunimmt bzw. sie eine weitere Verbreitung erfahren. Dem optimistischen Szenario einer auf das individuelle Genom abgestimmten personalisierten Medizin steht die wachsende Anerkennung genetischer und biologischer Komplexität in der biowissenschaftlichen Forschung entgegen. Immer deutlicher zeigt sich, dass Genotyp und Phänotyp nur in vergleichsweise wenigen Fällen in linearer, unidirektionaler Weise miteinander verbunden sind. Historisch gesehen, waren es aber genau diese Fälle – wie beispielsweise monogene Erbkrankheiten –, die das Paradigma der genetischen Determination und Vorhersagbarkeit für die molekulare Medizin und die genetische Diagnostik begründet haben. Gene sind in der Regel keine determinierenden Faktoren, sondern ihre Aktivität wird in hohem Maße nicht nur durch andere genetische und zelluläre, sondern auch durch Entwicklungs- und Alterungsprozesse sowie durch Umweltfaktoren beeinflusst. Angesichts dieser Befunde bestätigt sich die seit langem von Kritikern und Kritikerinnen des genetischen Determinismus geäußerte Forderung, dass die reduktionistische Wahrnehmung von Genfunktion und Genregulation durch ein komplexeres Verständnis ersetzt werden muss. Die zunehmende Einsicht in die Komplexität biologischer Regulationsprozesse hat in den letzten Jahren neuen Teildisziplinen, wie etwa der Systembiologie, der Entwicklungsbiologie oder der Epigenetik, ungeheuren Auftrieb gegeben. Diese Forschungsrichtungen konzentrieren sich auf Prozesse, die ganze Zellen oder Organismen involvieren, sowie 183

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auf die Funktionen von Genen und Proteinen und deren Interaktionen. Molekulare Prozesse sind in dieser Perspektive keine determinierenden Vorgänge, sondern werden als Funktion komplexer Interaktionen und Einflüsse von anderen Ebenen der biologischen Organisation verstanden. Innerhalb dieses Komplexitätsparadigmas sind es weder die individuellen Gene noch die Genome, die für den biologischen Prozess verantwortlich sind; vielmehr werden in analytischer Perspektive die genetischen mit anderen biologischen Dimensionen kombiniert (vgl. Wynne 2005). Noch radikaler fasst die Theorie der Entwicklungssysteme (Developmental Systems Theory, DST) das Verhältnis von Genen und »Umwelt«. Ihr zufolge sind biologische Prozesse nicht durch eine genetische Blaupause programmiert. Vielmehr wird die Genaktivität als eine Reaktion auf externe Signale verstanden, die spezifische Zellen zu bestimmten Zeitpunkten erreichen. Biologische Systeme werden dabei als emergente Resultate komplexer und gleichberechtigter Interaktionen, und nicht als Manifestation prä-existierender Pläne begriffen (Oyama 2000; Oyama et al. 2001; Neumann-Held/Rehmann-Sutter 2006). In dieser theoretischen Perspektive erscheinen Gene nicht mehr als determinierende Agenzien, sondern als Akteure in einem komplexen Netzwerk. Ihre Funktionen sind keine inhärenten Eigenschaften, sondern in hohem Maße von intra- und extrazellulären Kontexten abhängig. Diese Thesen werden durch neueste Forschungsergebnisse bestätigt. Eine wissenschaftliche Großstudie, an der Dutzende von Laboren auf der ganzen Welt beteiligt waren, untersuchte im Rahmen des ENCODE Projekts (The Encyclopedia of DNA Elements Project) einen kleinen Teil des menschlichen Erbguts besonders gründlich.10 Das Konsortium kommt aufgrund der Forschungsergebnisse zu dem Schluss, dass das menschliche Genom keine »tidy collection of independent genes« ist, bei der jede DNA-Sequenz mit einer einzigen Funktion, wie beispielsweise einer Prädisposition für Diabetes oder Herzerkrankungen verbunden ist. Stattdessen scheinen die Gene in einer noch nicht verstandenen Weise in einem komplexen Netzwerk miteinander und mit anderen Komponenten zu interagieren (The Encode Project Consortium 2007). Trotz des durch die neuen Erkenntnisse in Systembiologie und Entwicklungsbiologie eingeleiteten Paradigmenwechsels steht nicht zu erwarten, dass sich der Diskurs über die Funktion von Genen und Genomen bald grundlegend ändern wird. Nach wie vor liegt der strategische Fokus der biomedizinischen Forschung auf der genetischen Verursachung von Krankheiten, und die Risikofaktorenmedizin wird durch den 10 Die vierjährige Arbeit des Konsortiums wurde von 35 Arbeitsgruppen durchgeführt, die aus 80 Organisationen in allen Teilen der Welt rekrutiert worden waren. 184

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Einsatz von prädiktiven Tests oder Testbatterien weiter stabilisiert. Zwar wird die Vorstellung »des Gens für« eine bestimmte Krankheit durch die Definition einer Vielfalt von Polymorphismen bzw. krankheitsrelevanter Genaktivitäten und deren Expressionsmuster ersetzt, die die Wahrscheinlichkeit der Krankheitsentwicklung erhöhen können. Doch die Konzentration auf Gene, Genprodukte und Gentests führt den von Haraway (2001) konstatierten »Genfetischismus« fort. Zwei weitere Gründe sprechen dagegen, dass die derzeit beobachtbaren Entwicklungen im Bereich der prädiktiven und personalisierten Medizin bald eine andere Richtung einschlagen werden. Zum einen haben sich Genanalytik und Gendiagnostik auch jenseits der Medizin in der Forschung, der Forensik sowie im Bereich der Verwandtschaftsnachweise fest etabliert. Von diesen institutionellen Verfestigungen gehen stabilisierende und stimulierende Impulse aus, die auch die Entwicklung von prädiktiven Tests im Bereich der Medizin weiter befördern werden. Zum anderen steht im Bereich der Genomanalytik inzwischen eine komplexe und ausdifferenzierte Testtechnologie bereit, deren Entwickler nichts unversucht lassen werden, um ihren Anwendungen neue Märkte zu erschließen. Dabei zeichnet sich ab, dass von Strategien, die auf die Analyse von einzelnen Genen zielen, zunehmend Abstand genommen und versucht wird, mithilfe von Microarrays oder anderen Hochdurchsatztechnologien differenzierte Muster von Polymorphismen und/oder Genaktivitäten zu erfassen, um der Komplexität der Wechselwirkungen zwischen genetischen und Umweltfaktoren zumindest annähernd Rechnung zu tragen. Das genetische Zeitalter ist zweifellos noch nicht zu Ende; was genau »genetisch« in Zukunft meint, steht freilich auf einem anderen Blatt.

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Ausweitung der Kampfzone: Anti-Aging-Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung TOBIAS EICHINGER

I. Einleitung Seit Mitte der neunziger Jahre sorgt eine neue medizinische Spezialdisziplin für Aufsehen, die sich der Bekämpfung des Alterns verschrieben hat. Die so genannte Anti-Aging-Medizin trägt nicht nur einen prägnanten Namen, sondern verfolgt auch eine bedenkenswerte Zielsetzung. Ihre Maßnahmen richten sich neben der Behandlung und Linderung altersbedingter Krankheiten auf die Beseitigung und Kaschierung äußerlicher Erscheinungen des Älterwerdens, aber auch auf die Beeinflussung des menschlichen Alterungsprozesses selbst. Derartige »Baumaßnahmen am menschlichen Körper« (Ach/Pollmann 2006), die die bio-physiologischen Vorgänge des Alterns verlangsamen, anhalten oder gar umkehren sollen, lassen sich kaum mehr als Erfüllung des traditionellen medizinischen Heilauftrags verstehen. Dieser orientiert sich in erster Linie an der Behandlung von Krankheiten, stellt dabei Indikationsbedingungen und das Konzept medizinischer Notwendigkeit ins Zentrum der Begründung ärztlichen Handelns. Von Verjüngung und Unsterblichkeit ist hierbei keine Rede. Doch Anti-Aging-Medizin beansprucht auch jenseits von utopischen Träumen, im Hier und Jetzt medizinischer Praxis eine revolutionäre Alternative zu konventionellen Therapieformen zu bieten. Durch konsequent verstandene Prävention und ganzheitliche Gesundheitsförderung soll degenerativen Alterserkrankungen nachhaltig entgegengewirkt und die Lebensqualität soweit verbessert werden, dass ju195

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gendliche Leistungsfähigkeit bis weit in die zweite Lebenshälfte erhalten werden kann. Damit steht die Anti-Aging-Medizin exemplarisch für einen grundlegenden Wandel des medizinischen Ansatzes. Statt bereits aufgetretene Krankheiten und Verletzungen zu behandeln, verhindert die Medizin der Zukunft ihr Entstehen, und Gesundheit wird nicht mehr reaktiv erreicht, sondern ›proaktiv‹ hergestellt. Das hier virulente Gesundheitsverständnis übertrifft dabei sogar die Ansprüche der vielgescholtenen WHODefinition und fordert in seinem Anspruch, sämtliche Lebensbereiche zu umfassen, medikalisierendes Enhancement heraus (vgl. Crawford 1980). Gesundheit liegt nicht mehr länger im ›Schweigen der Organe‹ (René Leriche) oder in einer – naturgemäß schwer greifbaren – ›Verborgenheit‹ (Gadamer), sondern wird unter dem Paradigma der wunscherfüllenden Medizin als eine steiger- und verbesserbare Qualität aufgefasst. Für die Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen zu derartiger »Vitaloptimierung« steht nun immer öfter die Selbstverwirklichung und Lebensplanung des Einzelnen im Vordergrund (vgl. Kettner 2006). Im Rahmen von Anti-Aging impliziert dies die Aufforderung, das eigene Altern selbst in die Hand zu nehmen und entsprechend zu gestalten bzw. zu bekämpfen. Indem sie dabei radikal auf konsequente Prävention setzt, erweitert die Anti-Aging-Medizin das Spektrum ihrer Adressaten erheblich: da jeder Mensch altert, gibt es niemanden mehr, der nicht als potentieller Patient in Frage kommt. Anti-Aging-Medizin erscheint somit als Idealtypus einer »Medizin für Gesunde« (Maio 2007: 244). Auch wenn die Rede von präventiver Medizin, langfristiger Effizienz und Ganzheitlichkeit zunächst vernünftig und begrüßenswert erscheint, ist die Anti-Aging-Medizin alles andere als unumstritten. Seit ihren Anfängen verläuft die Entwicklung dieser Medizin-Innovation in dauernden, z.T. heftigen Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Opponenten und ist geprägt von hartnäckigen Abgrenzungsbemühungen. Die Gründe und Motivlagen, die hierbei im Spiel sind, sind sehr vielfältig. Neben naheliegenden, in erster Linie ökonomisch gefärbten Streitpunkten, wie der Frage nach der Zuständigkeit für bestimmte Krankheitsbilder und Patientengruppen, spielen hier auch begrifflichdiskursive Zusammenhänge eine wichtige Rolle (›Was ist Alter?‹, ›Was ist gutes Altern?‹, ›Wann ist Altern pathologisch?‹, ›Was ist der richtige Umgang mit dem Altern?‹). Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten gesellschaftlichen Felder dieser Kontroversen (Gesundheitsmarkt, Wissenschaftssystem, gesellschaftlicher Diskurs) aufgezeigt und die Positionierung der AntiAging-Medizin in der jeweiligen ›Kampfzone‹ erläutert werden. Ange196

AUSWEITUNG DER KAMPFZONE

sichts der hierbei zu beobachtenden Ausweitungs- und Entgrenzungsbewegungen wird anschließend die medizintheoretische Frage aufgeworfen, wie Erweiterungen des medizinischen Handlungsfeldes im Allgemeinen und solche der Anti-Aging-Medizin im Besonderen begründet und ethisch legitimiert werden können.

II. Was ist Anti-Aging-Medizin? a. Was will Anti-Aging-Medizin? – Ziele Das Spektrum von Produkten und Leistungen, das sich mit ›Anti-Aging‹ unter das Schlagwort der ›Altersgegnerschaft‹ bringen lässt, ist sehr breit und heterogen zusammengesetzt. Von merkwürdigen Etikettierungen der Lebensverlängerung bislang unverdächtiger Nahrungsmittel (AntiAging-Pralinen, Anti-Aging-Bier) bis hin zu Zellbiologen, die durch Genmanipulation im Labor die Lebensspanne von Fruchtfliegen vervielfachen, findet sich das Anti-Aging-Label in den unterschiedlichsten Kontexten. Dabei hat nicht alles, was von der alltäglichen Konsumwelt des Normalverbrauchers bis zur spezialisierten High-Tech-Forschung mit Anti-Aging in Verbindung steht, mit Medizin zu tun. Gleichwohl bilden das Zentrum und die Hauptstoßrichtung entsprechender Bemühungen Fragen der medizinischen Anwendbarkeit und des therapeutischen Nutzens für Menschen, die am Altern und seinen Auswirkungen leiden. Um die Alterslast zu minimieren, setzt Anti-Aging als neuer Medizin-Bereich ganz auf die Verlängerung von Lebensphasen. Hierbei lassen sich drei Bereiche voneinander unterscheiden und gegeneinander abgrenzen. Neben dem medizinisch konservativsten Ziel, den krankheitsfreien Anteil der Lebenszeit zu verlängern (Ziel A), steht die schon ambitioniertere Absicht, mittels Anti-Aging die jugendlich-leistungsfähige Lebensphase möglichst weit auszudehnen (Ziel B), und schließlich fallen unter die Bezeichnung ›Anti-Aging‹ auch all jene tiefgreifenden Anstrengungen, die die gesamte Lebensspanne des Menschen über das bisher erreichbare Normalmaß hinaus erweitern wollen (Ziel C).1 1

Alternativ zu dieser Dreiteilung werden vier Formen von Anti-Aging hinsichtlich des erwünschten Effektes unterschieden. So wird die Zielsetzung einer möglichst zusammengedrängten, von Gebrechlichkeit und Morbidität gezeichneten Lebensendphase als ›compressed morbidity‹-Strategie bezeichnet und vom ›prolonged senescence‹-Effekt einer verlängerten, aber nicht verbesserten Lebensdauer unterschieden. Daneben werden Maßnahmen, die in den Alterungsprozess selbst eingreifen, hinsichtlich ihrer Radikalität differenziert: Interventionen, die den Alterungsvorgang verlangsamen sollen, folgen dem Ziel des ›decelerated aging‹, während 197

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Zunächst zählen zur Anti-Aging-Medizin all jene Maßnahmen, die gegen alternsbedingte Krankheiten und pathologische Einschränkungen gerichtet sind. Allerdings zählen dazu nicht kurative Maßnahmen, die manifeste Erkrankungen und Verletzungen lindern oder heilen sollen. Im Vordergrund steht vielmehr die frühzeitige Verhinderung und Verzögerung alternsbedingter Einschränkungen mit eindeutigem Krankheitswert. Anti-Aging-Medizin kümmert sich somit primär um die Prävention von Erkrankungen, wie es den klassischen Zielen der Medizin und dem traditionellen Selbstverständnis der Ärzteschaft entspricht. Hier agiert die Anti-Aging-Medizin allerdings in einem Graubereich, da sich schwer eine eindeutige Grenze ziehen lässt zwischen Befunden, die als alterstypisch und damit normal eingestuft werden müssen, und solchen, die als pathologisch und damit behandlungswürdig zu interpretieren sind. Zum einen sind altersbedingte Krankheitsbilder schwer abzugrenzen von Erscheinungen des Älterwerdens, die ›bloß‹ beschwerlich und belastend, aber nicht krankhaft sind, zum anderen müssen viele degenerative Alterserscheinungen als Risikofaktoren für das Auftreten pathologischer Zustände verstanden werden. Angesichts der großen Unklarheit über die physiologischen Ursachen und Zusammenhänge des Alterns selbst sowie der typischen Multimorbidität in zunehmendem Alter scheint eine befriedigende Differenzierung hierbei aber höchst schwierig. Ob eine medizinische Intervention als Verhinderung oder Behandlung eines Altersgebrechens im präventivmedizinischen, d.h. krankheitsvermeidenden Sinne gerechtfertigt ist oder aber eher – ohne Krankheitsbezug – der Steigerung der individuellen Lebensqualität dient, lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig klären. So zeigt sich, dass der Übergang von der problemlos erscheinenden Zielsetzung der Anti-AgingMedizin, den gesunden Anteil der Lebenszeit zu verlängern (Ziel A), zum zweiten Anti-Aging-Ziel, der Ausdehnung jugendlicher Leistungsfähigkeit (Ziel B), fließend ist. Deutlicher von konventioneller Medizin abgrenzen lassen sich dagegen diejenigen Verfahren, die das dritte Ziel, die direkte Verlängerung der absoluten Lebensspanne des Menschen (Ziel C), anstreben. Strategien zur Lebensverlängerung in diesem Sinne verstehen ›Anti-Aging‹ wörtlich und stellen die tatsächliche Abschaffung des Alterns in Aussicht. Hierbei stehen spektakuläre Visionen von der Erlösung bzw. vom Untergang der Menschheit im Vordergrund. Da dieses Ziel auf die direkte Beeinflussung und Manipulation der körperlichen Alterungsvorgänge setzt, ist es angewiesen auf Grundlagenforschung der entsprechenden Natur- und Laborwissenschaften, wie Mole-

mit der Zielsetzung des ›arrested aging‹ das völlige Anhalten des Alterns gemeint ist (Fries 1980; Juengst et al. 2003). 198

AUSWEITUNG DER KAMPFZONE

kular- bzw. Zellbiologie und Genetik. So ist die Absicht, in den Alterungsprozess direkt einzugreifen und die absolute Lebensspanne des Menschen zu erweitern, derzeit zwar (noch) kein medizinisches Vorhaben, sie gibt aber die Richtung vor, der auch die weniger radikalen AntiAging-Strategien, wie sie in der Medizin bereits zur Anwendung kommen, letztlich folgen: ewige Jugend und die Überwindung des Alterns.2

b. Was setzt Anti-Aging-Medizin ein? – Mittel Um ihre Ziele zu erreichen, kommen in der Praxis der Anti-AgingMedizin verschiedenste Maßnahmen, Methoden und Mittel zur Anwendung, die sich in vier große Komplexe unterteilen lassen: Neben Interventionen, die die persönliche Lebensführung betreffen (›Lifestyle‹), werden Nahrungsergänzungsmittel als Anti-Aging-Präparate (›Vitalstoffe‹) sowie endokrinologische Behandlungen (›Hormontherapien‹) und Verfahren, die das äußere Erscheinungsbild korrigieren sollen (›Kosmetische Interventionen‹), offeriert. Die geringste medizinische Eingriffstiefe weist dabei der ›Lifestyle‹Bereich auf. Dieses Teilgebiet der Anti-Aging-Medizin basiert auf wenig spektakulären und längst zum Allgemeingut gewordenen Ratschlägen zu einer gesundheitsbewussten Lebensführung: körperliche Bewegung, gesunde und ausgewogene Ernährung, Abstinenz gegenüber Giften wie Nikotin und Alkohol, ausreichend Schlaf und Regeneration, kontinuierliches Training geistig-kognitiver Fähigkeiten sowie die regelmäßige Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen – diese Anweisungen bilden den Grundstock an medizinisch vernünftigen Verhaltensweisen, die jeder Gesundheitswillige sich und seinem Körper ohnehin schuldet. Im Spektrum der Anti-Aging-Medizin sind vor allem die gegen Alterserscheinungen und -beschwerden wirksamen Effekte dieses common-sense-Wissens akzentuiert. Allerdings sind Ratschläge zur Lebensstiländerung wenig altersspezifisch, Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten, die ein möglichst langes Leben begünstigen, scheinen identisch zu sein mit Grundsätzen gesunder Lebensführung – ganz altersunabhängig. Deutlicher auf direkt lebensverlängernde Effekte zielen dagegen ›Vitalstoffe‹ ab, wie sie häufig in Anti-Aging-Programmen zu finden sind. Als medizinisch intendierte Nahrungsergänzungsmittel – sogenannte 2

Dies belegen die verschiedenen Einlassungen von Anti-Aging-Medizinern zu den möglichen zukünftigen Entwicklungen in der biogerontologischen Altersforschung. Die sehr unsichere Grundlage solcher Prognosen ist dabei offenbar kein Hinderungsgrund für hoffnungsfrohe Spekulationen über einen in Kürze bevorstehenden sensationellen Durchbruch. 199

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nutraceuticals3 – enthalten diese Zusatzstoffe typischerweise Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Aminosäuren, ungesättigte Fettsäuren, Antioxidantien u.a. und werden zur Prävention von altersassoziierten Zivilisationskrankheiten, wie Osteoporose oder kardiovaskulären und neurodegenerativen Erkrankungen, eingesetzt. Hier bedient sich die Anti-Aging-Medizin der Konzepte der orthomolekularen Medizin, die auf die Bedeutung von Mikronährstoffen zur Krankheitsvermeidung setzt. Die auch als ›funktionelle Lebensmittel‹ (›Functional Food‹) bezeichneten Zusatzstoffe sollen im Rahmen von Anti-Aging-Anwendungen dazu beitragen, Vitalität und Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter zu erhalten. Im Gegensatz zu alterungsverzögernden Stoffen, die ohne ärztliche Unterstützung oder Aufsicht frei gewählt und dosiert werden können, ist für den Einsatz von Hormontherapien medizinisches Fachwissen und eine ärztliche Verordnung notwendig. Im Rahmen der Anti-AgingMedizin spielen Therapien, die einem altersbedingten Rückgang der körpereigenen Hormonproduktion entgegenwirken und den jugendlichen Hormonspiegel wiederherstellen sollen, eine besondere Rolle. Insbesondere von Wachstumshormonen, Melatonin, DHEA (Dehydroepiandrosteron) sowie Östrogenen und Testosteron werden hier deutliche AntiAging-Effekte erwartet. Allerdings ist die Wirksamkeit solcher Substitutionstherapien bislang nicht nachgewiesen und ihre Anwendung aufgrund der fehlenden Evidenz für eine auch auf Dauer positive NutzenRisiko-Bilanz höchst umstritten. Der vierte Bereich bereits praktizierter Anti-Aging-Maßnahmen umfasst kosmetische Interventionen. Hierbei handelt es sich weniger um eine Besonderheit der Anti-Aging-Medizin, als vielmehr um den spezifischen Einsatz eines schon länger umstrittenen medizinischen Feldes. Gleichwohl bilden Eingriffe und Anwendungen, die das körperliche Erscheinungsbild verändern sollen, den wohl größten und wichtigsten Bereich der Anti-Aging-Interventionen, die derzeit angeboten, nachgefragt und durchgeführt werden. Wo die Änderung von gesundheitsgefährdenden Lebensgewohnheiten mühsam ist, der Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln und Hormontherapien nur indirekt und mittel- bis langfristig Wirkung zeigt, versprechen dermatologische und plastischchirurgische Maßnahmen schnelle und vor allem deutlich sichtbare Erfolge im Kampf gegen Alterserscheinungen. Im Mittelpunkt solcher ›Korrekturen‹ steht in erster Linie der Kampf gegen augenfällige Erscheinungen der Hautalterung. Kosmetische Anti-Aging-Maßnahmen zielen somit auf die Beseitigung von Falten, schlaffen Hautpartien und

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Begriffsbildung aus ›Nutrition‹ (engl. für ›Ernährung‹) und ›Pharmaceutical‹ (›Arzneimittel‹).

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AUSWEITUNG DER KAMPFZONE

Altersflecken sowie die Entfernung von Fettgewebe. Ein Teilgebiet altersbezogener Kosmetik mit sehr hohem Innovationswert stellt die Entwicklung von Verfahren zur Stimulierung des Zahnwachstums dar, die allerdings noch nicht über das experimentelle Stadium hinaus sind.

c. Wer praktiziert Anti-Aging-Medizin? – Anbieter Wie die Interventionsformen, die zu Anti-Aging-Zwecken genutzt und eingesetzt werden, nahelegen, ist das Spektrum der Berufsgruppen und Einrichtungen, die solche Leistungen anbieten und durchführen, ebenfalls alles andere als einheitlich. So sind die Verbreitung und der Konsum von vielen Nahrungsergänzungsmitteln (Vitamintabletten, probiotisch angereicherte Lebensmittel) sowie etlichen Kosmetika zur nichtinvasiven Behandlung der Haut (Anti-Aging- und Anti-Falten-Cremes) keinerlei Einschränkungen unterworfen und auf dem freien Markt erhältlich (abgesehen von Verordnungen, die Lebensmittel und Kosmetika im Allgemeinen betreffen). Hier ist vor allem das Angebot entsprechender Produkte in Supermärkten, Drogerien und Apotheken, zunehmend auch in Arztpraxen zu nennen. Auch Ratschläge zu einer gesundheitsbewussten und lebensverlängernden Lebensführung sind in den verschiedensten Formen (v.a. Broschüren und Büchern) problemlos verfügbar. Dass hier eine ärztliche Ausbildung und medizinisch-wissenschaftliche Kompetenz, akademisch bescheinigt durch Doktor- und Facharzttitel, für seriöses Renommee sorgen und durchaus förderlich für den Absatz entsprechender Ratgeber und Produkte sein können, liegt auf der Hand. Dies impliziert aber in keiner Weise einen Arztvorbehalt für die genannten Leistungen, was die zahlreichen nicht-medizinischen Anbieter aus dem Wellnessbereich (Gesundheitsreiseveranstalter, Kurhotels etc.) auch belegen. Invasive kosmetische Eingriffe und Hormontherapien dagegen gehören zum Kompetenzbereich des chirurgischen bzw. endokrinologischen Faches, unterliegen damit der Auflage des Arztvorbehalts und dürfen nur von dazu autorisierten Medizinern durchgeführt werden. Charakteristisch für den Anti-Aging-Bereich ist nun, dass auch schwache Formen von Interventionen, wie ›Lifestyle‹-Tipps oder Ernährungsberatung, explizit als ärztliche Aufgaben verstanden und entsprechend im fachlich fundierten Duktus von Sicherheit und Vertrauen präsentiert werden. Somit können auch Maßnahmen, die nur in geringem Maße medizinspezifisch erscheinen, dennoch als Leistungen einer AntiAging-Medizin gelten.

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III. Kampfzone Wettbewerb Ob in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst oder Wissenschaft – wenn sich in einem Fachgebiet eine neue Bewegung oder Strömung formiert, die aus den Reihen der in diesem Tätigkeitsbereich etablierten Akteure und Gruppen kommt und als Konkurrenz zu den existierenden Ansätzen und deren Vertretern in Erscheinung tritt, ist dies in aller Regel mit Abgrenzungsbemühungen und Verteilungskämpfen verbunden. Um auf sich aufmerksam machen zu können, muss eine neue Idee zunächst identifizierbar sein, was wiederum eine deutliche Differenz zwischen den neuartigen Konzepten und noch unbekannten Verfahren einerseits und den bestehenden Theorien und gewohnten Praktiken andererseits voraussetzt. Das gilt selbstverständlich auch für neue Forschungsrichtungen und Behandlungsansätze in der Medizin. Um sich vom Kanon der gängigen Therapieverfahren und Methodik abzuheben, kann eine neuartige Herangehensweise auf gravierende Defizite der vorherrschenden Lehrmeinung aufmerksam machen, die entsprechenden eigenen Alternativen zur Lösung oder Überwindung dieser Mängel aufzeigen und damit ihre Dringlichkeit und Innovativität betonen. Inwieweit die behaupteten mit den tatsächlich nachzuweisenden Unterschieden übereinstimmen, ist dabei allerdings nicht immer so eindeutig, wie es die Vertreter des jeweiligen Lagers gerne hätten. Ob die als wesentlich herausgestellten Unterscheidungsmerkmale zwischen dem etablierten und dem neuartigen Ansatz einer kritischen Überprüfung standhalten oder eher einem Wunschdenken ihrer Verfechter entsprechen, ist ein Streitpunkt, der unweigerlich zur zentralen Frage nach der Legitimation der neuen Richtung führt.4 Das Bemühen der Anti-Aging-Medizin, sich von der bestehenden medizinischen Praxis ausreichend deutlich abzuheben und den eigenen Ansatz möglichst innovativ darzustellen, wird notwendig aufgrund der spezifischen Konkurrenzsituation im medizinischen Feld. Da im Gesundheitswesen nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung stehen, sieht sich jeder Akteur und jede Gruppierung, die in diesem umkämpften Terrain eine relevante Position erreichen und behaupten will, mit einer Situation konfrontiert, die von dem Ringen um limitierte Mittel geprägt ist und deshalb hier als ›Kampfzone Wettbewerb‹ bezeichnet werden soll. Aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit ist die Anti-Aging-Medizin nun in besonderem Maße dieser Wettbewerbssituation ausgesetzt. So4

Vgl. hierzu die Schwierigkeiten, die das Bemühen bereitet, die sogenannte Alternative Medizin im Sinne ihrer eigenen Ansprüche und Definitionsversuche begrifflich kohärent von der Schulmedizin abzugrenzen (Wiesing 2004).

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AUSWEITUNG DER KAMPFZONE

wohl das breite und sehr heterogen zusammengesetzte Spektrum an Angeboten und Anbietern innerhalb der Anti-Aging-Medizin als auch die Diversität der Kompetenz- und Tätigkeitsfelder, die außerhalb des AntiAging-Bereichs sehr ähnliche – in manchen Fällen sogar die gleichen – Leistungen anbieten, führen dazu, dass die Anti-Aging-Medizin sich gegenüber ihrer direkten, fest etablierten Konkurrenz besonders innovativ präsentieren und (über-)deutlich abgrenzen muss. In dieser Kampfzone lassen sich nun zwei Bereiche unterscheiden, in denen die Anti-Aging-Medizin mit ihren Konkurrenten streitet. So sorgt die Anti-Aging-Idee für große gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Wirkung in ihrem Kampf um Kunden auf dem Gesundheitsmarkt (a), während daneben Erfolge im Kampf um Reputation und Einfluss auf dem Wissenschaftsmarkt (b) nicht minder relevant für die Umsetzung der eigenen Ziele sind.

a. Gesundheitsmarkt Der gesamte Bereich der medizinischen Versorgung ist heute ein Sektor der Gesellschaft, der mehr und mehr nach wirtschaftlichen Kriterien strukturiert und an ökonomischen Prinzipien orientiert ist. Permanente Ressourcenknappheit und allgegenwärtige Finanzierungskrisen leisten zudem einem Bedeutungszuwachs von Marktelementen in der Medizin Vorschub.5 Dem Strukturwandel des Gesundheitswesens hin zum ökonomisch funktionierenden Marktsystem entsprechen Verschiebungen bei den beteiligten Personen (-gruppen) und ihren Verhaltenseinstellungen. In einem freien Markt bestimmen Angebot und Nachfrage das Geschehen. Dieses Muster dient nun auch in der Medizin zunehmend als Vorbild, und die Grenzen sowohl zwischen Patienten und Klienten/Kunden als auch zwischen der Arztrolle und der eines Verkäufers werden unklar. Der Arzt tritt immer öfter als Anbieter von medizinischen Dienstleistungen auf, die zwar nur er als kompetenter Experte durchführen kann (und darf), über deren Angemessenheit und Einsatz er aber nicht mehr allein entscheidet. Die ärztliche Urteilskraft und Behandlungsfreiheit wandelt sich zu einer primär beratenden Funktion im Dienste der Meinungsbildung des Kunden, der als selbstbestimmter »Patientensouverän« (Huesmann et al. 2006: 11) Wissen und Rat des Mediziners – bzw. »Gesundheits-Consultants« (ebd.: 22) – nur mehr als einen Faktor unter anderen im Rahmen seiner freien Entscheidungsfindung berücksichtigt. Dieser 5

Das heißt selbstverständlich nicht, dass das Gesundheitssystem gänzlich in ökonomischen Strukturen aufgeht oder gar komplett an marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichtet sein sollte. Zur ethischen Diskussion über Gefahren und Grenzen einer Marktorientierung siehe (Maio 2009). 203

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wachsenden Dienstleistermentalität auf Seiten der Mediziner entspricht eine erhöhte konsumistische Anspruchshaltung der Kunden-Patienten. Da angesichts knapper Kassen das Spektrum der solidarisch finanzierten Gesundheitsleistungen begrenzt ist, steigt gleichzeitig die Bereitschaft zu und der Umfang von privaten Investitionen für medizinische Maßnahmen deutlich an.6 In Deutschland hat diese Entwicklung im umstrittenen Instrument der Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) bereits ihren geregelten Ausdruck gefunden. Diese SelbstzahlerLeistungen sind definiert als »aus ärztlicher Sicht erforderlich oder empfehlenswert, zumindest aber vertretbar und von Patientinnen und Patienten ausdrücklich gewünscht« (Raspe 2007: 25; vgl. Windeler 2006). Die Grundbedingung, die eine ärztliche Leistung erfüllen muss, ist also nicht mehr eine quasi-objektiv bestimmbare, krankheits- bzw. heilungsbezogene Notwendigkeit, die nach anerkannten medizinischen Kriterien aus einer Diagnose folgt, sondern die explizit formulierte Präferenz und selbstbestimmte Forderung des »Gesundheitskunden« (Huesmann et al. 2006: 12) genügt. An IGeL wird somit der ideelle Wandlungsprozess grundlegender Werte und Ziele deutlich, in dem sich die moderne Medizin gegenwärtig befindet (vgl. Maio 2007; Raspe 2007; Thanner/Nagel 2009). Als neue medizinische Leitgröße fungiert Gesundheit und mit dem Prinzip ›Vorbeugen ist besser als Heilen‹ wird die Reparaturmedizin zugunsten eines »prospektiven, präventiven und individuell ausgerichteten« (Baessler 2006: 281) Vorgehens verabschiedet.7 Aus diesem Ansatz ist in den vergangenen Jahren die so genannte ›Lebensstilmedizin‹ entstanden, die die Erkenntnis, dass vielen Erkrankungen und Beschwerden – allen voran den klassischen Zivilisationskrankheiten – am effektivsten mit einer Änderung der Lebensführung (Essgewohnheiten, körperliche Bewegung etc.) vorgebeugt werden kann, ins Zentrum rückt.8 Da es aber 6

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Bezeichnenderweise wird dieser neue und stark expandierende Sektor »Zweiter Gesundheitsmarkt« genannt, was Zweifel an der Marktförmigkeit des ›ersten‹, also über Krankenkassenfinanzierung geregelten Gesundheitsbereichs ausräumen dürfte (siehe Masekowitz 2007: 2612). Zu Bedenken gegen eine bedingungslose Wertschätzung und Anerkennung allumfassender Präventions- und Früherkennungsmaßnahmen sowie der Mahnung, »dass Interventionen zur Krankheitsverhütung nicht automatisch nützlich sind« (siehe Mühlhauser 2007). Hier muss angemerkt werden, dass Lebensstilmedizin nicht mit ›LifestyleMedizin‹ identisch ist. Zwar bestehen hier einige Gemeinsamkeiten, doch während Lebensstilmedizin das präventive Potenzial sämtlicher Aspekte der individuellen Lebensführung auslotet, richtet sich Lifestyle-Medizin in erster Linie auf die Verschränkung von Medizin und Wellness mit Eventcharakter (wie kosmetische Eingriffe) und ist dann auch eher als »Erlebniskultur-Medizin« zu übersetzen (siehe Mühlhausen 2002:14).

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– abgesehen von lebensbedrohlichen Ausnahmefällen – nicht zu den Aufgaben des Mediziners gehört, direkt in die Lebensführung des Einzelnen einzugreifen und diese nach präventivmedizinischen Gesichtspunkten zu korrigieren, ergeben sich nun auch deutliche Veränderungen innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung, und der ›Lebensstilmediziner‹ »hat es weniger mit medizinischen als mit pädagogisch-psychologischen Problemen zu tun« (Haber 2007: 9). Damit sieht sich die Medizin gewandelten Anforderungen gegenüber, indem sie nicht mehr nur mit hilfsbedürftigen Menschen in Krisensituationen konfrontiert wird, sondern es zunehmend mit dem »Wunsch der Kundenpatienten nach ganzheitlicher Behandlung, Selfness, Selfenhancement« (Huesmann et al. 2006: 21) zu tun bekommt. Adressat und Abnehmer medizinischer Leistungen ist das selbstbestimmte, eigenverantwortliche und gesundheitsbewusste Individuum, das – »aus der fürsorglichen Belagerung in die Freiheit der Selbstsorge (Bröckling 2008: 46) entlassen – zum Manager der eigenen Lebensrisiken geworden ist. Wie kaum eine andere Innovation innerhalb des medizinischen Bereichs repräsentiert die Anti-Aging-Medizin diesen Strukturwandel hin zu Eigenverantwortung und Vorbeugung. Hier wird der »Megatrend Gesundheit« (Huesmann et al. 2006: 6) ebenso in konkrete Behandlungskonzepte überführt, wie sich die Auflösung der Arzt- und Patientenrolle in Struktur und Rhetorik der neuen Sparte widerspiegelt. So versteht sich die Anti-Aging-Medizin explizit als Präventivmedizin (KleineGunk 2007: 2059) und richtet sich an Menschen, die eher selten als Kranke und Bedürftige erscheinen.9 Im Spektrum der Anti-AgingLeistungen werden gesundheitliche Beratungsleistungen immer wichtiger, was dazu führt, dass gerade der Anti-Aging-Mediziner in erster Linie als Gesundheitsberater auftritt – in einschlägigen Kreisen wird bereits mit der Berufsbezeichnung des »Salutologen« operiert (Bleichrodt 2003: 203). Aber auch mit Blick auf die Empfänger von medizinischen AntiAging-Maßnahmen greifen die tradierten Rollenzuschreibungen nicht mehr. In dem ungelenken Kombinationsbegriff des ›Kundenpatienten‹ kommt eine hierfür charakteristische Ambivalenz zum Ausdruck. Denn das Individuum, das die gesundheitliche Selbstverantwortung realisiert und gemäß dem Motto ›Jeder Mensch bestimmt selbst, wie alt er und wie er alt wird‹ sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, ist dabei angewiesen auf die Fachkompetenz des Mediziners. Der hilfsbedürftige Kunde entspricht damit dem Profil der zeittypischen Figur des Klienten, 9

Vgl. zum Effekt der Anti-Aging-Medizin, junge in »noch-nicht-alte« Menschen zu verwandeln, auch die Entstehung einer »potential sick role« durch überzogene Prävention (Crawford 1980). 205

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der professionelle Beratung in Anspruch nimmt.10 Entsprechend sollen sich Anti-Aging-Mediziner als »Gesundheitslotsen« (Jacobi 2004: 187) nicht nur um sämtliche Bereiche des Lebens kümmern, sie sind außerdem »Spezialist[en] mit lebenslanger Sorgefunktion« (ebd.). In dieser zeitlichen Dimension einer permanent notwendigen Lifestyleberatung kommen mehrere grundlegende Verschiebungen in der Medizin zur Geltung.11 So versteht sich die Anti-Aging-Medizin nicht zufällig als Präventivmedizin. Denn die lebenslängliche Anti-AgingBegleitung – »vom Säugling bis zum Senior« (Römmler/Kleine-Gunk 2009) – entspricht dem end- und ziellosen Moment der Unabschließbarkeit, das schon in der Idee von Prävention begründet liegt: »Wer vorbeugen will, darf niemals aufhören« (Bröckling 2008: 44). Analog zur zieloffenen Präventionslogik ist auch das Konzept der Beratung prinzipiell auf Dauer gestellt, denn Rat und Hilfestellung bei Fragen der Lebensführung und Selbstgestaltung werden in aller Regel gesucht, um beste Ergebnisse zu erzielen – doch »da das Optimum nie eintreten kann, ist Beratung immer angezeigt« (Duttweiler 2004: 42). Während präventive Anti-Aging-Begleitung keinen klar definierten Endpunkt kennt, erscheint es umso wichtiger, so früh wie möglich mit der aktiven Sorge zu beginnen. Auch das ergibt sich aus der präventiven Ausrichtung, denn »Vorbeugen kann man nie genug und nie früh genug« (Bröckling 2008: 42) – und so richtet sich Anti-Aging auch nicht an alte, sondern an noch-nicht-alte, an junge Menschen. Der idealtypische Anti-Aging-Konsument ist jung, gesund und fit – und soll dies mit Hilfe der entsprechenden Leistungen auch möglichst lange bleiben. In dem Maße, in dem Prävention prinzipiell auf Zustände bezogen ist, die noch nicht eingetreten sind, gestaltet sich das Aufstellen und Umsetzen allgemeiner Behandlungsstandards und geregelter Therapieverfahren als schwierig. Außerdem können die Risikoprofile, auf die die Anti-Aging-Medizin als Vorsorgemedizin ihre Behandlung ausrichtet, sehr stark von Klient zu Klient variieren. Jenseits von universellen Gesundheitstipps spielt damit eine Individualisierung der Behandlung eine Schlüsselrolle. Und so werden die drei Komplexe von Anti-AgingInterventionen ›Lifestyle‹, ›Vitalstoffe‹ und ›Hormontherapien‹ im

10 So entspricht die angedeutete Verschränkung des Widersprüchlichen der Eigenlogik von Beratung: »Beratung erweist sich als durch und durch ambivalent: Wirksam wird sie durch die Gleichzeitigkeit von Selbstbestimmung und der Abhängigkeit von Experten(wissen).« (Duttweiler 2004: 26) 11 Indem die Anti-Aging-Medizin Altern zum »lebenslangen Projekt« macht, stellt sie aus biopolitischer Perspektive mit ihren Angeboten neue Formen der Politisierung der Lebensführung und »methodischen Selbstdisziplinierung« bereit (Viehöver 2008). 206

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Rahmen einer stark individualisierten Behandlung angeboten (Kley 2009: 49). Daneben ist ein weiteres Kennzeichen von Anti-AgingBehandlungen, dass sie sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen zusammensetzen. Das Konzept der personalisierten Kombinationsbehandlung, die grundsätzlich offen für die Wünsche und Präferenzen des individuellen Klienten ist, bedient damit das Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit und Konsum auf Seiten der Leistungsempfänger. An diesem Punkt ist übrigens eine auffallende Parallele zur Alternativmedizin zu konstatieren, die ihre Attraktivität ebenfalls aus einer programmatischen Abkehr von der herkömmlichen Schulmedizin bezieht und explizit deren negative Auswüchse, wie Anonymisierung, Standardisierung oder Objektivierung, zu vermeiden beansprucht. Ganz anders als in der Alternativmedizin spielen in der Anti-Aging-Medizin aber genetische Faktoren für die Erstellung des individuellen Risikoprofils eine wichtige Rolle. Es wird angenommen, dass im Zuge der Fortschritte in der Genetik die DNA-Diagnostik für die Anti-Aging-Medizin eine zentrale Rolle spielen wird (Siffert 2004). Somit kann die Anti-Aging-Medizin als exemplarisch für den grundlegenden Paradigmenwechsel hin zu »Prospektion, Prävention und Personalisierung« (Baessler et al. 2006) gelten. Auch der hohe Stellenwert individueller Lebensführung findet sich im Anti-Aging-Betätigungsfeld ›Lifestyle-Anwendungen‹ (s.o.) direkt wieder. Hier ist die Anti-Aging-Medizin ganz wesentlich auf das Bewusstsein für die Notwendigkeit von gesundheitlicher Eigenverantwortung sowie die Bereitschaft zur Selbstsorge angewiesen. Dies gilt umso mehr, als die Anti-Aging-Medizin in besonderem Maße auf Selbstzahlerleistungen/IGeL ausgerichtet ist. Angefangen bei den umfangreichen Diagnoseverfahren zur Erstellung des »Anti-Aging-Profils« (vgl. Schlink/Helden 2005: 283) über die Gabe von Mikronährstoffen bis zu Hormontherapien sind im üblichen Anti-Aging-Angebot so gut wie keine Kassenleistungen enthalten (Bleichroft 1999: 199; Kleine-Gunk 2004: 375).12 Die Ausrichtung an einem Dienstleistungsmodell, in dem Produkte bereit gestellt, an den Kunden gebracht und zu diesem Zweck beworben werden müssen, trägt dazu bei, dass die Anti-Aging-Medizin nur in geringem Maße neue Therapie- und Behandlungsverfahren für Patienten entwickelt. Stattdessen agiert der Anti-Aging-Mediziner in erster Linie als Marktteilnehmer. Auch wenn genauere Angaben zum (markt-) wirtschaftlichen Aspekt schwer zu ermitteln sind (Stuckelberger/Wanner 2008: 203 f.), kann doch festgestellt werden, dass das Feld der Anti12 Entsprechend wendet sich ein einschlägiges Lehrbuch explizit »an alle Berufssparten, in denen das Produkt Anti-Aging in seiner ehrlichen Variante weitergegeben wird« (Jacobi et al. 2005: VI). 207

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Aging-Medizin in nicht unerheblichem Maße von Profitstreben und Gewinnmaximierung geprägt ist. So treten führende Vertreter und Institutionen der Anti-Aging-Medizin explizit als Akteure eines hart umkämpften Markts auf und werben mit dem dort prognostizierten kommerziellen Potential. Die American Academy of Anti-Aging Medicine (A4M), die weltweit größte Organisation von Anti-Aging-Medizinern und das wohl bedeutendste Sprachrohr der Anti-Aging-Kultur, scheut sich nicht, die ökonomische Dimension der Anti-Aging-Medizin explizit und in deutlicher Weise zu nennen: »The Anti-Aging market is a multibillion dollar industry with a phenomenal average annual growth rate.« (A4M 2009) Ärzten, die in Zeiten finanzieller Krisen im Gesundheitswesen mehr und mehr selbst von Sparmaßnahmen und Honorarkürzungen betroffen sind, werden ungewöhnlich dynamische Einkommenssteigerungen und wirtschaftliche Sicherheit durch Teilnahme am beständig expandierenen Anti-Aging-Markt in Aussicht gestellt. In einem Handbuch der Anti-Aging-Medizin wird unumwunden die Unentbehrlichkeit professionellen Praxismanagements betont: »Ihre medizinische Kompetenz allein reicht nicht mehr aus, um den Bedürfnissen und Anforderungen Ihrer ›gesundheitskonsumierenden‹ Patienten gerecht zu werden« (Eibl-Schober 2004: 364). Die richtige Präsentationsform des Leistungsangebots sowie der passgenau zugeschnittene Zugang zu den unterschiedlichen Zielgruppen scheint mitunter einen höheren Stellenwert als die medizinische Fachkompetenz zu besitzen. AntiAging-Medizin erscheint damit weniger als ärztliche Hilfe, sondern vielmehr als gewinnorientiertes Projekt, das möglichst viele neue Abnehmer für die offerierten Angebote gewinnen will. Dies verdeutlicht, dass sich die Anti-Aging-Medizin primär in einem Kampf um Kunden betätigt.

b. Wissenschaftsmarkt Da die Anti-Aging-Bewegung sich als Teilbereich der Medizin auf einem Gebiet behaupten muss, das traditionellerweise ein hohes moralisches Ansehen und wissenschaftliches Renommee genießt, sind diese Werte auch für sie von zentraler Bedeutung. Dies gilt sowohl für die Außenwahrnehmung, wenn die Anti-Aging-Medizin sich als neues Angebot für Patienten bzw. Klienten präsentiert, als auch für die Positionierung gegenüber konkurrierenden Ansätzen und Disziplinen im Wissenschaftsbetrieb im Allgemeinen und innerhalb der Medizin im Besonderen. Entsprechend ist die Entwicklung der Anti-Aging-Medizin seit ihren Anfängen eine Geschichte der Abgrenzungen, die in hohem Maße von einem Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, medizinische Attrak208

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tivität und wissenschaftliche Anerkennung geprägt ist. Besonders im Bereich der Geriatrie und Gerontologie sorgte die Anti-Aging-Medizin dabei nicht zuletzt deshalb für ungewöhnlich heftige Reaktionen und Auseinandersetzungen, weil diese Fachrichtungen selbst einen schwierigen und langwierigen Prozess der Etablierung als Wissenschaft bzw. medizinische Subdisziplin hinter sich hatten. So wurden die Repräsentanten der Anti-Aging-Medizin von den Altersmedizinern und Biogerontologen zuallererst als Opponenten verstanden, die ihren mühsam erreichten und weiterhin unsicheren Status gefährden und von denen es sich daher deutlich abzugrenzen gilt (Binstock 2003a; 2003b; 2004; Binstock et al. 2006; Kondratowitz 2003: 159). Auf dem Spiel steht die eigene wissenschaftliche Glaubwürdigkeit, mit deren Schwinden auch der Verlust der Zuständigkeit für altersmedizinische Fragen befürchtet wird, was wiederum mit negativen Konsequenzen für die Vergabe von Forschungsgeldern verbunden wäre. Diese existenzielle Dimension macht auch verständlich, dass die Konflikte zwischen Geriatrie/Gerontologie und Anti-Aging-Medizin eine Heftigkeit und Schärfe angenommen haben, die es nicht übertrieben erscheinen lassen, hier von einem regelrechten »war on anti-aging medicine« zu sprechen (Binstock 2003b). Dabei ähneln sich die Waffen, mit denen der eigene Status verteidigt und die gegnerische Position angegriffen wurden, auf beiden Seiten in bemerkenswerter Weise. So setzten sowohl die Fürsprecher der traditionellen Altersforschung (vgl. Holliday 2009) als auch die Vertreter der Anti-Aging-Medizin in erster Linie darauf, die fachliche Reputation der anderen Seite anzuzweifeln und deren wissenschaftliche Seriosität zu bestreiten. Während vor allem die American Academy for Anti-Aging Medicine als die führende Organisation der Anti-Aging-Bewegung sich bald den Vorwurf gefallen lassen musste, wissenschaftlich ungeprüfte, z.T. schädliche Quacksalberei (›quackery‹) zu betreiben und unhaltbare Hoffnungen zu verbreiten, unterstellen tonangebende Anti-AgingMediziner ihrerseits den etablierten Gerontologen und Geriatern beharrlich, aufgrund gänzlich unwissenschaftlicher Motive wie bloßem Eigeninteresse und Machterhalt die neue Herausforderung systematisch totzuschweigen.13 Die Betonung der eigenen Wissenschaftlichkeit spielt für die AntiAging-Medizin aber nicht nur mit Blick auf die etablierte Altersmedizin eine wichtige Rolle, die ausgewiesene Zugehörigkeit zur scientific community ist vor allem für Abgrenzungsbemühungen an der entgegenge13 Siehe hierzu paradigmatisch die von 52 renommierten Biogerontologen unterzeichnete Grundsatzerklärung zum menschlichen Altern (Olshansky et al. 2002) sowie das Antwort-Statement der A4M (2002), welche so markant wie einschlägig den Abgrenzungsstreit dokumentieren. 209

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setzten Front überlebenswichtig. Um als seriöse Unternehmung ernst genommen zu werden, muss sie sich vor allem von dem unüberschaubar breiten und heterogenen Spektrum gänzlich unwissenschaftlicher AntiAging-Produkte und -Anbieter absetzen. Ein probates Instrument ist hierfür die Gründung und Etablierung eines anerkannten Fachjournals, das den akademischen Standards genügt (renommiert besetztes editorial board, peer review-Verfahren etc.) und so die anvisierte Forschungsrichtung legitimiert und vorantreibt. In diesem Sinne kann die 1998 erfolgte Neugründung des Journal of Anti-Aging Medicine als wichtiger Schritt in Richtung wissenschaftlicher Anerkennung gelten. In programmatischen Editorials berief sich der Gründer und Herausgeber des Journals auch immer wieder auf die Publikation leitende Grundsätze, wie Unabhängigkeit, wissenschaftliche Neutralität und »glaubwürdige Wahrheit« (Fossel 1998a; 1998b; 2001; 2002b).14 Dabei ist man sich über das Problems der nötigen Unterscheidbarkeit von rein kommerziell orientierten und völlig unwissenschaftlichen Anti-Aging-Unternehmungen im Klaren, wenn über den Titel der Zeitschrift zu lesen ist: »The title had one obvious danger: it might undermine the journal by association with charlatans.« (Fossel 2002a: 319) Ähnlich ist auch die American Academy for Anti-Aging Medicine darum bemüht, den Anschein von mangelhaft fundierten Theorien und zweifelhaften Praktiken zu vermeiden und entsprechende Vorwürfe zu entkräften.15 Allerdings steht das vehement betonte Selbstverständnis als »non-profit educational medical organization« in eklatantem Widerspruch zu dem offensiv auf quantitativ-monetäre Gesichtspunkte abzielenden Eigenmarketing der Academy, das unmissverständlich klarstellt: »As a multi-billion dollar industry, aging is a big business« und dabei nicht müde wird, die eigene Positionierung auf diesem profitablen Markt in einer Mischung aus unaufhaltsamer Welteroberung und visionärem Märtyrertum anzupreisen (A4M 2002).16 14 Wobei Fossel nur datengestützte Forschung als Wissenschaft akzeptiert: »Evidenced-based science is, ultimately, the only form of science.« (Fossel 2001) 15 Dem Ziel, wissenschaftliche Reputation und Akzeptanz in Fachkreisen zu erlangen, soll auch die Vergabe verschiedener Zertifikate erfüllen, die die Academy mittlerweile vergibt – nach Selbstaussage »the undisputed leader in advancing anti-ageing medicine around the world« (A4M 2002). Ähnlich bietet die deutsche Gesellschaft für Anti-Aging-Medizin diverse Fortbildungsmöglichkeiten mit sog. »Basis-Zertifizierung« an (GSAAM 2009a). Inzwischen existiert zudem ein Master-Studiengang »Präventionsmedizin« an der Dresden International University, der u.a. den Themenschwerpunkt »Coaching in der Prävention« umfasst (DIU 2009). 16 Gerade die Verschränkung von medizinischen mit kommerziellen Absichten, von der sich die Academy offiziell distanziert, deren Geist aber nachdrücklich den Grundton ihrer Selbstdarstellungen angibt, kann Auswir210

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Neben der Aussicht für den einzelnen Arzt, mit einer Spezialisierung als Anti-Aging-Mediziner viel Geld verdienen zu können, steht im Zentrum der Anti-Aging-Rhetorik der Anspruch, die Speerspitze wissenschaftlicher Forschung und Vorreiter eines so fundamentalen wie dringlichen und medizinisch hochvernünftigen Perspektivenwechsels zu sein. Die Anti-Aging-Medizin versteht und präsentiert sich durchweg als segensreiche Praxis, die das unbezweifelbare Prinzip der Vorbeugung beim Wort nimmt, dabei auf dem neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Forschungsstand operiert und sämtliche Defizite der überkommenen Reparaturmedizin zu kompensieren vermag. Damit ist der Anspruch verbunden, kein weiteres Ergebnis der fortschreitenden Binnendifferenzierung der Medizin, sondern einen medizinhistorischen Paradigmenwechsel darzustellen (A4M 2009; Stuckelberger/Wanner 2008; Mykytyn 2006). Und nicht nur die ohnehin weniger zurückhaltenden Protagonisten aus den USA sehen die Anti-Aging-Medizin als »the next great model of health care for the new millennium« (A4M 2009), auch deutschsprachige Anti-Aging-Mediziner propagieren ihre Mission als Medizin der Zukunft und Zukunft der Medizin. Dabei wird in Europa der Präventionsgedanke betont (Kleine-Gunk 2004: 2059), was sich an Namen und Titeln entsprechender Institutionen unschwer erkennen lässt: die Schweizer Fachgesellschaft für Anti-Aging-Medizin heißt Swiss Society for Anti-Aging Medicine and Prevention und die deutsche Vereinigung German Society of Anti-Aging-Medicine übersetzt ihren Namen in Deutsche Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin. Indem zwar einerseits das zugkräftige Schlagwort Anti-Aging beibehalten wird, andererseits aber auf das unverdächtige Prinzip der Früherkennung und Risikominimierung abgestellt wird, wird versucht, den Anschein unseriöser Quacksalberei zu vermeiden und wissenschaftliche Anerkennung zu suggerieren (GSAAM 2009b). Dieser Spagat in der Verwendung des Zentralbegriffs und Markenzeichens der gesamten Sparte ist durchaus verständlich als Ausdruck der marktgeleiteten Absicht, neue Zielgruppen nicht abzuschrecken und gleichzeitig den Anschluss an die internationale Anti-Aging-Szene nicht aufzugeben (was der Verzicht auf ›AntiAging-Medizin‹ wohl unweigerlich bedeuten würde). Dabei hat die amerikanische Mutterorganisation vorgemacht, wie mit der Vielzahl der zum Verwechseln ähnlichen Bezeichnungen und Etiketten umzugehen ist, mit denen die verschiedensten Formen von Altersmedizin und Konzepten der Lebensgestaltung im Alter versehen werden. Ob ›Longevity Medicine‹, ›Successful Aging‹, ›Healthy Aging‹, ›Optimal Aging‹ oder

kungen haben, die letztlich auch dem Anliegen der Anti-Aging-Mediziner schaden (Stuckelberger/Wanner 2008: 80). 211

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›Aging Gracefully‹ – die Academy beansprucht kurzerhand die Deutungs- und Definitionshoheit über sämtliche »alternative phrases«, welche als bloße Synonyme des eigenen »Originalkonzepts von AntiAging-Medizin«, zu verstehen seien (A4M 2002). Dass die Verwendung alternativer Aging-Labels von der Academy als Strategie des Establishments interpretiert wird, die Anti-Aging-Medizin mundtot zu machen, zeigt die eminente Bedeutung, die der gezielten Verwendung von Sprache (durch Bezeichnungen und Etikettierungen) im Kampf um Zuständigkeiten zukommt. Daneben offenbart der inkonsistente Umgang mit dem Anti-AgingLabel allerdings auch sehr deutlich die grundsätzliche Widersprüchlichkeit, die das Verhältnis der Anti-Aging- Medizin zur (Schul-) Medizin prägt. Während Anti-Aging-Mediziner sich dezidiert als Ärzte verstehen und Attribute des Arztberufs, die eindeutig Zugehörigkeit markieren und traditionell Vertrauen und Seriosität ausstrahlen (Doktor- und Facharzttitel, Berufskleidung/weißer Kittel, Diagnoseinstrumente/Stethoskop etc.), essentieller Bestandteil ihrer Selbstdarstellung sind, ist gleichzeitig das Bild einer besseren Alternative zur vorherrschenden Schulmedizin bestimmend, die deren in vielerlei Hinsicht negative Seiten und Missstände zu vermeiden und zu kompensieren verspricht. Indem die AntiAging-Medizin sich als Spezialisierung, die alles (oder zumindest sehr vieles) ganz anders als herkömmliche Heilkunde macht, dabei aber Medizin zu bleiben beansprucht und sich gewissermaßen als Reform- oder Revolutionsbewegung von innen darstellt, erscheint sie als Abweichler und Fortschrittsmotor der Medizin zugleich.

IV. Kampfzone Diskurs Dass die Auseinandersetzungen zwischen Anti-Aging-Medizinern und Geriatern/Gerontologen so heftig verlaufen, lässt sich nicht befriedigend mit dem Umstand erklären, dass beide Lager um die gleiche Zielklientel bemüht wären und somit in direkter Konkurrenz zueinander stünden. Denn genau besehen (s.o.) richten sich die Offerten der Anti-AgingMedizin nicht an alte und betagte Menschen, sondern Anti-Aging soll im Sinne von Vorbeugung die Entstehung jener Merkmale verhindern bzw. verzögern, die charakteristischerweise Anlass für geriatrische Behandlungen geben (vgl. Hazzard 2005). Insofern wäre es durchaus denkbar, Anti-Aging-Medizin als stimmige Ergänzung zur Geriatrie zu verstehen, da wirksame Altersvermeidung auch die Zahl der auf geriatrische Hilfe Angewiesenen reduzieren könnte. Eine konzeptuelle Verein-

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barkeit dieser Art scheint jedoch aus einem anderen Grund unmöglich.17 Der wesentliche Unterschied zwischen herkömmlicher Altersmedizin und Anti-Aging-Medizin, der diese beiden Ansätze unverträglich gegeneinander stellt, liegt in der jeweiligen Auffassung über Wesen und Wert des Alters. Die Auseinandersetzung um Anti-Aging ist im Kern ein Kampf um die Bedeutung des Alters. Indem verschiedene Arten des medizinischen Umgangs mit dem Alter und seinen Begleiterscheinungen propagiert und verschiedene Formen der Reaktion auf körperliche und geistige Veränderungen im Zeitverlauf des Lebens angepriesen werden, werden immer auch bestimmte Positionen über Wesen und Wert des Alters behauptet und damit die Deutungshoheit darüber beansprucht, ›was Alter und Altern eigentlich ist‹. So eröffnen die einschlägigen Lehrbücher und Einführungen in die Anti-Aging-Medizin bezeichnenderweise mit mehr oder weniger ausführlichen Abschnitten zur Theorie des Alterns. Diese naturwissenschaftlich gehaltenen Erläuterungen der grundlegenden Alterungsprozesse sind für alles Weitere von entscheidender Bedeutung – gerade angesichts der Tatsache, dass ein biologisches Verständnis des Alterungsgeschehens erst in Ansätzen vorhanden ist. Es erscheint kaum möglich, ›die‹ Biologie des Alterns im Sinne einer einheitlichen Erklärung zu identifizieren und so existieren etliche, z.T. konkurrierende Theorien des Alterns.18 Meist handelt es sich dabei um Konzepte, die physiologische Teilaspekte des Alterungsprozesses als Hauptursache und Schlüsselmoment beschreiben (vgl. Appleyard 2008; Kirkwood 2000; Olshansky/Carnes 2002; Ricklefs/Finch 1996). Es besteht also beträchtlicher Aufklärungsbedarf über die Faktoren und Mechanismen des Alterns selbst. Die Theorienvielfalt befördert gleichzeitig Möglichkeiten, durch die deskriptive Erläuterung des betreffenden Gegenstandes schon eine evaluative Positionierung vorzugeben. So hängt die Einstellung zum Altern nicht zuletzt davon ab, wie Ursache und Verlauf dieses Prozesses wissenschaftlich erklärt werden – die Theorie seines Wesens beeinflusst die Annahmen über den Wert des Alterns. Für Anti-Aging-Mediziner ist dies von großer Bedeutung, da die durch eine entsprechende Alternser17 Eine Ausnahme dieser um Abgrenzung bemühten Geriatriefeindlichkeit der Anti-Aging-Medizin stellt das Kursbuch Anti-Aging dar, für dessen Herausgeber Jacobi »medizinisches Anti-Aging […] sich von der präventiv ausgerichteten Geriatrie nicht abzugrenzen braucht« und der demgemäß ausdrücklich dafür plädiert, »professionelles Anti-Aging auf dem Terrain der gerontologischen, transdisziplinären Arbeitsfelder zu positionieren.« (Jacobi 2005) 18 Die Anzahl der ernsthaften Theorien über Verlauf und Ursachen des Alterns wird derzeit auf über 300 geschätzt (vgl. Gems 2009: 34). 213

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klärung suggerierte Einstellung zum Alter(n) wiederum bestimmte Verhaltensweisen nahelegt bzw. legitimiert. Indem der Streit um die richtige Einstellung zum Altern auf die Ebene naturwissenschaftlicher Forschung verlegt wird, die auf der Basis vermeintlich unbestreitbarer Fakten operiert, scheint er nicht mehr länger bezweifelbare Ansichtssache, sondern eine Frage objektiver Erkenntnis geworden zu sein. Vor allem das häufig gegen Anti-Aging vorgebrachte Argument, aufgrund der biologischen Tatsache der Unverfügbarkeit des natürlichen Alterungsvorgangs könne es keinerlei wirksame ›Anti-Aging-Therapien‹ geben und Anti-Aging-Angebote wären demzufolge nichts anderes als geschäftemachende Quacksalberei oder irreführende Gefährdung gutgläubiger Konsumenten, steht und fällt mit der entsprechenden Alterstheorie.19 So kann es kaum verwundern, dass die Ergebnisse der biologischen Altersforschung für Anti-Aging-Mediziner durchweg darauf hinauslaufen, Altern als einen defizitären Vorgang aufzufassen, der durch Abbauprozesse und Verschleißerscheinungen gekennzeichnet ist. Diese Perspektive legt es Medizinern nahe, den Alterungsprozess mit pathologischen Erscheinungen zu vergleichen, um schließlich Altern selbst als unnatürlich und krank aufzufassen (Römmler 2003: 19). Auch wenn unterschiedliche definitorische Folgerungen aus dem Defizitmodell des Alterns gezogen werden (nicht allen Anti-Aging-Medizinern gilt Altern selbst als Krankheit), so besteht doch große Einigkeit darüber, dass dieser kontinuierliche Verfallsprozess in seinem Verlauf beeinflussbar ist (Kleine-Gunk 2003: 18). Dies mag freilich nicht verwundern, da die Möglichkeit, überhaupt in die Alterung eingreifen zu können, auch die wichtigste Voraussetzung für das Ergreifen von Anti-Aging-Maßnahmen darstellt. Das Alterskonzept der Anti-Aging-Medizin basiert also auf dem Defizitmodell, dessen pessimistischer Prägung sie die optimistische Botschaft von der Veränderbarkeit des Alterns hinzufügt. Dabei beansprucht diese Kombination aus altbekanntem Negativmodell

19 So bringen zwei Anti-Aging-Mediziner aus Manhattan in ihrer Erwiderung auf das oben erwähnte Position Statement on Human Aging (s.o.) die Schlüsselstellung der Altersdefinition für die Bewertung von Anti-Aging auf den Punkt: »If one accepts the strict molecular definition of aging, then almost by definition one will believe that there are no effective antiaging therapies. But if one defines aging, as do most of us, with the clinical-organismal definition, then the truth is that there are many therapies scientifically proven to at least slow, and in some cases reverse, the changes in the function and structure of aging human bodies” (Vincent 2003: 677). Auch die American Academy of Anti-Aging Medicine legte mit ihrer Gründung eine Neudefinition des Alterns vor, um das gesamte Projekt der Altersbekämpfung konzeptuell zu fundieren (Stuckelberger/Wanner 2008: 81). 214

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und neuen Manipulationsmöglichkeiten revolutionäre Tragweite, die über den Bereich der Medizin hinausgeht und zu einem epochal neuen Verständnis von Leben und Tod führen soll (Römmler 2003: 22).

V. Kampfzone Medizin Da Anti-Aging-Maßnahmen nicht zum traditionell definierten Aufgabengebiet der Medizin gehören, müssen Bemühungen, Anti-Aging als Medizin zu etablieren, grundsätzlich als Ansätze zur Erweiterung des medizinischen Feldes verstanden werden. Für Identität und Selbstverständnis der Medizin ist dabei von entscheidender Bedeutung, wie eine Ausweitung begründet wird. Ein Blick auf die Bereiche (›Kampfzonen‹), in denen Anti-Aging-Maßnahmen angeboten werden, zeigt, dass für eine Inanspruchnahme zahlreiche und z.T. sehr unterschiedliche Gründe angeführt werden. Die argumentative Vielfalt pro Anti-Aging entspricht dabei der Heterogenität der offerierten Angebote. Dass Argumente, Anti-Aging-Bier zu sich zu nehmen, grundlegend anderer Art sind als diejenigen, die für ästhetisches Anti-Aging per Skalpell ins Feld geführt und akzeptiert werden, liegt auf der Hand. Soll Anti-Aging nun ausdrücklich als medizinische Tätigkeit gelten, lassen sich drei Grundformen hierfür geeigneter Begründungsverfahren unterscheiden. Für diese Differenzierung ist es hilfreich, Ziele und Zuständigkeit der Medizin anhand des Krankheitsbezugs zu bestimmen. So können Auffassungen von Anti-Aging als Medizin, für deren Selbstverständnis Krankheitsbehandlung zentral ist, als pathologisierende, daneben jene, die sich an Erkrankungswahrscheinlichkeiten orientieren und in erster Linie auf Prävention setzen, als probabilistische, und schließlich diejenigen Argumente, die ganz auf einen Krankheitsbezug verzichten, als medikalisierende Formen der Begründung einer Erweiterung des medizinischen Feldes bezeichnet werden.20 Wie die Differenzierung zwischen Medikalisierung und Pathologisierung andeutet, wird im Folgenden einem engen Verständnis des Medikalisierungsbegriffs gefolgt, das sich nur auf jene Formen der »Ausweitung eines Marktes für medizinische Dienstleistungen« (Siegrist

20 Diese Dreiteilung trifft auch die Einschätzung der »rhetorical umbrellas for labeling anti-aging interventions«, auf deren strategische Bedeutung für Legitimität und zukünftige Entwicklung der Anti-Aging-Medizin Binstock et al. hinweisen: »medical treatments, enhancements, or prevention« (Binstock et al. 2006: 434). 215

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2000: 240) bezieht, die nicht über den Krankheitsbezug bzw. therapeutischen Heilungsauftrag der Medizin legitimiert werden.21

a. Pathologisierung Die vermeintlich stärkste Argumentationsform für Anti-Aging als Medizin geht von dem Ziel der Krankheitsbekämpfung als zentraler Legitimationsgrundlage für medizinisches Handeln aus und interpretiert Altern selbst als Krankheit, um Anti-Aging-Medizin im klassisch-strengen Sinne als ärztliche Aufgabe begründen zu können. (Caplan 2005; de Grey 2005a; de Grey/Rae 2007: 321). Indem Zustände und Prozesse, die bislang als natürlich, normal oder zumindest nicht-krankhaft angesehen wurden, als pathologisch (und damit behandlungsbedürftig) gelten, werden durch bloße Neudefinition altbekannte Phänomene pathologisiert und so der legitime Tätigkeitsbereich des Arztes ausgedehnt, ohne weitere, evtl. strittige Zusatzannahmen oder Änderungen an der Aufgabenbeschreibung des Mediziners vornehmen zu müssen.22 Aus dem Ansatz, Altern zur Krankheit zu erklären, leitet sich dann aber nicht nur die Möglichkeit ab, Anti-Aging als legitime Medizin zu betreiben. Vielmehr wird die Bekämpfung des Alterns mit der ›Neuentdeckung‹ seines Krankheitswertes zur dringlichen Forderung, vor der der gewissenhafte Mediziner nicht mehr länger die Augen verschließen kann: »Searching for a cure for ageing is […] an urgent, screaming moral imperative. (Bostrom 2005: 277) Anti-Aging-Medizin rückt damit von der Position einer tolerierten Neuerung am Rand der Medizin ins Zentrum ihrer Bestimmung und wird zur Umsetzung eines der obersten Ziele, dem ein

21 Dagegen wären nach einer weiten Interpretation sämtliche Formen einer »Ausweitung all dessen, was im Leben für wichtig gehalten wird, auf die Praxis der Medizin« (Zola 1979: 65) als Medikalisierungsphänomene einzustufen – ganz unabhängig davon, ob dabei die Zuschreibung eines Krankheitswertes eine Rolle spielt. Wehling et al. (2007) verstehen die Ausweitung medizinischer Diagnostik einerseits, die Expansion medizinischer Behandlungspraktiken andererseits, als zwei unterschiedliche Dimensionen von Medikalisierungsprozessen. 22 Freilich zieht auch die pathologisierende Expansionsform, die vorgeblich am klassischen ärztlichen Heilungsgebot festhält, vermehrt Kritik auf sich. Diese vor allem von (Wissenschafts-) Journalisten breitenwirksam vorgebrachte Kritik ist darum bemüht, die »krankmachende« Kehrseite dieser Ethos-Treue aufzudecken und der Gesellschaft ihre eigene Manipulierbarkeit vorzuführen. So erfährt der Leser einschlägiger Bestseller, »wie Ärzte und Patienten immer neue Krankheiten erfinden« (Bartens 2005) und davon, wie »die moderne Medizin dem Menschen [einredet], die Natur schlage ihn mit immer neuen Krankheiten, die nur von Ärzten geheilt werden könnten« (Blech 2005: 7). 216

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Arzt folgen kann: die Rettung vom Tode bedrohter Menschen. In ihrem Eifer, sich die moralische Tragweite potentieller Anti-Aging-Effekte zu verdeutlichen, gehen manche Autoren soweit, das Unterlassen von altersbekämpfenden Maßnahmen bedingungslos zu verurteilen und werfen der konventionellen ›Mainstream-Position‹ vor, durch Ignoranz von Anti-Aging (verstanden als Lebensrettung durch Lebensverlängerung und Altersabschaffung) Menschenleben in unvorstellbarem Ausmaß aufs Spiel zu setzen (vgl. De Grey 2005b). Allerdings geht diese Argumentation von recht zweifelhaften Annahmen aus, die zu schwerwiegenden Problemen führen. So lässt sich im Falle des Nichtanwendens von AntiAging-Maßnahmen nur dann von unterlassener Lebensrettung sprechen, wenn in ethischer Hinsicht weder zwischen aktivem Tun und passivem Unterlassen noch zwischen dem ärztlichen Gebot zur Hilfeleistung und dem Schädigungsvebot differenziert wird. Aus dem Umstand, dass man täglich den vorherzusehenden Alterstod tausender und abertausender Menschen tatenlos hinnimmt, auf eine Verantwortlichkeit für diese Todesfälle zu schließen, ist argumentationslogisch fahrlässig und muss als abenteuerliche Rhetorik aufgefasst werden.23 Grundsätzlich muss sich eine pathologisierende Alterssicht außerdem den nicht unerheblichen Einwand gefallen lassen, kein angemessenes Verhältnis zu unabänderlichen Grundkonstituentien der menschlichen Existenz (wie Zeitlichkeit und Endlichkeit) einzunehmen. Soweit Anti-Aging bestreitet, dass Altern Teil des natürlichen Lebensverlaufs biologischer Organimen ist, lässt sich nicht nur eine zweifelhafte Negierung der Naturhaftigkeit des Menschen, sondern auch ein prekäres Verhältnis zur prinzipiellen Verletzlichkeit und Sterblichkeit erkennen, das die allseits beklagte Todesverdrängung moderner Gesellschaften noch verschärft. Und selbst wenn die Abschaffung des Alterns und damit die ›Heilung‹ dieser ›Lebenskrankheit‹ gelänge, würden mit der Krankheit gerade die basalen anthropologischen Gegebenheiten, die das spezifisch Menschliche des Menschen ausmachen, eliminiert werden (Kass 2001; Post 2004; Welsch 2008).

b. Probabilisierung Neben der Behandlung von Krankheiten sind auch Prävention und Gesundheitsförderung zentrale wie anerkannte Ziele der Medizin und damit prinzipiell geeignet, Erweiterungen des medizinischen Handlungsfeldes zu begründen. Dementsprechend existieren zahlreiche Versuche, Anti-

23 Siehe zu stichhaltigen Einwände n gegen die Position De Greys (Kennedy 2009). 217

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Aging-Medizin als konsequent umgesetzte Praxis des obersten Grundsatzes präventivmedizinischer Vernunft ›Vorbeugen ist besser als Heilen‹ stark zu machen.24 Indem pathologischen Erscheinungen, die typischerweise in einem höheren Alter gehäuft auftreten, vorgebeugt werden soll, ist auch in diesem Ansatz ein Bezug auf Krankheiten vorhanden, der hier allerdings nur indirekt, nämlich über die Ausrichtung an Wahrscheinlichkeiten (des Auftretens von Krankheiten), wirksam ist. AntiAging als präventive Medizin, die Altern selbst zwar nicht zur Krankheit, aber doch zum Hauptrisikofaktor für altersbedingte oder -assoziierte Erkrankungen erklärt, kann deshalb als probabilisierende Erweiterung der Medizin bezeichnet werden. Das generelle Problem einer an Wahrscheinlichkeiten ausgerichteten Medizin liegt allerdings in der grundsätzlichen Schwierigkeit, Erkenntnisse, die auf statistischen Daten beruhen und die damit immer nur auf Kollektive bezogen sein können, angemessen auf den individuellen Einzelfall des jeweiligen Patienten anzuwenden (Wieland 1986: 90ff). Durch die Einbeziehung genetischer Analyse- und Prognoseverfahren, die herkömmliche Untersuchungsmethoden der Lebensstilmedizin (Befragungen zum individuellen Lebenswandel, Familienanamnesen) ergänzen, scheint in einer Anti-AgingBehandlung diese prinzipielle Kluft verringert werden zu können (vgl. Kley 2003: 49). Doch sowohl für das Bestimmen präventivmedizinischer Schritte, die sich aus quantifizierten Risikowerten ergeben, als auch für die Interpretation eines Genprofils ist besondere Erfahrung und ärztliche Urteilskraft erforderlich (vgl. Wieland 1986). Dies gilt umso mehr, als das probabilisierende Verständnis von Anti-Aging als Medizin beständig einer doppelten Gefahr ausgesetzt ist: Zum einen ist weder eindeutig bestimmbar, wo Prävention anzusetzen hat (Bröckling 2008: 43), noch wann das Ziel erreicht ist. Dass es überraschend schwierig ist, der Präventionsdynamik sinnvolle Grenzen zu setzen, ist schon in der Idee der Vorbeugung begründet, die einer prinzipiell zieloffenen Logik folgt. Das präventive Prinzip geht somit bruchlos über in das Gebot unabschließbarer Optimierung, was dazu führt, dass probabilisierende Argumente für Anti-Aging als Medizin schließlich weniger Altersprävention als vielmehr eine Steigerung (Enhancement) von Jugendlichkeit zum medizinischen Ziel erklären. Hinzu kommt, dass Prävention »die Frage nach der conditio humana in die praktische Aufgabe (übersetzt), ›Defizitmenschen‹ zu verhindern und ›Voll-‹ bzw. ›Normalmenschen‹ zu schaffen« (ebd.: 42), dabei als zielloses Projekt aber keinerlei Kriterien

24 Vgl. den programmatischen Anspruch, Anti-Aging-Medizin als »die Präventivmedizin des 21. Jahrhunderts« zu positionieren (Kleine-Gunk 2007). 218

AUSWEITUNG DER KAMPFZONE

für Normalität bereit hält und dazu tendiert, ein inhuman-perfektionistisches Menschenbild zu propagieren. Zum anderen suggeriert das Konzept einer umfassenden Risikomedizin, Krankheit sei grundsätzlich und vollständig vermeidbar, wenn der Einzelne nur frühzeitig und gründlich genug das Nötige unternehme (Schmidt-Semisch 2004: 224). Dem korrespondieren die in der AntiAging-Medizin verbreiteten Vorstellungen von Gesundheit und gesundem Altern, die auf die körperlichen Parameter von Leistung und Funktion reduziert sind und diese Bezugsgrößen zudem an jugendlichen Spitzenwerten ausrichten, was in mehrfacher Hinsicht fragwürdig erscheint.25

c. Medikalisierung Die dritte Möglichkeit, Anti-Aging als legitime Medizin zu interpretieren, besteht darin, ganz auf einen Krankheitsbezug zu verzichten und Anti-Aging als optionale Dienstleistung zu verstehen. Die Zielsetzungen der Anti-Aging-Medizin lassen sich dann nicht unter die bestehenden Ziele der Medizin subsumieren, sondern verweisen auf einen Zweck, der diesen neu hinzugefügt wird: die Erfüllung individueller Wünsche ohne medizinische Indikation. Anti-Aging-Medizin ist dann kein (weiteres) therapeutisches Vorhaben, das – in präventiver oder kurativer Absicht – an pathologischen Zuständen ausgerichtet wäre, sondern zielt auf Abhilfe bei ›bloß‹ beschwerlichen Einschränkungen und auf die Verbesserung der Lebensqualität im Alter (Schmitt/Homm 2008: 13). Damit fallen Gegebenheiten und Befindlichkeiten in den Zuständigkeitsbereich der Medizin, die vorher außerhalb der Sphäre medizinischen Handelns wahrgenommen und bewältigt wurden. Da der Krankheitsbezug für derartige Argumente keine Rolle spielt, kann hierbei von medikalisierenden Begründungsformen im engeren Sinne gesprochen werden. Diese erachten allein das Zusammentreffen von medizinischer Machbarkeit und selbstbestimmter Nachfrage als ausreichend, um den Einsatz medizinischer Maßnahmen zu legitimieren.26 Freilich ist davon auszugehen, dass Formen der Medikalisierung auch zu pathologisierenden Effekten führen 25 Vgl. zur Gefahr Gesundheit, durch eine Überbewertung zu verfehlen Dörner (2004: 126). Als Alternative zu den kritisierten Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sei hier an die holistischen Konzeptionen von Gadamer und Vonessen erinnert (Gadamer 1993; Vonessen 1971). 26 Damit wird hier nur zur Hälfte der üblichen Verwendung des Medikalisierungsbegriffs gefolgt, derzufolge vor allem die Anwendung medizinischen Vokabulars – allen voran des Krankheitsbegriffs – auf bisher nichtmedizinische Probleme und Zusammenhänge diese medikalisiert (vgl. Conrad 2007: 4). 219

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(Maio 2006: 346), doch hinsichtlich der Frage, wie neue Zuständigkeiten der Medizin gerechtfertigt werden, ist das entscheidende Kennzeichen medikalisierender Positionen, Medizin rein instrumentell zu verstehen, als zur Erfüllung nichtmedizinischer Zwecke geeignet – und deshalb auch dazu berechtigt. In diesem Sinne wird Anti-Aging als eine Form der Wunscherfüllung verstanden, die der Mediziner aufgrund seiner Expertise und Erfahrung besonders zielgenau und professionell leisten kann.27 Diese Begründung einer Erweiterung des medizinischen Feldes (durch Anti-Aging) bringt allerdings beträchtliche Probleme mit sich, die zunächst diejenigen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen, die damit unter die Definitions- und Behandlungsmacht der Medizin fallen. Wenn medizinische Mittel zur Abhilfe unerwünschter Zustände schnelle und effektive Wirkung versprechen, geraten oft die komplexen Hintergründe einer schwierigen Lebenssituation, die nicht durch Medikamente oder Operationen (allein) behandelbar sind, aus dem Blick (Lanzerath 2008: 210). Durch die Konzentration auf die Möglichkeiten der Medizin drohen alternative – und womöglich weitaus nachhaltigere – Möglichkeiten zum Umgang mit dem betreffenden Problem verdrängt und schließlich gar nicht mehr wahrgenommen zu werden. Im Falle von Alterserscheinungen, die die Anti-Aging-Medizin zu bekämpfen verspricht, sind zudem gravierende Zweifel angebracht, ob wirklich die äußerlich erkennbaren Alterungsmerkmale oder nicht eher die dagegen opponierende Einstellung und Unzufriedenheit mit dem Altern das Problem sind – das sich freilich kaum mit medizinischer Hilfe lösen ließe. Indem die Anti-Aging-Medizin den körperlichen Anzeichen der Zeitlichkeit (und damit auch der Endlichkeit) der menschlichen Existenz den Krieg erklärt hat, scheint sie sich zudem in ein aussichtsloses Unterfangen begeben zu haben, welches die empfundenen Schattenseiten der bekämpften, letztlich unausweichlichen Entwicklung nur noch verschlimmern dürfte. Und auch was die Medizin selbst angeht, sind medikalisierende Expansionsformen im Allgemeinen und die Anwendung von Anti-AgingMaßnahmen als ärztliche Tätigkeit im Besonderen sehr problematisch. Wenn der frei erklärte Wunsch eines ›Gesundheitskunden‹ – der unter diesen Umständen kaum mehr als Patientenwille bezeichnet werden kann – zum alleinigen Kriterium für ärztliches (Be-)Handeln wird, ist 27 Vgl. dazu die von Anti-Aging-Medizinern antizipierte Erwartungshaltung ihrer Klientel, die völlig ohne einen Verweis auf Krankheit auskommt: »Der Wunsch der Menschen an die so genannte Anti-Aging-Medizin besteht darin, dass man ihnen das numerische Alter nicht ansieht.« (Rabe/Strowitzki 2007: 353) 220

AUSWEITUNG DER KAMPFZONE

die Medizin und Ärzteschaft in ihrem Kern bedroht, da als unvermeidliche Folgen einer konsequent präferenzorientierten Medizin eine zunehmende Kommerzialisierung und bedenkliche Erosion der ärztlichen Garantenpflicht und Vertrauensstellung zu erwarten wären (Maio 2006; Maio 2009; Unschuld 2009). Der Mediziner droht zum bloßen Erfüllungsgehilfen individueller Präferenzen zu werden, der sich nicht (mehr) erlaubt, mit seiner so geschulten wie kritischen Urteilskraft die an ihn gestellten Anforderungen nach Maßgabe etablierter fachlicher Kriterien uneigennützig zu prüfen und diese mit Blick auf das gesundheitliche Wohl seines Gegenübers unter Umständen abzulehnen. Er macht sich darüber hinaus leicht zum Komplizen beliebiger Werte und Normen, die der Einzelne mit seiner Hilfe verwirklicht sehen möchte.

VI. Fazit An Zielsetzung und Entwicklung der Anti-Aging-Medizin lassen sich grundlegende Transformationsprozesse der modernen Medizin exemplarisch erkennen. Hier treten Verschiebungen und Erosionen begrifflicher Bestimmungen offen zutage, die die gegenwärtige Entgrenzungstendenz der Medizin charakterisieren. So macht die Problematik der unter Druck geratenen Abgrenzungen zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Therapie, Prävention und Enhancement den spezifischen Gehalt der Anti-Aging-Medizin aus, was gleichzeitig eine eindeutige Bewertung dieses Feldes erschwert. Betrachtet man Anti-Aging als Form der Ausweitung des medizinischen Handlungsfeldes, erweisen sich die argumentativen Verfahren, mit denen die jeweilige Expansion begründet wird, aber als hilfreiches Beurteilungskriterium. So können Versuche, die Kampfzone der Medizin durch Anti-Aging-Maßnahmen zu erweitern, dahingehend unterschieden werden, ob sie den Kampf gegen krankhafte Alterserscheinungen (Pathologisierung), gegen drohende Gesundheitsrisiken im Alter (Probabilisierung) oder gegen störende Unannehmlichkeiten des Älterwerdens (Medikalisierung) zur Sache der Medizin erklären. Dabei verfolgen pathologisierende und probabilisierende Begründungen die Absicht, Anti-Aging unter die traditionellen Ziele der kurativpräventiven Medizin einzuordnen, während medikalisierende Argumente Wunscherfüllung als neuartiges Ziel der Medizin etabliert sehen wollen. Wie sich zeigt, bringt die Legitimierung von Anti-Aging als Medizin durch eine entsprechende Auslegung oder Erweiterung der klassischen Ziele der Medizin grundsätzliche medizinethische und -theoretische Probleme mit sich. Der radikalste Effekt einer ziellosen ›Ausweitung der 221

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medizinischen Kampfzone‹ durch Anti-Aging wäre wohl das Ende einer genuinen ärztlichen Verantwortlichkeit, die über Patienten- bzw. Klienten-Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen optionaler Dienstleistungen hinausgeht. Diese normative Bestimmung der Medizin als gesellschaftlich bedeutsame Institution der Hilfe und Fürsorge für Menschen in Not wird nicht zuletzt durch die weitgehende Geltung der klassischen Ziele der Medizin mit einer hinreichend praktikablen Orientierung am Krankheitsbegriff garantiert. Daher scheint es nicht ratsam, für zweifelhafte Errungenschaften medizinischer Altersbekämpfung die handlungsleitende Vorstellung einer ›Moralität‹ der Medizin gänzlich aufzugeben.

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III. R ECHT UND E THIK ALS M ÖGLICHKEITEN GESELLSCHAFTLICHER

G ESTALTUNG

Ungleich besser? Zwölf Thesen zur Diskussion über Neuro-Enhancement JOHANN S. ACH/BEATE LÜTTENBERG

1. These Die derzeit verfügbaren Möglichkeiten eines Neuro-Enhancement sind eher bescheiden. Es ist aber davon auszugehen, dass sich das Spektrum der Möglichkeiten durch neue pharmakologische, chirurgische und biotechnologische Verfahren in nicht allzu weit entfernter Zukunft enorm erweitern wird. Der technische Fortschritt der zurückliegenden Jahrzehnte hat das Spektrum der Möglichkeiten einer Steigerung, Potenzierung bzw. Optimierung menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten erheblich erweitert. Die verschiedenen neuen pharmakologischen, chirurgischen und biotechnischen Möglichkeiten, die einer solchen ›Verbesserung‹ dienen sollen, werden heute unter dem Begriff ›Enhancement‹ zusammengefasst (Gesang 2007; Parens 1998; Savulescu/Bostrom 2008; Schöne-Seifert/ Talbot 2009). Beispiele für Enhancement sind die Ästhetische Chirurgie, Anti-Aging-Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, den Alterungsprozess des Menschen zu verlangsamen bzw. seine Lebensspanne zu verlängern, Doping im Sport, verschiedene Methoden zur Modifikation psychischer und mentaler Eigenschaften oder auch verschiedene Formen genetischer Manipulationen. In Abhängigkeit des Ortes im Körper des Menschen bzw. der jeweiligen Zielstruktur wird manchmal zwischen ›genetischem

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JOHANN S. ACH/BEATE LÜTTENBERG

Enhancement‹, ›Körper-‹ oder ›Body-Enhancement‹ und ›NeuroEnhancement‹ unterschieden. Während manche der genannten Enhancement-Verfahren, wie zum Beispiel die Ästhetische Chirurgie oder – zumindest de facto – Doping im Sport, inzwischen gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert sind, wird Neuro-Enhancement, wie nicht zuletzt die Reaktionen auf das in der Zeitschrift Gehirn & Geist publizierte Memorandum Das optimierte Gehirn (Galert et al. 2009) gezeigt haben, von der Öffentlichkeit zumindest bisher sehr skeptisch betrachtet. Mögliche Anwendungsbereiche eines Neuro-Enhancement, also Eingriffe am Gehirn bzw. Maßnahmen mit Wirkung auf das Gehirn des Menschen, sind beispielsweise die Verbesserung der physischen Befindlichkeit durch Neuro-Pharmaka, die Aufhellung der Grundstimmung durch Medikamente wie Antidepressiva, die Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten wie z.B. der Gedächtnisleistung, der Aufmerksamkeit oder der Lernfähigkeit durch so genannte Nootropika sowie die Beeinflussung des ›moralischen‹ und des Sozialverhaltens. Darüber hinaus werden auch (bisher noch weitgehend fiktive) ›transhumane‹ Erweiterungen wie z.B. Neuroprothesen oder Computer-Gehirn-Schnittstellen (Brain machine interface, BMI) als mögliche Neuro-Enhancer diskutiert (Nagel/Stephan 2009). Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass es bereits eine bemerkenswerte Nutzungspraxis im Bereich des pharmakologischen NeuroEnhancement gibt. Die Datenlage ist bislang allerdings unbefriedigend (vgl. dazu auch die Aufstellung bei Galert et al. 2009: 43) und auch die derzeit tatsächlich verfügbaren Möglichkeiten eines Neuro-Enhancement sind eher bescheiden. In dem bereits angesprochenen Memorandum heißt es entsprechend: »Entgegen vielen Befürchtungen (und Hoffnungen) gibt es offenbar gegenwärtig noch keine bemerkenswert wirksamen NEPs [Neuro-Enhancement-Präparate].« (Galert et al. 2009: 45) Eine Erweiterung des Spektrums der Möglichkeiten durch neue pharmakologische, chirurgische und biotechnologische Verfahren ist aber mittel- und langfristig sehr wahrscheinlich, wobei sich die verschiedenen Mittel und Verfahren, die im Hinblick auf Neuro-Enhancement-Zwecke diskutiert werden, nicht nur bezüglich ihrer Realisierbarkeit unterscheiden, sondern vor allem auch im Hinblick auf ihre Eingriffstiefe und ihr transformatives Potential (Kushf 2008).

2. These Enhancement eröffnet – zumindest im Prinzip – die Möglichkeit, menschliche Leistungsmerkmale gezielt, effektiv und nebenwirkungsarm 232

UNGLEICH BESSER?

zu manipulieren. Dies kann sowohl aus individueller als auch aus gesellschaftlicher Perspektive von Vorteil sein. Pharmakologische, chirurgische und biotechnische Mittel und Verfahren bieten, wenn auch bislang nur in sehr beschränktem Umfang, bereits heute die Möglichkeit, das Glücksstreben des Menschen zu unterstützen und zu befördern. Von den neuen Verfahren bis hin zu den NBICTechnologien (Nano-, Bio-, Informationstechnologien und Technologien, die auf den Kognitionswissenschaften basieren) erhoffen sich die Befürworterinnen und Befürworter weitere, teilweise radikale Optionen, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, sein Vorstellungsvermögen und seine Gedächtnisleistungen zu optimieren, seine psychischen Eigenschaften und sozialen Kompetenzen günstig zu beeinflussen oder auch seine Kommunikationsmöglichkeiten drastisch zu verändern (vgl. zum Beispiel Harris 2007; Roco/Bainbridge 2003). Eine Verbesserung menschlicher Leistungsmerkmale könnte offenkundig sowohl für die individuellen Nutzerinnen und Nutzer als auch für die Gesellschaft von Vorteil sein. Erhöhte Aufmerksamkeit, ein reduziertes Schlafbedürfnis oder gesteigerte Konzentrationsfähigkeit wären im Hinblick auf viele Tätigkeiten zweifellos vorteilhaft. Das gilt nicht nur für berufliche, sondern auch für ganz und gar private Tätigkeiten: Beispielsweise könnte jemand, der gerne gute Bücher liest, geeignete Mittel dazu nutzen, um schneller und mehr gute Bücher lesen zu können. Andere werden es möglicherweise für wünschenswert halten, ihren Musikgenuss durch die Nutzung entsprechender Mittel gezielt zu intensivieren. Für wieder Andere wäre es hilfreich, könnten sie sich an alle (wichtigen) Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern, oder an die Namen der Personen, die sie kennen (oder jedenfalls derer, die sie kennen sollten). Neben individuellen Vorteilen eröffnet Neuro-Enhancement möglicherweise aber auch soziale Vorteile. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf eine mögliche Steigerung der Produktivität. Höhere Produktivität, größeres Innovationspotential – so in etwa könnten die Stichworte lauten. Das ist insbesondere für solche Gesellschaften von Vorteil, die, wie die unserige, auf Leistung fokussiert sind. Manche, wie zum Beispiel John Harris (2007), sind sogar der Auffassung, dass die dringendsten Probleme der Menschheit, insbesondere das Umweltproblem, ohne intelligenten Einsatz neuer Technologien, unter anderem auch am Menschen selbst, kaum zu lösen sein werden. Zudem könnte NeuroEnhancement zweifellos einen Beitrag zur Sicherheit im menschlichen Zusammenleben leisten: Eine auch nach langen Stunden noch immer konzentriert arbeitende Chirurgin, ein wacher Busfahrer, eine aufmerk233

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same Fluglotsin – sie alle wären nicht nur für ihre jeweiligen Arbeitgeber, sondern gewissermaßen auch gesamtgesellschaftlich interessant. Auch diejenigen, die dem Leistungsgedanken eher kritisch gegenüberstehen, könnten vielleicht ein gezieltes Neuro-Enhancement für interessant halten, das die sozialen und ›moralischen‹ Kompetenzen positiv beeinflusst. Ließen sich beispielweise Aggressionsbereitschaft oder auch Empathie-Fähigkeit modifizieren, könnte dies durchaus einen Beitrag zu einem gedeihlichen und friedlichen Zusammenleben der Gesellschaftsmitglieder leisten. Es sind also Anwendungsmöglichkeiten von Neuro-Enhancement denkbar, die Effektivität und ein akzeptables Nebenwirkungsprofil vorausgesetzt, zumindest auf den ersten Blick, klare Vorteile für den einzelnen Anwender bzw. die einzelne Anwenderin ebenso versprechen wie für die Gesellschaft. Neuro-Enhancement könnte damit nicht nur neue Möglichkeiten der Realisierung des eigenen Selbst, sondern auch der Steigerung des individuellen Glücks sowie der sozialen Wohlfahrt eröffnen.

3. These Eine exzeptionalistische Position im Hinblick auf pharmakologische, chirurgische und biotechnologische Neuro-Enhancement-Verfahren lässt sich nicht begründen. Die Ziele leistungsverbessernder Eingriffe müssen unabhängig davon, ob sie mit ›konventionellen‹ oder anderen Mitteln erreicht werden sollen, einer kritischen Analyse unterzogen werden. Anders als herkömmlichen Mittel der mentalen Leistungssteigerung wie Lernen, Erziehung oder Training begegnen viele Menschen den neuen pharmakologischen, chirurgischen und biotechnischen Maßnahmen zur Leistungssteigerung mit Skepsis oder Misstrauen. Das eigentlich Problematische am Neuro-Enhancement sind, folgt man dieser Intuition, die angewendeten Mittel. Warum aber sollten pharmakologische, chirurgische oder biotechnische Mittel zur Leistungssteigerung (moralisch) problematischer sein als konventionelle Methoden? Diese Mittel, so lautet ein Argument, das beispielsweise auch im Bericht des President’s Council (2003) anklingt, seien ›unnatürlich‹ oder ›künstlich‹, die mit ihrer Hilfe erbrachten Leistungen der Nutzerin oder des Nutzers entsprechend ›unecht‹ oder ›unauthentisch‹. Die hier in Anspruch genommene Unterscheidung zwischen ›natürlichen‹ und ›künstlichen‹ Mitteln oder Methoden ist allerdings alles andere als trennscharf. 234

UNGLEICH BESSER?

Aber auch unabhängig vom Abgrenzungsproblem sind Natürlichkeits-Argumente im vorliegenden Kontext nicht zielführend: Beruft man sich nämlich auf bestimmte Züge des ›Natürlichen‹, die eine positive Bevorzugung tatsächlich rechtfertigen können, also beispielsweise die Vertrautheit im Umgang mit konventionellen Verfahren und Methoden, bleibt fraglich, was der Hinweis auf die ›Natürlichkeit‹ darüber hinaus an Begründung leistet. Bevorzugt man das ›Natürliche‹ dagegen einfach um seiner selbst willen, handelt man sich erhebliche (metaphysische) Beweislasten ein (Birnbacher 2006). Wenig plausibel sind im Übrigen auch Argumente, die die ›menschliche Natur‹ für sakrosankt und (verbessernde) Eingriffe in das menschliche Gehirn aus diesem Grund für problematisch halten. Dies liegt zum einen daran, dass der Begriff der ›menschlichen Natur‹ hoffnungslos mehrdeutig zu sein scheint. Mit dem Begriff ›menschliche Natur‹ kann nämlich ganz Verschiedenes gemeint sein (z.B. das biologische Gehirn oder spezifisch menschlich mentale Eigenschaften) (vgl. hierzu Bayertz 2005). Den unterschiedlichen Explikationsversuchen ist daher zuallererst gemeinsam, dass sie sich dem Vorwurf der Beliebigkeit stellen müssen. In praktischer Hinsicht hätte eine solche Normativität der – wie auch immer verstandenen – ›menschlichen Natur‹ zur Folge, dass keinerlei Eingriff in die Abläufe des menschlichen Gehirns zu rechtfertigen wäre. Dies müsste dann konsequenterweise für medizinische Maßnahmen in gleicher Weise gelten. Eine solche Forderung wäre allerdings offenkundig unplausibel. Eine Sakrosanktheits-Position, die das menschliche Gehirn in seiner jetzt existierenden Form als unbedingt schützenswert erachtet, ist aber in weiterer Hinsicht problematisch: Das menschliche Gehirn kann in keiner Weise als das endgültige Produkt der Evolution angesehen werden, sondern muss im Gegenteil als sich dynamisch entwickelnd verstanden werden. Es ist daher kaum ersichtlich, warum gerade der augenblicklich existierende Zwischenzustand von besonderer normativer Bedeutung sein sollte. Ein zweites Argument, das in den Augen mancher die spezifische Andersartigkeit der neuen pharmakologischen, chirurgischen und biotechnischen Mittel der Verbesserung menschlicher mentaler Leistungsmerkmale erweisen soll, besteht in dem Hinweis, dass diese im Unterschied zu den herkömmlichen Methoden der Leistungssteigerung eine direkte Intervention von außen in das menschliche Gehirn erfordern. Joel Anderson spricht in diesem Zusammenhang von einem »Invasivitäts-Kriterium« (Anderson 2009: 70). Dieses Argument greift eine offenbar weit verbreitete Intuition auf, der zufolge Mittel zur Leistungssteigerung um so eher akzeptiert werden, je mehr sie auf körpereigenen Prozessen beruhen oder diese unterstützen, bzw. je weniger ›fremd‹ sie 235

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dem menschlichen Körper und körperlichen Funktionen sind. So wird es in der Regel eher toleriert, den Muskelaufbau durch hartes körperliches Training zu erreichen, als durch die Einnahme von Anabolika. Aber auch die Unterscheidung zwischen körpereigenen und körperfremden Prozessen, die hier in Anspruch genommen wird, ist problematisch. Zum einen sollen Substanzen oder Geräte, die dem Körper von außen zugeführt werden, in der Regel ja gerade körpereigene Prozesse unterstützen, substituieren oder verbessern. Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass zur Leistungssteigerung herangezogene Mittel, Techniken oder Geräte nach einer Zeit der Gewöhnung von der Nutzerin oder vom Nutzer ›inkorporiert‹ und als ›eigen‹ wahrgenommen bzw. als eine ›Verlängerung‹ oder ›Ausweitung‹ körpereigener Leistungen erlebt werden. Ob die Argumente, die eine Sonderstellung (pharmakologischer, chirurgischer oder biotechnischer) Neuro-Enhancement-Mittel begründen sollen, tatsächlich leisten, was sie leisten sollen, ist also zumindest fraglich. Eine exzeptionalistische Position im Hinblick auf die Mittel, die im Bereich der Neuro-Enhancement-Verfahren zur Anwendung kommen (könnten), lässt sich, so unsere These, nicht plausibel begründen. Die neuen Möglichkeiten der Verbesserung menschlicher Leistungsmerkmale sind in gewisser Weise also tatsächlich eher eine Fortsetzung der mannigfachen Anstrengungen des Menschen, sein Los zu verbessern, mit anderen Mitteln. Das enthebt selbstredend niemanden der Aufgabe, jedes in diesem Zusammenhang herangezogene Mittel einer gründlichen Analyse und Kritik zu unterziehen – und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um ein ›neues‹ oder ein ›altes‹ Mittel handelt.

4. These Der moralische Status einer Intervention lässt sich nicht daran festmachen, ob sie in den Bereich der Therapie oder den Bereich ›jenseits der Therapie‹ gehört. Vor dem Hintergrund, dass viele der gegenwärtig diskutierten bzw. genutzten Mittel zur Verbesserung oder Leistungssteigerung zunächst im medizinischen Kontext zu präventiven, therapeutischen oder auch schmerzlindernden Zwecken entwickelt und angewendet wurden und erst sekundär mit dem Ziel der Leistungssteigerung auch bei Gesunden genutzt werden, liegt es nahe, Enhancement als solche Eingriffe zu charakterisieren, die außerhalb des Bereichs der Medizin liegen. Enhance236

UNGLEICH BESSER?

ment bzw. Neuro-Enhancement-Eingriffe sind, folgt man dieser Interpretation› dadurch charakterisiert, dass sie ›jenseits von Therapie‹ (President's Council 2003) an gesunden Menschen erfolgen. Neben anderen Gründen, die es dafür zweifellos auch geben mag, wird die Unterscheidung zwischen ›Therapie‹ und ›Enhancement‹ häufig auch dazu herangezogen, um eine Grenzziehung zwischen einer durch das ärztliche Ethos gerechtfertigten medizinischen Behandlung einerseits und ethisch zumindest zweifelhaften Eingriffen an Gesunden andererseits zu ermöglichen. Der Vorschlag, den moralischen Status einer Intervention davon abhängig zu machen, ob es sich dabei um eine Form der Therapie oder aber um einen Eingriff ›jenseits der Therapie‹ handelt, scheint uns aus mehreren Gründen jedoch wenig aussichtsreich. Ein erster Grund dafür ist, dass es zumindest zweifelhaft ist, ob eine klare und trennscharfe Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement möglich ist. Dass der für die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement notwendige Krankheitsbegriff notorisch unscharf ist und es in der Medizin eine Pluralität verschiedener, mehr oder weniger gut begründeter Krankheitsbegriffe gibt (Lenk 2002), hat jedenfalls Zweifel daran geweckt, ob die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement überhaupt sinnvoll formuliert und genutzt werden kann. Die Abgrenzungsdebatte hat, soviel wird man in jedem Falle zugeben müssen, »bisher noch nicht zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt« (Borchers 2008: 49). Weitere Zweifel an der Tauglichkeit der Therapie/EnhancementDifferenzierung zur Markierung normativer Unterschiede weckt darüber hinaus zweitens der Umstand, dass längst nicht jede mögliche Therapieoption moralisch unproblematisch ist. Ärztliches Handeln kann beispielsweise – in manchmal massiver Weise – gegen das Selbstbestimmungsrecht von Patientinnen und Patienten verstoßen, selbst wenn bzw. obwohl es therapeutisch motiviert ist. Drittens spricht gegen den Vorschlag, Enhancement als Gegenbegriff zur Therapie zu verstehen, der Umstand, dass das ärztliche Ethos dynamisch und flexibel ist und auch in der Vergangenheit mancherlei Veränderung erfahren hat. Es ist insofern zweifelhaft, ob sich ein Kernbestand dieses Ethos identifizieren lässt, der Eingriffe, die ›jenseits der Therapie‹ erfolgen, nachhaltig ausschließt. Tatsächlich ist es vielleicht sogar wünschenswert, dass Ärztinnen und Ärzte sich zum Beispiel um Empfängnisverhütung kümmern, Schwangerschaftsabbrüche oder kosmetische Korrekturen am menschlichen Körper durchführen etc. – wer sonst wäre besser dafür qualifiziert, dies zu tun? Sollten sich aber tatsächlich gute Gründe dafür finden lassen, Neuro-Enhancement aus dem Bereich dessen auszuschließen, was Ärztinnen und Ärzten zu tun erlaubt 237

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ist, dann könnte (und müsste?) diese Aufgabe von anderen übernommen werden. Dies bringt uns zu einem vierten Argument: Es ist zwar richtig, dass derzeit so gut wie alle zu Neuro-Enhancement-Zwecken genutzten Substanzen oder Verfahren ursprünglich einem medizinischen Kontext entstammen. Dies muss aber zukünftig keineswegs so bleiben. Biologischtechnische Schnittstellen beispielsweise, die einen direkten Informationsaustausch zwischen Computer/Maschine und menschlichem Körper ermöglichen sollen, werden vermutlich eher den Informations- und Kommunikations-Technologien entstammen. An professionelle (nichtärztliche) ›Enhancer‹ wären sicher besondere Anforderungen, etwa im Hinblick auf die kunstgerechte Ausübung des Berufs und die Einhaltung besonderer Sorgfaltspflichten, zu stellen. Warum aber sollte dies nicht mit den Erfordernissen eines – im vorliegenden Kontext vielleicht besonders wichtigen – Verbraucherschutzes vereinbar sein? Zusammen genommen ist zumindest zweifelhaft, ob es sinnvoll möglich ist, ›erlaubte‹ von ›unerlaubten‹ oder zumindest für problematisch gehaltenen ›Verbesserungen‹ daran zu unterscheiden, ob es sich bei den fraglichen Eingriffen um Fälle von ›Therapie‹ oder um Eingriffe ›jenseits der Therapie‹ handelt.

5. These Es gibt keine in irgendeinem Sinne ›objektiven‹ Ziele von ›Verbesserung‹, die nicht von evaluativen oder normativen Vorentscheidungen abhängig wären. Solche Vorentscheidungen können in liberalen Gesellschaften nur in sehr begrenztem Maß allgemeinverbindlich gemacht werden. Liberale Gesellschaften zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie eine Pluralität von unterschiedlichen, aber ›gleichwertigen‹ Entwürfen eines gelingenden Lebens zulassen. Über die Ziele, die mit Hilfe von Maßnahmen des Neuro-Enhancement erreicht werden sollen, wird es daher vielfältige Meinungen und Auffassungen geben, die jeweils auf der Basis von evaluativen und normativen Vor- und Einstellungen getroffen werden. Solche Vor- und Einstellungen können – und werden – von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe oder von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft etc. stark variieren. Und auch die Frage, welchen konkreten Beitrag zum Wohlergehen man von NeuroEnhancement erwartet, hängt immer auch von individuellen Auffassungen bzw. von gesellschaftlich und kulturell geprägten Werten und Nor238

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men ab, die in liberalen Gesellschaften nicht für alle verbindlich gemacht werden können. Ein Konsens über die Ziele von Neuro-Enhancement ist daher nicht zu erwarten – und er wäre vermutlich noch nicht einmal wünschenswert. Aus der Perspektive einer liberalen Gesellschaft muss es insofern in das Belieben der Einzelnen gestellt bleiben, welchen Eingriffen sie sich unterziehen bzw. welche Enhancement-Ziele sie verfolgen wollen – so lange Dritte dadurch nicht geschädigt werden. Liberale Gesellschaften müssen dem Einzelnen die Möglichkeit zugestehen, Risiken oder Nebenwirkungen leistungssteigernder Mittel oder Verfahren, gegebenenfalls sogar erhebliche Risiken, freiwillig und informiert zugunsten der angestrebten Ziele in Kauf zu nehmen, wenn ihm diese aus seiner Sicht wichtige Vorteile versprechen. Oder, um es drastisch zu formulieren: Jede und jeder muss die Freiheit haben, ›nach eigenem Gutdünken zur Hölle zu fahren‹ – solange es sich dabei um eine freiwillige und selbstbestimmte Handlung handelt, durch die Andere nicht geschädigt werden.

6. These Die ethische Beurteilung von Enhancement-Maßnahmen muss differenziert ausfallen, je nachdem, ob es sich um ›reversible‹ oder ›irreversible‹, ›kompetitive‹ oder ›nicht-kompetitive‹, ›moderate‹ oder ›radikale‹ Formen des Enhancement handelt. Auch wenn für eine ethische Beurteilung der sehr verschiedenen NeuroEnhancement-Verfahren, die gegenwärtig diskutiert werden, eine caseby-case-Analyse unausweichlich sein dürfte, lassen sich doch einige grundsätzliche Unterscheidungen treffen. Je nachdem, ob es sich um ein ›reversibles‹ oder ein ›irreversibles‹, ein ›kompetitives‹ oder ein ›nichtkompetitives‹, ein ›moderates‹ oder ein ›radikales‹ Enhancement handelt, wird die Beurteilung und werden auch die jeweiligen Vorkehrungsmaßnahmen differenziert ausfallen müssen. Ein gravierendes Problem der Beurteilung von Neuro-EnhancementEingriffen besteht darin, dass unsere prognostischen Fähigkeiten großen Einschränkungen unterliegen. Dies gilt nicht nur mit Blick auf mögliche Risiken, die mit entsprechenden Eingriffen verbunden sein könnten. Gerade bei Eingriffen, die die kognitiven oder auch die emotionalen Fähigkeiten eines Menschen beeinflussen, scheint es darüber hinaus sehr schwer vorhersagbar, wie es für den Betroffenen sein wird bzw. wie es sich für ihn ›anfühlen‹ wird, andere Eigenschaften oder Fähigkeiten zu besitzen als vor dem Eingriff. Dies gilt bereits für vergleichsweise mo239

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derate pharmakologische Eingriffe (s. die Diskussion bei Kramer 1993). Die Auswirkungen radikalerer Maßnahmen, beispielsweise die Erlangung vollständig neuer Fähigkeiten, sind demgegenüber noch weit weniger gut vorhersagbar. Hier fehlt jede Vergleichsmöglichkeit mit bekannten Phänomenen, auf die wir Vorhersagen stützen könnten. An irreversible Neuro-Enhancement-Eingriffe sind daher deutlich höhere Anforderungen im Hinblick auf eine Nutzen-Schaden-Bilanz und hinsichtlich Information und Aufklärung zu stellen, als an reversible Eingriffe. Eine weitere Unterscheidung, die im vorliegenden Zusammenhang relevant ist, ist die Unterscheidung zwischen einem ›kompetitiven‹ und einem ›nicht-kompetitiven‹ Neuro-Enhancement. Manche ›verbessernden‹ Eingriffe am Gehirn des Menschen werden mit dem Ziel unternommen, sich im Wettbewerb mit Anderen Vorteile zu verschaffen. Erhöhte Aufmerksamkeit, ein reduziertes Schlafbedürfnis oder gesteigerte Konzentrationsfähigkeit könnten in verschiedenen Berufsgruppen durchaus Wettbewerbsvorteile für die einzelnen Nutzer bringen. Andere Neuro-Enhancement-Maßnahmen dagegen sind ›nicht-kompetitiv‹ in dem Sinn, dass sich der Nutzer keinen Wettbewerbsvorteil erhofft, sondern nur einen – wenn man so will: intrinsischen – Vorteil, der beispielsweise darin bestehen könnte, musikalische oder literarische Werke intensiver genießen zu können als dies ohne eine ›Verbesserung‹ möglich wäre. Bei den durch Enhancement erzielten Vorteilen kann es sich, mit anderen Worten, durchaus um absolute (im Unterschied zu positionalen) Gütern handeln. Argumente, die auf mögliche soziale Verwerfungen durch den Gebrauch von Neuro-Enhancement-Mitteln abzielen, werden in diesem Fall keine große Rolle spielen. Eine primär an der Vermeidung von sozioökonomischen Ungleichheiten orientierte Einschränkung von Neuro-Enhancement-Möglichkeiten liefe daher Gefahr, auch die Möglichkeiten der Realisierung intrinsischer Ziele und Werte zu vereiteln. Auch wenn man vermutlich kein trennscharfes Kriterium angeben kann, scheint es über die bislang angedeuteten Unterscheidungen hinaus auch möglich zu sein, zwischen ›moderaten‹ und ›radikalen‹ Formen des Neuro-Enhancement zu unterscheiden. Eine dosierte Steigerung der Aufmerksamkeit beispielsweise dürfte überwiegend eher als ›moderat‹, eine Hinzufügung gänzlich neuer Möglichkeiten der Sinneserfahrung (eines siebten bzw. achten Sinnes) dagegen als ›radikal‹ empfunden werden. Auch solche ›radikalen‹ Formen des Enhancement wird man nicht umstandslos verwerfen oder gar rechtlich verbieten können. Das Problem der Prognose-Unsicherheit, das sich hier sehr drastisch stellen könnte, spricht aber dafür, im Hinblick auf ›radikale‹ Formen des Enhancement besonders vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Zumindest 240

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an die Einwilligung der Nutzerinnen und Nutzer wird man daher wohl verschärfte Anforderungen stellen müssen. Darüber hinaus wäre das Potential ›radikaler‹ Formen von Neuro-Enhancement, soziale Verwerfungen zu produzieren, oder gar zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft beizutragen, möglicherweise ungleich größer als bei ›moderaten‹ Eingriffen. Auch an die im Hinblick auf eine Nutzung ohnehin erforderlichen flankierenden sozialen Maßnahmen wären daher sicher besondere Anforderungen zu stellen.

7. These Es ist zumindest nicht von vornherein klar, warum es moralisch unzulässig sein sollte, die negativen sozialen Auswirkungen einer ungünstigen natürlichen Ausstattung nicht nur zu kompensieren, sondern, wenn möglich, auch zu korrigieren. Die Rechtfertigungshürde für EnhancementEingriffe an Kindern oder an Ungeborenen ist aber sehr hoch. Neben Eingriffen an entscheidungskompetenten erwachsenen Personen wird Neuro-Enhancement von manchen auch für Kinder oder Ungeborene diskutiert (vgl. dazu etwa Buchanan et al. 2000). Das Ziel solcher Eingriffe könnte insbesondere darin bestehen, aus der ›natürlichen Lotterie‹ entstehende Nachteile auszugleichen und zu größerer Chancengleichheit im Hinblick auf die Startbedingungen beizutragen. In diesen Fällen handelt es sich, da die Betroffenen der Maßnahme nicht zustimmen können, klarerweise um nicht-freiwillige Eingriffe, deren Legitimität besonders umstritten ist. In der Diskussion wird in diesem Zusammenhang manchmal versucht, anknüpfend an die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement eine Grenze zwischen zulässigen und nicht-zulässigen Interventionen zu ziehen. Habermas beispielsweise glaubt, dass »der Behandelnde das Einverständnis des – präventiv behandelten – Patienten unterstellen« könne, solange »der medizinische Eingriff vom klinischen Ziel der Heilung einer Krankheit oder der Vorsorge für ein gesundes Leben dirigiert« werde (Habermas 2001: 91). Wir haben bereits angedeutet, warum wir die Strategie der Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement für nicht aussichtsreich halten. Es scheint uns insofern zumindest eine offene Frage zu sein, ob eine Auswahl oder gezielte Herstellung bestimmter erwünschter Eigenschaften zum Wohle eines zukünftigen Kindes nicht moralisch zulässig, vielleicht sogar prima facie geboten sein könnten. Die Rechtfertigungshürde für solche Eingriffe wäre aber ohne Zweifel sehr hoch. In Betracht zu ziehen wären ja nicht nur die Risiken, die mit einem Eingriff für die Betrof241

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fenen verbunden sind, sondern vor allem auch mögliche, durch den Eingriff induzierte, Einschränkungen an Selbstbestimmung und Wahlfreiheit. Buchanan et al. sprechen in diesem Zusammenhang von einem individuellen »Recht auf eine offene Zukunft«, das zum Beispiel dadurch gewährleistet werden könne, dass die Änderungen »Allzweckmittel« betreffen – Merkmale, deren Wert unabhängig von unserer jeweiligen Konzeption eines guten Lebens ist (Buchanan et al. 2000). Zu solchen Allzweckmitteln könnte beispielsweise die Sehkraft gehören. Andere Eigenschaften oder Fähigkeiten, die als mögliche Allzweckmittel diskutiert werden, sind ein hinreichend gutes Erinnerungsvermögen oder auch Intelligenz. Ob es tatsächlich Güter gibt, die als Allzweckmittel bezeichnet werden können, ist allerdings selbst unter Autorinnen und Autoren, die dem ›liberalen Lager‹ zuzurechnen sind, strittig.

8. These Erforderlich ist eine Evaluation der gesundheitlichen Risiken und Chancen von Neuro-Enhancement-Interventionen. Dies gilt zum einen für mögliche Enhancement-Maßnahmen, die außerhalb eines medizinischen Kontextes entwickelt werden; zum anderen sind Studien erforderlich, die eine Nutzung entsprechender Präparate oder Geräte als Enhancement, also außerhalb einer indikationsgerechten Nutzung, abdecken. Zu den gesundheitlichen Risiken oder Nebenwirkungen, die im Hinblick auf eine Nutzung von Neuro-Enhancement diskutiert werden, gehören insbesondere Abhängigkeitsrisiken, mögliche Wechselwirkungen sowie Langzeitwirkungen auf das Gehirn von Erwachsenen oder auch auf das sich entwickelnde Gehirn von Kindern. Solche Risiken und Nebenwirkungen fallen bei ›verbessernden‹ Interventionen offenkundig besonders ins Gewicht. Im Hinblick auf eine verantwortungsvolle Nutzung von Neuro-Enhancement wäre daher eine ausreichende Wissensbasis unerlässlich. Die derzeitige Datenlage in dieser Frage ist allerdings äußerst unbefriedigend. Evaluations- und Risikostudien liegen bislang nur für solche als Enhancement diskutierten Substanzen oder Methoden vor, die im medizinischen Kontext zu präventiven, therapeutischen oder auch schmerzlindernden Zwecken entwickelt und angewendet wurden. Mögliche Neuro-Enhancement-Eingriffe, die außerhalb eines medizinischen Kontextes entwickelt werden, werden davon bislang nicht erfasst. Und auch für solche Substanzen oder Methoden, die primär einem therapeutischen Kontext entstammen, gibt es Daten nur für eine indikationsgerechte Nutzung. Über die möglichen Risiken einer Anwendung dieser Sub242

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stanzen oder Methoden bei gesunden Menschen zum Zwecke der Leistungsverbesserung ist daher so gut wie nichts bekannt. Greely et al. (2008) haben vor diesem Hintergrund mit Recht einen evidenzbasierten Ansatz zur Evaluation der Risiken und Chancen von EnhancementInterventionen gefordert: »An evidence-based approach is required to evaluate the risks and benefits of cognitive enhancement. At a minimum, an adequate policy should include mechanisms for the assessment of both risks and benefits for enhancement uses of drugs and devices, with special attention to long-term effects on development and to the possibility of new types of side effects unique to enhancement.« (Greely et al. 2008: 703)

Da ein solches risk assessment nach gegenwärtiger Lage der Dinge außerhalb des medizinischen Kontextes und seiner eingespielten Regularien erfolgen müsste, ist klärungsbedürftig, wer dafür gerade zu stehen hat.

9. These Erforderlich ist darüber hinaus, eine Information und Aufklärung möglicher Nutzerinnen und Nutzer von Neuro-Enhancement-Maßnahmen, aber auch der allgemeinen Öffentlichkeit über nicht-gesundheitsbezogene Schadensrisiken und Nutzenchancen. Die Steigerung des Glücksgefühls durch Neuro-Enhancement kann, wie manche Autorinnen und Autoren vermuten, als »Mittel auf dem Weg zur kreativen Erschaffung eines eigenen Ich betrachtet werden […], insofern es aus einer verantwortungsbewussten Entscheidung der Individuen hervorgeht« (Talbot/Wolf 2006: 273). Kritikerinnen und Kritiker wenden dagegen ein, dass Enhancement allenfalls ein ›künstliches‹ oder ›falsches‹ Glück hervorbringe. Andere meinen, dass die Nutzung von Enhancement-Mitteln einen short cut darstelle, also eine unzulässige Abkürzung, bei der für die jeweils in Frage stehende Handlung zentrale und wertvolle Aspekte verloren gingen (President’s Council 2003: 327 ff.). Auch die Beobachtung, dass die Zuordnung und Anerkennung von Leistungen mitunter davon abhängig gemacht wird, ob die betreffende Leistung durch eigene Anstrengung oder mittels anderer Hilfsmittel erreicht wurde, und die Leistung dann eben gerade nicht dem Menschen, sondern dem Hilfsmittel angerechnet werde, geht in die gleiche Richtung (vgl. dazu Schöne-Seifert 2006). 243

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Solche Einwände überzeugen, wenn überhaupt, aber allenfalls im Hinblick auf bestimmte Formen und Anwendungsmöglichkeiten des Neuro-Enhancement. Ob bzw. welchen Beitrag Neuro-Enhancement zum individuellen Lebensglück eines Menschen leisten kann, scheint entscheidend davon abzuhängen, zu welchen Zielen und Zwecken es eingesetzt wird. Statt zu der von Kritikerinnen und Kritikern befürchteten »Trivialisierung der Lebenspläne und Hedonisierung der Lebenswelt beizutragen«, könnten Neuro-Enhancement-Eingriffe, wie SchöneSeifert zu Bedenken gibt, ebenso gut auch »in einer individuell fruchtbaren und sozial verantwortlichen Weise eingesetzt werden, um weniger Zeit fürs Lernen, Erfassen und Memorieren zu benötigen und dafür mehr künstlerische Arbeit und/oder Entwicklungshilfe zu leisten, um hier ein triviales Gegenbild zu umreißen« (Schöne-Seifert 2006: 287). Während das Argument des ›falschen Glücks‹ also für Formen eines ›eskapistischen‹ Neuro-Enhancement durchaus triftig sein mag, d.h. für solche Formen des Neuro-Enhancement, die Gefühle hervorrufen, die an keinerlei situatives Korrelat mehr gebunden sind, und die den Nutzer bzw. die Nutzerin durch permanente angenehme Empfindungen zu einer systematischen Fehlinterpretation der Realitäten verleiten, muss dies für andere Formen des Neuro-Enhancement-Gebrauchs keineswegs der Fall sein (vgl. dazu Talbot/Wolf 2006). Vor diesem Hintergrund ist die Forderung, mögliche Nutzerinnen und Nutzer von Enhancement-Maßnahmen und auch die allgemeine Öffentlichkeit nicht nur über die direkten gesundheitsbezogenen Schadensrisiken und Nebenwirkungen einer Enhancement-Nutzung aufzuklären, sondern auch über mögliche weitere ›biographische‹ und soziale Risiken und Chancen zu informieren und aufzuklären, durchaus sinnvoll. Allerdings muss man gerade hier eine Schieflage in der Diskussion insofern vermeiden, als selbstredend auch mit ›herkömmlichen‹ Methoden zur mentalen Leistungssteigerung (Lernen, Erziehung, Training, Biofeedback, Psychotherapie etc.) gesundheitsbezogene ebenso wie nichtgesundheitsbezogene Risiken und Nebenwirkungen einhergehen können.

10.

These

Die Möglichkeiten eines Missbrauchs von Enhancement-Maßnahmen durch Arbeitgeber, Ausbildungsinstitutionen, das Militär etc. müssen durch wirksame politische Vorkehrungen unterbunden bzw. eingeschränkt werden. Ausnahmen von einer strikten Freiwilligkeitsregel,

244

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sofern überhaupt begründbar, sind auf genau definierte Ausnahmesituationen zu begrenzen. Die Befürchtung, dass Arbeitgeber, Schulbehörden, Versicherer oder militärische Institutionen von Arbeitnehmern, Klienten oder Kunden verlangen könnten, sich einer Enhancement-Maßnahme zu unterziehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Schon heute werden Angehörigen des Militärs – zumindest in den USA – Stimulanzien angeboten, die ihnen dabei helfen sollen, den Herausforderungen ihrer Tätigkeit besser gerecht zu werden. Andere Beispiele sind zumindest vorstellbar. Greely et al. führen in diesem Zusammenhang das Beispiel einer ›extrem sicheren‹ chemischen Substanz an, die einen Chirurgen dazu in die Lage versetzt, mehr Patientinnen und Patienten zu retten, und fragen sich, ob es unter diesen Umständen tatsächlich falsch wäre, von Chirurginnen und Chirurgen die Einnahme des Präparates vor einem riskanten Eingriff zu verlangen (Greely et al. 2008: 703). Vergleichbare Szenarien ließen sich auch für Busfahrer, Lokomotivführer oder Flugzeugpiloten entwerfen. Offenbar ergeben sich hier vom Prinzip her ähnliche Probleme, wie sie bereits aus der Diskussion über die genetische Diagnostik bekannt sind. Während dort diskutiert wird, ob Arbeitgeber oder das Militär unter bestimmten Voraussetzungen die Vorlage eines Testergebnisses von Bewerbern oder Beschäftigten verlangen und Menschen mit positivem Befund von einer bestimmten Tätigkeit ausgeschlossen werden dürfen (Nationaler Ethikrat 2005), stellt sich hier die Frage, ob Bewerber oder Beschäftigte zur Nutzung von Substanzen (oder möglicherweise sogar zu neurotechnischen Eingriffen) ›gezwungen‹ werden dürfen. In der angesprochenen Stellungnahme des Ethikrates werden genetische Untersuchungen auf gegenwärtig symptomlose bzw. auf vorhersagbare Krankheiten dann für zulässig erklärt, wenn sie »unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit notwendig sind, um in der Art der Tätigkeit liegende spezifische Risiken für Dritte auszuschließen« (Nationaler Ethikrat 2005: 62 f.). Darüber hinaus muss die Einwilligung des Betroffenen in die Maßnahme vorliegen. In eine ähnliche Richtung müssten vermutlich auch Überlegungen zur Regulierung von Neuro-Enhancement gehen.

11.

These

Gesellschaften sind unter bestimmten Voraussetzungen und bis zu einem gewissen Ausmaß dazu verpflichtet, Enhancement-Maßnahmen anzubie-

245

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ten, wenn diese dazu dienen, aus der ›natürlichen Lotterie‹ entstehende Nachteile und Ungleichheiten auszugleichen. Ob Enhancement-Maßnahmen ein Gerechtigkeitsproblem darstellen, wie viele befürchten, hängt von der Art ihrer Wirkung ab, ebenso sehr aber auch von ihrer Verfügbarkeit. Dass nicht-kompetitive Formen von Enhancement unter Fairness-Gesichtspunkten weniger problematisch sind als kompetitives Enhancement, hatten wir oben bereits gesagt. Ein weiteres Problem, das häufig als Argument gegen eine Freigabe von NeuroEnhancement vorgebracht wird, zielt auf die Frage der Verfügbarkeit von bzw. der Zugangsmöglichkeiten zu Neuro-Enhancement-Substanzen oder -Verfahren. Viele, so die Befürchtung, werden sich (teure) NeuroEnhancement-Maßnahmen aus ökonomischen Gründen nicht leisten können. Selektive Zugangsmöglichkeiten aber bergen, so das Argument weiter, die Gefahr des Ausschlusses Einzelner vom gesellschaftlichen Leben bzw. beschwören neue Formen der Diskriminierung herauf. Man muss sich an dieser Stelle allerdings davor hüten, ›das Kind mit dem Bade auszuschütten‹. Sozial ungleiche Verteilungen und selektive Zugangsmöglichkeiten kommen nicht erst mit der Möglichkeit des NeuroEnhancement in die Welt, sondern sind eines der Kennzeichen des vorherrschenden Gesellschaftsmodells. Es ist insofern fraglich, inwiefern die aus der Nutzung von Neuro-Enhancement möglicherweise entstehenden Verwerfungen sich von gegenwärtig in unserer Gesellschaft bereits existierenden Ungleichverteilungen unterscheiden würden. Wer diese akzeptiert, hat also keine besonders starken Argumente mehr gegen Neuro-Enhancement – es sei denn, es ließe sich zeigen, dass pharmakologisches Enhancement zum Beispiel gegenüber der Inanspruchnahme einer teuren Privatschule einen gravierenden Vorteil darstellt. Das zentrale Problem besteht also vor allem darin, wie hinreichend faire Zugangsmöglichkeiten zu den entsprechenden Mitteln und Verfahren organisiert werden können, und nicht darin, ob diese überhaupt zur Verfügung stehen sollten. Neuro-Enhancement stellt aber auch in einer weiteren Hinsicht eine Herausforderung für die Fairness von Gesellschaften dar. Die Freigabe von Neuro-Enhancement mag zwar einerseits einen Beitrag zur Verstärkung bereits bestehender sozialer Ungleichheiten leisten; andererseits ist eine Nutzung von Neuro-Enhancement aber auch in umgekehrter Absicht denkbar. So haben verschiedene Autorinnen und Autoren dafür plädiert, Neuro-Enhancement als eine Chance zur Beseitigung von Ungerechtigkeit zu verstehen – und zu nutzen. Wer ›von Natur aus‹ benachteiligt ist, bekommt, so das Argument, durch Neuro-Enhancement die Möglichkeiten, die er oder sie sich sonst mit eigener Kraft nicht hätte 246

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erarbeiten können (Buchanan et al. 2000). Gesang spricht in diesem Zusammenhang von »kompensatorischem« Enhancement (Gesang 2007: 63ff). Wie kompensatorisches Enhancement praktisch aussehen könnte, haben Greely et al. an einem Beispiel illustriert: »If cognitive enhancements are costly, they may become a province of the rich, adding to the educational advantages they already enjoy. One could mitigate this inequity by giving every exam-taker free access to cognitive enhancements, as some schools provide computers during exam week to all students. This would help level the playing field.« (Greely et al. 2008: 704)

Für liberale Gesellschaften, die dem Prinzip der fairen Chancengleichheit verpflichtet sind, scheint dies allerdings zur Konsequenz zu haben, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen und jedenfalls bis zu einem gewissen Ausmaß dazu verpflichtet sind, nicht nur einen fairen Zugang zu Enhancement-Maßnahmen zu ermöglichen, sondern auch dazu, diese für benachteiligte Gesellschaftsmitglieder vorzuhalten – jedenfalls dann, wenn die Maßnahmen sowohl notwendig sind, um ›natürliche‹ Nachteile auszugleichen, als auch wirksam und finanzierbar sind.

12. These Eine akzeptable Nutzung von Neuro-Enhancement-Maßnahmen setzt gesellschaftliche und sozioökonomische Rahmenbedingungen voraus, die das Risiko eines ›stillschweigenden‹ Zwangs zur Nutzung von Enhancement-Verfahren einschränken. Dem aus der Debatte über die Gendiagnostik bekannten »Recht auf Nichtwissen« muss in der Debatte über Neuro-Enhancement ein »Recht auf Naturbelassenheit« hinzugefügt werden. Zahlreiche Kritikerinnen und Kritiker sehen die Gefahr, dass der Wunsch nach einer Verbesserung der eigenen Leistungsmerkmale gesellschaftlich in eine Pflicht zur Leistungssteigerung umschlagen könnte. Ein Grund dafür ist, dass der Einsatz von Neuro-Enhancement sich häufig dem Motiv verdanken dürfte, Distinktionsgewinne gegenüber Konkurrentinnen und Konkurrenten zu erzielen. Die Nutzung von Enhancement-Maßnahmen wird, wie viele fürchten, daher Wettbewerbsspiralen in Gang setzen, die im Ergebnis dazu führen könnten, dass man, um an der Spitze mithalten zu können und Konkurrentinnen oder Konkurrenten gegenüber Vorteile zu haben, auf die Nutzung (immer effektiverer) Neuro-Enhancement-Maßnahmen angewiesen ist – der Manager 247

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auf Psychopharmaka, um mehr, schneller oder besser arbeiten zu können, die Studentin, um mit Hilfe von Modafinil ihre Prüfung (überhaupt oder besser) bestehen zu können, oder das Schulkind, um mit Ritalin den Leistungsanforderungen des Schulunterrichts gerecht werden zu können. In eine ähnliche Richtung gehen Befürchtungen, die eine Perpetuierung oder sogar Verstärkung suspekter gesellschaftlicher Normen mit der Nutzung von Neuro-Enhancement in Verbindung bringen. Anstatt die überzogenen Erfordernisse einer Leistungsgesellschaft in Frage zu stellen, könnten Enhancements dazu genutzt werden, die Menschen chemisch oder neurotechnisch an eben diese Erfordernisse ›anzupassen‹ (Sandel 2008). Neuro-Enhancement könne somit einer ›Medikalisierung‹ psychosozialer oder sozialer Probleme Vorschub leisten. Gesellschaftlicher Erwartungsdruck und sozialpolitische Entwicklungen könnten so im Ergebnis die Wahlfreiheit des Einzelnen im Hinblick auf die Nutzung von Neuro-Enhancement-Maßnahmen unterlaufen. Gesellschaftliche und sozioökonomische Rahmenbedingungen und vorbeugende, flankierende soziale Maßnahmen, die das Risiko eines ›stillschweigenden‹ Zwangs zur Nutzung von Neuro-EnhancementVerfahren auf ein akzeptables Maß reduzieren, sind vor diesem Hintergrund eine unerlässliche Voraussetzung für eine sozialverträgliche Nutzung von Enhancement-Optionen. Dem Recht auf die Nutzung von Enhancement-Maßnahmen muss ein Recht auf den Verzicht entsprechender Eingriffe bzw. ein Recht darauf korrespondieren, nicht-enhanced bzw. »naturbelassen« (Schöne-Seifert 2006) bleiben zu können. Ob es gelingen wird, die in die verschiedenen Neuro-EnhancementMaßnahmen gesetzten Erwartungen zu realisieren, hängt entsprechend nicht nur von den technischen Möglichkeiten ab, sondern entscheidend auch von den ethischen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen. Und nicht zuletzt auch davon, ob sich überzogene Hoffnungen (oder Befürchtungen) und eine vorschnelle Anwendung vermeiden lassen.

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Professionsethische Aspekte aktueller Praktiken der Optimierung der menschlichen Natur DIRK LANZERATH

Einführung: Die neue Biologisierung und Medikalisierung des Humanum Mit gentechnisch hergestellten Wachstumshormonen als Dopingmittel im Sport, Korrekturen der Körperästhetik in der kosmetischen Chirurgie, Spekulationen über den möglichen Einsatz von gentherapeutischen Verfahren zur Steigerung der Gedächtnisleistung oder zur Minderung des Aggressionsverhaltens scheinen uns Biowissenschaften und Biotechnik ein immer größeres und scheinbar unendliches Spektrum an Eingriffsmöglichkeiten in die menschliche Natur zu bieten (vgl. Walters/Palmer 1997; Fuchs 2001; Fuchs et al. 2002; Juengst 2003; Martin et al. 2003; Runkel et al. 2005). Diese Möglichkeiten – ob nun science oder fiction – weisen auf eine neue Qualität und Tiefe der Eingriffe hin, die auch Fragen nach ihrer Reichweite und Grenzziehung aufwerfen. Läuten sie damit den Beginn einer neuen Ära der Medizin ein, die sich zunehmend auf das Feld offener Formen von Anthropotechnik wagt? Ergibt sich gar ein völlig neues Methodenspektrum mit erweiterten Ziel- und Zwecksetzungen, die zu radikalen Umbrüchen in bekannten Berufsbildern, gesellschaftlichen Ansprüchen und Formen individueller Selbstgestaltung führen? Dies erfordert sehr grundsätzliche Überlegungen über die Strukturbedingungen und Zielsetzungen der modernen Medizin und ihre Differenz zu prinzipiell zieloffenen Anthropotechniken.

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DIRK LANZERATH

Mit dem Gedanken der Optimierung der menschlichen Natur entfalten sich in der jüngeren bioethischen Debatte äußerst unterschiedliche Dynamiken. Fürchten Autoren wie Francis Fukuyama (2002) das »Ende des Menschen« und sehen eine neue posthumane Zukunft im Rahmen einer fragwürdigen Biologisierung oder Medikalisierung des Humanen, sehen andere eine Chance für eine bessere Gesundheit oder gar den letzten Schritt zur Vollendung des humanistischen Projekts der Zähmung des Menschen, eben durch die Biowissenschaften, eine Vollendung, die den Geisteswissenschaften versagt geblieben sei (vgl. Fukuyama 2002). Nach Auffassung von Peter Sloterdijk (1999) werde es in Zukunft darauf ankommen, das Spiel der genetischen Selektion und Steuerung aktiv aufzugreifen und einen »Codex der Anthropotechniken« zu formulieren. Ein zentraler Aspekt in der Debatte – und hierauf beschränkt sich der vorliegende Text – liegt darin, inwieweit Anthropotechniken von medizinischen Methoden unterschieden werden können und ob diese Unterscheidung normativ fruchtbar gemacht werden kann im Rahmen moralischer Anforderungen für das ärztliche Handeln. Mit anderen Worten: Verträgt sich Enhancement überhaupt mit den Ansprüchen des ärztlichen Ethos und den damit in Verbindung stehenden berufsethischen Verpflichtungen?

1. Enhancement und die Zielsetzungen ärztlichen Handelns Die mit den Enhancement-Techniken verbundenen medizinethischen Probleme reihen sich in Fragestellungen ein, die die prinzipiellen Grenzen des Umgangs mit den Anwendungen der Biowissenschaften sowie die generelle Stellung der Medizin in der Gesellschaft betreffen. Begreift man die Zuständigkeit der Medizin nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich auf bestimmte Zielsetzungen (Diagnose, Therapie, einschließlich Palliation und Prävention) ausgerichtet, dann stehen Medizintechniken für beliebige Zwecksetzungen zur Verfügung. Das traditionelle Berufsbild des Arztes und das Arzt-PatientenVerhältnis waren durch mehr oder weniger strikt definierte therapeutische Anlässe und ebenso strikte Verhaltenserwartungen und Regelungen gekennzeichnet. Der Arzt wurde durch den Patienten aufgesucht, wenn hierzu ein konkreter Anlass durch Krankheit oder auch durch Beratungsund Präventionsbedarf bestand (vgl. Lanzerath 2000). Obwohl der Arztberuf nach wie vor als ›freier Beruf‹ definiert wurde, wandelte sich das Berufsbild. Im Zeichen einer immer stärkeren Einbeziehung der Bevölkerung in die gesetzliche Krankheitsvorsorge wurde die Funktion des 252

PROFESSIONSETHISCHE ASPEKTE AKTUELLER PRAKTIKEN DER OPTIMIERUNG

Arztes mehr und mehr durch die Leistungserbringung im System der kassenärztlichen Versorgung bestimmt. Weil das Einkommen prinzipiell durch die Teilhabe an der öffentlichen Gesundheitsvorsorge gesichert war, spielten Zusatzleistungen und das Werben darum eine vergleichsweise geringe Rolle. Obwohl dieses traditionelle Berufsbild keineswegs überholt ist, lassen sich doch erhebliche Änderungen feststellen, die nicht nur den Arztberuf, sondern die Medizin insgesamt erfasst haben. Offenbar ist ein großer Bedarf an solchen ärztlichen Leistungen entstanden, die nicht der Therapie von Krankheiten dienen, sondern den Arzt zum Anbieter von solchen Leistungen werden lassen, die ›proaktiv‹ auf gesteigerte Fitness, physische und psychische Leistungsfähigkeit, Lebensqualität und langfristige Vorsorge zielen. Nicht nur Kranke, sondern zunehmend auch Gesunde werden insofern zu ›Konsumenten‹ medizinischer Leistungen. Die traditionell schon immer vorhandene Rolle des Arztes als ›Gesundheitsberater‹ erhält neue Akzente und bedient sich neuer Methoden. Der Arztberuf bildet insofern keine Ausnahme gegenüber anderen freien Berufen, die gleichfalls durch neue Dienstleistungen und Kommunikationsformen gekennzeichnet sind (Rechtsberatung, Technikberatung, Lebensberatung usw.). Medizin erhält hier einen geänderten Stellenwert im Rahmen der ›Leistungsgesellschaft‹. Kaum verwunderlich, dass sich auch deren Testformen und Kennzeichnungen (z.B. ›ÄrzteTÜV‹, Ranking, ›die 100 besten Ärzte‹) finden. Es fehlt aber nicht an Stimmen, die vor einer Vernachlässigung der wirklich Kranken, der Behinderten, der Alten und aller sonst dem Diktat der Leistungs- und Fitnessgesellschaft nicht gewachsenen Menschen warnen und die eine Orientierung am Menschen statt am Markt anmahnen. Die Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer (ZEKO) hat sich jüngst mit einer Stellungnahme zum Thema befasst, womit die Bedeutung dieser Diskussion unterstrichen wird (vgl. ZEKO 2009). Kritisch diskutiert werden in diesem Zusammenhang alle durch den Fortschritt der biomedizinischen Forschung möglich gewordenen Methoden, die der Stärkung der Leistungsfähigkeit von gesunden Menschen dienen und die Natur des Menschen insgesamt verbessern wollen (Enhancement). Hierzu zählen insbesondere die außerhalb der medizinischen Indikation stehenden Handlungsfelder von Anti-Aging, ästhetischer Chirurgie, Neuro-Enhancement und Doping. An einer solchen Ausweitung der Zielsetzung wird kritisiert, dass sich angesichts der immer zahlreicher angebotenen medizintechnischen Serviceleistungen ein Wandel vom ›Patienten‹ zum ›Kunden‹ vollzieht. ›Ärztliches‹ Handeln würde dann marktgerecht über Angebot und Nach253

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frage geregelt und das bislang an die ärztliche Teleologie gebundene Arzt-Patient-Vertrauensverhältnis durch ein individuelles Vertragsverhältnis ersetzt werden, das auch Enhancement zuließe. Vielfach wird in dieser Situation eine Grenze zwischen Therapie und Enhancement vorgeschlagen. Eine solche Grenzziehung erlaubt es dem Arzt, dasselbe Medikament bei der einen Person als Lifestyle-Präparat aufgrund einer fehlenden Indikation abzulehnen und es bei einer anderen als Heilmittel zu verabreichen, um Krankheit zu heilen und Leid zu lindern. Das Grundproblem ist nicht neu, denn die Ambivalenz der dem Arzt zur Verfügung stehenden Mittel war bereits Gegenstand der hippokratischen und aristotelischen Schriften. Eine ärztliche Handlung richtet sich dann nach dem Zu- und Abträglichen für die Natur des zu behandelnden Individuums und nach den generellen Zielsetzungen ärztlichen Handelns.

2. Medikalisierung der Lebenswelt Ein Wandel von einer zielgebundenen zu einer zieloffenen Medizin mit frei disponiblen Mitteln ist jedoch allgemein feststellbar. Dieser geht einerseits mit der Beobachtung einer zunehmenden Medikalisierung der Lebenswelt einher, andererseits mit mechanistischen oder naturalistischen Vorstellungen von Körper und Geist, die suggerieren, man könne bei hinreichenden Kenntnissen grundsätzlich mithilfe naturwissenschaftlich-technischer Methoden jede psychophysische, ja sogar soziale Veränderung herbeiführen. In welcher Weise – und hier spielt auch die WHO-Gesundheitsvorstellung (Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.) von 1946 eine gewichtige Rolle – werden beispielsweise psychosoziale Probleme medikalisiert, indem Psychopharmaka nicht als Medikamente zur Behandlung von Krankheiten, sondern als Lifestyle-Mittel eingenommen werden? Es besteht der Verdacht, dass mittels Enhancement-Techniken auf ›medizinischem‹ Wege Probleme behoben werden sollen, die eher psychosozialer Natur sind, für deren Lösung es vielleicht andere, bessere oder effizientere Wege gibt und die außerhalb der Zuständigkeit der Medizin liegen. Hinsichtlich der Zielsetzungen von Enhancement bleibt offen, an welchen ›Fähigkeiten‹, ›Talenten‹ und ›Normalitäten‹ sich eine Verbesserung orientieren könnte. Daher nimmt in der Debatte die möglicherweise unangemessene Medikalisierung solcher Probleme, die eher psychosoziale Hintergründe haben, einen breiten Raum ein. Es wird sowohl infragegestellt, ob die Methoden derartiger Anthropotechniken zur Erreichung der anvisierten Ziele adäquat und Erfolg versprechend sind, 254

PROFESSIONSETHISCHE ASPEKTE AKTUELLER PRAKTIKEN DER OPTIMIERUNG

als auch, ob sie überhaupt in den Zuständigkeitsbereich von Medizin und ärztlichem Handeln fallen oder nicht vielmehr mit deren Aufgaben und Zielen unvereinbar sind (Hanson/Callahan 1999; Lanzerath 2000). Vor diesem Hintergrund werden in der Literatur besonders die ärztlichen Handlungsfelder im Bereich der Wachstumshormonbehandlung oder der Psychopharmakologie diskutiert (Runkel et al. 2005). Wenn die Eltern eines Mädchens, das auf der Basis statistischer Daten als ›normalwüchsig‹ bezeichnet werden kann, um eine Wachstumshormonbehandlung bitten, weil der Berufswunsch ›Model‹ eine bestimmte Idealgröße impliziert, dann wirft dies wichtige, teilweise neuartige Fragen auf: Gibt es, unabhängig von der vormundlichen Verantwortung der Eltern und unabhängig von den gesundheitlichen Risiken eines solchen Behandlungstyps sowie den tatsächlichen Behandlungseffekt, Kriterien, die eine solche Behandlung nicht nur seitens des Arztes – im Blick auf fehlende medizinische Indikation – verbieten, sondern auch hinsichtlich genereller Kriterien der Selbstgestaltung im Kontext einer bestimmten vorgefundenen Gesellschaftsform? Die Bedeutung der Relation von Körpergröße und Lebensgestaltung ist ja keineswegs abwegig, wenn man empirische Untersuchungen zur Grundlage nimmt, die eine Korrelation zwischen Körpergröße und beruflichem Erfolg messbar machen. Hier ist die Überlegung mit einzubeziehen, ob kindliche oder elterliche Zukunftsängste – z.B. mit Blick auf die Berufswahl – in dem hier behandelten Kontext auf ein einziges Moment physischer Dispositionen reduziert werden, das nicht oder nur sekundär mit dem eigentlichen psychosozialen Problem verbunden ist, und damit eine Behandlung erfährt, die hinsichtlich des Mitteleinsatzes inadäquat erscheint (vgl. Haverkamp 1997). Man denke ferner an die aktuelle Diskussion in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -psychotherapie, ob AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung (ADHS) wirklich als Krankheit einzustufen ist oder ob es sich um ein soziales Phänomen handelt, das auf Defizite im familiären Rahmen oder in den westlichen Erziehungssystemen hinweist (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. 2006). Dieser Verdacht drängt sich insbesondere dann auf, wenn diese Störung – trotz ICD-Schlüssel1 – in vielen Ländern gar nicht diagnostiziert wird. Die gängige Verabreichung von Ritalin in dem jetzigen Umfang gerät dann unter Enhancement1

Die »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD-10) wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt. Das Kürzel ICD steht für »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems«, 10 bezeichnet die 10. Revision der Klassifikation. Die ICD-10 zählt zu den international gebräuchlichen, gesundheitsrelevanten Klassifikationssystemen. 255

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Verdacht oder muss sogar als Schädigung aufgefasst werden, wenn diese ohne pädagogische oder psychotherapeutische Kompetenz erfolgt. Stehen – so ist in solchen Fällen dann zu fragen – Problemanalyse, Mittelwahl und Zielvorstellung in einem angemessenen Verhältnis zueinander? Inwieweit wird ein tiefer liegendes Problem auf ein physisches reduziert und aufgrund der Form einer bestimmten Behandlung medikalisiert? In diesem Zusammenhang ist auch zu diskutieren, inwieweit eine ästhetische Korrektur zwar Benachteiligung und Leid mildern könnte, damit aber zugleich durch einen solchen Eingriff jene ästhetischen Wertvorstellungen und Stereotype bestärkt werden, die ursächlich für diese Benachteiligung und dieses Leid verantwortlich sind. Damit soll keineswegs bestritten werden, dass diese an die Medizin herangetragenen Probleme ernst zu nehmen sind. Ob die Lösung aber in jedem Fall der Medizin obliegt und ob die angebotenen Mittel die adäquaten sind, muss hinterfragt werden. Zweifelsohne führt eine Ausdehnung des Gesundheits- und Krankheitsverständnisses zu einer größeren Extension des medizinischen Behandlungsbegriffs. Es wird immer wieder kritisch angemerkt, dass dann, wenn gesellschaftliche Bedürfnisse erwachsen, die nicht klassisch eine Antwort der Medizin erwarten lassen, für die aber die Medizin ein Methodenrepertoire bereithält, der Krankheitsbegriff kurzerhand erweitert wird und eine Begründung liefert, ärztlicherseits eine Methode oder Technik anzuwenden. So werden beispielsweise innerhalb der kosmetischen Chirurgie ästhetisch gewollte Eingriffe über einen weiten Krankheitsbegriff legitimiert, ungeachtet der auch unter Chirurgen vermehrt geführten Diskussion, ob eine solche Behandlung in jedem Fall das eigentliche Leiden beseitigt oder ob sie nicht noch sehr viel größere Leiden verursacht.2 Damit wird deutlich, dass die Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes von Enhancement-Techniken nicht nur hinsichtlich der Legitimität einer bestimmten Zielsetzung diskutiert wird, sondern auch im Hinblick auf eine angemessene Wahl der zur Verfügung stehenden Mittel. Möglicherweise hilft ein normativ verstandener Krankheitsbegriff, ärztliches Handeln mit Blick auf die Möglichkeiten von Enhancement einzuschränken, und verhindert, dass Medizin zur ›Anthropotechnik‹ wird. Damit ist aber noch nicht geklärt, ob sich außerhalb der Medizin der Wunsch nach Enhancement einreiht in akzeptierte Leistungssteigerungen oder Verbesserungen der menschlichen Natur, die bei Erziehungs- und Bildungskonzepten beginnen, sich fortsetzen über den stimmungshebenden Effekt bei der Einnahme von Drogen, wie Alkohol, bis hin zur ästhetischen ›Verbesserung‹ des menschlichen Körpers durch 2

Vgl. hierzu Davis (1995, 1998); Little (1998) sowie Villa in diesem Band.

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PROFESSIONSETHISCHE ASPEKTE AKTUELLER PRAKTIKEN DER OPTIMIERUNG

Tattoos oder Piercing, für die lange Traditionen beispielsweise in afrikanischen Kulturen bestehen. Aus Sicht der Ethik geht die Frage nach den Grenzen der Anwendung von Enhancement-Techniken freilich über ihre medizinischtechnischen Risiken hinaus. Es gilt zu klären, ob es gültige Normen geben kann, die angesichts einer möglichen biotechnischen Verbesserung der Gesellschaft oder von Individuen, im Rahmen einer kollektiven Verantwortung in und für eine Gemeinschaft, den Einsatz solcher auf Enhancement gerichteten ›Anthropotechniken‹ regeln und die gleichzeitig die individuellen Bedürfnisse eines auf Selbstgestaltung gerichteten gelingenden Lebens berücksichtigen. Denn der Mensch verwirklicht sich selbst im guten Leben nach eigenem Entschluss unter produktiver Mitwirkung anderer, d.h. im gemeinsamen guten Leben. Für das gute Leben anderer kann der Arzt keine Verantwortung tragen, wohl aber muss die Frage gestellt werden, inwiefern Anthropotechniken oder EnhancementTechniken im genuinen Handlungsfeld des Arztes Platz haben, wenn dieses Handlungsfeld sich traditionell durch ganz spezifische Zielsetzungen auszeichnet, die durch das Ziel Verbesserung oder Enhancement durchbrochen oder erweitert werden.

3. Handlungsfeld Enhancement Bei der ethischen Analyse des Handlungsfelds ›Enhancement‹ oder ›Optimierung‹ der menschlichen Natur stößt man auf Schwierigkeiten (a) der Begriffsbestimmung, (b) der Beschreibung des Handlungsfelds und des Handlungstyps, (c) der Verantwortung der involvierten individuellen Akteure sowie (d) der damit verbundenen sozialen Praxis und der darin befindlichen kollektiven Verantwortung. Die Frage nach der professionsethischen Regulierung steckt in (c) und (d), muss aber Bezug nehmen auf (a) und (b). Bei der ersten Schwierigkeit (a) geht es im Wesentlichen um Abgrenzungsfragen von Optimierung und Enhancement: Wann fällt eine Handlung oder das Ziel einer Handlung unter diesen Begriffs- und damit Handlungstyp? Wenn wir mit ›optimieren‹ meinen, einen Wirkstoff zu entwickeln, der besser diagnostisch oder therapeutisch wirken soll, oder eine Möglichkeit zu nutzen, mit verbesserten Methoden ein Therapieziel schneller oder effizienter zu erreichen – eine sehr gebräuchliche Verwendungsweise des Begriffs –, dann ist dies nicht der Zusammenhang, der in der bioethischen Enhancement-Debatte üblicherweise angesprochen wird. In der Regel geht es um biomedizinische Maßnahmen, die über die traditionellen Ziele Heilung oder Linderung hinausgehen und 257

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die menschliche Natur optimieren oder verbessern. Hier bahnt sich aber eine weitere Schwierigkeit an, denn der Gesundheitszustand hat immer etwas mit den Begriffen des Normalen und des Idealen zu tun, die keineswegs ohne bestimmte Formen der Selbstinterpretation einfach in der Natur des Menschen ablesbar wären (vgl. Lanzerath 2000). An einen Piloten werden andere Anforderungen hinsichtlich seines Gesundheitszustands sowie an die damit verbundene Arbeitstauglichkeit gestellt, als dies bei einem Büroangestellten der Fall ist. Nun könnte man auch hier die menschliche Natur in einem Organismus-Umweltgefüge interpretieren, die soziale Umwelt hinzuziehen und dann zu individuellen Idealen kommen, die sich aber dennoch an einem bestimmten Organismustyp mit seinen Normalfunktionen orientieren. Aber wie ist es zu beurteilen, wenn Kampfpiloten vor ihrem Einsatz mit »speed-pills« oder »go-pills« (Dextroamphetamine) zur besseren und längeren Konzentration versorgt werden und nach dem Einsatz mit »no-go-pills«, also mit Sedativa (Ambien oder Restoril), zur Ruhe gebracht werden (vgl. Emo nson/Vanderbeek 1995)? Das Leben wird pharmakologisch dem Einsatz angepasst; Wachheit und Schlaf können per biochemischen Schalter ausgelöst werden. Ist hiermit nicht die Grenze zwischen der Wahrung oder Herstellung eines arbeitstauglichen ›Gesundheitszustands‹ – die betriebsärztlich indiziert wären – und der Einleitung von EnhancementMaßnahmen überschritten? Das Ziel biotechnischer Anpassung des Menschen an die Erfordernisse einer modernen Gesellschaft – kleine Menschen für Bergwerke, Spezialzüchtungen für Weltraumreisen – war bereits eine Vision, als sich in den 60er Jahren die Molekulargenetik herauszubilden begann. Das Ciba-Symposium 1962 Man and his Future in London war der Ort, an dem genau dies diskutiert wurde. Die Wissenschaft, so das Ergebnis des Symposiums, habe die Notwendigkeit einer Veränderung von Menschen erkannt, die Wandelbarkeit des Menschen in der Evolutionstheorie belegt und die Mittel zur Bewältigung der Krise bereitgestellt. Leider würde die Wissenschaft durch traditionelle, moralische Erwägungen behindert. So führte die Verbindung von technomorphen Handlungsoptionen und Nützlichkeitskalkülen, ungeachtet der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Missbrauch der Medizin, dazu, offen über Menschenzüchtung mit Hilfe moderner Genetik zu diskutieren.3 Die bekannten Experimente von Tang zum Neuroenhancement bei Mäusen machen mehr als deutlich, wie schnell in der biomedizinischen Forschung der Gedankensprung von therapeutischen Anwendungen zu Enhancement erfolgt: Geplant waren sie für einen möglichen Ansatz zur Alzheimer3

Vgl. Jungk/Mundt (1988), hieraus besonders Haldane (1988).

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PROFESSIONSETHISCHE ASPEKTE AKTUELLER PRAKTIKEN DER OPTIMIERUNG

oder Demenztherapie, diskutiert werden sie aber eben auch als Möglichkeit der Steigerung der menschlichen Intelligenz oder zumindest der Merkfähigkeit (vgl. Tang et al. 1999). Hierzu können vielerlei Beispiele angeführt werden, die erkennbar machen, wie schwierig es ist, Maßnahmen als Enhancement einzustufen. Wir kennen einen gesellschaftlichen Bereich, der prototypisch für jenen Übergang steht, in dem dieselben Mittel, die für therapeutische Zwecke entwickelt worden sind, nunmehr für andere Ziele eingesetzt werden: Dies ist der Bereich des Dopings im Sport. Die Mittel beginnen bei Hustensaft und Asthmapräparaten, gehen über Anabolika bis hin zur EPO-Anwendung oder den Gedankenexperimenten über gentherapeutische Modelle, die für ein Gendoping tauglich wären (vgl. Fuchs et al. 2008). Sportler, die den Erfolg unbedingt wollen, bieten sich im Leistungssport und im Breitensport leider auch häufig genug als willfährige Probanden an. Das Feld des Dopings kann auch zu dem Bereich des Enhancements gerechnet werden, der die Schwierigkeiten von Typ (b) verdeutlichen kann. Solange es den ›Berufsstand‹ des ›Enhancers‹ oder ›Anthropotechnikers‹ noch nicht gibt, ist das Handlungsfeld, um das es geht, im Wesentlichen das des Arztes – oder besser, das des Mediziners –, wenn man einmal von Eigen-Enhancement – in Anlehnung an Eigentherapie oder Selbstmedikation – absieht. Erik Parens hat ja in Anlehnung an James Lindemann Nelson ironisch vorgeschlagen hier zwischen »Doctors und Schmoctors« zu unterscheiden (vgl. Parens 1998: 11). Wenn wir beim Beispiel des Dopings bleiben, dann stellt sich für das Handlungsfeld der Mediziner die Frage nach ihrer Rolle im Sport (vgl. ZEKO 2009). Die ist durch zweierlei Zielsetzungen charakterisiert: Erhalt der Gesundheit, Prüfung der Sporttauglichkeit einerseits und im Rahmen von Trainingsprogrammen die Förderung der sportlichen Leistung für den Wettkampf andererseits. Hier tun sich Zielsetzungen auf, die bereits jenseits des ärztlichen Normalfalls liegen und nicht erst im Zusammenhang mit Doping zu ethischen Problemen führen. Damit stößt man auf Problem (c), nämlich auf die Verantwortung der involvierten Akteure. Hier sind es in der Regel mindestens zwei Akteure, die betroffen sind: Derjenige, der das Enhancement vornimmt, und derjenige, an dem es vorgenommen wird. Insofern Beiden ihr Handeln bekannt und bewusst ist, kommt auch Beiden eine je eigenständige ethische Verantwortung zu.4 Schließlich ist der Einfluss des sozialen Umfelds nicht zu unterschätzen: Das kann eine peer group sein, im Falle des Dopings ein Sportverein oder -verband, aber auch das gesellschaftli-

4

Ästhetische Chirurgie bei Minderjährigen oder Doping ohne Wissen der betroffenen Athleten sind hier noch einmal Sonderfälle. 259

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che Umfeld allgemein, das einen Einfluss auf Begehrlichkeiten und Entscheidungsfindungen ausübt. So ist das Verlangen nach sportlicher Leistung genauso wenig allein endogen durch einen Sportler induziert wie das nach einer ästhetischen Nasenkorrektur bei einer Abiturientin. Daher haben wir es hier nicht nur mit individualethischen, sondern auch mit sozialethischen Problemen zu tun (d). Letztere sind in wesentlichen Teilen eben auch professionsethisch zu begreifen. So stellt sich die Frage, ob es etwa Elemente eines ärztlichen Ethos gibt, die Enhancement fördern oder es umgekehrt verbieten. Diese könnten dann auch berufsrechtlich in Form von Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen umgesetzt werden. Hierzu ist aber zunächst ein Blick auf die Anforderungen an ein ärztliches Ethos zu werfen.

4. Ärztliches Berufsethos und Arzt-Patient-Beziehung Für eine funktionierende Kommunikation zwischen Arzt und Patient sind nach E. May die Tugenden des Patienten ebenso einzufordern wie die des Arztes. Denn ohne den Willen zur Genesung nützen die Anstrengungen des Arztes wenig (vgl. May 1956: 1112). Der Patient ist selbst wesentlich an der Diagnose beteiligt. »Trotz aller Objektivierungsversuche ist Diagnose weitgehend auch das Resultat von Kommunikationsprozessen; und zwar auf den Ebenen verbalen Austauschs, nonverbalen Verhaltens und schließlich auch tatsächlicher Symptome.« (Figge 1991: 117) Auch die Krankheitsbestimmung und die Therapiewahl sind Ergebnisse einer Interaktion zwischen Patient und Arzt. Insofern der Patient ein entsprechendes Maß an Selbstbestimmtheit aufweist – dies kann bei Kranken stark eingeschränkt sein – gehört es wesentlich zu diesem Kommunikationsprozess, »dass sich Therapeut und Patient darüber einig sind, dass (eine bestimmte) Krankheit vorliegt und dass die dazu passende Therapie erfolgversprechend ist« (ebd.: 118). Im Dialog zeigen sich gegenseitige Verantwortlichkeit und Solidarität.5 Das Handeln mit dem Anderen und an dem Anderen beginnt dann nicht erst mit dem physischen Akt, sondern bereits mit der Sprache in einer »faceto-face«-Beziehung (vgl. Toombs 1992). Dazu gehört nicht nur der vertrauliche Umgang mit allen erhobenen Daten und die Schweigepflicht des Arztes, sondern ein grundsätzliches Vertrauen, das aber nur dann vorausgesetzt werden kann, wenn ärztliches Handeln sich an wohldefinierten Zielen orientiert. 5

Vgl. hierzu auch Malherbe (1990: 39).

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Diese Figur hat auch in das geltende Recht und die Rechtsprechung hineingewirkt. Der Bundesgerichtshof stellte 1958 fest, »dass das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ein starkes Vertrauen voraussetzt, dass es in starkem Maße in der menschlichen Beziehung wurzelt, in die der Arzt zu dem Kranken tritt, und dass es daher weit mehr als eine juristische Vertragsbeziehung ist« (zit. n. Laufs 1995). In einem weiteren Urteil des BGH von 1984 (Az: 3 StR 96/84) wird diese These bestätigt: »Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist keine nur rechtsgeschäftliche, ausschließlich von dem Willen der beiden Vertragsparteien bestimmte Beziehung. Die Standesethik des Arztes steht nicht isoliert neben dem Recht. Sie wirkt, wie das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf Eb. Schmidt hervorgehoben hat (BVerfGE 52, 131, 169 f.), allenthalben und ständig in die rechtlichen Beziehungen des Arztes zum Patienten hinein.«

Dieses Vertrauensverhältnis versteht Viktor Emil von Gebsattel als eine dreistufige Relation: Der Arzt tritt dem Patienten gegenüber auf einer Stufe der Unmittelbarkeit als »Mitmensch«, der auf einen Hilferuf reagiert, auf einer Entfremdungsstufe als »technischer Vollstrecker«, der eine wissenschaftlich und technisch geschulte Hilfsaktion durchführt, und auf einer personalen Stufe als »personaler Partner«, der mit dem Patienten in eine partnerschaftliche Kommunikation tritt. Innerhalb der letzten Stufe steigt die mitmenschliche Verbundenheit von Helfer und Hilfsbedürftigem, die jedoch oftmals durch die Technizismen der Hilfsaktion verdeckt ist, zu einem »Partnerverhältnis« von Personen auf.6 Das Antworten auf die Hilfsbedürftigkeit des Kranken setzt aber den Arzt als Fachmann mit spezifischem Wissen voraus (vgl. Lanzerath 2000: 54-77), denn die Hilfe muss eine sachkundige Hilfe sein. Wie einem Ertrinkenden nur von einem geübten Rettungsschwimmer geholfen werden kann – so das Bild von Gebsattels –, so kann dem Kranken nur durch den Arzt geholfen werden. Denn ohne die Fachkunde können auch noch so gute Vorsätze nicht fruchten (vgl. von Gebsattel 1953: 248). Die Ethik der Handlung und die Kenntnis der Sache bilden im ärztlichen Urteilen und Handeln eine Einheit. Das Bekenntnis zur Zielsetzung des Handelns, in dem die Sachkenntnis Verwendung findet,

6

Mit der Analyse sieht von Gebsattel in diesen Stufen ein dialektisches Verhältnis: Unmittelbarkeitsstufe als Thesis, die Entfremdungsstufe als Antithesis, die durch die personale Stufe als Synthesis »aufgehoben« werden. Auf allen Stufen ist eine Form des Scheiterns möglich: auf der ersten Täuschung, auf der zweiten Irrtum und auf der dritten Schuld. Vgl. von Gebsattel (1953). 261

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kann dann nur in Form eines ärztlichen Ethos unterstellt werden. Dort, wo das Leiden als pathologisches Phänomen in den Vordergrund rückt, »tritt die Individualität des Leidens und des Leidenden in den Hintergrund. Gerade dieser Fall unterliegt der Gefahr der Entartung, wo in der Leidenschaft des Könnens und dem gesteigerten Interesse an den Belangen der medizinischen Wissenschaft, ja womöglich aus persönlichen Vorteilserwägungen, die Kriterien und das Gefühl für die Tunlichkeit des medizinischen Handelns verblassen.« (Magin 1981: 30)

Als Vertrauter und Berater kann jedoch der Arzt in Kenntnis der Werte, die der Patient schätzt, diesem verhelfen, mit der Krankheit umzugehen oder den Heilungsprozess zu erleichtern. Auch im terminalen Stadium des Krankseins kann der Arzt bemüht sein, die Integrität der Person und ihres Lebensentwurfs entsprechend zu schützen. Damit ist der Arzt weit mehr als technischer Vollstrecker naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Daraus ergeben sich Anforderungen an das spezifische Verhältnis von Arzt und Patient, die dieses von anderen Dienstleistungs- und Informationsverhältnissen unterscheidet. Denn medizinische Informationen und Leistungen sind nicht Dienstleistungen wie alle anderen. Grundsätze wie »nihil nocere« und »neminem laedere« gelten für alle Formen ärztlichen Handelns. Die persönliche Integrität und das Recht auf Selbstbestimmung sind nicht nur als Grundrechte, sondern auch als zentrale ethische Grundsätze zu beachten. Ein stabiles Arzt-PatientVerhältnis kann nur erhalten bleiben, (1) wenn die Zielsetzungen ärztlichen Handelns nicht verwässert werden – wie dies EnhancementMaßnahmen tun – und (2) ökonomische Kriterien streng von medizinischen Indikationen geschieden werden. Eine klare Zielsetzung verhindert die Überlagerung durch einseitige Kriterien, wie die betriebswirtschaftlichen Ziele einer Arztpraxis oder eines Krankenhauses. Nur auf dieser Basis scheint eine professionsethische Regelung gelingen zu können.

5. Ist eine berufsethische Regelung möglich? Inwieweit Enhancement-Maßnahmen unter den diskutierten Voraussetzungen berufsethisch reguliert werden können, hängt freilich wesentlich von den Rahmenbedingungen einer einheitlichen Berufsethik ab. Die Gruppe »der Ärzte« kann unter modernen Bedingungen sicherlich nicht als eine besonders homogene Gruppe beschrieben werden. Es gibt sehr unterschiedliche Interessen und Motivationen, diesen Beruf auszuüben. 262

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Ferner sind die ideologischen Hintergründe sehr verschieden. Darüber hinaus hat sich eine Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung entwickelt, aus der heraus unterschiedliche Sprachen und Schulen entstanden sind, die einer einheitlichen Standesausbildung eher entgegenstehen. Hinzu kommen Zielsetzungen am Rande des diagnostischen und therapeutischen Geschehens, die möglicherweise mit den Erfordernissen von Diagnose und Therapie konfligieren. Schon die biomedizinische Forschung steht häufig vor dem Problem, dass der Mediziner mal Arzt, mal Forscher und das involvierte Subjekt mal Patient, mal Proband ist. Die Doppelfunktionen mit unterschiedlichen Zielrichtungen führen zwangsläufig zu Interessenkonflikten. In der klinischen Praxis und der Praxis der niedergelassenen Ärzte kommt hinzu, dass der Arzt zunehmend in die Rolle des Unternehmers gedrängt wird, die ganz anderen Spielregeln und Sprachspielen gehorchen muss als die genuine Rolle des Arztes. Schließlich ist die Berufsgruppe der Ärzte eher Spiegelbild einer großen Spanne von Normen und Werten der Gesellschaft, in der sie tätig ist. Genau an dieser Stelle sind unsere modernen Gesellschaften ständig in Bewegung. In einer pluralen Gesellschaft entwickeln sich Bedürfnisse und Präferenzen, die eben auch – aufgrund der technisch-wissenschaftlichen Kenntnisse – an die medizinische Profession herangetragen werden. Wenn es ein Bedürfnis nach ästhetischer Körperverbesserung gibt oder auch nach einer Steigerung der Leistungsfähigkeit im Sport, und die Medizin hierfür Mittel zur Verfügung stellt, dann kommen auch beide zusammen. Umgekehrt werden bestimmte Bedürfnisse auch erst durch ein Angebot seitens der Medizin geweckt oder zumindest verstärkt. Aus der Perspektive einer ethosgebundenen ärztlichen Praxis besteht jedoch ein großer Unterschied darin, ob für eine Erfolg versprechende Vorsorgeuntersuchung oder aber für einen nicht-indizierten ästhetisch-chirurgischen Eingriff geworben wird. Für die Vermeidung einer Vermischung ökonomischer mit medizinischen Kriterien sind die gegenwärtigen Rahmenbedingungen denkbar schlecht. Der Chefarzt Ottmar Leidner fragt im Deutschen Ärzteblatt: »Hat ein Chefarzt, der morgens in den Börsennachrichten erfährt, dass seine Klinikgruppe ein Rekordergebnis eingefahren hat, Grund sich auf die Schultern zu klopfen? Oder hadert er mit sich, weil er nicht mehr finanzielle Mittel für die Versorgung seiner Patienten abgezweigt hat?« (Leidner 2009: A1457) Durch die Ökonomisierung der Medizin und die Schwierigkeiten bei der Allokation von knappen Ressourcen im Gesundheitswesen entwickeln sich ›Zubrote‹ sowohl bei niedergelassenen Ärzten als auch bei Kliniken. Die Individuellen Gesundheits-Leistungen (IGeL) sollen die Praxis, die ästhetische Chirurgie und die Klinik betriebswirtschaftlich überleben lassen. Je breiter eine gesellschaftliche 263

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Zustimmung für nicht mehr unmittelbar gesundheitsrelevante Leistungen wird, desto weniger Möglichkeiten berufsethisch motivierter Sanktionen wird es geben. Die Tendenzen der Ökonomisierung der Medizin und die gesteigerten Ansprüche in der Gesellschaft scheinen eine zunehmende Integration von Enhancement und Anthropotechniken in das ärztliche Handeln zu fördern. Doch bei alledem müssen Ärzte und Gesellschaft sich darüber im Klaren sein, welchen Preis sie langfristig dafür werden zahlen müssen. In der Konsequenz wird man nicht mehr wissen, ob der Arzt eine Leistung aus einer medizinischen Indikation heraus anbietet oder aus einer ökonomischen Notwendigkeit für die eigene Praxis. Man wird auch nicht sicher sein können, ob der behandelnde Arzt den Facharzt empfiehlt, der entsprechende fachliche Referenzen ausweist oder weil es bilaterale Verträge zwischen den Praxen gibt. Die ZEKO schreibt, dass insbesondere Werbung dann ethisch inakzeptabel ist, »wenn sie geeignet ist, den Patienten zu einer seiner Gesundheit nicht förderlichen Verhaltensweise oder Behandlung anzuregen (ZEKO 2010)«. Das Spezifische des ärztlichen Standes, sein berufsethischer Kern, droht zu zerfransen, wenn Ärzte beginnen, sich über solch grundsätzliche berufsethische Maßgaben hinweg zusetzen. Berufsethische Selbstregulationen werden dann kaum noch möglich sein. Will man das Ansehen und den gesellschaftlichen Status des Arztberufs erhalten, dann ist ein öffentlich nachvollziehbarer und Vertrauen schaffender Umgang mit Interessen- und Zielkonflikten eine zwingende Anforderung (vgl. Klemperer 2008). Das Leitbild des Arztberufs findet sich in den einschlägigen Richtlinien und Deklarationen. So heißt es in der Genfer Deklaration des Weltärztebundes: »Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.« Alle sekundären Interessen wie diejenigen, die geprägt sind durch andere Zielsetzungen, etwa Enhancement, und die in der Regel damit verbundenen ökonomischen Interessen, sind hiervon zu trennen.

6. Spezifikation des Ethos durch Zielbindung Wenn der Mensch mit seiner Natur, zu der er sich verhalten und in die er deshalb diagnostisch und therapeutisch eingreifen kann, zugleich unaufhebbar identisch ist, sind der Möglichkeit der Intervention nicht nur Räume eröffnet, sondern mit Blick auf die Wahrung der dem Menschen eigenen Identität auch Grenzen gesetzt. Nicht nur Manipulation von außen führt zu Entfremdung und Identitätsverlusten. Insofern sind auch außerhalb der Medizin, aus Respekt vor der personalen Identität, Ein264

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griffen in die Natur Grenzen gezogen. Es bleibt dann im Kontext der verschiedenen Handlungsfelder zu diskutieren, welche Selbstgestaltung im Einzelfall die menschliche Natur in ihrem Wesenskern trifft, d.h. wann nicht mehr von Gestaltung gesprochen werden kann, sondern von Manipulation. Dies ist verbunden mit der Frage, welche Form von Fragilität und Kontingenz für einen gelungenen Lebensentwurf notwendig ist. Einmal mehr erweist sich die Schwelle zwischen medizinisch Machbarem und medizinisch Verantwortbarem, zwischen Selbstgestaltung und Selbstverlust als schwer zu definieren. Zweifelsohne wird sie ständig verschoben. Aber gibt es einen unverrückbaren Wesenskern, vor dem die Anwendung von Anthropotechniken in individueller und kollektiver Verantwortung zurückschrecken muss (vgl. Böhme 1990: 1416)? Bleibt der Mensch bei jeder Manipulation noch Mensch oder wird er zum Cyborg oder Homo sapiens transhumanus? Kann dann Enhancement als eine Behandlung verstanden werden, die zwar über Therapie hinausgeht, die aber mal Gestaltung, mal Manipulation sein kann (vgl. Lanzerath 2002)? Diese Frage ist nicht identisch mit der Frage, wer dies denn bezahlen soll. Hier sind also noch erhebliche bioethische und biopolitische Debatten zu erwarten. Angeregt durch Bio- und Medizintechniken und verführt durch Utopien menschlicher Vervollkommnung erstreben wir mit ärztlicher Hilfe eine Art ›zweite Gesundheit‹ indem wir unsere natürliche Natur – die wir dann nicht mehr als aufgegebene Kontingenz, sondern als defizitärkrankhaft empfinden – zu überwinden trachten. Wenn man jedoch Gesundheit und Krankheit nicht einfach naturalistisch auf Körperfunktionen oder -eigenschaften reduziert, sondern sie als Grundkategorien menschlichen Daseins und als praktische Begriffe versteht, die im Handeln und existenziellen Entwerfen sowohl unser individuelles Selbstverhältnis als auch unseren gesellschaftlichen Standpunkt in elementarer Weise mitbestimmen, dann tragen sie entscheidend zum Verständnis der Medizin und der dort zuständigen Akteure bei. Als ein fundamentales individuelles Gut zählen wir Gesundheit zu den Elementar- oder Primärgütern. Und in dem Maß, in dem nicht nur der besondere Charakter des Gutes Gesundheit erkannt wurde, sondern durch Entwicklung der ärztlichen Kunst auch wirksame Verfahren entwickelt wurden, die Gesundheit zu bewahren oder wiederherzustellen, ist Gesundheit zu einem sozialen Gut und damit zum Gegenstand staatlicher Für- und Vorsorge geworden. Für das Arzt-Patient-Verhältnis ist es daher förderlich, den Krankheitsbegriff als einen Handlungsbegriff zu verstehen. Ein solch praktischer Krankheitsbegriff orientiert sich daran, Kranksein als eine Weise des Menschseins so zu fassen, dass die kommunikative Kompo265

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nente des seine Befindlichkeit mitteilenden Menschen wesentlich zur Konstitution von Krankheit gehört. Dabei erweist sich der Arzt als jene Instanz, die dem um Selbstauslegung bemühten Kranken nicht nur im engeren Sinne therapeutische, sondern auch – gegen technizistische Verkürzungen – hermeneutische Hilfestellung gibt. Diese Funktion macht den Krankheitsbegriff zu einer Größe, die in einer durch nichts zu ersetzenden Weise das ärztliche Handeln spezifiziert, legitimiert und limitiert. Ein solcher praktischer Krankheitsbegriff kann dazu beitragen, dass Medizin weiterhin berechenbar bleibt, das Vertrauen zwischen Arzt und Patient stabilisiert wird und die innovativen Möglichkeiten moderner biomedizinischer Forschung im Rahmen von Diagnose und Therapie genutzt werden können, ohne dass die mit ihnen verbundenen Risiken eskalieren, die Medizin zur ›Anthropotechnik‹ wird, der Arzt zum reinen Dienstleister und die Medizinethik nur noch Technikfolgenabschätzung sein würde. Ohne eine solche Orientierung, also die Orientierung an praktisch verstandenen Krankheits- und Gesundheitsbegriffen, die bislang ihr Handlungsfeld umreißen, verlöre die Medizin ihr Zentrum. Ein solches ›ärztliches‹ Handeln könnte schließlich marktgerecht über Angebot und Nachfrage geregelt und das bislang an die ärztliche Teleologie gebundene Arzt-Patient-Vertrauensverhältnis durch ein reines, individuelles Vertragsverhältnis ersetzt werden. Es bleibt zu fragen, ob die Gesellschaft ein Interesse an einer derartigen Rolle des Arztes als Serviceleister hat, und wie sich diese Rolle zur Garantenstellung des Arztes verhält.

Ausblick Freilich ist die Medizin als Teil einer Kommunität gesellschaftlichen Werten, politischen und ökonomischen Kalkülen ausgesetzt. Mannigfache Geschmäcker, Wünsche und Phantasien beeinflussen die Ziel- und Prioritätensetzung in der Medizin. Gesellschaftliche Ziele und medizinische Ziele verweisen aufeinander und müssen gleichermaßen reflektiert werden. Bislang hat jedoch nicht nur das Arzt-Patient-Verhältnis hohe Anforderungen an ein vertrauensvolles Miteinander gestellt, sondern auch die Berufsausübung der Ärzte insgesamt genießt in der Gesellschaft eine Sonderstellung aufgrund dieses Vertrauens in klare Zielsetzungen, die überhaupt erst ein hohes Maß an Selbstregulation und Selbstbindung zulassen. Dass die Ärzteschaft auch in diesem Feld um Selbstbindung bemüht bleibt, davon zeugen die beiden jüngeren Stellungnahmen der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommissi266

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on) bei der Bundesärztekammer (vgl. ZEKO 2009; ZEKO 2010). Patienten erwarten, dass sich die Ärzte in erster Linie um ihre Gesundheit kümmern. Sekundäre Ziele und Interessen gefährden dieses Ansinnen, wenn keine klaren berufsethischen Grenzen gezogen werden (vgl. Klemperer 2008).

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Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe – am Beispiel von Indikation und Information REINHARD DAMM

I. Ärztliches Handeln: Indikation – Information – Legitimation Informed consent und Indikation stellen medizinrechtlich nicht nur normative Basisgrößen des Arzt-Patient-Verhältnisses unter anderen dar. Vielmehr bilden sie zusammen mit der Arztpflicht zu standardgemäßer Behandlung die »Kernstücke ärztlicher Legitimation«.1 Information und Indikation sind also nach überkommenem Verständnis die normativen Grundvoraussetzungen einer medizinischen Intervention beim Patienten. Allerdings sind insofern aktuelle Tendenzen der Problematisierung und Relativierung zu beobachten. Dies steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Relativierung der traditionellen Indikationsmedizin und einem Bedeutungszuwachs einer medizintechnisch induzierten und gesellschaftlich rezipierten Wunschmedizin. Von dieser Entwicklung sind unter den medizinrechtlichen Leitprinzipien das Indikationskonzept und das informationelle Konsensprinzip am stärksten betroffen. Dabei ist es auf den ersten Blick paradox, dass sich eine Diskussion über Leistungsexpansion und Subjektivierung medizinischer Handlungsgründe, ausgerechnet in Zeiten der Knappheit einerseits und der Objektivierung der Medizin durch immer strengere Evidenz- und Effizienznachweise andererseits, entwickelt. Grundlegende Probleme resultieren aus dem Umstand, dass die Medizin zunehmend in Zustände und Befindlichkeiten 1

Laufs 1993: Rz. 690. 271

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des Menschen intervenieren kann, die vordem nicht dem KrankheitsGesundheits-Schema zugeordnet wurden. Einige insofern repräsentative medizinische Handlungsfelder werden in diesem Beitrag noch näher betrachtet. Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden um Information und Indikation im Kontext medizinrechtlichen Handelns und insbesondere um die wechselseitige Verknüpfung dieser beiden Basiskonzepte. Eine besonders dringliche Frage bezieht sich darauf, ob Eindeutigkeitsverluste des Indikationskonzepts eine Kompensation durch Information erfahren können.

1. Indikation: objektive Kriterienbildung Auf der fachwissenschaftlichen Handlungsebene wie auch der rechtlichen Normebene kommt der Indiziertheit einer medizinischen Maßnahme und damit dem Begriff der medizinischen Indikation als Normkonzept zentrale Bedeutung zu. Als Indikation gilt der »Grund zur Anwendung eines bestimmten diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens in einem Krankheitsfall, der seine Anwendung hinreichend rechtfertigt«.2 Der gute »Grund« und die »hinreichende Rechtfertigung« einer Verfahrensanwendung werden jedenfalls nach überkommenem Verständnis aus objektiv medizinwissenschaftlicher Kriterienbildung bezogen. »Die ärztliche Profession entwickelt auf der Grundlage medizinischer Wissenschaft und ärztlicher Erfahrung diagnostische und therapeutische Behandlungsstandards, die bei Vorliegen eines definierten Krankheitsbildes eingesetzt werden, die m.a.W. indiziert sind. Der Arzt ist durch seine professionellen Sorgfaltspflichten daran gebunden, bei medizinisch definierten Situationen definierte Behandlungsmethoden auszuwählen und diese fehlerfrei auszufüh3 ren.«

Nun bezieht sich die Indikation zwar immer auf den konkreten Patienten. Aber, dies ist von zentraler Bedeutung, die Indikation findet ihre Ausgangsbegründung in dem vom ärztlichen Sachverstand vorzuhaltenden medizinischen Wissen über kausale Wirkzusammenhänge. Damit wird auch einem Missverständnis vorgebeugt: Natürlich umfasst die »Objektivität des Indikationsbezugs auch und gerade die individuelle Situation des je betroffenen Patienten. Und dass medizinwissenschaftliche Objektivierung nicht Beschränkung auf harte Labordaten impliziert, versteht sich von selbst. 2 3

Pschyrembel 2004: Stichwort »Indikation«. Francke 1994: 42.

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2. Informed consent: subjektiver Autonomiebezug Informed consent, also die informierte Einwilligung des Patienten in die Behandlung, gilt als Leitprinzip und Prüfstein des Arzt-PatientVerhältnisses. Und das durch dieses Prinzip zu sichernde Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist auch rechtlich »fundamentale Orientierungsnorm«4 die durch Verfassungsrecht wie einfaches Recht zum zentralen »normativen Bezugspunkt«5 erhoben wird. Die Aufwertung von nicht nur Integrität, sondern auch von Information und Autonomie in der Medizin gilt danach nicht nur für den in dieser Hinsicht auch aus historischen Gründen besonders sensiblen Bereich der medizinischen Forschung, sondern auch für das individuelle ArztPatient-Verhältnis. Es können so medizinische Interventionen ihre rechtliche Legitimation grundsätzlich nur aus der freiwilligen Zustimmung des zuvor hinreichend über die für seine Entscheidung relevanten Sachfragen informierten Patienten beziehen. Rechtliche Entwicklung wie derzeitige Rechtslage sind einigermaßen komplex und hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen. Es wird danach jedenfalls einerseits die medizinische Indikationsstellung nicht der Patientenselbstbestimmung zugewiesen und andererseits die Entscheidung über die Behandlungsdurchführung nach Indikationsstellung nicht der professionellen Kompetenz des Arztes überantwortet. Damit ist eine grundsätzliche Differenzierung zwischen Indikations- und Entscheidungsebene bezeichnet, die für die weitere Entwicklung sowohl der Medizin als Fachwissenschaft als auch des einschlägigen Medizinrechts, darüber hinaus auch der gesellschaftlich wünschbaren Medizinkultur von zentraler Bedeutung sein wird.

3. Information und Indikation als Verbundkomplex Mehr als Information und Indikation je für sich interessieren Verknüpfung und Wechselbezüglichkeit beider Normkonzepte. Insofern sind zunächst tradierte medizinrechtliche Grundsätze berührt. Im Übrigen geht es um die Frage nach neuen, möglicherweise paradigmatischen Entwicklungstendenzen, die das Verhältnis von Information und Indikation graduell oder gar prinzipiell umgestalten könnten. Im Medizinrecht wird nicht nur allgemein von einem Problemverbund zwischen Indikation und Information ausgegangen, sondern spezifischer auf eine »Formel vom reziproken Zusammenhang zwischen In-

4 5

Anselm 2002: 71, 76. Höfling/Lang 1999: 17. 273

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dikation und Aufklärungspflicht«6 abgestellt. Insofern wird eine gradualisierte Wechselbeziehung zwischen Indikation und ärztlicher Aufklärungspflicht häufig so formuliert: »Je dringender die Indikation, je notwendiger der Eingriff, desto leichter wiegt die Aufklärungspflicht«7 Und umgekehrt: »Je weniger dringlich der Eingriff sich nach medizinischer Indikation und Heilungsaussicht in zeitlicher und sachlicher Hinsicht für den Patienten darstellt, desto intensiver hat die Aufklärung zu sein«.8 Als Zwischenfeststellung kann danach festgehalten werden: Eindeutigkeitsverluste der Indikation führen nach diesem Normkonzept grundsätzlich zu einem Bedeutungszuwachs der informationellen Dimension im Rahmen des Arzt-Patient-Verhältnisses. In dem Maße, in dem die Orientierungskraft der Indikation als im Ausgangspunkt objektiver fachwissenschaftlicher Steuerungsgröße relativiert erscheint, kommt es zu einer Aufwertung subjektiver Patientenorientierung im Entscheidungsprozess. Die damit herausgestellte Wechselbezüglichkeit von Indikation und Information ist bereits mit Blick auf die überkommene Medizin- und Medizinrechtsentwicklung ein wichtiges, wenn auch mitunter nicht angemessen gewürdigtes Faktum. Wichtiger sind aber Entwicklungstendenzen der modernen Medizin, namentlich der sogenannten Biomedizin, in denen dieser Zusammenhang in gewissermaßen radikalisierter Form zur Diskussion steht. Repräsentativ sind insofern etwa Fortpflanzungsund Genmedizin. Eine Eigenart dieser Medizinsektoren besteht darin, dass die (Mit-) Entscheidungskompetenz, aber damit auch Entscheidungsverantwortung des Patienten nicht nur eine erhebliche Aufwertung erfahren hat, sondern in den Mittelpunkt des medizinischen Geschehens und der hierauf bezogenen Normbildungsprozesse rückt. Dem liegen zahlreiche und teilweise komplexe Entwicklungen zugrunde. Dazu ge6 7 8

Laufs 1993: Rz. 200. Laufs 1993: Rz. 198. Katzenmeier 2002: 328. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die erste Regel problematisch ist: Bei hoher Dringlichkeit der Behandlung wiegt die Aufklärungspflicht kaum leichter, es ist aber je nach Situation, etwa aus zeitlichen Gründen, eine Beschränkung des Aufklärungsumfangs in Betracht zu ziehen. Es kann daher auch bei vitaler Indikation die ärztliche Aufklärung nicht eigentlich in ihrer Bedeutung relativiert, sondern nur in ihrer Ausführlichkeit reduziert werden; ausführlicher Damm 1989: 737 (741). Ein auch praktisch sehr relevantes Einzelproblem betrifft die Wahl der Behandlungsmethode beim Bestehen echter Behandlungsalternativen. Bereits vor Jahrzehnten ist hierzu als eine der »Grundregeln zur Aufklärungspflicht des Arztes nach deutschem Recht« formuliert worden: »Je fraglicher die Indikation erscheint, weil eine sinnvolle Alternative in Betracht kommt, desto strengeren Maßstäben soll die Instruktion des Patienten im Dienste des ›informed consent‹ genügen«, Kern/Laufs 1989: 194.

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hören die Expansion medizintechnischer Möglichkeiten, damit einhergehende Grenzverwischungen und Eindeutigkeitsverluste von Gesundheit und Krankheit9, zunehmende nichtmedizinische Folgen medizinischer Interventionen, schließlich auch Konsensverluste hinsichtlich einschlägiger gesellschaftlicher Wertorientierungen bei der Entscheidung über den Einsatz medizinischer Optionen. Es nimmt damit auch die Bedeutung informationeller und konsensualer Elemente medizinischen Handelns zu und es kommt gleichzeitig zu einem Bedeutungszuwachs und Problemzuwachs des Indikations-Informations-Komplexes. Zu den zentralen Fragen der modernen Medizin gehört die, ob und in welchem Maße medizinisches Handeln überhaupt noch an eine spezifisch medizinische Indikation im traditionellen Verständnis gebunden bleibt, sowie zugleich die Frage, ob und in welchem Maße Indikationsverluste durch Informationsgewinne kompensiert oder gar ersetzt werden könnten.

II. Medizinische Handlungsfelder zwischen Indikations- und Wunschmedizin Das Gewicht der Frage nach den Entwicklungsperspektiven von Indikation und Information bestimmt sich danach, ob sie nur singuläre Aspekte oder repräsentative Querschnittsprobleme betrifft. Damit geht es um die medizinischen Handlungsfelder, auf denen sich diese Frage mit besonderer Dringlichkeit stellt. Nicht zufällig handelt es sich dabei insbesondere um Sektoren der modernen Medizin, in denen Gewissheitsverluste des Indikationskonzepts und Bedeutungszuwächse des informationellen Konsensprinzips auszumachen sind.

1. Fortpflanzungsmedizin a) »Assistierte Reproduktion« Im Bereich der »assistierten Reproduktion«10 oder auch »medizinisch unterstützten Fortpflanzung«11 ist der Elternwunsch nach einem Wunschkind zur prägenden Metapher geworden. Die zunehmende medi9 Dazu aus medizinethischer Sicht Lanzerath 2000. 10 Hierzu etwa die von der Bundesärztekammer formulierten »Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion«, Bundesärztekammer 1998: A 3166. 11 So die Terminologie in Bundesgesundheitsministerium 2001, 85 ff., 153 ff., 255 ff. 275

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zintechnische Steuerbarkeit der menschlichen Fortpflanzung und die ebenfalls wachsende technische Verfügbarkeit menschlicher Keimzellen und Embryonen wirft sowohl Fragen nach der (ethischen und rechtlichen) Zulässigkeit als auch nach der (wirtschaftlichen und leistungsrechtlichen) Zugänglichkeit mancher Technikvarianten auf. Danach stellt sich das Indikationsproblem auf mehreren Ebenen.

aa) Zulässigkeitsebene Auf der Zulässigkeitsebene geht es um Zugangsrechte und Zugangsgrenzen. Verfügbarkeit und Akzeptierbarkeit von Medizintechnik können auseinanderfallen. So gibt es medizintechnisch verfügbare, aber normativ problematische oder gar verbotene Optionen. Insofern sei auf die international unterschiedliche Rechtslage zu Präimplantationsdiagnostik, Leihmutterschaft und Eizellenspende verwiesen. Es kommt hier zu Konflikten zwischen expandierenden medizinischen Optionen und restriktiver rechtlicher Regulierung. Dies betrifft bereits die terminologische Fassung des Indikationsbegriffs: ist eine technisch verfügbare medizinische Option auch bei normativer Unverfügbarkeit indiziert? Vertreter der Reproduktionsmedizin scheinen dies als unproblematisch zu unterstellen, wenn etwa von den »Indikationen zur Eizellspende« im Sinne einer »wissenschaftlich begründeten Behandlungsform«12 die Rede ist. In einer solchen Sichtweise wird die technische Option als faktische Handlungsmöglichkeit mit der Indikation gleichgesetzt. Es ist hervorzuheben, dass Befürworter eines liberaleren Fortpflanzungsmedizinrechts mit dem Plädoyer für die Zulassung bisher verbotener Techniken sich auch ihrerseits wieder mit der Indikationsproblematik konfrontiert sehen. So wird beispielsweise das Votum für eine grundsätzliche Zulässigkeit der Eizellspende mit deren Bindung an eine »strenge medizinische Indikation« verknüpft.13 Zur weiteren Entwicklung ist dann hier wie anderenorts der Kampf um die Erweiterung des Indikationskatalogs in Betracht zu ziehen. Dabei geht es auch in Deutschland um grundsätzliche Fragen der Verfügbarkeit und Öffnung bislang unzulässiger Reproduktionsmethoden. Zu diesen gehört das Postulat, dass über ein Recht zur Fortpflanzung hinaus ein »Recht auf Fortpflanzungsmedizin« als subjektives Recht in Gestalt eines »positiven Anspruchsrechts auf medizinische Ressourcen« in Betracht zu ziehen sei.14

12 Karotzke 2001: 122 (128, 130). 13 Vgl. Karotzke 2001: 131; Nieschlag et al. 2001: 109 (112, 121). 14 Krones et al. 2006: 51 (53). 276

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ab) Teilhabe- oder Leistungsebene Mit einem solchen Anspruchsrecht ist bereits die Teilhabe- oder Leistungsebene berührt, auf der sich die Indikationsproblematik ebenfalls stellt. Hier geht es um Patientenrechte als Leistungsrechte auf Finanzierung medizinischer Behandlung. Einschlägige Probleme stellen sich sowohl im sozial- als auch privatversicherungsrechtlichen Sektor. Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung hat der Patient Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen oder zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 I,1 SGB V). Die künstliche Befruchtung hat allerdings bezeichnenderweise eine gesetzliche Sonderregelung erfahren, die rechtspolitisch und rechtspraktisch zahlreiche Sonderprobleme aufwirft. (§ 27a SGB V). In bemerkenswerter Parallelität ist seitens der Ziviljustiz für die Privatversicherung entschieden worden.15 Der privatversicherungsrechtlich sogenannte »Versicherungsfall« und damit die Erstattungsfähigkeit liegen vor bei medizinisch notwendiger Heilbehandlung wegen Krankheit und Unfallfolgen (§ 1 II MBKK). Ein Anspruch auf Kostenerstattung hängt danach vom Vorliegen einer Krankheit, einer hierauf bezogenen Heilbehandlung und deren medizinischer Notwendigkeit ab. Auch insofern geht es um die Auslegung dessen, was als »medizinisch notwendige Heilbehandlung« anzusehen ist, also in der Sache ebenfalls um die Indikation.16 Nach der einschlägigen Rechtsprechung ist die In-vitroFertilisation mit anschließendem Embryotransfer grundsätzlich als notwendige und daher erstattungsfähige Heilbehandlung anzusehen. Dabei betont der Bundesgerichtshof auch in diesem Zusammenhang, dass »als Krankheit unabhängig von den subjektiven Vorstellungen des Versicherungsnehmers ein objektiv nach ärztlichem Urteil bestehender anomaler Körper- oder Geisteszustand zu verstehen« sei.17 So weit, so gut. Aber: In unmittelbarem Anschluss hieran kommt es dann zu einer Gratwanderung zwischen objektiven und subjektiven Elementen, zwischen Krankheits-, Heilbehandlungs- und Indikationsbegriff sowie dem Gewicht der Patientinnenautonomie. Ich zitiere noch einmal den BGH: »Das körperliche Leiden der Klägerin besteht [...] nicht in ihrer Kinderlosigkeit und nicht (nur) in ihrer Eileiteranomalie. Die fehlende Fortpflanzungsfä-

15 Bundesgerichtshof 1987: 228; vgl. ausführlich hierzu Damm 2006b: 730; Damm 2007: 335. 16 So die Formulierung im Leitsatz von Bundesgerichtshof 1987: 228 und in den vom Gericht zitierten Versicherungsbedingungen der privaten Krankenversicherung. 17 Bundesgerichtshof 1987: 228 (230) (Hervorhebungen hinzugefügt). 277

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higkeit betrifft zwar nicht in dem Sinne eine vitale körperliche Funktion, daß die Kranke nicht auch ohne diese Fähigkeit weiterleben könnte. Jedoch entzieht sich der in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gefaßte Entschluß von Ehegatten, ein gemeinsames Kind zu haben, der rechtlichen Nachprüfung auf seine Notwendigkeit. Daher ist es schon im Ansatz verfehlt, die Frage nach der ›Notwendigkeit‹ der Erfüllung des Wunsches nach einem von den Eheleuten stammenden Kind zu stellen.«18

An dieser Stelle wäre hinsichtlich der medizinrechtlichen Begriffsbildung eine genauere Zuordnung der Aspekte Selbstbestimmungsrecht und Wunscherfüllung zwischen Information und Indikation wünschenswert gewesen.

b) Pränataldiagnostik So intensiv wie kaum in einem anderen Bereich ist für die pränatale Diagnostik das Indikationskonzept einschließlich seiner Verknüpfung mit der Informations- und Selbstbestimmungsproblematik auf fachwissenschaftlicher, ethischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Ebene diskutiert worden. Insgesamt besteht auf diesem Gebiet ein besonders deutlich ausgeprägtes Spannungsverhältnis zwischen Indikationsmedizin und Wunschmedizin. Diese Diskussion findet, in Formulierungen etwa der EnqueteKommission »Recht und Ethik der modernen Medizin«, vor dem Hintergrund eines »dramatischen Anstiegs«19 der Anwendung dieser Diagnostik statt. Insofern geht es um die Gleichzeitigkeit einer »Ausweitung des Indikationskatalogs« und einer »gesteigerten Nachfrage durch Schwangere«20, einer »Aufweichung der Altersindikation« bei gleichzeitiger »Ausweitung der ›psychologischen Indikation‹«.21 Es wird von fachwissenschaftlicher Seite eine Entwicklung beschrieben, die sich aufgrund des Nachfragedrucks vor allem seitens junger und gut ausgebildeter Frauen der oberen Mittelschicht und Oberschicht vollzog. Diese Frauen »akzeptierten die bestehende Definition des Altersrisikos nicht und versuchten entweder die Grenze für die geltende Altersindikation zur PND für sich persönlich zu senken oder völ-

18 Bundesgerichtshof 1987: 228 (234), mit Hinweis auf insoweit abweichende Rechtsprechung (Hervorhebungen hinzugefügt). 19 Enquete-Kommission 2002: 176; dort auch Angaben zur quantitativen Entwicklung und den Steigerungsraten einzelner Methoden der Pränataldiagnostik, 159, 162 f. 20 Nippert 2001: 293 (295). 21 Zitate aus Enquete-Kommission 2002: 156, 158. 278

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lig zu umgehen«.22 Im Ergebnis »unterminierte die Anpassung der Indikation zur PD an die Nachfrage im gewissen Sinn das Konzept der medizinischen Indikation, das sich an der Höhe des Risikos orientiert«.23 Für den Bereich der Gendiagnostik gelten teilweise besondere Grundsätze und nunmehr das Gendiagnostikgesetz als Sondergesetz. Darauf wird später noch einmal zurückgekommen.

2. Sektio auf Wunsch Der Begriff der Indikation hat in der Geburtshilfe lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt, war er doch reserviert für Fälle einer drohenden oder eingetretenen Geburtskomplikation.24 In den Ländern der sogenannten Ersten Welt ist es jedoch in den letzten 20 Jahren zu einer Verdoppelung der Sektiorate gekommen, die weder medizinisch noch statistisch ohne weiteres erklärt werden kann.25 Zu Recht wird von medizinischer Seite darauf verwiesen, dass die damit angedeuteten Entwicklungstendenzen keineswegs auf bloß isolierten Verhaltens- und Orientierungsänderungen hinsichtlich der Schnittentbindung beruhen. Vielmehr konnte erst die Veränderung komplexer Rahmenbedingungen zu dieser Steigerung der Sektiorate führen. Insofern wird auf die Reduktion von Mortalität und Morbidität bei der Sektio einerseits und die zunehmende Sensibilisierung für Probleme der vaginalen Geburt andererseits verwiesen, aber auch auf den forensischen Druck auf die Ärzteschaft sowie die zunehmende Bedeutung des Patientenwillens.26 Dem kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. An dieser Stelle ist von entscheidender Bedeutung, dass mit Blick auf das auch hier unter Druck geratene Indikationskonzept von einem »Paradigmenwechsel« und »tiefgreifenden Wandel in der Geburtshilfe«27 die Rede ist. Die Frage, wie eine Geburt zu erfolgen hat, unterliegt wie auch andere Bereiche der Medizin einer sich wandelnden gesellschaftlichen Bewertung.28 Die Entwicklung der Geburtshilfe hat zu einem Mehr an Technisierung und

22 Nippert 2001: 295; Enquete-Kommission 2002: 167. 23 Nippert 2001: 295; die Enquete-Kommission 2002: 179, stellt bündig fest: »Die Erfahrungen mit der PND zeigen, dass der Versuch der Begrenzung auf bestimmte Indikationen [...] gescheitert ist.« 24 Die vaginale Geburt wurde und wird von der Rechtsprechung als Methode der ersten Wahl angesehen, so etwa in BGH 1993: 703 f.; hierzu näher Becker-Schwarze 2001: 1 (4). 25 Husslein/Langer 2000: 849 (850). 26 Husslein/Langer 2000: 850 f. 27 Husslein/Langer 2000: 850. 28 Bockenheimer-Lucius 2002: 187 f. 279

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Technikgläubigkeit auch in diesem Medizinbereich geführt.29 Der Konflikt zwischen Technik und Natürlichkeit hat in der aktuellen Diskussion um Wunschsektio und Indikation einen neuen Höhepunkt erreicht. In dieser medizinisch, medizinethisch und medizinrechtlich geführten Debatte spielt die Neubewertung des Indikationsbegriffes und der Stellenwert der Information der Schwangeren eine zentrale Rolle.30 Dabei wirft die Unterscheidung zwischen indizierter Sektio und Wunschsektio auch deshalb Probleme auf, weil die quantitative Ausweitung der elektiven Sektio nicht zuletzt über die verstärkte Anerkennung »relativer« Indikationen erfolgt ist.31 Es ist aufschlussreich, dass mittlerweile auf drei Varianten dieser Ausweitung verwiesen wird: Erweiterung der medizinischen Indikation, psychische Indikation und Wunschsektio im engeren Sinne nach unkomplizierter Schwangerschaft und ohne Vorliegen irgendeiner medizinischen oder psychischen Indikation.32 Es spannt sich ein »weiter Bogen von zwingenden medizinischen Indikationen bis zu mehr oder weniger ausschließlichem Patientenwunsch«.33 Durch die unter Geburtshelfern teilweise bevorzugte Bezeichnung als elektive Sektio wird dieser Patientenwunsch und der frei gewählte Charakter des Eingriffs unterstrichen, »das Problem der Indikation jedoch verschleiert«.34 Aufschlussreich ist denn auch das fachwissenschaftliche Postulat, wonach die Wunschsektio vor dem Hintergrund der Veränderungen in der medizinischen Bewertung von Vaginalund Schnittentbindung und der zunehmenden Bedeutung des Patientenwillens auch bei »Fehlen jeglicher medizinischer Notwendigkeit« und daher »ohne Vorliegen medizinischer Indikation« einsetzbar sein 29 Eldering 1999: 31 ff. 30 Bockenheimer-Lucius 2002: 188. 31 So auch Becker-Schwarze 2001: 2, die darauf hinweist, dass die rechtliche Auseinandersetzung in der Praxis gerade durch die Ausdehnung »relativer« Indikationsstellungen umgangen werde. 32 Husslein/Langer 2000: 850, mit Konkretisierungen in medizinischer Hinsicht; Bockenheimer-Lucius 2002: 191 f., weist daraufhin, dass auch die Wunschsektio nicht als völlig indikationslos angesehen werden könne, da der Wunsch der Frau zumeist auf realen Befürchtungen und nicht auf einer Laune beruhe. Insofern muss allerdings angemerkt werden, dass der Begriff der Indikation auf diesem Wege aus seinem medizinisch-fachwissenschaftlichen Kontext herausgelöst wird. 33 Husslein/Langer 2000: 850; zu den im herkömmlichen Sinne absoluten Indikationen der Sektio etwa die Beiträge von Husslein/Langer 2000; Bockenheimer-Lucius 2002: 189, einschließlich des Hinweises, dass auf diese absoluten Indikationen (etwa lebensbedrohliche Blutungen oder Ruptur der Nabelschnur) etwa 10% aller Kaiserschnitte entfallen und dass es sich bei den verbleibenden 90 % aller Schnittentbindungen um relative Indikationen handele. 34 Bockenheimer-Lucius 2002: 190. 280

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sollte, aber dann zugleich kompensatorisch und »zwangsläufig eine besonders aufwendige Aufklärung« für erforderlich gehalten wird.35 Dies entspricht jedenfalls in der Grundtendenz dem rechtlichen Votum, wonach »das Minus auf Seiten der Indikation durch ein Plus an Aufklärung ausgeglichen werden (muß)«.36 Auch dieses Kompensationskonzept kommt allerdings nicht an dem Umstand vorbei, dass ihm eine Relativierung des Indikationskonzepts zugrunde liegt – oder gar schon seine Verabschiedung in einem wichtigen Medizinbereich? Insofern steht für den Bereich der Geburtshilfe die Medizinererwägung im Raum: »Vielleicht müssen wir daher umdenken und den bisher als unantastbar geltenden Begriff der Indikation ein wenig in Frage stellen«.37 Allerdings wirft dieses Infragestellen des Indikationsbegriffs weitreichende Folgefragen für Medizin und Medizinrecht auf, deren genauere Formulierung, geschweige denn Beantwortung, noch kaum aufgenommen worden ist.

3. Transplantationsmedizin Besondere Bedeutung kommt dem Indikationskonzept im Zusammenhang der Transplantationsmedizin und ihrer rechtlichen Verfassung zu. Dabei sind zwei Bereiche mit gänzlich unterschiedlichen Problemstellungen zu unterscheiden. So geht es einmal um die Frage, wann eigentlich von einer Indikation für eine Organtransplantation auszugehen ist, zum anderen um den besonders problematischen Stellenwert medizinischer und informationeller Voraussetzungen der Lebendspende. In beiden Bereichen stellen sich sowohl auf medizinischer als auch rechtlicher Seite sehr grundsätzliche, jeweils aber recht unterschiedliche Fragen.

a) Indikation einer Transplantation Für den ersten Aspekt der Indikationsbestimmung für eine Transplantation ist aus rechtlicher Sicht die Feststellung von zentraler Bedeutung, dass es insofern wichtige gesetzliche Kriterien und ausführliche, durch den Gesetzgeber im Wege der Delegation (§ 16 TPG) initiierte Regelwerke in Form von Richtlinien der Bundesärztekammer gibt.38 Es soll hier nicht auf die mittlerweile vielfach erhobenen verfassungsrechtlichen

35 36 37 38

Husslein/Langer 2000: 849. Ulsenheimer 2000: 61 (63). Husslein/Langer 2000: S. 854. Bundesärztekammer 2000; vgl. außerdem bei Höfling 2003: 539 ff. (im Folgenden zitiert Höfling/Verfasser). Die Richtlinien haben wiederholt Fortschreibungen erfahren, dazu etwa Höfling/Höfling 2003: § 16 Rz. 32, Fn. 58, 59. 281

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Bedenken gegen das Regelungs- und Delegationskonzept des Gesetzgebers mit seinem weitgehenden Verzicht auf eigenständige Regelungen im Parlamentsgesetz zugunsten einer Richtlinienkompetenz der Bundesärztekammer eingegangen werden.39 Die gesetzliche Regelung beschränkt sich auf die Grundentscheidung, wonach über die Aufnahme in die jeweiligen Wartelisten »nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Notwendigkeit und Erfolgsaussicht einer Organübertragung« zu entscheiden ist (§ 10 II Nr. 2 TPG). Diese Regelung betrifft zwar zunächst die Wartelistenproblematik, die normative Kriterienbildung kehrt aber, wenn auch nicht so indikationsnah, bei der außerordentlich komplexen Problematik der Organallokation wieder. Nicht von ungefähr taucht hierzu die gleiche Grundformel wörtlich wieder auf (§ 12 III TPG). Allerdings hebt das Gesetz für die Allokationsfrage (»insbesondere«) »Erfolgsaussicht und Dringlichkeit« hervor, demgegenüber mit Blick auf die Wartelisten und im engeren Sinne indikationsspezifisch das Begriffspaar »Notwendigkeit und Erfolgsaussicht«. »Beiden Begriffen kommt damit eine in der Praxis wohl entscheidende, gesetzestechnisch aber nur indizielle Wirkung mit Blick auf die Aufnahme auf die Warteliste zu«.40 Weder das Gesetz noch die Richtlinien enthalten eine Definition dieser beiden für die Aufnahmeentscheidung zentralen Begriffe, die überdies bei näherer Betrachtung zahlreiche Probleme bergen.41 Die sehr ins Detail gehenden Richtlinien schließen aber nicht zuletzt die für die einzelnen Transplantationsarten einschlägigen Indikationen und Kontraindikationen ein. Dabei sind die Richtlinien im hier interessierenden Zusammenhang übereinstimmend strukturiert. So geht es hinsichtlich der Wartelistenentscheidung jeweils um »Gründe für die Aufnahme« und »Gründe für die Ablehnung«, wobei in klassischer Terminologie die Aufnahmegründe als »Indikationen« und die Ablehnungsgründe als »Kontraindikationen« bezeichnet werden. Im hier interessierenden Zusammenhang sind die folgenden Gesichtspunkte von entscheidender Bedeutung: Erstens ist die Verknüpfung von »Annahme eines Patienten zur Organübertragung und seine Aufnahme in die Warteliste« (§ 10 II Nr. 1 TPG) hervorzuheben. Hieraus ergibt sich der zwingende Zusammenhang der Aufnahme in die Warteliste mit der Annahme als Patient zur Organübertragung und damit der medizinisch begründeten »Notwendigkeit« einer solchen Intervention, also der Indikation. Zum anderen handelt es sich um eine zentrale 39 Dazu etwa Höfling/Höfling 2003: § 16 Rz 1 ff., 7 ff., 16 ff.; Hollenbach 2003: 319 ff., 333 ff.. 40 Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 32. 41 Hierzu aus interdisziplinärer Sicht Feuerstein 2003b. 282

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normative Vorgabe, wenn schon das Gesetz die Grundentscheidung an den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft und damit an objektivierbare professionelle Kriterienbildung knüpft. Und drittens, an dieser Stelle besonders wichtig, ist gerade mit Blick auf diese Ausgangsorientierung an originär medizinischen Gesichtspunkten hervorzuheben, dass ungeachtet dessen Relativierungen medizinischer Objektivierbarkeit in Betracht zu ziehen sind. So ist die »gelegentlich ventilierte These (abzulehnen), die Entscheidung über die Aufnahme auf die Warteliste orientiere sich an rein medizinischen Kriterien.«42 Insofern wird insbesondere auf zwei Gesichtspunkte verwiesen. Einmal heben die Richtlinien bereits in ihren Vorbemerkungen und damit bereits vor aller Ausdifferenzierung von Indikationen und Kontraindikationen hervor: »Bei der Entscheidung über die Aufnahme in die Warteliste für eine Organtransplantation ist abzuwägen, ob die individuelle medizinische Gesamtsituation des Patienten einen längerfristigen Transplantationserfolg erwarten lässt«.43 Ob die damit hervorgehobene »Längerfristigkeit« des Erfolges unter dem Gesichtspunkt der prospektiven Überlebenszeit auch eine Berücksichtigung des Alters und allgemein eine »Bewertung der Lebenszeit«44 umfasst, soll hier nicht weiter verfolgt, aber doch vermerkt werden. Es ist aber, zweitens, mit Blick auf Reichweite und Grenzen des Indikationskonzepts, festzuhalten, dass das transplantationsmedizinische Indikationsrecht auch in anderer Weise im streng medizinwissenschaftlichen Sinne nichtmedizinische Kriterien einbezieht. Dies gilt namentlich für den Regel- und Regelungsbereich der Kontraindikationen. Insofern taucht in den Richtlinien implizit oder ausdrücklich unter dem Aspekt »Psychosoziales« der Gesichtspunkt »unzureichender Compliance« als Kontraindikation auf.45 Dabei wird folgende Definition zugrunde gelegt: »Compliance eines potentiellen Organempfängers bedeutet über die Zustimmung zur Transplantation hinaus seine Bereitschaft und Fähigkeit, an den vor und nach einer Transplantation erforderlichen Behandlungen und Untersuchungen mitzuwirken«.46 Im Übrigen wird in der Transplantationsmedizin unter non-compliance üblicherweise der sorglose Umgang mit immunsuppressiven Medika-

42 Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 54. 43 So jeweils in allen drei Richtlinien zu den Wartelisten (Hervorhebungen hinzugefügt.). 44 Höfling/Lang 1999 § 10 Rz. 49. 45 So ausdrücklich in den Richtlinien für die Wartelisten zur Herz-, HerzLungen- und Lungentransplantation. 46 Zitiert nach Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 40, Fn. 69. 283

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menten, die Überschreitung von Lebensstil- und Ernährungsvorschriften sowie das Nichteinhalten von Untersuchungsterminen verstanden.47 Fortschreibungen der Richtlinien sind auch als Reaktion der Bundesärztekammer auf Kritik an dem Compliance-Konzept zu verstehen. So ist nunmehr formuliert worden: »Compliance ist kein unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal, sie kann aus verschiedenen Gründen im Lauf der Zeit schwanken, gehört aber zu den Grundvoraussetzungen für den Erfolg jeder Transplantation. [...] Anhaltende fehlende Compliance schließt die Transplantation aus.«48 Dass etwa »Nikotin-, Alkohol- oder sonstiger Drogenkonsum« und andere »vermeidbare gesundheitliche Risiken« vor der Aufnahme in die Warteliste abgestellt sein sollten49 oder dass nach dem Richtlinientext zur Lebertransplantation bei Patienten mit alkoholinduzierter Zirrhose erst nach mindestens sechs Monaten völliger Alkoholabstinenz oder erfolgreicher Entzugsbehandlung eine Aufnahme auf die Warteliste in Betracht kommt50, erscheint unmittelbar plausibel. Es ist aber auch insofern die für Medizinrecht und Medizinethik grundsätzliche Frage nach der Legitimation einer Intervention in subjektive Lebensgestaltung und der Postulierung von Lebensführungspflichten zu bedenken. »Krankheitseinsicht und Kooperationsfähigkeit des Patienten müssen einen längerfristigen Transplantationserfolg sowie eine ausreichende Compliance auch in schwierigen Situationen ermöglichen«.51 Diese Richtlinienvorgabe schließt offensichtlich die Notwendigkeit subjektiver Bewertungen von subjektiven Befindlichkeiten des Patienten auch jenseits eines originär fachwissenschaftlichen Indikationskonzepts ein, wird aber in der Richtlinie als »Einschränkung der Indikationen« begriffen.52 Dass dies problematisch ist, wird auch durch den nunmehr aufgenommenen Richtliniengrundsatz unterstrichen: »Bevor deswegen (d.h. wegen anhaltender fehlender Compliance) die Auf47 Vgl. samt weiteren Nachweisen Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 40. 48 Zitate nach Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 45. Es ist, mit der Kommentierung von Lang, ergänzend darauf hinzuweisen, dass es bei der hier betroffenen Fortschreibung der Richtlinien auch um die kontrovers beurteilte Problematik der Beherrschung der deutschen Sprache als Aspekt der Compliance ging. Nunmehr soll gelten: »Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten können die Compliance beeinflussen, stehen aber allein einer Organtransplantation nicht entgegen«, vgl. Höfling/Lang 1999 ebenda. 49 Schreiber/Haverich 2000: A 386. Bei den Autoren handelt es sich um Mitglieder in einschlägigen Kommissionen der Bundesärztekammer. 50 Richtlinie für die Warteliste zur Lebertransplantation (unter dem Gesichtspunkt »Einschränkung der Indikationen«). 51 So etwa die vorgenannte Richtlinie für die Warteliste zur Lebertransplantation, zitiert nach Höfling 2003: 583. 52 Vgl. bei Höfling 2003: 583. 284

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nahme in die Warteliste endgültig abgelehnt wird, ist der Rat einer psychologisch erfahrenen Person einzuholen«.53 Auch in diesem Zusammenhang kommt es so zu einer Verknüpfung von problematischer (Kontra-)Indikation und Beratung. Die damit angesprochenen Probleme sind insgesamt erheblich vielschichtiger, als hier auszuführen ist. An dieser Stelle geht es, wie durchgängig, nur um den Problemausschnitt der Bestimmung von Reichweite und Grenzen der originär medizinwissenschaftlichen Anteile an der Normbildung und Entscheidungsfindung. Es ist offensichtlich, dass die soeben angedeuteten Entscheidungskriterien in erheblichem Maße subjektiven Wertungen der entscheidenden Institutionen und Personen die Tür öffnen.54 Die gesetzlichen Selektionskriterien erscheinen »nur auf den ersten Blick in hohem Maße wertneutral, objektiv und rational«.55 In Wirklichkeit sind in erheblichem Maße »materielle Gerechtigkeitsprobleme« betroffen, die »mit medizinischen Argumenten (allein) nicht zu beantworten« sind.56 Dies ist, soweit unvermeidlich, kein Skandalon, aber offenlegungsund begründungsbedürftig. Es sind daher zwei Aspekte in die Normdiskussion einzubeziehen, die darin bislang keineswegs selbstverständlich sind, nämlich Aspekte der Normtransparenz und der Normkompetenz. Es sollte ein Transparenzgebot und Differenzierungsgebot hinsichtlich des Nebeneinanders objektivierbarer und nicht objektivierbarer Anteile der einschlägigen Entscheidung mit Blick auf Normgehalt und Entscheidungskultur selbstverständlich sein. Und es sollte die Diskussion darüber vertieft werden, wie weit originär medizinische, also fachwissenschaftliche professionsinterne Kompetenz für die Normbildung (exklusiv) zuständig ist. Bei dieser Grundsatzproblematik57 geht es nicht um den praktizierten Zuschnitt von Fachdisziplinen und ihres Ausbildungskanons, sondern um die qualitativen Differenzen inhaltlicher (normativer und/oder naturwissenschaftlicher) Kriterienbildung. Auf dieser letztgenannten Ebene entscheidet sich die Frage nach Reichweite und Grenzen originärer Professionsvorbehalte bei der Normbildung und Entscheidungsfindung. Daher verfängt der Hinweis wenig, dass sich die 53 Zitiert nach Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 45 (Hervorhebungen hinzugefügt). 54 So zu Recht Höfling/Lang 1999 § 10 Rz. 43, und öfter. 55 So für die Allokationsebene Höfling 2003: § 12 Rz. 24. 56 Höfling 2003: § 12 Rz. 25 ff. 57 Diese Problematik stellt sich auch in anderen Bereichen der medizinrechtlichen Normbildung. Es sei insofern nur auf die aktuelle Thematik ärztlicher Leitlinien verwiesen. Auch dabei geht es um professionsinterne Normbildung und zugleich um die Grenzen eines medizinischen Professionsvorbehaltes. Dazu Damm 2005; Damm 2009. 285

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medizinische Wissenschaft nicht auf die klinischen Fächer und genetische Grundlagenforschung beschränke, sondern auch die Medizinsoziologie, Gesundheitsökonomie und weitere Bereiche umfasse.58 In der Sache geht es keineswegs um die Eliminierung angemessener, aber nicht fachwissenschaftlicher Kriterien, sondern um deren zutreffende Qualifizierung. Deshalb verdient die Aussage grundsätzlich Zustimmung: »Sachgerechter erscheint es, sich zu einer subjektiv konnotierten Auswahlentscheidung zu bekennen und zur Abwehr damit verbundener Gefahren die Auswahlentscheidungen verfahrensrechtlich abzusichern«.59 Allerdings geht es insofern nicht ausschließlich um verfahrensrechtliche Sicherungen, sondern auch um Konsequenzen hinsichtlich der materiellen Normbildung. Dies betrifft auch die Qualifizierung einer Norm zwischen rechtlicher und fachwissenschaftlicher Standardbildung und die Reichweite der betroffenen Professionskompetenz.

b) Lebendspende Die Organentnahme bei lebenden Organspendern wirft hinsichtlich des Indikationskonzepts und seiner Verknüpfung mit dem Informationskonzept besonders schwerwiegende Probleme auf. Diese können in einer bislang allerdings in den Sachdiskurs nicht eingeführten Terminologie als der Zusammenhang von primärer Indikation, sekundärer Indikation und Information bezeichnet werden. Die Lebendspende ist nur unter engen Voraussetzungen zulässig, die mit dem Transplantationsgesetz von 1997 auch gesetzlich festgelegt worden sind (§ 8 TPG). Das Verhältnis von Indikation und informed consent erscheint hier in zugespitzter Form, da von einer medizinischen Indikation im eigentlichen Sinne aus Sicht des Organspenders von vornherein keine Rede sein kann. Im Unterschied zu anderen therapeutischen Interventionen geht es bei dem Spender nicht um einen Eingriff, dessen Risiko durch einen Nutzen für dieselbe Person aufgewogen wird. »Vielmehr steht hier das Risiko, das der Organspender eingeht, dem erwarteten Nutzen für eine andere Person – dem Organempfänger – gegenüber. Für die Medizin bedeutet diese interpersonelle Nutzen/Risiko-Bilanzierung einen ethischen Paradig58 So – allerdings im Kontext der verfassungsrechtlichen Legitimation der Richtlinien – in einer Sachverständigenstellungnahme Holznagel, Ausschuß-Drs. 601/13, S. 6f.; zitiert nach Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 54. Zu Recht ist dem entgegengehalten worden, mit der gleichen zweifelhaften Berechtigung könne für die Transplantationsmedizin durchgängig juristische Kriterienbildung mit dem Hinweis reklamiert werden, medizinische Ausbildung schließe auch medizinrechtliche Fächer und Bezüge ein, vgl. Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 55. 59 Höfling/Lang 1999: § 10 Rz. 56. 286

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menwechsel«.60 So könnte mit Blick auf diese interpersonelle Bilanzierung statt von einer individuellen Indikation von einer interpersonellen Indikation gesprochen werden, um diesen entindividualisierten Risiko/Nutzen-Verbund von Spender und Empfänger zu kennzeichnen. Im Übrigen ist jenseits der allgemeinen Bestimmung der indikationsspezifischen Gesamtsituation ein weiterer Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Ungeachtet des Fehlens einer primären Indikation beim Spender hinsichtlich der Grundentscheidung für eine Organspende ist von einer gewissermaßen sekundären Indikation hinsichtlich transplantationsmedizinischer Einzelmaßnahmen auszugehen. Damit wird auf den wichtigen Umstand verwiesen, dass mit Blick auf die Geeignetheit des Spenders und die Eignung des Spenderorgans die Zulässigkeit der Lebendspende, auch bei gegebener Freiwilligkeit, an objektivierbare »ausschließlich anhand medizinischer Kriterien«61 zu bestimmende Gegebenheiten geknüpft ist. Insofern geht es einmal um die Risikosituation beim Spender (voraussichtliches Ausmaß von Operationsrisiko und Gesundheitsbeeinträchtigung, § 8 I, 1 Nr. 1c TPG) und zum anderen um die Eignung des Organs für den Empfänger (§ 8 I, 1 Nr. 2 TPG; etwa mit Blick auf den Gesundheitszustand des Spenders und die Gefahr einer Übertragung von »spenderseitigen Krankheiten«62). Geht so das Kriterium einer spenderbezogenen individuellen Indikation gegen Null, so muss auf der anderen Seite das Informationserfordernis eine konsequente Aufwertung erfahren: Da die Lebendspende sich für den Spender nicht als ärztlicher Heileingriff darstellt, sind an die Aufklärung und Einwilligung strenge Anforderungen zu stellen.63 Das Gesetz lässt es insofern mit der selbstverständlichen Grundvoraussetzung von Aufklärung und Einwilligung (§ 8 I Nr. 1b TPG) nicht bewenden, sondern legt die in diesem Zusammenhang geltenden Anforderungen an den informed consent nun in § 8 II TPG im Einzelnen nieder. Diese Anforderungen erfahren noch dadurch eine weitere Aufwertung, dass als Spender nur volljährige und einwilligungsfähige Personen in Betracht kommen (§ 8 I Nr. 1a TPG) und darüber hinaus der Freiwilligkeitsaspekt noch einer besonderen, wenn auch nur negatorischen

60 Feuerstein 2003a: Rz. 1 (Hervorhebungen hinzugefügt). 61 Esser 2003: § 8 Rz. 41, 49. 62 Esser 2003: § 8 Rz. 48; die Bedeutung dieses Aspekts ist jüngst – wiewohl keine Lebendspende betreffend – durch den tragischen Fall einer tödlich verlaufenen Übertragung von tollwutinfizierten Organen unterstrichen worden. Dass der transplantierende Arzt zur Einhaltung der allgemein gebotenen medizinischen Standards verpflichtet ist, ist selbstverständlich. 63 Laufs/Kern/Ulsenheimer 2010: § 131 Rz. 15. 287

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Kommissionsbegutachtung unterliegt (§ 8 III, 2 TPG).64 Der gesetzlich vorgeschriebene »Aufwand zur Erkundung der Motive einer Lebendorganspende ist nicht nur durch die rein medizinischen Risiken und Komplikationen gerechtfertigt, denen sich der Spender aussetzt, sondern auch durch die psychische und soziale Konfliktdynamik, die sich im Gefolge einer Organspende zum Nachteil des Spenders und des Empfängers entfalten kann.«65

Dies wird dadurch unterstrichen, dass nach § 8 II, 2 TPG zur Aufklärung nicht nur ein weiterer Arzt hinzuzuziehen ist, sondern, »soweit erforderlich«, auch noch »andere sachverständige Personen«. Hierbei wird es sich regelmäßig um Personen mit psychologischem Sachverstand handeln, so dass letztlich eine »psychologische Beratung und Aufklärung«66 zu gewährleisten sein wird. Überdies wird in der Literatur mit gutem Grund dafür plädiert, an das Kriterium der Erforderlichkeit nicht nur keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, sondern sogar § 8 II, 2 TPG insofern als »Mussvorschrift« zu lesen.67 Es ist somit auch nach der gesetzlichen Regelung das Fehlen einer Indikation auf Spenderseite durch ein Konzept umfassender Aufklärung und Beratung zu kompensieren.

4. Genetische Diagnostik Nicht zufällig spielt das Verhältnis von Indikation und Information auch im Bereich der genetischen Diagnostik eine besondere Rolle. Den dafür maßgeblichen Gründen liegen die Eigenarten von Gentests, namentlich prädiktiven Tests, zugrunde. Hier sei nur stichwortartig auf Eigenschaften ohne Krankheitsbezug, Diagnostik ohne Therapieoption, Einsatz für Familien- und Lebensplanung verwiesen. Die künftige Entwicklung der Anwendungsfelder der Gendiagnostik wird in erheblichem Umfang davon abhängen, ob und wieweit diese Diagnostik an das Vorliegen einer medizinischen Indikation oder doch jedenfalls an eine gesundheitsbezogene Zwecksetzung gebunden sein wird. Einschlägig ist mit Blick auf die Entwicklungsdynamik von Gentests die Feststellung der EnqueteKommission Recht und Ethik der modernen Medizin, dass »nicht bei allen heute und in Zukunft möglicherweise zur Verfügung stehenden Gentests davon ausgegangen werden (kann), dass sie medizinischen Zwecken dienen«. Es wird insofern, neben Abstammungs- und Identitätsfest64 65 66 67

Vgl. dazu etwa die Kommentierung bei Esser 2003: § 8 Rz. 112. Feuerstein 2003a: Rz. 1. Esser 2003: § 8 Rz. 99. Esser 2003: § 8 Rz. 99.

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stellungen, auf mögliche »Lifestyle-Tests« hingewiesen und damit auf Tests mit einer Orientierung auf »Merkmale, die ohne jeden Krankheitswert sind«.68 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft geht davon aus, dass sich »zukünftig Anwendungsgebiete prädiktiver Diagnostik ergeben (mögen), die am Übergang von Krankheitsbezug und Bedeutung für die Lebensgestaltung (life style) stehen«. Als Beispiel nennt sie eine genetische Disposition zu überdurchschnittlicher körperlicher Leistungsfähigkeit. Im Übrigen ist auch sie sich sicher, »dass die steigenden Möglichkeiten der genetischen Diagnostik neue Angebots- und Nachfragemechanismen in Gang (setzen), deren Größenordnung sich kaum prognostizieren lassen«. Es sei »offenkundig, dass Tests auch zunehmend auf dem privaten nichtmedizinischen Markt angeboten werden«.69 Das Problem, was in der humangenetischen Praxis als Indikation in Betracht kommt, wird auch fachwissenschaftlich deutlich herausgestellt. Bezeichnenderweise stammt die Frage nach den Testindikationen von einem Humangenetiker: »Wann sind genetische Tests eigentlich ›indiziert‹?«70 Es ist dies nicht nur eine medizinische, sondern auch eine medizinrechtliche Frage und insofern auch eine Frage für den Gesetzgeber. Regelungen und Regelungsentwürfe71 weisen insofern beträchtliche Unterschiede auf. Die Bedeutung des Informationsbezugs des Indikationsbegriffs wird sehr deutlich, wenn in den »Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik« der Bundesärztekammer im Abschnitt »Indikationsstellung« formuliert wird: »Die Voraussetzung für eine prädiktive genetische Diagnostik ist dann gegeben, wenn ein Patient nach angemessener Aufklärung und Beratung eine solche Diagnostik für sich als angemessen erachtet«.72 Es wird, wenn man den Richtlinientext beim Wort nimmt, die Entscheidung des aufgeklärten Patienten nicht nur als eine Voraussetzung der Diagnostik begriffen, sondern mit der Indikation gleichgesetzt. Darauf, dass es sich bei der informierten Einwilligung nach einer Grundregel nur um eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für den Einsatz dieser Diagnostik handeln könnte, wird nicht weiter problematisiert.73 Es bleibt damit auch hier das Grundproblem unerörtert, ob der informed consent Voraussetzung der Indikation oder gewissermaßen die Indikation selbst ist.

68 69 70 71 72 73

Enquete-Kommission 2002: 353, 357. Deutsche Forschungsgemeinschaft 2003: 27, 35. Schmidtke 1997: 95. Näher hierzu Damm 2004: 1 (11 f.). Bundesärztekammer 2003: PP-277 (281). So zu Recht Heinrichs 2006: 157. 289

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Konflikte erscheinen auch in der Langzeitperspektive vorprogrammiert und von weitreichender Bedeutung. Es geht um vielfältige problematische Beziehungen des Indikationskonzepts zur Bindung an normiertes ärztliches Handeln, zu Lifestyle-Diagnostik, zur Kommerzialisierung marktfreier Tests, zur Selbstbestimmung Testwilliger, zu einer Expansion ärztlicher, aber nicht medizinischer Handlungsfelder. Für den besondere Probleme aufwerfenden Bereich der humangenetischen Pränataldiagnostik wird von Vertretern der Humangenetik geltend gemacht, »dass der klassische Indikationsbegriff, der immer das medizinisch Notwendige impliziert [...], in einem Bereich nicht greifen kann, der in erster Linie einer persönlichen Abwägung unterliegt: Pränataldiagnostische Maßnahmen sind also nicht in dem gleichen Sinn indiziert wie etwa eine lebensrettende Operation, wohl aber besteht bei jeder Schwangerschaft eine Indikation zu einer Aufklärung über vorgeburtlich-diagnostische Möglichkeiten.«74

Soll danach die persönliche Abwägung der betroffenen Person als solche bereits indikationsbegründend sein? Mit der Formel von der Indikation zu einer Aufklärung oder einer indizierten Aufklärung (eine völlig neue Wortschöpfung) ist die Frage aufgeworfen, ob in diesem Medizinbereich Indikation und Information verknüpft, aber inhaltlich doch geschieden bleiben sollten oder ob Information statt Indikation zu einer auch normativ sehr grundsätzlichen Umbildung nicht nur der Terminologie, sondern auch der Normativität ärztlichen Handelns führen sollte. Jedenfalls für den Bereich vorgeburtlicher genetischer Untersuchungen enthält das neue Gendiagnostikgesetz seit 1. 2. 2010 nunmehr einige ausdrückliche Grenzbestimmungen, die unter anderem festlegen: »Eine genetische Untersuchung darf vorgeburtlich nur zu medizinischen Zwecken und nur vorgenommen werden, soweit die Untersuchung auf bestimmte genetische Eigenschaften des Embryos oder Fötus abzielt, die nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik seine Gesundheit während der Schwangerschaft oder nach der Geburt beeinträchtigen, oder wenn eine Behandlung des Embryos oder Fötus mit einem Arzneimittel vorgesehen ist, dessen Wirkung durch bestimmte genetische Eigenschaften beeinflusst wird und die Schwangere [...] aufgeklärt worden ist und diese [...] eingewilligt hat. [...] Eine vorgeburtliche genetische Untersuchung, die darauf abzielt, genetische Eigenschaften des Embryos oder des Fötus für eine Erkrankung festzustellen, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizini74 Schmidtke 2001: 440 (Hervorhebungen hinzugefügt.). 290

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schen Wissenschaft und Technik erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres ausbricht, darf nicht vorgenommen werden.« (§ 15 Gendiagnostikgesetz)

III. Enhancement: Selbstbestimmung oder Industriepolitik plus Sozialkontrolle? In einer Abschlussbemerkung sollen die vielfältigen Phänomene und Probleme angesprochen werden, die unter Etiketten wie Enhancement oder Verbesserung des Menschen diskutiert werden.75 Bezogen sich die bisherigen Ausführungen auf Interventionen, die jedenfalls grundsätzlich im Medizinsystem etabliert sind, so geht es hier um Optionen, die bei allen Abgrenzungsproblemen und Übergangsaspekten eine »neue Kategorie«76 des Kontaktverlustes gegenüber der überkommenen Medizin als indikations- und therapieorientiertes System darstellen. Die »Indikationslosigkeit«77 gehört daher, wie auch der Krankheitsbegriff, zu den zentralen Diskussionspunkten in diesem Feld biomedizinischer, pharmakologischer und neurologischer Optionen. Insofern geht es hier nur um einige perspektivische Anmerkungen insbesondere mit Blick auf liberale Positionen der nicht nur faktischen Hinnahme, sondern auch sukzessiven normativen Legitimation der Menschenverbesserung.

1. Transparenz der Kriterienbildung Zentrale Bedeutung kommt als rechtlicher und politischer Mindestforderung der Transparenz der Kriterienbildung zu. Die Unterscheidung empirisch-objektivierbarer Grundannahmen und subjektiver Präferenzbildung gewinnt zunehmend Gewicht, nicht nur für die medizinethische Bewertung, sondern auch für gesellschaftliche und (gesundheits-) politische Entscheidungen. Dies ist auch angesichts der Erfahrungen und Probleme auf anderen Sektoren des Medizin- und Gesundheitssystems angebracht, auf denen die folgenreiche Unterscheidung medizinwissenschaftlicher, epidemiologischer, ökonomischer und individuell präferenzbezogener Gesichtspunkte mitunter erst bewusst gemacht werden muss. Und auch für diesen Zusammenhang gilt der Hinweis, dass die aktuellen Entwicklungen einer Subjektivierung der Medizin paradoxerweise in eine Zeit verstärkter Bemühungen um eine ebenfalls folgenreiche medizin- und gesundheitswissenschaftliche Objektivierung der Me75 Aus medizinrechtlicher Sicht etwa Eberbach 2008: 325. 76 Ebd. 77 Wiederholt etwa bei Eberbach 2008: 325 ff. (335 und öfter). 291

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dizin fallen. Insofern sei an thematische Foren wie Evidenzbasierte Medizin (EBM), Health Technology Assessment (HTA) und die ebenfalls internationale Entwicklung von Professionsnormen (Leitlinien, Richtlinien) erinnert.78 Auf zahlreichen Handlungsfeldern verknüpfen unterschiedliche Akteure unterschiedliche Erwartungen mit diesem Diskussionsprozess, der teilweise bereits politische Umsetzungen erfährt. Die einschlägigen Auseinandersetzungen betreffen auch die Forderung nach einer Transparenz der Kriterienbildung und beziehen sich auf das Zentrum der medizinischen Versorgung. Für die einstweilen noch eher an der Peripherie wahrgenommene Wunsch- oder Präferenzmedizin besteht aller Anlass, diese interdisziplinären Grundsatzdiskussionen in die Betrachtung einzubeziehen. Soweit es in der Diskussion des Krankheitskonzepts um Normalität versus Normativität79, Natur versus soziokulturellem Kontext80 geht, sollte von der Nichtidentität von Krankheitsbegriff einerseits und individuellem und gesellschaftlichem Umgang mit Krankheit andererseits ausgegangen werden. Dass beide Aspekte auf der Handlungsebene zusammenkommen, sollte nichts an ihrer Differenzierung auf der Kriterienebene ändern. Es besteht anderenfalls die Gefahr, dass sowohl der Eigenwert medizinwissenschaftlicher Erkenntnis als auch der des Kontextbezugs als Elemente der Handlungsorientierung Schaden nehmen könnte. Darauf, dass auch und gerade eine im Ansatz »empirischnaturalistisch« orientierte Medizintheorie um eine differenzierte Kriterienbildung bemüht ist und davon ausgeht, dass auch »natürlich vorgegebene Normalbereiche« als gegebenenfalls »kulturell überformbare Normalbereiche« in Betracht zu ziehen sind, kann hier nur am Rande hingewiesen werden.81

78 Hierzu etwa die Beiträge in Hart 2005; außerdem Damm 2009; mit Blick auf Aufklärung und Beratung Damm 2005; Damm: 2006a. 79 Vgl. etwa Hick 2008: 29 (43 ff.). 80 Besonders betont unter anderem von Lanzerath 2008. 81 Hierzu mit Zitaten Hucklenbroich 2007: 77 ff. (80, 82). Dieser Ansatz geht davon aus, »daß sich deskriptive und evaluative (wertende, normative) Verwendungen des Krankheitsbegriffs klar auseinanderhalten lassen und ein Krankheitsbegriff, der im Sinne der obigen Rekonstruktion gebildet ist, rein deskriptiv aufgefaßt werden kann«. Hervorgehoben wird im Rahmen dieses Konzepts die »Rekonstruktion des Krankheitsbegriffs als Grundlage für die Rekonstruktion der Begriffe der (biologischen) Funktion und Dysfunktion« und damit eine Verbindung mit einem »Grundlagenproblem der Biologie« und der »Philosophie der Biologie« (alle Zitate bei Hucklenbroich 2007: 89; Hervorhebungen im Original). 292

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2. Ebenendifferenzierung Für die normative Beurteilung der hier angesprochenen Entwicklungstendenzen ist eine auch rechtlich relevante Ebenendifferenzierung zu berücksichtigen. Dies betrifft insbesondere die Unterscheidung zwischen Zulässigkeitsebene, Leistungsebene und Professionsebene. Dies kann hier nur angedeutet werden82 und verweist zunächst darauf, dass nach einer gegebenenfalls getroffenen Zulässigkeitsentscheidung zugunsten einzelner »Verbesserungsoptionen« über die Kriterienbildung auf den anderen Ebenen noch nicht alles gesagt ist. Insbesondere ist damit eine auf Solidaritätsprinzip und Versicherungssystem bezogene Entscheidung über Einbeziehung oder Ausschluss noch nicht getroffen. Entsprechendes gilt für die Frage, ob und in welcher Weise auf der Professionsebene zu verfahren ist. Wie steht es mit Qualitätssicherheits- und Marktkontrollrecht? Ist ärztliches Handeln im Bereich von Enhancement mit Blick auf ein ausdifferenziertes berufsrechtliches System unzulässig oder – umgekehrt – zur Schadensvermeidung geboten? Im Medizinrecht wird ein ganzer Katalog in Betracht kommender Veränderungen der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen diskutiert. Dies betrifft mit Blick auf den einschlägigen Gestaltwandel ärztlichen Handelns unter anderem, aber nicht nur das ärztliche Berufsrecht, Krankenversicherungsrecht, Arbeitsrecht, Vertrags- und Haftungsrecht83, für die teilweise gravierende Rechtsveränderungen diskutiert werden. Für nichtärztliche Anbieter einschlägiger Dienstleistungen sind entsprechende Rechtsfragen zu beantworten.

3. Selbstbestimmung: notwendige oder hinreichende Bedingung? Schließlich erscheint es angemessen, auf ein möglicherweise defizitäres, gar anspruchsloses Selbstbestimmungskonzept und einen nur »schwachen Freiwilligkeitsbegriff«84 hinzuweisen. Damit ist eine individualethisch verkürzte Vorstellung von Autonomie angesprochen, die die Systembezüge und Rahmenbedingungen individueller Selbstbestimmung mitunter aus dem Blick zu verlieren scheint oder doch nur unzureichend in Betracht zieht. Dies begünstigt tendenziell ein »rein subjektivistisches Autonomieverständnis, das sich im Wesentlichen in der Forderung der informierten Zustimmung der Patienten oder Klienten erschöpft.«85 Es 82 83 84 85

Dazu etwa Damm 2002a: 48 ff; außerdem Clausen 2008: 225 ff. In dieser Reihenfolge die Erörterung bei Eberbach 2008: 325 (332 ff.). So Herrmann 2006: 71 (75). Hermann 2006: 71 (78). 293

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bleibt damit der Umstand unterbewertet, dass es jedenfalls in einigen einschlägigen Teilbereichen sehr dominant um Industriepolitik, Kommerzialisierung und die »Vermählung« von Medizin und Markt86 geht, im pharmakologischen Sektor auch darum, dass »Krankheiten erfunden, aber nicht geheilt werden«.87 In einer Nebenbemerkung: Wer etwa Neuroenhancement als selbstbestimmte Eigenmodellierung toleriert oder propagiert, sollte auch das auf der Marktgegenseite als Teilgebiet einer »Neuroökonomie« veranstaltete »Neuromarketing« nicht aus dem Blick verlieren.88 Es sind Zwänge durch mehr oder weniger subtile Sozialkontrolle und Anpassungsdruck erzeugende »repressive Potentiale«89 in Betracht zu ziehen. Analysen dazu, inwieweit es sich um »Selbstbestimmung oder sozialen Optimierungsdruck«90 handelt, stehen auf vielen einschlägigen Handlungsfeldern noch aus. Vor diesem Hintergrund bekommen Autonomiepathos und Freiheitspostulate mitunter einen bitteren Beigeschmack. Insgesamt sollte, aus sozialwissenschaftlicher wie rechtspolitischer Perspektive, der Stellenwert von Bemühungen um empirische Ursachenforschung und normative Folgenorientierung hoch veranschlagt werden. Spiros Simitis hat mit Blick auf pharmakologisches Enhancement formuliert: »Anders jedoch als der Konsum stagniert die Reflektion über die Folgen. [...] Dass aber ansonsten nicht beharrlich gefragt wird, welche Auswirkungen eine nahezu automatisierte Einnahme solcher Mittel ebenso hat wie die dahinter stehenden Verhaltenserwartungen und der damit verbundene Konformitätsdruck, ob sich also Individualität unter diesen Umständen überhaupt entfalten, geschweige denn sich bewähren kann, befremdet.«91

Dazu gehört auch eine anspruchsvolle Analyse und Berücksichtigung individueller und sozialer Drittbetroffenheiten. Und dass insofern auf die Betroffenheit auch kleiner Kinder eigens hingewiesen werden muss92, ist beunruhigend. Eine solche Problemwahrnehmung versteht sich – in einer Formulierung von Peter Wehling – auch als Mahnung gegenüber »empiristisch verkürzten oder essentialistisch überhöhten Auffassungen von individueller Selbstbestimmung« und als Platzhalter für die Einsicht, »dass indi86 87 88 89 90 91 92

Vgl. Eberbach 2008: 336. vom Lehm 2009, S. 14. Vgl. mit Nachweisen Simitis 2008: 693 (696). Hermann 2006: 71 (78). Wehling 2008: 249. Simitis 2008: 693 (696). Ebd.

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viduelle Autonomie durch gesellschaftliche Regulierungen nicht per se eingeschränkt oder verhindert wird, sondern unter Umständen auch gesichert und ermöglicht werden kann«.93 Diese Postulate einer »kritischen Soziologie der Biopolitik« finden ihre Entsprechung in rechtskritischen und rechtspolitischen Positionen, für die eine auf rechtliche Regulierung bezogene Differentialdiagnose der »Legalstruktur und Realstruktur von Autonomiekonzepten« seit langem auf der Agenda steht.94 Auch im medizinrechtlichen Kontext ist mit Blick auf autonomiesichernde Rahmenbedingungen geltend gemacht worden, dass regulative autonomiesichernde Rahmenbedingungen »nicht primär als Begrenzung, sondern als Ermöglichung oder Optimierung von Selbstbestimmung« jedenfalls in Betracht zu ziehen sind.95 Insgesamt ist eine medizinrechtliche Gesamteinschätzung formuliert worden, die hier als perspektivische Skizze wiedergegeben werden soll: »Indem sich die medizinischen Möglichkeiten – außerhalb des Bereichs des Heilens und Helfens – mit dem Markt vermählt haben, wird auch ohne besondere prophetische Gaben deutlicher als je zuvor: Die Medizin wird sich zunehmend aufspalten in die klassische heilende, lindernde, Leiden begleitende Medizin und die moderne wunscherfüllende, verbessernde, selbststilisierende Medizin: • Die eine wird kurierend sein, die andere konsumierend. • Die eine wird ethisch fundiert sein, die andere in weitem Sinn ästhetisch. • Die eine wird der Humanität verpflichtet sein, die andere der Egozentrik. Die Medizin wird damit in den nächsten Jahren ihr Gesicht grundlegend verändern.«96

Unabhängig davon, ob man Terminologie und Prognostik dieser Aussage teilt, fällt die Prognose nicht schwer: Es wird die Auseinandersetzung um die Verzweigung zwischen einer technisch induzierten, medial präsentierten und marktorientierten Dienstleistungsmedizin einerseits und dem überkommenen Selbstbild von Arzt und Medizin andererseits sicher noch an Intensität zunehmen. Die Bedeutung der Debatte resultiert aus der Bedeutung des Gegenstandes nicht nur für das Medizin- und Gesundheitssystem, sondern weit darüber hinaus für gesellschaftliche Entwicklungen und deren Niederschlag in wohl allen Subsystemen wie ökonomischen, kulturellen und rechtlichen Strukturen.

93 94 95 96

Wehling 2008: 266. Dazu etwa Damm 1999: 129; Damm 2002b: 375. Damm 2004: 1 (13). Eberbach 2008: 336. 295

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IV. Ausblick 1. Bindungskraft oder Bedeutungsverlust des Indikationskonzepts? Der verbleibende Gesamteindruck ist der einer beeindruckenden Vielfalt von Medizinbereichen mit Indikationsproblemen und damit verbundenen Informationsproblemen und aus rechtlicher Sicht der eines erheblichen Klärungsbedarfs zum Verhältnis von Indikationsrecht und Informationsrecht. Besonders auf Handlungsfeldern der modernen Medizin scheint das überkommene medizinische Indikationskonzept seine Leitfunktion tendenziell zu verlieren und das Informationskonzept einen weiteren Aufschwung zu erfahren. Es ist Folgendes bislang noch kaum in der angemessenen Deutlichkeit zur Kenntnis genommen worden, nämlich: Dem Siegeszug von Information, Aufklärung und Beratung in der Medizin liegt einerseits sicher auch der normative Aufschwung des Autonomieprinzips zugrunde, aber andererseits und wohl mit zunehmendem Gewicht der objektive Entwicklungsprozess der modernen Medizin. Die Ursachen für diesen Gestaltwandel der Medizin sind sicher vielfältig. Insbesondere geht es, auf der medizintechnischen Ebene, um »erweiterte Handlungsmöglichkeiten der Medizin«, andererseits und damit korrespondierend um eine »Ausweitung der Zielsetzungen ärztlichen Handelns«97. Die Folgen dieser Entwicklung sind weitreichend, aber bislang gesellschaftlich, politisch und rechtlich weitgehend ungeklärt. Sie betreffen Veränderungen der Professionalität, professionellen Autonomie und Verantwortung auf ärztlicher Seite einerseits und der Autonomie und Verantwortung von Patienten und anderen Betroffenen andererseits. Nicht zuletzt geht es um die rechtlichen Konsequenzen dieser Entwicklung. Betroffen ist die Zukunft des Indikationsrechts wie auch des medizinspezifischen Informationsrechts einschließlich ihrer Wechselbezüglichkeit. Dabei sind beide Ebenen rechtlicher Normbildung berührt: De lege lata geht es um das indikations- und informationsspezifische Recht wechselseitiger Rechte und Pflichten etwa im Arztvertrags- und -haftungsrecht, aber auch um Konsequenzen für das leistungsbezogene Sozialrecht. De lege ferenda geht es um Rechtspolitik und Gesetzgebung zur modernen Medizin, für die der Indikations-Informations-Komplex von zentraler Bedeutung ist. Auch aus medizinrechtlicher Sicht wird es von großer Bedeutung sein, ob Bindungskraft oder Bedeutungsverlust des Indikationsmodells prägend sein werden. Insofern geht es um die Frage, welcher Stellenwert 97 Lanzerath 2000: 80 ff., 82 ff. 296

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dem Informationsmodell bei verändertem Stellenwert der Indikation als Steuerungsbegriff zukommen soll. Beide Fragen kann die Medizin nicht alleine beantworten, da es sich insofern weitgehend nicht um fachspezifisch medizinwissenschaftliche Probleme handelt, sondern um Fragen der normativen Gestaltung von zwar medizinbezogenen, aber nicht originär medizinischen Entscheidungskompetenzen. Dieser Bereich wird von der Reichweite eines fachlichen Professionsvorbehaltes nicht umfasst. Selbstverständlich ist mit diesem normativen Vorrang des Rechts auf der Geltungsebene keine Unzuständigkeit der Professionen auf der Normbildungsebene verbunden. Für die konkrete Arbeit an der medizinrechtlichen Normbildung sollte gegenüber einer gewissermaßen naturwüchsigen Medizinentwicklung darauf beharrt werden, dass aus der Summe von angebotsorientierter technischer Machbarkeit und nachfrageorientierter Wünschbarkeit als solche weder Legitimität noch Legalität einer medizinischen Handlungsmöglichkeit resultieren kann. Es spricht viel dafür, einem weiteren Abdriften der Medizin in eine indikationslose Dienstleistungsveranstaltung entgegenzuwirken. Der traditionelle Heilauftrag sollte als paradigmatische Leitgröße entschieden im Zentrum gehalten werden. Daraus folgt, dass auch weiterhin nicht die Grundregeln der Indikationsmedizin, sondern Ausweitungstendenzen der Wunschmedizin rechtfertigungsbedürftig sein sollten. Demgegenüber verfängt letztlich auch der Hinweis nicht, dass bereits nach medizinischem status quo die »medizinische Indikation nur notwendige Voraussetzung für einen Heileingriff« sei, es sich bei einer »Fülle anderer ärztlicher Maßnahmen« aber gerade nicht um einen solchen, also um keine medizinisch indizierten Maßnahmen handele.98 Dieser Hinweis verschiebt die Fragestellung lediglich dahin, wodurch dieses Füllhorn medizinisch nicht indizierten ärztlichen Handelns eigentlich seine Rechtfertigung erfährt.

2. Autonomiefunktion oder Kompensationsfunktion des Informationskonzepts? Was das Informationskonzept betrifft, so sollte dieses grundsätzlich auch weiterhin seine besonders akzentuierte Bedeutung behalten. Es ist aber zukünftig noch mehr als bereits heute die Prüfung erforderlich, ob 98 Ulsenheimer 2000: 61. Aus der Fülle medizinisch nicht indizierter Interventionen hebt Ulsenheimer hervor: »die rein kosmetische-ästhetische Operation, die Organentnahme vom Lebenden (§ 8 TPG), die Blutspende, das Humanexperiment, die In-vitro-Fertilisation ohne therapeutische Gründe, das Doping oder den Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate nach Beratung gemäß § 218a I StGB«). 297

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es sich dabei um einen an der Selbstbestimmung des Patienten orientierten Normzweck als Autonomiekonzept oder um die Kompensation für ein preisgegebenes Indikationskonzept handelt. Es wäre dann an Stelle der in der jüngsten Medizingeschichte zu Recht besonders aufgewerteten Patientenautonomie zunehmend »ein inhaltlicher Hinterfragung nicht mehr zugänglicher Wille des Patienten getreten«.99 Spiros Simitis (vormaliger Vorsitzender des vormaligen Nationalen Ethikrates) hat aus rechtlicher Perspektive formuliert: »Allzu leicht verleitet freilich eine genauso generelle wie unkritische Verweisung auf die Autonomie dazu, die Rolle der Einwilligung zu überschätzen. Was sie wirklich leisten kann, lässt sich erst überzeugend beurteilen, wenn der Einwilligungskontext sowie seine Auswirkungen auf die Betroffenen sorgfältig bedacht werden. Mit anderen Worten: Die ohnehin idealisierte Einwilligung gerät, ohne Rücksicht darauf, wie sie im Einzelnen gestaltet wird, dort unweigerlich zur Fiktion, wo die Begleitumstände eine Reflexion über Tragweite und Konsequenzen eines Einverständnisses, geschweige denn eine negative Reaktion beträchtlich erschweren oder von vornherein verhindern.«100

Die damit angesprochenen Problemzusammenhänge werden Medizin und Medizinrecht, gesundheits- und sozialwissenschaftliche Analysen voraussehbar in Zukunft noch stärker beschäftigen als bereit gegenwärtig.

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99 Vgl. Eberbach 2008: 325 (326). 100 Simitis 2008: 693 (700). 298

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sundheitskonzepte im Wandel. Geschichte, Ethik und Gesellschaft, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 203-214. Laufs, Adolf (1993): Arztrecht, München: C. H. Beck. Laufs, Adolf/Kern, Bernd-Rüdiger (2010): Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., München: C. H. Beck. vom Lehm, Brigitta (2009): »Die Tricks der Pillendreher«. Frankfurter Rundschau vom 8. 1. 2009, S. 14. Nieschlag, Eberhard/Wagenfeld, Andrea/von Schönfeldt, Viktoria/ Schlatt, Stefan (2001): »Keimzellspende: Möglichkeiten und Entwicklungen«. In: Bundesgesundheitsministerium (Hg.), Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, Baden-Baden: Nomos, S. 109-121. Nippert, Irmgard (2001): »Was kann aus der bisherigen Entwicklung der Pränataldiagnostik für die Entwicklung von Qualitätsstandards für die Einführung neuer Verfahren wie der Präimplantationsdiagnostik gelernt werden?« In: Bundesgesundheitsministerium (Hg.), Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, Baden-Baden: Nomos, S. 293321. Pschyrembel (2004): Klinisches Wörterbuch, Berlin: Walter de Gruyter. Schmidtke, Jörg (1997): Vererbung und Ererbtes. Ein humangenetischer Ratgeber, Reinbek: Rowohlt. Schmidtke, Jörg (2001): »Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen«. In: Stefan F. Winter/ Hermann Fenger/Hans-Ludwig Schreiber (Hg.), Genmedizin und Recht, München: C. H. Beck, S. 439-441. Simitis, Spiros (2008): »Biowissenschaften und Biotechnologie – Perspektiven, Dilemmata und Grenzen einer notwendigen rechtlichen Regelung«. Juristenzeitung 14, S. 693-703. Schreiber, Hans-Ludwig/Haverich, Axel (2000): »Richtlinien für die Warteliste und für die Organvermittlung«. Deutsches Ärzteblatt 97, S. A 385-386. Ulsenheimer, Klaus (2000): Ist ein Eingriff ohne medizinische Indikation eine Körperverletzung? Wunschsektio – aus rechtlicher Sicht«. Geburtshilfe und Frauenheilkunde 60, S. 61-65. Wehling, Peter (2008): »Selbstbestimmung oder sozialer Optimierungsdruck? Perspektiven einer kritischen Soziologie der Biopolitik«. Leviathan 36, S. 249-273.

302

AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Johann S. Ach (PD Dr.) ist Geschäftsführer des Centrums für Bioethik und wissenschaftlicher Koordinator der Kollegforschergruppe Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik an der Universität Münster. Zu seinen Veröffentlichungen gehören: Ach, Johann S./Pollmann, Arnd (Hg.) (2006): no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und Ästhetische Aufrisse, Bielefeld: transcript; Schöne-Seifert, Bettina/Talbot, Davinia/Opolka, Uwe/Ach, Johann S. (Hg.) (2009): Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, Paderborn: Mentis; Ach, Johann S. (2009): »Enhancement«, In: Christian Thies/Eike Bohlken (Hg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart/Weimar: Metzler. Reinhard Damm (Prof. Dr. iur.) ist Professor für Zivil-, Wirtschaftsund Verfahrensrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen sowie Mitglied des dortigen Instituts für Gesundheits- und Medizinrecht. Er war als Mitveranstalter an mehreren DFG-Graduiertenkollegs und interdisziplinären Doktorandenkollegs beteiligt. Außer zahlreichen Veröffentlichungen in den Bereichen des Zivil-, Wirtschaftsund Verfahrensrechts sowie der Rechtssoziologie und Rechtstheorie liegt ein besonderer Schwerpunkt seiner Publikationen auf dem Gebiet des Medizinrechts. Literatur (Auswahl): Damm, Reinhard (2010): »Personalisierte Medizin und Patientenrechte – Medizinische Optionen und medizinrechtliche Bewertung«. In: Wolfgang Niederlag/Heinz U. Lemke/Olga Golubnitschaja/Otto Rienhoff (Hg.), Personalisierte Medizin, Dresden: Health Academy, S. 294-317; Damm, Reinhard (2010): »Ästhetische Chirurgie und Medizinrecht. Normstrukturen, Regelungspro303

ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

bleme und Steuerungsebenen«. Gesundheitsrecht 9 (12), S. 641-654; Damm, Reinhard (2009): »Informed consent zwischen Indikations- und Wunschmedizin. Eine medizinrechtliche Betrachtung«. In: Matthias Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, S. 183-206; Damm, Reinhard (2009): »Wie wirkt ›Nichtrecht‹? Genesis und Geltung privater Regeln am Beispiel medizinischer Professionsnormen«. Zeitschrift für Rechtssoziologie 30, S. 3-22; Damm, Reinhard (2007): »Gendiagnostik als Gesetzgebungsprojekt. Regelungsinitiativen und Regelungsschwerpunkte«. Bundesgesundheitsblatt 2007, S. 145-156. Tobias Eichinger (M.A.) lehrt und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg. Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkte: Wunscherfüllung in der Medizin, ethische und philosophische Aspekte der Synthetischen Biologie sowie anthropologische Fragen der Reproduktionsmedizin. Veröffentlichungen (Auswahl): Eichinger, Tobias (2010): »Anti-Aging und Evolution. Welche Orientierungsfunktion bietet die Biologie für eine anthropologische Ethik des /Homo Senescens?«. In: Johannes Fehrle/Rüdiger Heinze/Kerstin Müller (Hg.), Herausforderung Biologie. Fragen aus der/an die Biologie, Berlin: Lit-Verlag, S. 157-182; Eichinger, Tobias/Bittner, Uta (2010): »Macht Anti-Aging postmenopausale Schwangerschaften erstrebenswert(er)?«. Ethik in der Medizin 22 (1), S. 19-32. Heiner Fangerau (Prof. Dr.) hat den Lehrstuhl für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm inne. Er ist Direktor des Institutes für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Er veröffentlichte mehrere Arbeiten zur Geschichte und Ethik des biomedizinischen Konzeptes im 19. und 20. Jahrhundert. Literatur (Auswahl): Fangerau, Heiner (2010): Spinning the Scientific Web: Jacques Loeb (1859-1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung, Berlin: Akademie Verlag; Fangerau, Heiner (2009): »Genetics and the Value of Life: Historical Dimensions«. Medicine Studies 1, S. 105-112; Fangerau, Heiner (2009): »From Mephistopheles to Iesajah: Jacques Loeb, Science and Modernism«. Social Studies of Science 39, S. 229-256; Fangerau, Heiner/ Halling, Thorsten (Hg.) (2009): Netzwerke: Eine allgemeine Theorie oder die Anwendung einer Universalmetapher in den Wissenschaften, Bielefeld: transcript.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Fabian Karsch (M.A.), Soziologe, ist derzeit Doktorand an der Universität Augsburg und Mitglied im Promotionsschwerpunkt "Biomedizin Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis" des Studienwerks Villigst. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Medizin- und Gesundheitssoziologie. Aktuelle Veröffentlichungen: Karsch, Fabian (2010): »Die Prozessierung biomedizinischen Körperwissens am Beispiel der ADHS«. In: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden: VS Verlag; Karsch, Fabian (2010): »Biomedizinische Machbarkeit im Spannungsfeld von Ökonomie und professioneller Praxis«. In: Peter Böhlemann/Almuth Hattenbach/Lars Klinnert/Peter Markus (Hg.), Der machbare Mensch, Berlin: Lit-Verlag. Regine Kollek (Prof. Dr.) ist Professorin für Technologiefolgenabschätzung der modernen Biotechnologie in der Medizin am Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Technikfolgenabschätzung; wissenschaftstheoretische, -soziologische und ethische Fragen der modernen Biomedizin. Literatur (Auswahl): Forgó, Nikolaus/Kollek, Regine/Arning, Marian/Krügel, Tina/Petersen, Imme (2010): Ethical and Legal Requirements for Transnational Genetic Research, München: C.H. Beck, Hart, Nomos; Kollek, Regine/Lemke, Thomas (2008): Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt am Main: Campus; Feuerstein, Günter/Kollek, Regine/Uhlemann, Thomas (2002): Gentechnik und Krankenversicherung. Neue Leistungsangebote im Gesundheitssystem, Baden-Baden: Nomos; Kollek, Regine (2002): Präimplantationsdiagnostik. Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, 2. Auflage, Tübingen: Francke-Verlag. Dirk Lanzerath (Dr.) ist Philosoph und Biologe und seit 2002 Geschäftsführer des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE). Er lehrt Ethik und Bioethik u.a. an der Universität Bonn, als Gastdozent an der Loyola Marymount University (Los Angeles) sowie am Graduate College of Union University Schenectady (New York). Er ist seit 2007 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO). Zum Themenfeld des Bandes hat er unter anderem veröffentlicht: Lanzerath, Dirk (2000): Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik, Freiburg im Breisgau: Alber; Fuchs, Michael/Lanzerath, Dirk/Hillebrand, Ingo/Runkel, Thomas/Balcerak, Magdalena/Schmitz, Barbara (2002): Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen. drze-Sachstandsberichte 1, Bonn: 305

ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

DRZE; Lanzerath, Dirk (2000): »Enhancement: Form der Vervollkommnung des Menschen durch Medikalisierung der Lebenswelt?«. Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7, S. 319-336; Fuchs, Michael/ Lanzerath, Dirk (2002): »Wachstumshormontherapie in der Pädiatrie. Die Einschätzung des Kleinwuchses und die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement. Einführung in ein Forschungsprojekt«. Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7, S. 279-281; Lanzerath, Dirk (2002): »Grenzen des Wissens der molekularen Lebenswissenschaften: Über den Einfluß der Genomforschung auf Natur- und Selbstverständnis«. In: Wolfgang Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen, Bonn, S. 557-566; Fuchs, Michael/Lanzerath, Dirk/Sturma, Dieter (2008) »Natürlichkeit und Enhancement. Zur ethischen Beurteilung des Gendopings«. Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 13, S. 263-302. Thomas Lemke (Prof. Dr.) ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte sind: Gesellschaftstheorie, soziologische Theorie, Biopolitik, politische Soziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie. Aktuelle Publikationen: Lemke, Thomas/Kollek, Regine (2008): Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt am Main: Campus; Lemke, Thomas (2010): »Neue Vergemeinschaftungen? Entstehungskontexte, Rezeptionslinien und Entwicklungstendenzen des Begriffs der Biosozialität«. In: Katharina Liebsch/ Ulrike Manz (Hg.), Leben mit den Lebenswissenschaften. Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt?, Bielefeld: transcript, S. 21-41. Christian Lenk (Dr.) ist Privatdozent an der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin und stellvertretender Vorsitzender der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen. Er arbeitet seit 1999 aus philosophischer und medizinethischer Perspektive zu Fragen von Enhancement und nicht-therapeutischen Eingriffen am Menschen. Literatur (Auswahl): Lenk, Christian (2002): Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin. Münsteraner Bioethische Schriften Bd. 2, Münster: Lit Verlag; Lenk, Christian (2006): »Enhancement: Den gesunden Körper verbessern?«. Bulletin der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (dtsch./ franz.) 2006/3, S. 1-4; Lenk, Christian (2007): »Is Enhancement in Sport Really Unfair? Arguments on the Concept of Competition and Equality of Opportunities«. Sport, Ethics and Philosophy 1 (2), S. 218-228. 306

AUTORINNEN UND AUTOREN

Beate Lüttenberg (Dr.) ist stellvertretende Leiterin der Geschäftsstelle des Centrums für Bioethik an der Universität Münster und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Tissue Engineering und Biomineralisation an der Klinik und Poliklinik für Mund- und KieferGesichtschirurgie des Universitätsklinikums Münster. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: Ach, Johann S./Lüttenberg Beate (Hg.) (2008): Nanobiotechnology, Nanomedicine and Human Enhancement. Berlin: Lit-Verlag; Lüttenberg, Beate/Ferrari, Arianna /Ach, Johann S. (Hg.) (2011): Im Dienste der Schönheit? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Ästhetische Chirurgie, Berlin: Lit-Verlag (in Vorbereitung). Michael Martin (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm. Literatur (Auswahl): Martin, Michael (2007): »Basilisken der Medizintechnik. Zur schwierigen Durchsetzung technischer Verfahren in der medizinischen Diagnostik vor 1900«. Technikgeschichte 74 (3), S.1-24; Martin, Michael/Fangerau, Heiner: (2007): »Listening to the Heart's Power: Designing Blood Pressure Measurement«. Icon. Journal of the International Committee for the History of Technology 13, S.86-104. Martin, Michael/Fangerau, Heiner (2010): »Claude Bernard und der ›europäische Durchschnittharn‹«. Der Urologe 49, S.855-860. Heiko Stoff (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte der TU Braunschweig. Zur Zeit ist er zudem akademischer Gast an der Abteilung für Technikgeschichte der ETH Zürich. Er veröffentlichte mehrere Arbeiten zur Wissenschafts-, Körper-, Medizin- und Geschlechtergeschichte. Literatur (Auswahl): Stoff, Heiko (2004): Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln/Weimar: Böhlau; Stoff, Heiko (2010): »›Interesting False Problems‹. Technoscience und Geschichte«. In: Jutta Weber (Hg.), Interdisziplinierung? Zum Wissenstransfer zwischen den Geistes-, Sozial- und Technowissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 113-142. Willy Viehöver (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg im Rahmen des BMBF-Projektes Partizipative Governance der Wissenschaft. Er veröffentlichte mehrere Arbeiten zum Thema Körpersoziologie und Entgrenzungen im Feld der Medizin. Literatur (Auswahl): Viehöver, Willy (2008): »Auf dem Wege zu einer protestantischen Ethik des Alterns? Anti-Aging als eine Form der methodischen Selbstdisziplinierung des Leibes«. In: Siegbert Rehberg unter Mitarbeit von Dumke, Thomas und Giesecke, Dana (Hg.), Die Natur der 307

ENTGRENZUNG DER MEDIZIN

Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 2756-2767; Viehöver, Willy (2010): »Häute machen Leute, Leute machen Häute. Das Körperwissen der ästhetisch-plastischen Chirurgie, Liminalität und der Kult der Person«. In: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.) (2010), Körperwissen, Wiesbaden: VS Verlag, S. 289313. Paula-Irene Villa (Prof. Dr.), ist Lehrstuhlinhaberin für Soziologie/Gender Studies an der LMU München. Aktuelle Veröffentlichungen zum Thema: Villa, Paula-Irene (2010): »Subjekte und ihre Körper. Kultursoziologische Überlegungen«. In: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, Wiesbaden: VS Verlag, S. 251-274; Villa, Paula-Irene (2008a): »Körper«. In: Nina Baur/Hermann Korte/Martina Löw/Markus Schroer (Hg.): Handbuch Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag, S. 201-218; Villa, Paula-Irene (Hg.) (2008b): schön normal. Manipulationen des Körpers als Technologien des Selbst, Bielefeld: transcript; Villa, Paula-Irene (2008c): »Habe den Mut, Dich Deines Körpers zu bedienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung«. In: Paula-Irene Villa (2008b), S. 245-272; Villa, Paula-Irene (2007): »Der Körper als kulturelle Inszenierung und Statussymbol«. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 18, S. 18-26. Peter Wehling (PD, Dr.) ist Leiter eines Forschungsprojekts an der Universität Augsburg und Privatdozent für Soziologie an der Universität München. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören Wissenssoziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie, Soziologie der Biopolitik und Biomedizin sowie Soziologische Theorie und Gesellschaftstheorie. Neuere Veröffentlichungen (Auswahl): Wehling, Peter (2006): Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens, Konstanz: UVK; Wehling, Peter (2008): »Selbstbestimmung oder sozialer Optimierungsdruck? Perspektiven einer kritischen Soziologie der Biopolitik«. Leviathan 36, S. 249-273.

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VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Susanne Bauer, Christine Bischof, Stephan Gabriel Haufe, Stefan Beck, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.) Essen in Europa Kulturelle »Rückstände« in Nahrung und Körper 2010, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1394-0

Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag 2010, 228 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1599-9

Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1

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VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1

Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8

Jörg Niewöhner, Janina Kehr, Joëlle Vailly (Hg.) Leben in Gesellschaft Biomedizin – Politik – Sozialwissenschaften April 2011, ca. 322 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1744-3

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